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]]> Die neue sächsische Gymnasialverordnung und
die Überbnrdungsfwge. S. 74.
as Jahr, welches in diesen Tagen zu Ende geht, erscheint nicht
eben als ein epochemachendes in'der Geschichte, Weder einen
großen Krieg noch eine politische Umwälzung noch eine neue
Staatenbildung hat es gesehen. Dennoch war es keine Zeit des
Stillstandes, die es im Leben zivilisirter Völker überhaupt nicht
giebt, und wie in ihm manches vollendet wurde, was vor .ihm ins Werk gesetzt
worden ist, so wurde andres in ihm begonnen, was eine nähere oder fernere
Zukunft zur Reife bringen wird.
Dies gilt vor allem von Deutschland, auf das wir, wie billig, bei unsrer
Rückschau zunächst die Blicke wenden. Gleich die erste Woche des Jahres brachte
den königlichen Erlaß vom 4. Januar, der, gleichsam ein Kommentar zu der
kaiserlichen Botschaft, mit welcher der neugewählte Reichstag eröffnet worden
war, die staatsrechtliche Stellung der Könige von Preußen, wie sie sich aus
der Verfassung ergiebt, in klaren, bündigen Worten charakterisirte und in seinem
zweiten Teile das Verhältnis des Staatsoberhauptes zu seinen Beamten definirte.
Das Manifest richtete sich gegen die Liberalen, namentlich gegen die Fortschritts¬
partei, deren parlamentarische Koryphäen und deren Prcßorganc bemüht gewesen
waren, jenes verfassungsmäßige Recht und jenes Verhältnis zu verdunkeln. Zum
erstenmale erging unmittelbar aus königlichem Munde an die Minister, die
Parlamente und das Volk in Preußen und ganz Deutschland das Wort: Der
König, der Kaiser herrscht nicht bloß, wie in England, svfldern regiert auch,
seine Äußerungen und Handlungen sind selbständige Willensnkte, er ist kein
stummes Prinzip, kein bloßer Repräsentant der Monarchie, sondern eine leben¬
dige Persönlichkeit mit einer Meinung und einem Willen, mit denen er nicht
unter, sondern neben und in wesentlichen Beziehungen über der Volksvertretung
steht. Die Verfassung Deutschlands und ebenso diejenige Preußens hat nur
die Wirkung, einesteils einen bestimmten Kreis der Regierungshandlungen an
Gesetze zu binden, welche aus der Vereinbarung der Vertreter des Vvlkswillens
mit der Regierung, im deutschen Reiche zugleich mit demjenigen der vom
Bundesrate repräsentirten Landesregierungen hervorgehen, andernteils den
unverantwortlichen Souverän mit verantwortlichen Räten zu umgeben, die
von ihm gewählt und seine Organe, nicht die der Parlamente, nicht ein bloßer
Ausschuß der wechselnden Mehrheiten in den letztern sind. Die Beamten sollen
sich immer bewußt sein, daß sie dem Könige gegenüberstehen, dem sie Treue
geschworen haben. Das eigne Wählen soll dadurch nicht beschränkt sein, wohl
aber sind die politischen Beamten verpflichtet, die Wühler über Entstellung
und Verleumdung der Regierungspvlitik aufzuklären, und es ist ihnen, da der
König regiert, nicht gestattet, bei den Wahlen gegen dieselbe zu wirken.
Die Fortschrittspartei hielt es für zweckmäßig, diesen Erlaß im Reichs¬
tage zur Sprache zu bringen. Das Selbstgefühl ihrer Wortführer aber und
das Machtbewußtsein der ganzen Genossenschaft trugen bei diesem Unternehmen
nichts davon, wozu sie sich hätten Glück wünschen können. Der Reichskanzler
wies ihre Angriffe in einer großen Rede, die zu seinem besten gehört und
namentlich in ihren staatsrechtlichen Teilen ein Muster realistischer Betrachtung
und Schlußfolgerung ist, in einer Weise zurück, die jeden überzeugen mußte,
der den Schein vom Wesen und die Phrase von der Thatsache zu unter¬
scheiden weiß.
Sonst war von den Verhandlungen des Reichstages zunächst diejenige von
Interesse, welche durch die Jnterpellation Hertlings wegen Besserung des Loses
der Fabrikarbeiter hervorgerufen wurde. Der Reichskanzler gab dabei die Er¬
klärung ab, sich jetzt überzeugt zu haben, daß die von ihm erstrebte Unfall¬
versicherung nicht ohne korporative Unterlagen zustande kommen dürfte, mit
andern Worten, daß, wenn die Sache praktischen Erfolg haben sollte, eine
Arbeitsteilung eingerichtet werden müßte, die den Interessenten mit heranziehe
und den Ersatz des Schadens mit der Aufgabe verbinde, ihn durch Aufsicht
seltner werden zu lassen. Bezeichnend war in der Rede der Passus, der die
Stellung des Kaisers zu der Frage kennzeichnete. Er sieht sie, wie der Kanzler
behauptete, mit den An gen seiner Vorfahren an, er folgt der Tradition seiner
Dynastie, nach der es ihm als Regentenpflicht erscheint, sich der Schwachen im
wirtschaftlichen Kampfe anzunehmen. Wie Friedrich der Große der „König der
Bettler" sein wollte, wie Friedrich Wilhelm III. mit Stein und Hardenberg die
Bauern von der Hörigkeit befreite und dadurch wohlhabender und unabhängiger
machte, so ist Kaiser Wilhelm von dem edeln Ehrgeiz beseelt, für die heutzutage
schwächste Klasse des Volkes eine Besserung ihrer Lage anzubahnen. Man
ersah daraus, daß der Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes dein Reichstage
in einer Umarbeitung wieder zugehen sollte. Inzwischen legten Delegirte der
drei Gruppen der damals stark beabsichtigten, aber bis heute noch nicht zustande
gekommnen „großen liberalen Partei" dem Reichstage ihrerseits einen Plan der
Art vor, um zu zeigen, daß sie nicht bloß kritisiren, sondern auch Positives
leisten und sich ebenfalls für das Wohl der Arbeiter interessiren könnten.
Dieser näherte sich in wesentlichen Punkten dem, welcher das Jahr zuvor dem
Reichstage vom Bundesrate übergeben worden war, namentlich war es erfreulich,
daß selbst die manchesterlichen Fortschrittler und Sezessionisten den Versicherungs-
zwang empfahlen; doch zeigten die Vorschläge der liberalen Opposition anch
Mängel, die eine Verständigung mit der Negierung unwahrscheinlich machten.
Der Antrag Windthorsts, das Jnternirungs- und Verbanmmgsgesetz von 1874
aufzuheben, wurde auch von einem Teile der Liberalen unterstützt und fand
schließlich Annahme, aber nicht vom Bundesrate; das Zentrum erfocht damit
also keinen großen Sieg, wohl aber hatte die Fortschrittspartei, um die Politik
des Kanzlers zu stören, mit diesem Schritte den „Weg nach Canossa" betreten,
den sie bisher mit so kräftigen Reden verworfen. Im ganzen und großen hatte
der Reichstag, als er gegen Ende Januar geschlossen wurde, fleißig gearbeitet
und die Befürchtungen, die man nach dem Ausfalle der Wahlen gehegt hatte,
nur teilweise gerechtfertigt. Unter seinen positiven Leistungen nahmen der
Hamburger Zollanschluß, das Gesetz über die Verufsstatistik und der Beschluß
über die Erbauung eines Reichstagsgebäudes den obersten Rang ein, unter
den negativen Ergebnissen stand obenan die von der Eifersucht der Liberalen
herbeigeführte Ablehnung der von der Regierung für einen deutschen Volks¬
wirtschaftsrat verlangten Summen; Hauptstreitfragen wie die sozialpolitische
Reform und das Tabaksmonopol wurden in dieser Session nur gestreift.
Von den Vorlagen, die den am 14. Januar eröffneten preußischen Landtag
beschäftigten, war der kirchenpolitische Gesetzentwurf, welcher auf den gleichen
Gedanken und Absichten wie die Vorlage von 1880 wegen Abänderung der
Maigesetze beruhte, die bedeutsamste. Es handelte sich darum, mit der Regierung
von den Prinzipienfragen abzusehen und die Befriedigung praktischer Bedürfnisse
in die Hand zu nehmen. Das Juligesetz des Vorjahres hatte die Lage der
preußischen Katholiken wesentlich gebessert und hatte in Rom Vertrauen erweckt.
Auf diesem Wege mußte weitergegangen werden. Eine grundsätzliche Abänderung
der Maigesetze war später vielleicht möglich, jetzt aber noch nicht an der Zeit,
da die Ansichten noch der vollen Klärung ermangelten und politische Tendenzen
sich ihnen beimischten. Wenn die Fortschrittspartei, welche die katholische Kirche
bis dahin als Gegnerin der modernen Kultur behandelt hatte, sich jetzt mit den
Ultramontanen zu gehen anschickte, so hatte das nur taktische Bedeutung: man
wollte nicht der katholischen Kirche zu Hilfe kommen, sondern dem Kanzler durch
Ablehnung der von ihm verlangten neuen diskretiouüren Vollmachten eine
Niederlage bereiten und ihm in den Katholiken Feinde erhalten. Dieser Plan
gelang nicht. Das Zentrum hielt es für geraten, seine Ansprüche zu mäßigen,
es verständigte sich mit den Konservativen, und die Regierungsvorlage wurde
vom Abgeordnetenhause mit einigen allerdings nicht unwesentlichen Abänderungen
angenommen. Die Regierung fügte sich dem, sie hatte wenigstens einen Teil
ihrer Vorlage, und zwar einen wichtigen, durchgesetzt. Ein erfreulicherer Erfolg
der innern Politik des Kanzlers im Abgeordnetenhause war die Bewilligung des
von der Regierung beantragten Steuererlasses. Die Abgeordneten ließen sich,
wie die Debatten über den Gegenstand zeigten, bei ihrer Abstimmung von sehr
verschiedenen Beweggründen leiten, aber ihr Beschluß war in seiner Wirkung
doch nur eine Bekräftigung der reformatorischen Politik des Fürsten Bismarck;
denn mit dem Steuererlaß war einer seiner Zwecke, Erleichterung der mit
direkten Steuern überbürdeten Mittelklassen, erreicht. Daß es zu einer solchen
Maßregel überhaupt kam, war vor allem dem Urheber dieser Reform zu danken,
dem es schwere Mühe gekostet hatte, die ersten Schritte nach dieser Richtung
hin durchzusetzen. Sehr gering dagegen war das Verdienst der Manchester¬
politiker im fortschrittlichen und sezessionistischen Lager. Wäre es nach ihnen
gegangen, so hätte man niemals eine Verminderung der direkten Steuern erlebt,
und doch legten die Herren jetzt auf die Bewilligung derselben als auf eine Em¬
pfehlung für die nahen Neuwahlen Wert.
Inzwischen hatte der preußische Volkswirtschaftsrat eine Entscheidung ge¬
fällt, die als Niederlage der Regierung aufzufassen war: er hatte sich — aller¬
dings mit sehr geringer Majorität ^ gegen den Gesetzentwurf in Betreff des
Tabakömonopols erklärt. Die Abstimmung des Plenums war schwer zu ver¬
stehen, da die Kommission sich mit einer Mehrheit von mehr als zwei Dritteln
ihrer Mitglieder nicht bloß für die Notwendigkeit einer Erhöhung der Einnahmen
vom Tabak, sondern auch für die wesentlichsten Grundlagen des Monvpolgesetzes
ausgesprochen hatte, und da auch im Plenum von gewichtigen Stimmen an¬
erkannt worden war, daß die Negierung damit nur gerechtes und billiges
erstrebe.
Die letzte wichtige Verhandlung des Abgeordnetenhauses betraf das Ver¬
wendungsgesetz; es wurde abgelehnt. Am 11, Mai wurde der Landtag ge¬
schloffen, ohne die noch rückständigen Vorlagen, von denen die hannoversche
Kreisvrdmmg und die Kanalprojekte die wichtigsten waren, erledigt zu haben.
Er hatte in seiner letzten Sitzungsperiode zwar auf dem Gebiete der Verwal¬
tungsgesetzgebung und der Steuerreform nichts geleistet oder gefördert, ganz
unfruchtbar aber war er nicht gewesen. Er hatte zunächst die Maigesetze nach
dem Prinzip der diskretivnären Vollmachten weiter mildern helfen, indem das
Zentrum den Standpunkt bloß negativer Kritik verlassen und sich mit den Konser¬
vativen zu positiver Wirksamkeit geeinigt hatte. Sodann aber hatte während
dieser Session die Verstaatlichung der Eisenbahnen, die zwei Jahre zuvor be¬
gonnen worden war und sehr bald glänzende Ergebnisse erzielt hatte, trotz
heftigen Widerstrebet der Partei des wirtschaftlichen Gehenlassens und der un¬
beschränkten Wettbewerbung durch den Ankauf neuer großer Schienenstrecken
wieder erhebliche Erweiterungen erfahren. Der Gedanke, daß der Staat mehr
Inhalt und mehr Einfluß ans das wirtschaftliche Leben haben müsse als bisher,
hatte in weitern Kreisen Anklang gefunden, und damit war die Hoffnung ver¬
stärkt worden, daß dem raschen Gelingen der Reformpläne des Reichskanzlers
in diesem Bereich über kurz oder lang mich gute Erfolge seiner Bestrebungen
auf andern Gebieten der Wirtschaftspolitik folgen würden. Die gegenteiligen
Redensarten der liberalen und demokratischen Tribüneuhelden und Preßorgane
durfte man dieser Hoffnung gegenüber gelassen als Ephemeren ansehe». Nicht
die Phrasen, sondern die Thatsachen — so konnte man sich bei Enttäuschungen,
die zuweilen auf Zeit eintraten, trösten — gestalten zuletzt und endgiltig die
Welt, in der wir leben.
Dies galt auch von der Opposition im Reichstage, der zu Anfang Mai
seine Beratungen wieder eröffnete und zunächst eine Novelle zum Gewerbegesetze,
dann gewisse Abänderungen des Zolltarifs beriet und hierauf die Regierungs¬
vorlage wegen des Tabaksmonopols in Angriff nahm. Daß dasselbe im Reichs¬
tage nur wenige Freunde hatte, war längst bekannt und wurde durch die mehr¬
tägige Debatte über den Gesetzentwurf und die schließliche Abstimmung bestätigt.
Wenn man allerlei wirtschaftliche Gründe gegen die Vorlage ins Feld führte
und dabei arge Übertreibung und Entstellung nicht scheute, so war das nicht
der eigentliche Sinn und Gedanke der Opposition. Der Hauptgrund war bei
allen Parteien, die gegen das Monopol sprachen und stimmten, offenbar etwas
ganz andres als das, was sie vorbrachten. Das Zentrum war gegen das
Monopol, weil es das Reich, dessen Existenz den Nömlingen verhaßt war, fester
zusammenschließen und der Zentralregierung einen Zuwachs an Macht bringen
mußte. Die Liberalen dachten an die parlamentarische Herrschaft, die nach ihrer
Meinung auf der Unsicherheit der Einnahmen beruht. Die Regierung sollte
nur für den unbedingt notwendigen Bedarf sichere Einnahmequellen besitzen, sie
sollte für jede neue Steigerung der Ausgaben außerordentliche Finanzmaßregeln
zu treffen genötigt und, da sie zu diesen die Unterstützung der Volksvertretung
braucht, vom guten Willen der letztern, der mit Zugestündnissen erkauft werden
sollte, in jedem einzelnen Falle abhängig sein. Das war des Pudels Kern,
und dazu kam noch die Befürchtung, daß mit Einführung des Monopols eine
gute Anzahl neuer Beamten geschaffen und, wie man meinte, viele Arbeiter an
das Interesse der Regierung geknüpft und bei den Wahlen für diese zu stimmen
bewogen werden würden. Nicht dem Tabaksmonopol an sich also widerstrebten
die Liberalen mit Einschluß der Fraktion Bennigsen, sondern der Eröffnung
einer Einnahmequelle, welche, wie man meinte, die Regierung vom Parlament
unabhängig machen, folglich die Bedeutung des letztern verringern würde. Man
wollte in der Lage verbleiben, nur von Fall zu Fall für nachgewiesene Be-
dürfuisse und immer nur für den Umfang des jeweiligen Erfordernisses Geld
zu bewilligen, und man gedachte diese Freiheit bestens zum Druck auf die Re¬
gierung, zu dem gewohnten Feilschen und Markten zu verwerten. Während
von diesen Gesichtspunkten aus das Tabaksmonopol im Reichstage verworfen
wurde, zeigte die Behandlung der übrigen Vorlagen, daß die Stimmung der
Parteien seit den Wahlen wesentlich ruhiger geworden war. Mehrere dieser
Vorlage» wurden zu Gesetzen, und mit der Aufnahme, welche die Gesetzentwürfe
über die Krankenkassen der Arbeiter und die Unfallversicherung bei der Mehr¬
heit der Abgeordneten fanden, konnte die Negierung ziemlich zufrieden sein. Nach
der ersten Lesung an eine Kommission verwiesen, hatten sie, nachdem der Reichstag
Mitte Juni seine Sitzungen geschlossen, Aussicht, in der nächsten Session eine
wohlwollende und sachgemäßere Würdigung zu finden als das Tabaksmonopol.
Was die Unfallversicherung betraf, so war der neue Entwurf des Gesetzes,
den die Regierungen vorlegten, in mehreren Punkten für die Liberalen annehm¬
barer als der frühere. Der strengere Versicherungscharakter der Vorlage war
aufgegeben, an die Stelle der privatrechtlichen Grundlagen der Haftpflicht der
Unternehmer und der Selbstversicherung der Arbeiter war staatsrechtliche Grund¬
lage der Fürsorge für schuldlos leidende Berufsgenossen gesetzt, man ließ die
Berufsgenossenschaft als Trägerin der Arbeiterversicherungslast eintreten. So
gewann man die allgemein anerkannte Nechtsbasis der öffentlichen Armenpflege
und zugleich den Vorteil, daß die bedenkliche Ansammlung kolossaler Kapitalien
zur Deckung entbehrlich wurde, indem es genügte, nach Maßgabe des Bedürf¬
nisses im Umlageverfahren die zur Deckung des Erfordernisses nötig erscheinenden
Summen einzuziehen. Der neue Plan empfahl sich ferner dadurch, daß den in
ihm vorgesehenen Betriebsgcnossenschaftcn mittelst der Kosten ein Antrieb, durch
Vorsicht innerhalb ihrer Betriebszweige Unfälle zu vermeiden, gegeben wurde,
und daß ihnen das Gesetz zu diesem Zwecke einen Aufsichtsrat und genossen¬
schaftliche Autorität verlieh. Endlich war auch darin ein Vorteil zu erblicken,
daß nach dem neuen Entwürfe die Genossenschaften durch Weiterentwicklung die
Kraft gewinnen konnten, außer der Unfallversicherung auch andre soziale Auf¬
gaben zu lösen und einen fruchtbaren Gemeingeist auszubilden. Die Opposition
hat an dem Plane noch mancherlei auszusetzen und hinzuzuwüuschen, aber die
Negierung hat bei der ersten Lesung zugegeben, daß derselbe Abänderungen er¬
tragen könne. Wir werden nun demnächst sehen, was die Kommission zustande
gebracht hat. Jedenfalls wird die Nation auf die Entwicklung der Sache mit
lebhafter Teilnahme blicken; denn es handelt sich hier um die Legung des
Grundsteines zu einer großen, allen Einsichtigen längst am Herzen liegenden
Reform, die recht eigentlich ein Friedens- und Versöhuungswerk genannt
werden kaun.
Die Oktvbcrwahlen zum preußischen Landtage hatten nicht den Erfolg,
den die Fortschrittspresse gewünscht und zuversichtlich vorausgesagt hatte. Die
Konservativen gewannen eine erhebliche Anzahl von Mandaten, die Fortschritts¬
partei und das Zentrum behaupteten ihre bisherige Stärke, die bei ersterer eben
nicht groß war, die Nativnälliberalen büßten mehr als ein Dutzend Sitze ein,
blieben aber immer noch eine achtunggebietende Fraktion. Eine Verschiebung nach
links faud innerhalb der drei Gruppen der Liberalen nicht statt. Es schien,
als ob den Wählern, abgesehen von Berlin und einigen andern Großstädten,
seit den letzten Reichstagswahlen die Augen aufzugehen begonnen hätten. Trotz
der Verschiedenheit des Wahlsystems in Preußen und im ganzen Reiche hatte
bis dahin der Charakter des Landtags dem des Reichstags im ganzen ent¬
sprochen, und war das diesmal nicht der Fall, war jener erheblich konservativer
ausgefallen als dieser, so war der Schluß berechtigt, daß die Erfahrungen, die
jeder Wähler mit offnen Augen in der Zwischenzeit hatte machen können, diesen
Umschwung herbeigeführt hatten. Die Thronrede, mit welcher der Landtag
eröffnet wurde, nahm den Standpunkt der kaiserlichen Botschaft ein, die am
17. November 1881 an den Reichstag ergangen war. Sie hatte zum Haupt¬
inhalte die Mahnung, die Steuerreform zu fördern und den sozialistischen Um¬
trieben dnrch Sorge für das Wohl der Arbeiter von Staatswegen die Spitze
abzubrechen. In ersterer Beziehung wurde die Entlastung der preußischen Ge¬
meinden und die Aufhebung der Klassensteuer für die ärmern Volksklassen als
unerläßlich und dringend bezeichnet. Dazu bedürfte der Staat aber Geld aus
andern Quellen, und so ging dein Landtage ein Borlage des Finanzministers
zu, nach welcher die vier untersten Stufen der Klassensteuer beseitigt werden
sollten, und in welcher zur Deckung des hierdurch hervorgerufenen Ausfalls an Ein¬
nahmen Besteuerung des Vertriebs der geistigen Getränke und Erhöhung der
Tabakssteuer empfohlen wurden. Findet dieser Entwurf eine rein sachliche und
technische Prüfung, so ist seine Annahme zu erwarten; dem Anscheine nach wird
jene Voraussetzung nicht zutreffen.
Das letzte Ereignis des Jahres auf deutschem Boden war die am 29. November
erfolgte Wiedereröffnung des Reichstags. Derselbe sollte sich zunächst nur ans
wenige Plenarsitzungen beschränken und sich der Beratung der Etats für das
nächste und zugleich das übernächste Finanzjahr widmen. Dann sollten ihn die
Unfallversicherung und die Steuerreform von neuem beschäftigen. Die Beratung
des Etats 1884—85 wurde als mit der Verfassung unvereinbar^) abgelehnt,
die Sache wird indes ohne Zweifel wiederkehren und vielleicht von andern Ab¬
geordneten in andrer Auffassung behandelt werden. In Betreff der Steuer¬
reform aber darf man wohl schon jetzt auf eine Verständigung der Parteien
hoffen, die von der Rechten bis etwa in die Mitte der Linken reichen und dahin
gehen würde, daß zugleich mit den von der Regierung empfohlenen Steuergesetzen
eine durchgreifende Reform der direkten Steuern in Angriff genommen werden
müsse, wobei dafür zu sorgen sei, daß die Skala verändert und das Einkommen
aus Kapital stärker herangezogen werde.
Hinsichtlich der übrigen Länder Europas können wir uns bei unsrer Rück¬
schau kurz fassen. Das Bündnis des deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn
blieb im Laufe des Jahres in ungeschwächter Kraft und Innigkeit erhalten und
erwies sich bei verschiednen Gelegenheiten als das, was mit ihm in erster Linie
beabsichtigt war, als Bürgschaft für den Frieden beider Kaiserstaaten und ganz
Europas, Es bestimmte neben der friedlichen Gesinnung des Zaren Alexander
auch die Haltung Rußlands zu den mitteleuropäischen Mächten, obwohl eine
starke und sehr regsame Partei im russischen Volke, die in den chauvinistischen
Reden des Generals Skobeleff ihre Wünsche und Ziele laut werden ließ, mit
allen Kräften und Mitteln daran gearbeitet hatte, das gute Verhältnis Ru߬
lands zu Deutschland und seinen Nachbar an der Donau zu stören und einen
Kampf zur Verwirklichung ihrer panslavistischen Ideale hervorzurufen, Jgnatieff,
der als eins der Häupter dieser Partei gilt, blieb nur kurze Zeit Minister, und
Giers bekundete noch vor kurzem durch seinen Besuch in Varzin, daß dem Peters¬
burger Kabinet daran gelegen ist, die guten Beziehungen zu uns, die mit der
Danziger Zusammenkunft der beiden Kaiser Wilhelm und Alexander hergestellt
wurden, zu erhalten und auszubilden. Die nihilistische Bewegung trat im Laufe
dieses Jahres mehr in den Hintergrund, doch ist sie keineswegs erloschen, und
es ist sehr zu bezweifeln, daß sie sobald erlöschen werde,
Italien hatte sich früher durch die Unsicherheit seiner Politik, die das bei
ihm eingeführte parlamentarische System zur Folge hatte, und durch seine kaum
verborgne Begehrlichkeit nach fremden: Landbesitz stark isolirt, und die Folge
war gewesen, daß es zusehen mußte, wie Frankreich durch Erwerbung des Pro¬
tektorats über Tunis die Interessen des Königreichs schwer beeinträchtigte. In
der neuesten Zeit hat es eine tingere Politik gezeigt und namentlich sich den
vereinigten mitteleuropäischen Mächten zu nähern versucht, auch haben die letzten
Parlamentswahlen die Stellung des liberalen Ministeriums wesentlich verstärkt.
In Großbritannien war auch im vergangnen Jahre die irische Frage das
Hauptübel, mit welchem die Regierung zu kämpfen hatte. Die traurigen Ver¬
hältnisse der Landbevölkerung, der Pächter gegenüber den Grundherren wurden
von der Landliga zu einer Agitation für die Trennung Irlands von England
benutzt, und daneben spielte das verwandte Feniertum eine blutige Rolle. Das
Ministerium ging dagegen einerseits mit scharfen Repressivnsmaßregeln, poli¬
zeilichem und militärischem Einschreiten und Einsetzung von Ausnahmegerichten,
andrerseits aber auch mit Reformen vor, welche vom Geiste der Billigkeit gegen
die Pächter wie gegen die Landbesitzer eingegeben waren. Die Landliga verlor
dadurch allmählich an Einfluß, die sezessionistischen Parteien aber, die im ge¬
heimen arbeiteten, setzten ihre Wühlereien fort und schreckten die Beamten, die
Richter, die Geschwornen und die Polizei von Zeit zu Zeit durch Mordanfalle,
denen selbst hochgestellte Personen zum Opfer fielen, und die sich gegen An¬
fang des Winters besonders häufig wiederholten. Eine andre Folge der irischen
Agitation war die Verschleppung und Hemmung der Reformentwürfe der Re¬
gierung im Parlamente, welche von den Homerulern durch ungebührliche Aus¬
dehnung der Debatten herbeigeführt wurden, und dies veranlaßte eine Beschränkung
der Redefreiheit des Unterhauses durch Einführung einer neuen Geschäftsordnung,
welche der Majorität die Macht verlieh, gegen den Willen der Minorität den
Schluß der Debatte durchzusetzen, eine Neuerung, die, wenn sie auch entschieden
notwendig war, doch auch ihre Bedenken hatte und, indem liberale Minister sie
vorschlugen, den Beweis lieferte, daß mit unbeschränkter Freiheit der parlamen¬
tarischen Rede uicht zu regieren und weiterzukommen ist.
Die französische Republik fuhr auch im vergangnen Jahre fort, zu zeigen,
daß demokratische Institutionen und das System reiner Parlamentsherrschaft
für die festländischen Staaten Europas kein Segen, sondern Quellen arger Mi߬
stände sind. Wie früher Ministerwechsel einander auf dem Fuße gefolgt waren,
und weder im Innern noch nach außen hin eine stetige Politik hatte Platz
greifen können, so auch jetzt. Mehr und mehr sah das Land die Roten sich zu
einer Macht entwickeln und anarchische Bestrebungen sich ausbreiten, fühlbarer
und immer fühlbarer wurde die Isolirung Frankreichs in der auswärtigen Politik.
Auch Gambetta vermochte diesem Gange der Dinge, als er Minister geworden
war, nicht zu steuern. Er behauptete sich nur wenige Monate am Ruder und
trat zurück, ohne seine Pläne durchgesetzt zu haben. Seinen: Nachfolger erging
es nicht viel besser, und dessen Nachfolger hat eben so wenig zustande gebracht
und hält sich nur noch, weil die Parteien der Kammer über die Frage uneinig
sind, durch wen er ohne Schaden für ihre persönlichen und Fraktionsinteressen
zu ersetzen sein möchte. Mit Italien wegen Tunis auf schlechten Fuß geraten,
voll Haß und zugleich voll Mißtrauen gegen Deutschland, von Rußland mit
Argwohn, wenigstens ohne Vertrauen betrachtet, ist die Republik infolge der
Ereignisse in Ägypten anch noch nahe daran, sich England zu entfremden.
Große Interessen Frankreichs in seiner Eigenschaft als Mittelmeermacht wurden
hier dnrch die Revolution Arabis und der Nationalpartei in Frage gestellt.
Eine Zeit lang schien es, als wolle die Regierung diese Interessen im Verein
mit England wahren. Aber der Gedanke wurde, augenscheinlich aus Furcht
vor Deutschland, aufgegeben. Man ließ England allein vorgehen und die
Ordnung wiederherstellen, und man durfte sich schließlich nicht wundern, als
dieses nun auch allein die Früchte seiner Anstrengungen genießen wollte und
den Anspruch Frankreichs auf Mitregierung am Nil höflich, aber bestimmt ab¬
wies. Die Dinge hatten sich durch das schwachmütige Verhalten der Pariser
Regierung so gestellt, daß in Ägypten ein ähnliches Protektorat wie das der
Franzosen in Tunis, von England geübt, wenn auch in mehr verhüllter Form
eingerichtet, nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint. Alles das ist für
unsre Nachbarn jenseits der Vogesen sehr wenig erfreulich, aber nur natürlich
und für uns und die europäische Welt insofern ein Vorteil, als es den Frieden
sichert. Scheint das französische Machtbedürfnis in der letzten Zeit seine Be¬
friedigung nicht mehr oder wenigstens vorläufig nicht in Europa, sondern in
andern Weltgegenden und namentlich in Afrika zu suchen, so dürfen wir uns
auch dazu Glück wünschen, da es die Hoffnung auf bleibenden Frieden verstärkt.
Wir werfen schließlich noch in der Kürze einen Blick auf einige unterge¬
ordnete Staaten, In der Türkei blieb es bei dem alten Zustande. Reformen
wollen dort auch jetzt uicht gedeihen, und ziemlich jeder Monat sieht am goldnen
Horn einen Ministerwechsel, ohne daß es besser würde. In Bulgarien hat sich
der Fürst durch strafferes Regiment behauptet, aber bei den Demokraten nicht
an Zuneigung gewonnen. Serbien bekam im Laufe des Jahres auch seinen
König, der sich übrigens mit dem österreichischen Nachbar besser zu stellen
wußte als früher und in dieser Haltung verharren zu »vollen scheint. In
Norwegen kam es zwischen dem König und der demokratischen Partei, welche
dessen Vetorecht nicht gelten lassen wollte und am liebsten die Republik ein¬
geführt hätte, zu Konflikt, doch war die Volksstimme nicht für diese Velleität,
und namentlich die Städte äußerten sich königstreu. In den Vereinigten Staaten
endlich haben die Wahlen mit einem großen Siege der Demokraten über die
Republikaner geendigt, welche letztere in völlige Korruption versunken und zu
reinen Stellenjägcrn und Ausbeutern der Staatsämter geworden waren. Eine
Änderung im System der Benutzung des Staates ist aber schwerlich hiervon
zu erwarte». Eine Partei ist hier gleich der andern, das Volk aber erträgt
diese Wirtschaft und wird sie vielleicht noch lange natürlich finden.
le können wohl denken, daß die verbündeten Regierungen es sehr
gern gesehen haben würden, wenn die bereits früher pensionirten
Militärs ebenfalls an den Benefizien teilnehmen könnten, aber wir
haben davon Abstand genommen, weil dazu etwa zwei Millionen
Mark mehr erforderlich wären. Das etwa sind die Worte, oder
es giebt nach den vorliegenden gedruckten Berichten wenigstens den Sinn der
Ausführungen wieder, welche der preußische Kriegsminister von Kamele, der in
diesem Falle zugleich als Reichskriegsminister gedacht werden kann, in einer
Sitzung des Reichstags gelegentlich der Verhandlung über die Erhöhung der
Militärpensioncn entwickelt hat.
Solche wohlwollenden Worte lassen es nicht allein als ein Recht, sondern
als eine unabweisbare Pflicht erscheinen, wenn aus den betroffenen Kreisen heraus
sich eine Stimme an die Öffentlichkeit wogt, und wenn eine des Schreibens un¬
kundige Feder es unternimmt, die allgemeine Aufmerksamkeit und vor allem das
Auge der Reichstagsmitglieder auf diesen Punkt zu richten. Wir sagen absichtlich:
betroffene Kreise, denn allerdings werden die bisher pensionirten Militärs ganz
empfindlich betroffen, wenn sie mit ihrer Familie bis an ihr Lebensende von
der knappen Pension leben sollen, auf welche sie durch die Reichstagsbcschlüsse
im Jahre 1871 entgegen der Forderung der Regierungen gesetzt worden sind,
während die jetzt verabschiedeten jünger» Männer pekuniär erheblich besser gestellt
werden. Der Unterschied ist sehr bedeutend. Wir wollen hier nicht auf nähere
Zahlenangaben und Berechnungen eingehen, die stets etwas ermüdendes haben,
sondern wollen nur kurz darauf hinweisen, daß nach dem jetzt bestehenden Ge¬
setze ein Offizier nach einer Dienstzeit von fast 30 Jahren die Hälfte seines
Pensionsfähigcn Diensteinkommens als Pension zu beanspruchen hat, während
nach dem neuen Gesetzesvorschlage der gleiche Pensionssntz schon nach 25jähriger
Dienstzeit erreicht wird. Noch schärfer tritt dieser Unterschied zu Tage bei der
höchstmöglichen Pension, drei Vierteln des Diensteinkommens, welche jetzt nach
50jähnger Dienstzeit, in Zukunft schon nach 40 Jahren erlangt werden kann.
Am besten aber geht die tiefeinschneidende Wirkung des neuen Pensionsgesetzes
aus einem Beispiele hervor, welches wir der Rede des Abgeordneten Dr, Buhl
entnehmen. Nach den jetzt bestehenden Gesetzesbestimmungen erhält ein Oberst
mit 40 Dicnstjcihren und einem peusionSfähigen Diensteinkvmmen von 9900 Mark
eine Pension von 6200 Mark, und wenn er innerhalb der nächsten fünf Jahre
nach dem Kriege von 1870—71 abgegangen ist, eine Kriegsznlage von 300 Mark,
in Snmmn 6500 Mark, Nach dem neuen Gesetze würde seine Pension 7475 Mark
betragen.
Wir glauben sicher zu sein, von keiner Seite einem Widersprüche zu be¬
gegnen, wenn wir behaupten, daß ausnahmslos jeder Offizier, dem es ver¬
gönnt war, 1870—71 in den Reihen seiner Stammesgenossen an dem denkwür¬
digen Feldzuge teilzunehmen, dabei mehr oder weniger Schaden an
seiner Gesundheit gelitten hat. Namentlich trifft das die ältern Offiziere, die
in Kommandostelluugen irgendwelcher Art vom Kompaniechef aufwärts in der
Sorge für die untergebene Mannschaft und der Verantwortlichkeit für die
Sicherheit und die Ehre der Truppe neben den körperlichen Anstrengungen und
Entbehrungen mancherlei Art die aufreibendste geistige Thätigkeit zu entwickeln
hatten. In gewisser Weise hat nun auch das Gesetz vom Jahre 1871 diesem
Umstände Rechnung getragen, indem es die sogenannte Kriegszulage votirte,
welche solchen Offizieren zugute kommt, die infolge des Krieges innerhalb von
fünf Jahren nach Beendigung desselben invalid geworden sind. Alle diejenigen
Offiziere jedoch, welche in dem nach Ablauf dieser fünf Jahre folgenden Zeit¬
räume ihre Entlassung haben nachsuchen müssen, oder doch wenigstens die große
Mehrzahl derselben, können den Ursprung ihrer körperlichen Leiden innerster
Überzeugung nach ebensogut auf die Folgen des Feldzuges zurückführen, wenn
der Arzt das auch wissenschaftlich vielleicht nicht zu begründen vermag. Sie
alle kommen nun in die unangenehmste pekuniäre Lage. Die ältern Kameraden
beziehen wenigstens die Kriegszulage, die jüngern, von jetzt an pensionirten
eine wesentlich höhere Pension, obgleich sie, die den Krieg in jüngern Jahren
und weniger verantwortungsvollen Stellungen mitmachten, körperlich und geistig
weniger gelitten haben und dadurch imstande gewesen sind, länger zu dienen.
So ist es ganz unausbleiblich, daß ein Gefühl der Kränkung da in weiten
Kreisen Platz greifen muß, wo es nicht an dem guten Willen gefehlt hat, dem
Vaterlande nach besten Kräften noch weiter zu dienen, sondern an der körper¬
lichen Kraft oder der geistigen Frische, um dies mit Erfolg und mit Nutzen
für das große Ganze thun zu können.
Der Kriegsminister von Kameke scheint die schwierige Lage der penstonirten
Offiziere auch halb und halb anzuerkennen und glaubt dem Übelstande durch
den Vorschlag der Erhöhung des Dispositionsfonds begegnen zu können, um aus
diesem Unterstützungen an besonders bedürftige alte Pensionäre gewähren zu
können. Indeß wird ein solches Mittel kaum von durchschlagenden Erfolge be¬
gleitet sein, und darauf kommt es doch an. Wir wissen zwar und bekennen es
gern und ans tiefinnerster Überzeugung, daß die Kriegsverwaltung in vollster
Unparteilichkeit und nach gewissenhaftester Prüfung aller Gründe dem allerhöchsten
Kriegsherrn die Vorschläge zu solchen Gnadenbewilligungen unterbreiten wird;
dennoch ist dabei die Gefahr von allerlei Protektion und Nepotismus schon
deshalb größer als bei manchen andern Gelegenheiten, weil die bedürftige Lage
bekannter Persönlichkeiten leicht in die Augen springt. Andrerseits wird eine
große Anzahl alter Offiziere, wir möchten glauben die überwiegende Mehrheit,
in gewiß gerechtfertigten Stolze und Selbstgefühl davor zurückschrecke», die
Verbesserung ihrer pekuniären Lage von der Beibringung eines Vedürftigkeits-
attcstes abhängig zu machen, und der ganze Stand wird gewiß nicht auf ein
höheres Niveau gestellt, wenn der einzelne im gegebnen Falle das als Gnade
erbitten soll, wozu er seiner Herzensmeinnng nach ein moralisches Recht hat.
In der Presse wie im Privatgespräch begegnet man häufig der Anschauung,
daß es leichter sein würde, dem einzelnen Offizier eine höhere Pension zuzu¬
billigen, wenn nur die Zahl der Pensionirnngen sich verringern ließe. In
dieser Argumentation liegt in politischer wie in militärischer Beziehung so sehr
der Kardinalpunkt der ganzen Frage, daß es uns gestattet sein möge, mit
einigen kurzen Worten darauf einzugehen. Die Gleichmäßigkeit des dentschen
Offizierkorps in Bezug auf gesellschaftliche Stellung wie auf wissenschaftliche
und allgemeine Bildung ist eine seiner größten Vorzüge. „General oder Cornet,
es sind alle meine Offiziers," hat schon Friedrich der Große gesagt, und aus
dem Gedanken des jungen Offiziers, daß eS ihm wie jedem andern möglich
sei, den Feldmarschallstab dermaleinst zu erreichen, entwickelt sich zu nicht ge-
ringen Teile das Streben, welches in seinen Folgen die deutschen Heere zu den
bisher in der Kriegsgeschichte einzig dastehenden Siegen geführt hat. Wir er¬
kennen in dieser Gleichmäßigkeit einen wesentlichen Punkt der Überlegenheit bei¬
spielsweise über das Offizierkorps der französischen Armee unter dem Kaiser¬
reich, wo der poux trouxisr unter den Offizieren seinen Lebenszweck für erfüllt
hielt, wenn er es glücklich bis zum oaMino gebracht hatte, während jüngere
Leute über seinen Kopf hinweg in die höhern Stellungen gelangten. Wenn
es jemals in den Reihen des deutschen Offizierskorps soweit kommen sollte,
daß der Regel nach der „Übergangene," von dem in den Zeitungen soviel die
Rede ist, ruhig in seiner untergeordneten Stellung verbleibt, bis er etwa ein
gewisses Pensionsmaximum erdient hat, so würde das eine geradezu unerme߬
liche Schädigung des ganzen Gefüges der militärischen Hierarchie in sich schließen.
Der im deutschen Offizierkorps so hochentwickelte Sinn für die persönliche Ehre
und mit ihm der gesunde, zu hohen Thaten anspornende Ehrgeiz müßte unter
solchen Verhältnissen sich naturgemäß bedenklich vermindern, und im Laufe der
Zeit würden sich geradezu zwei Klassen von Offizieren bilden, die ohne weiteres
im einen Gegensatz zu einander treten müßten. Die eine, wissenschaftlich besser
vorgebildet und von dem dann unvermeidlichen Nepotismus getragen, würde in
raschen Fluge vorwärts kommen, während die andre ihr Avancement mit dem
Hauptmann für abgeschlossen halten, deshalb als eine Art höherer Unteroffiziers
zwar voraussichtlich mit voller Pflichttreue, aber sicherlich ohne diejenige Freudig¬
keit den schweren und ermüdenden Fricdensdienst versehen würde, welche jetzt
gerade in der Hoffnung ans bessere Zeiten und erweiterten Wirkungskreis die
Leistungen der Kompaniechefs im deutschen Heere zu so außerordentlichen macht.
Und doch erscheint es wieder unmöglich, jeden Offizier nach seinem Dicnstalter
zu den höhern Stellungen aufsteigen zu lassen. Ein vortrefflicher Kompaniechef
wird häufig ein unbrauchbarer Regimentskommandeur, weil ihm durchaus die
nötigen Eigenschaften fehlen, das ihm unterstellte Offizierkorps zu leiten; ja ein
General, welcher unter dem lauten Beifall aller Zeitgenossen seine Division zum
Siege geführt hat, vermag sich vielleicht den Überblick nicht anzueignen, der zur
Führung noch größerer Truppenkörper nötig ist. Wir können deshalb lediglich
in der Art und Weise, wie jetzt das Avancement der Offiziere gehandhabt wird,
nach scharfer Auswahl, aber unter gerechter und wohlwollender Abwägung aller
Verhältnisse, das Heil der Armee und mittelbar dasjenige des Staates erblicken,
und wie wir überzeugt sind, daß ein deutscher Kriegsherr sich nie zu einer
Änderung in dieser Richtung entschließen wird, so glauben wir auch, daß eine
Mehrzahl von pensionirten Offizieren lieber mit uns auf die Wohlthat einer
erhöhten Pension verzichten würde, als den Genuß derselben abhängig gemacht
sehen von Bedingungen, welche die hohe soziale Stellung des Offizierkorps, die
Schlagfertigkeit der Armee und die Wehrhaftigkeit der Nation in hohem Maße
beeinträchtigen würden.
Es liegt nicht in der Absicht unsrer Ausführungen, auf die Frage der
Pensionscrhöhung selbst näher einzugehen. Es hieße Eulen nach Athen tragen,
wenn wir an dieser Stelle ans das Bedürfnis oder die Notwendigkeit zurück¬
kommen wollten, dem in mancher Hinsicht gegenüber den andern Staatsbeamten
erheblich schlechter gestellten Offizier eine angemessene Pension zu sichern. Wir
hoffen auf die in Rede stehende Peusivnserhöhung und gönnen sie den Offi¬
zieren, welche in ihren Genuß treten werden, von Herzen. Glücklicherweise scheint
auch von feiten der ausschlaggebenden Parteien im Reichstage der jetzt an
die Relikteukvmmissiou verwiesenen Regierungsvorlage der wünschenswerte gute
Wille entgegengebracht zu werden. Es kam hier nur darauf an, nochmals
hervorzuheben, wie es vor einiger Zeit auch die Kölnische Zeitung bereits ge¬
than hat, daß es eine große und harte Unbilligkeit gegen die ältern Pensionäre
wäre, wenn dem Gesetze keine rückwirkende Kraft gegeben würde. Unser Zweck
ist erreicht, wenn diese Zeilen Anlaß geben sollten zu Rede und Gegenrede, zu
allseitiger ernster Erwägung der einschlägigen Verhältnisse, oder zu Vorschlägen,
in welcher Weise der in Aussicht genommenen Ungerechtigkeit ihre Spitze ge¬
nommen werden könne, falls die finanzielle Lage des Reiches es nicht gestatten
sollte, die Pensivnscrhöhung rief allen alten Pensionären zu Teil werden zu
lassen. Dahin würde zu rechnen sein die Ausdehnung des Gesetzes auf alle
solche pensionirten Offiziere, welche den Feldzug 1870 — 71 in einer Stellung
und unter Verhältnissen mitgemacht habe», welche sie zum Empfange der Fcld-
zugsmedaillc für aktive Militärs berechtigten, oder eine Erhöhung der alten
Pensionen um fünfzig Prozent des Unterschiedes gegen die neuen Sätze, oder
der Ausschluß der Höchstpensionirtcn von den Wohlthaten des neuen Gesetzes,
um die Pensionirten der niedern Grade derselben ganz und voll teilhaftig werden
zu lassen, wenn mich mit diesen flüchtigen Andentungen die Reihe von mehr
oder minder zweckmäßigen und ausführbaren Mittelwegen keineswegs erschöpft
scheint. Wir können aber nicht umhin, zum Schluß nochmals zu betonen, daß
es bei allen gesetzgeberischen Maßnahmen im Interesse des Ganzen wie der Ein¬
zelnen hauptsächlich darauf ankommt, gewisse Ansprüche nud Rechte der alten
Pensionäre anzuerkennen und diese dann nach Möglichkeit zu berücksichtigen,
statt durch Erhöhung des Dispositionsfonds eine Art Armenkasse zu gründen,
deren Inanspruchnahme mit steter Beschämung für den ehemaligen Soldaten
verknüpft sein und so der an und für sich schon niederdrückenden Thatsache der
wenig günstigen pekuniären Lage noch die Demütigung der öffentlichen Bitte hinzu¬
fügen würde.
le allgemeine Meinung über Wesen und Leben der Literatur neigt
dahin, von schlimmen Tagen der Literatur zu sprechen, sobald
eine Überzahl von vermeintlich Berufenen sich neben den wenigen
Auserwählten hervordrängt, sobald der Schein an Stelle des
Echten und Vortrefflichen gepriesen wird, sobald die Mittelmäßig¬
keit und jener fröhliche Dilettantismus, welcher es noch nicht einmal zur Mittel¬
mäßigkeit bringt, breit im Vordergrunde der literarischen Bühne steht. Doch
ist dies bei näherer Betrachtung der immer wiederkehrende Zustand in allen,
auch den gepriesensten Literaturperioden, und so wenig erfreulich die beständige
Bevorzugung oder mindestens Gleichschätzung des Untergeordneten oder gar
Nichtigen ist, sie gehört eben zu jenem „stillschweigenden Vertrag," auf
den sich „Rmneaus Neffe" in Diderots gleichnamigen geistreichen: Dialog be¬
ständig beruft. Größere Dichter und bessere Schriftsteller, als heute leben,
haben sie ertragen, Goethe und Schiller haben nicht nur Johann Jakob Engel,
sondern auch Kotzebue und August Lafontaine als Gleichgeordnete neben sich
nennen hören müssen. Es wäre kindisch, wollten die Tüchtigen des Tages darum
am Publikum, an sich und ihrer nachhaltigem Wirkung verzweifeln, weil die
Mode- und Schwindelberühmtheiten für den Augenblick eine sichtbarere Wirkung
hervorbringen. Nein, noch einmal seis gesagt: Nicht das ists, was uns an der
gedeihlichen Fortentwicklung unsrer Dichtung zu Zeiten verzagen läßt und die
schwersten Bedenken erregt, sondern das, daß der verhängnisvolle Zug des Tages,
die Lust zur Überproduktion, zur Ausbeutung eines für die künstlerische Dar¬
stellung neueroberten Gebiets, die Unterordnung unter die schlechten Neigungen
und Unarten des Publikums, die Gleichgiltigkeit gegen poetische Reife und gegen
das Streben nach künstlerischer Vollendung nach und nach auch die wahrhaften
Talente erfaßt, daß unter dem Schutze guter, wohlerworbener Namen dem deut¬
schen Publikum unerfreuliche und unreife Werke oder armselige Wiederholungen
schon oft gegebener Darstellungen immer häusiger und immer unbefangener dar¬
geboten werden.
Wir haben in diesen Blättern schon wiederholt ans die wunderliche Neigung
der Gegenwart zu jener Gattung von Romanen aufmerksam gemacht, welche
nicht als historische, sondern als archäologische Erzählungen bezeichnet werden
müssen, Erzählungen also, in denen nicht die Gestaltung eines poetischen Vor¬
ganges, welcher nur auf dem Hintergrunde einer bestimmten Zeit gedacht werden
kann und demgemäß die Schilderung dieser Zeit mit in sich begreift, sondern
in denen die Mitteilung von gewissen Kenntnissen, die bequeme und gefällige
Übermittlung der Resultate gewisser wissenschaftlichen Forschungen an ein verehr¬
liches Publikum in erster Linie steht. Je sernerliegende Zeiten und Zustände
der archäologische Roman behandelt und, wie sich seine Leser schmeicheln, „lebendig"
vorführt, umso stärkern Reiz übt er aus, und umso geringfügiger werden die
Ansprüche an feinen poetischen Gehalt. Von dem archäologischen Roman gilt
in erster Linie, was Gervinus grollend am historischen Roman überhaupt aus¬
gesetzt hat: daß er den Geschichtssinn nicht nähre und deu Kunstsinn zerstöre,
daß er in seiner Weise so gut wie das schlechte Ausstattungsdrama den Sinn
der Leser vom Kern und Wesen der Dinge auf leidige Äußerlichkeiten ablenke,
daß er ein reines Urteil über die poetische Kraft eines Schriftstellers, über die
Fähigkeit, Welt und Leben, Handlungen und Charaktere darzustellen, nur in
seltenen Fällen gestatte. Das deutsche Publikum, dem von jeher alle akademisch
gestempelten Redensarten und alle Behauptungen, die auch nur den Anschein
wissenschaftlichen Ernstes tragen, gewaltig imponirt haben, nimmt ohne weiteres
ans Treu und Glauben an, daß der historische und nun vollends der archäo¬
logische Roman, welcher ja ungewöhnliche und nicht alltäglich zu treffende Kennt¬
nisse voraussetzt, höher stünden als die „Alltagsgeschichte." Nun ist im Gegen¬
teil nichts gewisser, als daß sich in der seelisch tiefen, sinnlich frischen und poetisch
neuen Verlebendigung einer Alltagsgeschichte, die eben keine sein darf, die echte
Dichternatur treuer und reiner bewähren kann als in der Dichtung mit histo¬
rischem Hintergrund. Doch ist nicht die Rede davon, den deutschen Dichtern
das Recht abzusprechen, ihre Stoffe beliebig zu wählen. An sich ist keine Zeit
zu verwerfen und kein Roman, keine Erzählung schon darum archäologisch zu
schelten, weil sie in entlegenen Zeiten und weiten Fernen spielt. Ist der Dichter
gewiß, daß er auf dem fremdartigen Hintergründe ganze, volle Gestalten geben
kann und eine Handlung, die uns poetisch ergreift und unmittelbare, nicht reflek-
tirte Teilnahme weckt, so wähle er getrost jede historische Periode, jedes Land
und Volk, die seine Phantasie anziehen. Die Bedingung bleibt, daß die Dich¬
tung als solche und nicht durch ihr Bei- und Rechenwerk uns fessele.
Dies vorausgesetzt, ist eines einleuchtend: daß die Arbeitsteilung, die Beschrän¬
kung auf die Spezialität, wie sie aus dem Gebiete der Wissenschaft herrscht, in ge¬
sunden Literaturzuständen niemals auf die Dichtung übertragen werden kann.
Wohl soll der Dichter die Grenzen seiner Kraft kennen und sich innerhalb derselben
halten. Aber zwischen dieser Selbsterkenntnis und der Ausbeutung des Gebiets,
aus welchem der zufällige erste Erfolg errungen worden ist, zwischen der klaren
Erkenntnis der eignen Schranken und der eintönigen Wiederholung derselben
Motive, Gestalten und szenischen Wirkungen ist ein gewaltiger Unterschied. Und
wie begrenzt eines Dichters Vorstellungskraft immer sei, so eingeengt kann
sie nicht sein, daß sie gezwungen wäre, nur in einer Zeit, einer Geschichtsperiode
zu verharren, nur in ihr Leben zu erkennen und aus ihr Leben zu schöpfen.
Die poetische Naivität und die poetische Unmittelbarkeit verlangen ganz sicher
Von einem allzubeschränkten Schauplatz hinweg; Goethe hat recht gut gewußt,
warum er das Dutzend Schauspiele aus dem sechzehnten Jahrhundert, welches
die Buchhändler nach dem „Götz" von ihn, verlangten, und welches zu liefern
ihm, wie er selbst sagt, „ein leichtes" gewesen wäre, nicht schrieb. Die Wieder¬
holung schon einmal behandelter Stoffe, die Einschränkung der gestaltenden
Phantasie auf eine bestimmte Periode, die methodische Behandlung derselben und
das Nachdringen aller möglichen Episoden, die in einer größern epischen Dar¬
stellung keinen Raum gefunden haben, entspringen der Reflexion. Ob unsre
jiingeru Historiker immer wohlthun, wenn sie sich prinzipiell um nichts andres
kümmern als um König Wenzel und König Sigismund,, um protestantische
Union und katholische Liga, um den dreißigjährigen Krieg oder den siebenjäh¬
rigen Krieg, wir Wissens nicht. Daß aber unsre Poeten schlecht daran thun,
wenn sie das Beispiel nachahmen und das Prinzip der Arbeitsteilung auf die
Dichtung übertragen, das unterliegt keinem Zweifel. Es kann der poetischen
Phantasie nicht zum Heile gereichen, wenn ihre Empfänglichkeit von einem be¬
stimmten Studienkreis eingeschränkt und geregelt und andrerseits von wissen¬
schaftlichen Neigungen und Leistungen eines Dichters einseitig gespornt wird.
Viele leben heutzutage des Glaubens, daß sich der Mann der Wissenschaft
und der Dichter gegenseitig ausschlossen. Wir halten dies für ein Vorurteil.
Genuß aber darf die wissenschaftliche Thätigkeit eines Gelehrten, der nebenher
auch Dichter ist, seine poetische Thätigkeit nicht fortdauernd bedingen. Was
einmal günstig und ersprießlich wirke» kann, erweist sich ans die Länge lähmend
und zerstörend. Wir halten für möglich, daß Felix Dcchns Buch „Die Könige
der Germanen" der Phantasie des Dichters die ersten Anregungen zu seinem
großen historischen Roman „Ein Kampf um Rom" gegeben hat. Es liegt nahe,
daß bei ernsten Studien über entfernte Zeiten und Zustände die poetische Phan¬
tasie zugleich angeregt werde. Bilder und Eindrücke, die in der streng wissen¬
schaftlichen Darstellung keinen oder nur ungenügenden Raum haben, bleiben dem
Poetisch Angeregten in der Seele, wirken fort, längst nachdem die wissenschaft¬
liche Arbeit gethan ist. Aber wenn dem daraus hervorgehenden Drange, die
auf- und abwogenden Vorstellungen in einer lebendigen, vielgestaltigen und viel¬
farbigen Darstellung zu bannen genügt ist, wird der Drang sich beständig in
derselben Richtung wiederholen? Wird er sich an die willkürliche Begrenzung,
die der Mann der Wissenschaft seinem Arbeitsfeldc giebt, binden? Und wenn
es unter dem Einfluß einer bestimmten Reflexion oder gar unter dem der
Wünsche des Publikums geschieht, welches den Dichter nun einmal auf diesem
Gebiete „gewöhnt" ist — wie Ebers im ägyptischen, Gerstäcker und Balduin
Möllhausen im transatlantischen Roman, Auerbach in der Schwarzwcildcr Dorf¬
geschichte —, so wird es seiner wahren Produktionskraft nicht zur Förderung
gedeihen. Die Kunst kann nicht einen Parallclweg mit der wissenschaftlichen
Spezialität gehen. Der Kampf des sinkenden Roms mit den kräftig cmf-
strebenden Germanen enthält ohne Frage große poetische Motive und Gestalten.
Aber wenn ihn ein Dichter fort und fort zum Gegenstande seiner Darstellungen
wählen will, läuft er Gefahr, sich in mtschiedner Weise zu veräußerlichen. Wir
gehören nicht zu den unbedingten Bewunderern des Dahnschen Romans „Ein
Kampf um Rom" und leben der Meinung, daß weniger, nämlich eine strenger
konzentrirte Handlung, mehr gewesen wäre. Aber wir verkennen doch keinen
Augenblick das wahre und echte Verdienst dieser Schöpfung, deren Prachtepisode
von König Witichis allein ausreichen würde, Dahn die Ehren eines wahrhaft
erfindenden und im großen Sinne gestaltenden Dichters zu sichern. Seiner Lyrik
und Balladendichtung sind starke Elemente reflektirter und äußerlicher Rhetorik
beigemischt, aber daneben stehen so Wahrschaft schöne, einem tiefen Gemüt, einer
lebendig angeregten Phantasie entstammte Dichtungen, daß uns jedes Herunter¬
steigen dieses Dichters unter sich selbst wahrhaft peinlich nud schmerzhaft berührt.
Nun ist aber Felix Dahns neuester Roman Felicitas,*) der sich aus¬
drücklich als ein erster Band „Kleiner Romane aus der Völkerwanderung" an¬
kündigt, eine Produktion von entschieden unerfreulichen Gepräge. Es handelt
sich um ein Bild aus dem Jahre 476 n. Chr., dem Jahre des endlichen Unter¬
ganges des seit lange hinsiechende» weströmischen Kaiserreiches. Der Schauplatz der
Handlung ist die Römerstndt Juvavum, die von „Barbaren" ringsum bedroht,
im Verlauf der Geschichte dem vereinten Ansturm der Alamannen und Bcijuvciren
erliegt. Die Titclheldin, das junge Weib eines Steinmetzen Fulvins, ist beim
Beginn der Ereignisse in Gefahr, auf Grund des römischen Rechtes, als die
Tochter von Freigelassenen, über deren Freilassung keine schriftliche Urkunde
existirt, den Lüsten des Tribunen Leo zu verfallen, der in Juvavum als einziger
Gebieter schaltet und nur am Presbyter Johannes einen ihm gewachsenen Gegner
hat. Der plötzliche Überfall der Stadt durch die kriegerischen Germanen bringt
Felicitas Rettung, freilich aber auch noch eine neue ungeahnte Gefahr, indem
der junge Königssohn der Alamannen Liuthari von einer rasch auflodernden
Leidenschaft für die reizende junge Frau ergriffen wird. In der Art, wie sich der
römische Kriegstribun und der germanische Fürst bei gleicher Wallung verhalten,
Ivie der eine durch Verbrechen und die entscheidende Niederlage hindurch seine
bösen Anschlüge auf Felicitas verfolgt und dabei den Untergang findet, der
andre sich stolz und edel über seine Wallung erhebt, sich selbst besiegt und sich
selbst treu bleibt, sollen die großen Gegensätze zwischen der Entartung der hin¬
siechenden römischen Welt und dem Herrschafts- und Lebensanspruche der jugeud-
srcndigen und tugendkräftigen Germanen verkörpert werden. Die Art, wie
Fulvius und Felicitas in dem nunmehr der Herrschaft der bajuvarischen Herzöge
unterworfenen Juvavum fröhlich und gedeihlich weiterleben, versinnbildlicht zu-
gleich das eigentümliche Verhältnis, in welches die römischen Besiegte» überall
zu den germanischen Siegern traten. Wir cchueu, daß sich unter der Obhut
germanischen Rechtes und germanischen Edelsinnes besser gedeihen lasse als
unter dem Zepter der Imperatoren, die nur noch von habsüchtigen Fiskalbeamten
und gesindelhaften Soldkuechten in den Außenprovinzen vertreten werden.
Mau sieht leicht, daß im Gegensatz zum „Kampf um Rom" diese „Felicitas"
mir einen kleinen Nahmen füllt und ein wenig figurenreiches Bild ist. Doch
nicht darauf kommts an, sondern auf charakteristische, lebensvolle Gestalten, auf
Kraft und Frische des Kolorits, auf Gleichmaß und Sorgfalt der künstlerischen
Durchbildung. Mit alledem ist „Felicitas" gegenüber dem großen Gemälde aus
der Völkerwanderung übel gefahren und belegt nur, daß beinahe jede poetische
Tautologie eine starke Abschwächung in sich schließt. Wir kennen die Gestalten
alle: den wollüstig üppigen Kriegstribunen, der Sklave, Räuber, Gladiator
und Soldat unter den Adlern Roms gewesen ist, den jungen Römer Cornelius
Ambiorix, der an der Zukunft der alternden Weltgebieterin verzweifelt nud mit
elegischem Ingrimm das Anwachsen der germanischen Macht betrachtet, den
schönen blondhaariger Königssohn Liuthari und seinen immer durstigen Waffen¬
meister Hadnwalt, Hadumars Sohn, den Argentarius Zeno von Byzanz, den
frommen Presbyter Johannes, den dicken weindurstigen Gypsgießer Crispus
und sein germanisches Gegenbild Vestralp. Wir würden sie aber mit etwas
mehr Freude wieder begrüßen, wären sie von wirklicher Liebe des Dichters für
seine Gestalten eingeführt. Aber nur allzusehr merkt man dem gesamten Tone
des Romans an, daß der Verfasser uicht in der vollen schöpferischen Stimmung
gewesen ist, sondern sich selbst wie seine Leser erst in dieselbe hineinzusteigen!
sucht. Oder gäbe es eine andre Erklärung für eine Einführung der Titelheldin,
wie die folgende:
Und nun schwebte die kaum noch Vollreife Gestalt die vier Steinstufen hinab, welche
von der Schwelle in den Garten herabfiihrteu (hinab, herab!), vorsichtig das Kind ans
dein linken Arm noch etwas höher schiebend und enger andrückend, mit der Rechten aber
leise den Saum des ganz weißen Faltengewandes bis an die feinen Knöchel hebend, das
tadellos schöngeformte Oval des Hauptes vorsichtig leise senkend (schiebend, drückend,
hebend, senkend!): es war ein Anblick von vollendeter Anmut: jugendlicher, kindlicher noch
als die Madonnen Raphaels: und nicht demütig und doch zugleich mystisch verklärt, wie die
Mutter des Christuskindcs; dn war nichts Komplizirtes, nichts Mirnkelhaftes, nur edelste
Einfachheit und doch königliche Hoheit in ihrer unbewußten Würde und Unschuld; wie Wohl¬
laut der Musik umfloß es bei jeder der maßvollen nie das Bedürfnis überschreitenden Be¬
legungen diese Gestalt einer muttcrgcwordcueu Hebe: Weib und doch ewig Mädchen; rein
'»erheblich, vollendet glücklich, abgeschlossen und befriedet in der Liebe zu dem Jüngling-
Gemahl und dem Kind an ihrer Brust: rührend, lieblich und ehrwürdig zugleich: bei aller
vollendeten Schönheit des Wuchses, des Antlitzes, der Farben so keusch, daß wie vor einer
Statue jedes Verlangen in dieser Nähe schwieg." (!)
Und das am Eingänge eines Romans, in dem uns nur erzählt wird, wie
dieses junge Weib zuerst die freche Glut des kriegs- und liebeserfahreuen Tri-
hunc» Leo weckt und darnach dem blondlockigen schönen Königssohn Liuthari
beinahe sich selbst untreu macht. Wissen unsre Dichter nicht mehr, was sie
schreiben? Soll die leidige Gewohnheit des rhetorischen Dramas, um des Effektes
willen in der nächsten Szene zu vergessen, was uns in der vorhergehenden ein¬
dringlich gemacht worden ist, nun auch auf die erzählende Dichtung übergehen?
Und vor allem: welcher Wortschwall, welcher Überfluß von Redensarten, um
uns das Bild einer zugleich reizenden und unschuldigen jungen Frau vor Augen
zu stellen! Des Verfassers Phantasie will im fünften Jahrhundert christlicher
Zeitrechnung leben und uns in diese Zeit versetzen, und da zitirt und kritisirt
er die Madonnen Rafaels, er will poetisch wirken und wirft mit abstrakten Ab-
handlungswvrteu wie „nichts Komplizirtes, nichts Mimkclhaftes" um sich und
häuft ein Bild auf das andre, als wären wir nicht mehr weit vom Schwillst
der Schlesien und Giambattista Marinis gepriesenen Andenkens.^) Und wun¬
derlich genug, mit dieser unpoetischen Häufung, diesen geschmacklosen Wieder¬
holungen einer Vorstellung, die der Dichter nicht klar und plastisch in Worte
zu prägen vermag, geht im weitern Verlauf des Romans die unglaublichste
Trivialität (wohlgemerkt Trivialität nach demi Maßstabe, mit dem wir einen
Autor wie Dahn zu messen haben) Hand in Hand. Wir könnten hundert
Stellen zitiren, die dem Schluß des fünften und dem Anfang des sechsten Ka¬
pitels gleichkommen:
Mett es dem Tribun! schrie er mit heiserer Stimme wie aus letzter Kraft. Ich kann
nicht mehr — der Pfeil im Nacken! — Sie sind da! — Schließt die Thore! Die Germanen
stehen vor der Stadt!
Und den Zügel fahren lassend, stürzte er rücklings vom Pferd. —
Er war tot. —
Sechstes Kapitel.
War es wirklich so? Standen in der That die Germanen vor den Thoren von Juvavum?
Darüber zerbrachen sich die Bürger mit peinigenden Schwaukuiigeu die Köpfe.
Zunächst erfuhr man gar nichts mehr von allem, was draußen vorgegangen war oder
nun vorging.
Ein völlig barbarischer Stil also, der dem Leihbibliothekenroman angehört und in
Teinach berüchtigten Kriminalgeschichten eine wenig beneidenswerte Popularität
erlangt hat, hat es den: hoch- und feingebildeten Dichter anthun können, daß er
ihn für nachahmenswert erachtet! Der Hast der Produktion ist ein solcher
Stil oder vielmehr Unheil freilich im höchsten Maße förderlich.
Wenn dann in die kurzen, hastigen Sätze Zwischensätze eingeschvbeii werde»,
so lauten sie etwa wie folgt:
Eignete (!) er (der Geldwechsler Zeno) doch vor den Thoren gar manche Possessio, be¬
wirtschaftet von Sklaven und Sklavinnen, welche diese Gelegenheit erfassen mochten (!), wie
*) Diesem Schwulst entspricht auch die klägliche Hilflosigkeit der Juterpnuktivu.
es die schwer Gequälten gar oft in solchen Fällen thaten, zu den Barbaren zu entlaufen,
mit diesen das Weite zu suchen.
Auch bargen seine Villen, war er auch just kein Kunstfreund und zu vorsichtig, Schätze
außerhalb der Festung zu belassen (!), gar manches wertvolle Gerät und Geschirr, auch
Herden von Rindern, Schafen und Schweinen, das (!) der Wirksame (!) ungern den Räubern
gegönnt hätte.
Daß so unglaubliche Übergänge wie: „Wir schließen uns lieber den zechenden
Germanen oberhalb, als dem in ohnmächtiger Wut Zürnenden unterhalb des
Marmvrbodens an" oder: „Der Tag steigt, seufzte sie, und mit ihm steigt doch
meine Angst. Mein Fulvius, wo magst du sein? Hier bin ich! rief eine fröh¬
liche, helle Stimme" ebenso zahlreich vorkommen wie mißgeschaffene neue Worte
und absonderliche Wendungen, kann nach alledem nicht Wunder nehmen.
Die „Spezialität" ist auf poetischem Gebiete offenbar kein Schutz gegen
die Flüchtigkeit und Geschmacklosigkeit. Sie scheint dieselbe sogar zu fördern.
Wenn dergleichen am grünen Holze geschieht, was soll man am dürren erwarten?
Will Felix Dahn die kleinen „Romane aus der Völkerwanderung" in der That
fortsetzen, so dürfen das deutsche Publikum und die deutsche Literatur wohl vou
ihm erwarten, das; er sich auf sich selbst besinne. Sorgfalt und guter Geschmack
der Ausführung sind das mindeste, was man von einem namhaften Dichter
fordern darf, und die Diskussion über den innern Wert oder Unwert einer
Schöpfung sollten erst jenseits dieser erfüllten Forderungen beginnen.
uf das im vorletzten Hefte der Grenzboten veröffentlichte Sonett
von Paul Lang: „Ich frug," welches in launiger Weise einen
neuerdings immer mehr um sich greifenden Sprachfehler ver¬
spottete, hat die in Berlin erscheinende Post in einer ihrer letzte»
Nummern folgendes mit v. C. unterzeichnete Gegensonett gebracht:
Was neulich du verlangt, ich bin es willig,
Ich folge dir! Nicht sag' ich mehr: ich frug!
Nicht sprech' ich fürder noch: ich wug, ich klug!
Der Sprache Regel völlig nur erfült' ich!Grammatikalisch aber sprechen will ich!
Wenn nicht: ich frug! — Warum denn dann: ich trug?
Wenn nicht: ich wug! — Warum denn dann: ich schlug?
Was recht dem einen, ist dem andern billig.Ich spreche jetzt nur noch: ich fragte, wagte!
Ich gehe stracks, wohin du mir gewinkt,
Und sage auch: ich dragee und ich schlagte!
Ich liegte, fliegle, single! — Wie das klingt!
So schön als wenn: lag, flog und sang! ich sagte,
Doch ist's grammatikalisch recht gesingt!
Wäre die Verteidigung in der Form nicht ebenso zierlich wie der Angriff,
wir würden sie ganz mit Stillschweigen übergehen. Denn in der Sache ist sie
so verfehlt wie möglich. Wir müssen also unsern Gegner in aller Kürze über
die Sache aufklären, auf die Gefahr hin, einen großen Teil der Leser dieser
Blätter zu beleidigen durch Vorführung von Dingen, die heutzutage jedem leid¬
lichen sekundärer eines deutschen Gymnasiums geläufig sind.
Die deutsche Sprache hat zwei Arten von Thätigkeitswörtern, die so¬
genannten starkei? und die sogenannten schwachen. Die starken heißen stark, weil
sie die Triebkraft haben, ihr Präteritum und ihr Partizip aus dem eigne»
Stamm heraus zu entwickeln, wobei nur die Stammvokale gewisse Veränderungen
erleiden. Solche starke Verba sind: singe, sang, gesungen — stehle, stahl, ge¬
stohlen — liege, lag, gelegen — fliege, flog, geflogen — trage, trug getragen —
schlage, schlug, geschlagen. Die schwachen Verba heißen schwach, weil sie jene
Triebkraft nicht besitzen, sondern zur Bildung ihres Präteritums und ihres
Partizips fremder Hilfe bedürfen: sie fügen an den Stamm das Zeitwort thun
an. Nichts andres nämlich als ein kümmerlicher Nest dieses Zeitwortes sind
die Endungen te und t in Formen wie: lobe, lobte, gelobt — suche, suchte,
gesucht — plage, plagte, geplagt — wage, wagte, gewagt. Dies sind schwache
Verba,
Wollte nun jemand die Frage aufwerfen: Warum sind denn manche Verba
schwach und manche stark? so würde das eine ganz ähnliche Frage sein wie die:
Warum blüht denn die eine Rose rot und die andre weiß? Alle Sprachformen
sind Naturerzeugnisse, und kein Engel im Himmel kann sagen, warum die einen
nach dem, die andern nach jenem Bildungsgesetze entstanden sind.
Wie der Mensch aber imstande ist, in der Pflanzenwelt in den natürlichen
Entwicklungsgang störend einzugreifen und Bildungen zu veranlassen, welche die
Natur von selbst nie und nimmermehr schaffen würde, so ist er auch imstande,
die natürlichen Entwicklungsgesetze der Sprache zu stören und ihnen eine andre
Richtung zu geben. Dies geschieht nun zwar niemals ganz ohne Sinn und
Verstand, etwa so, daß sprachliche Formen ohne alle Gesetzmäßigkeit gebildet
würden — wie denn auch eine künstlich gezüchtete Nosenart immer noch nach
natürlichen Bildungsgesetzen entsteht —, wohl aber so, daß die neuen Formen
„nach falscher Analogie," wie die wissenschaftliche Grammatik sagt, gebildet
werden. Kinder, welche erst reden lernen, bilden anfangs unzählige Formen
nach falscher Analogie.
In der Verbalbildung liegt nun am allernächsten die Gefahr, die beiden
Hauptklassen der starken und schwachen Zeitwörter zu verwirren, ein starkes
Verbum nach einem zufällig ähnlich klingenden schwachen - also eben nach
falscher Analogie! — abzuwandeln, und umgekehrt. So haben die Kinder
anfangs eine Neigung, alle starken Verba wie schwache zu behandeln, weil die
mannichfachen Vokalverändernngen, die bei den starken im Innern des Stammes
vorgehen, in ihrem Bewußtsein noch nicht festsitzen; sie sagen also genehme für
genommen, geschreibt für geschrieben. Da aber bekanntlich die große Masse der
Menschen ewig Kind bleibt, so erstreckt sich eine gewisse Unsicherheit und eine
gewisse Neigung zur falschen Analogie auch weiter, und sie hat es in einzelne»
Fällen zuwege gebracht, daß falsche Formen, die sich anfangs mir vereinzelt
hervorwagte», allmählich sich über das ganze Volk verbreiteten und bellte all¬
gemein so gebraucht werden, als wenn sie von jeher die richtigen gewesen wären.
Ursprünglich starke Verba sind auf diese Weise endlich zu schwachen, und
schwache zu starke» geworden. So wird z. B. das Verbum laden, welches ehe¬
mals schwach war — lade, ladete, geladet —, jetzt allgemein wie ein starkes
behandelt: lade, lud, geladen; umgekehrt sind die ursprünglich starken Formen:
pflege, pflag, gepflogen jetzt fast ganz durch die schwachen verdrängt: pflege,
pflegte, gepflegt.
Nun liegen die Dinge doch einfach so. Überall da, wo die falsche Form
im ganzen Volke oder fast im ganzen Volke durchgedrungen ist, wie in den
beiden zuletzt erwähnten Fällen, wäre es vergebliche Liebesmüh, das alte und
richtige noch wiederherstellen zu wollen. In allen Füllen aber, wo der Fehler
noch im Entstehen begriffen und vielleicht noch wieder gut zu machen ist, ist es
doch wohl die Pflicht derer, die da wissen, was richtig ist, die Schwankenden,
Jrregewvrdenen zu belehren und zum Nichtigen zurückzurufen. Solche Fälle
aber liegen vor z. B. bei stecken und fragen. Beides sind schwache Verba;
noch nie ist es jemand eingefallen zu sagen: gestocken oder gefragen; aber schon
beginnen selbst feingebildete Leute zu sagen: Der Schlüssel stak (!), und nun
vollends frug für fragte fängt ja jetzt allgemein an für vornehm zu gelten.
Die Form frug ist lediglich nach der falschen Analogie von trug und schlug
gebildet, und zwar ist der Verbrecher, bei dem sie sich zuerst findet, das Platt¬
deutsche gewesen. Bürger, 1747 in Molmerswende bei Halberstadt geboren,
schreibt schon 1774 in der „Lenore": „Sie frug den Zug wohl auf und ab,
sie frug nach allen Namen." So weit aber hat, trotz mehr als hundertjährigen
Vorhandenseins, die falsche Form noch nicht um sich gegriffen, daß sie nicht noch
von tausenden und abertausenden in unserm Volke als falsch empfunden würde.
Also wieder weg damit!
Gern hätten wir die vorstehende Auseinandersetzung in Verse gebracht, aber
das hätte ja einen ganzen Sonettencyklus gegeben! Will sich Herr v. C. ge¬
nauer über diese Dinge unterrichten, so empfehlen wir ihm das hübsche Buch
von K. G. Umdrehen: Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit im Deutschen (2. Aufl.
Heilbronn, Gebr. Henninger, 1882), wenn er es nicht lieber vorzieht, einmal
eine ordentliche deutsche Grammatik zur Hand zu nehmen.
nfänglich mit Staune», dann mit Bewunderung und mit freu¬
digem Stolze haben Nur gesehen, daß derjenige deutsche Staat,
welcher ans dem Schlachtfelde sein sieggckröntes Banner den deut¬
schen Stämmen vorangetragen hat, diese seine Führerrolle nach
der blutigen Arbeit auch auf dem Gebiete der Kultur und in
allen friedlichen, auf die Förderung von Kunst und Wissenschaft gerichteten Be¬
strebungen aufrechterhalten hat. Mit Recht konnte man auf Grund der That¬
sachen während der fünfziger und sechziger Jahre der preußischen Regierung den
Vorwurf macheu, daß sie Kunst und Wissenschaft zum Vorteile des „eisernen
Militärbudgets" vernachlässige. Heute, wo die Geschichte dieser beiden Jahrzehnte
offen vor uns liegt, wo wir einen Einblick in das stille, unermüdliche Schaffen
im Schoße der preußische» Regierung zum Heile des gesamten deutschen Vater¬
landes gewonnen haben, dürfen wir freilich diesen Vorwurf uicht mehr wieder¬
holen. Hinter dem höchsten Ziele mußten andre, minder hohe zurückstehen.
Aber noch nach den glänzenden Tagen von 1370 und 1871 zweifelte man
— und diese Zweifler waren nicht bloß die Feinde Deutschlands, nicht bloß die
offnen und geheimen Gegner Preußens und des hohenzollernschcn Kaisertums —,
noch damals zweifelte man, ob Preußen seiner Aufgabe, alle Zeit Mehrer des
Reichs zu sein an den Gütern des Friedens und der Gesittung, gerecht werde,
und ob nicht der Militarismus uach wie vor die Alleinherrschaft führen würde.
Das letzte Jahrzehnt hat in einem glänzende», alle Erwartung hoch übersteigenden
Maße gezeigt, wie Kaiser Wilhelm jene Verheißungen, welche er an: 18, Januar
1871 in Versailles gegeben, zur Erfüllung gebracht, wie die deutsche Reichs¬
und preußische Staatsregierung, sich auf die Macht ihrer Bajonnette und auf
ihr moralisches Übergewicht stützend, auf allen Gebieten der geistigen Kultur
Siege ans Siege erfochten hat.
Lassen wir diese Reihe glänzender Erfolge schnell an unsern Augen vorüber¬
ziehen, Sie beginnt mit der Erwerbung der Suermondtschcn Gemäldesammlung
für das Berliner Museum. Es folgen dann die Ausgrabungen in Olympia,
welche das deutsche Reich auf alleinige Kosten im Interesse der gesamten zivili-
sirten Welt mit einzig dastehender Uneigennützigkeit unternahm, die Ausgrabungen
von Pergamon, welche die großartigsten Erzeugnisse einer bis dahin so gut wie
unbekannten Kunstepoche Griechenlands zu Tage förderten, der Bau des Kunst¬
gewerbemuseums in Berlin, welches eine Zentral- und Pflanzstätte des deutschen
Kunsthandwerkes zu werden berufen ist, die Erwerbung des Lüneburger Silbcr-
schatzes, und nach einander Schlag auf Schlag, sodaß das Ausland mit wachsender
Bestürzung und Überraschung auf diese beispiellosen Erfolge sah, der Ankauf der
Hamiltonschen Manuskripten und Mmiaturensammlnng, des Silberschatzes des
Fürsten von Fürstenberg-Herdringen und der Gierkeschen Sammlung altjapa-
nischer Malereien. Da Preußen allmählich zum Zentralpunkt aller künstlerischen
Bestrebungen und sozusagen zum Stapelplatz unermeßlicher Kunstschätze alter und
neuer Zeit wurde, glaubte auch Dr. Schliemmm, daß seine wertvolle Sammlung
trojanischer Altertümer, die Überreste einer uralten Kultur, nirgends besser auf¬
gehoben sein könnte als unter dein mächtigen Schutze des deutschen Reiches,
welches seine hohe Kulturaufgabe darin erblickt, alle die gesammelten Schätze
in würdigen Gebäuden, in stolzen Palästen jedermann, welcher Nation er auch
angehören mag, zu freiem Studium und zu unbeschränktem Genusse zugänglich
zu machen.
Und damit kommen wir zu einer zweiten Gruppe von Verdiensten, welche
sich der preußische Staat während des Jahrzehnts nach dem großen Kriege um
die Förderung der Kunst erworben hat. Für die Sitze der neuen Neichsümtcr
und für die preußischen Staatsbehörden, deren Räume zu eng geworden, für
die Zwecke der Kunst und der Wissenschaft sind in Berlin zahlreiche Monumental¬
bauten errichtet worden, die eines plastischen und malerischen Schmuckes bedurften.
Und uicht bloß in Berlin. Die Hauptstädte der Provinzen sind in entsprechend
gleichem Maße bedacht worden. Wir erinnern nur an Düsseldorf und Breslau,
wo prächtige Museen, ein Ständehaus n. s. w. entstanden sind. Die Notwendig¬
keit nun, an diesen Werken der Architektur auch den Schwesterkünsten, der Malerei
und der Skulptur, einen Anteil zu geben, bot der Staatsregierung die erwünschte
Handhabe, an eine systematische Förderung der monumentalen Malerei und
Plastik zu gehen. Die letztere war in Berlin wenigstens niemals ganz unter¬
gegangen, da von Zeit zu Zeit immer noch ein Bedürfnis an öffentlichen Denk¬
mälern vorhanden war, welches auch befriedigt wurde. Die monumentale Malerei
aber war seit dem Anfang der fünfziger Jahre, wo die Wandmalereien in der
Schlvszkapelle und im Neuen Museum ausgeführt wurden, in den tiefsten Fall
geraten, für welchen einige an den obern Wänden der Vorhalle des alten
Museums ausgeführte Fresken Zeugnis ablegen. Die Berufung von Cornelius
nach Berlin, an welche speziell in Bezug auf die monumentale Malerei so hohe
Erwartungen geknüpft worden waren, hatte nicht den gewünschten Erfolg gehabt.
Die hochfliegenden Pläne Friedrich Wilhelms IV. kamen nicht zur Ausführung,
der neue Dom und mit ihm der (Änrxo Sö-illo blieben eine Ruine, und Cornelius
selbst hatte längst den Gedanken aufgegeben, seine Kartons ausgeführt zu sehen,
weshalb ihm diese, anstatt bloße Hilfsmittel zum Zweck zu sein, Haupt- und
Endzweck wurden.
Aber mit Cornelius stehen die in unsrer Zeit auf die Wiederbelebung
Und Hebung der Monumentalmalerei gerichteten Bestrebungen doch in Ver¬
bindung. Gerade jene Männer, welchen das Verdienst gebührt, die Aufmerk-
sanken der Staatsregierung wieder auf die lange vernachlässigte Pflege der
monumentalen Kunst gelenkt zu haben, sind begeisterte Corneliusverehrcr, und
sie sind sicherlich in dem Gedanken an die geliebte Kunst des von ihnen hoch¬
verehrten Meisters an die Verwirklichung ihrer Pläne gegangen. Zwar unter¬
liegt die Aufstellung und Begutachtung dieser Pläne einer aus fünfzehn Mit¬
gliedern bestehenden Landcskunstkommission, zu welcher Ministerin!- und
Kunstbeamte und Künstler gehören! man weiß aber, daß die Initiative zu
diesen Unternehmungen, der erste Gedanke von dem vortragenden Rate im
Ressort der Knnstaugelegcnhciten des Kultusministeriums, dem gegenwärtigen
Generaldirektor der königlichen Museen, or. Richard Schöne, ausgegangen und
von seinem Nachfolger im Kultusnnnisterium, dem Direktor der Nationalgalerie,
Geheimrat or. Max Jordan, mit gleicher Begeisterung aufgenommen worden
ist. Diese beiden Männer sind recht eigentlich die Seele der großen künstlerische»
Unternehmungen des letzten Jahrzehnts, auf welche wir heute mit Stolz blicken
dürfen. Manche Anfeindungen haben sie geduldig ertragen, bevor sie ihre
weit ausblickenden Pläne enthüllen konnten. Wie schnell haben sie dann aber
die oft erhobenen Vorwürfe, daß sie die lebenden Künstler zu Gunsten der alten
toten Meister benachteiligten, zum Schweigen gebracht! Bewährte Künstler
wurden mit ehrenvollen Aufträgen bedacht, und die Kraft junger Künstler wurde
durch das Vertrauen, welches die Staatsregierung ihnen entgegenbrachte, ge¬
hoben und gestählt.
Wenn wir von der Hebung und Förderung der Kunst sprechen, welche
der preußische Staat während des letzten Jahrzehnts mit redlichem Bemühen
und großen Opfern versucht hat, so müssen wir in erster Linie eines Mannes
gedenken, welcher im Kriege als der erste in Feindesland eindrang und die
ersten Siege erfocht und welcher anch im Frieden allen voran geht, wo es die
Pflege der Wissenschaften und Künste gilt. Es ist keine leere Huldigung, wenn
sich in dem Augenblicke, wo wir dieses schreiben, in Berlin die Vertreter der Kunst
und des Kunstgewerbes rüsten, um die silberne Hochzeit des Siegers von
Weißenburg und Wörth mit ihren besten Gaben zu schmücken. Dem Kron¬
prinzen als dem Protektor der königlichen Museen und seiner hohen Gemahlin
gebührt ein wesentliches Verdienst an allen künstlerischen Errungenschaften des
letzten Jahrzehnts, sowohl an den Erwerbungen der alten Kunstschätze wie ganz
besonders an der liebevollen Förderung aller kunstgewerblichen Thätigkeit.
Was in diesem Jahrzehnt speziell auf dem Gebiete der monumentalen
Malerei, die wir für unseru Zweck allein berücksichtigen wollen, geleistet worden
ist, mag uns ein statistischer Überblick lehren. Wir beginnen mit dem Zeug¬
hause, welches bekanntlich in eine „Ruhmeshalle" für die preußische Armee
umgewandelt wird, wenn auch der alte Name bleibt, da des Kaisers bescheidener
Sinn jene schon populär gewordne Bezeichnung nicht sanktionirt hat. Hier
haben Wilhelm Camphausen, Georg Bleibtreu und Anton von Werner in
Wachsfarbe die Krönung Friedrichs I. in Königsberg, den „Aufruf an mein
Volk" in Vreslau und die Kaiserproklamation in Versailles auf die Wand gemalt.
Ein viertes Bild, die Huldigung Friedrichs des Großen in Vreslau, steht noch
aus, da noch kein Künstler dafür bestimmt worden ist. In der Kuppel malt
Geselschap, ein für die Malerei großen Stils besonders begabter.Künstler, einen
römischen Triumphzug. Derselbe Künstler hatte auch im Verein mit Vleibtreu
in der Konkurrenz um die Ausschmückung des Kaiserhauses in Goslar eiuen
zweiten Preis errungen, während der erste dem Maler Wislieenns zufiel, welcher
bereits seit mehreren Jahren an einer Reihe von Wandgemälden arbeitet, die
den große>? Saal zieren soll. Das Hauptstück derselben bildet auch hier die
Errichtung des neuen deutscheu Kaiserreichs. In jeuer Konkurrenz war ein
dritter Preis einem jungen Düsseldorfer Künstler, Namens Knackfnß, erteilt
worden, den man dadurch entschädigte, daß man ihm die Ausschmückung der
Aula des Gymnasiums in Wohlan und im Verein mit Kötitz und Scheurenberg
die des Treppenhauses im Regierungsgebäude in Kassel übertrug, wo er und
Kötitz als Lehrer an der Akademie thätig sind.
Die Ausschmückung von Gymnasial-Arten spielt in dein Programm der
Landesknnstkommission eine sehr hervorragende Rolle, weil man die pädagogische
Wirkung der bildenden Künste ans die heranwachsende Jugend in vollem Um¬
fange zu schützen weiß. Früher war nach dieser Richtung nicht das mindeste
geschehen. Die Süle der Gymnasien machten denselben nüchternen und traurigen
Eindruck wie die Gerichtssäle und die Amtsstuben. Wenn es hoch kam, eine
Büste oder ein Bild des Hcrrscherpaares, im günstigsten Falle noch der Abguß
eiuer Antike. Jetzt sollen der die Gymnasien und Realschulen besuchenden
Jugend an der Stelle, an welcher sie sich bei feierlichen Gelegenheiten ver¬
sammelt, edle Gebilde der Kunst entgegentreten. Frühzeitig soll in ihr das
Kunstgefühl und das Bewußtsein geweckt werden, daß es außer der einförmigen,
grauen Alltagswelt noch eine heitere, farbige Welt der Ideale giebt, in welche
sich der ermüdete Geist hincinflüchteu kann, um sich an diesen Idealen zu er¬
heben und neue Kräfte zu sammeln. Von den Wände» der Schulsäle werden
die Heldengestalten des klassischen Altertums auf die Knaben und Jünglinge
herabblicken, werde» die Großthaten der Geschichte zu ihnen reden und sie zur
Nacheiferung entflammen. Bis jetzt sind die Säle folgender höhern Schule»
teils ausgeschmückt, teils zur Dekoration ausersehen worden: Wilhelmsgymnasinm
in Berlin durch Hertel, Friedrich-Wilhelmsgymnasium in Köln, Wilhelmsgymnasinm
in Königsberg durch Steffeck und Knorr, Bromberg durch Brauselvetter, Minden
durch Thumnnn, Osnabrück durch L. Geh, Bielefeld. Altona, Essen, Elbing, Rends¬
burg durch Tischendvrff, und Jnsterburg durch Hehdeck, Max Schmidt und Neide.
Von höhern Unterrichtsanstalten sind ferner bedacht worden: das Treppen¬
haus der Universitätsbibliothek dnrch vier friesartige Gemälde von Knille, von
denen drei, das Altertum, das Zeitalter der scholastische» Wissenschaft, die
Reformation und der Humanismus, vollendet sind, das Treppenhaus der Uni¬
versität in Halle durch Gemälde von G> Spangenberg, die Aula des Poly¬
technikums in Charlottenburg bei Berlin durch Malereien von Jenssen, L> Spangen¬
berg und E, Körner. Dazu gesellen sich ferner zwei große Gemälde aus der
Geschichte Posens für den Schwurgerichtssaal dieser Stadt von A. von Heyden,
die Ausmalung des Treppenhauses des Landwirtschaftlichen Museums in Berlin
durch Gärtner, die des Treppenhauses der Nationalgallerie durch P, Meyer-
Heim, des Treppenhauses der Geologischen Lnudcsaustalt in Berlin durch
L, Spangenberg, der Gemüldecyklns im Rathause von Saarbrücken von
A. von Werner, der Bilderschmuck des Festsaales im Erfurter Rathause von
Peter Janssen, die Fresken im Festsaale des Berliner Architektenhanses von
H, Prell und ein Wandgemälde im Fcstsaale des Kultusministeriums von
H. Schobelt, Endlich ist noch in Aussicht genommen die Ausschmückung
des Festsaales im RegieruugSgebüude zu Königsberg und der Kunsthalle in
Düsseldorf.
Angesichts dieser stattlichen Liste, welche durch die Aufzählung der plastischen
Werke und der für Kirchen bewilligten Altargemüldc, Glasfenster, Kruzifixe und
dergleichen ans ihren doppelten Umfang anwachsen würde, wird niemand mehr
Veranlassung haben, uns die Kunstpflege Frankreichs als Muster vorzuhalten.
In den letzten Jahren ist, in Preußen mehr für die Kunst gethan und aufge¬
wendet worden als in dem reichen Frankreich während des zweiten Kaiserreichs
und der Republik zusammengenommen.
Das verflossene Jahr hat die Vollendung von drei umfassenden monu¬
mentalen Aufgaben gesehen, die wir im folgenden einer nähern Besprechung
unterziehen wollen, weil sie nach gewissen Richtungen hin charakteristisch sind und
weil sich an dieselben einige allgemeine Betrachtungen knüpfen lassen. Der
Maler Prell in Berlin hat den Festsaal des Architektenhanses in Berlin mit
elf in reiner Freskotechuik ausgeführten Gemälden geschmückt, welche die Ent¬
wicklung der Architektur in ihren Hauptepochen darstelle». Mit Prell ist ein
junger Künstler von vielversprechender Begabung aufgetreten, der sich zwar von
realistischer Strömung treiben läßt, zugleich aber an der spezifisch monumentalen
Technik, an der Freskomalerei festhält. Die zweite dieser Arbeiten ist ein Cyklus
von elf in Wachsfarbcn auf Leinwand ausgeführten Gemälden aus der Odyssee,
welche die Maler Hcydcck, Max Schmidt und Neide in Königsberg für die Aula
des Gymnasiums in Jnsterburg geschaffen haben. In der dritten Ausgabe end¬
lich, den nenn in Wachsfarben direkt auf die Wand ausgeführten Gemälden
für den Festsaal des Erfurter Rathauses, hat der durch zahlreiche Werke be¬
währte Künstler, Peter Janssen in Düsseldorf, eine Meisterschaft entfaltet,
welche ihm einen der vornehmsten Plätze unter unsern Geschichtsmalern gewonnen
hat. Es treten uns also einmal drei verschiedne Arten der technischen Behand¬
lung, drei verschiedne Stoffkreisc und drei künstlerische Richtungen entgegen.
(Fortsetzung folgt,>
n der Zeit vom 6, bis zum 18. Dezember, zuletzt mit Zuhilfe¬
nahme der Abend- und der Sonntagsstunden, hat das öster¬
reichische Abgeordnetenhaus eine Novelle zur Gewerbeordnung
zustande gebracht. Der Führer der Linken, or. Herbst, wandte
auf das Ergebnis der langen, manchmal recht leidenschaftlichen
Verhandlungen das schon tausendmal zitirte Wort Savignys an; wer nur aus
den einen mäßigen Oktavband füllenden stenographischen Berichten über die
dreizehn Sitzungen seine Kenntnis schöpft, wird wahrscheinlich noch eher zu dem
Schlüsse gelangen, daß Versammlungen, welche auf politischer Pogramme hin
gewählt nud in politische Fraktionen gegliedert sind, für die Lösung wirtschaft¬
licher Probleme wenig geeignet erscheinen. Was hat die Gewerbeordnung mit
dein politischen Parteitreiben zu schaffen? Von rechtswegen nicht das mindeste.
Und nun vollends mit den nationalen Zwistigkeiten! Wohlmeinende hatten sich
eben deshalb der Hoffnung hingegeben, daß die gemeinschaftliche Behandlung
derartiger Fragen eine Annäherung zwischen den feindlichen Brüdern zuwege
bringen werde. Die Leiden der gewerbliche» Bevölkerung sind ja dieselben bei
Deutschen und Tschechen, bei Ultmmontancu und Konfessionslosen. Aber trotzdem
sah mau die Versammlung in der Hauptsache auch diesmal in die zwei großen
Heerlager geschieden, nud während von beiden Seiten immer wieder die Mahnung
ertönte, nur die Sache ins Auge zu fassen, von politischer Voreingenommen¬
heit abzusehen, drängte sich die letztere doch überall hervor; selbst jene Mit¬
glieder der Verfassungspartei, welche mit den wesentlichen neuen Bestimmungen
einverstanden sind, schienen häufig von der Furcht befallen zu werden, sie könnten
sich zu sehr der Rechten nähern. Nehmen wir diese kleine Gruppe aus, so vollzog
sich das aus den „Fliegenden Blättern" bekannte Schauspiel einer Gerichts¬
verhandlung: der Angeklagte, hier die Novelle, wurde von der einen Seite weiß,
von der andern schwarz angestrichen. Aber in einem Parlament entscheidet be¬
kanntlich nicht ein Dritter, Unparteiischer, sondern die Partei, welche um eine
Stimme mehr aufbringt als die andre. Nimmt man nun die Zufälligkeiten
in Betracht, welche bei einer Abstimmung den Ausschlag geben könne», so darf
es nicht überraschen, wenn das Ergebnis widerspruchsvoll ausfällt, zumal in
einer Angelegenheit, mit welcher nur wenige sich eingehend befaßt haben.
Die neue Gesetznovelle setzt drei Kategorien von Gewerben sest: sreie, kon-
zessionirte und handwerksmäßige; für die letztem sind Genossenschaften obliga¬
torisch, und wer ein solches Gewerbe betreiben will, muß den „Befähignngs-
uachweis" führen, d. h. er muß in eben jenem Gewcrbczweige die vorschriftsmäßigen
Lehrlings- und Gesellenjahre zurückgelegt haben. Dies die Hauptpunkte, um
welche der Streit sich drehte.
Es ist begreiflich, daß der Versuch einer kräftigeren Organisation des Hand¬
merkes die Manchestcrleute von vornherein gegen sich haben muß. Aber — gewiß
ein interessantes Zeichen der Zeit! — die heftigsten Gegner des Gesetzentwurfes
wehrten sich ernstlich, ja mit Entrüstung gegen den Verdacht, den extremen
Frcihandclsthcorie» anzuhängen. Und in der That stimmten nach Schluß der
Generaldebatte nur drei Mitglieder des Hauses gegen das Eingehen in die
Spezialdebnttc; verschiedne andre sollen, wie die Zeitungen berichten, gerade in
diesem Moment dringende Geschäfte in den Gängen und Nebenzimmern gehabt
haben. Die Rechte verfehlte nicht, einzelnen Rednern vorzuhalten, daß sie, die
das ganze Gesetz im Prinzip und in alle» Einzelheiten für verwerflich erklärt
hatten, kvnscaueuterwei.se es in Bausch und Bogen hätten ablehnen müssen.
Man ließ durchblicke!?, die betreffenden scheuten sich, ihre Wähler, deren An¬
sichten in der Frage ihnen wohlbekannt sei, direkt vor den Kopf zu stoßen. Der
Billigkeit wird mehr die Annahme entsprechen, daß anch in jenen Reihen die
Hiifsbcdürfligkeit des Gewerbes erkannt und gern Hilfe gewährt würde, wenn die
Theorie es mir erlaubte. Diese schiefe Stellung würde anch manches höchst
merkwürdige Argument und manchen Widerspruch einigermaßen begreiflich machen.
Denn unter den vielen unglücklichen Schlachten, welche die deutsche Ver¬
fassungspartei aus den letzten Jahren zu verzeichnen hat, war diese vielleicht
die allerunglücklicbste. Sie sieht sich einer Volksbewegung gegenüber, die mit
jedem Tage an Bedeutung zunimmt, die Gewerbsleute verlangen wieder kor¬
porative Befugnisse und hoffen mit deren Hilfe sich wieder emporzuarbeiten,
die Partei kommt vor lauter doktrinären Bedenken zu keinem Entschlüsse,
bis die Gegner den Platz besetzt haben. Nun werfen die Liberalen den Konser¬
vativen Haschen nach Popularität vor, katholisch-soziale Tendenzen, „Expro¬
priation der liberalen und fortschrittssrcuudlichen Industrie" (wörtlich!) — min
sprechen dieselben Liberalen plötzlich wie Sapicha auf dem polnischen Reichstage:
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen, die Hunderttausende in den
Gewerbsgenossenschaften verdienen keine Beachtung, sondern nur die „berufenen"
Organe, die Handels- und Gcwerbekcnnmern, in welchen das Kleingewerbe
nicht vertreten ist; hinterher aber gilt doch wieder die Mehrheit, nämlich die
Masse der von sozialdemokratischen Ideen beherrschten Arbeiter, welche von einer
Kräftigung des bürgerlichen Gewerbes natürlich nichts wissen wollen. Sähe»
wir alle diese Dinge nicht schwarz auf weiß vor uns, wir würden es kaum für
möglich halten, daß eine Frage von so hohem Ernste in einer gesetzgebenden
Versammlung so behandelt werden könne. Das Herumwerfen mit deu Schlag-
Wörtern Freiheit, Fortschritt, Entwicklung, Reaktion, Sondcrinteresscn n. s. w.
ist noch nicht das schlimmste. Jeder Verteidiger des Gesetzentwurfes weist un-
zweideutig den Aberglauben zurück, daß durch dies Gesetz, daß überhaupt durch
Gesetze allein dem Handwerk geholfen werden könne, jeder erkennt an, das
beste bleibe immer dem Gewerbsmanne selbst zu thun, jeder bezeichnet diesen
Schritt nur als einen ersten, als den Anfang der sozialpolitischen Reform, und
unbekümmert wieverholen die Gegner, es sei unverantwortlich, in den betreffenden
.Meisen trügerische Hoffnungen zu erregen, mit solchen Mitteln sei die soziale
Frage nicht zu lösen, daher lasse man besser alles beim alten. Die Gewerbs-
genossenschaften haben vor acht Jahren ganz anders gesprochen als hente, folglich
wissen sie selbst nicht, was sie wollen, sagt ein Fabrikant. Das beliebte Thema
der Konsequenz! Ob dieser Maun in den verflossnen acht Jahren in seinem
Geschäfte nichts gelernt hat, nicht durch die Erfahrung in manchen Ansichten
berichtigt worden ist? Wendet er einen chemischen Prozeß oder eine Maschine
mich ferner an, nur weil er sie einmal für nützlich gehalten hat und ob sie sich
bewährt haben möge oder nicht? Derselbe meint, Zivangsgenossenschaftcn
könnten nicht das Gefühl für Standesehre heben, weil sie kein Mittel hätten,
„den ärgsten Schwindler und Lumpen, wenn er sich nicht hat erwischen lassen
notÄ dans, auszuscheiden." Der Satz, aus welchem nur die totale Unkenntnis
der Geschichte der gewerblichen Verbände hervorsticht, wird erst vollends ver¬
ständlich durch den vvrausgcgangnen, welcher sich gegen die „zwangsweise Ver¬
einigung der heterogensten Elemente in Bezug auf Charakter, soziale Stellung ?e."
ausspricht. Darauf antwortete ein polnischer Abgeordneter treffend, wer dem:
entscheiden solle, welche Elemente die homogenen, die lauteren, und welche die
unlauteren seien? Ob die ersten besten sich zusammenthun und sagen dürften:
Wir sind die Rubeln, oder ob ein pfarramtliches oder polizeiliches Sitten-
zeugnis dazu nötig sein werde? In Wahrheit, der echte Bourgevisliberalismus
konnte sich nicht ärger bloßstelleu als in solchen Herzensergüssen! Zu Tage
trat er freilich noch außerdem genügend. Unter anderm in folgendem Zuge,
Auf der rechten Seite traten ein Fürst Liechtenstein und mehrere Grafen mit
besonderer Wärme für die Reform ein, und gegen sie wurde vorzugsweise mit
geistreichen Schmeicheleien auf die Durchlauchtigen und Hochgeborner zu Felde
gezogen, die von ihren Schlössern aus das Elend des Volkes beobachten, auf
Raubritterburgen u. tgi. in. In dein richtigen Gefühl aber, daß damit die
unangenehme Konkurrenz doch nicht totzumachen sei, wurde den Herren insinuirt,
daß die von ihnen vorgetragenen Ideen fremdes Eigentum seien, teils den
Kathedersozialisten entlehnt, teils der liberalen Partei. In Beziehung auf den
letzteren Punkt kam es zu Prioritätsstreitigkeiten, welche durchaus nicht er¬
hebender wirkten als die einseitigen Zänkereien um deu Bortritt in Regensburg.
Selbst bis in die Reihen der Parteigenossen erstreckten sie sich. Ein Abge¬
ordneter von der Linken wollte die Hausindustrie ausdrücklich von den Be¬
stimmungen der Novelle ausgenommen wissen, flugs kam ein zweiter daher,
um sein geistiges Miteigentumsrecht an dem Antrage geltend zu uneben, welche»
der andre in Folge „Klubbeschlusses" eingebracht habe.*) Im übrigen werden
die Herren bei aller Abneigung gegen den Adel (den alten nämlich) dach wohl
zugestehen, daß die Reden zweier Grafen, Wnrmbrand von der Lullen und
Mieroszowski von der Rechten, als die sachlichsten und liberalsten — im wahren
Sinne — aus der gesamten Debatte hervorragen.
Doch sind wir mit unsrer Blumenlese von kühnen Behauptungen und Un¬
gereimtheiten, zu welchen die Angst vor dem „Znnftzopf" verleitet hat, noch nicht
zu Ende. „Ohne Konkurrenz ist jeder Fortschritt, jede Zivilisation lahmgelegt,"
verkündet ein Redner, dem seine Partei förmliche Huldigungen darbringt und
der sogar von den Gegnern wegen seiner „glänzenden, blendenden" Auseinander¬
setzungen bekomplimcntirt wird. Wohl blieb bei näherer Behandlung von dem
Glänze nicht viel übrig. Aber eigentlich hätte der Redner einen Ordnungsruf
verdient. Denn es heißt doch eine Gesellschaft gebildeter Männer beleidigen,
wenn man ihr solche Behauptungen ins Gesicht wirft, die kaum noch in einer
Volksversammlung „unbeanstandet" passiren. Allerdings sagte ebenderselbe Redner
in einem Anfluge von Galgenhumor, man könne Geschworner, Gemeinderat,
Bürgermeister, Landtags- oder Reichsratsabgevrduetcr werden ohne Befähigungs¬
nachweis, worauf er sich von einem Handwerker (wie es scheint, dem einzigen in
der ganzen Versammlung) fragen lassen mußte, ob seine Wähler sich wirklich
nicht nach seiner Befähigung erkundigt hätten?
Dergleichen Brillanten g. 1a, Schmolk finden sich bei dem glänzenden Redner
noch zahlreich. „Wenn die Gewerbe sich nicht vermehrt haben zur Zeit, wo sie
sich vermehren konnten, sollen sie sich jetzt vermehren, wo sie sich nicht vermehren
dürfen? (Heiterkeit. Rufe- Sehr gut!) Ich glaube, das ist ein Widerspruch,
der sehr schwer zu lösen sein wird." Natürlich hatte niemand behauptet, daß
der Zweck der Neuerung sei, die Gewerbe zu „vermehren," und ein Hindernis
soll der ferneren Vermehrung nur insofern bereitet werden, als man den fern¬
zuhalten sucht, der nichts gelernt hat, und endlich ist die Nichtznnahme der
Zahl selbständiger Gewerbsleute während der Gewerbefreiheit ja gerade einer
von den Umständen, welche die Augen geöffnet haben: die „Magazine" und
„Konfektionsgeschäfte," deren Inhaber nur Kapital und Geschäftsgeist mitbringen,
haben sich wuchernd vermehrt, und in deren „Lohnsklaverei" (wie ein böhmischer
Abgeordneter sich ausdrückte) stehen nun Schaaren von kleinen Meistern, welche
auf eigene Rechnung nicht so wohlfeil arbeiten konnten wie das große Ge¬
schäft,
Da stehen wir nun vor dem Glaubenssätze, auf welchen die Gegner jeder
Gewerbereform sich zuletzt zurückziehen. Wir möchten ja dem kleinen Manne
gern helfen, allein es geht nicht, das Handwerk wird absorbirt von der großen
Industrie, das ist ein Naturprozeß, gegen welchen sich nicht ankämpfen läßt;
oder, wie der zuletzt erwähnte Staatsmann meint: Gegen den Konfektionär
können wir den Handwerker nicht schützen. Ja freilich ist das ein Naturprozeß,
so gut wie jener, daß, wenn man die Wälder ausrottet, die Gebirgswasser das
Land verheeren! Und dieselbe Weisheit, welche jetzt fordert, der Staat solle
teilnahmlos zuschauen, wie das Handwerk verschlungen und unter Schutt be¬
graben wird, trat ehedem für die unbegrenzte Teilbarkeit des Grundes und für
das freie Verfügungsrecht des Besitzers des Waldes ein. Was ging das den
Staat an, ob der Bauer Einbruchsstellen für den Sturm schuf und den abge¬
holzten Boden zur Trift werden ließ, oder wenn der große Grundbesitzer den
Wald dem Wucherer auslieferte? Heute wird dieses Verhältnis etwas anders
angesehen, und offenbar wartet man nur auf eine soziale Überschwemmung, um
auch die Berechtigung andrer Schutzmaßregeln anzuerkennen. Dafür wäre es
jetzt noch zu früh. Erst müssen die zugrundegegangenen kleinen Meister aus
einem naturgemäß konservativen Element im Staat einer der gefährlichsten, weil
verbitterten Bestandteile der Partei des Umsturzes geworden sein, erst muß dem
Handwerksgehilfen die Aussicht genommen werden, jemals sein eigner Herr zu
sein: dann wird der Angstruf nach Staatshilfe ertönen, verschärft durch den
Vorwurf, daß nichts geschehen sei, um den guten Bürger in seinem Leben und
Eigentum zu schützen.
Aber — man traut seinen Sinnen nicht! — um der Selbständigkeit des
geschickten Arbeiters willen wird gerade für den „Konfektionär" (die Sache ist
nicht so schlimm wie das Wort) gegen den kleinen Gewerbsmann gekämpft.
Der Kleiderhändler versteht natürlich von dem Schneiderhandwerk nichts, wozu
auch? Er ist Kaufmann und giebt dem Zuschneider Lohn, nicht Lohn und Brot,
nur Lohn, und eben deshalb ist der Zuschneider dort ein freier, glücklicher Mann.
„Er will auch nach gethaner Arbeit so leben, wie er will, er will sich nicht in
den Haushalt des Gewerbetreibenden einklemmen, er will nicht abhängig sein von
den Nahrungsmitteln, die ihm gegeben werden, er will mit seinem Weibe in
irgend einer Weise, ob legitim oder illegitim, beisammen wohnen und dieselbe bei
sich behalten. (Heiterkeit.)" So zu lese» in der Rede des „Abgeordneten or. Ritter
von Sochor" oder des „Abgeordneten für Brody," wie er in den Debatten
genannt wird, gehalten am 6. Dezember 1882. Nach dieser Probe von Tiefe
der Auffassung und von sittlichem Ernste kann nichts mehr überraschen. Nicht
daß wir aus demselben Munde einmal die Klage vernehmen, die neue Ordnung
werde den Übergang von einer Beschäftigung zur andern ungebührlich erschweren,
und das andremal die Klage, der Schlosser werde künftig Jahre auf die Er¬
lernung der „ganzen Schlosserei" verwenden müssen, anstatt sich in wenigen
Monaten (!) für irgend eine Spezialität, z, B> Kastenschlösser, auszubilden.
Und zur Ergänzung bezeichnet ein Gesinnungsgenosse es als unerträgliche Härte,
daß nun der Junge sich schon mit 14 Jahren für eiuen Lebensberuf werde ent¬
scheiden müssen; als ob das jemals anders gewesen wäre, jemals anders sein
werde. Man sieht, welche Vorstellungen die Herren davon haben, was es heißt,
ein Handwerk oder auch nur einen besondern Zweig desselben zu erlernen, so
zu erlernen, daß man es kann. Man sieht, daß sie das ganze Gewerbe vom
Staudpunkte jenes Händlers betrachten, welcher jede Waare „anzubringen" ver¬
steht. Daher ihre Begeisterung für den „Konfektionär." Beim Dorfschneider
werden sie doch nicht arbeiten lassen, ruft jener Herr von Sochor der Rechten
zu, und erzählt dann von einer Frau im steirischen Gebirge, welche Strümpfe
für Touristen Stricke. Weshalb mögen doch die Touristen bei dieser, anstatt bei
dem großstädtischen Konfektionär kaufen? Aus demselben Grunde, welchen Graf
Wurmbrand anführte, und welchen ohne Zweifel viele Fraktionsgenvssen des
glänzenden Redners hätten anführen können. Unzählige Städter lassen aller¬
dings Jagd- und Neiseröcke u. dergl. beim Dorffchneider arbeiten, weil der noch
auf derbe, haltbare Stoffe halten und dauerhaft nähen muß. Denn die Bauern
sind meist noch so ungebildet, zu glauben, daß ein etwas teurerer solider Rock
wohlfeiler sei als ein wohlfeiler von „gutem Shoddy" und auf der Näh¬
maschine genäht. „Guter Shoddy," die Bekanntschaft mit dieser Waare ver¬
danken wir dem Abgeordneten Matscheko; bisher hielten wir die „Kuustwvlle,"
die ans aufgelösten Lumpen gewonnen wird, für den ebenbürtigen Genossen der
„Kunstbutter" aus Steinkohlentheer, des „Kuustweins" aus Spiritus und Blei¬
zucker und ähnlicher Kunstleistungen der fortschrittsfreundlichen Industrie.
Derselbe gab auch Aufklärungen über Pfuscherarbeit, welche weiterer Verbreitung
wert erscheinen. Leider ist die Abhandlung zu lang, um sie hier vollständig
wiederzugeben. „Man vergesse nicht, heißt es da, daß auch auf dieser
«tooplo onsM nach möglichst Schlechten: und Billigem immer derjenige um eine
Pferdelänge vor sein wird, der tüchtiger sein wird, und daß nicht der wirkliche
Pfuscher, sondern der Tüchtigste die beste Pfuscherarbeit leisten wird. Es ist
eine größere Kunst, einen Stiefel oder Schreibtisch herzustellen, der das Aus¬
sehen der Solidität hat und dabei schleuderhaft und schlecht gearbeitet ist —
und auf das Aussehen kommt es ja bei dieser sogenannten Pfuscherarbeit am
meisten an ^ als einen wirklich soliden, schönen Stiefel oder Schreibtisch.. . .
Es wird behauptet, daß die größte Schleuderwaare auf den Markt geworfen,
daß das Publikum damit betrogen wird u. s. w. Ich gebe zu, daß das vor¬
kommt, aber Sie müssen nicht vergessen, daß es sich immer darum handelt, ob
die Waare wirklich preiswürdig ist, Sie dürfen nicht vergessen, um wie viel billiger
zu erzeugen der Konfektionär in der Lage ist als der Keine Gewerbsmann."
Ruch dieser köstlichen Standrede zu Gunsten des armen „Konsumenten," welcher
verhindert werden soll, gute, preiswürdige Pfuscherarbeit zu kaufen, sich preis¬
würdig betrügen zu lassen, und für den „armen Konfektionär," den Wohlthäter
der Menschheit, der allein preiswürdige Pfuscherarbeit liefern kann, dem mau
auf der Jagd nach dem möglichst Schlechten Hindernisse bereiten will, verzeichnet
der Stenograph uur „lebhaften Beifall links," nicht die sonst übliche „viel¬
seitige Beglückwünschung" des Redners, Wie undankbar die Mitwelt ist! Wir
unsrerseits bedauern uur, daß der Redner nicht alle Zweifel gelöst hat. Wäre
es nicht vielleicht ratsam, eigne Hochschulen zu gründen für die Pfuscherkunst,
da, wie wir fürchten, auf den jetzigen Anstalten für gewerbliche Bildung nur die
gemeine Solidität gelehrt wird?
Von andern Seiten wurden freilich sehr beschränkte Ansichten über die
Pfuschcrherrlichkeit vorgebracht. Einer erzählte, die österreichische Möbelindustrie
habe den Markt im Orient dadurch eingebüßt, daß die nach Bukarest und Jassy
geschickten Möbel gleich beim Zerschlagen der Packlisten mit auseincindergcfallcn
seien. Ein andrer legte folgende Berechnung vor. „Die Wiener Konfektionäre
zahlen dem Schneider Arbeitslohn für Anfertigung eines schwarzen Salonrockes
3 Gutt., eines Überziehers 1 Gutt. 50 Kr. bis 1 Gutt. 70 Kr., eines gesteppten
Gehrockes 2 Gutt., eines gesteppten Winterrockes 2 Gutt. bis 3 Gutt. 20 Kr.,
eines Gnets 40 bis 80 Kr., eines Paares Beinkleider 40 bis 60 Kr. u. s. w.
Unter diesen Verhältnissen verdient der arme Arbeiter, der arme Schneidermeister
wöchentlich 6 Gutt. 50 Kr. bis 8 Gutt." Dazu hat mau aus der Rechten
„Hört!" gerufen. Was ist dabei? Kann doch der Arbeiter mit seiner legitimen
oder illegitimen Frau im eignen Zimmer und am eignen Tische hungern, und
jene Möbel haben gewiß solid ausgesehen, ehe sie auscinanderfielen.
Ziemlich gegen den Schluß der Verhandlungen wurden noch die Ankläger
der Gewerbefreiheit mit der Frage niedergeschmettert, ob sie glaubten, daß ohne
Zunft Brunellesco, Bramante, Sansovwo, Peter Bischer und noch einige andre
nicht das geworden sein würden was sie gewesen sind? Eine Antwort erfolgte
hierauf nicht; wahrscheinlich meinten die Apostrophirteu, daß man ihnen ebenso
gut die aus „Emilia Galotti" bekannte Frage habe vorlegen können, ob Rafael
nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne
Hände wäre geboren worden. Allein es würde immerhin nützlich gewesen sein,
den in der Kunstgeschichte bewanderten Redner darauf aufmerksam zu machen,
daß es sich bei der Gewerbegesetznovelle ganz und gar nicht um Dombaumeister
und auch nicht um die wenigen genialen Naturen unter den Kunsthandwerkern
handle — solche haben sich zu jeder Zeit und unter jeder Gewerbevcrfassnug
emporgeschwungen —, sondern um die große Menge der arbeitslosen Leute,
daß die im Nenaissaucezeitcilter bis in die untersten Schichten und die kleinsten
Orte nachweisbare handwerkliche Tüchtigkeit eben dem Zunftwesen das glänzendste
Zeugnis ausstellt. Die Verrottnug und Verknöcherung dieses Wesens in den
folgenden Jahrhunderten erklärt sich aus der politischen und Kulturgeschichte
jener Zeit und aus der Taubheit der damaligen Führer gegen den Ruf nach
Reform.
Wenn auch die meisten Koryphäen der Linken sich ausschließlich ncgirend
verhielten, so doch nicht alle. Es wurde auch von dieser Seite ein genaues
Rezept mitgeteilt, wie dein Kleingewerbe zu helfen sei. „Der Kleingewerbetreibende
muß, wenn er durch die Großindustrie Konkurrenz erleidet, Spezialitäten er¬
zeugen, er muß Spezialitäten aufsuchen, oder er muß durch eine geschmackvolle
Ausführung zum Kunstgewerbe übergehen... Fast jeder Gewerbetreibende kann
zum Kunstgewerbe übergehen, es handelt sich nur darum, daß er geschmackvolle
Ausführungen in den Vordergrund stellt. Wenn er dies aber nicht erreichen
kann, muß er Fabrikarbeiter werden oder sich- mit Genossen, sich mit andern
assoziiren, und zwar zu dem Zwecke der Beschaffung von Rohstoffen, der Be¬
schaffung von Werkzeugen, von Maschinen und zur Beförderung des kaufmännischen
Verkehrs."
So sind die Rollen ausgeteilt
Und alles wohl bestellt,
So wird die kennte Zeit geheilt,
Und jung die alte Welt.
Und über eine Frage, die so einfach zu lösen ist, zerbrechen sich die ge¬
scheitesten Leute den Kopf! Wie hübsch das sein wird, wenn der Schuster und
der Schneider, der Schmied und der Bäcker in kleinen Städten „Spezialitäten
aussuchen" oder „geschmackvolle Ausführungen in den Vordergrund stellen," was
sich allerdings mit der obenerwähnten guten Pfuscharbeit aufs beste vereinigen
lassen wird. Und wenn sie keins von beiden können, el nun, so werden sie
Fabrikarbeiter, ein Ziel, aufs innigste zu wünschen. Dieser Redner wurde be¬
glückwünscht.
Um die Kampfart dieser Partei zusammenfassend zu charakterisiren: Fort¬
während wurden Klein- und Großgewerbe durcheinandergemischt und die Miene
angenommen, als sollte alles über einen Kamm geschoren, die alte Zunft rein
und ganz wiederhergestellt werden, jeder Tadel der Schleuderkonkurrenz wie ein
Angriff auf die Konkurrenz überhaupt dargestellt, der Wunsch nach Organisation
als Beeinträchtigung des unglücklichen Konsumenten. Das gilt beinahe ohne
Ausnahme. Und zu solcher Taktik bot die Haltung der Gegner weder Grund
noch Vorwand. Abgerechnet einen allerdings sehr übel angebrachten tschechischen
Schmerzensschrei und einen närrischen Seitensprung des bekannten Abgeord¬
neten Lienbacher, dem seine eignen Parteigenossen nicht gefolgt zu sein scheinen,
machen die Reden für den Gewerbeschutz in der Generaldebatte den Eindruck der
Sachlichkeit und Ruhe gegenüber der Phrasenhaftigkeit und Leidenschaft. Man
schildert die Bedrängnis des Kleingewerbes, dem das Konfektionsgeschäft, der
Hausirhandel, die Scheinverkäufe, die Strafhausarbeit, die Steuerlast u. f. w. das
Leben beinahe unmöglich machen; man will ihm die Hand bieten; man hält
für ein Mittel der Wiedererhebung, daß der, welcher seine Sache gelernt hat,
gegen die Mitbewerbung dessen, der nichts gelernt hat, geschützt, die Möglich¬
keit der Wiederherstellung eines in jeder Beziehung ehrenhaften, durch Gemein¬
samkeit der Interessen zusammengehaltenen, ein lebensfähiges Glied der Gesell¬
schaft bildenden Hcmdwerkertums geboten werde. Das ist nicht zu erreichen
durch freie Genossenschaften, sondern nur durch obligatorische, weil die frei¬
willigen nicht für die Dauer die Lasten für alle würden tragen wollen. Ge¬
rechtfertigt ist der Zwang, wie der Schul- und Militärzwang, der Schutzzoll
für die Industrie, die Beschränkung des Wuchers u. a. in. Von der Besserung
der materiellen Verhältnisse, der größeren Sicherheit der ehrlichen Arbeit ist eine
moralische Hebung des Standes zu hoffen. Man erwartet von diesem Mittel
weder unmittelbare Wirkung noch eine Radikalkur, aber irgendwo muß der An¬
fang gemacht werden, und die Frage: weshalb eben hier und nicht dort? würde
sich' stets erheben lassen, wo man auch den Hebel ansetzen wollte. Was für
das Gewerbe geschieht, geschieht für die Gesellschaft, wer das eine erhält, schützt
damit die Gesamtheit, blüht jenes, so hat auch der „Konsument" nicht zu klagen.
Soweit konnte man mit Befriedigung den Auseinandersetzungen folgen,
und wenn die Majorität die Versuche, das Zustandekommen des Gesetzes zu
verhindern, zurückwies, so war sie in vollem Rechte. Als solche Versuche sind
die Anträge auf erneuerte Enqueten anzusehen. Ebenso richtig war es, sich
durch die Behauptung, nur die Schule könne helfen, nicht irremachen zu lassen.
Es gehört zu den Marotten der Gegenwart, der Schule alle Verantwortlichkeiten
aufbürden zu wollen. Man sagt, die Werkstatt könne unmöglich alles leisten,
wie die Fachschule und die Lehrwerkstätte. Das ist richtig, aber ebenso gewiß
können die beiden letztern vieles nicht, was die Werkstattlehre leistet. Denn die
erstem sind, soviel „praktisch" gearbeitet werden mag, Anstalten der Theorie
die letztere steht im wirklichen Leben, und man sollte sich wohl bedenken, das
ganze Gewerbe mit „akademisch" gebildeten Gehilfen versorgen zu wollen;
solche werden in der Regel schwer einen Meister finden, noch häufiger gar
keinen suchen.
Leider erwies der spätere Verlauf der Debatten die Wahrheit der mehr¬
mals erhobenen Anschuldigung, daß die Mehrheit des Hauses entschlossen sei,
die Vorlage auf jeden Fall vor Beginn der Weihnachtsferien zu erledigen.
Dieselbe, eine einschneidende Umarbeitung der Regierungsvorlage, enthält un¬
verkennbare Lücken und Mängel. Mit Recht wurde auf Unklarheiten in der
Fassung, auf teils unausführbare, teils den Mißbrauch gestattende Bestimmungen
im einzelnen hingewiesen. Offenbar ist ferner, daß das Zurücklegen der Lehr-
und Gchilfenzeit allein noch nicht Gewähr für die genügende Ansbildung sei.
Der von dem Abgeordneten Sax als wahrscheinlich bezeichnete Übelstand, daß
formell berechtigte aber thatsächlich unfähige Menschen ein Geschlecht von Pfuschern
heranziehen könnten, besteht ja, Dank der Gewerbefreiheit, bereits. Man wird
wenigstens für die Übergangszeit den Genossenschaften weitergehende Rechte ein¬
räumen müssen, um sich der Pfuscher und Störer zu erwehren — natürlich
gleichzeitig gegen die Härten vorbauen, welche das alte Zunftwesen verhaßt ge¬
macht haben. Doch fast alle Verbesserungsanträge, auch wohlbegründete, einge¬
bracht von Mitgliedern der Linken, welche auf dem Boden der Vorlage stehen,
wurden kurzweg von der Hemd gewiesen, oft ohne jede Diskussion; wiederholt
begnügte sich der Berichterstatter, zu erklären, er halte den Antrag für unnötig
und bitte daher ihn abzulehnen. Mit diesem „Durchpeitschen" des Gesetzes hat
leider auch die Rechte bewiesen, daß sie deu Parteirücksichten ungebührlichen
Einfluß gestattet, auch ihrestcils Beweismaterial für den Satz geliefert, daß von
den Parlamenten schwerlich eine ersprießliche Behandlung wirtschaftlicher Fragen
erwartet werden darf.
er Erfahrungssatz, daß man den Brunnen erst zuschüttet, wenn
das Kind hineingefallen ist, macht sich nirgends mehr als ans
dem Gebiete des Handels und Verkehrs geltend. So lange
die Milliarden flössen, Gründer Paläste bauten und durch ihren
Luxus die weitesten Kreise des Volkes in den Taumel des ein¬
gebildeten Aufschwungs hineinzogen, beklagte sich niemand über das Akticngesctz
und die Differenzgcschäfte, sand der Börsenbarou Zutritt zu den höchsten Sphären
der Gesellschaft, wurde der in einen Spekulanten umgewandelte Wucherer mit
Auszeichnungen aller Art überhäuft. So lange die Geschäfte gut gingen, die
Genossenschaften ihren Umsatz in das ungemessenste trieben und Dividenden über
Dividenden an ihre Mitglieder verteilten, pries man das Gcnossenschaftsprinzip
als die Lösung der sozialen Frage, und die Solidarhaft des einzelnen galt als
ein unumstößliches Dogma ihrer Krcditbasis, das höchstens von Vnchgelehrten
und Theoretikern mißverstanden wurde. Dann trat der große Krach ein, die
luftigen Grundlagen des Systems brachen zusammen, die Überproduktion warf
den Handel darnieder, und nunmehr erschienen die Gesetze, welche bisher so
gepriesen wurden, als der Grundquell des ganzen Unheils. Eine Flut von
Artikeln und Broschüren erschien, in denen das „hineingelegte Publikum," Beamte,
Anwälte und sonstige Sachverständige ihre Vorschläge zur Reform beibrachten.
Ja sogar ehemalige Gründer und Gründergenossen besaßen den Mut, als Auk-
torität die öffentliche Meinung belehren zu wollen, indem sie sich, sei es in
Memoiren, sei es in Lehrbüchern, auf das literarische Gebiet begaben. Alle diese
Vorschläge erschöpften niemals die volle Sachlage, Jeder war auf einen be¬
sonderen Punkt aufmerksam geworden und glaubte lediglich in diesem den Hebel
gefunden zu haben, von wo aus die ganze reformirende Bewegung ausgehen
müsse. Ab und zu fiel ein Blick auf eine ausländische Gesetzgebung, aus welcher
wiederum nnr ein Punkt herausgegriffen wurde, den man als das erlösende
Schiboleth hinstellte. Aber auch im Reichstage und in den andern deutschen
Volksvertretungen kam man über eine akademische Erörterung der einen oder
der andern Seite nicht heraus. Erlebten wir doch, daß im vergangnen Jahre
der Eigentümer der Frankfurter Zeitung, Herr Sonnemann, sich als Reformer
der Wiengesetzgebnng aufspielte und den Reichstag zum Piedestal seiner sittlichen
Entrüstung über den Aktienschwindel wählte. Bei dieser Gelegenheit warf er
dem Reichskanzler die Begünstigung der Samoaangelegenheit vor, und der In¬
haber des Frankfurter Börsenblattes warf sich stolz in die Brust: „Gott sei
Dank, daß ich nicht bin wie dieser." Denn die Frankfurter Zeitung hat immer
nur objektiv die Gründung von Aktiengesellschaften beurteilt, sie hat niemals
einseitig die eine Gesellschaft einer andern gegenüber begünstigt, sie hat nie Ne-
klamennzeigen gegen hohe Gebühren aufgenommen, und auf ihren Rat hat niemals
das naive Publikum sein Geld verloren. Und worin fand der große Tribun
vom Main die Abhilfe gegen das Übel? Lediglich darin, daß der Gesetzgeber
die Gesellschaften nötigen sollte, ihre Statuten in ihrem Bureau anzuschlagen
und jedermann gegen ein geringes Entgelt zugänglich zu machen. Soll mau
hier die Kindlichkeit des geschulten Börsenmannes bewundern, der die Solidität
eines Unternehmens nach den Statuten beurteilen will? Die Statuten waren bei
allen Gesellschaften ebenso schön wie das Äußere des Aktienbriefes; aber gerade je
schöner diese beiden waren, desto fauler sah es im Innern aus. Der Widerpart dieses
Abgeordneten, Herr Perrot, erklärte dagegen — wenn auch nur im eignen Namen —,
daß es überhaupt kein Mittel gebe, der Unsolidität von Micnunternehmungen ent¬
gegenzutreten und daß man sie daher gänzlich abschaffen müsse. In der That ein
radikales Mittel nach dem Rezept, daß Feuer heile, wo das Schwert nicht hilft.
Ein solches Mittel kauu nur einseitige Kurzsichtigkeit eingeben, zumal da die
Aufhebung durch den einzelnen Staat bei der Bequemlichkeit der internationalen
Verkehrsverhältnisse wenig Nutzen bringen würde. Auch ist nicht zu leugnen,
daß in der Bilanz der Aktiengesellschaften dem Verlust der Einzelnen oft ein
Gewinn des Ganzen gegenübersteht. Ohne die in der Aktiengesellschaft allein
mögliche Häufung des Kapitals wäre — um nur ein Beispiel anzuführen —
die Gründung von Eisenbahnen nicht möglich gewesen, denn der Staat kann
nicht zu bloßen Speknlationszwecken Linien bauen, deren Rentabilität nicht
feststeht, wenn nicht etwa andre Rücksichten entscheiden. Auch wäre der Staat
nicht immer in der Lage, Anleihen zu solchen Zwecken gegen einen mäßigen Zins
aufzunehmen. Endlich würden viele andre Erfindungen des kühnen Menschen-
geistes, die heute zum Wohl von Millionen dienen, ohne Aktiengesellschaften un¬
ausgeführt geblieben sein.
Ich will hier eigne Vorschläge für eine Reform des Aktienrechts unerörtert
fein lassen. Aber gesetzt, es gelänge, ausländische Aktien ganz auszuschließen
und von der Beteiligung an einheimischen das kleine Kapital durch die Er¬
höhung des Nominalbetrags nach dem Vorschlage Öchclhäusers auf 10000 Mark
fernzuhalten, gesetzt, es würde durch die Vollhaftung der Zeichner, durch das
Verbot der Haftentlassung die Lust zum Börsenspielc Vertrieben und das
Schaffen von bloßen Spielwerten unmöglich gemacht, gesetzt, es würden alle
Operationen der Gründung und Verwaltung dem hellen Lichte einer uu-
beschrcinkteu Öffentlichkeit ausgesetzt, sodaß jeder, der nur seine Augen öffnen
will, nicht mehr über diese Vorgänge im Dunkeln bleiben kann, kann der Gesetz¬
geber es verhindern, daß der Aktionär dem Unternehmen gegenüber selbst
gleichgiltig bleibt, daß er es nur auf eine hohe Dividende, auf einen schnellen
Umsatz mit Gewinn absieht und zu diesem Zwecke, dem er augenblicklich nach¬
geht, Maßregeln zustimmt, welche die Gesellschaft in der Zukunft ruiniren?
Eine volle Ausgleichung auf dem Gebiete von Handel und Wandel ist un¬
möglich. Selbst die Kirche mit ihrer großen Macht im Mittelalter und ihrer
weiten Ausdehnung des wucherischer Begriffs hat eine Gerechtigkeit in der
Ausgleichung von Leistung und Gegenleistung nicht erreichen können.
Aber auch wenn der Staat Mittel fände, die Aktionäre freiwillig oder
wider ihren Willen zu Engeln zu machen, sind denn Aktien die einzigen Gegen¬
stände, in denen sich die Spielwut und das betrügerische Treiben versuchen kann?
Wo bleiben die Anleihen halbbankerotter Staaten und Kommunen, die an der
Börse eine umso freundlichere Aufnahme finden, je unsolider sie sind? Wer
sich ein Bild von den Verlusten in solchen Staatspapieren machen will, der
lese die Ziffern nach, welche in der lehrreichen Abhandlung von Struck über
die Londoner Effektenbörse lediglich von dem Londoner Börsenmarkt aufgestellt
sind. Man müßte also, um den Schwindel zu verhindern, auch diesen Papieren
zu Leibe gehen.
Man verfiel deshalb auf einen andern Ausweg, indem man sich in die
Höhle des Ungetüms selbst begab und eine Beschränkung und Bestrafung der
Differenzgcschäste ins Auge faßte. Auch nach dieser Richtung hat es nicht an
Beispielen gefehlt. In Frankreich bestehen noch heute die Gesetze in Kraft, welche
seit Ludwig XVI. bis in die neueste Zeit zur Vernichtung des Börsenspiels er¬
gangen sind, wie Unklagbarkeit der Differenzen, Verbot der Vermittlung der
Spielgcschäfte durch die Börscnagenten, kriminelle Bestrafung der Wetten jeder
Art auf Steigen und Fallen von öffentlichen Effekten. (Vgl. Lexis in dem
Schönbergschen Handbuch der Polit. Ökonomie, I, S. 1100.) Alle diese Ge¬
setze haben nicht verhindern können, daß am 19. Januar 1882 in Paris fünf
Milliarden Franks in fiktiven Werten vernichtet wurden. Auch die in die neue
Konkursordnung übergegangene Bestimmung des Reichsstrafgcsetzbuchs, welche
Gefängnisstrafe gegen den Gemeinschuldner androht, der durch Differenzhandel
übermäßige Summen verbraucht, haben dem ltrach des Jahres 1873 nicht vor¬
gebeugt, denn es hat sich gezeigt, daß die Börsenspekulanten es garnicht zum
Konkurse kommen lassen. Wer an der Börse seine Differenzen nicht bezahlt,
der bezahlt sie eben nicht; es muß schon ganz hoffnungslos aussehen, wenn
einmal eine Anzeige von einer Zahlungseinstellung an das Börsenkommissariat
erfolgt und der Schuldner von der Börse ausgeschlossen wird. In der Regel
bleibt er dort, gelaugt sogar nicht selten in die Stelle eines vereideten Makkers
und macht weiter Geschäfte. Dabei hat ja der Verlierende Hoffnung, etwas
von seinen Verlusten herauszuschlagen.
Helfen aber Strafen nicht, dann vielleicht ein radikaleres Mittel, nämlich Verbot
von Differenzgeschäften überhaupt. Aber da zeigt sichs, daß es auch Lieferungsge¬
schäste giebt, die sehr ehrlich gemeint sind, bei denen z. B. der Gutsbesitzer, der gegen¬
wärtig zu Meliorationen Geld braucht, schon seine zukünftige Ernte verkauft. Das
darf doch nicht verboten werden. Was nützt es, daß dies der seltnere Fall ist, daß im
Jahre 1868 von den zweihundert am Roggenhandel beteiligten Berliner Firmen
achtzig mit dem Getreide selbst garnichts zu thun hatten, daß dieses für sie
nur auf dem Papier existirte, daß die wirkliche Zufuhr jährlich nur 100 000
Mispel, der Umsatz im Zeitgeschäft aber 2 Millionen Mispel betrug? Es kann
nicht in Abrede gestellt werden, daß die Spekulation des Waarenhandels nicht
entbehrt werden kann, da sie zur Versorgung der Gesellschaft mit nützlichen und
nötigen Gegenständen dient, und daß auch der Effektenhandel den Wechsel der
Vermögensanlage erleichtert (siehe Lexis a. a. O., S. 1080 f.). Die juristische
Definition wird sich vergeblich abmühen, den Unterschied zwischen dem ehrlichen
Geschäft und dem Differenzhandel herauszuklügeln, um alle Nachteile, Strafen
und Verbote nur auf den letztern zu wenden. Man wird zwar auch vor solchen
Versuchen nicht zurückschrecken dürfen, aber es werden Palliativmittel sein, die
einzeln keine besondre Wirkung äußern können. Dasselbe gilt von einer Be¬
steuerung der Börsengeschäfte; der Spekulationshandel wird jede Steuer ertrage»
können, das ehrliche Geschäft kann schon bei einer geringen Besteuerung ge¬
schädigt werden. Aber selbst wenn es gelingt, durch eine Besteuerung nicht der
Geschäfte selbst, sondern nur der Differenzen, eine Prozentnale Börsensteuer
durchzusetzen, so wird man zwar dem Staate eine Einnahmequelle eröffnet, aber
doch nicht das Übel selbst aus der Welt geschafft haben. Und die Steuer kaun
doch keinen Ersatz bieten, wenn die Volkswohlfahrt anderweitig geschädigt wird.
Nichtsdestoweniger wird sich auch hier der Staat von dem Geschrei der Börse
und ihrer Dependenz, zu der leider hauptsächlich die Tagespresse gehört, nicht
abschrecken lassen dürfen, die Börse stärker zu den Lasten des Staates heran¬
zuziehen, als dies bisher geschehen ist. Mit Recht sagt Lexis in den, ange¬
geführten Werke, daß die nützlichen Wirkungen die schädlichen keineswegs über-
Wiegen, aber man wird andrerseits auch von diesen einseitigen Maßregeln nicht
allzuviel erhoffen dürfen, solange es leicht erscheint, dieselben Geschäfte durch
die ausländischen Börsen zu cffektuiren und solange die Börsenordnung eigentlich
eine Börsenunordnung ist. In dieser Hinsicht herrschen im deutschen Reiche die
unglaublichsten Zustände. Wenn auch gegenüber der völligen Freiheit zur Errichtung
von Börsen, wie sie in England und Amerika zulässig ist, in Deutschland die Ge¬
nehmigung von einer ministeriellen Erlaubnis abhängt, so steht doch die Be¬
aufsichtigung des Börsenverkehrs lediglich bei den Beteiligten, die so lax als
möglich ihre Obliegenheiten erfüllen. Was hat es genützt, die öffentlichen Spiel¬
plätze zu verbieten, wenn man dieselben in den Börsenhallen privilegirt? Was
hilft es, wenn man den Bauernfänger, der ein paar Mark im Kümmelblättchcn
sich erschwindelt hat, bestraft, und den Börsenjobber, wenn er nur Glück in
seinen Spekulationen hat, mit Ehren überhäuft, ihm Orden und Freiherrn¬
titel anhängt? Als noch die öffentlichen Spielplätze bestanden, waren doch
immer durch Polizeivorschriften gewisse Personen wegen ihrer Unerfahrenheit
von dem Zutritt ausgeschlossen. Zu der Börse kann gegen Losung einer
Karte um einen geringen Preis jeder. Ebenso aber wie die Personen finden
auch die Effekten der schlimmsten Sorte einen leichten, anonymen und uu-
kontrolirtcn Zugang. Die Börsenvorstände selbst sind zu sehr bei diese» Manipu¬
lationen beteiligt, als daß von ihnen eine Besserung zu erhoffen wäre; sie kümmern
sich nicht darum und wollen es auch nicht sehen, auf welche Weise eine
Aktiengesellschaft entstanden ist, unter welchen Schwindeloperationen irgendein
halbasiatischer Staat das deutsche Vermögen für unproduktive Anleihen in An¬
spruch nimmt, die Aktien und Obligationen können ohne Formalität und
Prüfung an der Börse gehandelt werden. Wenn auch die ärgsten Schwindel¬
papiere nicht in den öffentlichen Kurszettel aufgenommen werden, in den neben
diesem florirenden, nicht offiziellen Kurszettel finden sie stets Eingang, und der
letztere figurirt in den Tagesblättern zur Täuschung des Publikums ohne An¬
stand. In den seltensten Fällen wird, wie erwähnt, von dem Rechte des Vörsen-
ausschlusscs gegen Personen Gebrauch gemacht, an der Börse handeln Personen,
die nicht bloß in andern Stellungen Schiffbruch erlitten haben, sondern die
mit einem Makel der schlimmsten Art behaftet sind. Nach französischem Recht
gilt ein falliter Kaufmann, bevor er nicht durch volle Bezahlung seiner Gläubiger
rehabilitirt ist, für unfähig an der Börse zu erscheinen, in Deutschland dauert
der Ausschluß uur während des Konkurses, denn die moderne Gesetzgebung in
ihrer überströmenden Humanität hat auch noch die letzten Reste der Ehrcn-
minderung beseitigt, welche mit dem schuldvollen Zusammenbruch eines Geschäfts
verbunden waren. Ist es bei einem solchen Publikum, welches ohne Kontrole
wirtschaften kann, zu verwundern, wenn Dinge vorkommen, die nicht bloß un¬
lauter sind, sondern oft auch die strafrechtlichen Grenzen überschreiten? In
der aufgeregten Zeit der Gründerepoche konnten fiktive Geschäfte, welche nur
den Zweck hatten, das außerhalb stehende Publikum durch hohe Kurse zu
blenden und zu locken, monatelang getrieben werden. Man mußte sich bei
den spätern gerichtlichen Untersuchungen fragen, ob den Eingeweihten und
namentlich deu vereideten Maklern, welche jene Geschäfte zu vermitteln, den
Vörsenkommissarien, welche die Kursnotirung zu überwachen hatten, jene
Vorgänge unbekannt bleiben konnten. Jedermann weiß aber auch, daß
in höchst legitimer, wenn auch nicht anständiger Weise die Kurse
in die Höhe getrieben werden können, ohne daß die Steigerung in der Pro-
sperirung des Unternehmens ihren Grund hat. Jetzt, wo die Börse von allen
Seiten bedroht ist, rühren sich bereits die Gewissen, und es hat soeben in Berlin
eine Versammlung von Börsenbesuchern stattgefunden, welche die ärgsten Aus¬
schreitungen bezüglich der Zulassung von schlechten Elementen beseitigen wollen.
Aber tiroso vMaos.
Wozu alle diese Erörterungen? Zunächst, um den Beweis zu führen, daß
es einer radikalen, alle Seiten zugleich umfassenden Reform bedarf, um die
schädlichen Auswüchse unsers Verkehrslebens zu beseitigen. Stellt sich jede Ma߬
regel an sich als unzureichend dar, in ihrem Zusammenwirken wird man doch
eine einigermaßen Erfolg versprechende Besserung erwarten dürfen. Allein man
täusche sich auch nicht. Die Gesetzgebung allein kann das Übel nicht beseitigen,
das so sehr mit unsern Kulturzuständen zusammenhängt. Die öffentliche Moral
hat in der letzten Zeit schwere Schläge erlitten. Nicht bloß die Gier nach Geld,
sondern auch der mühelose Erwerb desselben ist ein Charakterzug der Zeit ge¬
worden. Auf allen Gebieten und in allen Kreisen der Gesellschaft hat dieses
materielle Streben an Umfang zugenommen. Das Geld ersetzt heute bei vielen
jedes Ideal, es gleicht alle Unterschiede aus, und der Besitz macht heute, wie
zu Kaiser Vespasians Zeit, seinen Ursprung vergessen. Gegen Tendenzen dieser
Art ist die Gesetzgebung ohnmächtig. Hier gilt es ein allgemeines Aufrütteln
der Gesellschaft, eine Wiederbelebung der gesunkenen Moral durch Erziehung in
Familie und Schule, in Kirche und Staat. Der letztere zeige durch seine Gesetz¬
gebung, daß er nicht gleichgiltig gegen diese Krebsschäden ist, die Gesellschaft
aber bethätige durch ihr Verhalten, daß jener Satz des Tacitus, der einst zum
Ruhme unsrer Väter geschrieben wurde, wieder zur Wahrheit geworden sei, jener
Satz: ?1us ibi boiri irwrss valöirt, (Min alibi bonas löFss.
in zierliches und pittoreskes Haus steht ein der sonnigen Hügel¬
seite südlich von dem schönen Hudsonflussc, etwas abseits von der
Häuscrgruppe, welche die Quellen von Springlake umgiebt. In
diesem Badeorte pflegen die Müßiggänger von Newyork und
Massachusetts die heißesten Monate des Sommers zuzubringen,
indem sie auf den hölzernen Veranden umherliegen und Sherry Cobler schlürfen,
unter den schattigen Kastanien der großen Allee kokettiren, in dem hellen See
baden, der dem Orte seinen Namen gab, und von Zeit zu Zeit aus dem Ge¬
sundbrunnen nippen, in der Meinung, sich damit Indemnität der Saison zu
erkaufen.
Aber diese Müssiggänger sind nur eine zufällige und äußerliche Eigen¬
tümlichkeit von Springlake, und sie sind vielleicht weniger durch das Mineral¬
wasser seiner Quellen als durch den ihnen fremdartigen Charakter der Nieder¬
lassung angezogen. Springlake ist unter dem Namen eines Shaker5orfes in den
Vereinigten Staaten bekannt und den Spöttern ein willkommner Gegenstand
ihrer Witze. Springlake ist eine spaßhafte Einrichtung, und man lacht gern in
Newyork und Massachusetts über die „vereinigte Gesellschaft der Gläubigen an
die zweite Erscheinung Christi." Doch wenn jemand in den eleganten Städten
Rosenwasser kaufen will, so sagt man ihm, er möge sich an einen der Läden
wenden, wo die von den Shakers bereiteten Parfüms verkauft würden. Und
wenn jemand amerikanische Sträucher und Blumen sammeln will, wird ihm ge¬
sagt: Wenden Sie sich nach einem der Shakerdörfer, denn sie sind in den Ver¬
einigten Staaten unerreicht in der Zucht von Pflanzen und Samen.
In der Nachbarschaft von Springlake, auf der ganzen Reihe von bewal¬
deten Hügeln, welche von lieblichen Thälern durchfurcht sind, und von welchen
kleine Wasserbäche nach den Niederungen laufen, giebt es niemand unter den
Angesiedelten, der je dächte, der Ackerbau und die Bnmnkultur seien niedrige
Beschäftigungen. Im Gegenteil, es sind hier die besten Talente mit Vorliebe
um den mütterlichen Boden bemüht, und der Mann, welcher seine Farm zu der
schönsten und reichsten Ernte heranbildet, ist hier der Berühmtheit sicher.
Der Shaker bebaut den Boden mit der innigen Überzeugung, daß dies das
edelste Werk sei, welches er ans Erden vollbringen könne, und wenn der Müssig-
günger von Newhork heraufkommt und die grünen Hügel entlang führt, wenn
er in die reinlichen Straßen, an die prächtigen Wiesen, die blühenden Hecken
von Springlake kommt, besonders aber, wenn er die frischen und sanftmütigen
Gesichter der Männer und Frauen, das fremdartige, traurige Licht ihrer liebe¬
vollen Augen sieht, da ergreift ihn ein Etwas wie Heimweh nach einem bessern
Zeitalter, seine Seele wird bewegt wie bei der süßen, ruhigen Musik von fern
her tönender Dorfglocken. Und das ist die erste und stärkste Anziehungskraft
von Springlcckc.
Der Glanz dieses ahnungsvollen Friedens lag auf dem einzeln stehenden
zierlichen Hause und verklärte dessen weißgetünchte Holzwände, grüne Fenster¬
läden, silbern schimmerndes Schindeldach und wohlgepflegten Blumengarten.
Dieser Glanz, der vom Himmel geschenkt zu sein schien, erhellte auch das große,
einfache Gemach im obern Stock, dessen Balkonthür weit offen stand, sodaß
der Blick seiner Bewohner ungehindert hinausschweifen konnte über die Berg¬
spitzen und Hügelreihen in der Ferne, auf den hellen Spiegel des breiten Flusses
und die paradiesischen Gefilde, die sich bis zu dessen Ufer erstrecken.
Eine blasse Frau lag in einem tiefen, weichen Lehnstuhl in der Nähe der
offnen Thür und sog mit matter Brust den erquickenden Atem der Fluren ein,
der die Gerüche von tausend Blumen zu ihr trug. Ihre sanften, blauen Augen
hingen mit sehnsüchtigem Blick an dem rötlich leuchtenden Ader, der, von der
Abendsonne durchglüht, über den violetten Bergen emporstieg, und ihre durch¬
sichtigen, schmalen Hände ruhten gefaltet in ihrem Schoße.
Zur Rechten neben ihr stand eine ältere Frau mit bräunlicher Gesichts¬
farbe und energischen Zügen in der eigentümlichen Tracht der Shakcrgemeindeiu
eine weiße leinene Haube auf dem Kopfe, welche das Haar verhüllt und das
Gesicht puritanisch einrahmt, ein breiter leinener Kragen ohne Shlips um den
Hals, und ein Musselinkleid von strengem Schnitt und ohne jeden Schmuck außer
blendender Weiße.
Zur Linken neben dem Lehnstuhl der Leidenden stand ein Neger von starkem
Wuchs, durch dessen wolliges Haar sich bereits Silberfäden zogen, und dessen
ehrliches, von vielen Runzeln durchzogenes Gesicht den Ausdruck tiefer Trauer trug.
Eure Gemeinde, Schwester Elisabeth, ist mir eine segensvolle Zuflucht in
meinem verlassenen Dasein gewesen, sagte die Kranke mit einer leisen, süßen
Stimme, die so schwach war, daß ihr Ton kaum zu den Ohren der Anwesenden
drang.
Und sie ist doch nur der Vorhof des neuen Jerusalem, entgegnete die
Shakerin, Welche Freude wird dort oben sein, wo sich der Geist mit jenen
Seligen vereint, deren Anblick wir hienieden nur durch einen Schleier wahrzu¬
nehmen vermögen.
Du weißt das gewiß, Schwester Elisabeth? fragte jene.
Schwester Marie, dieses Zimmer ist voll von Seraphim und Cherubim,
welche fingen und Reden halten, und sie versichern alle, daß wir, die Aufer¬
standenen, nur noch einen kleinen Schritt zu thun haben, um ihnen gleich
zu sein.
Der Kranken Brust hob sich mit einem leichten Seufzer, und ihre Augen
schweiften über die Gärten und Felder der schönen Landschaft hin.
Ich habe hier gern gelebt, hob sie wieder an. Eure Bäume sind grüner,
eure Rosen röter, euer Rasen weicher als irgendwo in irgendeinem Lande, das
ich sah. Aber es ist doch nicht mein Deutschland, und jetzt, wo ich von dannen
gehe, fühle ich das alte Heimweh stärker als jemals.
Die Art des Sprechens, wie das Aussehen der Redenden ließen erkennen,
daß sie von Geburt und Erziehung der Shakeriu fern stand, wie ihre Heimat
weit vom Hudson lag. Sie sprach das Englische mit einem Accent, der an
Norddeutschland erinnerte.
Die Shakerin strich ihr mit einer Zartheit, die sich mit ihrem beinahe
männlichen Aussehen kaum zu vereinigen schien, über die Stirn hin und sagte
mit mildem Tone: Es ist wohl nicht allein die Heimat, welche deine Seele be¬
kümmert, Schwester Marie. Aber sei getrost. Er ist mit Kleidern des Lichts
angethan und der Braut in das geheime Zimmer vorangegangen. Du wirst
ihm folgen. Für die Kinder der Wiedergeburt giebt es nicht das, was die
Heiden Tod nennen. Soll ich dir den Psalm von der ewigen Vereinigung vor¬
lesen?
Ich fürchte, Schwester Elisabeth, der Eindruck desselben auf meine Nerven
würde zu stark sein, entgegnete die blasse Dame mit einem matten Lächeln.
Wäre doch mein lieber Sohn hier! Diese letzten Worte schienen sich unwill¬
kürlich durch ihre Lippen Bahn zu brechen, als wären sie nicht das Ergebnis
der Überlegung, sondern ein tiefer Hcrzensgedanke, der nach Befreiung strebte.
Dein Sohn gehörte niemals recht zu uns, versetzte die Shakerin mit einem
Tone des Bedauerns und der Unzufriedenheit. Das heidnische Leben hat zuviel
Macht über ihn. Doch bitten wir alle häufig bei dem Friedensfürsten, daß er
ihn zurückführen möge zu den Stätten der Wiedergebornen.
Mein Sohn vollführte ein edles und hochherziges Werk, sagte die Ster¬
bende, indem ihre Wangen sich mit einem schwachen Rot färbten. Er ist
hinübergegangen in die alte Heimat, um für das Vaterland in einem gerechten
Kriege zu kämpfen.
Der Blick der Shakerin nahm einen ernsten Ausdruck an, und ihre Lippen
bewegten sich ein wenig, als ob sie eine Entgegnung, die ihr auf der Zunge
schwebte, noch im letzten Augenblick zurückhielte. Dann sagte sie nach einer
Pause mit freundlichem Tone: Bitten wir für ihn, daß er dereinst auch den
Mut zu dem wahren Kampfe, zu dem Kampfe der Erlösung, finden möge!
Die blasse Dame erwiederte nichts mehr, doch richtete sie nach einer kleinen
Zeit ihre schönen und gleichsam verklärten Augen auf das Gesicht des alten
Negers und wies ihm mit einer Handbewegung ein Kästchen auf dem Tische in
der Ecke des Zimmers. Dieser Wink enthielt einen ihm verständlichen Befehl,
denn er ging auf das Kästchen zu, öffnete es und brachte der Dame ein kleines
Schlüsselbund.
Sie zeigte ihm den größten der in demselben befindlichen Schlüssel und
legte ihn in seine Hand.
Es waren nur wenig Möbel in dem Zimmer, und diese waren so einfach
und dabei so weiß und rein, wie nur das Herz einer stolzen Tanne ans ameri¬
kanischem Urwald ohne Politur und künstliche Farbe sein kann. In der einen
Ecke stand ein Bett mit Laken und Kissen von blütenfarbencm Glanz, in einer
andern der Tisch mit dem Kästchen, der auch noch ein Tintenfaß, eine englische
Bibel und eine kleine Auswahl deutscher Bücher trug, in einer dritten ein großer
Schrank. Nur noch vier Rohrstühle und einige kleinere Gegenstände, wie sie
den einfachsten Ansprüchen um Bequemlichkeit entsprechen, fanden sich außerdem
in dem großen, luftigen Gemach. Die Dielen, die Wände und die Decke waren
gleich dem Mobiliar aus dem schönsten Tannenholzc gearbeitet, sorgfältig zu¬
sammengefügt und ohne jeden Anstrich, ohne jeden Schmuck außer ihrer Frische
und Reinheit.
Aus dem Schranke holte der Neger jetzt, nachdem er ihn aufgeschlossen
hatte, eine Kassette hervor und stellte sie der Dame zur Hand, indem er einen
der Rohrstühle herbeitrug und sie darauf niedersetzte. Es war ein sehr ele¬
gantes und reich gearbeitetes Kistchen von dunkelm Holz mit Silberbeschlag,
und auf dem Deckel war in die zierliche Silberplatte ein Wappen eingegraben.
Die blasse Dame betrachtete die Kassette mit schwermütigen Blick, löste
dann einen kleinen Schlüssel aus dem Bunde, gab das Bund selbst der Shakerin
und sagte: Ich weiß, daß heute mein letzter Tag auf Erden ist. Mit diesen
Schlüsseln, Schwester Elisabeth, überliesere ich dir all mein Besitztum wie auch
dies Haus zu beliebigen: Gebrauch. Dir aber, mein alter, treuer Diener, über¬
gebe ich diese Kassette, damit du sie meinem Sohne bringst. Sie schloß bei
diesen Worten die Kassette auf, nahm einen seidenen Geldbeutel heraus, händigte
ihn dem Neger ein und fügte hinzu: Dieses Geld ist dein; es wird für deine
Reise genügen. Mein Sohn wird ferner für dich Sorge tragen.
Der Neger ergriff die Hand der Dame, welche in seiner gewaltigen schwarzen
Faust unendlich zart und schwach aussah, und drückte seine wulstigen roten Lippen
darauf. Eine Thräne fiel aus seinem Auge auf das schmächtige Handgelenk,
welches aus dem Battistärmel hervorlugtc, und die Thräne war so heiß, daß
der Arm zuckte.
Es finden sich hierin alle die Dokumente, deren mein Sohn jemals be¬
dürfen könnte, um die Ehre seiner Mutter und seine eigne zu verteidigen,
sagte die Dame mit bebenden Lippen. Auch findet sich darin das kleine Ver¬
mögen in Obligationen der Vereinigten Staaten, welches ich ihm hinterlasse.
Was dieses letztere anlangt, so kann mein Sohn damit verfahren, wie er will.
Was aber jene Dokumente betrifft, so soll er des Versprechens gedenken, welches
er mir gegeben hat.
Bei diesen Worten richtete sich die Sterbende auf, und ihre Stimme ward
vernehmbarer.
Hörst du, Andrew, du, der du den Verstorbenen gekannt hast! sagte sie in
feierlicher und ihn gleichsam beschwörender Weise. Hörst du, ich will nicht, daß
das Andenken dessen, den ich liebte, befleckt wird. Sage meinem Sohne, daß
diese Dokumente zwar sein unbestreitbares Eigentum sind, daß er aber damit
nur seinem Versprechen gemäß verfahren darf. Dieses letzte Wort seiner Mutter
an ihn, dieser letzte Wunsch seiner Mutter wird ihm heilig sein, das weiß ich.
Sie nahm, nachdem sie so gesprochen hatte, ein Bild aus der Kassette, ein
kleines Pastellbild, einen schönen Mann von vornehmem Aussehen darstellend.
Indem sie das Porträt in ihren gefalteten Händen emporhielt, sank sie
wieder in die Kissen zurück, und Thränen benetzten ihre Wangen. Legt mir dies
Bild in das Grab, bat sie mit erstickender Stimme. Er hat mir das Herz ge¬
brochen, aber so werde ich desto früher mit ihm wieder vereinigt sein.
Sie preßte das Bild an ihre Lippen, und dann sanken ihre Hände kraftlos
in ihren Schoß zurück, und sie lehnte müde den Kopf zur Seite. Die Auf¬
regung der letzten Minuten schien ihren schwachen Rest von Lebenskraft auf¬
gezehrt zu haben. Ihr Atem ward schwächer, noch einmal heftete sich ihr Blick
mit einem sanften Lächeln auf die Shakerin und den treuen Diener, richtete
sich dann auf den Himmel, dessen Röte nun in eine bläuliche Färbung ver¬
schwamm, ein Zittern durchflog die ätherische Gestalt, und dann war auf Erden
für sie alles beendigt.
Die Shakerin legte ihr die Hand auf das Herz und lauschte auf die letzten
Spuren des Atems, dann, als alles ruhig geworden war, drückte sie der Ver¬
storbenen die Augen zu, und es knieten zu beiden Seiten ihrer Lagerstätte die
Zeugen ihres Todes nieder und beteten zu dem Gott, der die arme, müde Seele
erlöst hatte.
Es war ganz still in dem puritanischen Gemach, zu der offnen Thüre
wehte der Abendwind herein, und Dämmerung verbreitete sich über die segen¬
schweren Gefilde, die von dem Fleiße der frommen Gemeinde Zeugnis ablegten,
über die schöne, friedliche Ansiedlung, die lange Jahre hindurch dem bekümmerten
Herzen der Entschlafnen eine Stätte der Ruhe und Einsamkeit, ein Labsal und
eine Erholung nach schweren Kämpfen in der wirren Welt gewesen war.
In dem Gasthause des kleinen Ortes Scholldvrf an der Ostseeküste traf
an einen, Juliabend sehr zur Überraschung der Wirtsleute ein Fremder ein, der
die Absicht zu erkennen gab, mehrere Wochen zu bleiben. Er wurde mit großer
Ehrerbietung und einem Aufwande von Entschuldigungen wegen der Einfachheit
des Zimmers empfangen, sodaß er sich genötigt sah, zu wiederholten malen
zu erklären, er sei durchaus zufrieden, wenn die Luft gut, das Bett rein und
die Speisen gesund seien. Er habe die Absicht, fügte er hinzu, die Umgegend
zu durchstreifen, um Skizzen der Küste mit ihren Klippen und Wäldern auf¬
zunehmen.
Der Bursche, welcher ihn von der Poststation, die etwa eine Stunde von
Scholldorf entfernt lag, hierher begleitet hatte, setzte indessen die Koffer des
Gastes in dem kajütenähnlichen kleinen Gemache nieder, und der Gast selbst warf
seinen breitkrämpigen Filzhut auf den Tisch, strich mit der Hand durch das blonde
Haar und blickte gedankenvoll aus dem kleinen Fenster hinaus auf die blaue See.
Für die Herren Maler, sagte die Wirtin, indem sie eine letzte ordnende
Hand an die Möbel legte und mit einem Staubtuche über die Lehnen der Rohr¬
stühle Hinsuhr, für die Herren Maler sei diese Umgegend die schönste, welche sie
sich nur wünschen könnten, und in früherer Zeit seien sie auch in großer Zahl
gekommen. Das sei eine lustige Zeit gewesen, denn die Herren wären immer
guter Dinge und voll von Späßen, wenn auch nicht immer gut bei Kasse ge¬
wesen. Aber in den letzten Jahren sei Scholldvrf ganz aus der Mode gekommen,
weil eine neue Landstraße gebant sei, welche zu dem benachbarten Fischbeck führe
und Scholldorf unberührt lasse. Dort sei nun auch ein Bad gegründet worden
und alles modern und teuer. Aber wer die Küste richtig kenne, der werde immer
lieber nach Scholldorf kommen, wo das Essen noch die alten soliden Preise
habe und der Rotwein unverfälscht sei.
Sie warf bei dieser Erzählung prüfende Blicke auf den Herrn, der mit
träumerischem Blick am Fenster stand, und suchte mit dem scharfen Blick des
Gastwirts das echte Gold an ihm von dem unedlem Metall auszuscheiden.
Das Ergebnis dieser Prüfung war äußerst günstig für den fremden Herrn.
Sie sagte sich im stillen, daß sie noch niemals in ihrem Leben einen Maler,
ja vielleicht noch niemals einen Mann gesehen habe, der ein so feines und vor¬
nehmes Wesen gehabt habe. Sein Anzug freilich war höchst einfach, beinahe
ärmlich. Er trug eine dunkle Bluse, die offenbar schon manches Wetter erlebt
hatte, und es war nichts geschniegeltes und gebügeltes an ihm, weder eine
funkelnde Kmvatte, noch ein Beinkleid, welches den Stolz eines großstädtischen
Schneiders hätte bilden können. Aber es giebt Figuren von angeborner Vor¬
nehmheit der Bildung, sodaß ein simpler Anzug dadurch gleichsam veredelt und
gehoben wird. Die kluge Wirtin zum frischen Hering hatte genug Blick, um
dieses Ungeborne in dem fremden Maler zu entdecken, und sie dachte bei sich,
daß auch ein Prinz nicht schöner aussehen könne als dieser schlanke Fremde
mit der ruhigen Haltung, den großen, dunkelblauen Augen und dem feinen,
blonden Bart.
Meine gute Frau, sagte er endlich, vom Fenster zurücktretend, auf ihre
Anfragen wegen des Abendessens, ich sehe dort unten eine Bank unter dem
Lindenbaum, dorthin könnten Sie mir Thee bringen, der hier gewiß vorzüglich
sein wird.
Die Bank unter dem Lindenbaum, auf welcher sich der Fremde niederließ,
war in der That so gelegen, daß der Blick eines Malers dort entzückt werden
mußte. Das Land senkte sich sanft zum Meere ab, und ein weites Gebiet des
bewegten Elementes dehnte sich dort unten aus. Die Sonne war im Herab¬
steigen, und ihre Strahlen, durch Wolkenschleier gebrochen und in feinen Duft
gehüllt, färbten und erleuchteten den blanken Wasserspiegel in den verschiedensten
Tönen von Blau, Grün und Gold. Weiße Linien, durch die Kämme der Wogen
gezeichnet, zogen sich dazwischen und teilten das Meer gleichsam in Felder ab,
wie die Felder auf den Ebenen des Landes abgeteilt sind, nur in weit größerem
Maßstabe, in durchsichtigerem Farben und von einem flimmernden Glanz Über¬
gossen. Das dumpfe, regelmäßige Brausen, diese entzückende, beruhigende Stimme
des Meeres, die auf kein empfängliches Gemüt ihren großartigen Eindruck zu
üben verfehlt, drang zu dem Platz unter dem Baume empor und begleitete mit
seinem mächtigen Baß das Lispeln der Blätter, die der Abendwind bewegte.
Einzelne Segel, schneeweiß gleich Möven über der glitzernden Fläche schwebend,
verfolgten ihren stillen Pfad und zogen den Blick des Fremden mit sich, der,
d°en Kopf auf die Hand gestützt, sich dem Reize dieses Bildes hingab. Seitwärts
zur Rechten trat der dunkle Wald bis an das Wasser heran, und zur Linken
lag das freundliche Dorf, tiefer liegend als der Gasthof, eingebettet in grüne
Wiesen und Baumgruppen mit roten Ziegeldächern und behaglich wehenden
blauen Rauchfähnchen, die vor dein frischen Seewinde landeinwärts zogen.
schroff ansteigende, in der Abendsonne rötlich schimmernde Felsen von bizarrer
Form erhoben sich zwischen dem Dorfe und dem Meere zu beträchtlicher Höhe
und bildeten einen natürlichen Damm gegen hohe Wasserfluten, während sie zu¬
gleich mit ihren ragenden Spitzen und kahlen Flächen ein weithin sichtbares
Wahrzeichen der Gegend waren. Auf manchem Gemälde, das sich auf Reisen
durch die Ausstellungen Deutschlands befand, sind sie unter dieser oder jener
veränderten Form und Gruppirung zu erblicken gewesen, verewigt von den
Händen jener Künstler, -die zur lustigen Zeit des frischen Herings bei der Frau
Zeysing logirt hatten.
Dort UM die Ecke herum liegt Fischbeck, sagte diese geschäftige Dame,
während sie eine Kanne mit Theeblättern, Kohlenbecken und Wasserkessel, sowie
rosigen Schinken, goldgelbe Butter und grobes und weißes Brot auf dem frisch-
weißen Tischtuch zurechtstellte. Wenn Sie um die Felsen herumfahren — und
ein hübsches Boot dazu steht Ihnen jederzeit für mäßigen Preis zu Diensten —,
dann sehen Sie das berühmte Bad schon liegen. Es ist kaum anderthalb
Stunden von hier zu fahren bei gutem Wind. Es ist schrecklich, wie die Zeiten
sich ändern, und der Schwindel nimmt immer mehr zu. Es soll alles fein und
modern sein, und die Solidität geht ganz verloren. Ich frage, was hat denn
ein Kurgast dort, wenn er einen halben Thaler ohne Wein an der Table d'böte
bezahlen muß und bekommt ein Stückchen mageres Kuhfleisch und eine Suppe
so dünn wie Spülwasser und nachher ein süßes Gemenge, das sie Mehlspeise
nennen, das ich aber meinen Gästen nicht vorsetzen möchte. Nein, das ist bei
mir anders gewesen und ist auch jetzt noch anders und soll, so Gott will,
immer anders bleiben. Hier giebts keine Prellerei, und was bei mir aus Küche
und Keller kommt, das ist solid, und die Herren, die bei mir gewesen sind, die
könnens bezeugen.
Der Fremde antwortete nichts ans diese Reden, welche die Frau Zeysing
zum Lobe des frischen Herings und zur Schande des Badeorts Fischbeck zum
besten gab, nickte ihr aber mit einem freundlichen Lächeln zu, als sie sich zum
Gehen anschickte, bereitete sich den Thee, verzehrte sein Abendbrot, zog dann
eine Pfeife aus der Brusttasche seiner Bluse hervor, zündete sie an und rauchte,
den Blick dem Meere zugewandt, langsam und bedächtig, bis die Sonne völlig
untergegangen war und Finsternis sich über Land und Meer zu verbreiten
anfing. Mit einem Seufzer betrachtete er die erbleichende» Tinten der vorher
so glänzenden Landschaft, wie sie allmählich ihren leuchtenden Schimmer in
blasse, blaue Schleier hüllte und sich mit einförmigen Grau überzog. So ist
das Menschenleben, sagte er sich, wenn Jugendhoffnung und stolzer Ehrgeiz
daraus entschwunden sind. So bleich sind seine Farben, so eintönig das Grau,
welches alle kommenden Tage bedeckt. Ich habe genug von der Welt und
von der Kunst gelernt, um nun endlich einzusehen, daß ich nie ein wahrer
Künstler werden kann. Die Leute loben meine Bilder, kaufen sogar eins und
das andre, aber es ist jenes karge Lob und karge Geld, welche die Enttäuschung
eines Mannes bilden, der in seiner Kindheit ein Rubens und van Dhck zu sein
dachte. So ziehe ich um von Deutschland nach Italien, und von Italien
wieder nach Deutschland, von der See zu den Bergen und von den Bergen
zurück zur See. Aber es liegt nicht an den Studien. Die Natur um mich
herum thut schon ihre Schuldigkeit, wenn nur die Natur in mir es auch thäte.
Aber es fehlt, wie mir scheint, in meiner Mischung das Körnchen holden Wahn¬
sinns, welches, wie der Dichter behauptet, zum Genie gehört. Über das andre will
ich mich nicht grämen, obwohl es nicht schön ist, hier zu entsagen und dort auch.
Der arme junge Mensch, sagte indessen die Frau Wirtin zu ihrem Ehe¬
herrn, der in seiner blauen Jacke am Herde saß und eine kleine Windmühle
schnitzte, welche er zur Zierde und zum Nutzen des frischen Herings als ein
Windzeichen auf dem Giebel befestigen wollte — der arme, hübsche junge Mensch!
Er hat gewiß einen Kummer!
Der Ehegatte warf ihr einen schlauen Blick aus den Augenwinkeln zu und
sprach eine Vermutung aus, die dahin zielte, daß wahrscheinlich der Kummer
dieses Herrn dort seinen Grund habe, woher so vieler Kummer rühre, nämlich
in der Leerheit des Beutels, Sie aber hatte über diesen Puukt eine andre
Ansicht, welche sie freilich dem prosaischen Gemüte ihres Mannes anzuvertrauen
nicht geneigt war.
Der fremde Maler erwies sich als ein ruhiger Gast, der wenig Ansprüche
machte und mit einer Miene überlegener Gleichgiltigkeit die zu seinem Wohl¬
befinden getroffenen Anstalten betrachtete, welche der Wirtin vielleicht beleidigend
erschienen wären, wenn sie nicht von gelegentlicher Freundlichkeit begleitet ge¬
wesen wäre, die hin und wieder einem Sonnenblicke gleich aus dem ernsten Ge¬
sicht hervorgebrochen wäre. Er ging still seines Weges, streifte mit dem Skizzen¬
buche in den Wäldern und auf den Höhen umher und saß regelmäßig des
Abends mit seinem Thee und seiner Pfeife unter dem Lindenbäume und blickte
auf das Meer, Von dem unverfälschten Rotwein, den ihm die gefällige Wirtin
angepriesen, trank er so wenig, daß sie anfing, sich der Meinung zuzuneigen,
die ihr Mann in Bezug auf die finanziellen Verhältnisse des Gastes ausge¬
sprochen hatte, obwohl sie nicht leicht dessen Ansichten zustimmte und gerade
hinsichtlich dieses Fremden sich eine besondre Meinung gebildet hatte.
Was malen Sie denn, lieber Herr? fragte sie ihn eines Tages, als er mit
seinen: Skizzenbuche unterm Arme heimkehrte und lächelnd bei den weißhaarigen,
sonnverbrannter Kindern stehen blieb, die eine Art von Kriegstanz vor der
Hausthür aufführten, Malen Sie auch Menschen, oder malen Sie nur Felsen
und Bäume und Meer? Es war ihr der Gedanke gekommen, daß sich vielleicht
zwischen der Kunst des Gastes und den Forderungen des Wirtes ein Kompromiß
schließen ließe, der für beide Teile vorteilhaft wäre, indem er den schmalen
Beutel des erstern schonte und dem Hause des letztern ein schönes, vielfarbiges
Gemälde zurückließ, auf welchem die Familie Zeysing, Vater und Mutter nebst
fünf in Orgclpfeifenreihe aufeinanderfolgenden gesunden Fischerkindern, sich in ihren
besten Anzügen imponirend darstellten.
Aber das Skizzenbuch, welches ihr der Maler auf ihren Wunsch zur Einsicht
überließ, befriedigte sie wenig und ließ ihre Hoffnungen schwinden.
Ach, lieber Herr, sagte Sie, das sind lauter schwarze und weiße Striche,
und ich sollte nicht denken, daß sie dafür viel Geld bekommen werden. Da
war vor zwei Jahren, der Herr Guido hier, der verstand das besser. Er hatte
noch einen andern Namen, den ich aber niemals gut merken konnte, und ich
nannte ihn immer nur Herr Guido, Der stellte zwölf Stück Leinwand auf,
dort drüben im Saal, wo Sonnabends die Herren vom Kegelklub ihr Abend¬
essen halten, jedes Stück vier Fuß lang und drei Fuß hoch. Und dann malte
er auf jede Leinwand dasselbe Bild, allemal das Meer in der Mitte, links
schwarze Wolken und rechts den Mond, vorne aber ein Schiff, das auf der
Seite lag und wo die Wellen drüber wegschlugen. Ich sehe sie noch deutlich
vor meinen Augen stehen, alle die schönen Bilder, Er malte sie ganz egal,
erst alle zwölf Himmel mit dem gelbweißen Mond, dann alle zwölf Schiffe auf
dem Wasser, alles mit derselben Farbe, Und er sagte mir, daß er für jedes
Bild zehn Thaler bekäme. Da waren hundertundzwanzig Thaler schnell verdient,
denn er war in vierzehn Tagen mit all den Bildern fertig. Freilich hatte er
eine alte geübte Hand, und ehe man laufen kann, muß man gehen lernen. Er
hat auch unser neues Schild gemalt; es wird Ihnen wohl schon aufgefallen
sein. Aber nehmen Sie es mir nur nicht übel, daß ich mir die Freiheit nahm,
Sie werden es auch schon loskriegen, und ich weiß, daß früher mehrere Herren
bei mir gewesen sind, die auch nur mit schwarzen Strichen zeichneten, mir aber
sagten, sie malten zu Hause dann bunte Bilder nach den Zeichnungen, Und
hier — sehen Sie einmal —, das ist ja das Schloß Eichhausen, und das kann
man deutlich erkennen.
Die gesprächige Frau hatte an einem Zucken im Gesicht des Fremden wahr¬
genommen, daß wohl nicht alles, was sie geredet, ihm so ganz zu Danke ge¬
wesen sein müsse, und sie beeilte sich, das Ding wieder gut zu machen, indem
sie eine der Skizzen lobte, einem dunkeln Instinkt folgend, der ihr sagte, daß
der sicherste Weg zum Herzen eines Künstlers das Lob seines Kunstwerkes sei.
Wahrhaftig, fuhr sie fort, das ist Schloß Eichhausen, und Herr Guido
selbst hätte es nicht besser gemacht. Hier ist der viereckige Thurm, und hier
der breite Graben und die Zugbrücke und das Boot, mit dem das gnädige Fräulein
Dorothea als Kind umgekippt waren. Man kann alles deutlich sehen. Wenn
nicht der Neufundländer das Kind herausgezogen Hütte, so konnte es ertrinken,
und es kostete der Mamsell Dupin doch ihre Stelle, weil sie das Mädchen hatte
allein in das Boot steigen lassen. Der Herr Baron waren sehr böse, und wenn
der böse ist, so ist es als wenn ein Gewitter am Himmel steht. Freilich, es
war sein einziges Kind, wenn es auch kein Knabe war. Wäre es ein Knabe
gewesen, na dann! Ich kenne das alles so genau, müssen Sie wissen, Herr
Eschenburg, weil ich Köchin dort im Schlosse gewesen bin, ehe ich meinen
Jürgen heiratete. Dort habe ich die feine Küche gelernt, wie Sie wohl gemerkt
haben werden, Herr Eschenburg, und ich kann unbeschadet des Rufes des Herrn
onst as euismo im Hotel Felix zu Fifchbeck behaupten, daß ich es verstehe,
einen Fisch zu kochen und auch eine Sauce dazu zu machen. Ja, das war der
ganze Kummer, daß es kein Sohn war, und deshalb sind der Herr Baron auch
so viel auf Reisen, bald in Italien, bald in der Schweiz. Es leidet ihn nicht
lange hier in Eichhausen, weil er weiß, daß die Herrschaft nicht in seiner Familie
bleiben kann, und das nagt an ihm. Das arme gnädige Fräulein muß es ent¬
gelten, daß sie kein Sohn ist, und sie kann doch wahrhaftig nichts dafür, das
arme Ding! Aber so gehts in der Welt. Was der Mensch nicht hat, das
will er haben, und was er hat, das weiß er nicht zu schätzen. Mir wahrhaftig
sollt's gleich sein, was nach meinem Tode würde, vorausgesetzt, daß die Kinder
versorgt wären. Und versorgt wahrhaftig sind das gnädige Fräulein, das wollte
ich meinen. Aber vornehme Leute sind anders als wir, lieber Herr, und haben
ihre eignen Grillen. Der Herr Baron Habens nie verwinden können und Werdens
nie verwinden, daß sie keinen Sohn und Erben haben. Es ist der gnädigen
Frau ihr Tod gewesen, so sehr hat sie sich darüber gegrämt. Wissen Sie, wie
der Herr Baron einmal sind, ein vortrefflicher Herr, der das beste Herz von
der Welt hat, aber man merkts ihm nicht an, wenn man ihn nicht lange kennt,
wie ich ihn gekannt habe. Nicht daß er die Frau Baronin schlecht behandelt
Hütte! Bewahre Gott! Stets die feinste Höflichkeit und Hochachtung. Aber
die Frau Baronin merkte es ihm doch an, und es hat ihr das Herz gebrochen.
Die Herzen sind verschieden, Herr Eschenburg, das eine ist so, das andre wieder
anders. Manche Frau wäre glücklich gewesen, wenn sie es so gut gehabt hätte
wie die Frau Baronin. Ach, du großer Gott, ja! Aber sie konnte es nicht.
Sie war wie eine feine Rose und viel zu empfindlich, sie härmte sich im stillen,
und alle Höflichkeit des Herrn Baron konnte ihre Backen nicht rot machen. So
welkte sie denn hin, wie eine Blume, der die Sonne fehlt.
Die gute Frau Zeysing drückte einen Zipfel ihrer Küchenschürze an die
Augen und wollte dann in einem Thema fortfahren, welches offenbar zu ihren
Lieblingsgegenständen gehörte. Aber der fremde Maler, welcher aus freund¬
licher Nachgiebigkeit bis jetzt zugehört hatte, glaubte nunmehr genug von den
Angelegenheiten der Familie zu Schloß Eichhauscu gehört zu habe». Er zog
seine Uhr, bemerkte, daß die Mittagsstunde herangerückt sein müsse, und zog sich
mit einer scherzhaften Ermahnung hinsichtlich der von ihr selbst gelobten Koch¬
kunst der Frau Wirtin zurück. (Fortsetzung folgt.)
Der Grobianus giebt ein in seinen Einzelheiten offenbar dem Leben ent¬
nommenes, in seiner Häufung und Zusammenfassung freilich stark übertriebenes und
verzerrtes Bild der Roheit und Unfläterci, die im 16. Jahrhundert allmählich ein-
gerissen war und die wir u. a. aus den gleichzeitigen Selbstbiographien des Ritters
Hans von Schweinichen oder der beiden Platter zum Teil kennen. Der
Zweck Dedekinds war, den Grobianen, die schon Braut in seinem Narrcnschiff ver¬
spättet hatte, ein Spiegelbild vorzuhalten. Welchen Anklang die Dichtung fand,
beweist die Thatsache, daß nicht weniger als 26 Ausgaben und eine große Anzahl
von Übersetzungen und Umdichtungen der letztern erschienen sind; die letzte ist die
1708 unter dem Titel „Der unhöfliche Monsieur Klotz" erschienene, die in Alexan¬
drinern geschrieben ist. Ja wenn den Verfasser dieser Zeilen sein Gedächtnis nicht
trügt, so muß selbst eine in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts erschienene
Tischzucht für Kinder in vielen Einzelheiten noch auf den alten Grobianus zurück¬
gehen, und es läßt sich nicht leugnen, daß in gewissem Sinne auch der Mensch
unsrer Tage Dedekinds Buch nicht ohne Nutzen lesen wird.
Zu bedauern ist, daß der Plan der Niemeyerschen Sammlung dem Heraus¬
geber gebot, sich in der Einleitung auf einen kurzen Überblick der geschichtlichen
Entwicklung des Stoffes und auf eine bibliographische Übersicht der verschiednen
Ausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen zu beschränken. Der kulturhistorisch
so reichhaltige und interessante Stoff würde das Buch auch für den Laien zu einer
erwünschten Lektüre machen, wenn ihm sprachliche und sachliche Erläuterungen das
Verständnis erleichterten. Eine Herausgabe nach Art der Brockhausschcu Sammlungen
würde gerade für dieses Heft geeignet gewesen sein.
Die Fürstentochter, um deren Memoiren sichs in diesem Buche handelt, ist
die Prinzessin Amalie von Sachsen, die Schwester des Königs Johann, welche sich
als Verfasserin einer Reihe von Schau- und Lustspielen einen guten Namen gemacht
hat. Freilich findet man in dem Buche nicht, was der Titel Memoiren erwarten
läßt. Es sind die Tagebücher der Prinzessin, aus denen uns hier Bruchstücke und
Auszüge mitgeteilt werden; diese umfassen einen langen Zeitraum, von 1794 bis
zu ihrem Tode im Jahre 1870, Den breitesten Raum in den Veröffentlichungen
nehmen die früheren Jahre und dann die verschiednen Reisen ein, welche die
Prinzessin nach Italien und nach Spanien zum Besuche ihrer Geschwister gemacht
hat. Kindhcits- und Jugenderinnerungen pflegeu den Menschen ja stets am meisten
zu fesseln — wie sollte das nicht hier der Fall sein, wo ein mächtiges Stück
Weltgeschichte den bewegten Hintergrund bildet, wo Flucht, Rückkehr und neue
Verbannung in schnellem Wechsel aufeinander folgen. Von den Reisen ist die
anziehendste die nach Spanien in den Jahren 1824 und 1826, Dort besuchte
die Prinzessin mit ihrem Vater, dem Prinzen Max, ihre an den König Ferdinand
verheiratete Schwester Josepha. Hier bringt die im ganzen sehr am äußerlichen
haftende Schilderung manches Interessante, und durch die dazwischen eingefügten
Bruchstücke der Korrespondenz zwischen den Schwestern öffnet sich uns auch ein
Blick in die herzlichen Beziehungen der Familienmitglieder untereinander. Nicht
ohne Wehmut sieht man die zarte, liebebedürftige Josepha an der Seite eines
bei aller scheinbaren Gutmütigkeit doch gemütsrohen Gemahls. In die eigne
Seelenentwicklung der Prinzessin erhalten wir durch die „Memoiren" keinen nähern
Einblick, und so kommt es, daß, während nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge
eine derartige Veröffentlichung zu einer kurzen Lebensskizze die weitere Ausführung,
die Füllung des Gerippes mit Fleisch und Blut giebt, in diesem Falle am Schlüsse
eine kurze Lebensskizze notwendig wird, um aus den vielen trümmerartigen und
äußerlichen Mitteilungen wenigstens ein einigermaßen festes Bild heranszugestalten.
Der Herausgeber hat daher dem Buche die Skizze beigefügt, die er schon der
von ihm besorgten Gesamtausgabe der dramatischen Schriften der Prinzessin bei-
gegeben hat.
Die meiste Teilnahme wird das Buch jedenfalls bei denen finden, die durch
persönliche Erinnerung an das alte Dresden und an die ältern Generationen des
sächsischen Königshauses gefesselt sind. Das letztre tritt in einer durchaus erfreu¬
lichen Gestalt entgegen, zuvörderst der Kunst und Geselligkeit so schön pflegende
Familienkreis des Prinzen Max und im Hintergrunde der in seiner peinlichen
Gewissenhaftigkeit hochachtbare König Friedrich August; dem alten Dresden aber
widmet der Herausgeber in einem der Einleitung folgenden, „Zur Orientirung"
überschriebenen Abschnitt etwa dreißig Seiten, auf denen er uns mit den Örtlich-
keiten, Dingen und Menschen der damaligen sächsischen Residenz in ansprechender
Weise bekannt macht.
Nachträglich, nachdem die kleine Auseinandersetzung über frug und fragte
auf S. 21 dieses Heftes bereits gedruckt ist, erhalten wir Kenntnis davon, daß
das Sonett von P. Lang in Ur. 51 der Grenzboten nicht bloß ein Gegen¬
sonett, das in der Berliner Post, sondern eine ganze Flut von Sonetten nach
sich gezogen hat, die dem von Lang teils zustimmen, teils widersprechen. Wir
teilen im nachfolgenden die beiden hübschesten mit, zwei der erstern Kategorie,
die sich beide gegen das Sonett des Herrn v. C. kehren. Franz Raab in
Wien schreibt:
Möcht' einem schier doch umdrehn sich der Magen!
Als gäb's in Deutschland nicht des Streits genug,
Zanke man sich ab, ob's fragte heißt, ob frug!
Seid nicht zu faul, die Sprachlehr' aufzuschlagen!Da steht: Zeitwörter giebt's gar viel auf ager,
Doch zwei nur beugen stark: trägst, trug, schlägst, schlug;
Die andern alle — merkt's und werdet klug! —
Nur schwach, wie sagen, klagen, wagen, nagen.Spricht denn gefragen irgend ein Vernünftger?
Nein, jeder nur gefragt! So folgt der Schluß:
Auch fragen zählt zum schwachen Verbgeschlcchte.Drum: fragte! lehrt ein Meister euch, ein zünftger,
Frug ist ein Fratz, der allem zum Verdruß
Emanzipirt der Starkheit sich erfrechte.
Das andre, v. Gr. unterzeichnete Sonett lautet:
Seid ihr Quartaner? möcht' ich lächelnd fragen;
Kennt Ihr der eignen Sprache Formen nicht?
Wer so geläufig in Sonetten spricht,
Weiß uicht einmal im Lehrbuch nachzuschlagen?Laßt vom Präzeptor euch die Regel sagen
Und seht dann dem Perfektum in's Gesicht,
So geht sofort euch auf im hellsten Licht
Der Unterschied von fragen und von schlagen!Denn wo sich das Perfektum schließt mit t,
Schmiegt sich dem Jmperfektum an ein e,
Drum heißt's ich fragte, weil es heißt gefragt.Doch endet das Perfekt auf en — o Qual!
So schwankt im Imperfekt der Stammvokal:
Ich schlug - ihr seid geschlagen!--nicht geschlagt!
chon wiederholt haben wir in diesen Müttern ausführlich auf
das Quelleuwerk v. Poschingers zur Charakteristik und Biographie
Vismarcks als Diplomaten aufmerksam gemacht, das unter dem
Titel Preußen im Bundestag im Verlage von S, Hirzel zu
Leipzig erscheint. Jetzt, wo der dritte Band veröffentlicht und
das Werk damit zu Ende geführt ist, kommen wir anf dasselbe zurück, indem
wir den neuerschienenen Band einer übersichtlichen Besprechung unterziehen und
aus einem seiner Schriftstücke, welches uns als das wichtigste erscheint, die wesent¬
lichsten Stellen mitteilen.
Dieser dritte Band ist erheblich stärker als die beiden vorhergehenden; er
hat nicht weniger als 541 Seiten und umfaßt über 200 Urkunden, welche sich
über die Zeit vom 27. Mai 1856 bis zum 1. März 1859 verteilen, also bis
zu dem Zeitpunkte, wo Bismarck, vom Prinz-Regenten Wilhelm, dem jetzigen
König und Kaiser, zum Gesandten am russische,, Hofe ernannt, die Frankfurter
Geschäfte an seineu Amtsnachfolger beim Bunde, Herrn von Usedom, übergab.
Eine Einleitung, die gewissermaßen die Quintessenz des mitgeteilten Materials
gäbe, ist, wie beim zweiten Teile, auch diesmal weggeblieben, dagegen ist durch
zahlreiche Anmerkungen des Herausgebers, die von dem Fleiße wie von der
Kenntnis desselben rühmliches Zeugnis ablegen, genügend dafür gesorgt, daß
der Leser über nichts im unklaren bleibe. Viele der mitgeteilten Berichte sind
von hoher Wichtigkeit, einzelne wahre Kabinetsstücke diplomatischer Kunst. Na¬
mentlich die „Denkschrift, betreffend die Notwendigkeit der Jnaugurirnng einer
selbständigen preußisch-deutschen Politik," in der diplomatischen Welt „Das kleine
Buch" genannt (sie nimmt nicht weniger als 26 Druckseiten ein), gehört zu
dem inhaltreichsten und wertvollsten, was Bismarck an seine Regierung von
Frankfurt aus geschrieben hat. Aus dem März 1838 stammend, vom Heraus¬
geber aber an den Schluß der Sammlung gestellt, ist sie gleichsam der Edelstein
im Ringe.
Die Gegenstande, durch die Bismarck in den Jahren 1856 bis 1359 am
meisten beschäftigt wurde, waren die schweizerische Frage, die sich um die Be¬
freiung der Royalisten drehte, welche bei dem Neuenburger Pulses unterlegen
waren und von den Behörden der Schweiz gefangen gehalten wurden, die Hol-
stein-Lauenburgische Verfassung, der Vorschlag Bensts, der eine Abänderung der
Bundesverfassung bezweckte, und der Ausbau sowie die Besetzung der Bnndes-
festungen, über welche in Frankfurt mit verdrießlichster Weitläufigkeit und allen
möglichen Ränken verhandelt wurde. Denn die Zeiten hatten sich seit dem Krim¬
kriege wesentlich anders gestaltet. Die Minister der Kleinstaaten und die Ge¬
sandten der letzter» beim Bunde nahmen jetzt eine abwehrende, ja auf Angriff
gerichtete Stellung zu Preußen ein, unter dessen Fittichen sie während jenes
Konflikts wiederholt Schutz gegen Österreichs Ansprüche gesucht hatten. Die
Periode der orientalischen Wirren, in welcher die Mehrheit der deutschen Staaten
in deren eignem Interesse sich in einem gewissen Zusammenhange mit der preu¬
ßischen Politik gehalten hatte, war geeignet gewesen, die Täuschung hervorzu¬
rufen, daß die Gemeinsamkeit der rein deutschen Interessen ein natürliches Band
bilde. Daß dieses nur ein lockeres war, wußte man in Berlin, und jetzt be¬
stätigte sich dies, indem die Mittelstaaten die Mißachtung der Stellung, zu der
Preußen berechtigt war, soweit trieben, daß man ihm selbst wenigbedeuteude
Zugeständnisse verweigerte.
Im Vergleich mit frühern Verhandlungen des Bnndesansschusses über
Fragen der europäischen Politik und im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die
man in Wien, München und Dresden anfänglich zu macheu geneigt schien, war
die rasche Erledigung des preußischen Antrages in der Neuenburger Angelegen¬
heit anscheinend ein günstiges Zeichen. Näher betrachtet aber war sie der
Meinung zuzuschreiben, daß sich die Beziehungen Preußens zu Frankreich in
der damaligen Zeit freundlicher gestaltet hätten. Die Bundesverfassung an sich
und besonders die Richtung, nach welcher Österreich und die Mittclstaate» sie
auszubilden bestrebt waren, bot Preußen kein Mittel, seinen Einfluß in Deutsch¬
land über das Maß der ihm zustehenden einen Stimme unter siebzehn zu ver¬
mehren. Hätte mau von auswärtigen Beziehungen in der deutschen Politik
absehe» können, so würden die Gründe, welche die Bundesgenossen Preußens
zum Widerstände gegen dasselbe zu haben glaubten, Preußen ohne Zweifel in
allen Stücken in den Zustand einer Minderheit am Bunde versetzt, und das Be¬
streben, die Befugnis der Mehrheit zu erweitern, würde bald Erfolge zu ver¬
zeichnen gehabt haben. Sobald aber die auswärtigen Verhältnisse sich in einer
Weise entwickelten, die den europäischen Frieden zu bedrohen schien, stieg sofort
auch in Deutschland der Wert, welchen Preußen vermöge seiner militärischen
Kräfte und seiner sonstigen Hilfsmittel für das Ausland hatte; nicht minder
wurden die Hoffnungen mit in Rechnung gezogen, mit welchen die wesentlichsten
Elemente der öffentlichen Meinung in Deutschland auf Preußen blickten, wo¬
gegen diese Hoffnungen in friedlichen Zeiten nur das Mißtrauen und die Ab¬
neigung der kleinstaatlichen Regierungen gegen dasselbe verstärkten. Immer
aber stellte sich bei kritischer Lage heraus, daß der Glaube der letztern an den
Bund und seine Verfassung auf schwachen Füßen stand. Man war vollständig
darauf gefaßt, daß jede deutsche Regierung zu Gunsten auswärtiger Verbin¬
dungen, falls sie Vorteile versprachen, dem Bunde den Rücken kehren werde.
Man war davon überzeugt, weil man selber entschlossen war, so zu handeln.
Es gab unter den mit einer Virilstimme bedachten deutschen Fürsten leinen
einzigen, der aus Bundestreue seine eigne Stellung ernstlich aufs Spiel gesetzt
haben würde. Der etwaige Kampf sich widersprechender Pflichten würde nicht
lange gewährt haben, da jeder dieser kleinen Potentaten samt seinen Räten ganz
ehrlich der Meinung war, daß die Verpflichtungen gegen seine Dynastie, dann
die gegen seine Unterthanen viel dringender seien als die gegen den Bund.
Dieser selbst hatte niemals eine andre Auffassung von seiner Bestimmung gehabt,
als die, daß er sich in festem Bündnisse mit Österreich, Preußen und Nußland
gegen Augriffe Frankreichs oder gegen innere Gegner zu verteidigen habe. So
lange er sicher war, die drei östlichen Großmächte als Deckung hinter sich zu
haben, konnte er auf Haltbarkeit rechnen. Sobald aber Rußland aus solchem
Zusammenhange schied, ohne daß Frankreich sich ihm anschloß — was nach dem
Krimkriege eingetreten war —, verlor die Bundesakte jeden Halt und Wert.
Wurde Deutschland von Frankreich und Rußland zugleich bedroht, so hätten
Preußen und Österreich so fest zusammenhalten mögen, als nur denkbar war,
sie Hütten doch nur diejenigen Buudesstciaten in ihrem Lager gesehen, welche
sie dazu zwingen konnten, oder welche außer Stande waren, mit den Gegnern
ein vorteilhaftes Abkommen zu treffen. Es wäre somit ein verhängnisvoller
Irrtum gewesen, wenn Preußen seiner Politik für die Zuknifft die Annahme
zu Grunde gelegt hätte, daß die Mittel- und Kleinstaaten die Bundesverträge
unter allen Umständen halten würden, und daß es in dem Falle eines Krieges
mit Frankreich, in welchem Österreich und Rußland nicht an seiner Seite wären,
auf erheblichen Beistand von Bundestruppen hoffen dürfte. Vielmehr war mit
Sicherheit anzunehmen, daß ein Bündnis Frankreichs mit Rußland oder mit
Österreich den Bund im Kriegsfalle ohne weiteres sprengen würde.
Die österreichische Regierung verfolgte in Deutschland nur den einen Zweck,
die Verfügung über die Gesamtkraft des Bundes für ihre auswärtige Politik
und für die Kräftigung ihrer Finanzen, sowie für die Förderung ihrer Wer¬
ke hrsinteresseu zu erlangen, für letztere aber den Zollverein in die Hand zu be-
kommen, und da Preußen dabei das Haupthindernis war, so ginge» alle An¬
strengungen der Wiener Staatsmänner in Deutschland dahin, Preußen in das
Kielwasser ihrer Politik hineinzunötigen und darin festzuhalten. Das wirksamste
Rüstzeug dazu war der deutsche Bund. Bis 1848 wurde derselbe seiner ur¬
sprünglichen Bestimmung gemäß als ein Schutzverein gegen Kriege und Revo¬
lutionen angesehen und behandelt. Die Rolle eines obersten Gesetzgebers für
Deutschland übertrug man ihm nur mit Vorsicht und nur in solchen Füllen,
wo alle Mitglieder oder doch Preußen und Österreich einverstanden waren. Seit
seiner Wiederherstellung im Jahre 1851 aber war Österreich eifrigst bemüht,
den Wirkungskreis der Bnndesbeschlüsse zu erweitern und den der einzelnen Re¬
gierungen zu beschränke!?. Dem Fürsten Schwarzenberg war es nicht entgangen,
welche Vorteile der Vorsitz im Bunde und die Leichtigkeit, bei demselben Preußen
gegenüber Mehrheiten zustande zu bringen, Österreich gewährten, falls es gelang,
die änßere und innere Politik der einzelnen Bundesstaaten mehr als bisher von
den Bundesbeschlüsseu abhängig zu machen. Die Umwälzung der innern Ein¬
richtung Österreichs, vermöge deren das deutsche Element des Kaiserstaates der
alleinige politische Träger der Negierung zu werden bestimmt war, gebot einen
engern Anschluß um Deutschland. Der überwiegende Einfluß Österreichs auf die
Beschlüsse der meisten Bundesregierungen war gesichert. Der Diplomat, der
Minister, der sich nicht fügte, der es wagte, die Interessen seines Landes gegen
die Forderungen des Wiener Kabinets zu vertreten, wurde mit allen mögliche«?
Ränken solange verfolgt, bis er nachgab. Man verbündete sich mit jeder Oppo¬
sition gegen ihn, besonders mit der ultramontanen, knüpfte Verbindungen mit
seinen Gegnern bei Hofe an und verschmähte es nicht, ihn auf dem Wege der
fürstlichen Familicnkorrespondenz zu verdächtigen. Außerordentlich wurde dieses
Spiel durch außeramtliche Agenten aller Art erleichtert. Der Wiener Politik
stand die ganze Miliz der Jesuiten zu Gebote, desgleichen die ultramontane
Geistlichkeit, und in Süddeutschland gab es im Staats- und Hofdienste kaum
einen Mann von Bedeutung, der nicht Angehörige im österreichischen Heere oder
Beamtentume gehabt hätte und auf diesem Wege zu gewinnen und zu beein¬
flussen gewesen wäre. Dazu kamen die Furcht vor preußischen Eroberungen,
die durch die geographische Lage Preußens genährt wurde, und die Erinnerung
an die Uuionspvlitik von 1849 den Bemühungen Österreichs auf halbem Wege
entgegen und machten ihm jeden Erfolg leicht. Die Bundesregierungen wußten
endlich aus Erfahrung, daß Wien seine Forderungen niemals fallen ließ, seine
hervorragendste Eigenschaft war Zähigkeit, und so betrachteten sie es als ganz
natürlich, daß Preußen, wenn zwischen ihm und Österreich Meinungsverschieden¬
heiten entständen, durch buudesfreundliche Nachgiebigkeit die Eintracht her¬
stellen müsse.
Indem so der überwiegende Einfluß Österreichs auf die Haltung der meisten
deutschen Regierungen bei Bundesbeschlüssen gesichert war, kam es nur noch
darauf an, die Geltung solcher Beschlüsse zu erweitern und die freie Entschließung
der Einzelstaaten zu Gunsten der Bundesversammlung zu beschränken. Man
begann hier mit den populärsten Gegenständen, den materiellen Interessen, der
Zoll- und Handelsgesetzgebung, Die Mehrheit der süd- und mitteldeutschen Zei¬
tungen wurde von Österreich in Sold genommen, um den Bund, der jetzt nicht
viel mehr als das Werkzeug und Mundstück der Wiener Politik war, als allei¬
nigen Förderer der öffentlichen Wohlfahrt und jede preußische Bestrebung auf
dem Gebiete derselben als gemeinschädlichem Partikularismus darzustellen. So¬
bald man am Bunde dem Widerspruche Preußens begegnete, fing man an, die
Behauptung von der Zulässigkeit von Mehrheitsbeschlüssen in allen den An¬
gelegenheiten aufzustellen und geltend zu macheu, die bis dahin als Gegenstände
freier Vereinbarung angesehen worden waren. Man ging soweit, zu behaupten,
daß die Mehrheit selbst darüber zu entscheiden habe, ob eine Frage zur Kom¬
petenz des Bundestags gehöre, oder ob der einzelne hierbei seiner Ansicht folgen
dürfe. Wurde das erstere bejaht, so war die Mehrheit und damit in Friedens-
zeiten Österreich in Deutschland allmächtig geworden und die Mediatisirung der
Bundesstaaten mit Einschluß Preußens ausgesprochen.
Demnächst wurde bei auswärtigen Fragen die neue Lehre von einer
„Bnndespolitik" eingeführt und zuerst während des orientalischen Krieges, dann
bei den Verhandlungen über die Neuenburger Frage der Grundsatz geltend zu
machen versucht, daß der Bund in Betreff seiner auswärtigen Politik durch
Mehrheit beschließe, und daß die Einzelstaaten desselben ihre Haltung nach diesen
Beschlüssen einzurichten hätten. Bemühte man sich auf diesem Wege, einem
großen Staate wie Preußen das Recht zu eigner auswärtiger Politik zu ent¬
ziehen, so konnte jenes sich fragen, ob dies ernst gemeint sei, oder nur in der
Absicht betrieben werde, den Bund zu lockern oder ganz zu zersprengen. Dies
war indeß nicht der Fall; denn jene Behauptung wurde in einer Sitzung des
Bundestags vom Vertreter Würtembergs aufgestellt, und fast alle Gesandten
mit Einschluß desjenigen der Prüsidialmacht stimmten ihr bei, der Würtenberger
aber war gerade der eifrigste unter den Vorkämpfern für die Befestigung und
Erhöhung des Bundes. Die kleinern Staaten hielten überhaupt einstweilen sehr
entschieden am Bunde fest, indem sie sich vorbehielten, abzufallen, wenn die
Sorge für die eigne Sicherheit es empfehlen sollte. So lange dies nicht der
Fall war, sahen sie im Bunde die Gewähr ihres bequemen Fortlebens und ihre
Minister (man denke z. B. an Beust) das Piedestal ihrer Wichtigkeit, von dem
herab sie über die Angelegenheiten Preußens, ganz Deutschlands, ja ganz
Europas dreist und gefahrlos mitreden konnten. Mit der Herrschaft der Bundes¬
versammlung über die einzelnen Regierungen wuchs die Wichtigkeit der Mittel¬
staaten und nahm die Preußens ab; jene bildeten das Material zu den öster¬
reichischen Majoritäten und gaben sich mit Freuden her zur Herabdrückung
Preußens auf ihr eignes Niveau. Preußen sollte, wie gesagt, immer die
Minorität in der Bundesversammlung haben, auch wenn es Österreich gegen¬
über noch so sehr im Rechte war und eine überirdische Geschicklichkeit und Lie¬
benswürdigkeit an den Tag legte. Alle, klein und groß, boten sich die Hand,
um das Netz der Bundesverfassung über dem Haupte des „emporgekommenen"
preußischen Staates zusammenzuziehen.
Österreichs Absicht lief offenbar darauf hinaus, einen Gegenstand nach dem
andern durch Majoritätsbeschlüsse zur „Bundesgesetzgebung" heranzuziehen und
Preußen zu majorisiren, bis es erklärte, sich nicht mehr fügen zu wollen. Dann
war es reif zur Bundesexekution.
Dies zur Einleitung in unsre Auszüge aus dem „kleinen Buche" Bismarcks,
welches gleichsam sein Testament bei seinem Scheiden aus Frankfurt war und
seinem Nachfolger eine Anweisung werden sollte, wie er sich zu verhalten habe.
Bismarcks Amtsthätigkeit während der fast siebenjährigen Periode, in der er
Preußen in der Bundesversammlung vertrat, war ein ununterbrochner Kampf
gegen Übergriffe aller Art gewesen, gegen unablässige Versuche, den Bund zum
Werkzeug zur Erhöhung Österreichs und zur Erniedrigung Preußens zu ge¬
stalten, und er hatte während desselben reichliche Beobachtungen und Erfah¬
rungen machen und daraus Schlüsse ziehen können, die in jenem „kleinen Buche"
noch einmal zusammengefaßt wurden. Dasselbe enthält eine Fülle von Staats¬
weisheit. Scharfblick, tiefdringcnder und vielumfassender Verstand, diplomatische
Gewandtheit und ein maßvoller Sinn, endlich echter Patriotismus sprechen gleich
deutlich aus ihm und machen es zu einem politischen Dokumente ersten Ranges.
Man hätte es nicht das kleine, sondern das goldne Buch nennen sollen, auch
wenn es Herrn v. Schleinitz etwa gleich andern Berichten Bismarcks nicht so
gefallen hätte als Herrn v. Manteuffel, der in den letzten Jahren seiner Thätig¬
keit als Chef der preußischen Diplomatie in allen Stücken den Gedanken und
Ratschlägen des preußischen Bundestagsgesandter folgte, sodaß nicht zuviel ge¬
sagt wird, wenn wir behaupten, der letztere sei schon damals der leitende Geist
in der auswärtigen Politik Preußens, wenigstens in deren Hauptfragen, gewesen.
Als er dann weg war, fern an den Ufern der Newa, und der neue Minister
zeigen sollte, was er konnte, kam nur schwächliche Befähigung zu Tage, und
während des italienischen Krieges von 1859 war man in Vergessenheit dessen,
was Bismarck so oft und so klar hervorgehoben hatte, in Berlin nahe daran,
eine große Thorheit zu begehen, die sich schwer hätte wieder gut machen
lassen.
Wir lassen nun die oben angekündigten Auszüge folgen, wobei wir uns
vorzüglich an die zweite Hälfte unsrer Denkschrift halten, und geben schließlich
in kurzen Worten die Moral wieder, die der Verfasser selbst am Ende aus
seinen Erfahrungen und Darlegungen zu ziehen sich genötigt sieht.
Bis zum Jahre 1348 ließ Österreich . . . im allgemeinen die preußische Politik
in Deutschland gewähren und nahm als Kaufpreis für diese Konzession die Unter-
Stützung Preußens in europäischen Fragen entgegen. In Deutschland begnügte sich
das Wiener Kabinet, nach Möglichkeit dafür zu sorgen, daß Preußen den ihm über¬
lassenen Spielraum nur innerhalb gewisser Grenzen nutzbar mache. Zu diesem
Behufe wurde insbesondre der Geschäftskreis des Bundes auf wenige und ver¬
hältnismäßig unwichtige Angelegenheiten beschränkt, das Widcrsprnchsrccht und die
Unabhängigkeit der einzelnen Regierungen aber mit Schonung gepflegt. Angelegen^
heilen, über welche Preußen und Österreich nicht einverstanden waren, gelangten
nicht zur Verhandlung, eine aus den Protokollen ersichtliche Meinungsverschieden¬
heit beider Großmächte gehörte zu den Seltenheiten, ein offner Streit ihrer beiden
Vertreter in den Sitzungen war etwas unerhörtes und wurde als Gefahr für das
Bestehen des Bundes unter allen Umständen vermieden, . . Der Gedanke, daß
wichtige Meinungsverschiedenheiten durch Majoritätsbeschlüsse am Bunde zur Ent¬
scheidung gebracht werden könnten, lag so fern, daß das Wiener Kabinet den Prä¬
sidialgesandten nur mit langen Unterbrechungen in Frankfurt anwesend sein und
die Vertretung der österreichischen Interessen auf Jahr und Tag in den Händen
des preußischen Gesandten ließ, . .
Die Führung des Präsidiums durch Preußen, sowie die lange Dauer der
ungestörten Einigkeit beider Kabinette in Betreff der Bnndesangclegenheiten haben
nicht wenig dazu beigetragen, die Überlegenheit des Präsidiums in der Bundes¬
versammlung auszubilden.
Ein ganz andres Bild gewähren die Verhandlungen am Bundestage seit der
Rcaktivirung im Jahre 1351. Der Fürst Schwarzenberg nahm den Plan auf, die
Hegemonie über Deutschland, zu welcher Preußen durch die kvnstituireuden Ver¬
sammlungen und die Unionsversuchc nicht hatte gelangen können, für Österreich
durch die Mittel zu gewinnen, welche demselben die bestehende Bundesverfassung
bietet. Der Gedanke lag nahe, nachdem Österreichs innere Organisation eine Rich¬
tung genommen hatte, in welcher dauernde Erfolge nur durch Anlehnung an
Deutschland behufs Kräftigung des verhältnismäßig wenig zahlreichen deutschen
Elements im Kaiserstaate erreicht werden konnten. Die Durchführung des Planes
war möglich, wenn es Österreich gelang, sich der Majorität am Bunde auf die
Dauer zu versichern und demnächst die Kompetenz des Bundes und seiner Beschlüsse
zu erweitern, und wenn Preußen die Macht oder der Wille fehlte, erfolgreichen
Widerstand zu leisten. Der Augenblick war für eine solche Konzeption ein sehr
günstiger. Österreich konnte nach seinen intimen Beziehungen zu Rußland auf dessen
Unterstützung für seine deutsche Politik rechnen und hatte mit dem in Frankreich
neu entstandenen Kciisertume Verbindungen angeknüpft, welche gegen das Lebens¬
ende des Fürsten Schwarzenberg Besorgnisse vor einer engen Allianz der drei
Kaiser im Gegensatze zu Preußen und England hervorriefen. Die große Mehrzahl
der deutschen Regierungen, erschreckt durch die Revolution und die aus derselben
entspringende Gefahr, einen Teil ihrer souveränes an Preußen zu verlieren,
lehnte sich bereitwillig an Österreich an. Letzteres konnte die Bundestagsgesandter
der im Jahre 18S0 in Frankfurt zusammentretender Regierungen ziemlich selb¬
ständig ernennen und suchte dazu solche Mäuner aus, welche durch ihre Personal¬
verhältnisse und ihre Vergangenheit an das österreichische Interesse gekettet waren.
Österreich durfte der Majorität in der Bundesversammlung ans längere Zeit hinaus
sicher sein. . . Die Eifersucht, mit welcher das zweihundertjährige Wachsen des Preu¬
ßischen Königshauses einen großen Teil der andern deutschen Fürsten erfüllt, wirkt
bei diesen in derselben Richtung wie die Furcht vor Preußens Machtvcrgrößerung
ans ihre Kosten,
Zur Erhaltung und Förderung dieser Stimmungen hat Österreich mannichfache,
nur ihm zu Gebote stehende Mittel, > . Schon ans althergebrachter Gewohnheit
geht der Adel der süd- und mitteldeutschen Staaten in österreichische Dienste; die
Kleinheit seiner heimischen Verhältnisse bietet nur zu beschränkter Laufbahn Aussicht,
und die in Osterreich zu einem mäßigen Fortkommen erforderlichen Anstrengungen
und Kenntnisse beschränken sich auf ein geringeres Maß als in den übrigen Bundes-
staaten. Diesen Dispositionen kommt Österreich bereitwillig entgegen. Sobald An¬
gehörige eines einflußreichen Beamten, eines Ministers oder Gesandten in dem
Älter sind, daß über die Wahl ihrer Laufbahn entschieden werden kann, finden sie
sich von österreichischen Werbern mit glänzenden Versprechungen umgeben, und es
kommt vor, daß sechzehnjährige junge Leute, welche niemals ein Regiment gesehen
haben, Offizicrsvatente zugestellt erhalten, ohne daß noch darum gebeten worden
ist. Einmal in Österreich angestellt, dienen dieselben als Geisel für die Ergeben¬
heit ihrer Väter und demnächst zur Erhaltung der Beziehungen Österreichs zu
ihren in Deutschland bei den Höfen und im Staatsdienst angestellten Verwandten.
Unter den Bundestagsgesandter hängen die von Sachsen, Darmstadt, Nassan-
Braunschweig und der sechzehnten Stimme mehr an Österreich als an der eignen
Regierung und dienen ersterm, so viel sie können, durch alle ihre amtlichen Hand¬
lungen, insbesondre durch parteiische Berichterstattung. . . Der baierische Bnndcs-
tagsgesandte ist ein gewissenhafter Charakter, aber auch ihn bewegen seine öster¬
reichischen Familienverbindungen und sein auf die Politik übertragener Katholizismus
in der Richtung, daß er unwillkürlich österreichischen Sympathien folgt. In ähn¬
lichen Verhältnissen steht eine große Anzahl der Minister und Hofbeamten in den
kleinern Staaten, und Österreich spart keine Mühe, in der Umgebung des Fürsten
bei eintretenden Vakanzen ihm ergebene Personen anzubringen. Ein Blick auf den
Gothaischen Grafen- und Freiherrcnkalender liefert den Beweis, in welchem Maße
die nächsten Angehörigen der dentschen Hof- und Staatsmänner dem kaiserlich
königlichen Dienste verpflichtet sind, und selbst in Preußen finden Beziehungen der
Art statt, welche es für Österreich wenigstens erleichtern, über alle intimen Vorgänge
gut unterrichtet zu sein. . .
Wo Beziehungen der Art fehlen, setzt Österreich Mittel in Bewegung, um
sie zu schassen. Es belohnt seine Freunde mit derselben Konsequenz, mit welcher
es denen, die ihm Widerstand leisten, zu schaden und sie zu beseitigen sucht. Schon
der Umstand, daß ein Gesandter sich dazu hergiebt, Aufträge seiner Regierung
ohne Scheu und Rücksicht auf Österreich auszuführen, reicht hin, um ihm Ver¬
folgung zuzuziehen. Man behandelt ihn unhöflich, sucht ihn zu reizen, sammelt
sorgfältig alles, was sich bei seiner eignen Regierung gegen ihn anbringen läßt,
um seine Stellung zu untergraben. . . Ist ein solcher Gesandter nicht aus dem
Sattel zu heben, weil ihn sein vorgesetzter Minister schätzt, so richtet das Wiener
Kabinet seine Angriffe gegen den Minister selbst und sucht ihm das unabhängige
Handeln und die Absicht, nur seinem eignen Monarchen zu dienen, zu verleiden.
Österreich verbindet sich gegen ihn mit jeglicher Opposition im Lande, mit jedem
Nebenbuhler. Alle vorhandenen Unzufriedenheiten, selbst die der Untergebenen des
angefeindeten Ministers, werden ins Gefecht gezogen, und die erfahrungsmäßig
sichere Verschwiegenheit und Geschicklichkeit österreichischer Intriguen erleichcrt
manchem den Entschluß, sich zu Verbindungen herzugeben, welche dem Landes¬
verrate nahe verwandt sind. . .
In allen deutschen Staaten stehen dem Wiener Kabinet die Hilfsmittel zu
Gebote, über welche die politischen Leiter der katholischen Kirche disponiren. Auch
da, wo die Masse der katholischen Bevölkerung zu einer Unzufriedenheit mit ihrer
Regierung keinen Grund fühlt, sind doch die obern und intellektuellen Leiter der
katholischen Politik den protestantischen Regierungen feindselig und bereit, den Inter¬
essen der österreichischen Regierung und ihrem Einfluß auf Staat und Volk zu
dienen. In allen katholischen Kammeroppositionen tritt die Hinneigung zu Öster¬
reich vou Zeit zu Zeit offen an den Tag und lassen sich die Einflüsse Österreichs
auf die Haltung „katholischer" Parteien gegen deren eigne Landesregierung er¬
kennen. Die Presse der Ultramontanen kämpft für Österreich mit verstärkten? Eifer
seit Abschluß des Konkordats; noch bedeutender aber ist der Einfluß, den Öster¬
reich sich für Geld in der Presse geschaffen hat. Schon bald nach Herstellung der
Ordnung im Lande setzte der Fürst Schwarzenberg viel höhere Summen als früher
für die Vertreter der österreichischen Politik in der europäischen und insbesondre
in der deutschen Presse aus. Gewiß ist, und wenn es nicht ohnehin bekannt wäre,
so würden es die von Herrn v. Prokesch Verlornen Papiere*) urkundlich beweisen,
daß Österreich durch die Herren Hock, Lakenbacher und andre die Redaktionen
deutscher Blätter wie durch Haudlungsreisende beschickte**) und mit fast allen wich¬
tigeren unter ihnen Verträge schloß, durch welche sich einige ganz und zu jeder
beliebigen Benutzung an Österreich verkauften, die meisten aber sich bereit finden
ließen, gegen bestimmte jährliche Subventionen oder gegen Bezahlung von Jn-
sertionskosten Artikel aufzunehmen, welche ihnen von den zahlreichen und zum Teil
sehr fähige» Literaten geliefert werden, die Österreich in Sold genommen und
unter gemeinsame Oberleitung eines Bureaus gestellt hat. . . Die Aufgabe, welche
die Presse vorzugsweise zu erfüllen hat, ist die, Österreich als den ausschließlichen
Vertreter deutscher Einheit und deutscher Interessen darzustellen und zur Anschauung
zu bringen, daß nur Österreich die Macht und den Beruf habe, den gesunden und
bessern Teil der Gedanken, welche in der revolutionären Zeit das Volk bewegten,
ins Leben zu führen, und daß Österreich sich hierzu des Bundes als des ver¬
fassungsmäßigen Werkzeuges bediene. . .
Ferner stehen deu Bestrebungen Österreichs in ganz Deutschland, besonders
aber im Süden und Westen, die Sympathien der Mehrheit unter den Industriellen
und Geldmännern zur Seite, welche auf verschiednen Wegen Vorteile vou Öster¬
reich ziehen oder vou dessen Zollsystem erwarten. Gerade eine der schwächsten
Seiten dieses Kaiserstaates, nämlich sein Finanzsystem, ist für denselben eine er¬
hebliche Quelle politischen Einflusses. Wie der Arzt an einem Kranken, der ihn
gut bezahlt, so hängen die Kapitalisten an Österreich. Die unverhältnismäßige
Höhe der österreichischen Staatsschulden bringt es mit sich, daß die Anzahl der
Besitzer österreichischer Wertpapiere sehr groß ist, und der hohe, durchschnittlich
sechs- bis siebenprozentige Zinsfuß derselben, der aus ihrem niedrigen Kurse
hervorgeht, lockt zu Kapitalanlagen in österreichischen Schuldpapieren umsomehr
an, als von Wien aus kein Mittel versäumt wird, diesen Papieren den Absatz im
Auslande zu öffnen und zu erhalten. Man gewährt den Inhabern jede Er¬
leichterung, ihre Zinsen unverkürzt im Auslande zu beziehen, während beispiels¬
weise ein Besitzer preußischer Staatspapiere bei dem Mangel analoger Einrichtungen
mannichfachen Abzügen, Verlusten und Weitläufigkeiten ausgesetzt ist, um zu seinen
Zinsen zu gelangen. Durch seine Betriebsamkeit und den hohen Zinsfuß weiß
Österreich die Unsicherheit seiner Staatsschulden im Vergleich mit den preußischen
mehr als aufzuwiegen, und es erreicht dabei zwei Vorteile: einmal hilft es durch
ausländisches Kapital dem Mangel im Inlande ab, dann aber, was hier haupt¬
sächlich in Betracht kommt, wird jeder Besitzer österreichischer Staatspapiere ein
politischer Anhänger Österreichs in demselben Maße, wie sein Vermögen von dem
Wohlergehen, den Erfolgen und dem darauf begründeten Kredite dieses Staates
abhängig gemacht worden ist. Die Frankfurter Geldinstitute, welchen die öster¬
reichischen Zinszahlungen anvertraut sind, vermögen Aufschluß darüber zu geben,
wieweit diese Grundlage österreichischer Sympathien reicht, nachdem die Verwalter
so mancher fürstlichen Privatvermögen aus dem hohen Zinsfuße ein Motiv zu
Geldanlagen in Mctalliques oder Nationalanleihe entnommen haben. , .
Beispiele, daß Österreich alle diese Fäden seines Einflusses anzieht, um den
Widerstand eines deutschen Ministers zu brechen, sind nicht selten. Bei vielen
dieser Herren ist an und für sich das Gefühl für Pflicht und Unabhängigkeit schwach
genug, um einer klugen Erwägung des eignen Vorteils das Feld zu räumen,
und reicht ein einmal gewonnener Überblick der Angriffsmittel Österreichs hin,
um sie zu der Einsicht zu bringen, daß es wohlgethan ist, den Wiener Wünschen
Rechnung zu tragen. Andre, wie Herr von Meysenbug, der Fürst Wittgenstein,
der frühere Minister von Baumbach in Kurhessen, Graf Kielmannsegge in Hannover
und manche in kleineren Staaten gehören von Haus aus und ohne Zwang dem
österreichischen Lager an. Die Herren v. d. Pfordten und von Beust aber haben
manchen Versuch gemacht, sich zu emanzipiren, und in den letzten Jahren soviele
Verletzungen und Demütigungen von Wien ans erfahren, daß sie Persönlich die
bittersten Gefühle gegen den Grafen Buol hegen. Der würtenbergische Minister
von Hügel hatte kurz vor seiner Ernennung mancherlei Unannehmlichkeiten in Wien
zu ertragen gehabt, mau hatte seine Abberufung von dort verlangt, und in der
ersten Zeit seines Ministeriums gab er heftige Gereiztheit gegen Osterreich und
dessen Minister zu erkennen. Trotz alledem haben jene drei Minister niemals
wagen dürfen, der österreichischen Politik entgegenzutreten, selbst nicht zu Zeiten
und bei Gelegenheiten, wo sie dieselbe persönlich verurteilten und deu Grafen
Buol ziemlich laut für einen ebenso unfähigen als gefährlichen Menschen erklärten,
der den Bund ruinire und Deutschlands ins Verderben führen werde. . .
, Jeder deutsche Staat hat ab und zu ein Anliegen an den Bund, und nicht
wenige kommen in die Lage, in Betreff ihrer wichtigsten innern Fragen zeitweise
von Bnudesbeschlüssen abhängig zu sein. Dann werden der an sich mächtige
Einfluß des Präsidiums und die von Österreich bestimmbaren Majoritäten zu In¬
strumenten der Züchtigung oder Belohnung, je nachdem der beteiligte Staat sich
früher gegen Österreich Verhalten hat. Hannover, Würtemberg mit seinen Standes¬
herrlichen Beschwerden, Kurhessen, Oldenburg wegen des Bentinckschen Streites,
Lippe haben diese Erfahrungen in den letzten Jahren durchgemacht, und Österreich
hat sich bemüht, ihre Wunden solange als möglich offen und ihre Sache am Bunde
schwebend zu erhalten. Durch die geschickte Benutzung aller dieser verschiednen
Hilfsmittel wird ein Einfluß Österreichs auf die Regierungen der mittlern und
kleinern Staaten des Bundes begründet, für dessen Unverwüstlichkeit ein besonders
auffälliger Beweis in dem Umstände liegt, daß er durch das Verhalten des Wiener
Knbinets während der orientalischen Krisis und durch die Behandlung, welche die
Regierungen vom Grafen Buvl erfuhren, keinen merklichen Stoß erlitten hat. Der
kaiserliche Minister ist damals mit den deutschen Staaten nicht wie mit Bundes-
genossen, sondern wie mit Vasallen umgegangen : um ihren Anschluß an Österreich
zu erzwingen, wurde ihnen nicht mir direkt, sondern auch mit der Macht des Aus¬
landes, mit dem Einmarsch französischer Truppen in ihre Staaten gedroht, > , Der
heute fest an Österreich haltende Minister von Hügel erzählte beim Antritte seiner
Stellung, daß Graf Brot ihm auf bescheidne Gegenvorstellungen erwiedert habe:
Die deutschen Regierungen müßten sich daran gewöhnen, daß nur Österreich das
Recht zu einer nuswärtigeu Politik habe; es werde für Würtemberg ratsam sein,
sich das stets gegenwärtig zu halten, je früher Würtemberg das lerne, desto besser.
Dem sächsischen Gesandten von Könneritz hat Graf Buol bei derselben Gelegenheit
gesagt, daß Österreich auf die Kleinen drücken werde, bis Herrn von Beust der
Atem zum Widerspruch ausgehe. Durch die geheime Zirknlardepesche vom
14, Januar 135S erklärte Österreich allen deutsche» Regierungen, daß es ihm auf
Sprengung des Bundes zur Durchführung der Wiener Politik nicht ankomme, und
forderte die einzelnen auf, unabhängig und eventuell im Widersprüche mit den
Bundesbeschlüssen in ein separates Kriegsbündnis mit Österreich zu treten, als
dessen Resultat den sich dem Anschließenden, nach Maßgabe der Truppcnzahl, die
sie dem Kaiser von Österreich zur Disposition stellen würden, Vorteile ver¬
heißen wurden, die nur auf Kosten der nicht beitrctendcn Genossen des deutschen
Bundes gewährt werden konnten. Wenn Preußen in analogen Fällen nur den
mäßigsten Versuch zu einem ähnlichen Verfahren mit den deutschen Bnndcsglicdern
gemacht hätte, so würde die Entrüstung der mittelstaatlichcn Regierungen über
bnndeswidrige, anmaßliche und gewaltthätige Separatbestrcbnngen und über die
verletzende Form derselben uoch heute nicht besänftigt sein, während Österreich über
die Staatsmänner und Regierungen, welche es beleidigt und mißhandelt hat, seinen
Einfluß längst wiedergewonnen hat und über ihre Stimmen am Bunde disponirt.
Im Besitze der Macht, Majoritätsbeschlüsse der Bundesversammlung ziemlich
sicher herbeizuführen, jedenfalls solche, welche unbequem sind, zu verschleppen und
zu hindern, hat Österreich sein Bestreben natürlich darauf gerichtet, den Wirkungs¬
kreis des ihm dienstbaren Instruments zu erweitern. Es ist zu diesem Behuf er¬
forderlich, mehr und wichtigere Gegenstände als vor 1843 in den Kreis der Bundes-
gcsetzgebuug zu ziehen, dann aber auch bei Beschlußnahme über dieselben das
Widersprnchsrecht der Einzelnen und der Minoritäten zu beseitigen und für
Majoritätsbeschlüsse eine erweiterte Kompetenz zu gewinnen.
Mit diesem Bestreben geht das der meisten Bnndesstaciten, ganz abgesehen
von dem Einflüsse, welchen Österreich auf sie übt, vermöge ihrer eignen Interessen
vollständig Hand in Hand, , . In jeder Bundesversammlung spricht jeder von ihnen
ebenso lant und hat ebensoviel Stimmrecht wie Preußen, und insoweit sie zu¬
sammenhalten, geben sie den Ausschlag in den so häufig vor ihr Forum gezogenen
Streitigkeiten Preußens mit Österreich, Es ist zu verwundern, wenn sie sich für
die Befestigung und Ausbildung eines Instituts mit interessiren, in welchem sie
mit einem vergleichungsweise so geringen Aufwande nicht nnr Sicherheit, sondern
einen Zuwachs von politischer Wichtigkeit erlange», , . Sollte der Bund in Not
geraten und opfermütige Leistungen bedürfen, so kann der Abfall immer rechtzeitig
vollzogen werden. Sobald die Feinde des Bundes stärker als wir erscheinen,
werden diejenigen Bundesstaaten, denen die freie Entschließung nicht durch die
Gegenwart überlegener Streitkräfte andrer verkümmert wird, schwerlich den Beruf
fühlen, ihre Existenz einer idealistischen Bundestreue zu opfern, sondern sie werden
sich alsdann verbunden glauben, ihrem Lande vor allem die Erhaltung der ange¬
stammten Dynastie zu sichern, und ihre Regierungen werden in laudesvätcrlicher
Weisheit den richtigen Moment ermessen, wo die Sorge für das Wohl ihrer Unter¬
thanen ihnen den Übergang zum Feinde zu einer schmerzlichen, aber unabweislichen
Pflicht macht. Diese eventuelle Aussicht hält sie aber nicht ab, für die Dauer der Zeit,
wo sie dem Bunde angehören, in demselben alle ihre Rechte eifrig auszuüben und
durch ihn einen möglichst hohen Grad von Einfluß und Wichtigkeit zu erstreben.
Wenn für die Thatkraft eines süd- oder mitteldeutschen Staatsmannes das Gebiet
des eignen Landesherrn einen ausreichenden Spielraum uicht gewährt, so wird
derselbe gern eine Befriedigung seines Ehrgeizes in der Bestrebung suchen, durch
die Organe des Bundes auch auf die siebzehn Millionen Preußen, auf die vierzig
des Bundes oder die siebzig des mitteleuropäischen Reiches einen vermöge der
eignen überlegnen Befähigung jedenfalls hervorragenden Einfluß zu gewinnen,
Geister höherer Ordnung vermögen in den engen Verhältnissen kleiner Staaten
keine Befriedigung zu finden, und wenn Herr von Beust auf den Dresdener
Konferenzen den Grafen Buol geleitet hat, so traut er sich wohl auch zu, in
Gemeinschaft mit dem kaiserlichen Minister Deutschland zu leiten, wenn nur der
Bund, das Werkzeug ihrer Aktion, mehr über die einzelnen Regierungen zu
sagen hätte.
as deutsche Reich muß mehr als bisher auf sich selbst gestellt
werden. Es bedarf, wenn es zu haltbaren Zuständen gedeihen
soll, einer organischen Gestaltung, wie sie im Pflanzenleben wahr¬
zunehmen ist. Gleich dem Baume, dessen Stamm auf starken
Wurzeln ruht und aus diesen die für die Entwicklung seiner
Zweige notwendigen süste zieht, muß auch das Reich so organisirt werden,
daß es zum Sammeln und Verteile» der gemeinsamen Kraft befähigt ist. Dieser
Gedanke lag dem beabsichtigten Tabaksmonopol zu Grunde. Wer nicht gerade
vom Tabak lebt oder im Konstitutionalismus die vornehmste Bedingung der
allgemeinen Wohlfahrt erblickt, kann die Ablehnung dieses Projekts mir bedauern.
Nur wenige Verbrauchssteuern sind so gerechtfertigt und auch so erträglich wie
die mit dem Tubaksmonopol verknüpfte; sie betrifft ein dem Lebensunterhalt
entbehrliches Genußmittel, welches zwar auch von dem armen Manne geliebt
wird, durch das Monopol jedoch schwerlich verkümmert werden würde, denn
schlechteres Kreml, als ihm gegenwärtig für sein gutes Geld geboten wird, kann
und wird ihm auch das Reich nicht zumuten. Und zieht man in Betracht, daß
das Reich mit dem Monopol zugleich die zur Verbesserung der sozialen Lage
der Handarbeiter erforderlichen Mittel zu gewinnen gedachte, so sollte man
meinen, daß diesen menschenfreundlichen Rücksichten alle konstitutionellen Bedenken
hätten weichen müssen. Sicher ist, daß das politische wie soziale Gleichgewicht
des Reiches gleich gebieterisch nach zweckmäßigerer und gerechterer Kraftvertciluug
verlangen, und in der allmählichen Vermehrung der indirekten Stcnererträgnisse
wie in der Befreiung der untern Volksklassen von der direkten Steuerlast sind
die ersten Schritte nach dieser Richtung zu erblicken. Wie man auch über
Schutzzölle und Verbrauchssteuern denke» mag, im Interesse des eben bezeichn
reden Zweckes wird man sie gutheißen müssen, vorausgesetzt, daß die Absicht
der Entlastung der ärmern Klassen durch dieselben nicht vereitelt wird. Aus
demselben Grunde aber und mehr noch wird wohl der Gedanke auf Zustimmung
rechnen dürfen, daß der Mißbrauch von Gegenständen, der Verbrauch
über das Bedürfnis hinaus, welcher niemand Nutzen oder Genuß gewährt,
vielmehr der allgemeinen Wohlfahrt schadet, besteuert werden sollte. Kann
doch der notorische Verschwender nach allgemeingiltigen Rechtsgrundsätzen unter
Kuratel gestellt werden und unterliegt der empfindlichen und verletzenden Strafe
der Freiheitsbeschränkung. Und doch gereicht sein Vergehen nur seinen nächsten
Anverwandten zum Schaden, weil die von ihm verschleuderten Werte nur einen
Besitzwechsel erleiden, keineswegs aber verloren gehen. Dagegen giebt sich das
Wesen der eben als Mißbrauch bezeichneten Verschwendung dadurch zu erkennen,
daß die von ihr verschleuderten Stoffe allen Wert verlieren, mithin dem Na¬
tionalvermögen entwendet werden. Wieviel mehr müßte nicht diese Verschwen¬
dung gestraft werden, welche zur Wertvernichtung auf Kosten des Gesamtwohl¬
standes führt und nebenbei noch die Gesundheit und das Wohlbefinden der
Menschen gefährdet? Mit keinem andern Stoffe aber wird so verschwenderisch
gewirtschaftet wie mit dem Brennstoffe.
Daß die in unsern unterirdische» Kohlenschätzeu aufgespeicherte Wärmequelle,
aus welcher wir unser Wärmcbedürfnis hauptsächlich befriedigen, in absehbarer
Zeit versiegen wird, ist allbekannt. Der Gedanke, daß diese Erschöpfung schon
bei unsern Lebzeiten erfolgen könnte, macht uns unwillkürlich frösteln, denn
wir wissen, daß mit dem, was unsre Holzbestände liefern, nicht mehr auszukommen
ist. Was dann? Der Glaube an die Elektrizität, als den Heiland der Zu¬
kunft, für welchen Schwärmer sie ausgeben möchten, kann uns nicht erwärmen,
ebensowenig wie wir uns auf das Wassergas vertrösten lassen können, denn so
lange der Beweis nicht erbracht wird, daß man ohne Anwendung von Wärme
elektrischen Strom von genügender Intensität oder Wassergas zu erzeugen ver¬
möge, so lange halten wir die Kohlen für einen unersetzlichen Schatz, mit welchem
haushälterisch umzugehen die Rücksicht auf unsre Nachkommen gebietet.
Wie aber steht es mit der Wirtschaft des Kohlenverbrauchs! Nicht nur,
daß unsre Fenerungsanlagen, mögen dieselbe» dem Hausbedarf oder industriellen
Zwecken dienen, mit wenig Ausnahmen von so primitiver Beschaffenheit sind,
daß in denselben eine nur höchst oberflächliche Ausnutzung des Heizwertes der
Kohlen stattfinden kaun; nein, Mangel an Verständnis, Vorurteil und die Nei¬
gung zur Bequemlichkeit bei dem Bedienungspersonal verursachen in noch höherm
Maße einen Verbrauch an Brennstoff, zu welchem der erreichte Wärinccffelt
in einem wahrhaft lächerlichen Verhältnis steht. Wenngleich zugegeben werden muß,,
daß es der Technik bisher noch nicht gelungen ist, Feucruugsanlagen herzu¬
stellen, vermöge deren eine vollkommene Verbrennung in dein Maße erreicht
wird, daß keine größere Luftmenge dabei zur Wirkung gelangt, als zur mög¬
lichst vollkommenen Oxydation des Kohlenstoffs absolut erforderlich ist, so steht
doch so viel fest, daß in den bessern Öfen der Neuzeit eine nahezu vollkommene
Verbrennung, wenn auch mit einem gewissen Luftüberschuß, erreicht werden kann.
Wenn derartige Feuerungen unter sachgemäße Bedienung gestellt werden — ohne
regelmäßige Kontrole ist diese erfahrungsgemäß natürlich nicht zu erhalten —,
so kann der größtmögliche Nutzeffekt aus dem Brennstoff gezogen und das fort¬
währende Rauchen der Schornsteine vermieden werden. Trotz dieses nun schon
seit Jahren von der Technik eingenommenen Standpunktes ist noch immer an
den den meisten Schornsteinen entquellenden Rauchwolken zu erkennen, daß noch
die wenigsten unsrer Industriellen sich gemüßigt sehen, von dem Fortschritt der
Technik Nutzen zu ziehen, oder doch die Kontrole anzuwenden, nnter welcher
die Bedienung auch der zweckmäßigst angelegten Fcnernngen gehalten werden
muß, wenn nicht dem Moloch der Bequemlichkeit darin geopfert werden soll.
So lange man das bessere nicht kannte, mochte der alte Schlendrian hingehen
und mußte man die mit den qualmenden Schornsteinen verbundenen Übel sich
gefallen lassen. Wer aber den kolossalen Umfang des Wertes zu überblicken
vermag, der noch stetig zum Himmel klagend emporsteigt, der kann nicht umhin, den
starken Arm der Vergeltung auf solche unverantwortliche Wirtschaft herabznrnfen.
Am überzeugendsten kaun die gerügte Kohlenvergcuduug nachgewiesen werden
ein den ökonomischen Ergebnissen der Dampfindustrie. Zwar steht es nicht viel
besser auch bei deu sonstigen Industriezweigen, bei welchen der Heizwert der
Kohlen nicht zur Erzeugung mechanischer Arbeit, sondern zur Erzielung gewisser
Wcirmceffekte benutzt wird. Den Nachweis bezüglich der letztern Vcrbrnuchs-
arteu zu führe», mag indessen deu Fachmännern der betreffenden Zweige über¬
lassen bleiben.
Nach den Mitteilungen des statistischen Amtes wurden im Jahre 1879 im
Industriebetriebe des deutscheu Reiches gezählt: 60137 Dampfkessel und 54631
Dampfmaschinen, letztere mit einem Gesamtlcistuugsvermögen von 1499 927
Pferden. Die Lokomotiven der Eisenbahnen, die Kriegsdampfschiffe und die bei
der Militärverwaltung und auf deu Werften der Kriegsmarine vorhandenen
Dampfmaschinen sind bei dieser Zählung außer Betracht geblieben. Die über¬
schießende Zahl von 6506 Dampfkesseln erklärt sich dadurch, daß nicht alle Kessel
zur Erzeugung von Dampf für motorische Zwecke dienten, sondern auch für
Heiz-, Koch- und andre Zwecke thätig waren. Immerhin aber ist man berech¬
tigt, das Leistungsvermögen der Kessel letzterer Art ebenfalls nach Pferdekrcifteu
zu bemessen. Nimmt man dasselbe im Durchschnitt zu 20 Pferdekmfteu an,
so ergiebt sich für sämtliche Dampfkessel ein Arbeitsvermögen von rund 1610 000
Pferden.
Der thatsächliche Verbrauch an Steinkohlen zur Erzeugung einer eine
Stunde laug arbeitenden Pferdekrnft bewegt sich innerhalb sehr weiter Grenze»,
je nachdem derselbe in Betracht gezogen wird in Bezug auf Kessel von großer
oder geringerer VerdampfnngSfäyigkeit, unter sachkundiger oder unverständiger
Bedienung und auf Dampfmaschinen von großer oder kleiner Kraftleistung,
höherer oder niederer Admissionsspannnng, mit oder ohne Kondensation, unter
sorgfältiger oder mangelhafter Adjüstirung u. f. w. Unter Voraussetzung einer
Steinkohle von mittlerem Heizwert stellt sich der stündliche Kohlenverbranch sür
eine Pferdekraft bei einer mit einem Kessel vorzüglicher Verdauipfuugsfähigkeit
arbeitenden, gut unterhaltenen Dampfmaschine von über 100 Pferdekräften, nach
dem Reeeiver-Compound-System ausgeführt, auf höchstens ein Kilogramm, wo¬
gegen derselben bei einer von einem minder verdampfungsfähigen Kessel ge¬
speisten einfachen Hochdruckmaschine von etwa 10 Pferdekräften, unter nicht ganz
normaler Adjüstirung und AbWartung, ans 8 bis 10 Kilogramm steigen kann.
Erwägt man nun, daß das durchschnittliche Kaliber der im Jahre 1879 vor¬
handenen 54 631 Dampfmaschinen gemäß der statistischen Daten auf 25 Pferde¬
kräfte beziffert werden kann, daß ferner nur ein verschwindender Teil derselbe»
dem oben bezeichneten, am ökonomischste» arbeitenden Compoundsystem, der
größte Teil dagegen dem am wenigsten ausgiebigen einfachen Hochdrucksystem
nugehörte, und daß in Betreff des Grades der Dampferzeugung, sowie der Ad-
jüstirung und Wartung nicht mehr als Mittelmäßigkeit angenommen werden
kann, so darf der thatsächliche Dnrchschnittsverbrauch pro Pferdekraft und Stunde
auf etwa 6^ Kilogramm Steinkohle beziffert werden. Unter Zugrundelegung
dieser Zahl ergiebt sich bei 300 Tagen mit je 10sen»digcr Arbeitsdauer el»
Jahresverbrauch von 1610 000x3000x6^ 5. Millionen Kilo-
gram»:, und da bei Berücksichtigung eines durchschnittlichen Frachtaufschlages
der Durchschnittspreis der Kohlen mit 0,9 Pfennig pro Kilogramm jedenfalls
nicht zu hoch gegriffen sein dürfte, so stellt sich in jenen: Totalverbranch eine
Jahresallsgabe von 289 800 000 Mark dar.
Um nun beurteilen zu können, wieviel von dieser Ausgabe absolut not¬
wendig und wieviel davon als verschleudert zu betrachten ist, wolle man sich
folgendes vergegenwärtigen: 1. daß eine 7^fache Verdampfung als eine mittel¬
mäßige Leistung unsrer nach bewährten Grundsätze» angelegten und geheizten
Dampfkessel zu bezeichnen ist, das heißt, daß in denselben mit je einem Kilogramm
verbrannter Kohle 7,5 Kilogramm Dampf erzeugt werde» kann; 2. daß el»
Maximalverbrauch von 10 Kilogramm Dampf pro Pferdekmfc und Stunde bei
einer nach dem Receiver-Compvnnd - System gebauten Dampfmaschine von
25 Pferdekräften so sicher erreichbar ist, daß keiner misrer besser» Maschinen-
fabrikanten Anstand nimmt, denselben zu garantiren.
Hieraus ergiebt sich, daß eine nach rationellen Grundsätzen angelegte und
bewirtschaftete Dampfkraft von 2S Pferden nicht mehr als 10: 7.S 1^ Kilo¬
gramm Kohle pro Stunde und Pferdekraft braucht, daß daher der oben zu
6^/» Kilogramm ermittelte thatsächliche Verbrauch um das fünffache zu groß
ist, mithin ein Kohlenquantum von 25 760 Millionen Kilogramm im Wert¬
betrage von 231840 000 Mark im Jahre 1879 nutzlos verfeuert worden ist.
Welch großartige Perspektive eröffnet sich dem vorschauenden Auge bei
der Vorstellung des unabsehbaren Vorteils für die Volkswirtschaft im all¬
gemeine» wie für unsre mit Dampf arbeitende Industrie im besondern, der da¬
durch zu erreichen wäre, daß letztere genötigt würde, von der bisherigen
Schlenderwirtschaft abzugehen und sich auf das Notwendige und Nützliche zu
beschränken! Schonung des in den unterirdischen Kohlenschätzcn beruhenden
Nationalvermögens, Herabgehen der Kohlenpreise und infolge dessen Ausschluß
aller Kohleneinfuhr und Ermäßigung aller Hanshaltskosten, schwungvolle Ent¬
wicklung des Dampfmaschinenbaues, gewinnrcichere Produktion der gesamten
Dampfindustric infolge der um 80 Prozent ermäßigten Ausgabe, und — Is-se
not löÄst, — die gesteigerte Gesundheit unsrer Straßen und Wohnungen infolge
des beseitigten Rauches und Rußes — alles das kann erreicht werden!
Freilich nicht, indem man die Verbesserung ihrer Einrichtungen der Einsicht und
Initiative der Gewerbtreibenden überläßt, sondern nur dadurch, daß sie dazu
gezwungen werden. Obgleich der vervollkommnete Effekt der Compouud-Dampf-
maschine und der neueren Kesselfeuerungen schon seit mindestens einem Jahr¬
zehnt bekannt, in den Fachschriften besprochen und von den Maschinenfabrikante»
vielfach empfohlen worden ist, hat doch das bessere bisher nur spärlichen Ein¬
gang gefunden. Das rühmliche Beispiel und die ausgezeichneten ökonomischen
Erfolge der Industriellen Gesellschaft in Mülhausen — welche ihren französischen
Name» zu verdeutschen leider noch immer nicht gewillt scheint — haben zwar
die Anleitung gegeben, daß fast alle größern Werke der Textilindustrie gegen¬
wärtig mit Compoundmotoren arbeiten oder dieselben einzuführen im Begriff
stehen, die meisten übrigen Fabriken aber können von der alte» Raubwirtschaft
nicht lassen und unter der Welt zu, das Qualmen ihrer Schornsteine als eine
berechtigte Eigentümlichkeit derselben anzuerkennen.
Hier kann nur auf den: Wege des staatlichen Zwanges geholfen werden.
Hat der Staat in früherer Zeit sich veranlaßt und berufen gesehen, durch die
Anlage und den Betrieb von Musterfabriken, die Einführung neuer Maschinen?c.
der zögernden Gewerbthätigkeit Anregung und Beispiel zu gebe», hat er als
Gesetzgeber den Grundsatz aufgestellt, daß der Verschwender den Zwang der
Bevormundung sich gefallen lassen muß, so wird niemand die Berechtigung be-
streiten, wenn er auch der greulichen Kohlenverwirtschaftnng durch zwingende
Maßregeln ein Ende zu mache» sucht. Da aber bekanntlich durch kein Mittel ein
Unwesen wirksamer bekämpft werden kann als dnrch eine Steuer, namentlich wenn sie
direkt aufgebracht werden muß, so werden die Kohlenverschwender sicherlich am
geeignetsten und schnellsten bekehrt werden, wenn ihr Znvielverbrauch mit eiuer
angemessnen Steuer — etwa unter dem Namen einer Besscrungssteuer —
belegt werden würde. Eine solche direkte Verbrauchssteuer zu verhänge» fordert
die Gerechtigkeit und Billigkeit, denn die in unsern Kohlen gebundene Sonnen¬
wärme ist das Matrimouium aller, und diejenigen, welche das Gemeingut leicht¬
fertigerweise vergeuden, verdienen es, daß sie zur Entschädigung aller dafür bluten.
Der Ertrag einer zchnprozentigen Bcsscrnugssteuer, die im Jahre 1879 nach
Maßgabe der oben aufgestellten Ermittlung einen Ertrag von ungefähr 23 Mil¬
lionen Mark allein vom Dampfbetriebe aufgebracht haben würde, würde für
die Gegenwart etwa auf 25 Millionen veranschlagt werden können, und ein vielleicht
ebenso großer Betrag würde gleichzeitig von dein Zuvielverbrauch jeuer Gewerbs-
zweige erhoben werden können, welche zu den verschiednen Prozessen des Röstens,
Puddelns, Raffinirens, Schmelzens, Brennens, Kochens u. f. w. ebenfalls auf den
Gebrauch der Kohlen angewiesen sind. Könnte auch die Kohlenvergeudung unsrer
Haushaltungen unter die heilsame Wirkung einer Besserungssteuer gestellt werde» —
doch nein, die bloße Andeutung dieses Gedankens muß als ein Wagnis erscheinen,
denn außer den zu überwindenden sachlichen Schwierigkeiten würden auch persönliche
Widerstände zu bekämpfen sein, und ebenso vergeblich wie der Kampf gegen
das Rem xossuinus ist der gegen das dumme Vorurteil. Schade, schade, es
würde auch da ein hübsches Sümmchen herausspringen.
Selbstverständlich müßte der Anlage der Besserungssteuer eine auf Erfahrungs-
sätzen beruhende Klassifikation bezüglich des Heizwertes der verschiednen Sohlen
wie auch des Kraftverbrauches und der Produktiousfühigkeit zu Grunde gelegt
werden. Wie schon oben erörtert, ist bei einer ISOpferdigen Dampfmaschine
schon das zuviel, was dieselbe über 1 Kilogramm pro Pferdekraft und Stunde
verbraucht, wogegen bei einer 6 pferdigen Maschine die Grenze erst bei 2 Kilo¬
gramm pro Pferdekraft und Stunde beginnt. Ebenso wird bei den verschieden¬
artigen Öfen des Hüttenbetriebes die Grenzlinie des Zuviel nach Maßgabe der
Produktionsfähigkeit derselben enger oder weiter gezogen werden müssen. Aber
es ist ja nicht unsre Absicht auf die Modalitäten der Anlage näher einzugehen,
wie denn auch betreffs der der Erhebung der Steuer vorauszuschickenden.tton-
trole uur angedeutet werde» mag, daß diese sich zu richten hätte auf: 1. die
durch sclbstregistrirende Tourenzähler zu ermittelnde Arbeitsleistung jedes Dampf¬
motors während des abgelaufnen Jahres; 2. die für die Erzeugung der Dampf¬
kraft verbrauchte Kvhleiimenge; 3. das Prodnttionsqnautum jedes einzelne»
Ofens; 4. das für deu Ofenbetrieb verbrauchte Kohlenquautum; 6. die Ru-
brizirung der verbrauchte» Kohlen nach ihren Heizwerten. Es soll nicht ge¬
leugnet werden, daß diese Feststellungen mit ungewohnter Belästigung für den
Betrieb verbunden sein würden. Müssen jedoch nicht schon lange die Brauereien,
die Nübenznckerfabrikcn n. s. w. eine ähnliche Kontrole sich gefallen lasse», ohne
daß der letzter» die Absicht einer ökonomischen Verbesserung ihres Betriebes zu
Grunde liegt?
Einen nachhaltigen Ertrag kann und soll die Bcsserungssteuer nicht auf¬
bringen; derselbe würde vielmehr in demselben Maße schwinden, wie der
bessernde Zweck der Steuer erreicht werden wurde. Daher erscheint sie auch
nicht geeignet, zur Deckung der taufenden Bedürfnisse des Reiches beizutragen.
Könnte sie aber nicht nutzbar gemacht werden zum Wohle der arbeitenden
Klassen? Sollte nicht die für niemand nutzbringende Verschwendung derer,
welche von der Arbeit ihrer Mitmenschen Gewinn und Vermögen ziehen, end¬
lich wenigstens dazu dienen, den letztern ein sorgenfreies Alter zu bereiten?
Durch die Begründung von Altersvcrsorgnngsanstalten aus den Erträgnissen
der Besscrungssteuer würde vorübergehender Mißbrauch in dauernde Wohlthat
umgesetzt werden, ein Ziel, welches wohl des Versuches wert ist.
lie Freunde des Gymnasiums erfüllte es mit lebhafter Freude,
als letztes Frühjahr der sächsische Kultusminister Herr von Gerber
ein Rundschreiben an die Direktoren der sächsischen Ghmnasien
erließ, in welchem er die von vielen Seiten erhobenen Klagen
wegen Überbürdung unsrer Gymnasiasten bis zu einem gewissen
Grade anerkannte, auf einige der wichtigsten Gründe jener Erscheinung hinwies
und zugleich eine Zusammenkunft der sächsischen Gymnasialdirektoren in Aus¬
sicht stellte, deren Aufgabe es sein sollte, die notwendigen Änderungen im Re¬
gulativ zu beraten. Unter den Gymnasiallehrern Sachsens freilich rief jenes
Rundschreiben eine gewisse Aufregung hervor. Man war in diesen Kreisen über¬
zeugt, daß man redlich bemüht gewesen sei, den gesteigerten Ansprüche» des Re¬
gulativs vom Jahre 1876 allenthalben gerecht zu werden, und fühlte sich von
den in dem ministeriellen Schreiben enthaltenen Ausführungen umso peinlicher
berührt, als in den letzten Jahren auch nicht ein einzigesmal Stimmen laut
geworden waren, daß im sächsischen Gymnasialwesen erhebliche Mißstände um
sich gegriffen Hütten. Sodann aber war man hier gewöhnt, die sächsischen
Anstalten um ihrer Leistungen im Lateinischen und Griechischen willen über die
preußischen zu stellen. Da nun zugleich das Gerücht sich verbreitete, das säch¬
sische Ministerium trage sich mit dem Plane, dem neuen preußischen EntWurfe
zuzustimmen, welcher zur Entlastung der am meisten überbürdeten Quarta den
Beginn des Griechischen der Untertertia zuwies und den Ausfall an griechischen
Stunden auf Kosten des Lateins i» den obern Klassen ersetzte, so wurde die
Befürchtung lant, es möchte das sächsische Gymnasium, welches mehr als das
preußische den humanistischen Charakter sich treu bewahrt hat, dieses Charakters
entkleidet werden und damit ein Verfall der klassischen Stadien eintreten.
Kein Wunder, wenn darum anfänglich fast allgemein in den Kreisen der
sächsischen Gymnasiallehrer das ministerielle Rundschreiben auf entschiedenen
Widerspruch stieß, und was hie und da geäußert worden war, kam dann zu
offner Aussprache auf einer Versammlung von sächsischen Gymnasiallehrern,
welche zu Pfingsten in der freundlichen Mutterstadt Grimma stattfand. Die
überwiegende Mehrzahl der Redner glaubte eine Überbürdung durchaus leugnen
zu müssen. Mit trüber Kassandramiene weissagte man, daß das Gymnasium
seinem Verfalle entgegengehen werde, wenn das Griechische ans der Quarta ent¬
fernt würde, obwohl noch vor fünfzehn Jahren fast allgemein dieser Unterricht
erst mit der Untertertia begonnen hatte und dabei schließlich die Fertigkeit im
Lesen der griechischen Schriftsteller nicht geringer gewesen war als heutigen
Tages. Wenn nicht einer der Redner mit komischem Pathos gegen die Vermeh¬
rung des französischen Unterrichts an die deutsche Vaterlandsliebe appellirt hätte,
so wäre die Stimmung zuletzt eine recht trostlose gewesen.
Allmählich mußten jedoch Besonnenere zu der Überzeugung kommen, daß
Sachsen mit seinen wenigen Gymnasien der großen Menge preußischer Anstalten
gegenüber keine Sonderstellung einnehmen könne, und daß ihm nichts andres
übrig bleibe, als den griechischen Unterricht in Quarta auf dem Altar der na-
tionalen Einheit zu opfern. Diese Meinung gewann langsam die Oberhand,
und als die sächsischen Gymnasialdirektoren sich in Dresden unter dein Vorsitz
des Kultusmiuisters versammelten, um über die nach dem Vorgange Preußens
vorzunehmenden Änderungen des Regulativs zu beraten, fanden die gemachten
Vorschläge Annahme, wenn auch „mit schwerem Herzen."
Vergleichen wir den neuen Lehrplan mit dem alten, so muß zunächst der
Fortschritt anerkannt werden, der darin liegt, daß man Schülern, welche zwei
Jahre lang Latein und ein Jahr laug Französisch gelernt haben, nicht noch
als dritte fremde Sprache das Griechische aufbürdet, das bisher unverhältnis¬
mäßig hohe Anforderungen an sie stellte. Während der Quartaner bis jetzt
mit den Anfangsgründen dreier Sprachen zu gleicher Zeit zu kämpfen hatte,
wird er in Zukunft mir mit zwei fremden Sprachen zu thun haben. Die
größere Anzahl von französischen Stunden, die an Stelle des Griechischen in jener
Klasse eingesetzt ist, giebt ihm überdies mehr als früher Gelegenheit, wenigstens
in einer der modernen Sprachen eine leidlich feste Grundlage zu erreichen.
Einen andern Fortschritt sehen wir darin, daß durch die Verlegung des Be¬
ginns des griechischen Unterrichtes nach Untertertia die Realschulen und Gym-
uasien in den untern Klassen ncihezn gleichgestellt worden sind, sodaß der Über¬
gang von einer Anstalt zur andern , welcher gerade in diesen Klassen häufig
stattfindet, ans keine Schwierigkeiten mehr stößt.
Weniger glücklich erscheint uns die Maßregel, daß mau von Untertertia an
je eine Stunde dem lateinischen Unterrichte genommen hat, um sie dem griechischen
zuzulegen. Man hat damit, während früher das Latein Kern und Mittelpunkt
der gymnasialen Bildung war, die Vorherrschaft dieser Sprache gebrochen und
eine Doppelherrschaft geschaffen, welche nnr verwirrend auf die Jugend ein¬
wirken kann. Wir reden damit keineswegs der Erhaltung der bis jetzt dem
lateinischen Unterricht eingeräumten Stundenzahl das Wort, Soll eine Ver¬
ringerung der zu erteilenden Stunden eintreten, so kann das am reichlichsten
bedachte Latein noch am eheste» auf eine Stunde verzichten. Daß aber zum
Ersatz für den in Quarta verlorenen Unterricht das Griechische in den obern
Klassen eine Stunde mehr erhält, scheint uus mit Rücksicht ans die hierdurch
veränderte Stellung zum Latein wenig empfehlenswert. War eine Änderung
notwendig, dann ließ sich jetzt die Gelegenheit benutzen, die während des letzten
Jahrzehntes ungebührlich gesteigerten Anforderungen der griechischen Grammatik
auf das rechte Maß zurückzuführen.
Man hat für die Bevorzugung der griechischen Sprache auf den Gym¬
nasien geltend gemacht, daß, ganz abgesehen von dem formalen Bildungswerte,
dem Einblick in eine reiche und originelle Sprache mit neuen Formeu der Wort-
beuguug nud Satzbildung und der großartigen Literatur des geistreichsten Volkes,
welches die Welt je gesehen hat, vor allem das Griechische für das deutsche
Volk darum einen höhern Wert besitze, weil der deutsche Geist dem griechischen
näher stehe als dem lateinischen. Uns erscheint, für den Fall, daß mau das
letztere zugestehen wollte, gerade hieraus der Schluß gezogen werden zu müssen,
daß man darum nicht das Griechische, sondern das Latein in erster Linie für den
Unterricht verwende, denn nichts kann unsrer Ansicht nach bildender auf die Jugend
einwirken, als der stete Vergleich unsrer Sprache und unsers Volksgeistes mit der
Sprache und dem Geiste eines von uns so verschiedenen Volkes, wie es das rö¬
mische war. Es kommt hier doch nur auf den Schnlwert, nicht auf den absoluten
Wert eines Wissenszweiges an. „Daraus, sagt mit Recht Rümelin,*) daß die
griechische Literatur sich im ganzen zur römischen wie das Original zur Nachbildung
verhält, daß insbesondre die griechischen Dichter und Philosophen hoch über den
römischen stehen, daß die griechische Sprache nach Wortschatz und Formen weit
reicher und vielseitiger als die lateinische ist, folgt noch keineswegs ein Vorzug
vom pädagogischen Standpunkte, und es ist eine ganz verfehlte und der Sach¬
kenntnis ermangelnde Meinung, das Griechische dem Lateinischen gleich oder gar
voranstellen zu wollen. Die lateinische Sprache hat den Vorzug der einfacheren
Formenlehre, den strengern logischen Satzbau, die festern Regeln, einen deutlich
erkennbaren normirenden Höhepunkt der klassischen Diktion eines goldnen Zeit¬
alters, überhaupt den der Schule so willkommenen, so unerläßlichen Charakter
des Disziplinirten, die Willkür Ausschließenden, das subjektive Belieben einer
festen Ordnung Einfügenden, Die griechische Sprache ist ihrerseits allzu reich
und cibundant an Formen, von denen sie garnicht vollen Gebrauch macht, die
sie mit zahllosen Ausnahmen und Varietäten durchzieht; die Syntax hat zu
wenig Zwingendes; im Satzbau ist es den Nebensätzen gestattet, sich um den
Hauptsatz mehr oder weniger zu bekümmern; die Dialektverschiedenheiten sind
störend und verwirrend; gerade die größten und den Höhepunkt griechischen
Geistes vertretenden Autoren sind nach Form und Inhalt zu schwer für das
gymnasiale Alter, Thukydides, Plato, Demosthenes, die Tragiker sind nur den
begabtesten und besten Schülern einigermaßen zugänglich. Das Gros der Pri¬
maner bringt für sich den Sinn nicht heraus, behilft sich mit den Übersetzungen
und gelangt so zu keinem bedeutenden Eindruck. Die lateinischen Autoren da¬
gegen, Cäsar, Nepos, Livius, Sallust, Cicero, Tacitus, Ovid, Vergil, Homz,
sind wie für die Schule gemacht, und die an sich weit reichere und originalere
Literatur der Griechen bietet wenigstens der Schule hierin keine äquivalente
Auswahl."
War dem Lateinischen eine Stunde zu entziehen, so durfte sie nicht dem
Griechischen, sie mußte dein Dentschen gegeben werden, welches in Preußen in
Sexta und Prima mit drei, in den übrigen Klassen nur mit zwei Stunden an¬
gesetzt ist, während in Sachsen nur Tertia und Sekunda mit zwei, alle übrigen
Klassen mit drei Stunden bedacht sind. Eine gleichmäßige Erhöhung des deutschen
Unterrichtes auf drei Stunden war unbedingt erforderlich, wenn das durch den
Lehrplan gesteckte Ziel erreicht, wenn der immer mehr einreißenden Verwilderung
der deutschen Sprache ein Ende gemacht werden soll. Es soll dabei nicht geleugnet
werden, daß der deutsche Unterricht in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte
gemacht hat, doch heben alle diese Fortschritte den Nachteil nicht auf, daß die
heutige Jugend bei weitem weniger als früher unsre Klassiker liest und — wegen
andrer Arbeiten — lesen kann.
Soweit die Änderungen im Lehrplan, welche sicherlich am Charakter des
Gymnasiums nicht rütteln und am allerwenigsten die oft gehörte Befürchtung
bestärken, das Gymnasium werde zu einer Realschule degmdirt werden. Fragen
wir nun weiter, inwiefern die im Lehrplane und in den neuen Verordnungen
getroffene» Änderungen imstande sind, der Überbürdung der Schüler unsrer
Gymnasien abzuhelfen.
Da stoßen wir zunächst auf eine Verminderung der Stuudenauzahl, die,
mag sie auch noch so gering sein, doch mit Dank begrüßt werden muß. Ein
Vergleich der in dem Regulativ von 1876 und der neuen Verordnung von
1882 geforderten Stunden wird dies deutlich machen. Die Anzahl der wöchent-
lieben Stunde» ist gesunken in I von 40 auf 39—40, in 11^ von 40 c»if 39,
in IIL von 39 auf 36, in III von 38 auf 37; in IV und V ist sie dieselbe
geblieben, in VI von 33 herabgegangen auf 32, Dabei haben wir immer die
höchsten Ziffern angenommen und die fakultativen Fächer voll gerechnet, weil
die Erfahrung lehrt, daß, vom Zeichnen und Singen abgesehen, alle, selbst die
schwächsten Schüler sich nicht gern von den fakultativen Fächern abraten lassen.
Sehen wir jedoch ganz von jenen Fächern ab, so stellt sich die Verminderung fol¬
gendermaßen dar: In I von 34 ans 30—34, in II von 34 auf 33, in III von
35 ans 34, in IV von 35 auf 34; in V und VI ist die Zahl der wöchentlichen
Unterrichtsstunden dieselbe geblieben. Es wird mithin fortan die Stunden¬
zahl schwanken in I zwischen 39 und 33, in 11^. zwischen 39 und 33, in HL
zwischen 36 und 33, in III zwischen 37 und 34, in IV zwischen 37 und 34.
In V wird sie 34, in VI 32 Stunden betragen. Die höchste Ziffer täglich
stellt sich für Sexta anf 6, für Prima auf 8 Stunden, was bei einer ma߬
vollen Beschränkung in den Hausaufgaben nicht zu hoch gegriffen ist.
Neben der allzugrvszen Stundenzahl, welche, vereint mit der großen Menge
von häuslichen Arbeiten, nicht nur in die Rechte des Elternhauses störend ein-
griff, sondern auch bei körperlich Schwachen die notwendige Erholung un¬
möglich machte, wurde in den Erlassen des preußischen und des sächsischen
Kultusministeriums mit Recht das Hinübergreifen der Spezialfächcr von der
Universität nach den Gymnasien als ein Übelstand anerkannt und der Tadel
ausgesprochen, daß vorzugsweise die jünger» Gymnnsinlphilvlogen die Gesichts¬
punkte dieses auf der Universität gewonnenen spezialistischen Fachstudiums un¬
vermittelt auf die Gymnasien übertrugen und die Gymnasialbedeutuug des
Studiums der antiken Sprachen und Literaturen weniger in der Erzielung
einer allgemeinen geistigen Ausbildung als in der Erstrebung der Ausbildung
für die fachmännische Philologie suchten. Als eine Folge dieser Gewohnheit
wurde das Übermaß der dogmatischen Syntax bezeichnet, mit welcher schon die
mittleren Klassen beschwert werden, und die Beseitigung des Schülers mit
allerhand syntaktischen Subtilitäten, die oft von sehr zweifelhaftem Werte und
deren Erlernung in der Form abstrakter Dogmen für die Gymnasialzwecke
durchaus unfruchtbar ist.
Mit dem Hinweise auf diese Übelstände soll das Spczialisteutum gewiß nicht
ganz verurteilt werden. Wer sich vor allem mit Griechischem oder mit Latein oder
Geschichte auf der Hochschule beschäftigt hat, der mag, soweit es sich mit den
Einrichtungen des Gyiunasinms verträgt, an welchem er angestellt wird, in
diesen Fächern zuerst Beschäftigung finden. Denn das muß zugestanden werden,
daß doch nur der, welcher eine Disziplin vollständig beherrscht, darin den besten
Unterricht erteilen kann, und daß ein solcher bei genügender pädagogischer Er¬
fahrung leichter und schneller seine Schüler zum Ziele sührt als einer, der selbst
noch in dem Fache, welches er lehrt, zu arbeiten hat und über das Wichtige,
Wesentliche und Notwendige noch nicht zu entscheiden vermag. Wollte man das
Spezialistentum ganz aus dem Gymnasium verbannen, dann wäre es ja am
besten, mau griffe auf die alten Zustände zurück und ließe den Unterricht in
den klassischen Sprachen wieder von Theologen geben. Das Resultat würde
freilich wenig Freude macheu, denn die Theologen von hente sind mit den alten,
was allgemeine Bildung betrifft, kaum noch zu vergleiche!?.
Doch wozu das Kind mit dem Bade ausschütten? Nicht sowohl an dem
Spezialistentum liegeu die im heutigen Gymnasium offen zu Tage tretenden
Übelstände, sondern daran, daß bisher von den Regierungen nicht genng für
die Vorbildung der auf der Universität herangebildeten Gelehrte» zu Lehrern
gethan worden ist. Ein praktisches und theoretisches Examen wurde allerdings
von dem Schulamtskandidaten verlangt. Mit wenigen, gut vorbereitete» Schüler»
wurde eine halbstündige Probelektion gehalten, »ut dann gab es noch ein kurzes
Examen ans der Geschichte der Pädagogik, zu dessen Erledigung die einmalige
Lektüre von Raumers „Geschichte der Pädagogik" genügte. Das war alles.
So ausgerüstet kam der Kandidat an das Gymnasium, wo er bei dem herr¬
schenden Mangel an Lehrern oft gleich das vor allen: pädagogische Erfahrungen
erheischende Ordinariat der Sexta übernahm und um nach bestem Wissen oder
Nichtwissen mit dem Schulmeistern begann. Gelegenheit zur Ausbildung in der
Pädagogik war wohl an der Leipziger Universität im Seminar des jüngst ver¬
storbenen Professor Ziller gegeben. Aber diese Gelegenheit wurde vou Philo¬
loge» nur wenig benutzt; auch wollte das Seminar wegen ungenügender Unter¬
stützung sich nicht recht entwickeln. Dnsselbe war der Fall mit dem pädagogischen
Seminar Professor Ecksteins. In dem Mangel an einer tüchtigen pädagogische»
Schulung der Philologen, nicht in dem Spezialistentum müssen wir die Ur¬
sachen erkennen, daß der Unterricht in den klassischen Sprachen für »nsrc Jngend
so wenig unheilbringend geworden ist.
Auch hierin scheint endlich ein Wandel eintreten zu solle». Wie wir vor
kurzem gelesen haben, hat das sächsische Unterrichtsministerium, dem Vorgänge
des preußische» folgend, durch ein Rundschreiben an die Direktoren seinen Willen
zu erkennen gegeben, für eine bessere pädagogische Vorbildung der zukünftigen
Lehrer zu sorgen, und hat von den Direktoren der höhern Lehranstalten Gut-
achten eingefordert. Man tragt sich, wie auch in Preußen, mit dein Gedanke»,
die Probezeit der Lehramtskandidaten von einem auf zwei Jahre zu verlängern
und el» von der Universität getrenntes pädagogisches Seminar einzurichten.
Man will dann »ach der zweijährigen Probezeit ein neues Examen verlangen,
das in erster Linie von der praktische» Fähigkeit des Kandidaten Zeugnis ab¬
legen soll.
Wir begrüßen diesen Schritt des Ministers mit Freuden und erwarten von
der geplanten Neuerung reichen Segen für unsre Gymnasien. Die Kosten,
welche ein solches Seminar oder eine Übuugsschnle erfordern wird, fallen dem
Gewinn gegenüber kaum in die Wagschale. Jede Spezialität der philologischen
Wissenschaft vom Latein bis zum Ägyptischen, Assyrischer und Chinesischen ist
in Leipzig mit einem besondern Lehrstühle bedacht. Daneben giebt es philo¬
logische, historische und andre gut ausgestattete Seminare, Warum sollte die
sächsische Regierung nicht daran denken, daß es sich für sie zunächst nicht um
Gelehrte, sondern um Lehrer handelt, und ihre Mittel dazu benutzen, die Mög¬
lichkeit einer gehörigen Ausbildung für das Lehramt zu schaffen?
Doch kehren wir von dieser geplanten Neuerung, welche manchen Übelstand,
an dem das Ghmnasinm krankt, beseitigen wird, zurück zu deu Erleichterungen,
welche die neue Verordnung für den sprachlichen Unterricht — denn von den
übrigen Fächern wolle» wir hier absehen — bestimmt.
Wir beginnen mit dem lateinischen Unterrichte, der in jeder Klasse eine
Stunde eingebüßt hat. Über die Aufgabe sagt das Regulativ und fast gleich¬
lautend die neueste Verordnung folgendes: „Dem Unterricht in der lateinischen
Sprache fällt die Aufgabe zu, durch gründliche grammatikalische Unterweisung
nicht allein die Erlernung dieser Sprache selbst sicherzustellen, sondern dadurch
zugleich für die Erlernung aller übrigen Sprachen die Grundlage der allgemeinen
grammatikalischen Bildung zu schaffen, späterhin aber durch Erklärung der la¬
teinischen Klassiker, in Verbindung mit den griechischen, in den Geist und das
Leben des klassischen Altertums einzuführen," Hiermit vergleiche man, was über
das Lehrzicl gesagt wird: „Am Schlüsse des Gymnasialkursus ist zu fordern,
daß der Schiller ohne Hilfe der Grammatik korrekt und wenigstens von groben
Fehlern frei lateinisch zu schreiben, daß er mit einiger Fertigkeit und Gewandt¬
heit über Fragen und Gegenstände, welche den altklassischer Studien des Schülers
angehören, lateinisch zu sprechen imstande, und daß ihm durch die Kenntnis der
lateinischen Sprache auch das Verständnis für den Geist des römischen Alter¬
tums aufgeschlossen worden sei." Hier ist zunächst zu bemerken, daß die neue Ver¬
ordnung insofern von dem Regulativ von 1876 abweicht, als sie den Gebrauch der
Lexika gestattet, denn das Regulativ sagt ausdrücklich, es sei zu verlangen, daß
der Schüler am Schlüsse des Gymnasialkursus ohne Hilfe der Grammatik und
des lateinisch-deutschen Lexikons korrekt schreiben könne. Sehen wir aber von
dieser schon durch die geringere Zahl der dem Latein zugemessenen Stunden
notwendig gewordenen Herabsetzung des Zieles ab, so muß eins unbedingt
auffallen: daß die sächsische Verordnung als Ziel des lateinischen Unterrichts
in erster Linie das Lateinschreiben, in zweiter das Lateinsprechen und erst in
dritter „auch" das Verständnis für den Geist des römischen Altertums hinstellt.
In unleugbaren Gegensatze hierzu steht die Auffassung, welche die preußische
Zirkularverfügung vom 31. März 1882 von dem Zweck des lateinischen
Unterrichts hat. „Die Übungen im schriftlichen Gebrauche der lateinischen
Sprache — sagt sie — sind in den untern und mittlern Klassen ein unent¬
behrliches Mittel zu fester Aneignung der Grammatik und des Wortschatzes.
In den obern Klassen wurde in früherer Zeit der Zweck verfolgt, daß die Schüler
des Gymnasiums die lateinische Sprache zum Organ für den Ausdruck ihrer
Gedanken machen könnten. Mag man nach verschiedner Ansicht darin bloß eine
Erbschaft aus einem Zeitalter sehen, in welchem das Latein die internationale
Sprache der Gebildeten war, oder mag man darin einen Ausdruck des Wertes
finden, welchen die selbständige Herrschaft über eine fremde, insbesondere eine
von der Muttersprache weit entfernte Sprache für die formale Gedankenbildung
besitzt: jedenfalls ist ein solches Ziel, von allen etwaigen Zweifeln an seinem
Werte abgesehen, nicht mehr erreichbar, seitdem selbst unter den Meistern der
Philologie diese Virtuosität nicht mehr Regel ist und daher diesem Teile des
Gymnasialunterrichts nicht selten die unerläßliche Bedingung des Erfolgs fehlt,
das eigne sichere und leichte Können des Lehrers." Mit dieser Darlegung scheint
uns die preußische Auffassung das Nichtige besser zu treffen als die sächsische.
Auch die preußische Zirkularverfügung will nicht auf schriftliche und mündliche
Übungen im Lateinischen verzichten, aber jene Beherrschung der Sprache, welche
die sächsische Verordnung bei allem Einlenken in eine bessere Bahn noch immer
als den Zweck des lateinischen Unterrichts bezeichnet, ist ihr nicht mehr Zweck,
sondern nur noch Mittel. Damit kehrt die preußische Zirkularverfügung er¬
freulicherweise zu jener Auffassung zurück, welche man am Ende des vorigen
und Anfang dieses Jahrhunderts vom Unterricht in den klassischen Sprachen
hatte. Man lernte freilich, und die alten Grammatiker geben uns ja den
Beweis, bei weitem nicht die Fülle von grammatischen Regeln und Ausnahmen
wie heutzutage, und das Latein, welches man damals schrieb, war nach der
Anschauung unsrer Tage nicht immer korrekt, aber man lebte dafür unstreitig
in der reichen Welt des Altertums und war voll von ihrer Literatur. Jetzt
möchte der Primaner Lübkers Reällexikvn des klassischen Altertums wälzen,
um eine Seite aus — Lessing, Wieland, Herder zu verstehen. So wenig ist er
in der Mythologie, der Kunst und der Literatur der Alten zu Hause. Wer
könnte sich nicht ans jungen Jahren jener Pastoren, Gerichtsräte und Ärzte
entsinnen, die noch, in ihrem Alter die lernende Jugendzeit sich fröhlich
ins Gedächtnis zurückrufend, wacker ihre lateinischen Oden schmiedeten? Wie
selten sind jetzt selbst Philologen geworden, die auf solche Kunst sich verstehen!
Damals las noch der Dorfpfarrer neben der Bibel seinen Homer und Horaz.
Wer heutzutage das Gymnasium hinter sich hat, schüttelt so schnell als möglich
die Unmasse von grammatischen Regeln ab, die er gelernt hat, so schnell, daß er
schon nach wenigen Jahren nicht mehr imstande ist, einen lateinischen oder
griechischen Schriftsteller zu lesen. Und was ist von dem Inhalte der Geistes¬
werke der Alten geblieben? So verschwindend wenig, daß in den letzten Jahren
gerade aus diesem Grunde sich die Stimmen gegen die klassische Bildung ge¬
mehrt haben. Hier ist ein Zurückschrauben der Forderungen am dringendsten
notwendig, dieses Zurückgehen würde einen großen Fortschritt bedeuten.
Was aber hier von dem Latein gesagt ist, das gilt fast in noch höherm
Grade von der griechischen Sprache, Wie der lateinische Unterricht, abgesehen
von den Diensten, die er als formales Bildungsmittel leistet, zuletzt doch nur das
Lesen, nicht aber das Schreiben und Sprechen zum Zweck haben soll, so mich der
griechische, und zwar sollte hier aus den oben erwähnten pädagogischen Gründen
der sprachliche Unterricht noch mehr zurücktreten. Aber auch hier steht die
neueste sächsische Verordnung noch auf dem nun hoffentlich bald überwundenen
Standpunkte der letzten Jahre, wenn sie sagt: „Die Erlernung der griechischen
Sprache bezweckt neben der allgemeinen geistigen Gymnastik durch den alt-
klassischer Sprachunterricht die Hebung der geistigen Schätze und Bildungs-
mittel, welche in der klassischen Hinterlassenschaft enthalten sind," und an andrer
Stelle: „Ein Schüler, welcher mit Erfolg den Gymnasialkursns beeudet hat,
muß ein angemessenes deutsches Pensum ohne Hilfe der Grammatik, frei vou
groben grammatikalischen Fehlern, ins Griechische zu übersetzen, eine leichtere
Stelle aus den für die Lektüre in Prima genannten griechischen Autoren und
unter geringer Nachhilfe ins Deutsche zu übertragen verstehen, überhaupt aber
zeigen, daß er ein Verständnis des griechischen Altertums gewonnen hat." Auch
hier ist zwar gegen früher, wie ein Vergleich lehrt, der Gebrauch des Lexikons,
der unnötigerweise durch das Regulativ von 1876 verbannt war, wieder ge¬
stattet worden, aber wieder steht an erster Stelle die Schreibfertigkeit, an zweiter
erst die Fähigkeit im Übersetzen in die Muttersprache, die Sprache wird also mehr
zu dem Zwecke formaler Bildung getrieben denn als ein Mittel, uns die reiche
Geisteswelt des Altertums zu erschließen. Entschiedener verfährt auch hier das
preußische Regulativ, welches, auf die von 1856 giltige Bestimmung zurück¬
greifend, für die Maturitätsprüfung mir die Übertragung eines griechischen
Textes ins Deutsche verlangt und nur die Vorlegung der bei der Versetzung
nach Prima gelieferten griechischen Skripta und damit deutlich genug darauf
hinweist, daß auf der obersten Stufe des Gymnasiums der Mittelpunkt des
griechischen Unterrichts in der Lektüre, nicht in der zeitraubenden, die Schüler
durch das fortwährende Repetiren einer an Formen überreichen Grammatik er¬
müdenden schriftlichen Übungen zu suchen sei.
Hier liegt der wunde Puukt unsers ganzen gymnasialen Unterrichtes: Man
lehrt die Sprachen Griechenlands und Roms, nicht um der Jugend den Weg
zu den Schätzen des klassischen Altertums zu eröffnen, sondern um der toten
Sprachen selbst willen. Das heißt aber, sich mit der Schale begnügen und auf
den Kern verzichten. Wir reden durchaus nicht einem dilettantischen Sprach¬
unterricht das Wort und wünschen nicht, daß die schriftlichen und mündlichen
Übersetzungen ins Lateinische oder Griechische, namentlich auf den untern und
mittlern Stufen, als unwichtig angesehen werden, aber das eine kann nicht genng
betont werden, daß solche Übertragnngen doch immer nur das Mittel sein dürfen,
die wichtigsten Regeln einzuüben. Die Übersetzungen ans den klassischen Sprachen
ins Deutsche sind bei weitem die Hauptsache. Sie geben nicht nur ein leben¬
diges Verständnis für die griechische und römische Vorzeit, sondern fördern auch,
wenn sie mit Geschmack geleitet werden, den deutschen Ausdruck.
Die falsche Auffassung von dem Wesen des altklassischer Unterrichtes ist es aber,
die zum guten Teil die Überbürdung verursacht hatte und auch weiterhin, wie wir
fürchten müssen, verursachen wird. Daß nämlich in Sachsen wenig Aussicht ist, die
Überhäufnng mit häuslichen Arbeiten schwinden zu sehen, das lehrt die Übersicht,
welche neuerdings in der erwähnten Verordnung für die außerhalb der Prüfungen
zu fertigenden schriftlichen Arbeiten aufgestellt worden ist. Nach dieser Übersicht
wird nämlich an schriftlichen Arbeiten mehr gefordert, als wohl an den meisten
Gymnasien bisher verlangt worden ist. Greifen wir z. B. die mittelste Klasse,
die Obertertia, heraus. Hier ist vorgeschrieben monatlich 1 deutscher Aufsatz,
4 Skripta bez. Extemporalien im Latein, 4 Skripta bez. Extemporalien im
Griechischen, 1 Skriptum und 1 Extemporale im Französischen, 1 Arbeit in
der Mathematik, nicht eingerechnet die Menge von Präparationen und RePe¬
titionen in diesen und den andern Fächern. Rechnet man das Schuljahr, wie
es gewöhnlich geschieht, zu 40 Wochen, so giebt das 10 deutsche, 40 lateinische,
40 griechische, 20 französische und 10 mathematische Aufgaben. Die schriftlichen
Arbeiten in den klassischen Sprache,? nehmen also einen außerordentlich großen
Teil des häuslichen Fleißes in Anspruch. Aber die allzuhäufig geforderten
Skripta und Extemporalien berauben auch den Lehrer seiner kostbaren Unter¬
richtszeit. Wir können dies wieder an dem Beispiele der Obertertia zeigen.
Hier sind neun Stunden für den lateinischen Unterricht angesetzt; zwei davon
kommen auf Ovid, zwei auf Grammatik; zwei Stunden werden gebraucht, um
das Extemporale oder Skriptum sorgfältig zu diktiren und mit Erfolg zu
emendiren. So bleiben dann für die Hauptsache, die Lektüre Cäsars, nur drei
Stunden übrig. Ähnlich ist es in den obern Klassen. Zwei Stunden werden
mindestens in jeder Woche der Klassikerlcktüre entzogen.
Wir halten, um es nochmals kurz zu sagen, die einseitige Betonung der
klassischen Sprachen als formalen Bildnngselementes und die hierdurch ver¬
anlaßte Forderung zahlreicher schriftlicher Übersetzungen und fortgesetzter gram¬
matischer Übungen für keinen Fortschritt und hätten hierin lieber einen vollen
Anschluß der sächsischen Verordnung an die preußische Zirkularverfügung ge¬
wünscht. Und noch eins: Auch die genaue Vorschrift über die zu liefernden
wöchentlichen Arbeiten will uns nicht behagen. Mit Recht hebt Jürgen
Vom Meyer (Die Schulübcrbürdungsfrage, S. 17) hervor, daß unser Schul-
leiter zum großen Teil an einem übermäßigen Schablonisiren und Büreau-
kratisiren liegt. Hätte man nicht diesem Leiden abhelfen, nicht den pflicht-
getrenen Lehrern und Lehrerkollegien ruhig die Anzahl der zu liefernden
schriftlichen Arbeiten, wie es früher geschah, überlassen und damit den Viel¬
geplagten etwas Freiheit der Bewegung geben können?
Zusatz der Redaktion, An den vorstehenden Artikel schließen wir noch
einen Zusatz aus andrer Feder an, derselben, die bereits im Mai vorigen
Jahres in diesen Blättern über die Überbürdungsfrage, soweit die sächsischen
Gymnasien von ihr berührt werden, sich ausgesprochen hat. Der Verfasser jenes
Maiartikels schreibt uns folgendes:
Mit dem vorliegende«: Aufsätze bin ich im großen und ganzen einverstanden.
Nur glaube ich, daß der Verfasser sich mit seinen Ausstellungen an der neuen
sächsischen Gymnasialverordnnng nicht an die richtige Adresse wendet, Herr von
Gerber ist ohne Zweifel von den besten Absichten beseelt. Aber auf dem weiten
Wege aus dem Kopfe des Ministers durch eine zweitägige Dircktorenkonfcrenz
in die ministerielle Verordnung hinein — wieviel geht da verloren!
Ich benutze die dargebotne Gelegenheit, jetzt, wo die Überbürdnngsfrage
wieder lebhafter denn je in der Presse erörtert wird — und mit vollem Recht,
denn etwas Positives zu ihrer Beseitigung ist ja noch gar nicht geschehen —,
den Ausführungen des obigen Artikels noch einige wenige Sätze anzuschließen.
Über zwei Thatsachen ist wohl, mit Ausnahme einer Anzahl von Schul¬
meistern, die den Wald vor Bäumen nicht sehen, alle Welt einig: daß die klas¬
sische Bildung, die das Gymnasium gegenwärtig gewährt, gegen früher zurück¬
gegangen ist, und zweitens, daß unsre Ghmnasialjugend den Eindruck der
Ermüdung und Abgetriebenheit macht. In die Alltagssprache des Schülervaters
übersetzt: Es wird zuviel verlangt, und es wird nichts ordentliches mehr ge¬
leistet. Auch darüber ist wohl im allgemeinen kein Zweifel, daß diese beiden
Thatsachen sich nicht bloß neben einander, sondern in ursachlichen Zusammen¬
hange mit einander entwickelt haben. Es ist ja klar, daß jede Verschiebung der
Anforderungen auch eine Verschiebung der Leistungen nach sich ziehen muß.
Weniger Einverständnis herrscht über die Ursache dieser betrübenden Er¬
scheinung und über die Mittel zu ihrer Wiederbescitigung. Die einen schieben
die Hauptschuld auf den Umstand, daß das Gymnasium aus Furcht vor der
Realschule seinem ehemaligen Charakter und damit seinem eigentlichen Berufe
untreu geworden sei; andre sehen den Hauptgrund in dem auf den Universitäten
jetzt gepflegten und auf die Gymnasien übertragenen Spezialistentum, noch andre
— wie der Verfasser des obigen Aufsatzes — in dem Mangel an pädagogischer
Erfahrung bei der jüngeren Lehrcrgeneration, Demgemäß rufen die einen, und
diese Forderung ist in den letzten Wochen ganz besonders laut erhoben worden,
nach pädagogischen Seminarien an den Universitäten und nach Verlängerung der
Probezeit, andre fordern eine Umgestaltung des Universitätsstudiums für die
zukünftigen Gymnasiallehrer, noch andre meinen, daß schon eine Rückkehr des
Gymnasiums zu seinem ehemaligen Charakter hinreichen werde, um alles wieder
ins rechte Gleis zu bringen.
Ich glaube, daß alle drei Recht haben. Alle Dinge haben ein paar Ur¬
sachen, sagt Liebetraut, und so haben auch verschiedne Umstände zusammengewirkt,
um unsre Gymnasialzustände in die Sackgasse zu treiben, aus der man jetzt
den Ausweg sucht.
Der Niedergang unsrer klassischen Bildung zwar datirt weit zurück. Sehr
richtig bemerkt der Verfasser des obigen Aufsatzes, daß der Primaner heutzutage
ein Rcallexikon des klassischen Altertums zu Hilfe nehmen möchte, um unsre
deutschen Schriftsteller aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu
verstehen. Wer nicht der Primaner bloß, sondern leider auch der Lehrer. Auf
einer einzigen Seite von Lessings Laokoon, von einer poetischen Erzählung Wie¬
lands mache ich mich anheischig, ein halb Dutzend Anspielungen ans Personen,
Orte, Ereignisse, Kunstwerke, Sagen, Anekdoten des klassischen Altertums nach¬
zuweisen, die unsre jüngern Gymnasialphilologen nicht mehr ohne nachzuschlagen
verstehen sollen. Und dabei schrieben Lessing und Wieland nicht für Gelehrte,
sondern für das gebildete Publikum ihrer Zeit! Was würden unsre Klassiker
sagen, wenn sie die heutigen kommentirten Ausgaben ihrer Schriften sähen, sähen,
was für Stellen man heutzutage für erklärungsbedürftig hält, die vor hundert
Jahren jeder Mensch verstand, der eine Lateinschule besucht hatte!
Professor Blümner, der bekannte Archäolog in Zürich, hat vor wenigen
Wochen eine neue Ausgabe von Winckelmanns Briefen an seine Züricher Freunde
veröffentlicht (Freiburg, Mohr, 1882). Im Vorwort giebt er die Gründe an,
die ihn zur erneuten Herausgabe dieser Briefe bewogen haben, und bezeichnet
als solchen unter andern anch die Erwägung, daß es durchaus nichts schaden
könne, wenn man unsrer heutigen Generation einmal zu Gemüte führte, daß
wir es doch eigentlich gar nicht so herrlich weit gebracht, daß vielmehr die viel¬
geschmähte alte Zeit doch so manches aufzuweisen gehabt habe, was wir in unsrer
modernen Kultur schmerzlich vermissen. Mochte — sagt Blümner wörtlich — der
Horizont der Männer, an welche diese Briefe gerichtet sind, in mancher Be¬
ziehung beschränkter sein als der unsrige, eins ist doch gewiß: in geistiger
Hinsicht, namentlich was literarische und künstlerische Interessen betrifft, standen
dieselben, zumal wenn man berücksichtigt, daß es sich hier nicht bloß um Ge¬
lehrte, sondern auch um Künstler und Kaufleute handelt, entschieden über der
modernen Durchschnittsbildung. Davon legt nicht nur der Inhalt der an sie
gerichteten Briefe mit der Beantwortung ihrer mannichfaltigen Fragen deutliches
Zeugnis ab, sondern es läßt sich dafür noch ein drastischerer Beleg anführen.
Als Winckelmann seine NoimmsiM inoälli im Selbstverlag herausgab und Be¬
stellungen dafür von den Freunden erbat, freilich etwas besorgt, daß der Preis
von acht Zechinen etwas zu hoch erscheinen möchte, da bestellte Mendel für
Basel neu», Usteri für Zürich elf Exemplare! Wenn heute der erste der gegen¬
wärtig lebenden Kunsthistoriker ein 150 Franks kostendes Werk in italienischer
Sprache, worin in streng wissenschaftlich gelehrter Weise antike Denkmäler ab¬
gebildet und erklärt werden, herausgäbe, wieviel Exemplare davon würden heute
selbst in einer Stadt wie Berlin abgesetzt werden? Schwerlich elf, wenn man
von den öffentlichen Bibliotheken absieht; denn diejenigen Leute, welche die
Mittel zur Anschaffung solcher kostspieligen Werke besitzen, kaufen dafür lieber
„illustrirte Prachtwerke," mit Flittertand verbrämte Klassiker, oder Italien,
Ägypten, Spanien, Indien „in Wort und Bild," Wer das für einen Fort¬
schritt in unsrer Bildung ansteht, der mag es thun.
Dieser traurige Rückgang unsrer klassischen Bildung hat schon vor fünfzig,
sechzig Jahren begonnen; aber er ist beschleunigt worden durch diejenige Schöpfung,
die zugleich sein deutlichstes Symptom war, durch die Realschule, Daß das
Gymnasium in schwächlicher Furcht vor der Konkurrenz der zudringliche» und
aufdringlichen Realschule sich zu Konzessionen herbeigelassen und die Ansprüche
in der Mathematik und in allen Realien in die Höhe schrauben zu können ge¬
glaubt hat, ohne in seinem innersten Wesen Schaden zu nehmen, war der erste
verhängnisvolle Schritt zu den gegenwärtigen Zuständen. Wie recht hatte doch
Goethe, als er in „Dichtung und Wahrheit" klagte über „den Schaden, den man
anrichtet, wenn man junge Leute auf Schulen in manchen Dingen zu weit führt,"
wenn man „deu Sprachübungen und der Begründung in dem, was eigentliche
Vorkenntnisse sind, Zeit und Aufmerksamkeit abbricht, um sie an sogenannte
Realitäten zu wenden, welche mehr zerstreuen als bilden, wenn sie nicht methodisch
und vollständig überliefert werden," wie recht, als er im Anhange zu den
„Wanderjahren"den gewiß aus seinen tiefsten Seele kommenden Wunsch aussprach:
„Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort die
Basis der höhern Bildung bleiben!" Hätte doch das Gymnasium seiner Zeit
den Mut gehabt, fest auf seinem Grund und Boden stehen zu bleiben! Die
Realschule würde eine Zeit lang die Mvdeschule gewesen, ihre Unzulänglichkeit
aber noch viel schneller zu Tage getreten sein, als dies ohnehin geschehen ist.
Auch die Realschule hat ja im Laufe der Zeit dem Gymnasium ein Stück ent¬
gegenkommen müssen. Zu einem Kompromiß aber, wie er gegenwärtig besteht,
und bei dem das Gymnasium zu einer halben Realschule degradirt ist, die Real¬
schule in Preußen sich glücklich den Namen Realgymnasium (!) erschrieen hat — ein
lächerliches Oxymoron, das nur dazu dienen kann, Urteilslose irrezuführen —,
zu einem solchen Kompromiß hätte es nimmermehr kommen dürfen. Er be¬
zeichnet den Anfang zu dem Verfall der humanistischen Studien einerseits, zu
der Überbürdung andrerseits. Da der Unterricht in den klassischen Sprachen
sich durch die immer anspruchsvoller in den Vordergrund tretende Mathematik
bedroht sah, so fingen nun beide Disziplinen an, sich in unbehaglicher Weise
innerhalb ein und derselben Anstalt den Rang abzulaufen, und dazu gesellte
sich der tote Gedächtniskram der ebenfalls immer mehr Ansprüche machenden
„Realitäten."
Vollends akut aber mußten die Zustände werden, als auf den Universitäten
das Spezialistentum im philologischen Studium begann. Für die Leipziger
Universität läßt sich der Zeitpunkt, mit welchem dies geschah, genau nach-
weisen: es war, eilf Ritschl von Bonn nach Leipzig berufen wurde, wenn ich
mich recht erinnere, zu Michaeli 1865. Bis zu diesem Zeitpunkte war von
Spezialistentum in Leipzig noch keine Rede. Zwar war zu den beiden Leiter»
des philologischen Seminars, Reinhold Klotz und Anton Westerman», die
das philologische Studium durchaus in den guten, alten Traditionen der Gott¬
fried Hermannschen Schule hielte«, schon seit Ostern 1862 Georg Curtius
getreten, mit dem zum erstenmale die junge Disziplin der vergleichenden
Sprachwissenschaft in Leipzig erschien. Aber Curtius hatte sich, wie er seiner
Zeit vom Gymnasium hergekommen war, stets das wärmste Interesse für
das Gymnasium und ein lebendiges Gefühl für seine Bedürfnisse bewahrt, und
wie er bei seinen sprachwissenschaftlichen Vorlesungen immer die zukünftigen
Gymnasiallehrer im Auge hatte, so schmiegte er sich auch den beiden ältern
Leitern des Seminars in selbstlosester Weise an. Daß Zarncke daneben
den größten Teil der jungen Philologen für das germanistische Studium zu
begeistern wußte, daß Overbeck eine stattliche Schaar in seine archäologischen
Kollegien zog und namentlich in seiner anregenden Erklärung des akademischen
Gypsmuseums nicht bloß alles, was Philologie studirte, sondern anch zahlreiche
Studenten andrer Fakultäten um sich versammelte, führte noch lange zu keinem
gefährlichen Spezialismus. Im Gegenteil, was wären das für Philologen
gewesen, die nicht auch in diesen Disziplinen sich damals umgesehen hätten!
Mit Ritschls Erscheinen in Leipzig begann sofort das Spezialistentum.
Auch Ritschl sorgte ja in seiner Weise für das Gymnasium, dadurch nämlich,
daß er diejenigen, die zu ihm hielten, immer möglichst bald in möglichst gute
Stellen brachte. Ob aber damit immer dem Gymnasium gedient war? Ritschl
wollte vor allen Dingen „Schule machen." Er setzte es durch, daß an der
Leipziger Universität der Druck der Doktordissertationen eingeführt wurde. Dies
brachte eine vollständige Umwälzung in die Examina und in die ganze Art des
Studiums. Eine Doktordissertation konnte natürlich nur dann für druckfähig
erklärt werden, wenn sie „etwas neues" enthielt, Studienresultate, durch welche
„die Wissenschaft gefördert" wurde, sei es auch auf einem noch so kleinen Ge¬
biete und um noch fo wenige Schritte. Von Stund an wurde das Doktorexamen,
welches doch lediglich zu der äußern Zierde eines Titels verhilft, das Haupt¬
ziel, das Kandidatenexamen, welches zum Lehramte verhilft, das Nebenziel der
Studenten. Bis zu Ritschls Zeit war es gerade umgekehrt gewesen. Das
ganze Bestreben eines guten Studenten war dahin gegangen, sich in allen
Zweigen der Philologie und Altertumswissenschaft gründlich umzusehen und
dann ein gutes Kandidateilexamen zu machen. Waren die schriftlichen Arbeiten
beim Kandidatenexamen, die deutsche und die lateinische, oder auch uur eine von
beiden, so ausgefallen, daß sie mindestens die Zensur Ha erhielten, so galten
sie zugleich mit für das Doktorexamen, und dieses bestand dann nur noch in
einer mündlichen Prüfung, der sich der Doktorand in der Regel ein paar
Wochen mich dem Kandidatenexamen noch unterzog. Jetzt wurde alles eins den
Kopf gestellt. Um mit einer „druckfähigen" Doktordissertcition glänzen zu
können, verloren sich die jungen Leute, kaum nachdem sie ihre Studien begonnen,
in Spezialitäten oft der kleinlichsten Art, mit ganz besondrer Vorliebe in
grammatische Quisquilien. Bei wie vielen Dissertationen ließen sich die wissen¬
schaftlichen Resultate schließlich in so viele Zeilen zusammenfassen, als der
Student Semester über der Arbeit gehockt hatte! Dann erst, nachdem das
Doktorexamen bestanden war, fing man an, die Kandidatenprüfung in Er-
wügnng zu ziehen, und suchte sich nun notdürftig ans Handbüchern und
Kompendien diejenigen Kenntnisse zu verschaffen, die man sich durch fleißigen
Kollegienbesuch und umfassende Lektüre der griechischen und römischen Autoren
Hütte erwerben müssen. Auf diese Weise sind jene modernen Gymnasialphilologen
fertig geworden, die ganz genau wissen, wie oft und an welchen Stellen Cäsar
iM geschrieben hat, wo man eigentlich Ä non erwarten sollte, aber in Ver¬
legenheit kommen, wenn ihnen ein griechischer Künstlername in den Weg
läuft, die schöne Kollektaneeu über <ox o'^s und ^ ore, angelegt, aber nie¬
mals Zeit gefunden haben, sich um den Parthenon oder gar um ein griechisches
Vasenbild zu kümmern. Ich habe Gelegenheit gehabt, einen Schüler Ritschls
kennen zu lernen, der vier Jahre lang in Leipzig studiert hatte und sich
rühmte (!), in dieser ganzen Zeit nie ein archäologisches Kolleg gehört zu haben.
Es ist schlechterdings nicht zu leugnen: das heutige Gymnasium vermittelt keine
lebendige Kenntnis und demgemäß auch keine rechte Begeisterung sür das klassische
Altertum mehr, weil die Lehrer selbst nicht mehr darin zu Hause sind. Darum
verliert auch die heutige Gymnasialbildung mehr und mehr von jener nach¬
wirkender Kraft, die in früherer Zeit jeden, der ihrer einmal teilhaftig geworden,
für sein ganzes Leben über die große Masse emporhob.
Als dritten Grund für unsre jetzigen Gymnasialzustände pflegt man den
Mangel an Erfahrung bei den jüngern Lehrkräften anzuführen. Wie kommt
es aber, daß diese Ursache sich gerade gegenwärtig fühlbar machen soll? Hat
es nicht zu allen Zeiten junge und unerfahrene Lehrer gegeben? Gewiß. Aber
zu keiner Zeit haben sie so die Majorität gebildet und so viel Einfluß gewonnen,
wie in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Durch das leidige Verechtigungs-
wesen, durch das rapide Wachsen unsrer großen Städte haben sich die Gymnasien
in unerwarteter Progression ausgedehnt, sie sind hie und da zu wahren
Gymnasialkascrnen geworden. Für junge Philologen war da gute Zeit, sie
kamen sofort ins Amt, um Leute, die sich ein gutes wissenschaftliches Renommee
erworben und ein gutes Examen bestanden hatten, riß man sich förmlich. Eine
Schule, deren Kollegium 1865 aus neun Lehrern bestand, hatte 1880 deren
fünf- oder sechsundzwanzig, darunter nicht einen einzigen alten, im Amte er-
grauten Manu, sondern siehe» oder acht in mittleren Jahren stehende, die andern
lauter junge Leute, nicht mehr jung genug, und doch auch noch nicht alt genug,
UM mit der Jugend fühlen und ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten richtig be¬
urteilen zu können. Wieviel kann in solch einem jugendlichen Kollegium ge¬
sündigt werden — wenn auch immer in der besten Absicht — durch übertriebene
Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Schüler, durch eine herz- und gemüt¬
lose Schulzucht, die in jedem Jungenwitz und Jungenstreich das Schreckgespenst
untergrabener Lehrerautorität erblickt!
Merkwürdigerweise glaubt man gerade an diesem Punkte jetzt den Hebel
zur Besserung ansetzen zu müssen, ohne zu bedenken, daß Jugend und Mangel
an Erfahrung doch schließlich diejenigen Fehler sind, die mit der Zeit von selber
wegfallen. Von dem zweiten Probejahre, das man in Preußen einzuführen
gedenkt, verspreche ich mir sehr wenig. Besondre Erfahrung wird in diesem
einen Jahre auch nicht gewonnen werden, wohl aber wird die feste Anstellung
des jungen Lehrers, die er ohnehin infolge des zu leistenden Militärdienstes
spät genug erreicht, abermals dadurch um ein Jahr hinausgeschoben werden.
In der Ausdehnung unsrer Gymnasien ist offenbar gegenwärtig ein Stillstand
eingetreten. In ganz Sachsen ist augenblicklich nicht eine einzige Gymnasial¬
lehrerstelle offen! Als eine wichtige Nachricht ging vor einigen Tagen durch
die ganze sächsische Lokalpresse die Notiz, daß der Korrektor der Kreuzschule in
Dresden um seine Emeritung gebeten habe. Es ist wirklich ein Ereignis, wenn
jetzt einmal eine Stelle offen wird. Sollte sichs da nicht empfehlen, zunächst
noch eine Reihe von Jahren zu warten, in der Schule die Dinge sich ruhig
weiter entwickeln zu lassen und den Hebel zur Besserung lieber an andrer Stelle
anzusetzen? Die jungen Lehrer werden ja älter, sie heiraten, sie bekommen
Söhne — welch freundliche Aussicht! Jede Lehrerhochzeit und jede Kindtaufe
in Lehrers Hause ist ja auch ein Beitrag zur Lösung der Überbürdungssrage!
Wenn erst der eigne Junge des Lehrers, nachdem er sieben Stunden täglich
auf der Schulbank zugebracht hat, des Abends bis um elf Uhr mit blassem
Gesicht und schmalen Backen bei der Lampe über den Büchern sitzen wird —
dann wird es heißen: Ja, Bauer, das ist ganz was andres!
cum wir zunächst den Bilderschmuck für die Anim des Jnsterburger
Gymnasiums betrachten, so dürfen wir in erster Linie der Wahl
des Stoffes unsre volle Anerkennung zollen. Die klassische
Bildung spielt nnn einmal — wir gehören zu denen, die
da sagen: mit Recht — eine so hervorragende Rolle, daß
die bildliche Verkörperung der Gestalten der griechischen Heldensagen sich
von selbst ergab. Die plastische Kraft Homers, die Anschaulichkeit seiner
Schilderungen kommt der jugendlichen Phantasie ebenso sehr entgegen wie dem
Darstellungsvermögen des Künstlers. Und in der Odyssee besonders zeigt sich
diese plastische Kraft ungleich vielseitiger als in der Ilias, in welcher sich Kampf
an Kampf reiht, bei deren bildlicher Gestaltung selbst der phantasievollste
Künstler kaum Wiederholungen vermeiden könnte. Nicht so ganz können wir
uns mit der Ausführung dieses Gedankens einverstanden erklären. Einmal
widerspricht es dem innern Wesen der monumentalen Kunst, daß die Gemälde
auf Leinwand ausgeführt worden sind und nicht direkt ans die Wand. Die
leichtere Möglichkeit der technischen Herstellung verleitet den Künstler, in der
Erzielung koloristischer Effekte mit der Ölmalerei zu wetteifern, und das soll
und darf die monumentale oder dekorative Malerei nicht, da sie sich als dienendes
Glied der Architektur unterzuordnen hat. Gründe genug werden die Maler
anzuführen haben, um ihr Verfahren zu motiviren. Alle drei üben an der
Königsberger Kunstakademie eine Lehrthätigkeit aus, welche unliebsam unter¬
brochen worden wäre, wenn sie Monate lang in Jnsterburg festgehalten worden
wären. Auch arbeitet es sich im Atelier vor der Staffelei bequemer als auf
dem Gerüst. Endlich ist es für eine unruhige, an das wechselnde Treiben einer
großen Stadt gewohnte Künstlerseele nicht angenehm, sich lange Wochen hindurch
in die philiströse Stille einer Kleinstadt zu vergraben. Und doch haben Künstler
wie Wislicenus und Janssen, der eine in Goslar, der andre in Erfurt, sich diese
Entsagung auferlegt, und vielleicht ist gerade die innere Sammlung, welche sie
in einer kleinen Stadt leichter finden konnten als in der großen, ihren Werken
zu Gute gekommen. Aber die Art der Ausführung ist am Ende der kleinere
Vorwurf, welcher dem Jnsterburger Gemüldecyklus zu machen ist. Viel schwerer
wiegt der Umstand, daß derselbe nicht von einem, sondern von drei Künstlern
gemalt worden ist, und daß es ihm aus diesem Grunde an Einheitlichkeit ge-
bricht. Heydeck und Neide sind Historienmaler, Max Schmidt ein Landschafter.
Naturgemäß hat der letztere auf den vier Gemälden seines Anteils den Schwer¬
punkt ans die Landschaft gelegt und die Figuren als Staffage behandelt. Daraus
ergiebt sich zunächst ein Mißverhältnis, welches die jugendlichen Geister nicht
zu fassen und sich auch nicht zu erklären vermögen. Auf dem einen Bilde er¬
scheinen Odysseus und Eumaios als winzige Figuren wie verloren in der großen
Landschaft, auf dem andern Bilde sieht man den Helden von Ithaka in riesen¬
großer Gestalt seine immer treffenden Pfeile auf die Freier abschnellen. Aber
damit noch nicht genug. Der eine Maler hat die Kalypso blondhaarig, der
andre sie mit schwarzen Haaren dargestellt. Wenn die Jnsterburger Jungen
ebenso „helle" sind wie die Berliner, und wir zweifeln nicht daran, und wenn
sie dann hinter diesen Zwiespalt der Meinungen kommen, dann haben die Maler
ihre Partie trotz aller ihrer Kunst verloren. Die Bilder wurden in Berlin auf¬
gestellt, ehe sie nach ihrem Bestimmungsorte übergeführt wurden. Vielleicht ist
noch zur rechten Zeit zwischen den beiden Lesarten eine Übereinstimmung her¬
gestellt worden. Sie wird sich aber nicht mehr herstellen lassen zwischen der
verschiedenartigen Malweise. Während Heydeck und Neide stark in die Farbe
gegangen sind und glänzende koloristische Effekte erzielt haben, sind die Land¬
schaften Schmidts in einem erheblich matteren Tone gehalten worden. Der
letztere hat wohl Recht gehabt. Denn er hat nicht vergessen, daß seine Land¬
schaften bloße Dekorationen sind, welche sich in den architektonischen Rahmen,
in die Wand, einfügen sollen. Im übrigen hatte gerade er einen schweren
Stand, da er mit der Reminiscenz an Preller zu kämpfen hatte. Des letztern
Odysseclaudschaften sind, namentlich was ihren heroischen Charakter anlangt,
kaum noch zu übertreffen, und deshalb hat der Königsberger Maler seinen Land¬
schaften mehr den Charakter der heitern Idylle aufgeprägt. Einmal führt er
uns auf die Insel der Phciaken, dann auf die der Kalypso, dann auf das
Cyklopeneiland, hier in den schroffen, zackigen Felsen des Gestades mehr das
heroische Element der Landschaft betonend, und endlich noch Ithaka, wo Odysseus
dem Sauhirteu Eumaios begegnet. Die figürliche Staffage ist durchweg nicht
gelungen. Die Figuren sind alle zu zierlich und zimperlich, zu modern und
sentimental, zu sehr Theaterhelden und erste Liebhaberinnen. Sie sehen so aus
wie die Gestalten aus den antiken und Renaissanceromanen von Ebers, deren
Modelle sich der Leipziger Professor aus ästhetischen Theezirkeln geholt hat.
Solche mit Marzipan und Cakes gefütterte Menschen nehmen sich in den gro߬
gedachten Landschaften, welche den Charakter der griechischen und italischen
Meeresküsten widerspiegeln, recht unglücklich aus.
Heydeck hat auf zwei großen Kompositionen die Tötung der Freier durch
Odysseus und Telemach und die Wiedererkennung des Odysseus durch Penelope
und auf einer dritten kleinern, deren geringerer Umfang dadurch motivirt ist, daß
sie den Platz über einer Thür einzunehmen hat, Athene dargestellt, welche die
Eos zurückhält, um die Nacht zu verlängern. Heydeck ist kein Künstler von
genialer, frappirender Begabung, sondern ein kühl räsonnirendes Talent mit
einem stark akademischen Zuge. Seinem Pathos fehlt es an hinreißender Wärme,
und wenn ihm auch ab und zu ein Anlauf zu originellerer Charakteristik ge¬
lingt, bleibt er doch überwiegend in zwar wohlklingender, aber doch leerer
Deklamation stecken. Während in dem Kopfe des Helden von Jthccka der
listenreiche Odysseus glücklich zur Erscheinung gekommen ist, könnte Telemach
in seinem theatermäßigen Kostüm und in seiner Bewaffnung sehr gut von David
oder einem seiner Nachahmer gemalt worden sein. Erfreulicher ist die Szene
mit Penelope, namentlich ersetzt hier die Wärme und Kraft des Kolorits, was
den Figuren etwa an tieferer Charakteristik fehlt. Ebenso ungleich sind die
vier von Neide ausgeführten Gemälde, von denen zwei Thürbilder sind. Eines
der letztern verdient vor den übrigen den Vorzug: Odysseus ringt nach dem
Schiffbruch mit den aufgeregten Wogen, während im Hintergrunde der zürnende
Poseidon erscheint. Diese Komposition übertrifft alle andern an Leben und
Bewegung. Wenn sie alle auf dieser Höhe stünden, würden wir nur Worte
der Anerkennung und des Lobes haben. Indessen bleiben selbst die übrigen
Bilder Neides, die Begegnung des Odysseus mit Teiresias in der Unterwelt,
die Botschaft des Hermes an Kalypso und das Erwachen des Odysseus auf
Ithaka, hinter jenem weit zurück. Namentlich das zweite dieser Bilder ist eine
schwache Leistung, die man kaum begreift. Im Prinzip wird man sich mit der
Auffassung der drei Maler nur einverstanden erklären können. Sie haben sich
streng innerhalb einer idealen Formensprache gehalten, weil diese der heran¬
wachsenden Jugend gegenüber allein berechtigt ist. Aber die Ungleichheiten in
der Ausführung schaden dem Gesamteindruck ihrer Schöpfungen. Sie hätten
vermieden werden können oder wären doch weniger schwer ins Gewicht gefallen,
wenn die ganze Arbeit einem allein übertragen worden wäre. Etwas andres
ist es, wenn wie z. B. im Zeughause vier geschichtliche Momente aus vier
verschiednen Epochen von vier verschiednen Malern dargestellt werden. Wo
aber, wie auf jenen Odhssecbildern, dieselbe Person überall wiederkehrt, mußte
die Ausführung notgedrungen einem Künstler überlassen werden. Dann wäre
man mit einemmale allen Disharmonien aus dem Wege gegangen. Die Figuren
von Max Schmidt hätten nicht durch die Zusammenstellung mit den kräftigen
Gestalten Neides gelitten, und Heydeck hätte einen größern Erfolg erzielt, wenn
man ihn nicht mit Neide zu vergleichen brauchte. Wenn ein Künstler Gemälde
ausführt, kann eine schwächere Leistung viel leichter durchschlüpfen, als wenn
drei Künstler sich abmühen, ihr bestes zu geben. Die Landcskuustkommissiou
wird hoffentlich diese Erfahrung beherzigen und in Zukunft nicht wieder die
Einheit eines Kunstwerkes dem an und für sich ja gerechtfertigten, aber, wie der
Erfolg lehrt, nicht glücklichen Bestreben'zum Opfer bringen, ihre Aufträge auf
möglichst viele Künstler zu verteilen.
Unter den sieben großen Kompositionen für die Jnsterburger Aula ziehen
sich noch sieben kleinere Friesbilder hin, welche von Heydeck und Neide im Stile
der rotfigurigen Vasenbilder — rote Figuren ans schwarzem Grnnde — aus¬
geführt und viel lebendiger komponirt, viel einheitlicher durchgeführt sind als
die großen Gemälde,
Daß in einem größern Cyklus von Darstellungen, welche von einem Künstler
geschaffen worden sind, minder gelungene den Gesamteindruck weit weniger beein¬
trächtigen als bei einem Zusammenwirken verschiedner Kräfte, lehren am besten
die Fresken Prells im Berliner Architektenhause.
Hermann Prell, der Maler dieser Fresken, ein geborner Leipziger, ist
ein junger Mann, der die dreißig noch nicht erreicht hat und der bis zu dem
Augenblicke, wo ihm das Vertrauen der Staatsregierung jene umfassende Auf¬
gabe zuwendete, erst einige Porträts und ein Genrebild gemalt hatte. Wir sind
zwar in unsrer Zeit daran gewöhnt worden, daß monumentale Arbeiten nur
gereiften Männern übertragen werden. Indessen könnte es nichts verkehrteres
geben, als wenn diese Gewohnheit zum Gesetz erhoben würde. Darin liegt eben
eine der Hauptursachen an dem Verfall der monumentalen Kunst in unsrer Zeit,
an dem geringen Verständnis für die Stilgesetze derselben und an dem Mi߬
lingen so vieler monumentalen Arbeiten, daß die Künstlerjugcnd nicht bei Zeiten
dazu angehalten wird, sich in den monumentalen Stil hineinzugewöhnen. Zu
Cornelius' Zeiten war das anders. Junge Leute, die eben die zwanzig über¬
schritten hatten, wurden von ihm nicht nur zur Mitarbeiterschaft an seinen
Fresken herangezogen, sondern auch mit der selbständigen Lösung großer Auf¬
gaben betraut. Diese frühzeitige Gewöhnung hat es zu Wege gebracht, daß
selbst die Arbeiten von Künstlern, deren ursprüngliche Begabung eine geringe
war, von einer gewissen Größe und Erhabenheit erfüllt sind, und daß diese
Würde des hohen Stils über den Mangel an Wahrheit und echter Empfindung
hinweghilft. Wie soll aber unsern jungen Künstlern, die ihre Laufbahn mit
Porträts, mit Genrebildchen, mit Zeichnungen für illustrirte Blätter, für lyrische
Anthologien, Adressen und Festprogramme beginnen, jene Größe der Anschauung
kommen? Deshalb wollen wir nicht den Autor der Fresken im Architekten-
Hause allein für das Mißlingen mancher Partien seines Cyklus verantwortlich
machen. Ein Teil der Schuld fällt auf die Ungunst der Zeitverhältnisse, die
erst jetzt eine systematische Pflege der monumentalen Kunst ermöglicht haben.
Diejenigen Künstler, die jetzt beginnen, müssen ihre Haut zu Markte tragen und
für andre die glühenden Kastanien aus dem Feuer holen. An ihren Fehlern
werden diese erkennen, was sie zu vermeiden und wo sie zu bessern haben.
Wenn die Fürsorge der Staatsregierung nicht erlahmt, werden wir unzweifel¬
haft in absehbarer Zeit noch die Früchte dieser neuen Bestrebungen ernten. Für
jetzt ist es unsre Pflicht, das Gute anzuerkennen und auf das Verfehlte schonend
aufmerksam zu machen.
Prell war zuerst ein Schüler Theodor Grosses in Dresden gewesen und
ist dann durch die Schule des kühnen Realisten Karl Gussow gegangen, dessen
ungeschminkte, rücksichtslose Ausdrucksweise er sich anzueignen versucht hat. Der
Naturalismus eines Gussow schließt den Idealismus im landläufigen Sinne
keineswegs aus. Wir haben nicht selten mit freudigem Erstaunen bemerkt, daß
der Maler runzlige Greise, alte Frauen und die zartesten Mädchengestalten, dort
wie hier nur allein der Wahrheit folgend, mit überzeugender Naturwahrheit zu
einer glänzenden malerischen Erscheinung zu bringen weiß. Wir haben längst
aus der objektiven Betrachtung der Kunstgeschichte gelernt, daß der subjektive
Schönhcitsbcgriff, welchen uns Philosophen und Ästhetiker konstruirt haben, nur
dazu dient, uns die Erkenntnis der Wahrheit zu erschließen, und daß, wie alle
Wege nach Rom führen, auch alle Kunstrichtungen, mögen sie heißen wie sie
wollen, in sich befähigt sind, ein Höchstes zu erreichen, welches wir kurz und
bündig als die Wahrheit bezeichnen können.
So hat auch Hermann Prell, der jugendliche, noch keineswegs zur Klärung
gekommene Naturalist, in einer der elf Freske», welche den Festsaal des Ber¬
liner Architcktenhauses schmücken, ans dem von ihm eingeschlagenen Wege eine
solche Höhe erreicht, und diese Thatsache mag mit manchem Umreisen, Unfertigen
und Angehörigen versöhnen. Er hat mit Rücksicht auf den Beruf der Inhaber
des Hauses unternommen, in diesen elf Fresken die Hauptepochen der Architektur¬
geschichte zu versinnlichen, und den Gipfelpunkt seiner Darstellungen natürlich
in dem Zeitalter der Renaissance gefunden. Das dieser Glanzzeit der Künste
gewidmete Bild nimmt die Mitte der den Fenstern gegenüberliegenden Wand
ein. Vor einer weißen Marmorwand, die durch eine Bogennische gegliedert ist,
thronen die drei Schwesterkünste. In der Mitte die Architektur, ein stolzes,
königliches Weib von jungfräulicher Schönheit, in der Tracht der deutschen
Renaissance. Sie legt ihre Linke auf die Schulter der Skulptur, welche sinnend
das Haupt auf die linke Hand stützt, während die rechte den Meißel hält.
Mit ihrer rechten Hand umfaßt die Architektur schützend und liebend die
Malerei, eine holdselige, schüchtern den Blick senkende Jungfran, welcher zwei
Genien, die sich zwischen Blumen und Früchten tummeln, farbige Blüten reichen.
Auf der rechten Seite der Komposition schleppen zwei andre Genien eine hohe
Vase, ein kostbares Erzeugnis der Kunstindustrie herbei, während ein fünfter
sich anschickt, in das Becken der im Vordergründe sprudelnden Fontäne hinab¬
zusteigen. Auf der Marmorwand sitzt ein Pfau, und darüber hinweg blickt man
in einen Pinicnhain, der in die satten Tinten des Südens getaucht ist und aus
dessen dunkeln Grün weiße Marmorbilder hervorleuchten. Für die idealen Ver¬
treterinnen des Kunstschaffens hat der Maler auf dem Grunde einer getragenen
Formensprache auch einen edeln Ausdruck gefunden, ohne das Gebiet körper¬
licher Wahrscheinlichkeit zu verlassen und sich in transscendentale Wolkenregionen
zu verirren. Die drei Frauengestalten sind keine fleisch- und blutlosen Abstrakta,
keine trocknen Allegorien, sondern sie repräsentiren ein schönes, freies Menschentum
mit menschlichen Zügen in edelster Form. Die Strenge der sich rhythmisch in
pyramidaler Gestalt aufbauenden Komposition entspricht vollkommen der Würde
des monumentalen Stiles, die auf höchste Klarheit und Deutlichkeit abzielt und
entschiedene Hervorhebung der Hauptfiguren verlangt. Hat der Künstler hier
allen Gesetzen des großen Stiles in einem Maße genügt, welches unsre vollste
Bewunderung beansprucht, so hat er auf der andern Seite diese Gesetze so wenig
berücksichtigt, daß sich diese Vernachlässigung nur aus einer bestimmten Absicht
erklären läßt. Er hat geglaubt, daß es mit Rücksicht auf die Bestimmung des
Raumes als Festsaal notwendig sei, die Reihe der ernsten Darstellungen durch
einige heitere oder gar komische zu unterbreche», um dadurch ein wirksames
Gegengewicht hervorzubringen. Er hat sich aber in der Wahl seiner Mittel
geirrt. Links von jener oben beschriebenen Komposition hat er einen modernen
Architekten dargestellt, welcher, eine Cigarrette rauchend, auf einem Berg von
Plänen und Bauzeichnungen in komischer Verlegenheit sitzt, während unter ihm
Gnomen die deutsche Kaiserkrone emporheben und im Hintergründe die Ein¬
fahrtshalle eines Bahnhofsgebäudes ihr eisernes Gerippe emporstreckt. Das ist
kein Motiv für eine monumentale Darstellung, sondern höchstens für die Illu¬
stration einer Einladuugs- oder Tischkarte. Kaulbach hat uns in seineu großen
Wandgemälden im Treppenhaus? des neuen Museums in Berlin gelehrt, welche
Rollen allenfalls dem Humor neben den ernsten Darstellungen zu spielen erlaubt
ist, indem er in einem schmalen, auch in der Farbe hinter jene zurücktretenden
Friese durch das Spiel muntrer Genien die Ereignisse der Weltgeschichte glossirt
hat. Aber flüchtige Improvisationen mit scherzhaftem Anstrich gleichwertig und
mit gleichen Prätensionen neben die prächtige Allegorie der Renaissance zu stellen,
ist ein Mißgriff. Derselbe wiederholt sich noch einmal auf dem die Periode
des Pfahlbaues symbolisirenden Bilde, wo ein noch halbwilder Naturmensch
sich vor einem grotesken Meerungeheuer auf ein Gerüst gerettet hat, welches
am Ufer eines Sees aus unbehauenen Baumstämmen errichtet worden ist. Beide,
der Mensch wie das Seetier, sind lächerliche Karrikaturen, welche das monu¬
mentale Größeuverhältnis nicht vertragen können. Aber auch die übrigen Bilder
erheben sich nicht weit über die Illustration. Die griechische Baukunst ist einmal
durch Orpheus, den Vater der Harmonie, vertreten, bei dessen Saitenspiel die
Tiere des Waldes ihre Wildheit ablegen und geschäftige Genien Stein zum
Stein fügen, bis sich die schlanke Säule erhebt, das andremal durch einen
griechischen Jüngling, der im Vordergrunde einer Landschaft einen Marmorblock
bearbeitet, der vermutlich zum Bau des hinten sichtbaren Tempels dienen soll.
Den Orpheus wollen wir gelten lassen. Sollte aber die Erinnerung an die
klassischen Meisterwerke der griechischen Baukunst nicht lebendiger wachgerufen
werden können als durch ein armseliges Tempelchen und durch einen lang¬
weiligen Steinhauer, uns den auch nicht ein Abglanz hellenischer Schönheit ge-
fallen ist? Die dritte Freskenreihe, welche die Baukunst des Mittelalters ver¬
tritt, ist ungleich besser geraten. Auf dem Riugthurme einer Burg sitzt die
Patronin des Mittelalters, Maria mit dem Kinde. Dann sieht man einen
Mönch im Kreuzgange eines romanischen Klosters, welcher an einer Wandmalerei
beschäftigt ist, während der Bruder Architekt seinem Werke zuschaut, und zum
dritten ist das Rüstfest eines gothischen Domes geschildert, von dessen Höhe
herab der Baumeister, umgeben von den Würdenträgern der Kirche und seinen
Bauleuten, das Römerglas zur Weihe herabwirft. Diese Komposition steht in
ihrer lebhaften Frische und in ihrer überzeugenden Wahrheit dem Renaissanee-
bilde am nächsten.
Hinsichtlich des Kolorits hat Prell der Freskotechnik alle nur möglichen
Effekte abgezwungen. Aber trotz seiner Bemühungen hat er der Freskomalerei
den kühlen, starren Ton nicht nehmen können, der ihr nun einmal anhaftet,
wenigstens in unserm Klima, wo das Sonnenlicht selbst im Hochsommer nicht
so intensiv und gleichsam die Farbe verstärkend wirkt wie in Italien. Wenn
man dabei auf den alten Grundsatz weist, daß sich die dekorative oder monu¬
mentale Malerei durch die Bescheidenheit des Tones der Architektur unterordnen
muß, so darf man auf der andern Seite nicht vergessen, daß seit der Zeit, wo
man jenes Dogma zuerst ausstellte, auch die Architektur ganz anders in die
Farbe gegangen ist, und daß ihr die Malerei, wenn auch immer noch in gewisser
Entfernung, auf diesem Wege folgen muß. Ob das mit Hilfe der Freskotechnik
zu erreichen ist, scheint mir zweifelhaft. Eine vollkommen stichhaltige Probe
hat dagegen die Wachsmalerei abgelegt, in welcher der dritte der monumentalen
Cyklen, mit dem wir uns noch beschäftigen wollten, der Bilderschmuck des Er¬
furter Rathauses, ausgeführt ist. (Schluß folgt.)
le Nummern 43, 49 und 50 des vorigen Jahrgangs der Grenz¬
boten enthalten unter der Überschrift „Fremdwörterseuche" eine
höchst verdienstliche Abhandlung des Herrn Hera. Riegel, die ich
mit großem Interesse gelesen habe und von der nnr zu wünschen
ist, daß sie allseitig nach Gebühr gewürdigt werden möchte. Freilich,
gut Ding will Weile haben, und der Herr Verfasser ist auch nichts
weniger als hoffnungsvoll, daß es mit der Reinigung unsrer Sprache von Fremd¬
wörtern schnell von statten gehen werde, manche derselben sind uns ja auch kaum
entbehrlich. Aber wenn die öffentlichen Behörden, die Schulen u. s. w. in seinem
Sinne vorgehen, dann wird eine Wendung zum Bessern sicher nicht ausbleiben.
Ani wirksamsten würde die Sache ohne Zweifel durch die Tagespresse gefördert
werden, falls sie, die gerade durch den übermäßigen Gebrauch von Fremdwörtern
vielfach sündigt, wenigstens in ihren Leitartikeln sich einer Besserung befleißigte.
Eine Ausmerzung an jedem eingehenden Artikel vorzunehmen, ist schon wegen der
damit verbundenen Zcitversäumnis bei einem Tageblatt nicht ausführbar. Allein
die Leitartikel sollten doch wenigstens darauf angesehen werden. Man nehme die
erste beste Zeitung zur Hand und überzeuge sich, welche Anzahl von Fremdwörtern
da gebraucht werden, für welche die deutsche Sprache ungleich bessere Wörter besitzt.
Was mich aber nicht minder verdrießt und überaus unangenehm berührt,
ist die neuerdings immer mehr um sich greifende Verhunzung unsrer Sprache durch
das geschmacklose österreichische Deutsch. Ich bin weit entfernt davon, unsern
lieben Stammesgenossen in Österreich einen Vorwurf daraus zu machen, wie sie
sich ausdrücken, und sie zu Hofmeistern. Bewahre! In dein vielsprachigen Öster¬
reich bringt der tägliche Verkehr der verschiednen Völkerschaften es unvermeidlich
mit sich, daß die Ausdrucksweisen leicht ineinanderlaufen und einen Mischmasch
von Wendungen und Wortbildungen zustande bringen, der meistens recht unschön
ist. Aber wie kommen wir dazu, uns diese Verunstaltungen anzueignen? Und
merkwürdig genug: die Unsitte hat namentlich seit 1866 begonnen. Fast scheint
es, als hätte es nur des Ausschlusses Österreichs aus Deutschland bedurft, um es
in die Lage zu versetzen, letzteres zu erobern, d. h. ans sprachlichem Gebiete. Das
wäre nun allerdings keine angenehme Bescherung, und die Herren Gelehrten
diesseits der österreichischen Grenzpfähle werden gut thun, der Sache ihre Auf¬
merksamkeit zu schenken. Ernsthaft gesprochen: Welcher Zeitungsleser stolpert nicht
wenigstens einmal täglich über einen Ausgleich, ein Wort, das 1867 die
Grundlage für die Verhandlungen zwischen Cis- und Transleithanien bezeichnen
sollte, und das selbst unsre Zeitungsschreiber damals nicht ohne Anführungszeichen
wiedergaben? Heute fällt ihnen bei dem Worte nichts mehr auf. Wir haben keine
Ausgleichung von Ungleichheiten mehr, sondern nur noch den „Ausgleich." Wir
lächelten früher, wenn uns in österreichischen Bädern der Arzt erklärte, es sei nicht
angezeigt, diese oder jene Speise zu essen, denn wir meinten, der Mann thue
gescheiter zu sagen, es sei nicht rätlich, zweckmäßig oder empfehlenswert. Heute
geht es ohne „angezeigt" bei uus schon gar nicht mehr, wenn damit auch nie der
landläufige Begriff des bekannt gemachten verstanden sein soll. Eine Rechnung
pflegten wir sonst zu bezahlen, jetzt wird sie beglichen; Schwierigkeiten wurden
gehoben oder beseitigt, jetzt werden sie behoben,*) und Gefahren wollen wir nicht
vermeiden, sondern hintanhalten — mir von allen geschmacklosen Wörtern der
geschmacklosesten eins. Sollten wir das Tabaksmonopol noch erhalten, so würden
wir natürlich auch den Verschleiß in den Kauf nehmen müssen, und das gar mit
amtlichen Stempel! Ohne diesbezüglich können wirs auch nicht mehr thun.
Und wie gefallen Ihnen Wörter wie: Unbeibringlichkeit, Gepflogenheit, der
ergebenst Gefertigte, im vorhinein und andres?
Diese Proben werden genügen, um darzuthun, wie wünschenswert es ist, der
Verwüstung Einhalt zu thun, vou welcher unsre Sprache von Osten her bedroht ist.
Die verehrliche Redaktion würde sich ein Verdienst erwerben, wenn sie dem Gegen¬
stande einige Teilnahme und Raum zur Erörterung gönnte. Verhehlen will ich
schließlich nicht, daß mir die hannoversche Eigentümlichkeit bislang anstatt bisher
oder bisjetzt ebensowenig eine berechtigte zu sein scheint.
cum der fremde Maler im frischen Hering nicht lebhaft und
munter wurde, so war es nicht die Schuld der Frau Zey-
sing, Sie gab sich alle mögliche Mühe mit ihm, machte ihn
auf die Vergnügungen aufmerksam, welche Scholldorf nebst
Umgegend böten, wollte ihn im Kegelklub einführen, der die
Honoratioren in sich vereinigte, den Pfarrer, den Apotheker, den Küster, den
Materialwaarenhändler und andre an der Spitze der öffentlichen Angelegen¬
heiten stehende Notabilitäten, wollte ihn sogar nach Fischbeck fahren lassen, ob¬
wohl dieser Ort ihr ein Pfahl im Fleische war, nur um ihn zu amüsiren. Aber
sie machte mit ihm eine ahnliche Erfahrung wie Madame de Pompadour mit
dem schönen und majestätischen Ludwig XV: er erwies sich als „unamüsirbar,"
Er ging zwar freundlich, aber gelassen seines stillen Weges. Er verschmähte den
Kegelklub und den Frühschoppen der Honoratioren, ging weder nach Fischbeck
noch zu dem berühmten Scholldorfer Tempel, einem Kaffeehause auf halbem Wege
uach Fischbeck, wo jeden Sonntag Nachmittag eine Musikbande vor ausgewählter
Zuhörerschaft aus der ganzen Nachbarschaft konzertirte.
Er strich im Wald und an der Küste hin mit seinem Skizzenbuche und,
die Wahrheit zu gestehen, er lag gar manche Stunde, welche ein fleißiger Künstler
mit Nutzen für seine Schöpfungen verbracht haben würde, unter einem Baume
und starrte mit melancholischen Augen an den Himmel und auf das Meer,
wanderte auch gar oft stundenlang dahin, ohne sich im mindesten um die Punkte
zu bekümmern, von denen ans er eine günstige Zusammenstellung von grauen
Stämmen und sonnigem Grün oder von weißen Felsen und blauen Fluten hätte
studiren können.
So ging er auch eines Abends, den Wanderstab nachdenklich durch die
Luft schwingend, einen Pfad in weiter Entfernung von Scholldorf durch dichten
Wald, ohne zu wissen und ohne sich darum zu sorgen, wohin der Weg führte,
als es ihm vorkam, als höre er einen Hilferuf. Er blieb stehen, damit das
Geräusch seiner Schritte im trocknen Laube nicht den fernen Schall übertöne,
und hörte nun deutlich noch einmal und wieder ein Helles Schreien, wie von
weiblicher Stimme und mit ängstlichem Tone. Er beschleunigte seine Schritte,
so sehr er konnte, in der Richtung dieses Hilferufs und sah, als er im vollen
Lauf durch ein dichtes Gebüsch hervorstürzte, auf einem Wege, der tief ein¬
geschnitten eine Schlucht verfolgte, zwei Fischermädchen vor sich, von denen die
eine mit einem Bauernburschen rang, der unter Lachen und Schelten sich bemühte,
sie zu küssen, während das andre Mädchen sich vergeblich anstrengte, die Ge¬
fährtin zu befreien.
Er nahm sich nicht die Zeit, das Aussehen der Streitenden näher zu be¬
trachten, obwohl es ihm auf den ersten Blick auffiel, wie hübsch die Mädchen
aussahen, von denen das eine blond, das andre schwarz war, sondern er folgte
dem Antriebe einer ritterlichen und stets zur Hilfe des Unterdrückten bereiten
Gesinnung, indem er mit lautem Rufe und drohend erhobenem Stäbe in die
Schlucht hinabsprang und auf die Gruppe zulief.
Der Bauernbursch schien nicht übel Lust zu haben, das Terrain zu be¬
haupten, und setzte sich gegen den neuen Ankömmling in trotzige Positur, aber
als der Maler sah, daß jener den Worten nicht wich, gebrauchte er den Stab
mit einer Behendigkeit und Wucht, die auf athletische Kraft und entschlossnen
Sinu schließen ließen und jedenfalls dem Trotzigen so sehr imponirten, daß er
sich schleunigst und mit zusammengebissenen Zähnen auf die schmählichste Flucht
begab.
Die Mädchen standen während dessen mit glühenden Wangen und in großer
Verlegenheit da und waren einige Augenblicke lang, als ihr hilfreicher Ritter
sich zu ihnen wandte, in einem Gewirr von Dankgefühl und Beschämung be¬
fangen, welches sie verhinderte, passende Worte zu finden. Diese kurze Pause
ging dem Maler nicht ungenutzt verloren. Er sah mit Überraschung ein paar
weibliche Wesen vor sich, welche wohl imstande gewesen wären, Ritterlichkeit
auch in der Brust eines weniger kühn angelegten Mannes zu erwecken, und es
mischte sich in seine Bewunderung ihrer Schönheit auch noch Verwunderung
über das Aussehen der beiden, insofern dieses einen rätselhaften Gegensatz in
sich zu tragen schien.
Zunächst bildeten schon die Mädchen unter sich einen dem Künstlerauge
interessanten Kontrast, indem jedes von ihnen ein Musterbild des ihm eignen
Typus genannt werden konnte. Hier der Typus der Blondine, dort der der schwarzen
Schönheit. Die Blondine glich einer aufblühenden Centifolie an Pracht der
Farben und gesunder Fülle, ihre hellen, blauen Augen und ihr prächtiges,
glänzendes Haar waren lieblich anzusehen. Das andre Fischermädchen dagegen
trug einen so aristokratischen Zug, und ihr Gesicht hatte einen so ausgeprägt
geistigen Charakter, daß man kaum wagen mochte, ihre tiefschwarzen Augen und
die sonstigen Reize ihrer Erscheinung so unbefangen zu prüfen wie bei ihrer
Gefährtin, Es war gar nicht zu begreifen, daß dies eine Fischerin sein sollte,
und wenn der Maler schon bei Betrachtung der Blondine erstaunt gewesen war,
eine so schöne Hautfarbe bei einem Mädchen zu sehen, welches doch seinem
Stande und Berufe nach niedrige Arbeiten versehen und an der Sonne sitzend
Netze flicken mußte, so überzeugte ihn die königliche Gestalt und Haltung der
andern, ihr zarter Teint und die längliche Form ihrer Hände vollends, daß er
hier in einem rätselhaften Abenteuer stehe und daß dies unmöglich Fischermädchen
sein könnten.
Von dieser Beobachtung erfüllt, konnte auch er nicht gleich Worte finden
und stand der Schwarzen einige Sekunden stumm gegenüber, als sie mit An¬
stand und Ton der besten Gesellschaft ihm ihren Dank für seine schnelle Hilfe
aussprach. Es lag eine solche Grazie in ihrer Art und Weise, der stolze Mund
hatte einen so freundlichen Ausdruck dabei, daß die kleine Danksagung einen un¬
widerstehlich gewinnenden Eindruck machte.
Auch die Blondine hatte inzwischen ihre Sprache wiedergefunden und klagte
mit lauten: Schelten und ärgerlichem Lachen über die Frechheit jenes Menschen,
während sie zugleich ihr Kleid zurechtzupfte, welches im Ringkampfe gelitten zu
haben schien.
Beruhige dich nur, Millicent, sagte ihr die Gefährtin mit einem Lächeln,
welches Zeugnis davon gab, daß sie ihrerseits ihren Gleichmut völlig wieder¬
gewonnen hatte, es ist ja noch leidlich abgelaufen.
Du hast gut reden, entgegnete die Blonde, du standest in Sicherheit dabei,
aber mich hat er angepackt, und mit welchen Fäusten!
Es bleibt doch immer ein Kompliment für dich, daß er es gerade ans dich
abgesehen hatte, sagte die andre in schalkhaftem Übermut.
Da können wir uns beide geschmeichelt fühlen, versetzte Millieent. Bei dir
hat er doch wohl das edle Blut durch den wollenen Rock hindurchschimmern
sehen, und die Ehrfurcht hat ihn abgehalten, den Sproß von sechzehn Ahnen
wie eine Viehmagd zu behandeln.
Wir hatten uns einen Scherz ausgedacht, und unsre Verkleidung war dazu
nötig, sagte die schwarzäugige erklärend zu dem Maler, da wollen wir nun
auch die Folgen mit Humor ertragen. Haben Sie nochmals herzlichen Dank,
mein Herr, wir begeben uns jetzt auf den Heimweg.
Wenn Sie gestatten, erwiederte er, so begleite ich Sie. Wir wissen nicht,
ob der freche Bursch nicht wieder umkehrt.
Die Mädchen sahen einander fragend an, und dann erklärte die schwarz¬
äugige, welcher das entscheidende Wort zu gebühren schien, sie würden eine
fernere Begleitung gern einnehmen, vorausgesetzt, daß sie dem Herrn damit keine
Plage bereiteten.
Das war nun offenbar gar nicht der Fall, sondern es machte dem Herrn
allem Anschein nach Vergnügen, seine Gefälligkeit noch weiter auszudehnen. So
gingen sie denn mit einander.
Die Mädchen waren, nachdem sie den Schrecken des Überfalles vergessen
hatten, von lustiger, beinahe übermütiger Laune beseelt, die much ansteckend
auf den Maler wirkte. Besonders that sich die hübsche Blondine in Lachen und
Scherzen hervor, während die dunkle Schöne eine mehr gesetzte Haltung be¬
wahrte und immer die Fürstin ans der Maskerade blieb.
So verkürzte sich der gemeinsame Weg dem Maler in wunderbarer Weise,
und er konnte, als der Thurm des Schlosses Eichhansen vor seinem Blick auf¬
tauchte, indem der Wald sich lichtete, kaum glauben, daß die weite Entfernung,
die ihn von diesem Punkte getrennt hatte, schon zurückgelegt sei.
Die Sonne war im Untergehen, als die drei fröhlichen Wanderer aus
dem Walde hervortraten und sich den, Schlosse näherten, welches, wie der Maler
nun wohl merkte, der Wohnsitz seiner Begleiterinnen war, und mit erhöhtem
Interesse betrachtete er den altertümlichen Bau, der ihm bereits zum Gegenstande
einer Studie gedient hatte.
Das Schloß mußte wohl aus einer Zeit häufiger Kämpfe stammen und
war gewiß einst als Festung von Bedeutung gewesen. Sein Anblick war düster
und drohend, nur wenige schmale Fenster, Schießscharten ähnlich, waren von
dieser Seite aus zu erblicken, und die Mauern stiegen steil und dunkel von der
kleinen Erhöhung empor, auf welcher sie erbaut waren. Den Mittelpunkt des
Ganzen bildete ein schwerfälliger viereckiger Thurm mit Zinnen, auf dessen obern
Ecken vier Kuppelthürmchen, in der Form von Pfefferbüchsen, angeklebt waren.
Von diesen Thürmchen aus mochten ehedem Büchsenschützen oder wohl gar noch
Bogenschützen auf anstürmende Feinde geschossen haben. Jetzt waren sie von
unzähligen schwarzen Vögeln umkreist, deren Geschrei weithin drang, und deren
Anwesenheit dafür bürgte, daß kriegerischer Lärm längst verhallt war. Ähnliche
Thürmchen von ehemals fortifikatorischem Charakter befanden sich an mehreren
Punkten der hohen, starken, mit Zinnen versehenen Mauern, welche von dieser
Seite ans alle sonstigen Baulichkeiten, mit Ausnahme der Dächer, dem Auge
entzogen. Nur noch ein mächtiger Thurm mit spitzem Dach trat auf der linken
Seite ans der UmWallung hervor. Er war gewiß früher ein wichtiger Teil
der Werke gewesen und sah gewaltig schwer und dick aus, doch zeigten die im
obersten Stock befindlichen Fenster mit hellen Gardinen, daß er jetzt von Menschen
bewohnt war, welche dem Frieden vertrauten.
Zur rechten Hand ging von dem Schlosse eine hohe Mauer aus, über
welche die Kronen der Bäume hinwcgragtcn und welche, wie es schien, einen
Park einschloß. Sie ward, einige hundert Schritte vom Schloß entfernt, von
einem Häuschen unterbrochen, einem Keinen freundlichen, zweistöckigen Gebäude
mit grünen Fensterladen und rotem Ziegeldach, Während die Mauer schwarz
und braun dastand, an manchen Stellen zerfallen, sodaß große Bruchsteine an
ihrem Fuß umherlagen, während dicker Epheu in schweren Guirlanden an ihr
herunterhing und allerhand andres Rankengewächs ungehindert an ihr empor¬
kletterte, war dies Häuschen schmuck und neu und glänzend, dem finstern Mauer¬
werk eingefügt, wie ein funkelnder Stein einem vom Alter geschwärzten Ringe,
Der Weg führte, als man näher kam, an einem gänzlich verfallenen und
von Grün überwucherten Bauwerk vorbei, dessen ursprüngliche Bestimmung nicht
leicht zu erkennen war, das aber wohl auch in früherer Zeit kriegerischen Zwecken
gedient hatte. Ihm gegenüber zur andern Seite des Weges war ein kleiner
Teich von klarem, doch beinahe schwarz aussehenden Wasser, Die hohen Linden¬
bäume in seiner Nähe und einige gewaltige Steinblöcke an seinem Rande spiegelten
sich im Wasser mit merkwürdiger Deutlichkeit ab. Es war ein düstrer Fleck,
obwohl so nahe dem Schlosse, und man konnte sich an dieser Stelle weit ent¬
fernt von der Welt, am Schauplatz schlimmer Gewaltthaten wähnen.
Hier blieb die schwarzäugige Dame stehen und verabschiedete den schützenden
Begleiter unter wiederholten Daukesbezeugungen, Der Weg, sagte sie, sei nun
nicht mehr zu verfehlen und erschiene ihr durchaus sicher. So dürfe sie denn die Güte
des Fremden nicht mehr in Anspruch nehmen. Doch wollte sie zuvor seinen
Namen wissen, um ihn ihrem dankbaren Gedächtnis einzuprägen.
Ich heiße Eberhardt Eschenburg und bin Maler, sagte er. Es würde mich
freuen, auch Ihren Namen zu erfahren, da mein Gedächtnis nicht minder
dankbar diese Stunde bewahren wird.
Ich heiße Dorothea Sextus und bin Fischerin, versetzte sie, und mit einen:
Knix, der den ländlichen Manieren nachgebildet war, wünschte sie guten Abend
und ging weiter, Ihre blonde Freundin ahmte ihr genau nach und folgte ihr,
Eberhardt blickte den beiden anziehenden Gestalten nach, bis sie in der
Thür des kleinen freundlichen Hauses verschwanden, und bemerkte, daß die Blonde
noch einmal stehen blieb und sich umblickte. Er stieß einen kleinen Seufzer aus
und sah träumerisch auf das glänzende dunkle Wasser, worin sich die langsam
ziehenden, vom Abendrot gefärbten Wolken malten.
Dann schweifte sein Blick über die trotzigen Thürme, die schönen Bäume
und die grauen Mauern des alten stolzen Schlosses hin. Dieser Besitz und
die nähere umgebende Landschaft trugen ein besonders aristokratisches Gepräge,
Da war nichts, dem man ansah, es sei so gemacht und eingerichtet worden,
sondern es schien alles von Ewigkeit her so gewesen zu sein. Man konnte sich
die Zeit nicht vorstellen, wo dies neu gewesen war, wo Arbeiter auf Gerüsten
herumgeklettert wären oder wo Gärtner diese Bäume gepflanzt hätten. Es sah
aus, als sei es so alt wie die Erde und mit dieser zugleich geschaffen, um ein
Geschlecht zu beherbergen, welches über das Land herrschen sollte.
Eberhardt kreuzte die Arme über der Brust und betrachtete lange sinnend
die Thurmziunen, Seine Gestalt richtete sich höher auf, und ein Blitz zuckte
unter den zusammengezogenen Brauen hervor, wie aus einer unzufriedenen und
stolzen Seele hervorleuchtend.
Aber dieser Ausdruck verlor sich bald wieder aus seinem Gesicht. Er zog
an einem schmalen Bändchen eine große goldene Kapsel aus der^Bluse hervor
und öffnete sie. Es war in ihr ein zartes, wunderbar fein gemaltes Bildnis
verborgen: ein weiblicher Kopf voll Lieblichkeit und Anmut, von goldnen Locken
umwallt und mit sanften, blauen Augen.
Er sah das Bildnis liebend an, drückte einen Kuß darauf und verbarg es
wieder in seiner Kleidung.
Dann trat er rüstigen Schrittes den Heimweg an.
Als Eberhardt zu dem bescheidnen Gasthofe zurückkehrte, der zur Zeit sein
Heim war, fiel ihm eine ungewohnte Lebendigkeit der Dorfgassen auf. Gruppen
von Fischern und Fischerweibern standen vor den Thüren, besprachen miteinander
irgend ein wichtiges Ereignis und betrachteten ihn, als er grüßend vorbeischritt,
mit neugierigen Blicken, wahrend sie zugleich ihr eifriges Geschwätz unterbrachen.
Es war dies umso auffallender, als es bereits spät am Abend und beinahe
ganz dunkel war, eine Tageszeit, zu welcher für gewöhnlich der müde Schiffer
und sein Weib, tief in Stroh und Federn versunken, dem Gott des Schlafes
huldigten und kein Lämpchen mehr die einzelnen Liebespaare verräterisch be¬
leuchtete, die etwa, durch süße Sehnsucht zu einander gelockt, auf deu Bänken
vor den Häusern und im Schatten der Hecken heimliche Zwiesprcich hielten.
Als er endlich vor dem Wirtshause selbst ankam, fand er dessen kleine
Fenster mehr als sonst erleuchtet, sogar den engen Flur erhellt und dort
die Familie, um einige Nachbarn und Nachbarinnen vermehrt, in aufgeregter
Stimmung bei einander. Bei seinem Eintritt schwieg auch hier die Unterhaltung,
doch als er lächelnd fragte, was denn der Grund sei, daß man noch munter
sei und ihn so befremdlich ansehe, trat die wackre Wirtin mit geheimnisvoll
wichtiger Miene auf ihn zu und teilte ihm mit, daß während seiner Abwesenheit
ein schwarzer Mann eingetroffen sei, welcher ihn besuchen wolle, lind verlangt
habe, daß man ihn auf des Herrn Eschenburg Zimmer führe.
Wenn die Wirtin erwartet hatte, daß diese Nachricht großen Eindruck auf
ihren Gast machen und ihn in ähnlicher Weise erschüttern werde, wie sie selbst
mit ihrer Familie und Freundschaft durch das wunderbare Ereignis erschüttert
worden war, so hatte sie sich nicht getäuscht. Denn Eberhardt verfärbte sich
bei ihren Worten, und seinen Lippen entfuhr ein unwillkürlicher Ausruf des
Erschreckens. Dann aber ließ er die Frau stehen und stürmte ohne weitere
Fragen und Erkundigungen hinauf in sein Zimmer.
Andrew! rief er in schmerzlicher Bewegung, sobald er die Thür geöffnet
und einen Blick hineingeworfen hatte, Andrew, du bist es? Was ist der Grund?
Die mächtige Gestalt des schwarzen Mannes erhob sich von dem Stuhl
am Tische, wo sie über einem Schriftstück zusammengebückt gesessen hatte, und
schien nun das enge kajütenähnliche Gemach beinahe auszufüllen. Mit einem
tieftraurigen Gesicht trat der Neger auf Eberhardt zu, ergriff dessen ihm ent¬
gegengestreckte Hand und drückte sie stumm.
Was ist, Andrew? fragte Eberhardt noch einmal. Daß du hier bist, kann
nur eine einzige Ursache haben. Es muß ein großes Unglück geschehen sein —
meine Mutter...
Mein lieber junger Herr, sagte der Schwarze mit tiefer, umschleierter
Stimme, meine gütige Lady ist hinübergegangen zu den Engeln, deren Gesell¬
schaft die ihrer allein würdige ist.
Eberhardt floh hinaus ins Freie, um mit sich und seinem Schmerze allein zu sein.
Es litt ihn nicht in der schwülen Enge des Zimmers, und selbst die Gegenwart
des alten treuen Dieners war ihm unerträglich, als er fassungslos den Sinn
der erschütternden Botschaft zu verstehen suchte.
Über dem weiten Meere, welches seiue Wogen brausend zum Gestade wälzte,
unermüdlich und in ewigem Gleichmaß, wölbte sich dunkel die Himmelsdecke,
zerrissene Wolkenmassen flogen an dem Monde vorüber, der sein kaltes Licht
herabgoß, und der Wind jagte den weißen Sand vor dem einsamen Wandrer
her, als er ruhelos am Strande dahin schritt, verloren in die schmerzliche
Erregung seines Innern. Die tröstliche Melodie des bewegten Wassers, welche
die Ahnung der Unendlichkeit mehr als irgend eine andre Musik der Menschen¬
brust verständlich macht, das Licht der ewigen Sterne, welches beredter als
jede andre Predigt die Hoffnung einer seligen Unsterblichkeit erweckt, wollten
wohl seine tieferschütterte Seele erheben, aber immer von neuem sank sie in
Trauer zurück.
Fern von dem Orte, wo er seine Kindheit und Jugend verlebt hatte, mußte
er erfahren, daß die Mutter nicht mehr unter den Lebenden weile, sie, welche
auch in der Ferne seinem Herzen das Gefühl, eine Heimat zu haben, lebendig
erhalten hatte. Das Bewußtsein der Vereinsamung legte sich schwer auf sein
Gemüt, er fühlte sich aus dem Boden herausgerissen, wo seine teuersten
Erinnerungen wurzelten, und mit einem Schlage erhielt das Leben einen neuen
und fremden Anblick in seinen Augen.
Gehörten wirklich jene glücklichen Stunden, gehörte jenes sanfte Lächeln,
gehörte der beruhigende Blick jener heiligen Augen wirklich der Vergangenheit
an? War es nur zu denken, daß das Schicksal eine undurchdringliche Scheide¬
wand zwischen zwei Menschen errichtet hatte, die sich so nahe gestanden? Es
war ein Gedanke, der nicht die Macht zu haben schien, in den Verstand einzu¬
dringen. Die Empfindung sträubte sich gegen die Wahrheit einer so schmerz¬
lichen Botschaft,
Er blickte schwermutsvoll zum Himmel auf, wo in unhörbnrem Zuge die
Wolken sich drängten, den silbernen Glanz des Nachtgestirns bald verhüllend
und bald entschleiernd, und indem er sich bewußt ward, daß dies dieselbe Luft
sei, die das weiße Haus am Hudson umströmte, und dasselbe Licht, das auf ihn
und die Mutter einst herabschien in den stillen Garten, quollen Thränen aus
seinen Augen.
Vor seiner Erinnerung tauchte das liebliche gütige Antlitz in seiner vollen
mütterlichen Anmut auf, das den Knaben von den ersten Tagen seines Denkens
und Fühlens an geleitet hatte, als ein irdisches Abbild jener ewigen und gött¬
lichen Liebe, die unsichtbar das menschliche Herz zum Schönen und Guten zieht.
Alle jene zahllosen Beweise einer Freundlichkeit und Geduld, die nie müde ward,
und einer Wahrhaftigkeit, die krystallhell und unerschütterlich der kindlichen Seele
vorleuchtete, stellten sich, wie in einem einzigen lichten Punkte vereinigt, vor
seinem innern Schauen auf und bewegten jetzt, wo sie wie durch einen dunkeln
Abgrund entfernt erschienen, das Gemüt des Sohnes mit unendlich ver¬
mehrter Kraft.
Ein vorwurfsvoller Gedanke drang schneidend durch sein Herz. Hatte er
nicht lieblos gehandelt, daß er seine Mutter allein und verlassen hatte sterben
lassen? Aber freilich, er hatte ja nicht gewußt, daß es so spät sei, daß ihr
Lebensabend sich neige. Nicht gewußt! Und würde sie, die Entschlafene, es
wohl auch nicht gewußt haben, wenn ihm, dem Sohne, der Tod nahe gewesen
wäre! O gewiß, sie hätte es gewußt! Die Mutterliebe wäre durch keine schein¬
bare Gesundheit und Heiterkeit, durch keine Betrachtung kalter Vernunft zu be¬
trügen gewesen! War doch keine Not je an ihn herangetreten, so lange er bei
ihr weilte, von der sie nicht genaue Kenntnis gehabt hätte. Aber er hatte auf
die Stimme des Verstandes, vielleicht des Ehrgeizes, gehört, hatte dem Drängen
eines unruhigen Geistes nachgegeben, der die Stille des Shakerdorfes beengend
fand und nach dem Kampfe Enropas sich sehnte. Wenn seine Liebe zum Vater¬
lande so heiß war, durfte er die Liebe zu ihr hintansetzen, die ihm alles war
und selbst so einsam lebte, in der Fremde, mit niemand zur Seite, der ihr
so nahe stand als ihr Sohn? Waren sie nicht treue Genossen gewesen, Mutter
und Sohn, seit jener längst verflossnen Zeit, wo er als Kind freilich in glück¬
licher Unwissenheit, hineinlächelte in die trübe verhängte Zukunft, sie aber in
tiefster Seele verwundet ward durch den schärfsten Stahl mit vergifteter Spitze?
Mit solchen Gedanken und mit Anklagen gegen sich selbst, die in seiner tiefen
Liebe zu der Mutter ihren Ursprung hatten, irrte Eberhardt lange am öden
Strande umher, bis endlich doch auf sein peinvoll erregtes Gemüt die gewaltige
Natur, die ihn umgab, ihre mächtige Wirkung übte und ihr stillender Einfluß
die Schärfe des ersten Schmerzes abstumpfte und den heftigen Kummer in eine
zwar durchdringende, aber doch stille Trauer aufzulösen anfing.
Erzähle mir, sagte Eberhardt, nachdem er in sein kajütenähnliches Zimmer
zurückgekehrt war, zu dein alten Diener, erzähle mir von ihren letzten Lebens¬
tagen. Wie kam es, daß ihre Krankheit so schnelle Fortschritte machte? O,
wenn ich das Hütte ahnen können! Ich war des Glaubens, daß sie friedlich
und glücklich lebe, daß ihre Gesundheit sich immer mehr bessere! Ging es ihr
doch so gut, als ich sie verließ! War sie doch so ruhig und heiter! Wenn ich
hätte ahnen können, daß das Ende ihres Lebens so nahe sei, so wäre ich längst
zu ihr zurückgekehrt. Und ihre Briefe klangen so beruhigend.
Niemand von uns hat erwartet, daß es so kommen würde, entgegnete Andrew.
Wir hörten bis vor kurzem niemals eine Klage von ihr, und ihre Miene ver¬
kündigte uns kein Unheil. Die Lady war wohl immer bestrebt, ihrer Umgebung
Sorge zu ersparen. Tag sür Tag war sie im Bethause, Abend sür Abend saß
sie mit der Oberin oder mit der Schwester Elisabeth auf dem Balkon in ihrer
Lieblingsecke am Platanenbaum, sah dem Untergange der Sonne zu und sprach
über die Angelegenheiten der Gemeinde, über das Gedeihen der Fluren, über
die Güte Gottes, vor allem aber von Ihnen, junger Herr. Wir verfolgten
miteinander in den Zeitungen und in Ihren Briefen den grausamen Krieg, in
welchem Sie kämpften, und wir freuten uns, als er endlich vorüber war, und als
Sie uns mitteilten, daß nun Friede sei, und daß Sie nur noch eine Studienreise
nach Italien machen wollten, ehe Sie zu uns zurückkehrten. Aber ihre Krankheit
mußte wohl ihr Inneres verzehrt haben, ohne daß wir es bemerkten, denn vor
wenig Wochen veränderte sich plötzlich ihr Aussehen, und der Bau ihres zarten
Körpers verfiel nun so schnell, daß Sie wohl nicht Zeit gehabt hätten, noch vor
ihrem Hinscheiden einzutreffen. Aber sie litt auch nicht, daß wir Ihnen schrieben.
Ich weiß, daß meine Stunde schnell herannaht, sagte sie, und ich will meinem
Sohne nicht mehr die Angst und Aufregung einer Reise verursachen, die doch zu
spät käme.
Liebe, gütige Mutter! rief der junge Mann, du dachtest dein Leben lang
nur an andre, und wie hast gerade du von andern leiden müssen! Wenn es
mir doch nur vergönnt gewesen wäre, die letzten Stunden bei dir zu sein, und
den Segen deiner sanften Hand zu deinen Füßen zu empfangen! Niemals wäre
ich in diesen Krieg gezogen, wenn ich gedacht hätte, daß ich dich nicht wieder¬
sehen würde. Vielleicht hat die Sorge um mich noch dein Ende beschleunigt!
O lieber Herr, sagte der Schwarze, Sie wissen nicht, wie stolz sie darauf
war, daß Sie für Ihr Vaterland kämpften.
War sie das? War sie das wirlich?
Sie war sehr stolz darauf, und die Befriedigung darüber war stärker als
ihre Sorge. Ich habe mein Vaterland verlassen, und sein Vater war es, der
mich dazu zwang. Aber mein Sohn gehört doch meinem geliebten Deutschland
an, und er kämpft für dessen Ehre, so sagte sie mir eines Tages mit einem
freudigen Aufleuchten ihres milden Antlitzes, als wir lange Zeit über der tele¬
graphischen Nachricht von einer großen Schlacht gebrütet hatten und noch keinen
Brief von Ihnen erwarten konnten.
Was sagte sie noch von meinem Vater? fragte Eberhardt mit gerunzelten
Brauen. Hat sie nicht eine Äußerung gethan, die darauf schließen läßt, daß sie
ihre Ansicht geändert hat? Daß sie nun meinem gerechten Verlangen keinen
Widerstand mehr entgegensetzen wollte? Hat sie nicht bei ihren: Abscheiden
wenigstens als letzten Wunsch hinterlassen, daß ich nun nicht mehr eine Rücksicht
walten lassen soll, die während ihres Lebens sich wohl erklären ließ, nunmehr
aber hinfällig ist?
Der Schwarze schüttelte den Kopf.
Lieber junger Herr, sagte er, die Lady war ganz Güte und Liebe, und
eine Änderung ihrer Ansichten habe ich bei ihr nie bemerkt.
Eberhardt hob die Augen empor und seufzte tief.
, Im Gegenteil bekräftigte sie in der Stunde ihres Todes noch den Wunsch,
den sie in ihrem Leben Ihnen gegenüber aussprach. Sie beauftragte mich,
Ihnen zu sagen, Sie sollten des Versprechens gedenken, das Sie ihr hinsichtlich
der Dokumente gegeben hätten. Ich habe diese Dokumente und die übrigen
Papiere, welche die Hinterlassenschaft meiner Lady bilden, in dieser Kassette
mitgebracht.
Mit diesen Worten erhob er sich und holte den Kasten von dunkelm Holz
mit Silberbeschlag herbei, der ihm in dem Hause an Hudsonfluß übergeben
worden war.
Eberhardt sah die wohlbekannte Kassette vor sich auf dem Tische stehen,
und von neuem drängten sich Thränen in seine Augen. Du altes geheimnis¬
volles Kästchen meiner Kindheit, sagte er, wie oft habe ich dich als Knabe
mit Neugierde betrachtet, wie oft die liebe Mutter gebeten, mir deinen Schlüssel
anzuvertrauen. Du standest als Reliquie aus einer alten Welt gar wunderlich
und zauberisch für meine Augen in dem weißen Tannenschrcmk des weißen
Zimmers in der neuen Welt, und in deinem Anblick waren für mich Aladins
Wunderhöhle und der Zauberberg des Orients enthalten. Nun habe ich dich
in meinen Händen, doch du bist für mich wiederum ein verzaubertes Schloß.
In deinen Wänden birgst du die kostbaren Dokumente, die meiner Mutter Ehre
und meine eigne Stellung erheben könnten, und ich soll sie nicht an das Tages¬
licht bringen, auf immer sollen sie verborgen bleiben, ungekmmt und verachtet
sollen deine aufopfernde Liebe, o Mutter, und unser beider Namen bleiben?
In ihren letzten Augenblicken, sagte der schwarze Diener, nahm sie das
Bildnis aus der Kassette und küßte es und verlangte, daß es ihr in das Grab
mitgegeben wurde. Ihre Liebe zu dem Verstorbnen überwog alle ihre übrigen
Gefühle.
Auch die zu ihrem Sohne? fragte Eberhardt kopfschüttelnd.
Die Lady mochte Wohl der Meinung sein, daß es nicht von Wert wäre,
welchen Namen ihr Sohn führe, daß aber sichere Schande den Namen und die
Familie des Mannes treffen würde, welchen sie liebte, wenn diese Dokumente
zur Giltigkeit gebracht wurden. Sie hatte sich in die erhabene Denknngsweise
der frommen Shaker eingelebt und hatte gelernt, äußern Tand zu verachten.
Der alte Neger heftete bei diesen Worten einen ernsten Blick ans Eber-
hardts Gesicht, und seine Haltung wie seine Art zu sprechen zeigten, daß auch
er nicht ohne tiefgreifende Wirkung lange Jahre hindurch in einer der ernsten
und stillen Gemeinden gelebt hatte, die im fernen Amerika die Lehre des Heilands
auf ihre eigentümliche Weise Pflegen.
Kehren Sie mit mir zurück, setzte er in tiefem sanftem Tone hinzu.
Schließen Sie sich wieder der Gemeinde an, in der Sie ihre Kindheit ver¬
brachten. Dort ist Frieden, dort ist Ruhe und Segen, dort werden Sie nicht
von den ehrgeizigen Gedanken gestachelt werden, die hier draußen in der Welt
Sie peinigen. Sie werden auf einer Farm am schönen Hudson wohnen, und
ich werde Ihnen helfen, das Maisfeld zu bestellen und den Weinstock von
Baltimore zu pflegen.
Eberhardt betrachtete gedankenvoll das ehrliche Gesicht des alten Negers.
Ja, sagte er, was du da sprichst, ist nicht ohne gute Bedeutung, und da dieser
Kasten uneröffnet bleiben soll, so wäre es vielleicht das klügste, dir zu folgen.
Ich weiß, der Hudson ist schön, und wohl ist es eine Freude, die dankbare Erde
in dem guten Springlake zu bebauen. Der Ort steht lebhaft vor meinem Ge¬
dächtnis, und ich habe nirgend einen Ort gefunden, der ihm an Reiz gleich
zu stellen wäre. Es ist dort immer Sonntag, seine Hänser sehen aus als
wären sie gestern gebaut, und ein Wohlgeruch von Lavendel und Rosen zieht
durch die Straßen, auch kenne ich recht wohl die sanften Hügel mit ihren
schattigen Gängen und plätschernden Quellen, die smaragdenen Wiesen und den
breiten hellen Strom, der ihren Saum bespült und mein Segelboot schaukelt
Dort könnte ich auf dem Grabe meiner Mutter lange Stunden in sanfter
Traurigkeit verträumen. Aber, mein lieber Andrew, ich kann mich doch nicht
entschließen, in jene Einsamkeit zurückzukehren. Du siehst dich hier in dieser
Hütte um, und stillschweigend fragst du mich, ob nicht hier am Strande und
im Fischerdorfe die Einsamkeit größer sei als dort, aber ich will dir sagen:
Deutschland hat für mich eine unbesiegliche Anziehungskraft. Ich weiß uicht,
worin es liegt, ist es sein alter Ruhm, den ich als Knabe aus Büchern kennen
lernte und der nun in diesem siegreichen Kriege lebendig in mir wurde, ist ein
geheimnisvoller Zusammenhang zwischen uns und dem Erdenfleck, ans dem wir
geboren wurden und der unsern Stamm trug, genug, ich fühle mich jetzt noch
mit starken Fesseln an dies Land gebunden. Es ist ein starker Zauber, der
von diesem alten Europa ausgeht, sodaß es mir dagegen fast so scheint, als
Wäret ihr dort fern am Hudson in den reinlichen, stillen Niederlassungen lebendig
begraben. Vielleicht — später, wenn ich einmal krank an Leib und Geist dar--
niedcrliegen sollte, vielleicht würden mir dann die stillen und frommen Gesichter
von Springlakc als ein Heilmittel erscheinen, und vielleicht würde ich dann, wie
meine Mutter that, meine Zuflucht zu jenem fernen Ruhewinkel nehmen. Aber
für jetzt noch nicht. Hier in diesem Küstenlande sind meine Eltern, hier bin
ich selber geboren, und dies Land, das ich jetzt zum erstenmale sehe, muß es
mir angethan haben. Ich ziehe zwischen seinen Eichen und Buchen umher,
male schlechte Bilder von Land und Meer und stehe ganz allein und fremd in
meiner Heimat, aber doch ist es meine Heimat und doch fühle ich mich hier
zu Hause,
Der schwarze Diener folgte diesen Worten mit einem schwermütigen Lächeln
und gedachte seines eignen Heimatlandes unter dem Äquator, von dem wohl
die Erzählungen und Gesänge seines Volkes ihm Nachricht gegeben, das er
selbst aber niemals mit Augen gesehen hatte. Und indem er der Sehnsucht
gedachte, die ihn heimlich nach jenem nie erblickten Erdreich erfüllte, begriff er
die Gefühle seines Herrn,
Du, Andrew, fuhr Eberhardt fort, magst bei mir bleiben, wenn es dir
gefällt, und du nicht etwa vorziehst, allein in das Thal des Hudson zurückzu¬
kehren, vielleicht ist ja die Zeit nicht fern, wo auch mich das neue Land
wieder stärker anzieht als das' alte. Und dann würden wir beide zusammen
hinübergehen.
Ich bleibe bei meinem Herrn, sagte der Schwarze nach kurzem Besinnen.
Eberhardt drückte ihm die Hand, und dann saßen die beiden Männer, die
noch mehr durch die Bande der Freundschaft als durch das Band zwischen
Herrn und Diener aneinander geknüpft waren, bis tief in die Nacht hinein im
Gespräch über die letzten Tage der Verstorbenen und über die alten Zeiten,
deren Schicksal ihr den Heimgang aus dem irdischen Leben hatte leicht
werden lassen.
An einem der nächsten Tage, welche auf die Ankunft des den Fischern un¬
heimlichen Gastes in der Wirtschaft zum frischen Hering folgten, nahm Eberhardt
in der Frühe des Morgens unter der Linde sein Frühmal ein, wobei ihn der
Schwarze bediente, als sich von der andern Seite des Hauses ein Reiter näherte,
dem ein Reitknecht mit gelbem Gurt, hohem Hut und gelbrandigen Stulpen¬
stiefeln folgte.
Dieser Reiter war ein Mann von vorgerückten Jahren mit eisgrauen, kurz¬
gehaltenen Bart, doch von kerniger Gestalt und gutem Sitz, Man konnte leicht
an der stolzen Art, wie er den Kopf trug und die Zügel führte, an dem euer-
gischen Wesen, das sich in ihm kundgab, den Militär entdecken, obwohl sein
Anzug der eines Gutsbesitzers war, der gemächlich den Stand seiner Saaten
zu beobachten ausreitet. Sein Pferd war von vorzüglicher Rasse, ein Goldfuchs
mit fein geschnittenem Kopf, zierlichen Hufen und prächtigen: Schweif,
Der Reiter hielt sein Pferd vor der Thür des Gasthofes an, klopfte mit
dem Knopf seiner Peitsche an das Fenster der Wirtsstube und fragte die in
Eile herausstürzende Wirtin, ob bei ihr ein Herr wohne, der Eschenburg heiße
und Maler sei. Die Wirtin knixte einmal über das andre, wischte mit dem
Schürzenzipfel an ihren Händen und versuchte, sich selber von oben bis unten
zu betrachten, ob sie würdig sei, einer so vornehmen Persönlichkeit gegenüber
zu erscheinen. Dann versicherte sie, der Herr, nach welchem der Herr Bnron
frage, sei allerdings ihr Gast, und sie werde ihn sofort herbeiholen, damit er dem
Herrn Baron seine Aufwartung mache.
Sie lief alsdann mit freudestrahlendem Gesicht zu der Linde, in deren
Schatten Eberhardt die Kühle des Morgens genoß, und teilte ihm eifrig mit,
daß ihm ein gutes Glück bevorstehe. Er möge gleich kommen und sich dem
Herrn Baron von Sextus vorstellen, der vor ihrer Thüre halte und ihm wahr¬
scheinlich einen Auftrag geben wolle. In ihrem guten Herzen freute sie sich
über die günstige Aussicht, welche ihrer Meinung nach dem jungen Maler sich
eröffnete, und ihr Ehrgeiz stellte ihr schon eine Zukunft vor, in welcher des Herrn
Guido Künstlerruhm noch verdunkelt werden könnte durch ein Genie, das
von ihrem Wirtshause aus alle Gutsbesitzer der Umgegend zusammenlocken und
den Ruf des neuanstrebcnden Bades Fischbeck verdunkeln könne.
Daher war sie sehr verwundert und unangenehm überrascht, als Eberhardt
gelassen sitzen blieb und ihr auftrug, dem Herrn Baron zu sagen, er möge näher
treten. Sie hielt es für ganz undenkbar und für unverträglich mit den ihr
bekannten Gesetzen der gesellschaftlichen Ordnung, daß ein Mann wie Baron
Sextus nicht bei diesem unbekannten jungen Manne den gebührenden Respekt
finden sollte, und sie glaubte es ihrer eignen Stellung schuldig zu sein, den
selbstbewußten Gast zurechtzuweisen. Wohl hatte die Ankunft des Negers ihr
sehr imponirt und war ihr ein Beweis des eignen Scharfblickes gewesen, womit
sie von Anfang an erkannt, daß etwas besondres in dem Fremden stecke, aber
sie neigte doch zu der unklaren Vorstellung, daß hier irgend ein Verhältnis
wie das zwischen Künstler und Modell oder wie zwischen Androklus und dem
Löwen vorwalte, und sie war nicht der Meinung, daß der junge Mann das
Zeug dazu habe, den Baron von Sextus zu sich kommen zu lassen, anstatt ihm
an das Pferd entgegenzugehen, Eberhardt jedoch gab, während die Wirtin ihm
in einiger Verlegenheit Einwürfe zu machen anfing, dem Schwarzen einen Wink,
dieser entfernte sich und kam alsbald mit dem Besucher selbst zurück.
Der Baron war nicht wenig verwundert, in englischer Sprache begrüßt
und von einem Schwarzen empfangen zu werden, und seine Verwunderung stieg
noch, als er sich einem Herrn gegenüber sah, der ihm den Eindruck eines
Mannes von guter Gesellschaft machte. Er hatte sich in dem Maler, der seinen
Aufenthalt in dem kleinen Fischerdorfe genommen, eine andre und weniger impo-
nirende Persönlichkeit vorgestellt, und war in der That gekommen, um demselben
aus Dankbarkeit für den seiner Tochter geleisteten Dienst einen kleinen Auftrag
zu geben. Er wandte sich nun an Eberhardt mit großer Höflichkeit, die jedoch
nicht frei war von einem Anstrich militärischer Geradheit und der Zurückhaltung
des selbstbewußten, vornehmen Mannes, und drückte ihm seinen Dank aus, ohne
des eigentlichen Zweckes seines Kommens Erwähnung zu thun. Seine Tochter,
erzählte er, habe an jenem Abend in unbedachter Weise, nur von ihrer Ge¬
sellschafterin begleitet, einen Scherz ausgeführt, indem sie einen mit ihm nahe
befreundeten Gutsnachbar und alten Kameraden in Fischertracht überrascht habe.
Sie machen maritime Studien? fragte er dann, nachdem er auf der Bank
neben Eberhardt Platz genommen hatte.
Nicht allein maritime, entgegnete dieser. Ich habe in der Umgegend dieses
Platzes auch sehr hübsche landschaftliche Motive gefunden.
Schöne alte Bäume haben wir hier noch, die der neuern Manier der Forst¬
kultur glücklich entgangen sind, sagte der Baron.
Ja, und prächtige alte Burgen, versetzte Eberhardt, die den Charakter
stolzer Geschlechter überliefern, welche leider in der neuesten Zeit gleich den alten
Bäumen einer nivellirenden Tendenz zum Opfer zu fallen scheinen.
(Fortsetzung folgt.)
Wie auf allen Gebieten der biologischen Wissenschaften, so hat sich auch auf
dem der Pflanzengeographie durch die Forschungen Darwins ein großer Umschwung
vollzogen. Hiervon legen zwei in neuester Zeit erschienene Werke Zeugnis ab, das
vorliegende und „Die Pflanzenwelt vor dem Erscheinen des Menschen" von Graf
G. von Sapvrta, übersetzt von Carl Voigt (Braunschweig, Vieweg u. Sohn, 1831).
Das letztgenannte wird jedoch von dem vorliegenden bei weitem durch die Fülle des
darin niedergelegten Materials übertroffen, es wird das Hauptwerk bleiben, welches
für alle künftigen Forschungen auf dem Gebiete der Pflanzengeographie zur Richt¬
schnur dienen wird. Während die ältern Pflanzengeographen, namentlich Alexander
von Humboldt, der Begründer der Pflanzengeographie, ferner Schouw und der
erst vor kurzem verstorbene Botaniker Grisebach, der unter den deutschen Botanikern
die umfassendste Pflanzcnkenntuis besaß, die Verbreitung der Pflanzen nur klima¬
tischen Bedingungen zuschrieben, zeigt Engler, daß diese Bedingungen nicht aus¬
schließlich die Ursache der Verbreitung der Pflanzen sind, sondern daß auch die
verwandtschaftlichen Verhältnisse der ausgestorbenen zu den gegenwärtig noch
lebenden, sowie der Wechsel in der Verteilung von Wasser und Land in deu ver¬
schleimen Perioden der Erdgeschichte für die Entwicklungsgeschichte der Florengebiete
von großer Bedeutung sind.
Das vorliegende Werk besteht aus zwei Teilen, Der erste behandelt die
außertropischen Gebiete der nördlichen, der zweite die außertropischcn Gebiete der
südlichen Hemisphäre und die tropischen Gebiete, Anstatt der Einleitung gehen
den allgemeinen Schilderungen 36 Sätze voran, in welchen uns der Verfasser seine
„Leitenden Ideen" mitteilt. Leider müssen wir darauf verzichten, ans einzelne
Themata näher einzugehen! wir können es uns aber nicht versagen, wenigstens ans
ein paar Abschnitte besonders aufmerksam zu machen: auf den vierten Abschnitt
des ersten Teils, der eine höchst interessante Schilderung der Entwicklung der Hoch¬
gebirgsflora vor, während und nach der Glacialperiode (Eiszeit) enthält, und den
fünften Abschnitt, der die Entwicklung der Pflanzenwelt in den außerhalb der Hoch¬
gebirge gelegnen Ländern behandelt, welche von der Glacialperiode beeinflußt wurden,
Engels Werk wird aber nicht nur der Pflanzengeographie neue Fvrschungswcge
eröffnen, sondern auch für die Geologie und Geographie von großer Bedeutung
werden. Wir möchten fast annehmen, daß Emile Blanchard durch deu schon
im Jahre 1879 erschienenen ersten Teil zu einer Reihe von Untersuchungen, die er
uuter dem Titel I^Sö xreuvss as la, torus-lion reesute as la, UkMsrrg,llöö in den
LowxtW üsnäus seit Dezember 1381 veröffentlicht, angeregt worden sei; wenigstens
finden wir ähnliche Ideen in jenem Aufsatz wie in dem vorliegenden Werke in dem
Abschnitt über die Hauptzüge der Entwicklung der Mediterrauflora seit der Tertiär-
zeit. Blanchard zieht allerdings auch uoch die Fauna des Mittelmeeres in seine
Betrachtung, und es wäre ja in der That sehr zu wünschen, wenn mich die Entwicklung
der Tierwelt von denselben Gesichtspunkten aus eine Darstellung erführe, wie sie
in dem vorliegenden die Pflanzenwelt erfahren hat.
Zum Schluß nur noch die Bemerkung, daß dem vortrefflich ausgestatteten
Buche zwei chromolithographische Karten beigegeben sino.
Eine frisch geschriebene Schrift, welche das Verhältnis der von Alexander I.
gegründeten Universität Dorpat zu der alten durch Gustav Wasa hervorgerufenen
schwedisch-deutschen Hochschule eingehend erörtert, die eigenartig gestalteten Ver¬
hältnisse der baltischen Universität behandelt und mit besondrer Vorliebe bei dem
dort so eigentümlich entwickelten studentischen Leben verweilt. In kurzem Überblick
werden die bisher gegen die Universität gerichteten Russifizirungsversuche dargestellt
und darau eine Reihe von Betrachtungen geknüpft, welche die Gefahren zum Gegen¬
stande haben, die aus einer Vernichtung der blühenden deutschen Universität wie
des Deutschtums in den konservativen, kaisertreuen Ostseeprovinzen überhaupt nicht
uur dem deutschen Volke, sondern auch dem russischen Reiche erwachsen müssen.
^Wti
M«in ersten Abschnitte unsrer Auszüge aus dem Berichte Bismarcks
vom März 1858 wurden der Zustand, in welchen die Schwarzen -
bergsche und Buolsche Politik die deutschen Bundesstaaten hinein-
manövrirt, und der Weg, den sie dabei eingeschlagen, sowie die
Mittel geschildert, deren sie sich zur Erhaltung jenes Zustandes
bedient hatte. Im folgenden zieht der Verfasser des Aktenstücks die Folgerungen,
welche sich aus allen diesen Mißständen für Preußen ergeben. Er sagt:
Nicht nur auf Antrieb Österreichs, sondern auch nach eigner Überzeugung
arbeiten deutsche Regierungen an der Aufgabe mit, durch Erweiterung der Kom¬
petenz des Bundes . . . die Selbständigkeit der Regierungen in ihrem Verhältnis
zur Bundesgewalt zu vermindern. In diesem System ist aber für Preußen, so
lange es nicht auf die Eigenschaft einer europäischen Großmacht verzichtet, kein
Platz, Ein Großstaat, welcher seine innere und auswärtige Politik auf den Grund¬
lagen seiner eignen Kräfte selbständig sichern kann und will, darf zu einer strafferen
Zentralisation des Bundesverhältnisses nur in dem Maße die Hand bieten, als
er die Leitung der Bundeskörperschaft zu gewinnen und gemeinsame Beschlüsse, die
seiner eignen Politik entsprechen, herbeizuführen vermag. Es ist also natürlich,
daß Österreich sowohl wie Preußen gleichzeitig nach einer solchen Stellung im
deutschen Bunde streben. Dieselbe ist aber nur für einen von ihnen möglich,
Österreich ist gegenwärtig in ihrem Besitz und . . . mit allen Hilfsmitteln ausge¬
stattet, um sich darin erhalten zu können. Bei der jetzigen Organisation des Bundes,
und solange die Beschlüsse desselben allein von den deutschen Fürsten und ihren
Ministern abhängen, ist es für Preußen nach aller menschlichen Voraussicht un¬
möglich, Österreich den dominirenden Einfluß zu entreißen. Dessen ist sich Öster¬
reich bewußt, und darum lehnt es jeden Wunsch Preußens, sich über eine Teilung
oder gemeinschaftliche Ausübung dieses Einflusses zu verständigen, ohne weiteres
ab. Es hat erkannt, daß Preußen in der jetzigen Bundesversammlung zur Mino¬
rität prädestinirt ist, und glaubt deshalb auch ohne Preußen und gegen Preußen,
gestützt auf die Majorität der übrigen Bundesstaaten, Deutschland ini Fahrwasser
der Wiener Politik erhalten zu können. . > Diese Verhältnisse sind seither noch durch
den Umstand erschwert worden, daß Österreich zum Vorsitz in einer Versammlung,
wo ... dessen Stellung als Partei und als Präsidialinacht eine besonders delikate
ist, . . . nach einander drei Männer ernannt hat sThnn, Rechberg und Prokesch
sind gemeint), deren leichte Erregbarkeit bekannt war. Ebensowenig wie der Cha¬
rakter der Personen, durch welche Österreich seine Sache am Bunde gegen Preußen
verfechten läßt, hat die Wahl der Waffen, deren es sich dabei bedient, dazu bei¬
getragen, den Verhandlungen eine buudesfreundliche und versöhnliche Färbung zu
erhalten. An Versuchen der Überlistung, wie sie die Tradition der Diplomatie seit
Jahrhunderten mit sich bringt, und zu welchen dem Präsidium der Besitz des Akten¬
materials und der Initiative in den Verhandlungen erhöhte Leichtigkeit gewährt,
an Entstestuug der Thatsachen, an Verdächtigung der Personen hat es nicht gefehlt,
selbst amtliche Fälschungen von Akten über schriftliche Verabredungen zwischen den
Regierungen haben dem Freiherrn v. Prokesch offiziell konstatirt werden können.
Diese Kämpfe begannen am Bunde sofort nach Wicderbeschickung desselben
durch Preußen. Ihr erster Gegenstand betraf die Anerkennung der ohne dasselbe
geführten Verhandlungen. Demnächst ließ eine aus fast allen Regierungen be¬
stehende Majorität sich bereit finden, gegen Preußen den ungerechten Ansprüchen
Österreichs in Betreff der Flotten- und der Liquidationsfrage ihren Beistand zu
leisten. An der Flotte beanspruchte Österreich volles Recht, ohne Beiträge leisten
zu wollen, und den Forderungen aus der allgemeinen Liquidation entzog es sich
unter der Behauptung, daß seine italienischen und ungarischen Kriege Bundeskriege
gewesen seien, für die es ein Recht auf Schadloshaltung habe. An diese Streitig¬
keiten schlössen sich diejenigen über die Zollfrage an. Die damals bevorstehende
Erneuerung des Zollvereins bot den Anknüpfungspunkt zu einer Agitation, ver¬
möge deren in diplomatischen Aktenstücken und in der Presse der Bund für die
Zukunft als der allein berechtigte und fruchtbare Förderer der öffentlichen Wohl¬
fahrt, jede preußische Bestrebung auf diesem Gebiet aber als ein gemeinschädlicher
Purtikularismus geschildert wurde. . . Nach den heutzutage vou den bedeutendsten
Bundesregierungen »erfochtenen Ansichten über die Berechtigung der Majoritäts¬
beschlüsse stünde kein rechtliches Hindernis im Wege, diese Angelegenheiten direkt
und auf die Dauer zum Gegenstände der beschließenden Thätigkeit des Bundestages
zu machen, nachdem die etwaigen Einwendungen gegen die Kompetenz der Mehrheit
durch eine Schlußfassnng im engern Rate beseitigt wären. . . Schon der gegen¬
wärtige Zollverein lahmt vermöge des Erfordernisses der Stimmcneinhelligkeit die
freie Bewegung auf dem Gebiete der Zoll- und Handelsgcsetzgcbnng. Tritt aber
ein Staat mit so abweichenden Interessen wie Österreich der Verbindung hinzu,
und sollte mich alsdann noch Stimmeneinhelligkeit zu jeder Modifikation des Be¬
stehenden erforderlich bleiben, so würde eine gänzliche Stagnation unvermeid¬
lich sein. . .
Auf dem Gebiete des staatlichen Verfassnngswesens und der Presse hat die
Bundesversammlung ihre Einwirkung auch in den letzten Jahren mit Erfolg geltend
gemacht; sie hat bisher nur in die innern Verhältnisse kleiner und mittlerer Staaten
ostensibel eingegriffen, und der Versuch, auch Preußen zu eiuer Änderung wenigstens
seiner Preßgesetzgebung zu nötigen, ist in den Jahren 1353 und 1854 an dem
nachhaltigen Widerstände der königlichen Regierung gescheitert. Die Neigung aber,
derartige Versuche gelegentlich zu wiederholen, wird durch den Kitzel, welchen die
Mittclstaaten empfinden, gerade Preußen das Ansehen ihres Bundes empfinden zu
lassen, wach erhalten, und nach den neuesten Theorien Österreichs über die Be¬
gründung der Kompetenz der Majorität würde ein bundesverfassungsmäßiges Hin¬
dernis nicht mehr im Wege stehen, wenn etwa die politische Lage Europas irgend
einen Moment als günstig erscheinen ließe, um auch für Preußen durch Buudes-
beschlüsse die Frage zur Entscheidung zu bringen, ob seine Institutionen den Bundes¬
grundgesetzen konform sind. ..
In Betreff der auswärtigen Politik gab die Periode des orientalischen Krieges
mehrfache Gelegenheit zu lehrreichen Wahrnehmungen über die Auffassung des
Bundcsverhältnisscs von feiten der Mittelstaaten. Es ist wohl kaum einer unter
ihnen, welcher dem Berliner Kabinet nicht vertraulich zu verstehen gegeben hätte,
daß sie, wenn es zu einem wirklichen Bündnisse Österreichs mit Frankreich kommen
sollte, sich nicht mehr an die Vorschriften der Bundesgesetze und an eine Berück¬
sichtigung allgemeiner Bundesiuteressen binden könnten, sondern lediglich das Be¬
dürfnis eigner Sicherheit zu Rate ziehen müßten/) . . In einem eigentümlichen
Kontraste stand hierzu der Anspruch der Mittelstaatcu, durch ihre Beschlüsse nicht
nur die Meinungsverschiedenheiten zwischen Preußen und Österreich endgiltig zu
entscheiden, sondern auch eine auswärtige „Bundespolitik" vorzuschreiben, welcher
jedes Mitglied des Bundes und namentlich Preußen sich zu fügen und seine Unter¬
stützung zu gewähren haben werde.. . In der neuesten Zeit hat sich das Streben,
die Herrschaft der Majorität zu konsolidiren, namentlich bei den Verhandlungen
über die Frage der Rastadter Besatzung fühlbar gemacht. In der hierauf bezüg¬
lichen Depesche des Grafen Buol vom 7. März 1858 werden neue Lehren über
das Bundesrecht aufgestellt, welche, wenn sie Geltung gewinnen, die Majorität der
Bundesversammlung allerdings in den Stand setzen, mit dem Erfordernis der
Stimmeneinhelligkeit unter allen Umständen kurzen Prozeß zu machen. . . Es dürfte
nach den bereits im Schwunge befindlichen Ansichten über die Aufgabe des Bundes
und die Rechte seines Zentralorgans kaum ein Fall deutbar sein, in welchem die
Majorität, wenn sie die Zustimmung der Minderheit nicht gewinnen kann, nicht
Gründe des Zweifels beizubringen vermöchte, ob die Stimmeinhelligkeit überhaupt
erforderlich sei, und diese Zweifel würde dann dieselbe Majorität zu Gunsten ihrer
eignen Kompetenz zu entscheiden das Recht haben. . . Die Grenzen der Kompetenz
des Bundes und seiner Majorität verschwinden in dem Nebel der Phraseologie,
mit welcher die Bundesdiplomaten sich gegenseitig in dem Wahne bestärken, als
ob die Buudcsverträge von einer ganz andern Bedeutung wären als Staatsver¬
träge überhaupt, als ob dem Bunde über den eigentlichen Inhalt der Grundver¬
träge hinaus noch eine bestimmte Autorität beizulegen sei, welche ihre Unterlagen
nach Bedürfnis aus Attributen der ehemaligen Reichsgewalt oder aus Analogie
mit deu Verhältnissen kollegialischer Behörden in Einheitsstaaten entlehnt. Aber
nicht nur für die Bundesverträge, sondern auch für alle indirekten Folgerungen,
welche eine Majorität vermöge einseitiger Interpretation aus demselben ableitet,
wird ein höherer Grad von Heiligkeit in Anspruch genommen als sonst für die
bündigsten Traktate. . . Auch diese Übertreibungen bilden Maschen zu dem Netze,
mit welchem Österreich und seine Majorität Preußen zu umgarnen bestrebt ist, und
auf ein freiwilliges Aufgeben dieser Bestrebungen kann Preußen nicht rechnen, weil
dieselbe nicht das Ergebnis vorübergehender Personalverhältuissc und zufälliger,
durch diese bedingter Antipathien und Sympathien ist, sondern in ihnen eine ver¬
möge dauernder Verhältnisse natürliche und von dem Standpunkte Österreichs
und der meisten seiner Anhänger auch subjektiv richtige politische Tendenz ihren
Ausdruck findet. , . Mit welcher zweifelfreieu Entschiedenheit das Wiener Kabinet
den ihm dadurch angewiesenen Bahnen folgt, läßt sich auf dem Schauplatze der
europäischen Politik ebenso deutlich erkennen wie in den Verhandlungen am Bundes¬
tage. . . Selbst in solchen Fragen, wo sein Interesse unbeteiligt oder gar mit preu¬
ßischem identisch war, hat es keine Anstrengungen gescheut, um das Ansehen Preußens
zu beeinträchtigen und seiner Politik Hemmungen zu bereiten. Die Teilnahme
Preußens an der Pariser Konferenz, bei welcher es sich der Hauptsache nach nur
um einen Ehrenpunkt handelte, wurde von keiner Macht eifriger hintertrieben als
von Österreich, um durch deu Ausschluß Preußens aus dein Rate der Großmächte
das Preußische Ansehen in deu Augen Deutschlands herabzudrücken. In der Neuen-
burger Frage waren die Geguer Preußens zugleich die natürlichen Feinde Öster¬
reichs, aber der Wunsch, Preußen nicht zur Entfaltung seiner Kriegsmacht in Süd-
deutschland und nicht zur befriedigenden Erledigung einer Ehrensache gelangen zu
lassen, war in Wien stärker als die Abneigung gegen die Schweizer Demokratie
und als die Sorge um deren Einwirkung auf Italien. Das Wiener Kabinet suchte
gegen den Marsch Preußischer Truppen durch Süddeutschland Bundesbeschlüsse zu¬
stande zu bringen und wurde in diesem Bestreben durch Sachsen gefördert. Es
würde ohne Zweifel auch für den Ausdruck seiner Gesinnung gegen Preußen eine
Majorität erlangt haben, wenn der Einfluß Frankreichs ihm nicht damals bei den
Mittelstaaten zu Gunsten Preußens die Wage gehalten hätte. Die dänische Frage
ist von Österreich, solange es möglich war, ausgebeutet worden, um Preußen in
der deutschen Presse der Lauheit, bei den europäischen Kabinetten der Heftigkeit
anzuklagen.
Wenn hier noch keine Aussicht ist, daß Österreich und seine Bundesgenossen
sich freiwillig entschließen, ihrer Politik gegen Preußen eine andre Richtung zu
geben, so fragt es sich, ob Preußen dem gegenüber in seiner bisherigen Haltung
auf die Dauer verharren kann. . . Österreich kann die Beteiligung an einem
solchen Bunde einstweilen durchführen, weil es die Majorität desselben beherrscht.
Preußen hat diesen Vorteil nicht. Wenn es demnach den ihm feindlichen Prin¬
zipien, welche sich im Schoße des Bundes entwickeln, bisher nicht offen entgegen¬
tritt, sondern sogar den Schein bewährt, ihnen auch seinerseits zu huldigen, so
beruht dieses Verfahren ohne Zweifel auf dem Bewußtsein, daß es thatsächlich nicht
so ganz leicht sein wird, die Monarchie Friedrichs des Großen unter ein Kollegium
von siebzehn Bundestagsgesandter zu mediatisiren. Eine uäherliegendc Gefahr
ist aber die, daß Preußen in formelles Zerwürfnis mit der Bundesgewalt gerät,
indem die Majorität Beschlüsse faßt, welche Preußen nicht anzuerkennen vermag,
ohne Schaden an seiner Selbständigkeit zu leiden. Die bundesfreundlichste Nach¬
giebigkeit hat ihre Grenzen, und in Verhandlungen mit Österreich ist jede Konzession
die Mutter einer neuen Forderung. Wenn die Sachen so weiter gehen, ... so
kann der Moment nicht mehr fern sein, wo Preußen die Majorität der Über¬
schreitung ihrer Befugnisse und die Majorität Preußen der Auflehnung gegen
giltige Bundesbeschlüsse anklagen wird, beide sich also gegenseitig des Bnndesbruchcs
beschuldigen. . . Eine solche Situation, zumal wenn der Moment ihres Eintretens
nicht zu berechnen ist, kann jedenfalls unbequem genug werden, um zur Anwendung
von Vorbeugungsmitteln aufzufordern, insbesondre wenn diese Mittel zugleich
dahin führen, Preußens selbständiges Ansehen und seinen Einfluß ans Deutschland
zu kräftigen, Preußen würde dadurch seinem deutschen Berufe keineswegs untren
werden, es würde sich mir von dem Drucke losmachen, mit dem die Fiktion seiner
Gegner ans ihm lastet, daß „Bundestag" und „Deutschland" identische Begriffe
seien, und daß Preußens deutsche Gesinnungen nach dein Maße seiner Fügsamkeit
unter die Majorität der Bundesversammlung zu beurteilen seien. Seine deutschen
Gesinnungen unabhängig von der Bundesversammlung zu bethätigen hat kein
Staat in dem Maße den Beruf und die Gelegenheit wie Preußen, und es vermag
dabei zugleich den Beweis zu liefern, daß Preußen für die mittlern und kleinern
Staaten mehr Wichtigkeit hat als eine Mehrheit von neun Stimmen für Preußen,
Die Preußischen Interessen fallen mit denen der meisten Bundesländer, außer
Österreich, vollständig zusammen, aber uicht mit deuen der Bundesregierungen,
und es giebt nichts deutscheres als gerade die Entwicklung richtig verstandener
preußischer Partiknlarinteressen. Eben deshalb aber steht ihnen die in der Bundes-
versammlung allein vertretene Politik der Mehrzahl der Regierungen entgegen,
weil gerade die Existenz und Wirksamkeit der 33 Regierungen außer Preuße»
und Österreich das hauptsächliche, wenn auch legal berechtigte Hindernis der
kräftigen Entwicklung Deutschlands sind, Preußen würde aber für die Erfüllung
seiner Aufgabe in Deutschland erst volle Freiheit erlangen, wenn es aufhörte,
erheblichen Wert auf die Sympathien der mitlclstaatlichen Regierungen zu legen.
Alle Anstrengungen, dieselben zu gewinnen, bleiben für immer erfolglos, und jede
Rücksichtnahme ans ihre Wünsche und Empfindlichkeiten ist für Preußen eine nutz¬
lose Selbstbeschränkung. , . Die Lage Preußens wäre vielleicht eine bessere, wenn
der Bund garnicht existirte; diejenigen nähern Beziehungen zu den Nachbarn,
deren Preußen bedarf, hätten sich deshalb doch und unter Preußens Leitung ge¬
bildet. Nachdem er aber besteht und der Mißbrauch seiner Institutionen gegen
Preußen mit Aussicht auf Erfolg versucht wird, kann Preußens Aufgabe nur sein,
alle unzweifelhaften Bundcspflichten in Krieg und Frieden, und zwar treu zu er¬
füllen, aber jede Entwicklung der Bundesgewalt auf Kosten der Unabhängigkeit
des einzelnen, welche über den strikten Wortlaut der Verträge hinausgeht, abzu¬
schneiden. Diejenigen, welche unter einem bundcsfrcundlichcn Verhalten Preußens
nichts andres als dessen möglichst weit getriebene Unterwerfung unter den durch
das Präsidium und die Majorität ausgedrückten Willen der übrigen Bundesgenossen
verstehen, werden allerdings in eine lebhafte Verstimmung geraten, wenn sie gewahr
werden, daß Preußen sich ihren Schlingen entzieht und, das Maß seiner freien
Selbstbeschränkung fernerhin nur dem wirklichen Inhalte der Bundesverträge ent¬
nehmen will, Unabwcisliche Interessen, die einzige Grundlage haltbarer Be¬
ziehungen auch zwischen den deutschen Staaten, werden aber bald bewirken, daß
die Verstimmten sich in das Unvermeidliche fügen, und dieselben Regierungen,
welche jetzt bemüht sind, Preußen zu majorisireu, werden sich entschließen, Preußens
Einverständnis zu suchen, sobald sie sich überzeugt haben, daß die Haltung Preußens
nicht auf einer vorübergehenden Verstimmung, sondern auf festen und defini¬
tiven Entschließungen, ans einer wohlüberlegten Erkenntnis der eignen Interessen
beruht.
Praktisch würden sich die Konsequenzen einer solchen Haltung um Bunde dahin
gestalten, daß Preußen sich auf keine Vereinbarungen und sonstige Beschlüsse, zu
deuen Stimmcneinhelligkeit erforderlich ist, einläßt, und daß es den ersten Versuch,
eiuen Majoritätsbeschluß ohne streng verfassungsmäßige Kompetenz zu fassen, offen
als ein Attentat gegen die Bundesverfassung bezeichnet und sich an die letztere anch
seinerseits nur insoweit gebunden erklärt, eilf sie von der andern Seite genau
beachtet wird. ..
Man kann verschiedner Meinung darüber sein, ob ein engeres Bündnis mit
Österreich für Preußen sich empfiehlt oder nicht. Darüber aber läßt die Erfahrung
keinen Zweifel zu, daß Nachgiebigkeit und Freundschastsversicheruugen für Preußen
nicht das Mittel sind, mit Österreich auch nur in erträglichen, geschweige denn
sichern Beziehungen zu leben. Wohlwollen, Dankbarkeit für Konzessionen, lcmds-
mannschaftlichc Sympathien, Gefühle überhaupt sind nicht maßgebend für die
Politik Österreichs. Seine Interessen gebieten ihm, Preußens Ansehen und Einfluß
in Deutschland nach Kräften zu bekämpfen und zu schmälern, dabei aber in Kriegs¬
fällen und gegen die mannichfaltigen Österreich unigebenden Gefahren auf den
Beistand der vollen Macht Preußens zählen zu können. In diesem zwiespältigen
Bedürfnis Österreichs liegt das einzige Mittel für Preußen, rin der süddeutschen
Großmacht sich in ein klares und sicheres Verhältniß zu setzen, indem es dem Wiener
Kabinet zu verstehen giebt, daß der Beistand Preußens bei eintretender Gefahr
der eines sehr lauen und selbst bedenklichen Bundesgenossen sein werde, wenn
Österreich sich in seiner deutschen Politik nicht mäßigt und mit Preußen ver¬
ständigt. . . Bisherige Versuche Preußens zur Einleitung bessrer Verhältnisse mit
dem Wiener Kabinet haben nur Denunziationen über dualistische Bestrebungen bei
den Mittelstaaten zur Folge gehabt. solange Preußen solche Denunziationen
scheut und sich selbst noch mit der falschen Hoffnung schmeichelt, in der Gunst der
mittelstaatlichen Regierungen mit Österreich rivalisiren zu können, solange fehlt auch
eine Grundlage der Verständigung mit Österreich. Auf dem bisherigen Kampf¬
platze stehen keine andern Resultate für Preußen in Aussicht, als daß es, wenn
die Einsicht von der Nutzlosigkeit seiner bundesfrenndlichen Konzession die
nötige Klarheit, wenn das Gefühl, sich umgarnt und überlistet zu sehen, die er¬
forderliche Höhe erreicht hat, sich schließlich doch zum Bruche genötigt sieht, und
das Vielleicht in einen sehr ungünstigen Momente.
Anders würden sich die Beziehungen der deutschen Großmächte zu einander
gestalten, wenn Preußen den Entschluß faßte, sie frei von der konventionellen
Beimischung unwahrer Gefühlsausdrücke auf die einfachen und allein sichern
Grundlagen der beiderseitigen Interessen zurückzuführen. Dies würde geschehen,
wenn Preußen an Österreich erklärte, daß es seine Beteiligung am Bunde, bei
dessen jetziger Verfassung und bei der politischen Richtung der meisten Teilnehmer,
auf stritte Erfüllung unzweifelhafter Pflichten beschränke, daß es über diese
hinaus dem Bunde seine Mitwirkung und der Majorität und ihrem Präsidium
jedes Zugeständnis versage, daß es bestimmt ablehne, mit Österreich in eine Zoll-
ciniguug zu treten, daß es, solange man von andrer Seite die Verträge ebenso
genau beachte, im Kriege, wenn die deutsche Bund es grenze angegriffen werden
sollte, Österreich mit dem vertragsmäßigen Bimdeskontingeut zu Hilfe marschiren
werde, daß aber jedes Entgegenkommen über die Grenze dieser Bundespflichten
hinaus von dein Benehmen Österreichs gegen Preußen und von dem Maße der
Gemeinschaftlichkeit ihrer politischen Ziele abhängen werde. Nur durch solche
Sprache und dem entsprechendes Verhalten dürften sich ehrliche und haltbare Be¬
ziehungen zu Österreich und nach Umständen ein sicheres Bündnis mit dem¬
selben begründen lassen, und nur auf diesem Wege wird fiir den deutschen
Bund die Gefahr gänzlicher Sprengung vermieden werden, welcher er durch
die jetzige Überspannung der antipreußischen Bundespolitik entgegengeführt
wird.
In demselben Maße, wie die preußische Regierung der österreichischen zu
erkennen gäbe, daß sie den Bundestag nicht als exklusives Organ der deutschen
Interessen ansieht, daß sie deshalb entschlossen ist, Preußen nicht in der Majorität
der Bundesversammlung aufgehen zu lassen, daß sie durch deu Bund nichts weiter
als die Erfüllung der vertragsmäßigen Bundespflicht betreiben werde, in demselben
Maße werden sich auch vor dem Auge Deutschlands die Umrisse Preußens wieder
in ihrer natürlichen Größe und Bedeutung abzeichnen.
Die leitende Stelle, welche Preußen vor 1848 einnahm, beruhte nicht auf
der Gunst der Mittelstaaten und der Bundesversammlung, sondern ans der That¬
sache, daß Preußen in allen Richtungen staatlicher Entwicklung den Vorsprung nahm,
daß alles, was spezifisch preußisch war, in den übrigen Bundesstaaten als muster-
giltig anerkannt und nach Kräften erstrebt wurde. Die Überstürzung dieses Ent¬
wicklungsganges in der revolutionären Zeit, das dadurch geweckte Mißtrauen der
deutschen Regierungen haben notwendig starke Rückschritte in dem Aufschwünge des
preußische» Einflusses zur Folge gehabt. Die durch den Rückschlag der Bewegung
erfolgte Abschwächung der vor 1843 so gewaltigen Macht der öffentlichen Meinung
und die Neuheit des österreichischen Auftretens als Mitbewerber macheu es heut¬
zutage schwer, die Strecke, um welche Preußen ans seinem Wege zurückgekommen
ist, wieder einzubringen. Dennoch aber bleibt dieser Weg der einzige, um die
Stellung zu gewinnen, deren Preußen zur Erfüllung seiner staatlichen Aufgaben
bedarf, und seine Überlegenheit an Mitteln auf diesem Gebiete ist im Vergleiche
mit Österreich und den andern deutschen Staaten noch immer bedeutend. . . Der
Grad politischer Freiheit, welcher zulässig ist, ohne die Autorität der Regierung
zu beeinträchtigen, ist in Preußen ein viel höherer als im übrigen Deutschland.
Preußen vermag seiner Landesvertretung und seiner Presse ohne Gefahr auch in
Betreff rein politischer Fragen einen freiern Spielraum zu gewähren als bisher.
Es hat vor 1348 unter einer fast unumschränkten Regierung sich das Ansehen der
intellektuellen Spitze Deutschlands zu erringen und zu erhalten gewußt und würde
auch jetzt unabhängig von seiner innern Verfassung dasselbe vermögen. Notwendig
ist dazu nur, daß sein innerer Zustand ein solcher sei, der den Eindruck des ein¬
mütiger Zusammenwirkens aller Organe und Kräfte des Landes im Auslande nicht
stört und dieses Zusammenwirken im Innern auch thatsächlich fördert. Ist die
heutige Verfassung Preußens eine definitive Einrichtung, so muß auch die feste
Geschlossenheit der Rcgierungsorgane in sich und ihr Einklang mit der Landes¬
vertretung in einem solchen Grade erreicht werden, daß die Gesamtkraft Preußens
nicht dnrch Reibungen im Innern vermöge einander zuwiderlaufender Strömungen
teilweise gebrochen wird, sonst kann sie nach außen hin, wenigstens im Frieden, nicht
den dominirenden Eindruck auf Deutschland ausüben, welcher ihr sicher ist, wenn
sie ungeschwächt zur Wirkung gelangt.
Die königliche Gewalt ruht in Preußen auf so sichern Grundlagen, daß die
Regierung sich ohne Gefahr durch eine belebtere Thätigkeit der Landesvertretung
sehr wirksame Mittel der Aktion auf die deutschen Verhältnisse schaffen kann. Es
ist bemerkenswert, welchen Eindruck in ganz Deutschland der Vorgang gemacht hat,
daß die sächsischen Kammern sich in jüngster Zeit mit der Erörterung der Bundcs-
Pvlitik in der Stellung Sachsens zum Bunde beschäftigt haben.") Wieviel mächtiger
würde dieser Eindruck gewesen sein, wenn im Schoße der preußischen Kanunern
eine analoge Diskussion stattgefunden hätte! Wenn Preußen seine deutsche Politik,
seine Stellung zum Bunde, die Schwierigkeiten, welche es in derselben zu über¬
winden hat, die Bestrebungen seiner Gegner offen diskutiren ließe, so würden
dielleicht wenige Sitzungen des Preußische» Landtags hinreichen, um den An¬
maßungen der Majoritätsherrschaft am Bunde ein Ende zu machen.
Die gerade für Preußen spezifisch notwendige Bundespolitik kann dnrch die
Publizität und durch öffentliche Besprechungen nur an Kraft gewinnen. In der
Presse vermag die Wahrheit sich in der Unklarheit, welche durch die Fälschungen
der besoldeten Blätter herbeigeführt wird, nicht Bahn zu brechen, solange nicht der
preußischen Presse zur Besprechung der gesamten Bundesverhältnisse das volle Ma¬
terial und der höchstmögliche Grad von Freiheit gewährt wird. Wenn Preuße»
eine vom Bunde unabhängige Position nimmt, so wird es vermöge der ihm inne¬
wohnenden Schwerkraft der natürliche Krystallisationspnnkt für solche Verbände,
welche seineu Nachbarstaaten ebenso sehr Bedürfnis sind als ihm selbst. Dieses
System der freien, auf Kündigung geschlossenen Vereine durch Verständigung außer¬
halb des Bundes ist das Gebiet, ans welchem Preußen, unbehindert durch das
Präsidiuni Österreichs und die Majoritätstheorien der Bundesversammlung, seinen
politischen und Verkehrsbedürfnisseil genügen kann. In solchen Verbindungen steht
ihm das ganze Gewicht seiner Größe und seine Eigenschaft als rein deutscher
Staat, die Gleichartigkeit seiner Bedürfnisse und seines Entwicklungsganges mit der
übrigen deutschen Bevölkerung unvermindert zur Seite. Die benachbarten Bundes-
staaten werden sich deshalb auch herbeilassen, Einigungen mit Preußen ans diesem
Wege z» suchen, wenn sie erst fest überzeugt sind, daß Preußen sich am Bunde,
von welchem sie bisher noch günstigere Ergebnisse für sich erwarteten, ans der¬
gleichen unter keinen Umständen einläßt. Sie werden dabei umso entgegenkom¬
mender und umso leichter zu behandeln sein, je mehr sie erkennen, daß Preußen
entschlossen ist, in allen Beziehungen lieber die Unbequemlichkeiten seiner zerrissenen
Lage zu ertragen, als von ihnen sich das Gesetz für sein eignes Verhalten und
seine eignen Interessen geben zu lasse». Denn diese Unbequemlichkeiten sind für
die meiste» von ihnen und namentlich für Sachsen, Braunschweig, beide Hesse»,
Nassau vermöge ihrer Kleinheit, ihrer binnenländischen Lage und ihrer Grenz¬
verhältnisse zu Preußen viel schwerer auf die Dauer zu ertragen als für Preußen
selbst, mag es sich dabei um Zollgemeinschaft, um Eiseubnhnnnlagen, um gemciii-
samcs Wechsel- und Handelsrecht, um Kartellkonventioncn, Posteinrichtunge«, Papier¬
geldfrage», Bailkwese» oder irgend einen andern der Gegenstände handeln, welche
die österreichische Präsidialpolitik lind die Majoritätsstaaten der Bnndesgcsetzgcbung
allmählich zu unterziehen beabsichtigen. Nur Hannover ist vermöge seiner Lage
an der See und zwischen dem Osten und Westen Preußens im Verhältnis zu
den übrigen deutscheu Staateil mit mehr Elementen sür eine unabhängige Stellung
Preußen gegenüber ausgestattet... Auf allen oben genannten Gebieten kann Preußen
die Ausführung jedes Planes, über den es mit Hannover einig ist, ohne erhebliche
eigne Unbequemlichkeiten in Angriff nehmen und den Anschluß andrer abwarten.
Hannover ist deshalb der einzige unter den deutschen Mittelstaaten, in Betreff dessen
die deutsche Politik Preußens, ohne sich durch Schwierigkeiten und Mißerfolge
irre machen zu lassen, unausgesetzt alle Anstrengung lind Geschicklichkeit zur An¬
wendung bringen sollte, um seinen guten Willen zu gewinnen und sein Mißtrauen
zu beruhigen.
Aber selbst wenn das nicht gelänge, hat Preußen von selbständiger Benutzung
der eignen Kraft immer noch mehr zu hoffen, als von einer längern Duldung
der Bnndespolitik seiner Gegner, Bei keinem Teile des deutschen Volkes und bei
wenigen Staaten des Auslandes ist zugleich die Zufriedenheit mit der eignen Re¬
gierung, die Bereitwilligkeit, derselben vertrauensvoll und opferbereit entgegenzu¬
kommen, in dem Maße wie in Preußen von dem Gefühle abhängig, daß dem
Lande eine selbständige und angesehene Stellung nach außen hin gewahrt wird,
und die Wahrnehmung, daß Preußen in Deutschland von Österreich überflügelt
würde, daß baierische und sächsische, hessische und würtenbergische Majoritäten
irgendwelchen bestimmenden Einfluß auf Preußen wider dessen Willen mit Erfolg
beanspruchen könnten, wär« selbst in der heutigen Zeit der materiellen Interessen
für. das Preußische Volk ein schärferer Stachel zu gereizter Verstimmung, ein wirk¬
sameres Mittel zur Erregung von Unzufriedenheit als die Mehrzahl wirklicher oder
vermeintlicher Übelstände im Innern, während umgekehrt der Preuße über jede
Erhöhung seines Selbstgefühls gegenüber dem Auslande leicht dasjenige vergißt,
was ihn an den innern Zuständen verdrießt.
Hiermit schließt das merkwürdige Aktenstück, das nur in den letzten Sätzen
insofern von der Folgezeit des Irrtums überführt wurde, als die Konfliktsjahre
von 1861 bis 1866 von der darin angenommenen Regel, die Preußen vergäßen
über einer Regierung, deren Politik auf Erhöhung des Ansehens ihres Landes
und auf eine selbständige und geachtete Stellung desselben nach außen hin ab¬
zielte, innere Wünsche und Beschwerden, sehr zahlreiche Ausnahmen zeigte. Das
Selbstgefühl der Preußen war durch die Verstärkung der Armee und deren Er¬
folge gegen die Dänen unzweifelhaft erhöht worden, man mußte wissen, daß eine
weitere Erhöhung bevorstand, und dennoch nahm die Opposition im Abgeord-
netenhause in ihrem Verdruß über die innern Zustände Partei gegen die Re¬
gierung und für die Politik der Mittelstaaten in Betreff Schleswig-Holsteins
und des Augusteuburgers, und diese Opposition bildete die Mehrheit der Kammer,
Aber freilich waren das keine echten Preußen, sondern rechthaberische, beschränkte
demokratische Doktrinäre,
Und nun die Moral des „kleinen Buches," die beiläufig nicht bloß in
dieser Betrachtung entwickelt und begründet, sondern noch in einer ganzen Reihe
andrer Berichte unsrer Sammlung mit ähnlichen Worten vorgetragen wird. Sie
lautet in der Kürze:
Österreich zieht aus seiner Stellung als Präsidialmacht und aus Furcht
und Abneigung der meisten Bundesregierungen große Vorteile, es erfreut sich im
Bunde eines Übergewichts über Preußen, das es geschickt benutzt. Dieses Ver¬
hältnis wird sich von selbst nicht umgestalten, auch nicht durch das weiteste
Entgegenkommen Preußens, Dieses muß deshalb seine Taktik ändern und andre
Wege einschlagen, wenn es nicht schwerer Schädigung entgegengehen soll. Es
muß fortan eine selbständige, vom Bunde, von Österreich und seinen mittel-
und kleinstaatlichen Satelliten unabhängige Politik treiben. Es darf nicht Ge¬
fühle zur Richtschnur seines Handelns machen, es muß vielmehr immer den
richtig erkannten eignen Vorteil maßgebend für sich sein lassen, Der Bund
muß unschädlich gemacht, die Pflichten gegen denselben müssen, soweit sie wirk-
lich begründet sind, streng erfüllt, alles darüber hinausgehende, sobald es als
Forderung auftritt, abgelehnt oder nur nach Gewährung von gleichwertigen Zu¬
geständnissen von seiten Österreichs und der andern Bundesglieder bewilligt
werden. Preußen darf auf die Gleichstellung mit Österreich nicht Verzicht leisten,
es darf sich am Bunde nicht majorisiren lassen, es muß das System, nach
welchem Majoritätsbeschlüsse der Bundesversammlung in allen innern und äußern
Fragen für alle Vundesstaaten verbindlich gemacht werden sollen, perhorrescireu.
Wo ein Bündnis zur Verständigung mit den deutschen Nachbarstaaten vorliegt,
wo reformirt werden muß, ist der Weg einzuschlagen, daß man neben dem
Bunde mit diesen Nachbarn zu einem Abkommen zu gelangen sucht, das dann
in kündbaren Verträgen niederzulegen ist.
Bemerkt zu werden verdient, daß der Verfasser des Berichts keinerlei Schleich¬
wege und Ränke empfiehlt, wie sie die Buolsche Politik liebte, sondern gerade
Bahnen eingeschlagen und offne Politik getrieben sehen will. Indeß verlangte
sein System eine Ergänzung, und diese ist er nicht schuldig geblieben. Wir
finden sie in dem zuerst von Hesekiel'") mitgeteilten, dann von Hahn in seinem
Sammelwerke abgedruckten Schreiben Bismcircks an den Minister v. Schleinitz,
datirt Petersburg, 12. Mai 1859, in welchem es u. a. heißt:
Aus den acht Jahren meiner Frankfurter Amtsführung habe ich als Ergebnis
meiner Erfahrungen die Überzeugung mitgenommen, daß die dermaligen Bundes¬
einrichtungen für Preußen eine drückende, in kritischen Zeiten eine lebensgefährliche
Fessel bilden, ohne uns dafür dieselben Äquivalente zu gewähren, welche Österreich,
bei einem ungleich größern Maße eigner freier Bewegung, aus ihnen zieht. . .
Stets haben wir uns derselben kompakten Majorität, demselben Anspruch auf
Preußens Nachgiebigkeit gegenüber befunden. . . Wenn die Staatsmänner von Bcnn-
berg so leichtfertig bereit sind, dem ersten Anstoße des Kriegsgeschreis der urteils¬
losen und veränderlichen Tagesmeinung zu folgen ^während des italienischen Krieges
Österreichs so geschieht das vielleicht nicht ganz ohne tröstende Hintergedanken an
die Leichtigkeit, mit der ein kleiner Staat im Falle der Not die Farbe wechseln
kann. Wenn sie sich aber dabei der Bundeseinrichtungen bedienen wollen, um eine
Macht wie Preußen ins Feuer zu schicken, wenn uns zugemutet wird, Gut und
Blut für die politische Weisheit und den Thatendurst von Regierungen einzusetzen,
denen unser Schutz unentbehrlich zum Existiren ist, wenn diese Staaten uns den
leitenden Impuls geben wollen, und wenn sie als Mittel dazu buudesrechtliche,
Theorien in Aussicht nehmen, mit deren Anerkennung alle Autonomie preußischer
Politik aufhören würde, dann dürfte es meines Trachtens an der Zeit sein, uus
zu erinnern, daß die Führer, welche uns zumuten, ihnen zu folgen, andern Inter¬
essen dienen als preußischen, und daß sie die Sache Deutschlands, welche sie im
Munde führen, so verstehen, daß sie nicht zugleich die Sache Preußens sein kann,
wenn wir uns nicht aufgeben wollen.
Ich gehe vielleicht zu weit, wenn ich die Ansicht äußere, daß wir jeden recht¬
mäßigen Anlaß, welchen unsre Bundesgenossen uns bieten, ergreifen sollten, um
zu derjenigen Revision unsrer Beziehungen zu gelangen, deren Preußen bedarf
um in geregelten Beziehungen zu den kleinern deutschen Staaten dauernd leben
zu können. Ich glaube, wir sollte» den Handschuh bereitwillig aufnehmen und
kein Unglück, sondern einen Fortschritt der Krisis zur Besserung darin scheu, wenn
eine Majorität in Frankfurt einen Beschluß faßt, in welchem wir eine Überschreitung
der Kompetenz, eine willkürliche Änderung des Bundeszweckes, einen Bruch der
Bundesverträge finden. Je unzweideutiger die Verletzung zu Tage tritt, desto
besser. In Österreich, Frankreich, Rußland finden wir die Bedingungen nicht leicht
wieder so günstig, um uns eine Verbesserung unsrer Lage in Deutschland zu ge¬
statten, und unsre Bundesgenossen sind auf dem besten Wege, nus vollkommen ge¬
rechten Anlaß dafür zu bieten, auch ohne daß wir ihrem Übermute nachhelfen, . .
Ich sehe in unserm Bundesverhältnisse ein Gebrechen Preußens, welches wir früher
oder später ksrro se i^ni werden heilen müssen,
?6rro se i^ni — sieben Jahre später geschah es, und die Heilung gelang,
die Heilung Preußens und zugleich Deutschlands, die dann auch Österreich zu
Gute kam, erst auf indirekten, dann durch das Bündnis von 1879 auf direktem
Wege. Wäre ein solches förmliches Bündnis nicht abgeschlossen, so müßte es
unverweilt erstrebt werden, denn es wäre dann ein dringendes Bedürfnis zweier
friedliebenden Mächte. Zweitens, sollte die Nachricht, nach welcher das Bündnis
zwar in aller Form, aber nur auf fünf Jahre abgeschlossen wäre, auf Wahr¬
heit beruhen, so würde eine Verlängerung, und zwar eine erhebliche, aus
Gründen, die zu sehr auf der Hand liegen, um hervorgehoben werden zu müssen,
höchst wünschenswert sein. Drittens endlich würde es nur natürlich sein,
wenn bei solcher Umgestaltung und Ergänzung das Bündnis dadurch
verbessert würde, daß man anch gewisse nationalökonomische Para¬
graphen hinzufügte, mit andern Worten: die Interessen beider Reiche
würden gestatten, daß sie ihre guten politischen Beziehungen durch
nähere wirtschaftliche Beziehungen vertragsmäßig unterstützten und
befestigten. Der Umstand, daß Cisleithcmicn ein Industrieland, Trans-
lcithanien ein Ackerbanland ist, scheint uns wenigstens der Anbahnung eines
solchen Verhältnisses keine unübersteiglichen Schwierigkeiten entgegenzustellen.
»gehörige der katholischen Kirche haben vor wenigen Jahren, als
der sogenannte Kulturkampf, der nach dem Wunsche fast aller
Parteien jetzt zu Ende zu gehen scheint, noch die Gemüter heftig
bewegte, zum öftern wehklagend nusgcrnfen, die christlich-katho¬
lische Kirche werde heute im deutschen Reiche ähnlich verfolgt wie
zur Zeit Neros und Diocleticms, Sie haben das Verfahren der Regierung
geradezu bald eine ncronische, bald eine diocleticmische Verfolgung genannt. Sie
wollten damit der Regierung einen recht harten Vorwurf machen. Denn die
nervnifche Christenverfolgung ist die erste, die dioelctianische die letzte der neun
großen Verfolgungen^ welche der katholischen Kirche ihre meisten Märtyrer ge¬
liefert haben. Indessen kann man getrost annehmen, daß den wenigsten von
denen, die einen solchen Vorwurf zu hören bekamen, wie auch von denen, die
ihn aussprachen, ein irgendwie bestimmtes Bild von der einen oder andern Ver¬
folgung vorgeschwebt hat. Auch wir haben uns meistenteils damit begnügt,
daß wir jenen Vergleich sür eine arge Übertreibung hielten, wie sie wohl in
der Erregung ausgesprochen wird, und haben uns bei dem Gedanken beruhigt,
daß es ein Unding sei, die Lage der heutigen katholischen Kirche mit der unter
Nero oder Diocletian zu vergleichen.
Sehen wir auf die Art der Verfolgung unter Nero und Diocletian, wie
die katholische Tradition sie schildert, so müssen wir jede Ähnlichkeit von
vornherein bestreiten. Den» es hat in Deutschland niemand Gelegenheit gehabt,
sich durch Hingabe seines Lebens ein Martyrium zu erwerben. Aber man könnte
uns ja entgegenhalten, daß überhaupt die Zeit eine andre, mildere geworden
sei, und daß deshalb auch die Art der Verfolgung ein milderes Aussehen ge¬
habt habe, während sie dasselbe bezweckt habe wie jene heidnischen Verfolgungen.
Dieselben Beweggründe können sich ja im Laufe der Zeit in ganz verschie¬
dener Form äußern. Ein Mausergewehr ist himmelweit verschieden von
einem mit einem steinernen Messer mühsam zugespitzten Pfahl, und doch sind
beide, wenn man die Sache genau betrachtet, aus demselben Beweggründe ent¬
sprungen; mit dem Pfahl ging unser Urahn aus der Steinzeit ans seinen Feind
los, während wir ihn mit dem Mausergewehr angreifen. Wir lächeln über die
Knöchelchen und Wirbelchen, mit denen ein junges Mädchen ans der Steinzeit
sich schmückte und die ihr elterliche Liebe mit ins Grab gegeben haben — aber
treibt nicht derselbe Beweggrund unsre Töchter, sich mit kostbaren Perlen oder
Schmucksachen aus Gold und Silber zu behängen? Im vorliegenden Falle
würde es sich also darum handeln, ob die preußische, beziehentlich deutsche Re¬
gierung dieselben Beweggründe gehabt habe, die katholische Kirche zu verfolge»,
wie jene beiden Kaiser. Die Antwort wird sich uns von selbst ergeben, wenn
wir die beiden Verfolgungen, die durch die katholische Tradition verdunkelt auf
uns gekommen sind, im Lichte der Geschichte betrachten.
Im zehnten Jahre des Nero, nach unsrer Zeitrechnung im Jahre 64, fand
in Rom ein ungeheurer Brand statt, der von den vierzehn Quartieren der Stadt
nur vier ganz unverschont ließ; drei waren total niedergebrannt, und die übrigen
sieben, welche der Wut des Feuers ausgesetzt gewesen waren, zeigten einen
traurigen Anblick von Trümmern und Verwüstung. Das Elend war grenzenlos,
obgleich die Regierung alles that, was in ihrer Macht lag, den Unglücklichen
aufzuhelfen, die ihr Alles verloren hatten. Man beschuldigte den Nero, daß er
die Stadt habe anzünden lassen, um sie schöner und prächtiger wieder aufzu¬
bauen. So ungefähr erzählt uns Taeitus im fünfzehnten Buche seiner Annalen
im 38, Kapitel, wo er auch den Brand selbst und die Folgen desselben genau
schildert. Dann fährt er im 44, Kapitel fort: „Um diese Beschuldigung von
sich abzuwälzen (nämlich daß er der Brandstifter sei), belegte Nero diejenige»,
mit den ausgesuchtesten Martern, welche ihrer Schandthaten wegen verhaßt
waren und vom Volke Christen genannt wurden. Der Name rührt von Christus
her, welcher unter der Regierung des Tiberius von Pontius Pilatus hingerichtet
wurde. Der für den Augenblick unterdrückte verderbliche Aberglaube brach
wiederum hervor, nicht bloß in Judäa, dem Ursitz des Übels, sondern auch in
der Stadt (Rom), wo alles Abscheuliche und Schändliche zusammenfließt und
Unterstützung findet. Es wurden nun zunächst einige ergriffen, welche ge¬
standen, und dann infolge ihrer Anzeige eine große Menge, die dann insgesamt
nicht sowohl des Verbrechens, die Stadt angesteckt zu haben, als ihres Hasses
gegen das ganze menschliche Geschlecht überwiesen wurden. Die Martern, uuter
denen sie ihr Leben aufgeben mußten, wurden noch durch Spott und Hohn
vermehrt; einige wurden in Thierhüute genäht und der Wild der Hunde preis¬
gegeben, andre ans Kreuz geschlagen, andre mit brennbaren Stoffen überstrichen
und angesteckt, um in der Finsternis als Fackel zu leuchten, Nero gab seine
Gärten zu diesem grausamen Schauspiele her, welches von Pferderennen be¬
gleitet wurde, bei welchen der Kaiser selbst gegenwärtig war und als Wagen¬
lenker gekleidet oder auf einem Wagen stehend sich unter den Pöbel mischte.
Obgleich man die Christen für schuldig hielt, so regte sich das Mitleiden, weil
man annahm, daß diese Unglücklichen nicht sowohl dem allgemeinen Besten als
vielmehr der Grausamkeit eines Einzelnen aufgeopfert wurden,"
Wer die vorstehende Erzählung unbefangen liest, der wird das unbehag¬
liche Gefühl haben, daß er sich in unsichern Händen befinde. Taeitus, der nicht
«ins irg. se stuclio schreibt, sondern als Geschichtsschreiber entweder liebt oder
haßt, will offenbar weder den Nero noch die Christen unverdächtige davon¬
kommen lassen, da er beide verabscheut. Es stimmt gar zu schön zu seinen An¬
sichten über beide, daß ihnen auch die Verbrennung der ewigen Stadt zuge¬
schrieben wurde. Hätte er aber wirkliche, objektive Gründe gehabt, so hätte er
sich klarer ausgedrückt und sich namentlich nicht hinsichtlich des Nero damit be¬
gnügt, den Verdacht so unbestimmt und allgemein auszusprechen. Nun hat
freilich die Verdächtigung der Christen auf die Nachwelt keinen Einfluß gehabt,
aber den Nero hat man bis in die neueste Zeit hinein wenigstens für den wahr¬
scheinlichen Urheber des Dramas gehalten, und doch steht die Beschuldigung
gegen ihn auf ebenso schwachen Füßen wie die gegen die Christen, Es wirkte
eben auch hier die Liebe und der Haß, Künstler und Dichter hatten zwar noch
einen andern Grund — den Effekt, Man denke an Hamerling, der in seinem
„Ahasver" seine Feder nicht in Tinte, sondern in Blut getaucht zu haben scheint,
UM den Nerv als Brandstifter und Wüterich zu charakterisiren. Sicher ist,
daß der Brand stattgefunden hat, und ebenso sicher hat damit die Bestrafung
der sogenannten Lnristiimi im Zusammenhange gestanden, aber das Wie hat den
Erklärern von jeher ungemein viel Sorge und Mühe gemacht.
Gibbon hält dafür, das; die Grausamkeit Neros gegen die Juden gerichtet
gewesen sei und daß die Christen als jüdische Sekte mit betroffen worden seien.
Sein Gedankengang ist etwa folgender. Tacitus sah das Aufblühen und die
weitere Verbreitung des Christentums unter der Regierung des Titus, Domitian,
Nerva, Trajan für eine Regeneration des Judentums an, welches den Römern
so viel Sorge gemacht hatte. Jerusalem war erobert und zerstört worden, Ströme
Blutes von Juden und Römern waren geflossen, die Juden waren über den
ganzen Erdkreis zerstreut, ihr Staatswesen vernichtet worden. Sie hatten sich
haufenweise in den großen Städten des Römerreiches, in Rom selbst angesiedelt
und bildeten hier ein zu Aufruhr und Empörung geneigtes Element. Die
Weissagungen, welche ihnen den Messias verkündeten und die Rückkehr in ihr
Vaterland versprachen, aus dem sie nun schon zum zweitenmale verjagt waren,
waren ihnen unvergeßlich. Sobald sie Nachricht erhielten, daß in ihrer Heimat ein
Messias erstanden sei — und wie leicht werden in der Verbannung lebende,
verzweifelte Menschen in Aufregung versetzt! — so wurden sie unruhig. Wieder¬
holt waren sie deshalb aus der Stadt verjagt worden, aber nach ihrer ge¬
schmeidigen und biegsamen Natur kehrten sie bald wieder zurück. Still und
heimlich breiteten sie sich wieder aus, setzten sich wieder fest, um bei der nächsten
Gelegenheit neue Unruhen zu verursachen. Sie wurden deshalb aufs beste ge¬
haßt und verachtet, wie wir aus verschiednen Stellen des Juvenal sehen können.
Wenn nun die Christen mit ihnen identifizirt wurden, so mußte der allgemeine
Haß und die große Verachtung auch auf sie übergehen. Mithin wurden die
Christen von der Verfolgung mit betroffen, weil die Menge sie nicht von den
Juden schied, und Tacitus nannte sie besonders, weil er in ihnen das Judentum
in seinem kräftigsten Aufblühen zu sehen glaubte.
Ebenso nimmt Merivall an, daß der Verdacht des römischen großen Hau¬
fens gegen die unruhigen Juden gerichtet gewesen sei, deren Berufungen auf
den Namen Christi als eines erwarteten Königs oder Volksführers allgemein
bekannt waren. Im übrigen weicht aber seine Ansicht von der Gibbons ab.
Nach Merivall wurden einige jüdische Fanatiker aufgegriffen und angeklagt, diese
zeigten, da sie die Christen als Abtrünnige ihres Glaubens haßten, einzelne
Christen an, und so wurden letztere in die Anklage mit verwickelt, und da sie
in ihrem Sinne eingestanden, daß sie allerdings Christus verehrten, so wurden
sie, obwohl sie die harmlosesten Menschen waren, als Unruhestifter verurteilt und
bestraft.
Die Erklärung Merivall mag auf den ersten Blick etwas gesucht erscheinen,
dennoch ist sie nicht unwahrscheinlich, da die Juden häufig Angeber der Christen
Waren. Sie pflegten zu den Magistratsversouen hinzugehen und fanden bei
diesen umsomehr Glauben, als ihnen zugetraut wurde, daß sie mit den Verhält¬
nissen der Christen genau bekannt wären. Anzunehmen, daß die Christen selbst
einander angegeben hätten, ist nicht zulässig, da dies nicht zu der Innigkeit stimmen
würde, in welcher die Glieder der ersten Christengemeinden miteinander lebten. Sie
habe» lieber die größten Martern erduldet, als daß sie ihre Brüder verraten hätten.
Die Verfolgung unter Nero also — darin stimmen Gibbon und Merivall
überein — traf eigentlich nur die Juden; die Christen wurden freilich mitbe-
troffcn, aber doch nur, weil mau sie noch nicht von den Juden zu scheiden ver¬
mochte. Die Verfolgung beschränkte sich auf Rom und war nicht von langer
Dauer. Bestätigt wird dies noch durch zwei Umstände. Vor kurzem sind viele
Denkmäler Claudischer Freigelassenen entdeckt worden. Aus diesen ist ersichtlich,
daß viele der Schüler, welche Paulus im letzten Kapitel des Briefes an die
Römer mit Namen begrüßt, in Ruhe gestorben sind. Außerdem aber ist zu
beachten, daß die katholische Kirche ans der Zeit der Verfolgungen zwar ihre
meisten Märtyrer verehrt, aber keinen einzigen aus der neronischen Zeit.
Wenn wir alle diese Momente zusammenfassen, so müssen wir annehmen,
daß bei Gelegenheit des großen Brandes, als die Leidenschaften des Volkes
erregt waren, einzelne Christen litten, aber nur in Rom. Die Ursache war also
ähnlich, wie wenn unter Tiberius die Juden aus der Stadt verjagt wurden,
weil das Volk es wollte, oder wenn einmal alles, was zum Kultus der Isis
gehörte, aus der Stadt vertrieben wurde, weil man auf wirkliche oder vermeint¬
liche Mißbrüuche aufmerksam geworden war. Am passendsten möchte sich die
erste sogenannte Christenverfolgung mit einer jener Judenverfolgungen vergleichen
lassen, wie sie im Mittelalter entstanden, wenn Unglück die Gemüter aufregte.
Man schrieb ihnen schauderhaften Frevel zu und meinte deshalb das Recht, ja
die Pflicht zu haben, sie zu quälen oder gar zu vernichten. Nur waren die
Gemüter der Römer versöhnlicher gestimmt als die der Christen im Mittelalter.
Tcicitus erwähnt an der oben angeführten Stelle ausdrücklich, daß viele Mitleid
mit den Unglücklichen empfunden Hütten. Es widerstrebte auch dem römischen
Nationalcharakter, jemand seiner Religion wegen zu verfolgen. Diese Gesinnung
beruhte freilich nicht auf einer besondern Achtung vor den Ansichten und Meinungen
andrer, sondern auf einer außerordentlichen Gleichgiltigkeit. In Rom wurden
die Gottheiten der ganzen Welt verehrt, warum sollte nicht auch eine jüdische
Sekte ihren Gott verehren dürfen?
Die sogenannte neronische Christenverfolgung ist gar keine systematische Ver¬
folgung, sondern ein gegen die Juden in Rom gerichteter Tumult gewesen, den
dei Regierung geschehen ließ. Die Vergleichung des Kulturkampfes also mit dem
neronischen Gewaltakt ist ein willkürliches Phantasiebild, zu dem Zwecke geschaffen,
durch eine rhetorische Hyperbel die Klagen, welche man gegen die Regierung zu
haben glaubte, zu verstärken.
Wenn nach der neronischen Zeit eine Reihe von Christenverfolgungen von
den in religiösen Dingen so gleichgiltigen Römern ausgingen, so haben diese
meistenteils in den Besonderheiten ihren Grund, durch welche die Christen bei
den Heiden Anstoß erregten. Die Christen nahmen sür sich eine gewisse Aus-
schließlichkeit in Anspruch. Sie hielten sich sür besondre Kinder Gottes, erklärten
ihre Religion für die allein wahre, zogen sich verächtlich von den heidnischen
Religionsgebrünchen zurück. Dieser geistliche Hochmut wurde den Heiden ver¬
ächtlich und hassenswert. Einige heidnische Religionsgebräuche wurden außerdem
für jede» Staatsbürger für notwendig gehalten. Dahin gehörte besonders das
Opfern für den Genius des Kaisers. Die Christen hielten das für Götzendienst
und thaten es nicht, weshalb sie für Frevler an der Majestät des Kaisers ge¬
halten wurden. Ferner predigten sie den Untergang der Welt, da sie die Lehre
vom jüngsten Tage auf ihre Zeit bezogen. Die Römer, die ihren Staat für
ewig hielten, glaubten deshalb, Staatsfeiude in ihnen erblicken zu müssen. Nimmt
man noch hinzu, daß sie sich zeitweise weigerten, Kriegsdienste zu leisten, da sie
kein Blut vergießen dürften, daß z. B. einst ein höherer Befehlshaber urplötzlich
seine Waffen wegwarf, durch die Straßen lief und ausrief, es sei Frevel,
Waffen zu tragen, so kann man sich nicht wundern, wenn es Zeiten gab, in
welchen man von der Staatsgefährlichkeit der christlichen Lehren überzeugt war.
Was sollte der römische Staat, der allein dnrch Waffengewalt seine Größe erlangt
hatte und bewahrte, mit einer Religion, die nach seiner Meinung Feiglinge erzog?
Trotzdem verfuhr man verhältnismäßig schonend und mild. Man hielt die Christen
mehr für beklagenswert, da man ihre Gesinnung nicht begreifen konnte. Häufig
wurde auch die Ausführung strenger Verordnungen Beamten anvertraut, welche
dem Christentum geneigt oder doch von der Nutzlosigkeit der Verfolgungen über¬
zeugt waren. Das sind allgemeine Gesichtspunkte, die bei allen Verfolgungen
berücksichtigt werden müssen, also auch bei der dioclctianischen, der heftigsten,
längsten, allgemeinsten und zugleich letzten, wenn auch hier noch besondre Momente
in Betracht zu ziehen sind.
Die diocletianische Christenverfolgung begann am 23. Februar 303 damit,
daß die Hauptkirche der Christen in Nicomedia, wo Diocletian residirte, nieder¬
gerissen wurde. Fragen wir darnach, wie es zu dieser Gewaltmaßregel gekommen,
so stoßen wir auf eine Nachricht, die nicht geringere Bedenken erregen muß
als die taciteische Erzählung über die neroische Verfolgung, nur daß der Bericht¬
erstatter hier in umgekehrter Weise für die Christen Partei nimmt. Es ist
Lactantius, der in seinem Buche „Über die Todesarten der Verfolger" (of mortivus
xsrLöcutorum) im zehnten Kapitel zunächst berichtet, daß eine wichtige Ein-
gewcideschau in Gegenwart des Kaisers dadurch gestört worden sei, daß die
anwesenden christlichen Hofleute das Kreuz geschlagen (oder an ihre Stirnen ein
wirkliches Kreuz geheftet) und damit die Dämonen Vertrieben hätten; vergebens
sei das Opfer mehrmals wiederholt worden, bis der Vorsteher der Haruspices
die Ursache geahnt und ausgesprochen habe. Daraufhin habe Diocletian in
vollem Zorn von allen Hofleuten das Götzenopfer verlangt und das Gebot
sogar auf die Armee ausgedehnt, unter Androhung des Abschieds. Weiter
schreibt der Bericht des Lactantius die Anfstachelung des Diocletian gegen die
Christen dem Einflüsse des Galerius zu, der wieder von seiner Mutter Rvmula
aufgehetzt worden sei, einer alten Dienerin der NaZus. Ug-te-r, die sich darüber
geärgert habe, daß die Christen ihres Wohnortes nicht wie die Heiden an ihren
täglichen Opfcrschmciußen hätten teilnehmen wollen. Wer sich über diese Ver¬
hältnisse genauer unterrichten will, den verweisen wir auf I. Burckhardts Buch
„Die Zeit Konstantins des Großen" (2. Auflage, Leipzig, Seemann,' 1^80); hier
nur noch so viel, daß es einem jeden, der den Diocletian nur einigermaßen kennt,
der weiß, daß er die Christen achtzehn Jahre lang an seinem Hofe und in
seinem Heere geduldet hatte, daß er in hoher staatsmännischer Weisheit sonst
nur nach vorher reiflich überlegten, festen Grundsätzen handelte, unmöglich er¬
scheinen muß, daß solche zufällige, äußere Einflüsse ihn hätten zur Ver¬
folgung der Christen auf Leben und Tod fortreißen können. Vielmehr werden
wir das Richtige treffen, wenn wir annehmen, daß Diocletian am Abend seines
Lebens zu der Überzeugung gekommen sei, die Christen seien ihm selber sowie
dem von ihm neuorgcmisirten Staate im höchsten Maße gefährlich. Mit dieser
Annahme müssen wir uns begnügen, es ist bedenklich, bei dem Mangel der
Überlieferung aus Andeutungen des Eusebius, wie Burckhardt thut, auf eine
Verschwörung der Christen am Hofe zu schließen, angezettelt zu dem Zwecke,
die Regierungsgewalt in ihre Hände zu bringen, sodaß die Verfolgung als eine
Reaktion dagegen aufzufassen wäre, unter der nun alle Christen hätten mitleiden
müssen. Wir wollen deshalb von einer weitern kritischen Erörterung absehen
und uns das Ganze dem historischen Zusammenhange gemäß vergegenwärtigen.
Beinahe drei Jahrhunderte waren seit der neronischcn Verfolgung verflossen.
Das Christentum war nahe daran, wenn nicht der Zahl*) nach, so doch durch
den innern Gehalt seines Wesens über das Heidentum den Sieg davon zu
tragen, was denn auch nach kurzer Zeit geschah. Die christliche Kirche bildete
schon beinahe einen Staat im Staate. Diocletian kam, wenn auch erst nach
langem Zaudern, zu der Überzeugung, daß sich dieser christliche Staat gegen
den römischen kehren werde, und daß man bereits auf dem letzten Punkte an¬
gekommen sei, wo vielleicht noch eine Errettung möglich sei. Bis dahin hatte
er die Christen mit Milde und Schonung behandelt, wie seiner Natur angemessen
war. Er hatte seinen Mitangustus Maximianus, der von Natur zu Gewalt¬
thaten geneigt war, welche keine Herzens- und Gemütsbildung milderte, geleitet,
Wie ein kluger Vater seinen ungestümen Sohn, und die beiden Cnsaren Galerius
und Konstantins, die ernannt worden waren, als Diocletian schon lange Jahre
den Purpur getragen, sahen ehrfurchtsvoll zu ihn: auf und richteten sich nach
seinen Winken. Dazu war Constantius, der Beherrscher von Gallien und Bri¬
tannien, dem Christentum geneigt. Aber Diocletian lernte am Abend seines
thatenreichen Lebens anders denken, und derjenige, welcher ans seine Umstimmung
einen bedeutenden Einfluß ausübte, war Galerius, ein ernster, wenn nicht
finsterer Charakter. Diocletian behandelte ihn seines festen und zuverlässigen
Wesens wegen mit Auszeichnung. So wurde Galerius' Haß gegen die Christen
für diese verhängnisvoll. Im Winter 302 auf 303, nach siegreicher Beendigung
eines Feldzuges gegen die Perser, hielt er sich in Nicomedia bei Diocletian ans,
drang mit seiner Ansicht vollständig durch, und es erfolgte nun der Anfang
einer systematischen Verfolgung mit der Niederreißung der Hauptkirche in Nico¬
media, wie oben bereits erwähnt ist.
Am Tage darauf erfolgte ein Edikt — dessen Wortlaut wir nicht kennen —,
in dem aber verordnet wurde, daß die Kirchen in allen Gegenden des Reiches
von Grund aus zerstört werden sollten; es wurde Todesstrafe gegen jeden aus¬
gesprochen, der irgendeine geheime Versammlung behufs religiöser Verehrung
abhalten werde. Die christlichen Schriften sollten an die Magistratspersonen
ausgeliefert und öffentlich verbrannt werden. Das Eigentum der Kirchen,
welches durch fromme Schenkungen angewachsen war, wurde eingezogen. Christ¬
liche Personen von anständiger Geburt wurden für unfähig erklärt, irgendwelche
Ehrenstellen oder Dienste zu bekleiden, Sklaven für immer der Freiheit beraubt
und dem großen Haufen des Volks aller Schutz und alle Vorteile des Gesetzes
entzogen. Die Richter sollten alle und jede Klage gegen die Christen annehmen.
Dem ersten Edikt folgte nach etwa einem Jahre ein zweites, welches die
Verhaftung aller Geistlichen befahl, diesem ein drittes, wonach die Gefangenen,
wenn sie opferten, freigelassen, sonst aber auf jede Weise zum Opfern gezwungen
werden sollten; im Jahre 304 endlich dehnte ein viertes Edikt das Gebot aus
alle Christen aus und begriff faktisch ein Todesurteil in sich. In aller Strenge
dauerte die Verfolgung im Osten etwa vier Jahre und dann noch weitere fünf
Jahre unter Schwankungen fort; im Westen, wo sie nicht allgemein gewesen
war, hörte sie früher auf.
Nach unsern Begriffen von Regierung hätte das Gesetz, welches die Ver¬
folgung anordnete, an einem einzigen Tage im ganzen Reiche bekannt gemacht
werden müssen; hier ließ man fünfzig Tage vergehen, ehe es in Syrien, beinahe
vier Monate, ehe es in Afrika bekannt gemacht wurde; in Gallien und Bri¬
tannien kam es garnicht zur Ausführung, während Maximicinus in Italien mit
großem Eifer darauf losging. Aus diesen Vorgängen läßt sich schließen, daß
die Regierungsmaschine im Kampfe gegen die Christen nicht mehr exakt arbeitete;
sie konnte nicht die Ausführung von Gesetzen gleichmäßig erzwingen, welche der
Richtung der Zeit schnurstracks entgegenliefen. Die Schwierigkeiten, welche sich
allerorten erhuben, brachten Diocletian zu dem verhängnisvollen Schritte, die
Negierung niederzulegen. Er fühlte es, daß es vergeblich sei, das Schicksalsrad
aufzuhalten. Reue hat er über sein Vorgehen wohl nicht empfunden, als er
dann in Salona seinen Kohl baute; es war ein Versuch gewesen, die Unter¬
thanen des Reiches zu einer Grundanschauung zurückzuführen. Das Problem
sollte ganz anders gelöst werden, als wie Diocletian es versucht hatte.
Es sind schauderhafte Geschichten von dieser Verfolgung erzählt worden.
Darnach wären Legionen von Christen martervoll hingerichtet worden. In
neuerer Zeit hat man die Angaben der christlichen Schriftsteller — die Gegen¬
partei ist in der Geschichte nicht zu Worte gekommen — etwas gesichtet und
geprüft, und hat gefunden, daß die christlichen Schriftsteller sich — gelinde aus¬
gedrückt — großer Übertreibungen schuldig gemacht haben. Es reichen nämlich,
wenn man die offenbaren Erdichtungen abzieht, alle Strafen und Hinrichtungen,
welche vom Beginn des Christentums bis zur Regierung Konstantins von den
Heiden verhängt worden sind, lange nicht an das heran, was die alleinselig¬
machende Kirche geleistet hat. Bei der Verfolgung des Diocletian (deren
Verlauf, auch nach seiner Thronentsagung, im ganzen auf zehn Jahre ange¬
geben wird) sollen an 2000 Menschen verurteilt worden sein. Und diese Ver¬
folgung war die längste und blutigste. In den Niederlanden allein aber ver¬
loren nach Grotius etwa 150 000 das Leben, und zwar im Laufe einer
Regierung! Man vergleiche dies Fleckchen Land mit der Ausdehnung des rö¬
mischen Reiches! Man kann nun sagen, Grotius sei Partei gewesen, er habe zu
hohe Ziffern angegeben. Indessen lebte er doch in einer Zeit, in welcher die
Mittel, sich wahre Nachrichten zu verschaffen, viel zahlreicher waren als zur
Zeit der Christenverfolgungen; deshalb gilt die Parteilichkeit doch wohl mehr
von den Christen aus der römischen Zeit, welche den Grundsatz aussprachen
und befolgten, nichts zu sagen, was der Kirche schädlich werden könnte. Sie
befolgten dann später, als sich das Verhältnis im Römerreich umgedreht hatte,
den weitern Grundsatz, die nachteiligen Schriften der Gegner zu vernichten.
Daher kommt es eben, daß wir heute den Schriftstellern so wenig Glauben
schenken können, wenn sie uns von Hinrichtungen und Martern und Wundern er¬
zählen, zumal solche Erzählungen den Stempel einer blühenden Phantasie deut¬
lich an sich tragen. Hätten wir auch gegnerische Schriften von gebildeten Heiden,
wir würden besser daran sein, da wir die Angaben der einen durch die der
andern kontroliren könnten. Die Heiden, die ja das neue Religionssystem als
eine Art, die Gottheit zu verehren, nicht bloß bestehen ließen, sondern sogar in
ihr Religionssystem aufnahmen, waren gerechter gegen ihre Gegner als die Christen,
die ihren Glauben für durchaus notwendig zur Seligkeit hielten. Bei Verfolgungen
gingen die letzter» deshalb naturgemäß schärfer gegen Leib und Leben der Gegner
vor. Mochte der Leib zu Grunde gehen, wenn nur die Seele gerettet wurde.
Hätten wir also auch nicht eine so bestimmte Nachricht wie die des
Grotius, wüßten wir auch nicht von den Gewaltsamkeiten, die überall in
Europa — wir brauchen keine Einzelheiten anzuführen! — von der katholischen
Kirche ausgeübt worden sind, wir würden schon aus dem angeführten Grnnde
eine von ihr ins Werk gesetzte Verfolgung für blutiger halten müssen als die
der heidnischen Römer waren.
Wir haben oben gesehen, daß es geradezu ein Unding ist, die Behandlung
der deutschen Katholiken in dem sogenannten Kulturkampf eine neronische Christen¬
verfolgung zu nennen; will man die Begriffe zerren und drehen, so mögen sich
wohl aus der diocletianischen Verfolgung einige analoge Erscheinungen auffinden
lassen. Es müßten dann die evangelischen Deutschen den heidnischen Römern,
der deutsche Kaiser und Fürst Bismarck dem Diocletian und dem Galerius,
die geforderte Anzeigepflicht etwa dem Opfer für den Genius des Kaisers gleich¬
gestellt werden. Das wären aber doch Übertreibungen der schlimmsten Art.
Wir meinen, daß die deutschen Katholiken mit ihrem ausländischen Papst, dem
sie blindlings ergeben find, am allerwenigsten nötig gehabt hätten, einen Ver¬
gleich zu gebrauchen, der ihre Gegner gerade auf die angreifbarsten Punkte der
katholischen Kirche aufmerksam machen mußte.
uf dem ästhetisch-kritischen Markte sind neuerdings zwei kleine
Broschüren erschienen, die zu betrachten aus einem ganz besondern
Grunde sich wohl verlohnt. Die eine führt den Titel Zur
Hamletfrage. Versuch einer Erklärung des Stückes von Her¬
mann Besser (Dresden, E. Pierson, 1882), die andre Der
Sturm und das Wintermärchen, zwei Shatespearesche Dramen, in ihrer
symbolischen Bedeutung, von Felix Boas (Stettin, Dannenberg, 1882).
Beide treten in bescheidenem Gewände auf. Ihre Verfasser nehmen den Mund
nicht allzu voll und geberden sich nicht, als hätten sie die Quadratur des Zirkels
entdeckt. Sie machen den Eindruck ernstgesinnter Männer, denen die Lösung
ihrer Aufgabe Herzenssache ist, sie disputiren mit Anstand und zeigen, wenn sie
auch nach keiner Seite hin bedeutend erscheinen, doch eine schätzbare Konsequenz
und selbst eine gewisse Feinheit des Denkens. Und doch haben sie umsonst ge¬
schrieben, doch stellt sich in ihnen nur der alte Fluch des deutscheu Nsthctisirens
verkörpert dar. Anstatt ein dramatisches Kunstwerk mit sinnlicher Unmittelbar¬
keit anzuschauen und auf sich wirken zu lassen, konstruiren sie eine „Idee,"
die sie in ihm wiederfinde» wollen und (wenn sie nicht gegen ihr eignes Fleisch
wüten wollen) wiederfinden müssen, und sehen um dieser Konstruktion willen
das allernächstliegende nicht. Der eine stellt eine These auf, die er mit einer
fast unbegreiflichen Verkennung der dramatischen Thatsachen durch alle Szenen
und Charaktere des Stückes versieht, der andre läßt das Drama selbst gleichsam
als „zur Statue entgeistert" unter sich liegen und sucht über seiner Stosfwelt
den dichterischen Gedanken auf. Was die Gestalten Shakespeares stich und thun,
ist ihm nichts gegen das, was sie bedeuten.
Der Hamlet-Interpret beginnt mit einem maßvollen Angriff gegen alle
diejenigen, welche die Ansicht vertreten, die dem Hamlet übertragene Mission
sei entweder überhaupt oder doch aus individuellen Gründen unlösbar, und rä-
sonnirt wie folgt: „Wie sollte auch — von allem andern ganz abgesehen —
der Dichter so grausam gewesen sein, dem Helden seines Dramas eine ihrer
Natur nach unmögliche Leistung aufzuerlegen? Wie wäre ihm vollends der
wahrhaft tückische Hohn, ja die augenscheinliche Selbstvcrhöhnung zuzutrauen,
einem von ihm als sür die Aufgabe untauglich gedachten Hamlet dennoch schlie߬
lich die Tötung des Claudius zu übertragen, zumal sich ihm in dem von
letzterem zur Meuchelung des Prinzen verführten Laertes ein andrer, jenes
Falles geeigneter Vollstrecker der That völlig ungesucht darbot?" Welch ein
Standpunkt! Und wie geht aus diesen Worten die subjektive Befangenheit und
Willkür des Erklärers, die er sogar dem Dichter imputiren möchte, bis zur Ver¬
blüffung deutlich hervor! Was läge denn in aller Welt für eine Grausamkeit
des Dichters darin, wenn er das tragische Mißverhältnis zwischen Kraft und
Last, das uns das Leben, selbst in seinen alltäglichsten Erscheinungsformen, fast
stündlich vor Augen führt, in einem Typus künstlerisch erschütternd verkörperte?
Und wie versperrt sich der Erklärer selbst die Wege zur Erkenntnis, wenn er
aus diesem geradezu lächerlich philanthropischen Grunde (aus Rücksichten der
Billigkeit gegen eine dichterische Figur!) die Richtigkeit der bekämpften Deutung
von vornherein für ausgeschlossen hält! Wie kann der Dichter überhaupt
grausam gegen seine Geschöpfe sein! Und was will der den Lavrtes betreffende
Passus? Schon die bloße Möglichkeit, dieser könne, wenn es zur Entscheidung
kommt, statt des Hamlet den tätlichen Streich gegen den König führen, zerreißt
das Gewebe der Handlung. Wenn es nur gälte, einem Meuchelmörder das
Schwert in den Leib zu bohren, wenn in der Vollziehung der äußern Justiz
das A und O des Dramas läge, dann dürfte man mit demselben Rechte fragen:
Wenn Lavrtes — warum nicht auch Horatio, oder Osrick oder irgend jemand
von den Höflingen? Dies Erwägen von Möglichkeiten ist ebenso müßig wie
uMnstlerisch und beweist nur, daß der Erklärer nicht imstande ist. dem
Drama von seinen Voraussetzungen aus nahezukommen. Daß, so oder so,
das Eingreifen des Lasrtes eine Albernheit wäre, braucht dabei garnicht einmal
besonders betont zu werden. Die Bemerkung ist anscheinend gleichgiltiger Natur,
und doch spricht sie allein ihrem Verfasser die Berechtigung zur Kritik ab. Wie
Recht hatte Schiller, als er in einem Briefe an E, G, Schütz vom 22, Januar
1802 von einer Rezension seiner „Jungfrau von Orleans" sagte: „Sie zeigt
einen fähigen Verfasser, und ich habe Ursache, mit den guten Gesinnungen, die
derselbe für mich und mein Gedicht hegt, sehr zufrieden zu sein. Aber ich muß
denn doch zur Steuer der Wahrheit gestehen, daß die Forderungen, die der
Leser an einen Rezensenten machen kann, keineswegs darin erfüllt sind... Ein
poetisches Werk muß, insofern es, auch nur in K^xotneÄ, ein in sich selbst or-
ganisirtes Ganze ist, aus sich selbst heraus, und nicht aus allgemeinen und
darum hohlen Formeln beurteilt werden; denn von diesen ist nie ein Übergang
zu dem Faktum." Es ist das Grundübel des Besserschen Aufsatzes, gegen diese
klar ausgcsprochne Regel auf Schritt und Tritt zu fehlen.
Was ist nun die große Neuheit, deren vermeintliche Entdeckung den Ver¬
fasser so geblendet hat, daß er ihr verfallen ist, was ist der Kern seiner
Deduktion? Er geht davon aus, daß die dem Hamlet obliegende Aufgabe nicht
nur das Nachegebot, sondern noch ein weiteres enthalte: die Mahnung, nichts
gegen die Mutter zu unternehmen und (der Verfasser macht hieraus den zweiten,
aus dem folgenden den dritten Teil der Aufgabe) dieselbe dem ewigen Richter
und der Selbstregung ihres Gewissens zu überlassen. Dem kann man unbedingt
zustimmen, wenn auch nicht in dem pointirter Sinne, den Besser der betreffen¬
den Stelle in den Worten des Geistes unterlegt. Er sieht nämlich in all
diesen Forderungen einen Verstoß gegen die Sittlichkeit, verwirft die Rache als
unmoralisch, betont, daß auch die Rechtsidee Schaden leide, wenn die Mutter
straflos ausgehe, und hält es für unvereinbar mit allein wahrhaft sittlichen
Wesen, daß dem Sohn aufgetragen werde, sich um das Seelenheil derer, die
ihn geboren, nicht zu kümmern. Nach Besser darf darum Hamlet das Gebot
des Geistes buchstäblich garnicht erfüllen, und die eigentliche ihm erwachsende
Schwierigkeit bestünde darin, es gewissermaßen zuerst zu umgehen, um es dann
in höherem sittlichen Sinne zu lösen, seine Größe aber, diesen Kampf siegreich
zu enden und nicht als Rächer, sondern als Richter aus dem Wirrsal der
Begebenheiten hervorzugehen. Das könnte trotz der Unklarheit, die diesem Begriff
der sittlichen Winkelzüge anhaftet, immer noch leidlich erscheinen, aber wie schief
es darum steht, das wird, sobald Besser seine Beweismittel beibringt, bedenklich
klar. Zunächst muß Hamlets Vater den hohen, heiligen Platz, den er in den
Vorstellungen und im Herzen des Sohnes einnimmt, räumen. Die ganz
selbstverständliche Thatsache, daß der alte König nicht wie ein Heiliger gelebt
hat und gestorben ist, sondern daß auch er nach der katholischen Vorstellung
im Fegefeuer zu schmachten hat, „bis die Verbrechen seiner Zeitlichkeit hinweg¬
geläutert sind," deutet Besser im übelsten Sinne. „Erfährt er (Hamlet) auch
nicht," heißt es, „welcher Art seine (des Geistes) Übelthaten gewesen sind, und
darf er gewiß sein, daß sie nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem raffinirt
ruchlosen Treiben des Oheims gehabt haben werden, immerhin muß der Eindruck
des Vernommenen auf ihn ein gewaltiger sein, umso gewaltiger, da er den
Vater nach der ihm von demselben gestellten Aufgabe noch immer in unlauter»
Vorstellungen und Empfindungen befangen sieht." Und diese unlautern „Vor¬
stellungen und Empfindungen" sollen ans den Worten des Geistes über die
Mutter hervorgehen, Worte, ans denen die alte Gattenliebe, die zarteste Pietät
und für jeden Unbefangenen die feinste Sittlichkeit spricht! „Überlaß sie dem
Himmel!" sagt der Geist doch anch — und wem könnte Hamlet sie, gerade
im Sinne des Verfassers, ruhiger überlassen? Natürlich findet Besser für feine
Behauptung keine Beweise und kann sich nur mit der Floskel helfen, daß
Hamlet „sich seine Enttäuschung hinsichtlich des Vaters nicht zu gestehe» wagt,"
gleichwohl soll diesen sofort das Gefühl überkommen, daß er bei der Mangel-
haftigkeit des Geistes der Aufgabe im Wortlaute nicht genügen könne, nach
und nach sogar die Einsicht, daß auch er „durch die Unthaten seines Hauses
die Herrschaft verwirkt habe." Seines Hauses! also doch auch, und wohl vor
allem, des eignen Vaters! Hat der Verfasser denn nur daran gedacht, daß
lange nach der Erscheinung des Geistes in der wundervollen Szene mit der
Mutter den Lippen Hamlets Worte der Bewunderung über den Vater ent¬
strömen, die fast der Vergötterung gleichen, und kann er angesichts dieser Ver¬
kündigung seine gesuchte Behauptung aufrechterhalten wollen? „In Wahrheit
ein Verein und eine Bildung, auf die sein Siegel jeder Gott gedrückt" —
kann die kindliche Verehrung stärker reden?
Nun schließt sich eine mißverständliche Deutung in unglückseliger Kette an
die andre. Mit der moralischen Qualität des Geistes wird auch seine Echtheit
stärker angezweifelt. In dem großen Monolog findet Besser den Kern nicht in
dem Philosophiren über den Selbstmord, sondern in dem Zweifeln an die
Revenants, das garnicht darin enthalten ist (denn in jener bekannten
Stelle von dem „unentdeckten Lande" wird lediglich dem Gedanken Ausdruck
gegeben, daß aus dem Reich des Todes keiner wieder zum Leben gelangen
könne). Nun gelten Hamlets Znrllstungen zur entscheidenden That, besonders
das Schauspiel, in erster Linie der Mutter und nicht dem König, da Hamlet
„noch der Klarheit über den Umfang ihrer Verschuldung bedürfe, da der Geist
bei seiner Parteinahme für sie möglicherweise auch hierin nicht ganz offen ge¬
wesen fein könne," ja nun wird sogar, bei dieser Fürsorge Bessers für die
Königin, die Behauptung gewagt, „die Freundschaft Hamlets gegen den Oheim
habe sich durch die Enthüllungen des Geistes keineswegs noch gesteigert, viel¬
mehr gemindert, da der Einblick in die Schuld beider Eltern das schon auf der
Terrasse in ihm rege gewordne Gefühl der allgemeinen menschlichen Gebrechlich¬
keit notwendig verstärken und hiervon eine Milderung seines Urteils auch über
jenen die Folge sein mußte." Nun soll sogar in dem im Ingrimm der Rache
vollzogenen Gericht an dem Frevler, der mit der vergifteten Waffe niedergestochen
und zugleich den Giftbecher zu leeren gezwungen wird, ein predigthafter Vorhalt
über die Nichtswürdigkeit dieser Wahl doppelter Mordwerkzeuge und das über¬
reichlich Verdiente seines Geschicks liegen und Hamlets Wort über den Sterbenden
„Folg' meiner Mutter" soll „einen versöhnlichen Sinn haben," den Sterbenden
auf den ewigen Richter hinweisen und „in sein Erscheinen vor demselben mit
der durch ihre Selbstaufopferung bereits entführten Mutter einigen Trost auch
für ihn legen." Die Selbstaufopferung der Mutter? wird man verwundert
fragen. Ja, leider! Besser entwickelt in fein gemütvoller Weise, aber eben völlig
unhaltbar, den Gedanken, die Königin trinke aus dem Kelch mit Absicht und
wisse mithin um die Vergiftung. Das ist ein arger Mißgriff. Der König
konnte und durfte seine Gattin in den Plan unmöglich einweihen, denn sie
würde ihn nie gelitten haben. Er selbst sagt in der siebenten Szene des vierten
Akts zu Laertes, seinem einzigen Mitwisser und Mitthäter: „Seine Mutter, die
Königin, lebt fast von seinem Blick" und an einer andern Stelle derselben
Szene bei Erwähnung des Probestücks, das dem Neffen den Tod bringen soll:
„Es soll um seinen Tod kein Lüftchen Tadel wehn. Selbst seine Mutter spreche
los die List und nenne Zufall sie." Wie kann man gegen diese durch das
ganze Verhalten zwischen Mutter und Sohn besiegelten Worte taub sein?
Die blutlose Reinigungsidee wird nun überall gesucht und gefunden. Wenn
Hamlet in herzlicher Aufwallung den teuern, treuen Jugendfreund mit den
fröhlich gefärbten studentischen Worten grüßt: „Ihr sollt noch trinken lernen,
eh' ihr reist," dann soll nach Besser eine hohe sittliche Besonnenheit darin zu
finden und die traute Begrüßung mir ein hinterhältiger „Fühler sein, ob Horatio
wohl auch wie Laörtes zur Krönungs- statt zur Leichenfeier gekommen" sei.
Die Gebetsszene des Königs und Hamlets Verhalten während derselben wird
völlig auf den Kopf gestellt. Besser geht von der Voraussetzung ans, Hamlet
habe den Claudius „nach demi Willen der Vorsehung zuvörderst reuig zu
machen" und ihn erst „im Falle des Mißlingens zu richten." Ob dies dra¬
matisch wäre oder nicht, kümmert den Ausleger nicht; für ihn handelt es sich
nur um die Frage: „Wird Hamlet sich selbst überwinden?" ini Falle ihrer Be¬
jahung aber um die andre: „Wird der König bußfertig vom Gebet wiederauf¬
stehen?" Man erinnere sich des flüsternden Selbstgespräches Hamlets, während
der König am Betpulte kniet, um sich über die Entscheidung Bessers, Hamlet
habe sich hier sittlich überwunden, nach Gebühr zu wundern. Nach den klaren
Worten des Dichters steht der Prinz von der Führung des Todcsstreiches nur
darum ab, weil er dem König nicht die Wohlthat erweisen will, während des
Betens zu sterben und auf diese Weise gen Himmel zu fahren. „Das wäre
Sold und Löhnung, Rache nicht." Zu andrer Stunde soll er fallen, „wenn
er berauscht ist, schlafend, in der Wut, in seines Betts blutschänderischen
Freuden," kurzum bei einem Thun, „das keine Spur des Heiles an sich hat,"
damit die Rache ganz vollkommen werde. Das ist so bündig wie möglich, daran
ist nicht zu drehen und nicht zu deuteln. Was thut nun der Erklärer, um den
Beweis zu führen, Hamlet habe sich auch während dieses Auftrittes sittlich
Pnrgirt? Er sagt: „An das grausame Motiv, das er sich aus Scheu vor dem
Geist dabei andichtet (seil, bei der Aufsparung der Rachethat), glauben wir
nicht, vielmehr den für reuig gehaltenen Beter zu töten, war ihm unmöglich."
Nun denn: das ist das gerade Gegenteil der Worte Hamlets und der Absicht
des Dichters, das ist eine Verfälschung des dramatischen Thatbestandes, wie sie
ärger nicht gedacht werden kann! Ja sogar der exaltirt pathetische Ausbruch
Hamlets und der Ringkampf mit dem Laörtes in Ophelicns Grabe muß dem
Verfasser als Beweis für seine Behauptung dienen. Warum aber? Weil
Hamlet seine Wild eben gegen Laörtes und nicht gegen den König richtet. „Was
können wir, deduzirt er, hiernach in seinem Toben Wider diesen anders er¬
blicken als einen jetzt wieder über sich selbst gewonnenen Sieg, und zwar ge¬
wonnen in dem härtesten aller bisherigen Kämpfe, da er auch in der Gebcts¬
szene doch nur den vor Gott auf den Knien liegenden, hier sogar den neben
seiner Mutter und am Grabe der Geliebten stehenden König verschont hat?
Sogleich auch soll er dafür sich belohnt sehen; denn er hört die Mutter, um
deretwillen er sich eben wieder bezwungen, um auch öffentlich seine Partei
nehmen." Das ist doch wirklich mehr als wunderlich. Übrigens bleibt der Ver¬
fasser nnr konsequent, wenn er, da er den Geist doch nun einmal für einen sehr
zweifelhaften und jedenfalls erlösnngsbedürftigen Vocativus hält, das Ganze zu¬
gleich auf eine Läuterung desselben abzielen und hinauslaufen läßt. Da Hamlet
statt der egoistischen Wünsche des Geistes die Gebote der Sittlichkeit erfüllt,
verspürt der Jnsasse des Fegefeuers allmählich, daß ihm die hohe Moralität
seines Sohnes zu Gute kommt. Schon in dem Umstände, daß er in Gertrndens
Gemach nicht im Harnisch, sondern im Hauskleide erscheint, will Besser „eine
mildere Stimmung und ein Zufricdensein mit dem bisherigen Verhalten des
Sohnes" angedeutet finden, und die Worte des Geistes müssen ihm beweisen,
daß dieser von seinen frühern rücksichtslosen Forderungen und seiner Feindselig¬
keit gegen den Bruder schon etwas abgelassen habe. Der Ausgang der Tragödie
muß nach seiner Ansicht dein Geiste vollends höchst genehm sein; er ist aller
Wahrscheinlichkeit nach durch die Erkenntnis der Selbstüberwindung des Sohnes
ungereinigt und aus dem Orte seiner jetzigen Qualen erlöst worden. Daß er
zu guterletzt nicht noch in Person erscheint und seine Erlösung verkündigt,
schreibt Besser lediglich dem Charakter des Stückes zu, in welchem es sich allein
»um innerliche Ziele, um Gesinnungsreinigung handle"; auch glaubt der Ver¬
fasser, „der zuletzt nur durch sein Vertrauen auf göttlichen Beistand Sieger ge¬
bliebene Prinz" hätte sich, den Tod vor Augen, „die Lobsprüche des Vaters
notwendig verbitten müssen." Er tröstet sich jedoch damit, daß Horatio in
seinem Nekrolog dem Verstorbenen voraussichtlich die in Betreff des Vaters
ihm gebührende Ehre gezollt und ihn zugleich als bewährte» Schüler Luthers
gefeiert habe» werde. Das ist der letzte Trumpf! Hamlet ist der Sendbote
des Reformationsgedankens! Verlohnt es sich im Ernste, hierauf und auf jene
Expektoration über das Stück hinaus naher einzugehen? Mann kann die
Leichenrede des Horatio auf sich beruhen und sich mit seinem kurzen, ergreifenden
Nachruf mehr als vollauf genüge» lassen: „Da bricht ein edles Herz. Gute
Nacht, mein Fürst! Und Engelschciaren singen dich zur Ruh!" Ein Kunstwerk
ist, uni Schillers Wort zu wiederholen, wenn auch nur in it^potluzsi, „ein in sich
selbst organisirtes Ganze." Es hat in sich selbst Anfang und Ende. Wer seine»
Rahmen durchbrechen und seiue Handlung wie ein Wirkliches weiterspinnen will,
der verwechselt das Leben mit der Kunst, die Realität mit ihrem geläuterten
Idealbild. Was der Dichter begonnen, hat er im Kunstwerk selbst auch zu
enden. Unterläßt er es, so fehlt er. Darüber hinaus giebt es für das ästhetische
Empfinden nichts. Und damit genug von der bei aller Gewissenhaftigkeit und
Noblesse der Denkart lind des Empfindens so völlig mißratenen Schrift. Freilich:
mit diesen schätzbaren Eigenschaften allein löst man kein künstlerisches Problem.
Die kleine Schrift von Boas verfährt ungleich einfacher und radikaler als
die von Besser. Ihr Autor bohrt sich nicht in die Schachte des Dramas ein,
um sich wider Willen in ihnen zu verfangen, er schwingt sich phantasievoll
über sie hinweg und schafft sich in den Lüsten sein ideales Wolkenkukuksheim.
Es soll nicht geleugnet werden, daß dies mit Geschick geschieht, das Schlimme
ist nur, daß mau auf den Spuren von Boas sicher dazu gelangen würde, auf
den äußern Konnex einer dramatischen Handlung mit Gemütsruhe zu verzichte»,
wen» sich nur die einzelnen Teile in eine Gedankenverbindung bringen lassen.
Das äußerlich Ungereimteste und Widerspruchsvollste dürfte ertragen werden,
wenn es sich nur als das Symbol einer Idee darstellte. Daß diese aus der
Handlung selbst sofort erkennbar hiudurchlcuchten müsse, verlangt der Erklärer
augenscheinlich nicht, es genügt ihm, wenn sie sich künstlich aus ihr entwickeln
läßt, und es bedeutet ihm nichts, daß wir auf diese Weise, je nachdem wir die
dramatische Handlung als solche oder die aus ihr abgelöste Idee betrachten,
die Wahl zwischen einem Körper ohne Seele und einer Seele ohne einen
passenden Körper haben. Es sei hier gleich vorangeschickt, daß Boas das
„Wintermärchen," wenn ma» ihm seinen symbolischen Charakter nicht zugestehe»
will, für zusammenhangslos in den äußern Teilen und die Szene des so¬
genannten „Wiedererwachens" der Hermione für dramatisch überflüssig hält,
daß ihm (wir uns) das Spiel, das diese i» der erwähnten Szene mit dem
Gatten treibt, ohne symbolische Deutung verletzend und dem menschlich-natür¬
lichen Gefühl zuwider erscheint, kurz, daß ihm das Drama, lediglich als solches
betrachtet, an einem Komplex von Widersprüchen und psychologischen Unmög¬
lichkeiten krankt. Selbst die Nennung des Giulio Romano als des Schöpfers
der Statue (ein ziemlich bedeutungsloser Anachronismus) würde nach Boas'
Meinung „wegen der dadurch hervorgerufenen Verwirrung und Unklarheit aller
Vorstelln ngen über den Zusammenhang der dargestellten Begebenheiten den herbsten
Tadel verdienen," wenn nicht auch hierin eine tiefere Bedeutung zu finden wäre.
Weil er an die Berechtigung eines solchen Tadels nicht glauben mag, wird er
nur umsomehr in dem Glauben an die Richtigkeit seiner Ansicht bestärkt, Shake¬
speare habe im „Wintermürchen" mit bewußter Absicht shmbolisirt.
Wenn Boas Recht hat, dann ist die Deutung des „Wintermärchens'' folgende.
Sicilien repräsentirt das Land und die Heimat der alten griechisch-römischen,
Böhmen „die ursprüngliche Heimat der germanischen Welt," die drei ersten
Akte zeigen uns den allmählichen Verfall der antiken Kultur, den „sechzehn
Jahren" des Zeit-Chorus hat man zwei Nullen anzuhängen; im vierten Akt
finden wir uns in einer frisch emporblühenden, lebenskräftigen, fröhlich-heitern
Naturwelt, „die, indem sie sich zur vollsten Blüte zu entfalten strebt, doch in
sich selbst ein ganzes Genügen nicht mehr findet und jenes nur dadurch vermag
daß sie die überbliebnen (sie) Reste jener alten, längst zu Grabe getragnen
Kulturwelt in sich aufnimmt" (Perdita); im fünften endlich wohnen wir dem
„Wiederaufleben einer neuen Kulturepoche" bei, „deren Wesen auf der innigen
Verschmelzung edler Geistesbildung mit einem reinen Natursinne beruht." Der
Gedanke wird bis ins Detail verfolgt. Hermione (der Erklärer erinnert daran,
daß die Tochter der Helena diesen Namen.trage) ist das Kind der Schönheit:
die Kunst. (Freilich übersieht er, wenn er ausführt, daß „die Kunst allein auch
einem Steine Leben zu verleihen vermag," wie sehr sein Vergleich hinkt. Denn
erstens ist Hermione kein Stein und zweitens macht sie im Drama nicht,
sondern sie wird, scheinbar wenigstens, selbst lebendig.) In der Ehe der Hermione
mit Leontes liegt das enge Bündnis der Kunst mit dem Leben der Antike, zugleich aber
auch die drohende Gefahr der Verfeinerung und Hyperkultur. Der unverdorbene
Natursinn (Polyxeues) steht der Kunst zwar nicht fremd gegenüber, aber eine
innigere Verbindung wie jene gehen sie nicht ein. Endlich trennen sich mit
dem Bruch der Freunde Natur und Bildung, und mit jener verläßt in der
Person des Camillo die Treue und Redlichkeit die alte Stätte, auf der für sie
kein Platz mehr ist. Jetzt nimmt die Entartung überHand, die Willkür, der
Despotismus herrscht, jede leiseste Stimme der Natur ist versiegt, und damit
auch die Zeit für die echte Kunst dahin. Die Anrufung des Apollo erhält
erhöhte Bedeutung: die Kunst fleht den Gott um Beistand an, unter dessen
unmittelbarem Schutze sie steht. Der Tod des zarten, altklugen Mcimilius (dem
u. n. der etwas komische Vorwurf gemacht wird, er vermöge die der Mutter
angethane Schande nicht „männlichen Sinnes zu ertragen" — dies Kind!)
bezeichnet den völligen Zusammenbruch der alten Welt. Auf den Unterschied
der Schilderung Böhmens (bez. Germaniens) vor und nach dem Chorus
glaubt Boas Gewicht legen zu müssen, in der letzten Szene des dritten
Aktes ist es eine wilde, wüste Gegend, worin der Sturm wütet und
die Bären sich tummeln, im vierten das schöne Böhmen, die Stätte einer mit
der Natur eng verschwisterten schlichten Gesittung, Aber trotz ihres Glückes
strebt diese Welt sich zu erweitern. Das Samenkorn „wahrer und edler Geistes¬
kultur" trügt auch inmitten der germanischen Stämme Blüte und Frucht.
Perdita und Florizel finden sich, und in Italien, wohin die beiden flüchten,
schließen die Bildung und der Natursinn einen neuen innigen Bund. Mau
könnte, da der Verfasser einmal soweit gekommen, bequem fortfahren, vom
Humanismus, der Renaissance, dem Cinquecento reden, und in der That steckt
das alles und mehr in seinen Ausführungen, die damit enden, daß der Verein
der jugendlich reinen Sprößlinge nun auch die Kunst aus dem langen Winter¬
schlummer ins Leben zurückruft. „Ihr müßt den Glauben wecken," sagt Paulina,
nur der Glaube erschließt die Kunst.
Es ist offenbar System in dieser Deutung, und es fehlt ihr nicht an Geist;
nur eins hat Boas übersehen, und darin liegt das völlig Unkünstlerische seiner
Anschauungsweise. Jedes Kunstwerk ist Leib und Seele, alles Konkrete erlangt
unter der Hand des Künstlers die Weihe des Allgemeinen. Dies Konkrete muß
aber auch für sich betrachtet Sinn, Bestand und Zusammenhalt haben, der
Körper muß selbst ein organisches Ganze und kein zerrissenes und zerklüftetes
Mosaikwerk sein, ja noch mehr, er muß die Idee, die er darstellt, in sich selbst
durchsichtig tragen: sie darf nicht als glänzende, aber substanzlose Aureole über
ihm in der Luft schweben. Gesetzt einmal, der Erklärer hätte mit seiner Inter¬
pretation Recht, so hätte er höchstens bewiesen, daß sich mit dem dramatischen
Vorgang in der Schöpfung eines großen Dichters zugleich eine kunsthistorische
Spielerei verbinden kann — denn weiter wäre das Resultat seiner Kombina¬
tionen doch nichts. Mit dem dramatischen Leben, mit der tragischen Erschütte¬
rung, mit der ästhetischen Befriedigung hat es nicht das mindeste zu thun.
Zunächst erblicken wir im Drama immer nur das Reale, und nur, wenn uns
dies, durch sich selbst, gewinnt, wenn es unaufdringlich, leise von seinen Ge¬
stalten den Schleier hebt, der sie uns im Lichte des Ewigen zeigt, nur dann
empfinden wir die ganze Weihe und den Schauer des künstlerischen Symboli-
sirens.» Dazu ist aber eben erforderlich, daß dem symbolischen Zeichen (wenn
man so will), der einzelnen Szene, der ganzen Dichtung die Kraft der poetischen
Wahrheit eigen, daß es kein widerspruchsvolles Unding sei. Die symbolreichste
und symbolischste aller Dichtungen, der „Faust," ist in seinem größten Teil
zugleich das in seiner Realität wahrste und plausibelste Kunstwerk. Der erste
Akt (bis zu den Osterchören), Mephistopheles, die Hexe, die Reinigung der
Seele des Helden durch die Elfen, die grauen Weiber, Fausts Tod — wie erfüllt
ist das alles von tiefster Symbolik, und wie szenisch und dramatisch sinnvoll
ist es zugleich auch ohne seinen höheren Bezug! Und ist es nicht ganz bezeichnend,
daß den Dichter die dichterische Kraft überall da verläßt, wo er mit seinen Ge¬
schöpfen zugleich Fragen der Kultur- und Kunstgeschichte lösen will, die aus
ihren Geschicken von selbst gar nicht hervorgehen, die vielmehr erst zwangvoll
und peinlich mit ihnen in Verbindung gebracht werden müssen? Gesetzt also
nochmals, der Interpret hätte mit seiner Erklärung Recht, so würde das nicht
hindern, zunächst zu fragen, ob diese aus den dramatischen Begebnissen erhellt
und ob diese letzteren selbst sinnvoll und znsammenhiingend sind? Und darauf
giebt es mir die Antwort: Nein. Von dem ersten Punkte hat man nicht nötig
noch zu reden, und hinsichtlich des zweiten fällt sich Boas, wenn er das „Winter-
märchcn" ohne seine symbolische Deutung als ein mit vielfachen argen Mängeln
behaftetes Werk hinstellt, selbst das Urteil. Ich möchte dem Autor darin nicht
überall folgen, aber wahr ist es doch, daß, mag man von den unvergleichlichen
Schönheiten der Dichtung bis ins tiefste Herz getroffen werden, dieselbe doch
als dramatisches Ganze nicht zu halten ist und daß u. a. die Raserei und die
plötzliche Umkehr des Leontes ebenso wie die lange Wartezeit, die Hermione bis
zu ihrer Statuenkomödie verstreichen läßt, dramatisch unerträglich sind. Daran
bessert auch die Boassche Interpretation nicht ein Jota; oder vielmehr, ein
Drama, dessen dramatische Unmöglichkeiten erst durch diese außerhalb des Drama¬
tischen liegende Erklärung eine» gewissen Sinn bekommen, ist und bleibt eben
eine Unzulänglichkeit, seine dichterischen Details mögen so entzückend schön sein
wie die des „Wintermürchens" in der wunderbaren Gerichtsszcne und dem ganzen
herrlichen Schäferakt. Wohin sollte es schließlich führen, wenn der Poet die
Sanktion erhielte, uns ein dramatisches Rätsel aufzugeben, um uns, nachdem
wir den Kopf darüber geschüttelt, einen Zettel in die Hand zu drücken, der uns
beweist, daß dasselbe zwar als Drama widersinnig, aber doch von anderen Ge¬
sichtspunkte betrachtet sehr tiefsinnig sei? Würde nicht die Mittelmäßigkeit, die
ohnehin mit den dramatischen und theatralischen Geboten nicht aus noch ein
weiß, dabei außer Rand und Band geraten und eine talentlose Romantik in
Permanenz erklärt werden?
Wie ganz anders steht es in dieser Beziehung mit dem „Sturm," dessen
Charakter als konsequentes Einheitendrama (das einzige bei Shakespeare) der
Verfasser mit Recht im Gegensatz zu dein zwanglos komponirter „Wintermärchen"
betont! Welch ein Meisterwerk ist hier geschaffen, wie schließt sich Glied an
Glied zum vollkommenen Wunderring, wie ergötzt, ergreift und beseligt uns das
Leben und Weben auf diesem Zanbereiland, wie erschließen sich lichtvoll in
diesem phantastischen Treiben die tiefste» psychologischen und sittlichen Wahr¬
heiten, und wie in sich ganz und rund ist das Werk, wie thut es uns als
Kunstwerk so volles Genüge! Ist es darum aber nicht sehr bezeichnend für die
künstlerische Gleichgiltigkeit der außer- oder überdramatischen Deutungssucht, daß
wir es genießen, ohne von dieser etwas zu wisse» oder sie herbeizuwünschen?
Ist Prospero der Künstler, Miranda das Kunstwerk, Ferdinand der Kunstjünger
oder das Publikum, so mag das ja nebenbei eine ganz hübsche Spekulation
und die Auslegung vielleicht auch möglich sein; aber das kümmert keinen,
der künstlerisch empfinden und getroffen werden will. Auch möge es der Ver-
fasscr, wenn uns seine Glossen bis dahin artig unterhalten haben, nicht übel
deuten, wenn wir ihm in seiner Erklärung der Plagen, die der edle Prospcro
den Clowns bescheert, durchaus nicht zu folgen vermögen. Sollte hier wirklich
der Künstler, „indem er jene Folgen der niedrigen, rein sinnlichen Leidenschaften
zur Darstellung bringt, auf diese bessernd zu wirken suchen? Ach nein! Doch
sei ein solcher Mißgriff nicht allzusehr urgirt. Er bedeutet in der That wenig
bei der unkünstlerischeu Tendenz der ganzen Arbeit.
Und damit sei denn auch von dieser Abschied genommen. Um ihrer selbst
willen hätte sie eine sorgfältigere Betrachtung ebensowenig in Anspruch nehmen
dürfen als der Bessersche Hamlet-Essay, denn dazu ist sie wie jener trotz mancher
Vorzüge auch als Angriffsobjekt nicht bedeutend genug. Nur als Typus der
unfruchtbare!» Methode des deutschen Ästhetisirens verdienten beide eine schärfere
Beleuchtung. Sie charakterisiren trefflich das mittelgute, gebildete aber gänz¬
lich unpraktische Dramaturgentum, das, vom Theater zu seinem Unsegen völlig
gelöst, damit auch der wichtigsten Schulung des Urteils in dramatischen Dingen
verlustig gegangen ist, und anstatt ein sinnlich klares und Sinnfälliges, plastisch
auf einfachem Fundament hervorwachsendes Kunstwerk vor sich zu sehen, mit
vorgefaßten Konstruktionen und Abstraktionen operirt. „Leicht bei einander
wohnen die Gedanken," das Drama aber gehört mit seinem Organismus der
Sinnenwelt an, dieser Welt des Raumes, in dem sich „hart die Sachen stoßen";
nur wenn es sich in ihr gesund entwickelt und lebendig regt und bewegt, kann
es nach den Sternen greifen und in seinen engen fünf Akten die Ewigkeit
wiederspiegeln. Darum kann man es aber auch nur verstehen, wenn man sich
in seine Lebensbedingungen versetzt und es mit frischem, sinnlich unmittelbarem
Blick betrachtet. Wie das Drama selbst, hat sich die dramaturgische Kritik erst
auf dieser rauhen Erdoberfläche umzusehen und Sicherheit zu schaffen; nicht
eher wird es ihr vergönnt sein, den Majaschleicr zu heben unH das Welt¬
geheimnis in ihm zu finden. Hier heißt es im vollsten Sinne: ?ör asxsrg,
g,ni astrÄ.
er jemals eine Zeit lang als Referent über Kunstangelegenhcite»
an einer Zeitung thätig und bemüht gewesen ist, -seines Amtes
mit Gewissenhaftigkeit und Gerechtigkeit zu walten, der wird sich der
Notwendigkeit nicht haben entziehen können, über den Zweck einer
solchen Thätigkeit und den dabei einzunehmenden Standpunkt nach¬
zudenken. Ein solches Nachdenken bewirkt im günstigen Falle nicht nur eine Auf-
klärnng über die eignen Obliegenheiten, sondern befähigt auch, den Stand¬
punkt andrer, ans demselben Gebiete thätiger zu erkennen, und es dürfte
nicht uninteressant sein, einige Beobachtungen aufzuzeichnen, die durch Betrach¬
tung des thatsächlichen Verhältnisses der journalistischen Kritik zur Kunst ent¬
standen sind.
Die journalistische Kritik verfolgt im allgemeine» den Zweck, die Erschei¬
nungen auf dem Gebiete des künstlerischen Lebens, mit besondrer Bevorzugung
der Theater- und Konzertanfführnngen, zu registriren und zugleich über deren
Kunstwerk ein Urteil abzugeben, welches teils als Ausdruck der allgemeinen
Meinung gelten, teils erst als allgemeine Meinung adoptirt werden soll. Im
letztern, dem häufigsten Falle, ist die Absicht vorhanden, dem Publikum mitzu¬
teilen, was es von dem Gegenstande der Beurteilung zu halten habe.
Offenbar hängt hierbei alles ab von der Befähigung des Beurteilers, das
Nichtige zu erkennen. Daß diese Befähigung bei sehr vielen leider garnicht
vorhanden ist, so wenig wie Gewissenhaftigkeit und Gerechtigkeitssinn, davon
soll nicht weiter die Rede sein; das ist nun einmal nicht zu ändern, und eine
Polemik dagegen wäre ein zweckloses Unternehmen. Allein es giebt noch andre
Dinge als Unfähigkeit und Gesinnungslosigkeit, auf denen eine schiefe Beur¬
teilung beruhen kann, und bei dem großen Einflüsse, den die journalistische Kritik
auf den Stand der Kunst ausübt, ist es der Mühe wert, den Sachverhalt näher
zu untersuchen.
Ich glaube beobachtet zu haben, daß es unsrer journalistischen Kritik im
großen und ganzen an der richtigen Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen
und dem Individuellen fehlt. Wie oft wird nicht an neuen Werken der prodn-
zirenden Kunst getadelt, daß sie in alter Form erscheinen oder einen schon zur
Genüge bekannten Stoff behandeln, und andrerseits, wie oft werden nicht neue
Werke getadelt wegen des Gegenteils, weil sie entlegene, willkürlich hervor-
gesnchte Dinge in absonderlicher, von den bekannten Formen abweichender Weise
bearbeiten! Im ersten Falle wird also das Besondre, im zweiten Falle das
Allgemeine vermißt. Beides kann richtig sein, aber ein klarer kritischer Stand¬
punkt ist darum doch nicht daraus zu erkennen.
Wenn man heutzutage einem schaffenden Künstler den Vorwurf macht, daß
er nicht originell sei, so bezieht sich dies in der Regel zunächst auf den stoff¬
lichen Teil seines Werkes. Man verlangt, der Künstler solle ganz neu er¬
fundene Dinge vorbringen, die durch deu Reiz der Neuheit fesseln, ohne zu
bedenken, daß der Reiz der Neuheit nach den ersten Momenten der Bekannt¬
schaft bereits verschwindet. Dem gegenüber braucht man nur darauf zu ver¬
weise,,, daß in Zeiten größter Kunstblüte viele Künstler dieselbe Idee, denselben
Gegenstand bearbeiteten, in den bildenden Künsten sowohl als in der Poesie,
insbesondre auch im Drama und der Oper, und zwar behandelten nicht nur
Verschiedene Künstler dieselbe Sache, sondern, namentlich in den bildenden
Künsten, sogar ein und derselbe Künstler oftmals dieselbe Sache, und niemand
fiel es ein, darin einen Mangel an Originalität zu erblicken. Dies Verfahren bot
aber den großen Vorteil für das allgemeine Kunstverständnis, daß wirkliche
Normen, allgemein giltige Ideen für die Auffassung und Beurteilung künst¬
lerischer Leistungen vorhanden waren, und von diesem Standpunkte aus war
die Veurteilnng nach allgemeinen Normen gerechtfertigt. Indem man diesen
Standpunkt fallen ließ und vom Künstler nicht nur eine interessante Neuge¬
staltung vorhandener Jdcalthpen, sondern eine den Inhalt seines Werkes mit
einbegreifeude Originalität verlangte, hätte man konsequenterweise auch den
Standpunkt der Beurteilung aus allgemein giltigen Gesichtspunkten fallen lassen
und jedes neue Werk, das sich als ein nuf subjektivem Ideal des Künstlers
beruhendes zu erkennen gab, vom Standpunkte dieses subjektiven Ideals ans be¬
urteilen müssen. Dies geschieht aber uicht, und obschon die Kunst längst aus
den bewährten Bahnen allgemeiner und gemeinschaftlicher Ideale herausgedrängt
worden ist, werden ihre Erzeugnisse doch immer wieder besprochen und begutachtet,
als bestünden jene Ideale noch zu Recht. Ja manche Vcurteilnugen schlagen
einen Ton an, als wenn die Ideale der Kunst so feststehend und unangefochten
würeu wie die Vorschriften eines Bürenubeamten, und als wenn es sich nur
darum handelte, zu konstatiren, wie weit der Künstler seinen Vorschriften nach¬
gekommen. Worin diese bestehen, sagt natürlich niemand, denn das ist einfach
unmöglich, und wenn man sich die Mühe giebt, ans den tausendfach sich
kreuzenden Ansprüchen der Kritik ein Gemeinsames herauszufinden, so findet
man schließlich als das Ideal der aller Kunstideale beraubten öffentlichen
Meinung den vagen Gedanken heraus: es muß dem Publikum gefallen. Dieser
Gedanke ist aber ebenfalls garnicht näher zu definiren, denn das Publikum ist
aus so ungleichen Elementen zusammengesetzt, daß etwas, was allen gefällt,
es nicht geben kann.
Damit ist aber auch die Nichtberechtigung dieses Standpunktes zur Evidenz
erwiesen, und der redlichste Kritiker muß Schiffbruch leiden, wenn er sich dieses
Irrlichts als Leuchte bedienen will. Denn'von dem Begriffe eines Kunstidcals
ausgehen, welches nicht existirt, ist eben ein logischer Widerspruch. Was dem
Kritiker als Kunstideal dabei dunkel vorschweben mag, was er für etwas Ob¬
jektives hält, stellt sich bei näherer Betrachtung als etwas rein Subjektives
heraus, dem die Erhebung zu einem allgemein giltigen Jdealgefühl so voll¬
ständig sehlt, daß es eine Selbsttäuschung des einzelnen Kritikers ist, wenn er
glaubt, zur Umbildung seiner persönlichen subjektiven Empfindungen in Urteile
von allgemein giltigen Charakter berechtigt zu sein. Er muß vielmehr in Er¬
mangelung allgemeiner Kunstideale und allgemein anerkannter, den höchsten An¬
forderungen genügender Formen, wie die italienische Kunst sich deren in der
Renaissancezeit und die deutsche Musik bis zu Mozarts und Beethovens Zeit
erfreuten, dem Künstler dasselbe Recht des rein subjektiven Idealismus einräumen,
den er für sich als Kritiker beansprucht, d, h. die eigentliche Kritik muß aus Maugel
an allgemeinen Kunstidealeu in dem Sinne, wie sie früher geübt werden konnte,
aufhören. Sie ist ein Anachronismus geworden und für die Kunst total über¬
flüssig, wie jeder wirkliche Künstler, der bemüht gewesen ist, aus journalistischen
Bcnrteilnngen Belehrung zu schöpfen, wird bestätigen können. Ist sie aber nun
aus dem angegebenen Grunde als Kritik gleichsam gegenstandslos geworden,
so folgt daraus keineswegs, daß sie in andrer Hinsicht nicht sehr nützlich
wirken kann.
Ich glaube sogar, daß die journalistische Kritik alles, was sie notgedrungen
auf der einen Seite an Ansprüchen wird ausgeben müssen, wenn sie aufrichtig
und mit Nachdenken verfährt, dnrch eine andre Ausübung ihrer Thätigkeit wird
ausgleichen können. Durch deu Mangel an allgemeine» Idealen auf die rein
persönlichen Empfindungen, auf den individuellen Geschmack angewiesen, sage der
Kritiker nnr einfach, was ihm gefällt und was ihm nicht gefällt, und verzichte
auf Urteile, die deu Wert oder Unwert einer Leistung in abschließenden Formeln
festzustellen beabsichtigen, es sei denn, daß der Kritiker soweit selbst Künstler ist,
daß er imstande ist, dem Künstler nachzuweisen, wie er es hätte besser machen,
d. h. welche Mittel er hätte anwenden sollen, um seinen Zweck zu erreichen.
Das wäre aber schon eine Art von Fachkritik, die eine Kenntnis der künstlerischen
Technik voraussetzt. Ich habe bei meinen Betrachtungen mehr diejenige Art von
Kritik im Auge, die die geistigen Beziehungen zwischen der Kunst und dem Publikum
regulirt. die meistens nicht in den Händen von Fachmännern, sondern von Laien
ist, und die selbst, wenn sie von Künstlern oder Kunstgelehrten ausgeübt wird,
vielfach vom Technischen, Fachmännischen absieht und die Kunst und ihre Pflege
nur vom ästhetischen Standpunkte aus bespricht. Diese ästhetische Kritik sieht
sich aus Maugel an allgemeinen Kunstidealen nur auf die Äußerung ihrer sub¬
jektiven Eindrücke über Gefallen und Nichtgcfallen angewiesen. Aber ist das
etwa eine Herabsetzung derselben? Keineswegs, vielmehr ist es die einzige Art,
wie sie unter den dermaligen Knnstzuständen wirklich Gutes wirken und bei der
Wahrheit bleiben kann. Der Eindruck, den eine Kunstleistung ans das Gemüt
eines gebildeten Menschen macht, ist viel belehrender und bedeutsamer als ein
zusammcngeküusteltes Urteil desselben Menschen, welches meist erst dadurch zu¬
sammenkommt, daß er sich vorher seiner unbefangenen Empfänglichkeit willkürlich
beraubt. Wir sehen es ja in unsern Tagen, was für heillose Verwirrung in
allen Ansichten dadurch hervorgebracht worden ist, daß der Kritik das Bewußtsein
von dem Fehlen allgemeiner Ideale und der Berechtigung des an ihre Stelle
getretenen subjektiven Idealismus abhanden gekommen ist. Des festen Bodens
unter ihren Füßen beraubt, ohne dessen gewahr geworden zu sein, hat sie die
eigne Empfindung für einen Anhaltepunkt allgemein giltigen Jdealgefühls ge¬
nommen und nun nicht mehr verstanden den Unterschied zu machen zwischen
dem, was ihr nicht gefiel, und dem künstlerisch Unzulänglichen. So ist eine
Erscheinung wie Richard Wagner, der für viele manches Unsympathische hat
— auch für den Schreiber dieser Zeilen —, geradezu der künstlerischen Unzu¬
länglichkeit beschuldigt und ihm damit irrtümlich dasjenige abgesprochen worden,
was er im allerhervvrrageudste» Grade besitzt, nämlich das Vermögen, seine
Kunstideale zum vollendeten Ausdruck zu bringen. Wie viel weiter würden
wir im Verständnis dieses Mannes und der Kunst überhaupt, bei dem
großen Interesse, welches die Tagesliteratur diesen Fragen widmet, gekommen
sein, wenn nicht die ungerechtfertigten Verurteilungen seitens einer äußerlich
sich ästhetisch-ideal gerirenden, in Wirklichkeit aber durchaus subjektiv will¬
kürlichen Kritik die großartigsten Rüstungen zur Abwehr auf Seiten Wagners
und seiner Anhänger hervorgerufen hätte. Einer anspruchsvollen und dennoch
von einem unberechtigten Prinzip ausgehenden Kritik gegenüber mußte natürlich
ein Maun wie Richard Wagner alle Achtung verlieren, und so wurde denn auch
von dieser Seite mit allen Mitteln gekämpft, nicht mehr um zu einer — ja doch
mit solcher Kritik unmöglichen — Verständigung zu gelangen, sondern um die
Oberhand zu behalten, und da auf Wagners Seite das Talent sich mit der
Ausdauer vereinigte, so hat er schließlich dem Publikum gegenüber die Oberhand
behalten, und in gewissem Sinne mit Recht, aber leider unter Opfern bezüglich
der allgemeinen Einsicht und des allgemeinen Verständnisses, die unsre fernere
Kunstentwicklung mit schweren Schäden bedrohen. Denn es ist deu Wagnerianern
wirklich halb und halb gelungen, die subjektiven Ideale ihres Meisters als all¬
gemeine, typische Kunstiveale dem Publikum auszureden, neben denen andre Ideale
keinen Raum mehr haben, und jeder halbwegs denkende Mensch muß doch bei einem
Blick auf die geistige Entwicklung der Menschheit zugestehen, daß die Natur
im Hervorbringen neuer Talente uicht stille steht. Stillstand ist Rückgang,
und wenn wir der freundlichen Aufforderung der Wagnerianer, künftig das
Komponiren und Dichten sein zu lassen, nachkommen wollten, so würden wir
uns damit aus der Liste der lebensfähigen Kulturvölker ausstreichen. Einen
großen Teil der Schuld an diesen und andern Anomalien unsrer Kunstzustände
trägt offenbar die hinter ihrer Zeit zurückgebliebene Kritik, die, anstatt sich in
die Erfassung des Individuell-Eigentümlichen mit Sorgfalt zu versenken und
von hier aus die neuen Erscheinungen zu erfassen, nach undefinirbaren Phan¬
tomen nicht mehr vorhandner künstlerischer Ideale das Individuell-Eigentümliche
— nicht verstand, das Berechtigte bekämpfte und das Unberechtigte guthieß. Aus¬
führlicher diesen Punkt zu erklären, würde zu weit führen. Genug, es ist dahin
gekommen, daß Wagner, der die künstlerische Jdealitätslosigkeit unsrer Zeit besser
erkannte als seine Be- und Verurteiler, welche sich wunder wie weise dünkten,
indem sie ihren Scharfsinn in kleinlicher Krittelei leuchten ließen, seine Ideale
auf die erledigten Musensitze gehoben und ihnen »veitverbreitete Anerkennung
verschafft hat. Diese Ideale sind nun freilich zweifelhafter Art, und da hätte
die Tageskritik ihr Augenmerk darauf richten sollen, daß sie unter Anerkennung
von Wagners persönlicher Genialität die Ideale dieses Mannes nicht zur Herr¬
schaft in der Kunst hätte kommen lassen, da sie als Normen für die künstlerische
Produktion fernerer Zeiten nur verderblich wirken können. Das Menschheitsideal
der Renaissancezeit war ein umfassendes, körperliche und seelische Schönheit und
Vollkommenheit in sich begreifendes. Dasselbe erkennen wir auch noch in der
klassischen Epoche unsrer nationalen Dichter und Musiker zu Ende des vorigen
und Anfang dieses Jahrhunderts, Dann kam eine Zeit faber Schöngeisterei,
in welcher die Berliner Theezirkcl den Ton in der Kunst angaben, und auf
diese folgte dann mit einer erklärlichen, von der Entrüstung einer kraftvoll
genialen Natur durchdrungnen Plötzlichkeit die Wagnersche Reaktion, die der
sinnlichen Menschennatur ihre Existenzberechtigung auch in der Kunst wieder
zurückverlangte. Aber leider ist Wagner über diesen vorwiegend negativen
Standpunkt nicht hinausgekommen, ähnlich wie die analogen Bestrebungen auf
sozialem Gebiete, soweit sie in den revolutionären, zunächst nur gegen die Über¬
macht ungerechter gesellschaftlicher Zustände gerichteten Bestrebungen ihren
Ausdruck gefunden haben. Wie ein positives Ideal der Sozialdemokratie,
wenigstens bei den Radikalen, nicht zu fassen war, so fehlte auch dem Wagnerschen
Menschheitsideale jeder Seelenadel, jeder höhere ethische Zug, durch den sich
das Menschheitsideal des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, soweit es
in italienischer und deutscher Kunst zum Ausdruck kommt, so harmonisch ver¬
vollständigte.
Es wäre um eine sehr dankbare und geeignete Aufgabe für die journa¬
listische Kritik, wenn sie, statt über gleichgiltige Schönheitsfragen der Wagnerschen
Musik und Dichtung zu disputiren, deren Wirkungen doch nun einmal nicht
zu bestreiten sind, ihre Thätigkeit der ungleich wichtigern Frage nach der Be¬
schaffenheit des von Wagner aufgestellten und von seinen Anhängern gepredigten
Menschheitsideals zuwenden wollte, damit sich an ihr nicht bewahrheite, was
Mephistopheles von den Studenten sagte: „Das Völkchen spürt den Teufel
nie, und wenn er sie am Kragen hätte," Es gilt, ein Menschheitsideal auf
neuem Boden, aber in dem alten Sinne zu erfassen, in welchem sinnliche und
seelische Schönheit sich zu einem Gesamtbilde vereinigen. Ein solches Ideal
wird, unter neuen gesellschaftlichen und künstlerischen Voraussetzungen, natürlich
ein andres sein wie dasjenige früherer Zeiten, und dennoch im innersten Kern wieder
dasselbe, in eben dem Maße und mit eben den Einschränkungen, wie die mensch¬
liche Natur in wahrnehmbaren Zeiträumen immer dieselbe bleibt. Jetzt fehlt
uns ein solches Ideal, zu welchem alle emporblicken; zu einem Wagnerschen
Idealmenschen kann man doch nicht wohl emporblicken, denn das Reinmensch¬
liche im Sinne des Idealen kann nicht der ungeschliffene Naturmensch sein,
sondern nur der Kulturmensch, der sich auf dem höchsten Standpunkte seiner
Entwicklung der einfachen Natürlichkeit wieder bewußt wird. Nur die Seele
eines solchen Menschen kann der Spiegel sein, aus dem das wahre Wesen der
Welt und der menschlichen Natur zurückstrahlt, nur ein solches Gemüt kann
seinen Schöpfungen den idealen Glanz verleihen, in dem die Dinge, abgelöst
von dem wirklichen Leben und seinen Kämpfen und Leidenschaften, erscheinen, wie
sie sind, aber ohne die Kunst selbst in den Kampf des Lebens hineinzuziehen.
Diese abgeklärte Auffassung der Dinge kann sich nur in einem Geiste vollziehen,
der den Kampf des Lebens in sich überwunden hat und den wechselnden Tages¬
fragen, wenigstens als Künstler, uninteressirt, nur beobachtend gegenübersteht.
Ein Künstler, der zugleich Demagog und Politiker ist, kann jene Höhe des
Standpunktes nicht erreichen, sei er auch uoch so genial. Die Kunst kennt keine
politischen und sozialen Interessen. Letztere erzeugen Parteien, Partei macht
intolerant, der Intolerante ist das gerade Gegenteil vom Menschheitsideal im
humanistischen Sinne, denn Intoleranz führt zur Lieblosigkeit, wie Lieblosigkeit
und egoistische Rechthaberei denn auch ein hervorragender Zug, vielleicht der
allerhervorragendste in allen Äußerungen ans dem künstlerischen Leben unsrer
Zeit sind, mögen diese nun von Künstlern oder Kritikern herrühren. Diesem
Übelstande sollte entgegengearbeitet werden, und niemand könnte das besser als
die Kritiker, die tagtäglich in den Journalen über Kunst schreiben. Anknüpfungs-
punkte sind überall vorhanden. Wie es aber wieder zu einem allgemeinen
Menschheitsidcale kommen soll, wenn man auch das größte Genie in seinen
darauf bezüglichen Bestrebungen immer nur mit kleinlicher Streiterei um etwas
mehr oder weniger schöne Musik und sonstige Detailsachen zu bearbeiten bestrebt
bleibt, scheint ein unlösbares Problem. Wenn die Künstler es trotzdem durch
Beharrlichkeit und Talent allmählich dahin bringen, so wäre das ja ein großes
Glück; bei der Macht der Tagespresse aber kann es auch leicht dahin kommen,
daß die Kurzsichtigkeit der Kritik den Künstler, der doch auch von denselben
Lebensbedingungen abhängig ist wie jeder andre, so herunterdrücke, daß wir auch
allmählich dem Standpunkte des Verfalls zusteuern, auf dem die einst so hoch
stehenden Italiener jetzt angelangt sind. Schuld daran wäre einzig und allein
die Liebedienerei gegen das Publikum und die Anforderungen einer idealitüts-
losen Kritik, die das Gefallen des Publikums zum obersten Erfordernis für den
Künstler erhebt. Das Wort „Es soll der Sänger mit dem König gehen" sollte
man jetzt so variiren: „Es muß die Kritik mit dem Sänger gehen," d. h. sie
muß die Ideale der Kunst gegen die Willkür des Publikums verteidigen, denn
nur dann kann sie nützen, wenn sie den wahrhaften, den berufenen Künstler
stützt und das Publikum in diesem Sinne zu belehren sucht. Dann giebt es
auch erst wieder einen Boden für Kritik, der jetzt ganz fehlt, und das Ringen
nach neuen Idealen wird nicht vergebens sein. Die Kritik braucht dabei nicht
zu fürchten, daß die strebsame Mittelmäßigkeit in der Kunst als Belohnung für
ihren guten Willen zur Herrschaft gelange, denn die aller Mittelmäßigkeit eigen¬
tümliche Langweiligkeit ist eine so sicher wirkende Todesursache, daß es ganz
unnötig ist, zur Beschleunigung eines unausbleiblichen Naturprozcsses uoch be¬
sondre Anstrengungen zu machen. Es kann sich nur um solche Kunsterzeugnisse
handeln, denen die Kraft innewohnt, zu wirken und nachhaltigen Eindruck, sei
es in gutem oder in schlechtem Sinne, hervorzubringen.
as Ergebnis der Wahlen zu unsrer Abgeordnetenkammer, welche
am 20. Dezember stattgefunden haben, liegt, nachdem auch die
erforderlichen Stichwahlen am 2. Januar erfolgt sind, mit Aus¬
nahme einer notwendigen Neuwahl, bei welcher übrigens ein demo¬
kratischer Kandidat nicht in Betracht kommen wird, nunmehr
vollständig vor und bekundet eine eklatante Niederlage der Demokraten. Von
70 Sitzen hat die konservativ-nationale Partei 44 errungen, 4 Wilde sind ihrem
bisherigen Verhalten nach ohne Zweifel ebenfalls den Ordnungsparteien zuzu¬
zählen, 21 Sitze sind den Demokraten zugefallen. Ist nun schon die Zahl der
demokratischen Mitglieder eine geringe, so wird die Niederlage dieser Partei da¬
durch noch viel empfindlicher, daß von den sämtlichen Führern derselben auch
nicht ein einziger gewählt worden ist, die Herren Karl Mayer, Payer, Retter,
Sigmund Schott sind, ihrer vermeintlichen Unbesiegbarkeit zum Trotze, in Be¬
zirken durchgefallen, in welchen ihre Aussichten die denkbar günstigsten zu sein
schienen; so hat der Hauptagitator Mäher in seiner Vaterstadt Eßlingen, für
welche ein Landgericht zu erringen während der letzten Landtagsperiode er sich
alle Mühe gegeben hatte, nur 1347 Stimmen erhalte», während auf den Fa¬
brikanten v. Keßler 3426, auf den sozialdemokratischen Gemeinderat Kauffmann
620 Stimmen fielen. Die Bestürzung im Lager der Demokraten war denn
auch anfänglich groß, wie sich aus den Artikeln des Zentralorgans der Volks¬
partei, des Stuttgarter Beobachters, ergiebt, welches die schmerzliche Gewißheit
dieser Partei, schwere Verluste erlitten zu haben, einräumt; und wenn nun auch
nachträglich die demokratische Presse, der Beobachter an der Spitze, den Ein¬
druck, welchen das Ergebnis der Wahlen im ganzen Lande hervorgebracht hat,
dadurch abzuschwächen sucht, daß er das Resultat auf „amtliche Einschüchterung
vor der Wahl, amtliche Beeinflussung am Wahltage, amtliche Ungesetzlichkeit
während der Wahlhandlung" zurückführen will, so sind doch diese Redensarten
der Demokraten zu bekannt, um irgend einen vernünftigen Menschen irrezuführen;
in Wirklichkeit ist es zweifellos die bessere Einsicht der Mehrzahl der Wähler
und der Überdruß an den schwindelhafter Vorspiegelungen der Demokraten,
welche den Sieg der Ordnungspartcien bewirkt haben.
Die Regierung wird mit der neu gewählten Kammer in der Lage sein,
den seither kundgegebenen Absichten der Volkspartei, eine weitgehende Ver¬
fassungsänderung herbeizuführen, mit Erfolg entgegenzutreten; insbesondre ist zu
hoffen, daß die angestrebte Verdrängung der sogenannten Privilegien aus der
zweiten Kammer einer neuen, vorurteilsloser, von keiner Konnivenz gegen Partei-
tendeuzen beeinflußten Erörterung unterzogen werde. Die „Beseitigung der
Geburth- und Amtsprivilegien aus der zweiten Kammer" ist neuerdings zu einem
Schlagworte geworden, dessen Berechtigung selbst von einem Teile der gemäßigten
Parteien nicht mehr angezweifelt wurde; die Frage dürfte sich aber jetzt, nachdem
die Wahlen eine so auffallende Desavonirnng derjenigen Partei ergeben haben,
welche hauptsächlich mit diesem Schlagworte kämpft, doch zur unbefangenen
Prüfung empfehlen: welche triftigen Gründe liegen vor, die Vertreter des ritter¬
schaftlichen Adels, der Geistlichkeit und der Universität aus der zweiten Kammer
zu entfernen, und welchen Nutzen erwartet man von der Beseitigung dieser Ele¬
mente für die vernünftige und stetige Leitung des Staates? Daß der demo¬
kratischen Partei alles daran gelegen ist, die intelligenten und besonnenen Kräfte
ans der Landesvertretung hinauszudrängen und statt derselben möglichst viele
angeblich unabhängige, in Wahrheit aber urtcilslose oder den Führern blind
ergebene Leute hineinzubringe», um mit deren Hilfe ihre verderblichen Pläne
durchzusetzen, ist ja sehr natürlich; nicht zu verstehen aber ist die Lauheit, mit
welcher die Ordnnngsparteien diesen Versuchen gegenüberstehen. Die letztern haben
die dringendste Veranlassung, im Interesse einer gedeihlichen Fortführung des
Staatswesens die staatserhaltenden Elemente in der Volksvertretung zu be¬
wahren und zu stärken, an den bewährten und berechtigten Einrichtungen fest¬
zuhalten und den Angriffen auf dieselben seitens einer Partei, welche ihre im
Endziele auf nichts andres als auf Vernichtung der bestehenden Staatsver-
fassung gerichteten Bestrebungen in ihrer ganzen Nacktheit zu proklcuniren nur
aus Oppvrtunitütsgründen zur Zeit sich verhindert sieht, mit ganz andrer Ent¬
schiedenheit als bisher entgegenzutreten.
er Baron sah seinen neuen Bekannten näher an, richtete sich
höher auf und sagte mit zufriedenen Tone: Es ist eine
Freude, solch eine Äußerung zu vernehmen, mein Herr. Sie
haben ganz Recht. Es ist eine böse Zeit. Verfassung und altes
Herkommen sind nicht mehr lebendig in den Gemütern, darum
gelingt es den Revolutionären, die besten Bollwerke des Staates so nach und
nach gemächlich abzutragen. Diejenigen aber, welche seine Schützer sein sollten,
gehen womöglich in der Zerstörung voran und bilden sich ein, Ehre dadurch
zu erlangen, während sie doch ihre Ehre in sich selber haben müßten. Doch
genug davon, es ist nicht erfreulich, davon zu reden. Sie haben gedient, wie
mir scheint. Andre Haltung als das Zivil, andrer Gaug, andre Schultern. Habe
ich Recht?
Ich habe den Krieg gegen Frankreich mitgemacht, sagte Eberhardt.
Ah, ah! sagte der Baron. Das sah ich gleich. Bei welcher Waffe? In¬
fanterie? Kavallerie?
Ich trat als Freiwilliger beim sechsten Dragonerregiment ein und brachte
es bis zum Leutnant der Reserve.
Ah, ah! rief der Baron, dessen Gesicht immer Heller wurde, freut mich
sehr, das zu hören.
Damit vertiefte er sich mit Eberhardt in ein Gespräch über die großen
Ereignisse der letzten Zeit, welches er, an den Rückweg denkend, mit den Worten
schloß: Sie müssen uns noch erzählen, meiner Tochter und mir, von Ihren
Kriegserlebnissen. Wir leben hier recht einsam, kennen nur wenig Leute, es
haben sich zu viel Parvenus in der Gegend angesiedelt, die den anständigen
Leuten den Grundbesitz abschwindeln. Wollen Sie uns heute Abend in unsrer
Einsiedelei besuchen? Ich werde Ihnen einen Wagen schicken.
Eberhard! nahm die Einladung an, lehnte aber den Wagen mit der Be¬
merkung ab, daß ihm der Weg bekannt und ein Gang durch den schönen Wald
angenehm sei.
Er begleitete den Baron zu seinein Pferde, welches der Reitknecht im
Schatten einer Weidenallee in der Nähe des Hauses auf und ab führte, lobte
mit den Worten eines Sachverständigen das edle Tier und blickte daun lange
nachdenklich der Gestalt des strammen alten Herrn nach, wie sie in der Ferne
verschwand und ihm die Erinnerung einer Welt zurückließ, an die er mit seinen
natürlichen Instinkten geknüpft war, während doch eine andre Stimme ihm eine
leise Warnung zuzuflüstern schien.
Auf dem Wege, welchen er am Abend dieses Tages nach dem Schlosse des
Barons von Sextus verfolgte, brachte er eine längere Zeit zu, als der Weg
an sich erforderte. Für einen rüstigen Fußgänger, wie er war, konnte der Weg
kaum mehr als eine gute Stunde in Anspruch nehmen. Aber freilich hätte dazu
gehört, daß er ihn in gerader Linie verfolgte und sich durch keine Nebenwege
und durch keinen Aufenthalt an besonders reizenden Stellen verlocken ließ.
Eberhardt jedoch schlenderte dahin wie ein Mann, dem eben nicht daran liegt,
sein Ziel rasch zu erreichen, und fast sah es aus, als hielte ihn irgend ein
unsichtbarer Genius zögernd zurück. Er blieb oft stehen, wo eine Schneise im
Walde seitwärts den Blick durch grüne Wände hindurch auf ein lieblich um¬
rahmtes Bild eröffnete, er kletterte eine Höhe hinan, um zurückzublicken auf das
Meer, er vertiefte sich in eine Schlucht, wo die mächtigen Wurzeln der Fichten
und Buchen oberhalb des lockern Erdreiches zu einem Bache hinabliefen, um
sich im niedrigen, hellgrünen Dickicht der Farrnkräuter zu verlieren.
So brauchte er Wohl die doppelte Zeit, um an dem Punkte anzulangen,
wo er vor wenigen Tagen von den Fischermädchen Abschied genommen hatte,
und wo ihm das alte Schloß in seiner imponirenden Form unter einem neuen
Lichte erschienen war.
Heute näherte er sich dem Haupteingange, dem Portal, welches auf der
entgegengesetzten Seite lag, und zu welchem eine Brücke über einen breiten Graben
führte. Augenscheinlich war hier früher eine Zugbrücke gewesen, noch hingen
schwere Ringe zu beiden Seiten des Thores in den Quadersteinen, und in den
dicken Mauern befanden sich noch die tiefen Scharten, aus denen sich vordem die
Mündungen schwerer Wallbüchsen auf den Zugang zum Schlosse gerichtet hatten.
Ein Diener in blauer, silberbesetzter Livree kam ihm im Portal entgegen
und führte ihn über einen innern Hof zu dem Hauptgebäude, welches schwer
und finster, einer Zitadelle ähnlich, innerhalb der hohen Ringmauer aufstieg.
Dann wurde Eberhardt eine breite, steinerne Treppe hinaufgeführt, innerhalb
eines riesigen Treppenhauses, das mit Steinbildern und ungeheuern Gemälden
aus der Barockzeit geschmückt war, und gelangte dann in eine Reihe von Zim¬
mern, aus deren letztem ihm eine bekannte Erscheinung entgegenkam, die dunkel-
äugige Fischerin, heute im Anzüge einer Dame, die ihren Bedarf aus den ele¬
gantesten Magazinen Berlins bezieht,
Sie streckte ihm die Hand entgegen und sagte mit Lächeln und zugleich
errötend: Gewiß halten Sie uns für recht neugierig und zudringlich, daß wir
Ihren stillen Winkel ausgespäht haben. Aber die Ritter sind so selten in unsrer
Gegend, daß wir der Versuchung nicht widerstehen konnten.
Mit diesen Worten führte sie ihn in ihr Gemach und bot ihm einen Platz
in der tiefen Fensternische an, die sich durch einen zierlichen Nähtisch als ihr
Lieblingsplätzchen kennzeichnete, Sie selbst setzte sich neben ihm in einen kleinen
gestickten Lehnstuhl.
Doch was sehe ich? fuhr sie fort, als er nach einer höflichen Gegen¬
bemerkung sich setzte und seinen Hut aus der Hand legte, Ihre Miene ist so
ernst, und Ihr Anzug trägt die Zeichen der Trauer,
Eberhardt erzählte ihr in kurzen Worten von der Nachricht, welche er in
den letzten Tagen erhalten hatte, und es that ihm wohl, in den Zügen seines
Gegenüber Teilnahme zu lesen. Er fügte einige Erklärungen hinzu, wie es ge¬
kommen sei, daß er fern von seiner Mutter die Kunde ihres Todes erhalten
habe, und die zärtlichen Worte, mit der er von ihr sprach, erweckten ein ver¬
wandtes Gefühl in der jungen Dame, der die eigne Mutter ein fernhin ent¬
schwundenes, geliebtes Bild war. So knüpfte sich zwischen beiden in den ersten
Augenblicken schon ein Band der Sympathie, und sie sprachen sich über einen
ihnen naheliegenden Gegenstand mit einer größern Sicherheit des gegenseitigen
Verständnisses aus, als die Kürze ihrer Bekanntschaft Hütte erwarten lassen.
Die Nische, in welcher sie beide saßen, ward durch gewaltig dicke Mauern
gebildet und führte auf einen Altan hinaus, der ehedem wohl zu Verteidigungs¬
zwecken gedient haben mochte, indem er überdacht gewesen war und so lag, daß
man von ihm herab Geschosse und Steine in den innern Hof hatte schleudern
können. Er bot jetzt nur noch den Vorteil einer weiten Aussicht in das Land
hinein und machte die Nische, mit welcher er durch eine Thür verbunden war,
zu einem sehr angenehmen Platze. Eberhardt dachte, indem er Dorotheas Ge¬
mach betrachtete und den Blick fernhin über die Wälder bis an das Meer und
über den zum Schlosse führenden Weg schweifen ließ, an die Burgsrciulein der
alten Zeit, die vom Söller herab ihre Ritter begrüßten und gleich Edelfalken
in einsamer Höhe thronten.
Wir hatten gedacht, mein Vater und ich, sagte Dorothea, daß wir Sie heute
Abend allein bei uns sehen würden. Aber es hat sich noch ein Gast eingestellt, der
augenblicklich mit dem Vater in der Halle bei einer Schachpartie sitzt. Wir
haben nur wenig Umgang, sind auch viel auf Reisen. Erst kürzlich sind wir
von einer längern Reise in Italien und Tirol zurückgekehrt. Der Herr, der
uns heute Abend besucht hat, ist ein alter Militär, der General der Kavallerie Graf
von Franeker, der seit langen Jahren schon zurückgezogen hier auf dem Lande lebt.
Eben dieser Herr ist es, fügte sie lächelnd hinzu, den meine Gesellschafterin und
ich neulich im Kostüm von Fischerinnen in seiner ländlichen Einsamkeit über¬
raschten, wodurch wir Ihnen die improvisirte Gelegenheit gaben, einen sieg¬
reichen Kampf zum Schutze bedrängter Weiblichkeit zu führen. Ich glaube, der
alte Herr wird Ihnen gefallen. Er ist ein Typus der Edelleute aus der Ver¬
gangenheit, wie mein Vater behauptet, und ich selbst kann wohl sagen: er ist
voll Herzensgüte und Ritterlichkeit und hat der Armut gegenüber eine leider allzu
offne Hand. Doch wir wollen einmal sehen, ob die Partie noch im Gange ist.
Mit diesen Worten stand sie auf, winkte Eberhardt, ihr zu folgen, und
öffnete eine Tapetenthür, die ihrem Gast bis jetzt unbemerkt geblieben war.
Durch diese Thür traten beide in ein ovales Gemach hinaus, welches keine
Fenster hatte, sondern von einem Gitterwerk, aus verschlungnen Ranken und
Blumen gebildet, umgeben war, durch dessen Zwischenrüume man in eine große
Halle hineinsah.
Dies ist das Orchester früherer Zeiten, sagte Dorothea. Mir dient der
Platz zu einem Beobachtungspunkt für das, was in der Halle geschieht, und
ich gebe Ihnen Erlaubnis, über weibliche Neugierde zu lachen.
Das ist eine prächtige Halle! rief Eberhardt bewundernd aus.
Der große Raum war zwei Stockwerke hoch, sodaß er seine Eingänge im
Erdgeschoß und vom Garten aus hatte, während seine mit schwerem Stuck ver¬
zierte Decke in einer Höhe mit den Plafonds der obern Zimmerreihe lag. Hohe
Fenster mit Glasmalereien ließen ein vielfarbiges Licht hereinfallen, doch war
der Charakter der Halle im ganzen düster, da die Wände in Mannshöhe mit
altersschwarzem Eichenholz getäfelt und darüber mit dunkelgrünen, goldbedruckten
Ledertapeten bekleidet waren. Eine ringsumlaufende Galerie von Gemälden in
dicken, vergoldeten Rahmen mochte die Ahnen der Familie Sextus darstellen. Es
waren Männer in Harnischen und in spanischer Tracht, Frauen in engen, hohen
Taillen, mit Puffärmeln und riesigen Spitzenkragen, auch Frauen in den Kostümen
späterer Zeiten, in weitausgeschnittnen französischen Hofkleidern und mit kunst¬
vollen Frisuren. In der Mitte der einen langen Wand befand sich ein unge¬
heurer Kamin aus grünem Basalt, auf dessen vorspringender Platte silberne
Schalen und Kruge standen, und zu dessen beiden Seiten an den hohen Wänden
Trophäen von Waffen alter und neuer Form, Piken, Hakenbüchsen, Pallasche,
Säbel, Musketen und Pistolen gruppirt waren. Dieser Wand gegenüber
führten drei Glasthüren auf eine mit Blumen gezierte Gartenterrasse.
In der Ecke neben einer dieser Thüren saßen zwei Herren in hohen Lehn¬
stühlen, und zwischen ihnen stand ein Tischchen mit Schachfiguren, Doch schienen
sie das Spiel beendigt zu haben, und der Ton ihrer Stimmen drang zu den:
Observatorium herauf, hinter dessen Rankenwerk Eberhardt und Dorothea in
Verborgenheit standen.
Kommen Sie, Herr Eschenburg, wir wollen hinuntergehen, sagte das Fräu¬
lein, und sie führte ihn eine enge, gewundne Stiege hinab, welche, augenscheinlich
zum Gebrauche des Orchesters erbaut, unmittelbar in ein kleines, an die Halle
stoßendes Zimmer mündete, von wo aus beide auf die Ecke zuschritten, in der
Baron von Sextus mit seinem Freunde, dem Grafen von Franeker, saß.
Dieser Platz bildete einen traulichen Winkel in der majestätischen Halle.
Zwei weichgepolsterte Divans waren hier zusammengeschoben, dicke Bärenfelle
bedeckten den aus bunten Steinplatten zusammengesetzten Fußboden, und der
runde, schwere Tisch trug einen großen, altertümlichen Steinkrug mit Bier, Hin¬
geben von geschliffenen Humpen.
Eberhard: betrachtete, während die Zeremonie der Vorstellung vor sich ging,
mit Interesse den alten General, dessen Dorothea so ehrenvoll Erwähnung ge¬
than hatte, und fühlte sich in der That durch seine Erscheinung sympathisch be¬
rührt. Es war ein hoher und schlanker Herr, dessen Runzeln und weißes
Haar ein weit vorgerücktes Alter anzeigten, dessen dunkle Augen aber in jugend¬
lichem Feuer glänzten, und dessen Züge das deutliche Gepräge des Wohlwollens,
der Güte und Freundlichkeit trugen. Dazu war seine Gestalt und sein Be¬
nehmen veredelt und ausgezeichnet durch ein gewisses unbeschreibliches Etwas
von Vornehmheit und Höflichkeit, wie Eberhardt sich uicht erinnern konnte
jemals in solcher Vollendung an einem Manne gesehen zu haben, und der außer¬
ordentlich einfache Anzug des Grafen, sein blauer, offenbar schon lange getra¬
gener Rock und die langen, lederfarbigen Gamaschen, that diesem distinguirten
Äußern keinen Eintrag.
Es war kühl in der Halle, trotzdem daß draußen eine hohe Temperatur
herrschte, nur wehten vom Garten her warme Lüfte herein und trugen den an¬
mutigen Duft von Rosen und Reseda mit sich. Diese Umgebung, wie die Ge¬
sellschaft, in der er sich befand, hatte etwas wohlthuendes und erhebendes für
Eberhardt, und er saß neben der schönen Dorothea in dem hohen, wappenge¬
schmückten Lehnstuhl mit dem Behagen eines Königs, der auf langer Irr¬
fahrt einen Besuch in den: ihm zugehörenden Reiche macht, ohne daran zu denken,
daß seine Reise noch nicht vollendet ist.
Was die Bewaffnung der Kavallerie betrifft — mit diesen Worten nahm
der Baron von Sextus das unterbrochne Gespräch wieder auf —, so ist meiner
Meinung nach die Lanze die vorzüglichste Waffe. Sie ist ebensowohl für den
geschlossenen Angriff wie für das Einzelgefecht im höchsten Maße geeignet.
Der gehörig ausexerzirte Mann hält sich auf freiem Felde, wo er Raum hat, zu
drehen, zu wenden und die Lanze über dem Kopfe zu schwingen, den besten Säbel¬
reiter vom Leibe. Er bleibt ruhig stehen und zeigt dem Gegner, der ihn um¬
schwärmt, stets die Spitze. So wie dieser nur einen Augenblick still hält oder
langsa zuwendet, sitzt er ihm mit einigen Galoppsprüngen in den Rippen. Ebenso
vorteilhaft ist die Lanze beim Nachsetzen. Der Lanzenreiter erreicht den Feind,
Wenn dieser für den Hieb noch zu weit vor ist, und es macht außerdem ein
Lanzenstich ganz andern Eindruck als der Hieb des Säbels oder der Stich mit
dem Degen, Ich habe gesehen, daß die Fliehenden eine ganze Tracht von Säbel¬
hieben aufluden und, obwohl verwundet, doch davonkamen; wenn aber mit
der Lanze verfolgt wird, so wirft sich gewöhnlich alles von den Pferden, Haben
wir doch vor kurzem noch gesehen, welchen Respekt die Franzosen vor unsern
Ulanen hatten, obwohl ich zugestehen will, daß sich, wie das wohl im Kriege
geschieht, eine Märchenbildung an eine bestimmte Truppe heften kann, die in
ganz unsinniger Weise deren Bedeutung übertreibt.
Sie haben in manchen Stücken Recht, Herr Rittmeister, antwortete der
alte General. Aber denken Sie zum Beispiel an das Gedränge des stehenden
Gefechts. Mit einem guten Degen schneidet man hier jede Lanze entzwei, und
ich glaube, daß das Einzelgefecht im freien Raum, für welches ich deu Vorzug
der Lanze zugeben will, nur in seltneren Fällen vorkommt. Ich bin der Meinung,
daß hinsichtlich der Waffe Rücksicht auf die Nationalität genommen werden
sollte, und da scheint mir für unsre Kavallerie der Degen die geeignetste
Waffe zu sein. Er ist für uns die natürlichste, während die östlichen Völker,
Kosaken und Polen, allerdings mit Vorliebe zur Lanze greifen. Gegenwärtig
ist der Säbel in der Mode, der eigentlich eine asiatische Waffe ist, und ich habe denn
auch meistens gesehen, daß er getragen wird, ohne daß mau seinen Gebrauch ver¬
steht. Man will damit wie mit dem Degen fechten, wozu er nicht gemacht und
wenig brauchbar ist. Das gute Fechten mit dem Degen besteht aus schnellen
Hieben mit der Spitze und aus einem Pariren, wobei der an der Klinge
heruntergleitcnde Hieb des Gegners mit dem Korbe aufgefangen wird. Das
Fechten mit dem Säbel aber besteht aus laugen Schnitten, und man soll damit
parire», indem man die Hiebe des Gegners mit der Klinge auffängt und weg¬
schlägt oder nach der Spitze hin abgleiten läßt. Deshalb haben anch die Völker,
denen der Säbel eigentümlich ist, selten einen Bügel, oft nicht einmal eine Parir-
stcmge. Wir aber setzen dem Säbel einen großen Bügel und Korb an, um die
Faust zu schützen, was beim Säbelfechten ganz naturwidrig ist, und damit ver¬
derben wir den Säbel. Was meinen Sie drzu, Herr Kamerad? sagte er, sich
an Eberhard: wendend.
Meine Erfahrung ist zu gering, antwortete dieser bescheiden, als daß ich
eine eigne Ansicht in Gegenwart Eurer Exzellenz und des Herrn Rittmeisters
äußern möchte. Man spricht gegenwärtig viel von einer Einheitskavallerie,
und dabei ist stellenweise die Meinung ausgesprochen worden, es müsse das
erste Glied mit der Lanze, das zweite mit dem Säbel bewaffnet werdeu,
während beide Glieder den Karabiner oder einen schweren Revolver führen
sollten.
Einheitskavallerie! rief der Baron heftig. Wahrhaftig, das ist ein Zeichen
der Zeit! Ich glaube, wenn die Pferde nicht so teuer wären, würden sie auch
eine Einheitswaffe vorschlage», die gleichzeitig Kavallerie und Infanterie uiw
faßte, sodaß alle Reiter zu schlechten Jnfanteristen und alle Jnfanteristen zu
schlechten Reitern würden.
Der General lächelte, aber der Baron fuhr hitzig fort: Einheit ist das
Motto der Zeit, der Nachklang des verruchten K^like von neuuundachtzig! Daß
der Schöpfer selbst die Verschiedenheit eingerichtet hat, das ist den Herren gleichgültig.
So haben wir denn ja auch ein einheitliches Reich bekommen, und innerhalb desselben
wird alles einheitlich gemacht, bis endlich alle Vorzüge und Auszeichnungen des
guten alten Preußens verwischt, abgeschliffen und zu Grnnde gerichtet sein werden.
Ich habe doch das Vertrauen zu Gott, entgegnete der Graf, daß er unsrer
Regierung Weisheit geben wird, das alte Prcußenland und mit ihm das deutsche
Reich zu einem guten Ziele zu führen.
Exzellenz, dies Vertrauen geht mir immer mehr verloren, wenn ich sehe,
wie es bei uns hergeht. Es wird mit jedem Jahrzehnt merklich schlechter,
und das kann auch gar nicht anders sein, denn der Untergrund, auf dem
gebaut wird, ist faul. Solange man von dem Grundsätze ausgeht, der Staat
sei aus dem Bedürfnis gegenseitiger Hilfsleistung entstanden, und der Monarch
sei dazu da, diese Hilfsleistungen zu dirigiren und das Volk glücklich zu macheu,
solange wird der Staat bergab gehen. Es ist das die reine Teufelei, die uns
die Schreiber und Schwätzer ans der französischen Revolution herübergebracht
haben. Damals setzten sie den lieben Gott ab. Natürlich, denn der hatte eine
andre Ordnung geschaffen. Es macht mich toll, wenn ich den Unsinn höre, die
Menschen hätten sich zu Anfang Oberhäupter gewählt, und daher seien die
Staaten entstanden. Nie ist es noch gesehen worden, daß ein Hauswesen von
selbst zusammengelaufen wäre und gesagt hätte: nun laßt uns einen Hausherrn
wühlen. Sondern es ist immer der Hausherr zuerst dagewesen, und er hat
Familie bekommen und Dienstboten und Knechte in seinen Dienst genommen.
Ebensowenig hat er die Aufgabe, sie glücklich zu machen, sondern er trägt jedem
seine Leistungen auf und hält sie in Ordnung und übt Gerechtigkeit aus eigner
Macht und eignem Willen. Mit dem Staat aber ist es gerade so. Es sind
nicht etwa Bauern, Bürger und Adel zusammengelaufen und haben ein Ober¬
haupt gewühlt, das sie glücklich mache, sondern der Staat ist aus Familien
entstanden, die sich unter den Schutz und die Macht eines an Ansehen hervor¬
ragenden Familienvaters begaben. Er aber beschützte sie unter der Bedingung,
daß sie ihm gehorchten. Der Fürst war allenthalben eher da, als das Volk.
Er hat sich sein Volk erst geschaffen, und er herrscht aus eigner Machtvollkommen¬
heit. So ist es auch in Preußen gewesen. Der Burggraf von Nürnberg kaufte
die Mark Brandenburg für baares Geld, seine Nachkommen schufen die preußische
Monarchie, indem sie durch Erbschaft Pommern, Preußen, Eleve, durch Er¬
oberung Schlesien, Hannover, Hessen, Schleswig und Holstein, Nassau und so
weiter erwarben. Es ist lücherlich und schlägt jeder Historie ins Gesicht,
wenn man behauptet, der König sei Beamter seines Volkes und solle es glücklich
machen. Recht und Ordnung soll er handhaben im Namen Gottes, das ist
seine Aufgabe. Ob sie glücklich werden, das hängt von eines jeden Bravheit,
Tüchtigkeit und Fleiß ab. Aber seit der französischen Revolution galten die
Schreiber und Gelehrten mehr als die Männer von Charakter und Thatkraft,
und sie haben solange philosophirt und gediftelt und geschrieben und geschwatzt,
bis man ihnen wirklich geglaubt hat, die Menschen wären einander gleich, Ihre
Lehre gefiel natürlich allen denen, die nichts hatten und nichts waren. Frei¬
lich, wer bedenkt, wie groß die Mehrzahl der Dummköpfe ist, der kann sich
über die jetzige Wirtschaft mit Konstitutionen und Parlamenten und über das
allgemeine Elend nicht wundern.
Der Graf teilte diese Ansicht seines Nachbarn und Freundes nicht durchaus,
obwohl er in manchen Stücken damit übereinstimmte. Seine milde Gesinnung
war allen extremen Aussprüchen abhold, nicht sowohl aus Schwäche der
Denkungsart, als vielmehr aus einer tiefwurzelnden Frömmigkeit, welche in allem,
was geschah, und in allem, was Bestand hatte, die göttliche Fügung und ein
gutes Ziel zu erkennen suchte.
Er wies deshalb den eifernden alten Herrn nach dessen, oft schon in ähn¬
licher Art vorgebrachten Rede darauf hin, daß der Monarch doch selbst die
Beschränkung seines persönlichen Regiments gebilligt habe, und daß wohl neue
Zeiten neue Anforderungen an die Gesellschaft stellten. Wir dürfen uns durch
die Namen Verfassung und Parlament und Volksvertretung nicht erschrecken
lassen, sagte er. Es klingt wohl so, als ob dadurch die königliche Macht ein¬
geschränkt würde, aber in Wahrheit ist das doch nicht der Fall, Sonst würde
doch der hochselige König garnicht darauf eingegangen sein, eine Verfassung
zu geben. Ich erinnere mich hier mit Vergnügen der Rede, welche der Kriegs¬
minister von Roon, mein alter Kamerad, am 12, September 1862 im Ab¬
geordnetenhause hielt, und ich habe mir die Nummer der Kreuzzeitung, worin
die Rede stand, sorgfältig aufgehoben. Er sagte darin, daß nach seiner Auf¬
fassung der Geschichte die Ereignisse im Staat nichts andres seien als der Kampf
um Macht zwischen den einzelnen Faktoren, und er wies hierdurch darauf hin,
daß die geschriebene Verfassung nur insofern Giltigkeit habe, als sie den Macht¬
verhältnissen entspreche. Wenn ich um unsre Machtverhältnisse betrachte, so bin ich
ganz ruhig und lächle über die Ansprüche der Demagogen. Denn wie konfus
auch die Verfassungsparagraphen sein mögen, auf welche sie sich berufen, eins
steht fest und unerschütterlich da, die auf die Armee gegründete Autorität unsers
königlichen Herrn. Sie ist so stark, daß sie recht gut diese neuen parlamentarischen
Einrichtungen erlauben kann.
Aber der Baron war in einer besonders scharfen Stimmung, da er eben
eine mit großem Aufwande von Berechnung angelegte Schachpartie verloren
hatte, und ließ sich so leicht nicht aus dem Felde schlagen.
Wenn solche Neuerungen etwas gutes wären, sagte er, so müßte doch wohl
auch etwas gutes herauskommen. Aber sehen sich Eure Exzellenz doch nur
einmal um. Von oben bis unten geht durch alle Klassen die offenkundige
Revolution, Ein jeder strebt nach oben, verachtet den eignen Stand und Beruf
und taugt infolge dessen in keiner Stellung mehr etwas. Fangen wir von
unter an, so sehen wir das bei den Domestiken, Zur Zeit meines seligen
Vaters und auch noch in meiner Jugend waren die Bedienten zwar auch in
der Regel liederliche und durchtriebene Gesellen, aber es fiel doch keinem ein,
Bedienter zu werden, bevor er sich nicht Jahre lang als Hausknecht oder als
Anfwcirter in Speisehäusern und Gasthöfen die dazu nötige Geschicklichkeit er¬
worben hatte, bevor er nicht gelernt hatte, anständig anzumelden, den Wagen
vorzubringen, zu öffnen und zuzumachen, Bestellungen deutlich und höflich aus¬
zurichten, den Tisch rasch und geschickt zu serviren. Ein Reitknecht mußte
damals reiten, ein Kutscher fahren können und die gewöhnlichen Pferdekuren
verstehen. Dabei hatte die ganze Bande noch einen Stolz auf ihre Herrschaft,
sie zankte sich für sie, prügelte sich zu ihren Ehren, und es gingen am Ende
doch eine Anzahl von treuen Dienern aus der großen Masse hervor, solche wie
Ihr alter Degenhard, Exzellenz, der in jetziger Zeit ein weißer Rabe ist. Denn jetzt
will jeder schmutzige, ungeschickte Kerl, der sich in geborgten Kleidern anmeldet,
Bedienter sein, der dann garnichts versteht, nichts begreifen kann, stets Un¬
geschicklichkeiten und Grobheiten begeht und alles ruinirt. Kutscher will sein,
wer keinen Begriff vom Fahren hat, Reitknecht, wer kaum auf einem Pferde
sitzen kann, und statt daß sie sonst für ihre Herren sich zankten, lästern sie selbige
untereinander und laufen solange von einem zum andern, bis sie am Ende an
den Bettelstab geraten. Und ähnlich geht es durch alle Klassen hinauf. Da
ist Dorotheens Milchschwester Millicent. Sie ist ja selbst ein braves Mädchen,
ein vortreffliches, wackres Kind und für meine Tochter beinahe mehr Freundin
als Dienerin. Aber schon ihr Name ist ein Zeichen der Zeit. Wie wäre es
vor fünfzig Jahren noch einem tüchtigen Ackerbürger eingefallen, seine Tochter
Millicent zu taufen? Da mußte er, um vornehmer zu werden, eine herrschaft¬
liche Kammerjungfer heiraten, die englische Romane las, mußte in die Stadt
ziehen und seine Kinder in die höhere Bürgerschule schicken. Nun sieht man,
was aus den Jungen geworden ist. Der eine hat eine Bank gegründet, eine
Zeitung gekauft, macht Erfindungen und hält Reden in Vereinen, der Jüngere
fing als Barbier und Chirurg an, wurde dann Heildiener bei einem berühmten
Arzt und endlich Charlatan. Er sitzt jetzt in Fischbeck und brant Algensaft.
Natürlich strömen ihm die Leute zu, gerade so wie seinem Bruder, aber sie
werden beide, fürchte ich, ein böses Ende nehmen.-
In Fischbeck ist man, wie ich höre, sehr erbaut von dem Jüngern, sagte der Graf.
Er hat sehr dazu beigetragen, daß das Bad soviel besucht wird, und er macht aus¬
gezeichnete Kuren. Man sagte mir, daß ganz Fischbeck nach seiner Pfeife tanze.
Freilich, aber das ist auch nicht in der Ordnung. Die Regierung sollte
nicht leiden, daß ein Mann, dem die wissenschaftliche Bildung fehlt, sich an das
Kuriren wagt.
Es ist doch mit dem Kuriren eine geheimnisvolle Sache, erwiederte der
Graf. Ich habe merkwürdige Beispiele davon gesehen, daß ganz ungebildete
Leute, die von der Wissenschaft keine Ahnung hatten, schwere Krankheiten heilten,
an denen sich die besten Ärzte vergeblich versucht hatten. Da war auf meinem
Gute in Westfalen ein alter Schäfer, der die schlimmsten Leiden heilte. Wie
er es machte, weiß ich nicht, aber daß seine Manier sich bewährte, ist gewiß,
und er hatte gewaltigen Zulauf. Ich erinnere mich, daß sogar ein Erzherzog
seiner Zeit bei ihm in Behandlung war und kurirt wurde.
In diesem Augenblick trat Millicent zur Thür herein und unterbrach das
Gespräch über ihre Familie, indem sie sich mit artigen Gruße näherte und er¬
rötend einen lächelnden Blick auf Eberhardt richtete. Sie erschien heute eben¬
falls nach Ablegung der Fischertracht in einem andern Lichte und machte in
ihrem einfachen Hauskleide von Hellem, geblümtem Satin einen überaus frischen
und lieblichen Eindruck. Sie wechselte einige leise Worte mit Dorothea, die sich,
wie es schien, auf die Anordnung des Abendessens bezogen, und verschwand
dann wieder. Dorothea aber erhob sich und forderte Eberhardt auf, ihr in den
Garten zu folgen. Sie schützte dabei vor, daß sie, ehe es dunkle, ihrem Gast
Gelegenheit geben wolle, sein Künstlerauge auf einige altertümliche Besonder¬
heiten des Schlosses und Parks von Eichhausen zu lenken, aber in Wahrheit
hatte sie einen andern Grund, Eberhardt für jetzt zu entfernen. Sie kannte
ihres Vaters Neigung, das Thema der natürlichen Ungleichheit der Stände
erschöpfend zu behandeln, sie wußte, daß er erst im Anfange seiner Erörterungen
war, und sie fürchtete, es könnte ihm im Eifer der Rede ein Wort entschlüpfen,
welches dem bürgerlichen Maler unliebsam klingen müßte.
Sie ging mit ihm durch den kleinen Garten hindurch, der sich unmittelbar
vor der Halle befand und in regelmäßig architektonischer Anordnung den Linien
des Schlosses selbst entsprach, sodaß er mit seinen eckigen und runden Blumen¬
beeten, seinen rechtwinkligen Taxushecken und sorgfältig beschnittenen Zier¬
sträuchern gleichsam ein Helles, duftendes Vorzimmer der Halle bildete, und
führte ihn durch ein weites Thor, dessen Pfeiler mit Schlinggewächsen um¬
wunden und von steinernen Vasen gekrönt waren, in den außerhalb der innern
Mauer liegenden Park. Hier war der ursprüngliche Wald von gewundenen
Wegen durchzogen und von großen Rasenflächen unterbrochen, auf denen Gruppen
von Gebüsch um einzelne schöne Bäume angelegt waren. Der Weg führte unter
den stolzen Wipfeln hin, die Eberhardt früher von außen über die alte Mauer
hatte emporragen sehen, und an der Rückseite des kleinen, freundlichen Hauses
mit den grünen Fensterladen vorbei.
Es gab in diesen Anlagen manchen malerischen Anblick, Es trug das alles
den Stempel des Gewordenen, im Gegensatz zu den künstlich hervorgebrachten
Parks manches andern reichen Herrn, Hier fanden sich die alten Stämme und
stolzen Äste, welche das Geld nicht schaffen kann, hier blickte altes Gemäuer,
Überreste einer fremdgewordenen Vergangenheit, mit jener Echtheit schwarzer und
grüner Tinten hervor, die den modernen Ruinen zu verleihen unmöglich erscheint,
hier war wirklich der vollsaftigen Natur mit schwerer Mühe die Erlaubnis zu
Lichtungen, freien Plätzen und bequemen Wegen abgerungen worden, im Gegensatz
zu jenen Parks in englischem Geschmack, welche der Gießkanne mehr verdanken
als der Axt. Ja mau sah in der Ferne unter dem schattigen Waldsaum ein
rotfarbiges Nudel Daumont auftauche», das sich beim Näherkommen des
Paares mit leichten Sätzen tiefer in das undurchsichtige Grün zurückzog.
Doch gingen alle Motive zu landschaftlichen Bildern heute in flüchtigem
Zuge an Eberhardts Auge vorüber. Er war zu sehr beschäftigt mit seiner
Führerin, Wenn sie stehen blieb, um ihm etwas zu zeigen, wenn sie ihm er¬
zählte, hier dieses jetzige Badehaus in dem Winkel zwischen den Eichen und
dem Bach sei ehedem eine Mühle gewesen, dort jener Thurm, in welchem nun
Gartengerätschaften aufbewahrt würden, habe vormals als Luginsland ein Vor¬
werk des Schlosses gebildet, so heftete er Wohl den Blick auf die bezeichneten
Stellen und hörte wohl das Rauschen des Wassers, das über die Steine herab¬
plätscherte, aber deutlich war ihm nur der Glanz in ihren Augen und der Toi:
ihrer Stimme, Er schritt in einem traumhaften Wohlgefühl an ihrer Seite
hin, und wenn ja dem Maler ein Bild vorschwebte, so war es das des Dorn¬
röschens, und er selbst der Ritter, der die Schöne im übmvuchernden Gerank
des verzauberten Palastes fand,
Dorothea bemerkte seine Unaufmerksamkeit und lächelte darüber.
Wenn Sie gelegentlich wünschen sollten, sagte sie, einzelne dieser Punkte
durch Ihren Pinsel zu verherrlichen, so erteile ich Ihnen hiermit die Genehmigung
zu freiem Besuch, doch scheint es mir sast so, als wäre Ihr Auge verwöhnt
durch großartigere Ansichten, oder vielleicht sind Sie Spezialist in Marine¬
bildern, da Sie so nahe am Meere Ihre Residenz aufgeschlagen haben,
Eberhard: schüttelte den Kopf. Ich fürchte, es ist überhaupt wenig Maler¬
talent in mir, entgegnete er. Wenn ich offenherzig reden soll, so muß ich ge¬
stehen, daß ich nur zu leicht aus meinem Metier herausgelockt werde. Und
heute — vielleicht habe ich meinen Beruf verfehlt und hätte den Dienst in der
Kavallerie zu meiner Lebensaufgabe machen sollen.
Er errötete, als er so gesprochen hatte, und fuhr hastig fort: Was denken
Sie von der naturalistischen Richtung unsrer Landschaftsmaler, mein gnädiges
Fräulein? Halten Sie es für richtig, daß man mit dem Pinsel Photographien
anfertigt?
Ich verstehe wenig davon, erwiederte Dorothea, aber mir scheint es, als
wäre es einerlei, auf welche Weise der Maler seine Bilder herstellt, vorausgesetzt,
daß man sie mit Vergnügen betrachtet,
O ja, aber der Geschmack der Zeit wechselt, und man betrachtete vor Jahren
mit Vergnügen Bilder, die wir heilte nur noch mit dem Auge des Kunsthisto¬
rikers schätzen. Wenigstens dem großen Publikum ist nur mit Bildern des mo¬
dernen Geschmackes beizukommen. Ich für meine Person habe noch kein Glück
gemacht und möchte gern die Schuld daran auf den Geschmack des Publikums
schieben, setzte er lächelnd hinzu.
Und was nennen Sie naturalistische Richtung? fragte Dorothea,
Ich verstehe darunter das Bestreben, eine Landschaft ganz so wiederzugeben,
wie sie sich für jedermann in der Natur darstellt, und ich glaube, daß dies
verkehrt ist, weil es sich doch als unmöglich herausstellt. Denn nicht allein
liegt der Hauptreiz einer Aussicht in dem Wechselspiel der Beleuchtung, welche
doch nicht wiederzugeben ist, sondern es sieht auch ein jeder daS Bild mit andern
Augen an, je nachdem er seine Ideen in dasselbe hineinträgt,
Sie meinen deshalb, es sei künstlerischer, wenn der Maler seine eigne in¬
dividuelle Auffassung dem Bilde deutlich ausprägte, ohne sich an die von der
Natur gegebenen Linien und Farben streng zu binden?
Jawohl, das denke ich. Haben Sie wohl Bilder von den Poussins gesehen?
O ja, wir sahen alle Maler der Welt auf unsern Reisen, Gerade
von Kaspar Poussin haben wir auch einige Kupferstiche in der Bibliothek hängen.
Da ist ein Berg auf dem einen Stiche, dessen obere Linien bei näherer Be¬
trachtung die Glieder eines Riesen zeigen, der langsm über den Berg gelagert
ruht. Vielleicht hat Poussin sich darunter so etwas wie den träumenden Pan
gedacht. Eine drollige Idee!
Ganz recht. Kaspar Poussin war ein kühner Dichter mit dem Pinsel, wie
es in noch höherm Maße Nicolas war, vielleicht etwas zu kühn. Man hat
sie wohl die Begründer der heroischen Landschaft genannt. Nehmen wir lieber
Claude Lorrain als Beispiel, der wohl in der Großartigkeit der Komposition
nicht an die Poussins heranreicht und sich mehr auf das sinnlich schmeichelnde
als auf das geistig Erziehende verstand, aber doch an Kolorit unübertroffen
und überhaupt immer auch an Auffassung noch als Gegensatz zu den Natura¬
listen dasteht.
Claude Lorrain liebe ich ungemein, rief Dorothea. Welcher Schmelz und
Duft, welche Wirkungen des Lichtes, welche Klarheit und Anmut der Formen!
Ich muß sagen, es geht mir keiner von allen Malern über meinen lieben Claude
Lorrain.
Nun wohl, wenn die Naturalisten auf dein linken Flügel stehen, so steht
Claude Lorrain mit seinen idealen Stimmungen auf dem rechten Flügel. Jetzt
findet man ja selbst Calame schon unnatürlich.
Ich verstehe noch nicht, sagte Dorothea, Gehen denn nicht die Naturalisten
ebenfalls darauf aus, Stimmung zu geben, ebensogut wie Claude Lorrain dies
that? Ohne völlige Naturwnhrhcit ist doch wohl ein Landschaftsbild un¬
möglich gut.
Ganz recht, nur fragt sich, was die Naturwahrheit ist, Ist sie wohl bei
Claude Lorrain dasselbe, was sie bei den modernen Naturalisten ist? Er ergeht
sich im Freien, Fernen, Heitern, Landkinder, er schafft gleichsam eine architek¬
tonische Landschaft für Dryaden und Nymphen, Ist das wohl bei den Mo¬
dernen der Fall? Es giebt, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine göttliche
Stimmung in der Natur, welche überhaupt kein Mensch erblickt, und dies ist
die eigentliche Naturwahrheit, Je größer aber das Genie des Malers ist, desto
näher kommt er dem von keinem sterblichen Auge zu erblickenden. Und hierin
liegt der Unterschied zwischen großen und unbedeutenden Künstlern. Die Na¬
turalisten halten sich an das äußere Gewand der Schöpfung, weil es leichter
zu fassen ist als der innewohnende Gedanke,
Jetzt glaube ich zu verstehen, sagte Dorothea. Sie meinen, daß den Land¬
schaften, wie die Natur sie uns zeigt, eine Idee zu Grunde liege, welche nur
das Auge des Künstlers wahrzunehmen imstande sei, und daß es die Aufgabe
des Malers sei, nicht etwa dasjenige darzustellen, was jedermann sehen kann,
sondern jene höhere Schönheit,
Ganz recht, mein gnädiges Fräulein, und eben diese Erkenntnis bildet mein
Unglück, Denn ich bin weder imstande, jene höhere Schönheit, die ich doch
fühle, nachzubilden, noch auch mich dem Geschmack der Leute anzubequemen, die
am liebsten farbige Illustrationen zu einem Reisehandbuch sehen mögen.
Um das beurteilen zu können, müßte ich Ihre Bilder gesehen haben, sagte
Dorothea. Wollen Sie mir nicht die Gunst erweisen, mir etwas davon zu zeigen?
Sie machte ein so aufrichtiges Gesicht bei diesen Worten, daß Eberhardt
in voller Überzeugung von ihrer ehrlichen Teilnahme es ihr zusagte.
Verzeihen Sie meine Neugierde, sagte Dorothea wieder nach einer kleinen
Pause. Sie erzählten mir, daß Sie in einer Shakergemeinde Ihre Jugend ver¬
lebt hätten. Wer sind eigentlich die Shaker?
Die Shaker, entgegnete Eberhardt, sind Leute, die sich vom Weltgetriebe
abgewandt haben, um in der Stille und im Frieden das Glück des Lebens zu
finden, Sie bilden Gemeinden an verschiednen Punkten der Vereinigten Staaten
und haben absonderliche Grundsätze, welche den Leuten außerhalb oft Anlaß
zum Spott geben, Sie machen den Ackerbau und die Obstzucht zu ihrer Lebens¬
aufgabe, sie verfertigen Parfüms, die sie in den Städten verkaufen lassen, und
treiben auch Handel mit Pflanzen und Pflanzensamen.
Das scheint mir nichts zu sein, worüber man spotten könnte, sagte Dorothea.
Ja, sie haben besondre Anschauungen, setzte Eberhardt hinzu. Sie kennen
die Ehe nicht. Unter den Shakern giebt es nur Brüder und Schwestern, und
selbst Ehepaare, die zu ihnen ziehen, hören auf ehelich vereinigt zu sein. Auch
außerdem haben sie noch besondre Grundsätze in sittlicher und religiöser Hinsicht,
Dorothea sah ihn verwundert an.
Und stimmen Sie mit den Ansichten der Shaker überein? fragte sie.
Ich schätze das, was gut bei ihnen ist, erwiederte Eberhardt, aber verkenne
auch nicht ihre Schwächen,
Dorothea glaubte eine gewisse Befangenheit in seinem Wesen zu bemerken,
und sie brach das Gespräch ab, indem sie zur Rückkehr nach dem Schlosse auf¬
forderte und dann von neuem über die Kunst zu sprechen anfing.
So kehrten sie in weitem Bogen zu der Halle zurück, wo inzwischen die
Abendtafel gedeckt worden war.
Dieser junge Herr hat einen etwas fremdländischen Accent in seiner Sprache,
sagte der alte General zu seinem Freunde Baron Sextus, als das Paar die
Halle verlassen hatte, Ist er vielleicht ein Engländer?
Sein Name ist deutsch, und er hat ja bei uns gedient, versetzte dieser.
Aber vermutlich ist er lange im Auslande gewesen. Er hat einen schwarzen
Diener, was mir bei seiner Stellung etwas sonderbar vorkommt.
Er hat ein gutes Benehmen, gleich als ob er von Familie wäre, Ist er
von Eschenburg?
Nein, Bürgerlich, Das ist auch eine bedenkliche Sache, daß man seit
der Reorganisation so viele Bürgerliche in die Armee hat aufnehmen müssen,
Sie haben sich in den Kriegen vorzüglich geführt,
O ja, sagte Baron Sextus, Aber ich weiß doch nicht, ob sie ein Vorteil
für die Armee sind. Der große König wußte, was er that, als er die Offiziers¬
stellen zur eigentlichen Domäne für uns machte. Der Adliche ist etwas durch
sich selbst und kann nie höher steigen, als ihn die Geburt schon gestellt hat.
Die Leute aus bürgerlichem Stande aber wollen avanciren, wollen eine gute
Gage haben und sehen überhaupt auf die Vorteile, die mit dem Ofsizierstnnde
verbunden sind. Unsre Vorfahren in der Armee Friedrichs trugen alle den¬
selben Rock, Leutnants wie Generale, und es gab keine breiten und schmalen
Streifen, keine Epaulettes mit und ohne Bouillons und Kcmtillen, die in der
Neuzeit unter des Königs Offizieren Unterschiede eingeführt haben.
Man wird doch immer derartige Mittel zur Belebung des Ehrgeizes nötig
haben.
Schlimm genug, Exzellenz. Ein Offizier sollte keinen andern Ehrgeiz haben
als den der Zufriedenheit in seiner Brust, wenn er weiß, daß er seine ver¬
dammte Schuldigkeit gethan hat. Die Armee ist zu groß, und die Offizierkorps
sind zu gemischt. Dadurch ist das Strebertum ausgekommen. Die meisten
denken nicht mehr an ihre Aufgabe, durch ein ritterliches Leben das Vorbild
wahrer Tugenden und damit der feste Halt des Staates zu sein, sondern sie
wollen Karriere machen. Viele wollen sogar ein angenehmes Leben führen, hei¬
raten reiche Frauen aus der Plebs und geben sich durch die Uniform ein Relief,
das ihnen die eigne unbedeutende Persönlichkeit nicht verleihen kann. Durch
solche Leute werden die Offizierkorps nicht gehoben und wird die Kameradschaft
nicht verbessert. Der Rang und nun gar das Geld sollten in der Armee keine
Rolle spielen. Die Offiziere sollten sich alle gleich sein und nur in dienstlicher
Tüchtigkeit miteinander wetteifern, das ist Kameradschaft, Wo aber Adliche
und Bürgerliche in einem Korps stehen, wo an den Offizierstischen Wein ge¬
trunken und gut gegessen wird, wo einzelne ein Haus machen, weil sie reich
geheiratet haben, wo die Herren einander den Rang ablaufen möchten, um sich
bei den Vorgesetzten beliebt zu machen und in die Höhe zu kommen, da kann
keine Kameradschaft gedeihen. Unser allergnädigster Herr schläft in einem eisernen
Feldbett, mit seinem Mantel zugedeckt, und ist, obwohl er sich den achtziger
nähert, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht an der Arbeit für das
Wohl des Staates, Das sollten sich alle Offiziere zum Vorbild nehmen und
nachahmen, aber die meisten begnügen sich damit, es zu bewundern.
Ich meine doch, Sie gehen da etwas zu weit, lieber Baron, sagte der
Graf, Die Zeiten haben sich geändert, und die bürgerlichen Stunde haben an
Bildung solche Fortschritte gemacht, daß sie nicht mehr von den Osfiziersstellen
ausgeschlossen werden können, Haben doch die großen Kriege, welche wir sieg¬
reich gegen Österreich und Frankreich geführt haben, deutlich gezeigt, daß die
edeln Eigenschaften des Mutes und der Treue wie der Intelligenz ebensowohl
bei den bürgerlichen wie bei den adlichen Offizieren gefunden werden, und daß
eine echte Kameradschaft auch in den gemischten Korps sich glänzend gezeigt hat.
Das will ich nicht leugnen. Aber trotzdem liegt eine große Gefahr darin,
daß massenhaft Leute aus den erwerbenden Standen sowohl in die Linie als
in die Reserven als Offiziere aufgenommen werden, und daß die alte preußische
Armee durch Allianz mit den mittel- und süddeutschen Kontingenten ihre scharfen
Konturen einbüßt. Gerade diese Bildung, von der Sie sprechen, Exzellenz, ist
das allergefährlichste, denn es heißt nichts andres, als das Schreibervolk, das
seit der französischen Revolution schon im ganzen Lande überwuchert, auch noch
in die Armee einbürgern und damit den einzigen bis jetzt zuverlässigen Halt
des Staates unterminiren. Lassen Sie einmal bewegte Zeiten kommen, wie das
verfluchte Jahr achtundvierzig, wo die Professoren regieren wollten, dann werden
wir sehen, was alle diese gebildeten Leute, Offiziere und Einjährige aus den
bürgerlichen Klassen, diese Tiefenbacher, in der Armee für einen Wert
haben. Sie sind alle mit den sogenannten liberalen Ideen großgesäugt, die wie
Mäuse und Holzwürmer und Mauerschwamm am Fundamente des Staates
nagen, wühlen und zehren. Diese Milch ist in ihr Blut übergegangen, und es
ist nicht zu erwarten, daß sie gegen ihre eigne Natur handeln sollten. Nein,
ich bleibe dabei, eine wahrhaft zuverlässige Armee ist nur da möglich, wo die
Offiziere von Geburt schon dem einzig wahrhaft konservativen Stande, nämlich
dem grundbesitzenden Adel, angehören, und wo sie so erzogen sind, daß sie nichts
nach Geld, Wohlleben und Avancement fragen, sondern arm und fromm und
stolz und tapfer sind. (Fortsetzung folgt.)
Würden diese beiden Werke sich nicht auf Kant beziehen, so thäte man Un¬
recht, sie in einem Atem zu nennen, denn dus Werk Thieles ist das eines ungemein
gelehrten wissenschaftlichen Arbeiters, das Werk Svnnners das eines Schwärmers,
dessen Darstellungen in ihrem Urteil von Sachkenntnis vollständig unbeirrt sind.
Beide Werke zeigen die merkwürdige Erscheinung, daß sie von Hegel angekränkelt
sind, das eine in psychologischem Sinne, das andre in seinem metaphysischen
Konstruiren.
Thiele nimmt sich vor, nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der
Philosophie vor Kant die Entwicklung.Kants stufenweise logisch historisch zu ver¬
folgen, und thut dies, soweit in der ersten Abteilung des ersten Bandes Anlaß
dazu gegeben ist, mit der Gründlichkeit und Umsicht des echten deutschen Gelehrten.
Er zieht alle nutzbaren Aussprüche und sachlichen Erklärungen herbei in streng
begründeten Anmerkungen, welche anch dem Gelehrtesten Nutzen zu bringen ver¬
mögen. Dennoch ist der Weiterentwicklung dieses Werkes mit einer gewissen Be¬
sorgnis entgegenzusehen; denn schon jetzt sind in einzelnen Ausdrücken die Fehler
desselben erkennbar, welche den Nutzen des Ganzen zu vernichten geeignet sind.
Diese Fehler laufen im letzten Grunde auf einen und denselben Irrtum, zurück.
Er besteht in einer irrigen Ansicht über das Wesen der Empfindung und der auf
Grund der Empfindung vorgestellten Gegenstände.
Thiele teilt den Entwicklungsgang der Geschichte der Philosophie in die vier
Perioden: 1. die Empfindungswelt; 2. die gegenständliche Welt; 3. die Bewußtseins¬
welt; 4. die Welt des Selbstbewußtseins. Er beginnt also: „Bevor das endliche
Subjekt Von der Welt der materiellen Dinge, die es so sinnlich unmittelbar und
lebendig umgeben, etwas wissen kann, muß es erst seine Empfindungswelt durch-
gelebt und durchgedacht haben, denn in Wahrheit werden diese Dinge dem Einzelnen
nicht unmittelbar gegeben, er kommt zu ihnen vielmehr erst auf Grund der von
den Dingen ihm aufgezwungenen Empfindungen, diese allein sind für ihn der Er-
kenntnisgruud des Daseins der Dinge, sie allein sind ihm unmittelbar gegeben."
Hier liegt der schwere Fehler von Thieles System.
Es ist nicht wahr, daß wir Menschen grüne und rote Empfindungen durch¬
lebten und durchdachten. Wir sehen vielmehr ganz unmittelbar grüne und rote
Dinge, und diese erleben wir, nehmen sie wahr, ohne daß unsre Empfindungen
unabhängig von den angeschauter Gegenständen ein eignes Leben bilden. Thiele
ist garnicht imstande, sich irgendeine Vorstellung von der Empfindung grün zu
machen, ohne den grüne» Gegenstand sich zur Anschauung zu bringen.
Im Zusammenhang damit steht, daß Thiele (S. 40) den ungeheuerlichen Satz
hinschreibt, daß „uach Kant die gesamte objektive Welt nach unwandelbaren Gesetzen
erst vom erkennenden Subjekt hervorgebracht ist." Wenn jemand im gewöhnlichen
Leben behauptet, er habe die gesamte objektive Welt hervorgebracht, so würde mau
ihn ins Irrenhaus schicken. Wenn aber ein Gelehrter dem größten dentschen
Philosophen dergleichen nachsagt, hat mau wenigstens das Recht, ihm zu erwiedern:
Du kannst keine einzige Stelle in Kant nachweisen, wo er gesagt habe, wir
Menschen brächten die Welt hervor. Wir Menschen nehmen die Welt wahr, wir
erfahren sie, aber wir bringen sie nicht hervor. Stcitnirt man freilich eine Em¬
pfindung unabhängig von der Anschauung, so muß man sagen: wir haben eine
Empfindung, und auf Grund dieser bringen wir die Welt hervor. Das Anschauen
und das Empfinden zerfällt aber nicht in zwei Akte, sondern es ist ein Akt, ja
die Empfindung ist sogar ohne das Augeschaute sachlich unbestimmbar und mir im
Denken abtreuubar. Wenn wir einen grünen Gegenstand sehen, so sagen wir, es
komme das auf Rechnung einer Empfindung, und fordern, daß das eine andre
Empfindung als rot sein solle, ohne im mindesten einen Erkenntnisgrnnd dafür
angeben zu können, weil wir die Empfindung nicht selbst empfinden, nicht selbst
zum Objekt unsrer Betrachtung machen können.
Wenn der gelehrte Hallenser Professor sich uicht warnen läßt, so wird er
durch sein Werk eine gewaltige Fundgrube für Zitate geschaffen haben, aber am
Schluß dazu gelangen, daß er Kant in lauter Widersprüchen befangen sieht, welche
in Wahrheit ihn garnicht treffen, sondern nur den, der im Fundamente Kant falsch
verstanden hat. Zum Schluß noch die Bemerkung, daß, wenn Thiele schon in
diesem ersten Teile seines Werkes Bezug nimmt auf die kritische Schrift: „Meta¬
physische Anfangsgründe der Naturwissenschnft," es von hohem Wert sein würde,
wenn er auch die jetzt herauskommende Schrift Kants, das nachgelassene Werk „Vom
Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik"
durchdringen und benutzen wollte.
In Hugo Sommer gewahren wir eine Natur, die sich plötzlich der beglückenden
Thatsache gegenüber gesehen hat, daß es doch am Ende möglich sei, Religion zu
haben, wenn mau die Philosophie zum Leiter benutzt. So bringt er denn die
überraschend neue Lehre, daß die Substanz der Welt, das Ziel und der Zweck
aller Dinge die Persönlichkeit Gottes sei. Das sind aber abgestandene theosophische
Faseleien, welche in allen Jahrhunderten wiederkehren und nicht erst aus der
Idealität von Zeit und Raum durch Kant hätten aufgebracht werden müssen. Damit
der Leser sich überzeuge, daß unser hartes Urteil gerecht ist, zitiren wir S. 35:
„Will man die Intention Kants recht verstehen, so muß man das letzte Wirkliche
nicht als unveränderliche Substanz, sondern als die lebendige Persönlichkeit Gottes
betrachten, dessen Wesen sich uns in den Voraussetzungen der Vernunft und des
Gewissens offenbart." Fürwahr, das würde eine saubere Mechanik und Dynamik,
eine bewundernswerte Chemie abgeben, wenn das letzte Wirkliche nicht die Sub¬
stanz in den Elementen, sondern die lebendige Persönlichkeit Gottes wäre! Mit
solchen Phantasien hängt es natürlich zusammen, daß dem Verfasser in logischen
Dingen die Kenntnis derart abgeht, daß er nieint, die Arten der Urteile hingen
allein von der Bestimmung der Copula ab. Wenn er nur wüßte, daß in den semi-
tiischen Sprachen es überhaupt keine Copula giebt, daß die Logik den Unterschied
der enuntiationv» ssouncli et tertii aclsaeönti« kennt, daß die ersten Urteilsartcn,
deren Aristoteles überhaupt gedenkt, das bejahende und verneinende sind — mit
einem Worte, wenn er Fachkcnntnis besäße, würde er nicht Lotze, sondern dem
großen Griechen in der Logik gefolgt sein. Wir geben ihm den Rat, er möge
erst Aristoteles und dann Kant studiren, und ehe er den letztem zu verbessern und
zu ergänzen versucht, möge er sich besinnen, ob er das Zeug dazu habe, gegen
diesen Koloß anzurennen.
Bei diesem Sammelwerke von fragmentarischen Abhandlungen, Übersetzungen,
Ausschnitten und Notize», die sich zumeist um deutscheu Glaube», Sitte und Recht
drehen — der Zusatz „Blätter" läßt auf eine Zeitschrift schließen, was das Buch
aber nicht ist —, hat der Verfasser seinen Leserkreis nicht scharf im Auge behalten.
Er will vor allem der reifern Jugend dienen. Aber für diese und das gebildete
Publikum überhaupt sind seine Darstellungen viel zu abgerissen, viel zu gelehrt
gehalten und setzen zu viel philologische und Sprachkenntnisse vornns. Für den
Gelehrten andrerseits enthält das starke, nach den grundlegenden Werken von
Jakob Grimm n. a. bearbeitete Buch kaum etwas neues. Was sollen einem größern
Publikum die sechs Zeilen über Loki, was der gelehrte Notizenkram über Baldur,
wenn ihm nicht einmal der betreffende Mythus selber mitgeteilt wird? (Auf die
wichtigen neuern Forschungen der skandinavischen Gelehrten Bang und Bngge hat
der Verfasser dabei garnicht Rücksicht genommen.) Noch weniger dürfte den vom
Verfasser vorausgesetzt^' Leser» damit gedient sein, daß Burchard Waldis' (nieder¬
deutsches) Spiel vom Verlornen Sohn getreu nach der Handschrift ohne jeg¬
liche Interpunktion und Erklärung abgedruckt ist. Von einer Abhandlung „Die
Mannichfaltigkeit der Namen Gottes bei Kädmon" erhalten wir die Hälfte, von
den „Altdeutschen Wendungen für Sterben" ein noch geringeres Bruchstück. Die
alphabetisch uach Stichwörtern geordneten „Züge deutschen Rechtssinncs und deutscher
Rechtssitte" brechen mit dem Wort „Concubinat" ab. Der Grundsatz des Ver¬
fassers, „das Interesse stets neu wecken und durch systematische Behandlung nicht
ermüden" zu wollen, können wir für einen Pädagogisch richtigen nicht halten. Man
sollte auch der reifern Jugend stets etwas Abgeschlossenes bieten. Auch glauben
wir nicht, daß die hölzernen wortgetreuen Übertragungen ins Neuhochdeutsche, die
oft nur für deu verständlich sind, der imstande ist, daraus zunächst das Original
zu reproduziren, für altdeutsche Studien Interesse erwecken werden. Im Vorwort
bemüht sich der Verfasser, Christoforus d. i. die zum gottbegnadeter Träger des
Christentums prädestinirte deutsche Volkspersönlichkeit als den Inhalt seines Buches
aufzuweisen. Doch läßt er sich in Verfolg dieses Gedankens und beständiger Ent¬
deckung von deutscher „Heilsfreudc" zu einigen Überschwenglichkeiten verleiten, wie
wenn er in dem bekannten Streitlied zwischen Wasser und Wein ein geistliches
Volkslied, einzig in seiner Art, das „Lied von den sakramentalen Elementen der
Natur- und der Heilswelt" erblickt, bloß weil die beiden streitenden Teile sich neben
andern Vorzügen auch ihrer Anwendung bei der Taufe und Kommunion berühmen,
was doch für die schließliche Entscheidung ganz nebensächlich ist.
Der Druck ist ziemlich inkorrekt.
ein Zweifel, mit dem Manne, der mit dem scheidenden Jahre zu
Ville d'Avray aus dem Leben gegangen ist, hat das gegenwär¬
tige Frankreich einen bedeutenden, ja seinen größten Politiker ver¬
loren. Eine glänzende Vergangenheit ist mit Leon Gambetta ins
Grab gesunken, stolze Zukunftstränme haben sie ins Schattenland
begleitet, aber auch schwere Gefahren und Befürchtungen. Die Menge, die am
Neujahrstage und den nächstfolgenden Tagen über die Straßen und Boulevards
von Paris wogte, die große Mehrzahl des in der Stadt der leichtlebigen Sinnes¬
art sich vergnügenden Volkes ließ sich zwar, wie berichtet wird, den Verlust
wenig zu Herzen gehen, sie verhielt sich gleichgiltig wie die Natur beim Er¬
löschen eines Menschenlebens, wie das Meer, wenn der Steuermann eines Schiffes
über Bord fällt. Und als der Verstorbene vom Staate feierlich begraben wurde,
war es auch mehr Interesse um dem Pomp, der dabei entfaltet wurde, als Be¬
wußtsein der Größe des Toten, wenn jene Menge Teilnahme an dem Ereignisse
zeigte. Selbst der größere Teil der Zeitungsartikel, die über Gambetta er¬
schienen, beschäftigte sich zunächst mehr mit den Äußerlichkeiten seines Todes,
seinem Sterbezimmer und dergleichen, als mit seiner Laufbahn, seinen Lei¬
stungen und Erfolgen und der Lücke, die durch sein Hinscheiden entstanden ist.
Sogar viele der zweifellos republikanischen Blätter sprachen von den: toten
Redner und Staatsmann in auffallend kühlen Ausdrücken, und als sie später
an eine Erörterung der Folgen des Ereignisses gingen, blieben sie mit ihren
Gedanken meist an der Oberfläche. „Sowohl in Privatgesprächen als in der
Presse, schreibt ein guter Beobachter dem v^ni lelöAraM, war die Haupt¬
frage, welche Wirkung sein Ableben auf den Stand der Parteien üben werde,'
und der Schluß, zu dem man dabei fast allenthalben gelangte, lautete dahin,
daß es eine günstige Wirkung haben müsse. Mit andern Worten: man sah in
seinem Hingange die Bürgschaft für ein längeres Verbleiben des jetzigen Mini¬
steriums im Amte und eine bessere Aussicht auf Langlebigkeit für dessen Nach-
folger," Man war eine drückende Unsicherheit los. Das war genug für Leute,
die aus der Politik ein Handwerk machen und nur nach Raum für ihren Ehr¬
geiz ausschauen. Weiterblickende aber mußten sich vergegenwärtigen, daß der
Verlust eines Mannes, der, was auch seine Fehler gewesen sein mögen, vor
zwölf Jahren dem niedergeschmetterten Frankreich neuen Mut einzuflößen ver¬
stand und, obwohl damals ohne Erfahrung in Verwaltungssachen, Armeen aus
der Erde stampfte und der gewaltigsten Kriegsmacht, welche die Welt je gesehen,
immer von neuem unverzagt die Spitze bot, für die Tage einer großen innern
oder äußern Krisis von höchster Bedeutung werden könne. Solcher Denker
aber scheint es nach jenem Beobachter jetzt in Paris nicht viele zu geben. „Für
mich, sagt er, ists eine ausgemachte Sache, daß Gambetta auswärts weit höher
geachtet war als von seinen Landsleuten, und dürften wir einzig von den Pa¬
risern sprechen, so müßten wir sagen, er sei kaum ein Prophet in seinem Vater¬
lande gewesen."
Aber Paris ist nicht Frankreich. Von den Provinzen, wo das Leben lang¬
samer pulsirt, und wo man ernster zu denken pflegt, hörte man andre Berichte,
und hielt man dieselben zusammen, so konnte man nicht zweifeln, daß dort tiefe
Trauer über den Verlust des Mannes herrschte, den die Sylvesternacht zu den
Toten versammelt hatte. Das Herz des französischen Volkes ist darüber tief
bewegt, und es würde von sonderbarer Beschaffenheit sein, wenn es anders
wäre; denn selten hat ein Tod so ernst nicht bloß zu einer Nation, sondern zu
den Gemütern aller Menschen geredet. Er kam plötzlich und frühzeitig, er war
ein grausames Beispiel zu der Lehre von der Eitelkeit menschlichen Wollens und
Strebens, er predigte eindringlich, wie leicht zerbrechlich das Menschenleben,
wie sehr vom Zufall abhängig der Menschen Ehrgeiz ist, und welche Kleinig¬
keiten deu Gang der Geschichte unterbrechen und in andre Bahnen lenken können.
Lebhaft erinnert dieser Tod an einen andern, der vor einigen Jahren ein fürst¬
liches Leben im fernen Afrika auslöschte. Ein Schwarm heulender Zulukaffern
warf seine Speere aus einem Dickicht, und augenblicklich schloß die Geschichte einer
Dynastie, welche zweimal die Welt mit ihrem Rufe erfüllt hatte. Alle die
kühnen Hoffnungen, deren Mittelpunkt dieses junge Leben gewesen war, alle die
Pläne von hundert geschäftigen, Gehirnen, die sich an dasselbe knüpften, lagen
vereitelt mit ihm am Boden. Ähnlich ist das Beispiel von der Ironie des
Schicksals, das uns der Tod Gambettas vor die Augen hält. Es ist dieselbe
triviale Ursache und dieselbe hvchbedeutsame Wirkung. Eine Verwundung durch
ein unbehntsnm ergriffenes oder sonstwie behandeltes Pistol, und ein Leben,
das noch mehr zu versprechen schien als es geleistet, war dem Tode überant-
wortet. Versetzen wir uns einige Wochen zurück, so blickten tausende von Augen
auf dieses Leben mit Hoffnung, andre tausende mit Unruhe, alle aber mit ge¬
spanntem Interesse. Wie wird, so fragte man, Gambetta in dieser oder jener
Krisis verfahren? Wie bald wird er wieder Minister, wird er einmal Präsi¬
dent der Republik werden? Wie wird er sich zur Kirche, wie zur ägyptischen
Frage, wie zu England stellen? Wird er jemals und, wenn überhaupt, wann
wird er dann seinen Landsleuten sagen, daß die Stunde des Rachekrieges gegen
Deutschland geschlagen habe? Da blitzt im Landhause von Ville d'Ävray ein
Schuß, ein kurzes Krankenlager nimmt den Gegenstand dieser Fragen und
Sorgen auf, und jetzt sind sie nicht mehr als Schatten, als das Gemurmel
eines Träumender.
Daß der Tod Gcimbettas für Frankreich und ganz Europa ein wichtiges
Ereignis ist, leidet also keinen Zweifel, und es fragt sich nur, ob er als ein
Glück oder als ein Unglück für die Zukunft Frankreichs zu betrachten ist. Wie
dachte er selbst, wie dachten seine Freunde sich diese Zukunft? Was war das
Ideal, welches ihm vorschwebte? Wir gehen schwerlich irre, wenn wir es
folgendermaßen zeichnen: Gambetta gelangt wieder zu größerm Ansehen und
Einfluß und wird nach einigen Kämpfen mit verschiednen Gegnern entweder als
Premierminister oder als Präsident mit mehr Befugnissen als der jetzige that¬
sächlich Herr von Frankreich. Mit seiner mächtigen Willenskraft löst er die
Reste der roycilistischen, imperialistischen und anarchistischen Parteien rasch in
nichts aus. Der Glaube des Landvolkes an seinen Stern trägt und hebt ihn,
und zu gleicher Zeit weiß er die Demokratie in den Städten nach seinem Willen
zu lenken. Auf seinen Anstoß zu neuem Leben erwacht, im liberalsten Sinne
geordnet und befriedigt, macht Frankreich in Sachen des Handels und Gewerb-
fleißes riesige Fortschritte. Seine Unternehmungen gewinnen einen größern
Stil, seine Flagge erscheint in allen Meeren, seine Kolonien mehren sich, nach
allen Seiten hin dehnt die Nation sich weiter aus. Das materielle Gedeihen,
dessen sie sich unter dem zweiten Kaiserreiche erfreute, kehrt ohne dessen Kor¬
ruption wieder, und der Einfluß Ludwig Napoleons, mit welchem derselbe von
1860 bis 1865 Staaten schuf und auflöste, lebt gleichermaßen wieder auf und
umgiebt die Republik und deren Haupt mit nie gesehener Glorie. Mittlerweile
hat der ehemalige Diktator die Tage von Tours und was er während der¬
selben gelernt, nicht vergessen. Das Heer ist gründlich reorganisirt, es hat eine
starke Reserve hinter sich, mit der es anderthalbe Million wohlgerüstete und
geübte Streiter zählt, die Festungen sind vermehrt und verstärkt, durch strenge
Disziplin und unablässige Überwachung ist die Verwaltung zu einer muster-
giltigen geworden. Dann ist die Stunde der Abrechnung mit den Siegern von
1870 gekommen, ein Anlaß zum Streite mit ihnen ist bald gefunden, und das
wiedergeborne, starke, reiche und kühne Frankreich stürzt sich auf das Gebot des
Diktators von 1870, dem kein andrer Wille mehr Einhalt thun kann, wie eine
Lawine auf den alten Feind. Der Ruf: Lsrlin! erschallt wiederum durch
die Straßen von Paris, und der größte Zweikampf der Geschichte wird wieder
aufgenommen, diesmal selbstverständlich mit wohlbegründeter Aussicht auf glän¬
zenden Erfolg für die französischen Fahnen.
Nicht bloß Gambetta und seine Anhänger, auch Hunderttausende andrer
Franzosen träumten diese Zukunft. Die Geschichte Frankreichs ist die Geschichte
großer Männer, welche daheim die Ordnung wiederherstellen und aufrecht er¬
halten und dann der „großen Nation" jenseits der Grenzen Lorbeeren gewinnen.
Zuerst wird „die Gesellschaft gerettet," dann stürzt man sie in die Gefahren
und Schrecken auswärtiger Kriege. In Gambetta hat Frankreich den Mann
verloren, der vielleicht allein imstande war, diese doppelte politische Überlieferung
abermals zu verwirklichen. Unter der Oberfläche der Gesellschaft von Paris, Lyon,
Marseille und andrer französischer Großstädte kocht ein Hexenkessel voll schreck¬
licher politischer Leidenschaften, und erlangen diese anarchischen Elemente einmal,
wenn anch nur auf kurze Zeit, die Oberhand, so kann es zu einem Ausbruche
kommen, schlimmer als der Kommunardenanfstand von 1871. Wäre Gambetta
nicht gestorben, so würde Frankreich sich bei einem solchen Ereignisse mit Ver¬
trauen seiner Führung überlassen habe»; denn er allein konnte den bessern Teil
der Arbeiter vom Pöbel trennen und das Landvolk gegen das aufständische
Paris aufrufen, und ihm allein traute man die erforderliche Energie zu.
Ferner darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Clemencecm, nach Gcim-
bettas Verschwinden der bedeutendste Parteiführer in der Kammer der Abge¬
ordneten, zwei Ideen vertritt, welche für die Zukunft Frankreichs gefährlich
erscheinen. Er steht an der Spitze der Radikalen, welche die Kirche und andrer¬
seits das stehende Heer mit Eifersucht betrachte», das Band zwischen jeuer und
dem Staate zerschnitte» sehe» möchte» u»d die Dienstzeit in der Armee möglichst
abgekürzt haben wollen. Das sind die Hauptpunkte im Programm der äußersten
Linken. Der eine aber würde eine große Spaltung zwischen dem weltlichen und
dem durchaus noch nicht ohnmächtigen geistliche» Frankreich zur Folge haben,
der andre die nationale Wehrkraft in eine schlecht geübte und noch schlechter
disziplinirte Miliz verwandeln, die, immer aus den Reihe» des Volkes hervor¬
gehend und rasch wieder in dieselben zurücktretend, mehr Bürger als Soldat
und durch und durch mit demokratischen Ideen erfüllt wäre, welche das Gegenteil
von Unterordnung, Gehorsam und Mannszucht sind. Ein von der Partei Cle-
meuceaus umgebildetes und regiertes Frankreich würde ungefähr dem Ideale der
leitenden Politiker von 1793 gleichen, ein Schreckensregiment würde vielleicht
nicht entstehen, man würde das Eigentum der Reichen nicht konfisziren, es aber
durch ruinirende Einkommensteuern allmählich aufsaugen, man würde seine Gegner
nicht köpfen, sie aber durch Entziehung des Wahlrechtes politisch tot machen.
Sicher ist, daß die Nation schweren Schaden davon haben würde. Sie würde
in eine fortdauernde Unruhe versetzt, in hundert Faktionen zerspalten und in
jeder Weise geschwächt werden. Immer auf Verschwörungen bedacht, mit denen
man die Gewalt an sich reißen könnte, immer ans Neuerungen ausgehend, würde
man die bleibenden Interessen des Landes vernachlässigen. Im Hinblicke hierauf
hat Frankreich in der That bis zu einem gewissen Maße zu bedauern, daß
Gambetta mit seiner vergleichsweise gemäßigten Denkart nicht mehr unter den
Lebenden ist. Durch seinen Tod hat die Anarchie, ans welche die Radikalen in
der Kammer unbewußt hinarbeiten, offenbar an Aussicht gewonnen.
Wir sagten: bis zu einem gewißer Maße. „Die Republik wird konservativ
sein, oder sie wird nicht sein," hat Thiers prophezeit, und er wird damit sicherlich
Recht behalten. Gambetta wollte ganz entschieden die Republik, ja man kann
sagen, er vor allem habe sie den Bestrebungen der monarchischen Parteien
gegenüber am Leben erhalten, aber sein unruhiges Wesen, sein Ehrgeiz, sein
Liebäugeln mit den Radikalen und seine auswärtigen Pläne traten immer von
neuem der Gestaltung einer konservativen Republik hindernd in den Weg. Er
war für alle Schattirungen der republikanischen Partei ein unzuverlässiger Bundes¬
genosse, denn er gedachte ja alle nach einander zur Vorbereitung dessen zu
benutzen, was sein letztes Ziel war. Wie er gegen die konservativen Republikaner
agitirte und keins ihrer Ministerien lange bestehen ließ, so war er die Ursache,
daß die beiden Flügel der Radikalen, der ideale, der durch Clemencean, und
der chnische, der durch Nochefort bezeichnet wird, sich nicht trennten und jener
nicht zur Fühlung und Verständigung mit den Konservativen gelangte. Nach
seinem Verschwinden von der Bühne der Politik ist ein Versuch der Art möglich
geworden, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß er unternommen werden wird.
Schon mahnt der MtionÄ: „Wir fühlen, daß die republikanische Partei vor
einer der größten Prüfungen in ihrer Geschichte steht. Wenn sie sich nicht sofort
um Männer schaart, welche noch die Idee einer festen, maßvollen und weisen
Regierung repräsentiren, ... so wird sie jetzt gefährdet und in Zukunft verur¬
teilt sein." Auch der ?aix, das Organ Grevys, schreibt: „Das Unglück, das
uns trifft, kann die Kammer nnr versöhnlicher stimmen und zu neuen gegen¬
seitigen Zugeständnissen bewegen. Viele Abgeordnete waren dazu weit weniger
geneigt, solange sie die Hand und dem Einfluß Gmnbettas hinter sich wußten.
Jetzt aber hätte der Parteigrvll leine Existenzberechtigung mehr." Gelänge jener
Versuch, so würde man in Bezug auf die innere Entwicklung Frankreichs von
keinem Verluste mehr reden dürfen, der Gcunbettas Hingang begleitete.
Von dem Standpunkte aus gesehen, den noch immer ein großer Teil der
Franzosen Deutschland gigenüber einnimmt, ist der Tod Gambettas gewiß ein
schwerer Schlag für Frankreich. Die Revanchegedanken sind mit dem Toten
von Ville d'Avray nicht begraben, aber ihres Hauptträgers beraubt. Soweit
wir sehen können, giebt es in Frankreich gegenwärtig keinen Staatsmann foder
General, welcher das Volk mit der Wärme erfüllen könnte, die es empfunden
haben würde, wenn Gambetta an der Spitze der reorganisirten Armee das
Signal zum Marsche nach der deutschen Grenze gegeben hätte, und das wird
ohne Zweifel von vielen Franzosen von Herzen beklagt. Mag das patriotisch
sein, so kann man es kaum politisch klug nennen. Ist es, so fragen wir, wirklich
ein Unglück für Frankreich, daß die Uhr der Zeit jetzt nicht sobald die Stunde
zum Beginn des Rachekrieges schlagen wird, als man bei Gambettas Lebzeiten
hoffen konnte, ja, daß sie nun vielleicht überhaupt nicht schlagen wird? Was
kann bei einem neuen Kampfe zwischen Deutschland und Frankreich Herauskommen?
Im günstigsten Falle könnte letzteres glänzende Schlachten gewinnen, die Sedan
wettmachten, Elsaß-Lothringen wieder erwerben und uns eine schwere Kriegs¬
entschädigung abnehmen. Aber glaubt ein verständiger Kopf, daß der Streit
damit fiir alle Zeit beendigt sein würde? Das deutsche Volk würde nicht daran
denken, mit dem Erbfeind, der sich zu neuen Einbrüchen das Thor wieder
geöffnet hätte, die Pfeife des ewigen Friedens zu rauchen und sich gutmütig
in die Schläge, die es empfangen, zu finden. Wenn Preußen nach dem Un¬
glücksjahre von Jena trotz der Lasten, die Napoleon ihm auf den Leib gewälzt,
in wenigen Jahren sich wieder aufrichtete, so würde das Deutschland Bismarcks
sich von Niederlagen dreifach schwerer und entscheidender aller Wahrscheinlichkeit
nach noch eher erheben. Der Kampf würde mit größerer Gewalt wieder be¬
ginnen, und Frankreich würde in der Zwischenzeit ohne Unterlaß bis an die
Zähne gerüstet sein müssen, um die ihm abgenommenen und dann wieder
eroberten Ostprovinzen nicht abermals zu verlieren.
Das wäre der günstigste Fall für Frankreich. Der Ausgang des Krieges
der Revanchepolitiker könnte aber auch ein andrer sein. Trotz aller möglichen
Vorbereitungen könnte Frankreich, ungeschickt geführt oder durch Zufälle benach¬
teiligt, wiederum furchtbare Schlappen erleiden, zuletzt ganz niedergeworfen
werden und eine doppelt oder dreimal so große Kriegsentschädigung zahlen,
auch Belfort mit Umgebung abtreten müssen.
Im Hinblick auf diese beideu Möglichkeiten ist es nur selbstverständlich,
daß der Tod Gambettas als ein glückliches Ereignis für Frankreich wie für
Deutschland anzusehen ist, da er die kriegerische Auseinandersetzung zwischen
diesen beiden Nachbarstaaten mindestens vertagt. Aber braucht es denn bloß
Vertagung des Streites zu sein? Wir meinen, Haß oder Rachegefühl können
sich bei Völkern wie bei Personen allmählich abschwächen und zuletzt absterben.
Die Geschichte zeigt ein naheliegendes Beispiel. Nach Waterloo wurde jeder
Franzose, der die Notwendigkeit der Rache an England in Abrede zu stellen
wagte, als Verräter und Feigling betrachtet, und diese grimme Wild gegen die
Nachbarn überm Kanäle brannte fort, eine ganze Generation hindurch. Zuletzt
aber erlosch das Feuer, und schon vor dreißig Jahren konnte ein Pariser ein
guter Patriot sein, ohne den Engländern unter Schimpfworten eine Faust zu
machen. Warum sollte der Haß. den die Franzosen gegen uns hegen — wir
empfinden gegen sie nichts der Art —, nicht gleichfalls mit der Zeit vergehen,
warum sollte nicht ein Geschlecht heranwachsen, das die Bitterkeit des „schreck¬
liche» Jahres," wie Victor Hugo es nennt, vergessen und die Kriegsaxt in aller
Stille begraben hat?
Wenn die lirass meint, dnrch Gnmbcttas Ableben sei das europäische
Gleichgewicht gestört, und das so versteht, als habe bisher in der einen Wag-
schale Bismarck und in der andern Gambetta gestanden, so ist das thörichte
Überschätzung des letzter», die uns indeß nicht sehr auffällt, da das „Weltblatt"
in deu letzten Jahren das Privilegium erworben zu haben scheint, seinen Lesern
Faseleien vorzusetzen. Auch die Meinung einer Berliner Zeitung, Frankreich sei
durch das Ereignis des 31. Dezember bündnisfähiger geworden, können wir
nicht teilen. Weder Italien noch Rußland werden sich von dem jetzigen Frankreich
mehr angezogen fühlen, sich von ihm mehr versprechen als von dem, in welchem
Gambetta noch seine Rolle spielte. Das liegt ans der Hand, und was England
betrifft, so hat die Idee eines französischen Bündnisses mit ihm unzweifelhaft
in Gambetta einen Förderer verloren. Derselbe war ein sehr entschiedener
Freund Englands — vielleicht, weil er niemals dort gewesen war und es nur aus
Büchern und Zeitungen kannte, vielleicht auch, weil er wesentlich ein Mann seines
Zeitalters war. Der letzte diplomatische Streit zwischen England und Frankreich
fand statt, ehe Gambetta noch aus der Kinderstube in die Elementarschule über¬
siedelte, und als er zum Manne heranwuchs, war Frankreich voll Begeisterung
über seinen Verbündeten im Krimkriege und erwarb sich durch seine Befreiung
Italiens in England Sympathien und mittelbaren Beistand. So bewog diesen
Politiker nichts in seiner Ausbildung und Erfahrung, den Antagonismus gegen
das „Perfide Albion" noch zu empfinden, der sich zuweilen in den Gesprächen
und in der Politik von Thiers kundgab. Im Gegenteil, Gambetta war von
dem sehnlicher Wunsche erfüllt, eine englisch-französische Allianz ins Leben treten
zu sehen. Er hatte ungefähr das Gefühl, welches Ludwig Napoleon 1853
veranlaßte, eine Annäherung an den Nachbar im Norden zu suchen; es war
ihm der einzige Weg, auf welchem Frankreich Verlornes Terrain wiedergewinnen
konnte. Wie wir ans den Mitteilungen ersehen, die Moritz Szeps über
Äußerungen seines Freundes Gambetta im „Wiener Tageblatt" veröffentlicht
hat, war ihm jene Annäherung ein dringendes Bedürfnis. In den letzten Tagen
des Oktober v. I. sprach er sich hierüber in folgender Weise aus. Jetzt, wo
die Engländer ohne Verwendung bedeutender Streitkräfte und ohne viel Risiko
sich zu Herren von Kairo gemacht haben, begreift man endlich, bis zu welchem
Maße meine Politik die rechte war. Das Land verstand mich nicht, nein, nicht
einmal meine eigne Partei. Glauben Sie etwa, ich Hütte dabei mir Ägypten
im Auge gehabt oder auf Ägypten Wert gelegt? Ich kümmere mich nicht um
Ägypten, mache mir garnichts daraus. Aber diese ägyptische Frage hätte ein
englisch-französisches Bündnis zu Wege bringen können, sie hätte das Samen¬
korn dazu werden können, die Keimkraft, welche die Allianz emporgetrieben und
ihr Gedeihen gesichert hätte. Ein Bündnis der Westmächte würde ein ge¬
waltiger Faktor in der Welt und eine reiche Quelle von Macht sein. Ich
wollte es nicht dem politischen System des Fürsten Bismarcr gegenüberstelle»,
aber neben dieses alles beherrschende System. Die andern Mächte würden
dabei das Gefühl ihrer Unabhängigkeit wiedergewonnen haben. Was die klei¬
neren Staaten anlangt, Portugal, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden und
Norwegen, so würden diese sich allesamt um das Bündnis der Westmächte
geschaart haben. Dieses letztere würde der Republik ungeheure moralische Kraft
gebracht haben; denn die Republik würde dabei dnrch eine alte und hoch¬
geachtete Monarchie wieder in die Familie der europäischen Staaten ein¬
geführt worden sein.
Wäre Gambetta Minister und im Besitze des Vertrauens der Deputirten-
kammer geblieben, so würde die Welt England und Frankreich gemeinsam am
Nil interveniren gesehen haben, wie sie vor etwa dreißig Jahren Schulter an
Schulter gegen Rußland kämpften. Das wäre gewissermaßen ein Vorgeschmack
der Rache an Deutschland gewesen. Die bei Sedum geschlagene Armee würde
gemeinschaftlich mit den englischen Rvtröcken die Schanzen von Tel Et Kebir
gestürmt, und Zeitungsberichtcrstatter, Dichter und Maler würden nicht ermangelt
haben, die Heldenthat zu preisen und in den großen Versailler Speicher der
toutss Iss Aloirss as 1a?i'imoö zu bringen. Napoleons des Ersten „vierzig
Jahrhunderte" wären in neuer Auflage auf dem politischen Phrasenmarkte er¬
schienen, und triumphirende Illustrationen hätten die Pariser vergessen lassen,
daß ihre Stadt sich einmal den Deutschen ergeben und von ihnen besetzt worden.
Die Allianz mit England wurde von Gambetta herbeigesehnt und erstrebt;
aber wir dürfen fragen, ob sie auch von England gewünscht worden sei, Und
wir meinen das nicht bejahen zu können. Es war eine einseitige und folglich
eine unglückliche Liebe. Wenigstens war die ägyptische Frage nicht dazu an¬
gethan, die Engländer wünschen zu lassen, daß Frankreich sich bei der Losung
beteilige. Der französischen Eitelkeit würde es sicher sehr wohlgethan haben,
aber es fragt sich am Ende doch, ob die Kammer in Paris nicht verständig
verfahren ist, als sie ihr Veto gegen ein Unternehmen voll Wagnisse und gegen
eine Allianz einlegte, die gleich dem Bündnis Österreichs und Preußens im
letzten Schleswig - holsteinischen Kriege höchst wahrscheinlich nach kurzer Zeit zu
Hader und Entzweiung, wo uicht zu einem Kriege zwischen beiden Verbündeten
geführt haben würde.
„Für uns ist es klar, sagt ein englischer Politiker im VÄl^ rvlög'iApn,
daß wir durch den Fall Gcnnbettas, als er seinen Ministerposten aufzugeben
genötigt wurde, vor einer unbequemen Mitwirkung bewahrt wurden. Wir hätten
uns nicht weigern können, mit unsern Verbündeten zu handeln, aber befänden
sich jetzt französische Truppen in Ägypten, so würde unsre Lage, die jetzt bloß
eine schwierige ist, eine bedenkliche und gefährliche sein. Die dualistische Kor-
trole würde sich in einer doppelköpfigen Besetzung mit Truppen verkörpern.
Wir könnten nicht abziehen, solange die Franzosen am Nil oder Kanal blieben,
und wir würden dazu geholfen haben, daß dort die Schildwachen eines Neben¬
buhlers aufgestellt wären, und daß eines Tages vielleicht eine feindliche Macht
auf unsrer Hauptstraße nach Indien stünde. Die Bioral hiervon ist mit Händen
zu greifen, und sie lautet: während es für uns die beste Politik ist, rin einem
friedlichen, parlamentarisch regierten und fortschreitenden Frankreich gut Freund
zu bleiben, wird Frankreich seinerseits, von einem ungewöhnlich fähigen und ehr¬
geizigen Manne geführt, heiße er nun Napoleon, Thiers oder Gambetta, ein
unruhiger Nachbar werden und als Bundesgenosse unausbleiblich unbequem sein.
Es ist ein Glück, daß wir dieser Gefahr entgangen sind."
Die Engländer mußten erkennen, daß der Grundton der Freundschaft Gam¬
bettas zwar ganz herzlich und artig klang, aber doch eigentlich nur auf dessen
Ansicht beruhte, daß England sich für Frankreich benutzen lassen werde. Wir
brauchen zum Beweise dessen nur daran zu erinnern, daß sein Blatt, die
Mbliquö ?i-W?Al86, nach dem Siege Englands die ungeheuerliche Behauptung
aufzustellen die Stirn hatte, daß Frankreich, obwohl es sich an der Expedition
gegen Arabi nicht beteiligt, die Früchte des Sieges mit ernten müsse, und daß
England bei Tel El Kebir eine Schlacht für die doppelte Kontrole geschlagen
und gewonnen habe — eine Dummdreistigkeit, die nur der gleichkommt, mit
welcher seinerzeit behauptet wurde, die Preußen hätten Düppel stürmen müssen,
um dem Augustenburger Rechte zum Siege zu verhelfen. Ja, Gambetta ge¬
langte später zu bittern Empfindungen über die Londoner Politik, als er heraus¬
fand, daß England sich nicht herbeiließ, seinem Frankreich Ruhm, Einfluß und
materiellen Gewinn abzugeben. Der oben zitirte englische Politiker bemerkt dazu
sehr richtig: „Dieses Gefühl war natürlich, aber es sollte unsern Staatsmännern
zur Warnung dienen, sich nicht auf auswärtige Parteipolitiker zu verlassen.
Unsre Freundschaft sollte sich auf ganz Frankreich erstrecken und vorzüglich auf
das Frankreich, welches Abenteuer verabscheut und uns nicht in Allianzen zu
verwickeln strebt, die zu gemeinschaftlicher Kriegführung hintreiben."
Zum Schluß noch einige Bemerkungen über das, was den Franzosen nach
Gambettas Verschwinden von der Bildfläche in innern Angelegenheiten nach
ihrer Natur und Denkart am dienlichsten sein würde. Sie vermögen sich auf
Politischen Gebiete mehr für Menschen als für Einrichtungen zu interessiren.
Sie lieben es, einer glänzenden Persönlichkeit zu huldigen, welche ihre Geschichte
und ihre Wünsche und Hoffnungen verkörpert. Das heißt, sie sind, näher be¬
sehen, eigentlich ein monarchisch gesinntes Volk, und die keltischen Stämme eignen
sich überhaupt nicht für das republikanische Regierungssystem. Die Demokratie
ist der personifizirte politische Neid, sie will keine Größen an der Spitze des
Gemeinwesens haben, sie will von Mittelmäßigkeiten regiert werden, die einander
möglichst gleich sind und mich die große Masse nicht bedeutend überragen. Ihr
Hauptgrundsatz ist Opposition gegen persönliche Herrschaft, gegen die Autorität
des einzelnen Talentes oder Genies. Im ganzen politischen Leben Athens giebt
es kaum ein so charakteristisches Ereignis als die Verbannung des Aristides.
In Amerika darf niemand den Prüsidentenftuhl mehr als zweimal einnehmen.
Im parlamentarischen England sehen wir die Regierung nicht in den Händen
eines Parteiführers, sondern in denen einer Gruppe ruhen. Auch hier soll kein
einzelner als solcher wesentlich und unentbehrlich werden, und so ist die Arbeit
für den Staat über zwölf oder vierzehn Minister verteilt, die wieder politische
Lehrlinge unter sich haben, welche später in das Kabinet aufrücken, und unter
denen wieder zahlreiche Beamte als Ersatz für den Wegfall ihrer Vorgesetzten
stehen.
Vergleichen wir damit Frankreich, so begegnen wir einem wesentlichen Unter¬
schiede. Es hat einen großen Mann, an dem aller Augen hängen, auf den die
große Mehrzahl des Volkes vertraut und hofft. Scheidet er von der Welt,
und wird er durch ein andres Talent ersetzt, das der öffentlichen Meinung im-
ponirt, so wird das Spiel fortgesetzt, und von einer Republik ist im Ernste
nicht die Rede. Anders, wenn er keinen ebenbürtigen Nachfolger findet, wie
das jetzt der Fall zu sein scheint. Seit der einzige große Mann, den das jetzige
Frankreich besaß, hinweggenommen ist, wird die Republik sich vermutlich binnen
kurzem mehr nach dem englischen oder amerikanischen Muster gestalten, d. h. sie
wird nicht von einem Staatsmanne, sondern von einem Dutzend abhängen, sie
wird sich der klugen Müßigung Grevys weiter erfreuen, und das übrige, was
notwendig ist, werden zwanzig oder dreißig andre Herren besorgen, die als be¬
fähigte, wenn auch durchaus nicht brillante Persönlichkeiten während des letzten
Jahrzehntes dem Laude abwechselnd Dienste geleistet und sich dadurch Erfahrung
und Kenntnis der Geschäfte erworben haben.
Das ist keine bezaubernde Aussicht für den Durchschnittsfranzosen. Es
stimmt wenig zu der Gewohnheit der Nation, die Massen werden keinen Gegen¬
stand für ihren Trieb nach Menschenvergötterung und ebensowenig Gelegenheit
haben, ihn der Abwechslung halber einmal von seinem Piedestal herunterzu¬
reißen. Die Republik wird nicht mehr poetisch, aber sie wird eine Wahrheit
sein, und sie wird den Frieden bedeuten. Kann Frankreich sich eine Zeit lang
der Liebhaberei für das Persönliche, das Malerische, das Theatralische entäußern
und sich der Entwicklung einfacher, nüchterner, schmuckloser Freiheit und der Be¬
festigung der Ordnung widmen, so wird der Verlust Gambettas ihm zu einem
Segen werden.
Auf Gambettas Tod ist rasch der des Generals Chanzy gefolgt. Wenn
der eine der einzige Staatsmann der französischen Republik war, der aus dem
Kampfe mit Deutschland und später mit den monarchischen Parteien mit einem
großen Namen hervorging, so war der General der einzige militärische Führer,
der sich als befähigt und charaktervoll erwiesen hatte. Er hatte keine Schlachten
gewonnen, aber den Gegnern das Vorrücken mit Zähigkeit und Geschick er¬
schwert. Er war der einzige französische General, der bei einem neuen Kriege
mit Deutschland der Nation und der Armee einiges Vertrauen eingeflößt haben
würde. Denn es ist ziemlich gewiß, daß Frankreich diesen Krieg, wenn er über¬
haupt einmal ausbricht, mit sehr andern Gefühlen beginnen wird als die Kriege
unter dem ersten und dem zweiten Kaiserreiche. Napoleon der Erste zog mit
Heeren aus, die zuversichtlich zu siegen hofften, auch Napoleon der Dritte galt
nach dem Falle Sebastopols als ein Mann des sichern Erfolges. Aber von
1816 bis 18S4 wirkte der Einfluß von Waterloo nach, der wie eine Wolke
über den Franzosen und ihren Herrschern hing, und die letztern wagten kein
Unternehmen, bei dem sie alleinstanden. 1823 schritten die Bourbonen in
Spanien ein, aber nur als Beauftragte der heiligen Allianz, und 1854 hatte
Ludwig Napoleon England, 1859 Italien zur Seite. Die Erinnerung an Sedan
wird ebenso lange nachwirken. Frankreich wird, seit Gambetta und Chcmzy tot
sind, schwerlich wieder ohne Bundesgenossen kämpfen, und die Republik mit ihren
Ephemeren-Ministerien wird als unzuverlässig und unstet nicht leicht Bundes¬
genossen gewinnen. So verknüpfte Gambetta zwar die Republik mit der Re¬
vanche, aber das Schicksal trennt beide von einander und scheint den Franzosen
. eine schwankende Politik im Innern beschieden zu haben, deren Unerfreulichkeit
durch Frieden in auswärtigen Dingen ausgeglichen wird. Hierin mag der Hin¬
geschiedene Staatsmann seinem Vaterlande besser gedient haben, als er wußte
und beabsichtigte.
le bedeutungsvollen Verschiebungen, welche die Verhältnisse der
internationalen Beziehungen innerhalb der letzten zwei Dezennien
mit sich gebracht haben, erheischen die Aufmerksamkeit und spannen
das Interesse des Nationalökonomen fast noch mehr als die des
Politikers. Das furchtbare Anschwellen der sozialen Mißwirt¬
schaft, das zuerst in einer seltsamen Weichgiltigkeit und oft sogar in einer un¬
begreiflichen Unterstützung der bloßen Gewinnspeknlation auf wirtschaftlichem
Boden begünstigt wurde, und durch das nunmehr alle nationalen und inter¬
nationalen Beziehungen überflutet werden, erfüllt längst alle einsichtigen und
gewissenhaften Finanzpolitiker mit der höchsten Besorgnis. Denn wenn es auch
früher schon Epochen gab, wo der Finanzschwindel die wirtschaftlichen und po¬
litischen Verhältnisse in schäumender Brandung angriff, und wo er wesentlich
auch zur Vernichtung der politischen Gestaltungen beitrug, so ging er doch noch
niemals so in die Breite und Tiefe, noch niemals beeinflußte er so unbedingt
und vor alle» Dingen so nachhaltig und gegensatzlos die Leitung gewisser
Staaten,
Frankreich insbesondre ist freilich schon seit einigen Jahrhunderten gewöhnt,
den Finanzschwindel oft in unglaublicher Verquickung mit seinen politischen Be¬
wegungen zu sehen. Seitdem unter Ludwig XI. das „große Buch von Frank¬
reich"^) seine bemerkenswerte wirtschaftliche und mehr noch politische Rolle zu
spielen begann und seitdem an der Institution dieses „großen Buches" die
andre der „kleinen Rentiers" sich annistete, haben Finanzangelegenheiten in
Frankreich immer auch politisch weit schwerer gewogen als anderwärts. Schon
unter Richelieu und Mazarin, besonders während der Frondeunruhen wurden
die „kleinen Rentiers" mit merkwürdiger Leichtigkeit zum politischen Schreck-
und Verlegenheitsmittel benutzt. Denn das „Kapitalistenpublikum" jener Tage,
das wir durch die „kleinen Rentiers" repräsentirt sehen, war nicht minder
furchtsam als das von heute; es fand zwar noch nicht wie dieses alles Heil in
hohen Kursen, war aber höchst ängstlich hinsichtlich der Sicherheit der Rente.
Und da diese „kleinen Rentiers" noch nicht wie unser „Kapitalistenpublikum"
ihre Angst vor politischen Bewegungen durch Verkäufe ihrer Rente an der Börse
zur mehr oder weniger lächerlichen Erscheinung bringen konnten, vielmehr den
Anspruch, den sie einmal erworben hatten und den im „großen Buch von
Frankreich" löschen zu lassen — wie dies unter gewissen Voraussetzungen
möglich —, keineswegs ungefährlich war, behalten mußten, so zuckten sie
umsomehr unter jeder politischen Regung, die der herrschenden Regierungs¬
fraktion gefährlich schien. Die Verbreitung irgend einer Nachricht, welche dem
Kardinal Mazarin oder der Königinmutter ungünstig schien, war daher mit der
Erregung eines Auflaufs, wenn nicht eines Aufruhrs in Paris gleichbedeutend.
Kaum drang ein solches Gerücht, das selbstverständlich die Faiseurs mit ge-
hörigen Nachdruck zu verbreiten wußten, unter die Leute, so stürzten die kleinen
Rentiers, deren Zahl schon damals groß war, nach der königlichen Renqnßten-
kammer oder nach dem Parlament oder nach dem Louvre oder überhaupt dahin,
wo im Augenblick die Hauptquelle der „Gefahr für die Rente" zu sein schien,
und rissen natürlich die Menge des neugierigen und des politisch unternehmungs¬
lustigen Volkes mit sich; wenigstens die Absicht, Unruhe zu veranlassen,
wurde stets erreicht, und meist auch diejenige, im Trüben zu fischen, ganz wie
heutzutage auch, worin eine Hauptgefahr des französischen Rcntesystems für den
Staat und für den sozialen Zusammenhang begründet ist. Sagt man auch,
das französische Rentesystcm sei eine Garantie für den Bestand des Staates
und der Regierung, so kann mau dies doch nur so lange, als man die Verhält¬
nisse nicht eingehender prüft. Denn allerdings hat scheinbar der „kleine Rentier"
ein erhöhtes Interesse am „ruhigen Bestand des Staates" und der Regierung,
die ihm seine Rente auszahlen; man setzt also voraus, nun werde es in seinem
Interesse liegen, selbst ein ruhiger Bürger zu sein. Dies mag in Zeiten und
in Verhältnissen politischer Abspannung zutreffen; allein dann ist überhaupt
wohl jedermann ein ruhiger Bürger, wodurch ohne Zweifel das Verdienst der
„Renteberuhigung" erheblich eingeschränkt wird.
Indeß, diese Anschauung wird sich in bewegten Zeitläuften nicht lange be¬
währen, sei es unter äußeren, sei es unter innern politischen Einwirkungen.
Da zittert zuerst der „Rentier." Aber nicht für den Staat und nicht für die
Regierung, sondern für seine Rente. Und gelingt es bei innerer Spaltung
vielleicht der regierungsfeindlichen Partei, den Rentiers beizubringen, daß das
Verhalten der herrschenden Regierung die Unsicherheit, die ja für den Rentier
lediglich als Unsicherheit der Rente Bedeutung hat, herbeiführe, so wird die beeinflußte
Rentiersmasse unbedingt sich auf die Seite der Opposition schlagen. Dies ist
historisch sogar erwiesen. Denn die Revolution von 1739 gewann ihren
entschiedenen Gang erst, seitdem die „Rentiers" vom alten Regiment nichts
mehr erwarteten, und die Revolution von 1830 kann man geradezu als eine
Aufregung der geängstigten Rentiers bezeichnen, wobei freilich nicht vergessen
werden darf, daß die neugierige Unternehmungslust der Straße stets bereit ist,
jedem oppositionellen Zuge wuchtigen Nachdruck zu geben.
Sind es nun aber politische Parteien und Gegensätze, welche sich vermöge
der Einwirkung auf das am Staate wegen seines Rentcnbesitzes mehr interessirte
Volk der „kleinen Rentiers" einen Vorteil zu erobern suchen, so mag schon die
Möglichkeit, daß sie dies auf solche Weise können, bedauerlich sein. Aber den
gefährlichsten Zustand des Staatslebens bezeichnet dies bei weitem nicht. Denn
ein solcher Einfluß hat wenigstens eine natürliche berechtigte Grundlage in dem
politischen Zuge, der es nun einmal mit sich bringt und stets mit sich bringen
wird, der es sogar der natürlichen Entwicklung wegen mit sich bringen muß,
daß die politischen Parteien im wechselnden Gange die Bewegung der Elemente
des staatlichen Zusammenhanges bestimmen oder wenigstens beeinflussen. Dieser
natürliche Einfluß wird wenigstens niemals zulassen, daß ein untergeordnetes
Element unversehens eine vorherrschende Bedeutung gewinnt; er wird vielmehr
immer nur die Benutzung, nicht die Bevorzugung oder gar die Überwucherung
dieses Elements gestatten.
Anders aber wird es, wenn Verbindungen, denen das national-politische
Wesen gänzlich fehlt, und denen daher auch nicht der mindeste politische Geist
innewohnt, die vielmehr lediglich den nackten Egoismus an die Stelle der
politischen Idee gesetzt haben, dazu gelangen, auf die Institutionen und Ver¬
hältnisse der Nationen Einfluß zu gewinnen. Diese egoistischen Verbindungen,
denen nicht das mindeste am Staat und an der Nation für sich gelegen ist,
die beide nur zu Hilfsmitteln der Ausbeutung machen wollen und die demgemäß
ebensowohl Gesetze als politische Machtvrgnuisation nur deshalb in ihre Gewalt
zu bringen suchen, um vermittelst ihrer das ganze Staats- und Gesellschafts¬
wesen zu einem Aufsaugnngsapparat der nationalen und womöglich auch der
internationalen Wirtschaftsüberschüsse zu machen, verleugnen jeden Grundsatz
der staatlichen Befestigung oder Wiederbefestigung, der doch bei jeder politischen
Partei, wenn sie diesen Namen verdienen soll, vorhanden sein muß. Dieser
kapitalistische Egoismus, wie er sich denn in aller Form zu einer Macht ge¬
staltet hat, hat keinerlei politischen Anhalt und keinerlei ernsthafte politische
Neigungen. Er heuchelt mit allen Parteien, betrachtet alle diese, vom starrsten
Konservatismus bis zum beweglichsten Radikalismus, nur hinsichtlich ihrer Ver¬
wendbarkeit, und er ist jederzeit ebenso bereit, es mit allen zu halten, als sie
alle zu verraten. Überhaupt schenkt er den politischen Parteien nur soviel Be-
achtung, als er ihnen Einwirkung aus das soziale und staatliche Leben zutraut;
aber keine läßt er unbeobachtet, und in jeder, die äußerste sozialistische Partei
nicht ausgenommen, hat er seine Delegirten. Die Fühlung dieses kapitalistischen
Egoismus in seinen einzelnen Gliedern ist eine sehr enge; die Beziehungen
zwischen diesen Gliedern, die äußerlich meist garnicht erkennbar sind, steigern
sich nicht selten zwischen scheinbaren Extremen zu den innigsten, und es ist z. B.
der Hauptmann der süddeutschen sogenannten „Demokraten" aufs engste ver¬
schwägert mit einem Hanptmatador der ostpreußischen Konservativen, der zu¬
gleich — Hauptbesitzer der dortigen ersten liberalen Zeitung ist!
Diese Verbindungen des kapitalistischen Egoismus fragen niemals und
können wegen ihres Wesens niemals fragen, wie eine staatliche Institution zu
pflegen ist, um dieselbe ihrer Aufgabe, den staatlichen Zusammenhang zu be¬
festigen und zu vertiefen, zuzuleiten. Sie fragen mir danach, wie diese In¬
stitution zu dem Zwecke, den Staat im egoistisch-kapitalistischen Sinne zu lenken,
sich am besten brauche» läßt. Aber in dieser Hinsicht wird man bei einer In¬
stitution, welche wie die der Rente und der „kleinen Rentiers" von vornherein
sogar einen eminent kapitalistischen Charakter trägt, nicht lange im Zweifel sein.
Und was die französische Rente und die französischen Rentiers betrifft, so wird
man leicht erkennen, daß die finanziellen Faiseurs nur das Beispiel der alten
Politiker zu befolgen brauchen, um — wie diese — ein Mittel zu haben,
vermöge dessen der Staat und die „Staatsmänner" sich hin und her werfen
lassen müssen wie mit einem hydraulischen Hebel, fast geräuschlos, aber umso
wirksamer. Hat doch der Mechanismus dieses wirksamen Apparates durch die
Ausbildung der Börse unendliche Fortschritte gemacht! Es ist nicht mehr nötig,
wie zu den Zeiten der Fronde, die Rentiers auf die Straße zu Hetzen, um
einen Streich gegen die leitenden Staatsmänner zu führen. Man läßt diese
ängstlichen Rentiers, statt wie ehedem auf der Straße, jetzt in ihren Zimmern
und, wenn nötig, sogar im Bett zittern mit ganz demselben Effekt wie ehedem,
wo sie die Straßen vor dem Louvre mit ihrem Geschrei erfüllten. Die Be¬
amten des Staates selbst, die Steuereinnehmer, vermitteln aufs beste die em¬
pfindliche Verbindung zwischen dem Publikum und der Börse, und ein zwar
kostspieliger, aber auch höchst scharfer „Preß"-Apparat, der jetzt in Frankreich
mit nicht weniger als 210 Finanzblättern „arbeitet," übt jenen Druck durch
„Gerüchte," „verbürgte Nachrichten," „Communiqnös," oder wie jene Mittel,
welche in den primitivsten Zeiten der „Rente" ebenfalls ihre primitivsten Vor¬
gänger hatten, alle heißen mögen.
Bald genug übrigens, nachdem einmal die französische Politik den gefähr¬
lichen Weg der Jnteressenverquickung zwischen den empfindlichsten intellektuellen
und materiellen Elementen zu einem Hauptgrundzug ihres Ganges gemacht
hatte, zeigten sich die gefährlichen Rückwirkungen dieser Verquickung. Unter
Ludwig XIV. mochten sich wohl lange Zeit nnr die verlockenden Wirkungen
bemerklich machen. Die großen Erfolge, die dessen Eroberungspolitik mehr als
vierzig Jahre lang ausweisen konnte, reflektirten selbstverständlich auf die „Sicherheit
der Rente" und ließen auch die kleinen Ersparnisse in Menge dem „König an¬
vertrauen"; die Rente war sicher und die Erregungen während des Regiments
der königlichen Minderjährigkeit waren bald gründlich niedergeschlagen. Allein
als in den letzten Jahren des spanischen Erbfolgekrieges das Glück oft zweifelhaft
wurde und der Generalkoutroleur der Finanzen oft nicht recht mehr wußte, ob
die königliche Armee oder die königlichen Renten den ersten Anspruch an die
Aufzählungen der Kassen hätten, da ergab sich schon jener eigenartige Riß
zwischen der Loyalität und dem Geldbeutel der „kleinen Rentiers," der sich in
merkwürdigen Stimmungsäußerungen während der letzten Zeit des „großen
Königs" Luft zu machen suchte. Und schon unter der „Regentschaft," unter der
überhaupt die Staatsleitung zum bloßen Sport und zur frivolen Unterhaltung
der Maitressen wurde, gewinnen die Zustände von heute einen grellen Vorschein,
der unsre Aufmerksamkeit verdient, obgleich in der Handhabung der Agiotage
zwischen damals und jetzt doch uoch eine erhebliche Differenz erkennbar ist, und
zwar eine Differenz keineswegs zu Gunsten der Gegenwart.
Auch der Lawsche Schwindel bewegte sich doch wenigstens noch auf dem
Hintergründe — wenn auch nicht auf dem Boden — eines politischen, ja sogar
staatsmännischen Gedankens, Die Kolonisation der Mississippigebiete verkörperte
einen sehr einleuchtenden Gedanken und hat an sich eine sehr greifbare Realität,
die erst durch die spekulative Einwirkung in phantastische Entartung aus¬
getrieben wurde. Noch also war, selbst da, wo schon das Staatswesen und die
Staatsinstitutivnen im Dienste der Agiotage benutzt wurden, ein guter politischer
Gedanke keineswegs bloß Vorwand, sonder» für viele bestimmte er ausschließlich
die Teilnahme an der ganzen schwindelhafter Bewegung, die ebeu auch von vielen
erst nach dem Krach als solche erkannt wurde. Aber schon die Affüre Jecker
unter dem dritten Kaiserreich und die aus derselben hervorgegangene mexikanische
Expedition trug nur kapitalistisch-egoistischen Charakter, Die angeblich politische
Idee dieser Affäre und Expedition war eine bloße Scheinidee, und was endlich
an politischen Elementen noch zur Wirkung kam, war ihr keineswegs entsprechend,
sondern entgegengesetzt, an ihnen scheiterte sie. Indem sich zeigte, daß die
Gebiete, welche man für völlig morsch und für reif zur nackten kapitalistischen
Ausbeutung hielt, doch noch politisch stark genug waren, um sich eines Angriffs,
selbst wenn er von einer scheinbar politischen Macht im Dienste des egoistischen
Kapitalismus ausging, zu erwehren, scheiterte dieser letztere; während umgekehrt
der Lawsche Schwindel scheiterte, bez. rasch die Lawschen Projekte zum Schwindel
wurden, weil man über die ursprünglich politische Idee einfach hinwegsprang
und sie liegen ließ, um sie nur soweit zu benutzen, als sich an sie jene un¬
geheuerlichen, heutzutage freilich weit übertroffenen Agiotageoperationen, welche
dem französischen Wohlstande zum erstenmale von dieser Seite aus einen un¬
verwundbaren Schlag zufügten, anknüpfen und an ihnen fortleiten ließen.
Übrigens glaubte bekanntlich Lciw selbst an die Realität seines Schwindels!
Die mörderische Wirkung des Lawschen Schwindels für den Bestand des
altfranzösischen Staatswesens ist niemals bestritten worden. Von seinem Aus¬
bruch bis zur Entstehung des ersten Kaiserreichs ist der Staat immer mehr
zum bloßen Instrument der finanziellen Ausbeutung herabgesunken und endlich
galt niemand mehr für klug, der nicht darauf ausging, dieses Instrument für
seine Bereicherung, zu benutzen. Die Straße Quineampoix, auf der sich zur Zeit
Laws die Spekulanten umhertrieben und ihre Differenzen ins Himmelblaue
hineinmachten, wurde nach Laws Sturze nur vorübergehend leerer, bald füllte
sie sich wieder wie zuvor. War aber noch 70 Jahre früher ein Auflauf der
Leute, die dort zusammenströmten, von außerordentlicher Bedeutung, so war
man jetzt schon zum permanenten Auflauf gekommen und die Regierung hielt
diesen für ungefährlich, ja sie begünstigte ihn sogar! Und doch wurde durch
diesen permanenten Auflauf das gesamte Staatswesen gesprengt. Sein Zirkel
fraß das Brot, das dem Volle täglich mehr zu fehlen begann, und sein Treiben
schuf den Hunger, der endlich die ganze Nation auf die Straße trieb.
Dennoch waren die Epigonen Laws Stümper auf ihrem Gebiete, Erst
die Epoche der Restauration ließ das System der finanziellen Ausbeutung zum
Staatssystem werden, weil die Politiker der Zeit nicht vermochten, die Ma߬
losigkeit zu dämpfen, und weil sie trotz ihres politisch reaktionären Geistes doch
bereits in den modernen wirtschaftlichen Zirkel gezogen waren. Ja dieser mo¬
derne Zirkel kam ihnen selbst reaktionär vor. Die Idee, die Staatseinnahmen
lediglich als Fundation der Staatsschulden anzusehen, war auch eine so natür¬
liche Konsequenz des doch eigentlich von den alten Königen begründeten Systems
des „großen Buches" von Frankreich, daß man sich nicht hätte wundern dürfen,
wenn man sie geradezu als eine feudale betrachtet hätte; und praktisch führte
sie ja auch auf den sublimen Gedanken, die Eigcntnmsverschiebungen, welche
Revolution und Kaiserreich mit sich gebracht hatten, durch die Emission einer
Milliarde in Rente zu verwischen. Konnte man es noch als eine Frivolität
betrachten, als die Hofleute nach Veröffentlichung des ersten Jahresabschlusses,
den Necker nach Antritt seines Ministeriums machte, die Einnahmesteigerung
von 5 Millionen Livres, welche er auswies, sogleich in Rente umsetzten und
nicht zögerten, eine Anleihe von 100 Millionen zu fordern, so war diese Fri¬
volität nun zum System geworden, ein System, das eine völlige Umwälzung
des Staatswesens zur Folge haben und die Finanzherrschaft zur politischen
Tyrannei machen müßtet)
*) Wir charakterisiren diese Umwälzung in staatsfinanzieller Hinsicht schon hier durch
Nebeneinanderstellung der Budgets vom Jahre 1804 und von 1881, Das französische Budget
von 1804 wies an Einnahmen aus:
Diese Umwälzung füllt mit dem Eintritt Rothschilds in Frankreich zu¬
sammen; Rothschild erscheint als das zersetzende Element für das französische
Finanzwesen seit seinem Auftreten auf französischem Boden.
Wären wir fatalistisch gesinnt, so möchten wir wohl diese zersetzende Thätig¬
keit als eine schicksalbestimmte Aufgabe jenes Fmanzbegriffes bezeichnen. Denn
schon das erste Auftreten des Namens Rothschild in der Finanzgeschichte über-
Das Defizit erscheint ausgeglichen und die Einnahmen sind sogar auf 726 000 000 Franks
gehoben durch „auswärtige Einnahmen." Die öffentliche Schuld erfordert wenig über
10 Prozent der gesamten Staatsausgaben, während allerdings Krieg und Marine etwa
50 Prozent in Anspruch nehmen. Die direkten Steuern bez. die Grundsteuern spielen noch
die Hauptrolle bei den ordentlichen Einnahmen. Aber schon im Jahre 1829 betrug die
Ausgabe für die öffentliche Schuld 248 Will. Franks und war auf 26 Prozent der gesamten
Staatsausgaben gestiegen. Im Jahre I8S6 war der Bedarf für die öffentliche Schuld weiter
gestiegen auf 455 Millionen Franks, sodaß sie nun nahezu 30 Prozent der gesamten Staats-
ausgaben erreichte. Endlich gestaltete sich das Budget von 1881 folgendermaßen in der
Einnahme:
Bei einer Steigerung des ordentlichen Budgets im Jahre 1881 auf das vierfache von 1804
ist also die Ausgabe für die öffentliche Schuld um mehr als das siebzehnfache gestiegen
und beträgt jetzt bereits mehr als 45 Prozent der gesamten Staatsausgaben Frankreichs.
Das Kriegsbudget sogar, daß im Jahre 1804 fast das vierfache der öffentlichen Schuld be¬
anspruchte, hat es nur wenig über die Verdoppelung gebracht und beträgt gegenwärtig bei
weitem uoch nicht die Hälfte des Erfordernisses für die Staatsschuld!
Haupt — welches Auftreten unscheinbar genug ist — läßt ihn uns inmitten
eines Zersetzungsprozesses gewahren. Es war während der deutschen Finanz¬
wirren des vorigen Jahrhunderts, wo das Gewerbe der Kipper und Wipper*)
zur Landplage geworden war und wo die kleinen Rcichsstiinde (wie ihre Nach¬
kommen hundert Jahre später durch die Konzessionirung der Zettelbankcn) der
Gewinnschneiderei der Juden durch Zulassung der Heckenmünzen**) den erwünschten
Vorschub zur potenzirten Ausrandung des Volkes leisteten. In dem sogenannten
Flörsheimschen Münzprozesse wird der Name Rothschild zum erstenmale genannt
in Moses Rothschild, dem Vater des Gründers des Welthauses; Moses
Rothschild ist unter denen, die der Kipper- und Wipperei angeklagt werden,
und er wird, wenigstens in einer dieser Anklageschriften, auf eine sonderbare
Weise ausgezeichnet, indem er nämlich „zugleich ein Handlanger" beim Kippen
und Wippen genannt wird, was ohne Zweifel seine ganz besondre Thätigkeit
bei dem saubern Gewerbe andeuten soll.
Der Einzug Rothschilds in Frankreich fällt in die Periode, wo die Ver¬
hältnisse wieder so weit gediehen waren, um allenthalben hin trübes Gewässer
zu verbreiten, in das Jahr 1812. Damals begannen die französischen Finanzen,
die jetzt die rettende Zufuhr der Kontributionen, welche seit Beginn der napo¬
leonischen Siege jährlich Hunderte von Millionen betragen hatten, entbehren
mußten, in heillose Verwirrung zu geraten. Das Kreditwesen insbesondre verlor
bald jeden Halt, und obgleich die fundirte Schuld beim Sturze Napoleons
ziemlich unbedeutend war, so waren doch die Aufstände und die schwebende
Schuld ungeheuer angeschwollen. Hierzu kamen die Kriegskontributionen und
die Entschädigungen an die Emigranten, welche alle, wie wir schon andeuteten,
aus die für die Finanziers leichteste und geläufigste Weise abgemacht wurden.
Die Verbindungen Rothschilds, der ja bald genug seine Jnternationalität
auch durch seine Geschäftseinrichtungen dokumentirt hatte, mit den übrigen
Hauptstädten der westeuropäischen Politik förderten natürlich von vornherein
seine Bestrebungen nach allen Seiten. Bald genug beherrschte er die päpst-
lichen Finanzen nicht minder unumschränkt wie die der großen westlichen Mächte
und die der kleinen deutschen Staaten. Letztere dirigirte er von Fmnkfnrt
aus. Von Neapel aus wurden die italienischen Staaten geleitet. In England,
wo die Ansiedlung schon im vorigen Jahrhundert (1798) erfolgt war, gelang es
Rothschild allerdings nicht wie in den andern Staaten, ausschließliche Herrschaft
in den finanziellen Angelegenheiten und damit maßgebenden Einfluß auf die Politik
zu gewinnen. Umso bedeutender wurde sein Einfluß in Wien, wo er binnen
»venigen Jahren zur größten Macht emporstieg.
In Österreich waren freilich die Finauzverhältnisse noch verwirrter als in
Frankreich beim Sturze Napoleons. Wenige Jahre nachher verschlang bereits
die Verzinsung der österreichischen Staatsschulden ein Dritten aller Staatsein¬
nahmen. Um diese Zeit kam Rothschild nach Wien und gab dort zunächst Gast¬
rollen, er ließ sich noch nicht häuslich nieder, sondern agirte Jahre lang vom Gast¬
hofe aus, immer bereit, vor einem etwaigen Ungefähr schleunigst zu verschwinden.
Möglich, daß er seine eignen Volksgenossen fürchtete. Deun diese hatten sich
selten des österreichischen Hofes, weil sie ihm „sehr nützlich" waren, stets besondrer
Bevorzugung erfreut, obgleich hie und da doch schon recht böse Erfahrungen
mit ihnen gemacht worden waren, so z. B. im Jahre 1667 mit Hirschel Mayer,
der den Kaiser Leopold um nicht weniger als 2 20V 000 Gulden betrogen hatte.*)
Schon während der vorbereitenden Gastrolle in Wien stellte Rothschild alle
altgesessenen Finanzhäuser in tiefen Schatten; er zeigte sich bald als Virtuos
im „Differenziren." Man berechnet, daß Rothschild aus den amortisirten öster¬
reichischen Papieren durchschnittlich mehr als 40 Prozent herausschlug. An
Mitteln dazu fehlte es ihm nicht. Er hatte jetzt nicht nur den Kurfürsten von
Hessen an der Seite, sondern auch den deutschen Bund, der ihm seine für den
Festungsbau bestimmten Millionen fast ohne Zinsen überließ. Bald nahm der
Finanzverkehr am Wiener Platze den Charakter reiner Räuberei an. Die wüste
Agiotage, welche Rothschild aufbrachte und in größter Hitze betrieb, stellte alle
Verhältnisse auf den Kopf. Er richtete ein förmliches Bureau für Schein¬
geschäfte ein. Dieses hatte einen Chef, der, wie man sagte, mit 12 000 Gulden
jährlich bezahlt wurde, und eine Anzahl von Agenten, welche an der Börse
nach den Instruktionen Rothschilds „handelten." Die Bankiers und das speku¬
lative Publikum, die nach alter Regel „kauften und verkauften," wußten natürlich
gar nicht, wie ihnen geschah. Die Kurse, die bisher nur unter Einflüssen realer
Art geschwankt hatten, verloren jede Spur von Stetigkeit. Die ungeheuer-
lichsten Gerüchte tauchten plötzlich und unvermittelt auf und wurden von den
neuen Faiseurs in ausgiebigster Weise benutzt. Kleinere und größere Krise»
jagten förmlich einander, und eine der ältern Firmen nach der andern erlag
dem neuen Finanzsystem. Es ist gewiß nicht wenig charakteristisch, daß ver¬
schiedene der letzten Repräsentanten der ältern größern Wiener Finanzfirmen mit
Schimpf und Schande auf die Flucht gingen und mehrfach steckbrieflich verfolgt
wurden. Mit welcher Wut damals in Wien die Agiotage betrieben wurde, er¬
hellt schon daraus, daß nicht nur die Börse täglich von 12 bis 4 Uhr geöffnet
war, sondern daß die Faiseurs von der Börse sofort nach dem Linzer Kaffee¬
haus stürzten und dort ihren „Handel" bis in die späte Nacht fortsetzten. Hier
bot sich auch die beste Gelegenheit, in das Publikum selbst überzugreifen und
dasselbe zum Börsenspiel zu verlocken. Rothschild, der selbst nicht im Linzer
Kaffeehaus erschien, stand mit diesem Treiben in unausgesetzter Verbindung, und
unausgesetzt gingen Boten zwischen seinem Quartier und der Grünangergasse,
in der das gedachte Kaffeehaus lag und die zu einer neuen Straße Quiucampoix
geworden war, hin und her.
Waren es während der ersten zwanzig Jahre der Rothschildschen Anwesen¬
heit in Paris und in Wien hauptsächlich die Staatsfinanzen, an denen sie sich
bereicherten, wozu allerdings noch verschiedene Nebengeschäfte traten (in Wien
die Gründung der Nationalbank, die von Rothschild sogleich zur ungeheuer¬
lichsten Gewinnschnciderei benutzt wurde), so trat mit dem Beginn des Eisen-
bahnbanes der Finanzschwindel in eine neue Phase, und durch sie hindurch ge¬
wann er jene fast unangreifbare Stellung, von welcher aus er die Staaten
Schritt für Schritt politisch zu unterwerfen im besten Begriff steht. Die
Tendenz, alle Beziehungen, zu denen der Finauzschwindel gelangt, ihm im
Sinne derv Gewinnreiterei zu unterwerfen, scheint überall hindurch. Selbst
auf dein Waaren- und Produktenmarkte gelang es Rothschild vermöge seines
finanziellen Einflusses auf die Staaten, bedeutende Positionen, die dann in ge¬
wohnter Weise ausgebeutet werden, zu erlangen. Nachdem z. B. Spanien ge¬
nötigt worden, die Quecksilberwerke von Almaden an Rothschild zu verpachten,
erfolgte sofort ein Kartell mit Österreich wegen der konkurrirenden Werke von
Jdria, vermöge dessen die Feststellung der Quecksilber- und Zinnoberprcise dem
Willen Rothschilds anheimgegeben wurde. Übrigens war es in Österreich die
Einführung der Lotterieanleihen, wodurch Rothschild seine Position zu¬
nächst begründete. Im Jahre 1820 wurde die erste dieser Anleihen abge¬
schlossen. Nicht weniger als sechs weitere Anleihen Österreichs bei Rothschild
folgten in den nächste» fünfundzwanzig Jahren. Durch sie allein gewann die
starre Politik Metternichs die Kraft, sich zu erhalten und die mitteleuropäischen
Lebensgeister so zu erschlaffen, daß sie der russischen Diktatur verfallen konnten-
Die Gefahren, welche einer wahrhaft sozialen Staatspolitik durch das
finanzielle Übergewicht der Kapitalkumulation drohen, sind von einsichtigen
Sozial- und Finanzpolitikern längst erkannt worden, und schon in der ersten
Epoche, wo der Finanzschwindel die Eisenbahnen zum Hilfsmittel der Aus¬
beutung zu machen begann, äußert sich eine im Jahre 1844 über Rothschild
erschienene Broschüre von A, Weil: „Diese Erfindung der Dampfkraft droht
Europa wieder in den Individualismus zurückzuwerfen und den Staat in lauter
isolirte Gesellschaften aufzulösen," Und heute nach vierzig Jahren müssen wir
sagen, daß wir sehr weit vorgeschritten sind in dieser Gefahr. Zwar regt man
sich ihr gegenüber hie und da, aber doch nur hie und da, in den meisten
Staaten gewahren wir nichts, ihrem Fortgang vorzubauen. Und selbst an
manchen Punkten, wo einiges zur Eindämmung geschah, hat man sich auf
Kommando der Finanzhcrrschcift entschließen müssen, die errichteten Dämme
wieder einzureißeu, nicht selten ist auch der Notstand soweit vorgeschritten,
daß mau sich seiner garnicht mehr erwehren kann. Vergeblich hat insbesondre
in Frankreich schon 1842 Lamartine den Kammern die Folgen der Leichtfertig¬
keit, mit welcher man den Gesellschaften, mit andern Worten Herrn von Roth¬
schild, die Eisenbahnen überließ, eindringlich vor Augen geführt.
In Österreich war die erste durch Rothschild erbaute Eisenbahn die Kaiscr-
Ferdimnds-Nordbahn, die man fast als eines seiner Privatbesitztttmer bezeichne!,
könnte. Dieselbe ist für ihn wesentlich ein Geschenk des Staates, mit dessen
Gelde sie zum erheblichsten Teil erbaut ist. Man wirft dem Herrn von Roth¬
schild mit Recht vor, daß er, nachdem er im Jahre 1836 die Konzession zu
dieser Bahn erhalten, nichts eiligeres zu thun hatte, als die Aktien derselben
zu einer unerhörten Agiotage zu benutzen und sich weniger um den Bau der
Bahn als um den Verkauf der Aktien zu bekümmern. Das Agio derselben wurde
sofort auf 15 Prozent getrieben. Aber mit dem Bau ging es sehr langsam; er
kam sogar in Gefahr, ganz liegen zu bleiben, und im Jahre 1841 mußte, um
dies zu verhüten, die Regierung einspringen, zuerst mit einem Bauvorschuß von
5 Millionen Gulden und dann durch Übernahme des ganzen Baues. „Nur
billig" gingen jetzt die Aktien selbstverständlich in die Tresors des Herrn von
Rothschild; er konnte sie um die Hälfte des Preises kaufen, zu dem er sie ver¬
kauft hatte.*)
Den allmächtigen Einfluß, den Rothschild auf dem Kontinent erlangte,
konnte er, wie gesagt, in England nicht gewinnen. Aber indem er die Emission
fremder Anleihen am Londoner Platze auf eine geraume Zeit fast monopolisirte,
wirkte er doch auf die dortige Kapitalbewegung sehr erheblich ein. Den Boden
für diese Thätigkeit hat er sich allerdings durch seine große Vorsicht erworben,
indem er zwar oft bei unsichern Anleihegeschästen im Hintergründe stand, aber
stets die Verantwortlichkeit und den bösen Namen andern anzuhängen wußte,
z, B. bei den spanischen Anleihen, während er sein Licht bei unzweifelhaft
sichern Geschäften sehr hell auf den Scheffel stellte. Fast bedeutender, wenigstens
in den Anfängen, als das unmittelbare Anleihegeschüft war für London das
Vvrschußgeschäft mit den verschiednen halbbcinkervtten, politisch zerrissenen süd¬
westlichen Staaten. Solche „Vorschußgeschäftc," reine Wuchcroperationen, deren
Risiko schließlich mit instinktiven Geschick auf das Publikum abgeladen wurde,
brachten ungeheure Gewinne; nicht selten knüpften sich daran noch weitgreifende
Vorteile kolossalen Umfanges, wie z. B. die Erwerbung staatlicher Besitzungen,
die in mehr als einem Falle geradezu Geschenke auf nationale Kosten darstellen.
In Frankreich erreichte Rothschild unter Ludwig Philipp, wie sich denken läßt,
zum erstenmale den Höhepunkt seiner Macht und seines Einflusses, der im Jahre 1848
nur vorübergehend erschüttert wurde und der allerdings in der ersten Epoche des
Kaiserreichs eine sehr geriebene, wenn auch auf die Dauer erfolglose Konkurrenz fand.
Die aufsaugende Wirtschaft des Liberalismus kaun nicht drastischer charak-
terisirt werden als durch die Herrschaft des „Systems Louis Philipp" in Frankreich.
Das Defizit wurde zur permanenten Staatsinstitution. Schon im Jahre 1841
hatte das Regiment dieses „Vürgerkönigs" das Defizit auf 1 Milliarde ge¬
bracht, und der Bedarf für die öffentliche Schuld begann 200 Millionen
jährlich zu überschreiten. Hierzu kam die zunehmende Verschuldung des Pri¬
vaten Immobiliarbesitzes. Wahrend, wie wir eben gesehen haben, die Grund¬
steuer im Jahre 1881 niedriger ist als im Jahre 1804, ist umso mehr die Last
der Schuldzinsen gestiegen; man kann sagen, um das siebenfache in diesem
Zeitraum, an dessen Schluß die Schuldbclastnng des französischen Grundbesitzes
den Betrag von 20 Milliarden überschritten hat!
Umsomehr nahm das Mobiliarvermögen zu. Schön um das Jahr 1843 schützte
man das Vermögen des Pariser Hauses Rothschild auf 600 Millionen Franks.*)
KMmeer den verschiednen Faktoren, welche es dem tief gedemütigten
Preußen im zweiten Dezennium unsers Jahrhunderts ermöglichten,
aus der Zeit schwersten politischen Niederganges und äußerster
materieller Erschöpfung zu erneuter Kraftentwicklung sich aufzu¬
richten, nehmen die Anfänge der allgemeinen Wehrpflicht nicht die
letzte Stelle ein. Die gesunde Weiterentwicklung des hohen Gedankens, welcher
die Verteidigung des Vaterlandes der Gesamtheit aller waffenfähigen Männer
überträgt, statt die höchsten Güter der Nation einer besoldeten Klasse sogenannter
Berufssoldaten anzuvertrauen, hatte die Schaffung eines Heeres im Gefolge,
dessen Siegeslauf grundlegend geworden ist für die weitere Machtentfaltung
Preußens, wie später für die Weltstellung des neuen deutschen Reiches. Dies
hat man auch über die Grenzen Deutschlands hinaus wohl erkannt, und so
sehen wir jetzt die Heereseinrichtungen fast sämtlicher europäischen Großmächte
sich auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht stützen.
In Preußen wie in Deutschland überhaupt erblickt man in dem aus der
allgemeinen Wehrpflicht hervorgegangenen Heere nicht allein das scharfe Kriegs¬
instrument, welches in jahrelanger mühevoller Friedensarbeit geschult worden ist,
äußere Feinde siegreich niederzuwerfen, und den roollsr as oror^ö, dessen ruhiges
und festes Eintreten fiir die Sache der legitimen Herrscher und der gesetzmäßigen
Institutionen über allem Zweifel erhaben ist, wenn, was Gott verhüten möge,
die Hydra revolutionärer Bestrebungen in unserm Vaterlande es wagen sollte,
ihr Haupt zu erheben. Zwar tritt die Leistung des Heeres als das Schwert
Deutschlands nach außen hin zuerst und am augenscheinlichsten hervor, doch
erwächst dem Staate und der Gesamtheit der Nation aus der allgemeinen Wehr¬
pflicht auch ein innerer Vorteil von hoher, nicht zu unterschützender Bedeutung.
Dieser liegt begründet in der pädagogischen Aufgabe der Armee, welche sich
nicht damit begnügt, die zu den Fahnen einberufenen Männer mit den Grund¬
zügen des eigentlichen Kriegshandwerks, dem Gebrauche der Waffen und der¬
gleichen bekannt zu machen, sondern bestrebt ist, die ihrer Fürsorge anvertrauten
Landeskinder zu körperlich und geistig gesunden Menschen weiterzubilden, das
Gefühl der Zusammengehörigkeit, Treue gegen das Vaterland und das ange¬
stammte Herrscherhaus, Gehorsam, willige Unterordnung, zugleich mit der ge¬
steigerten Urteilskraft des Gefühls der eignen Menschenwürde, zu wecken und
zu fördern und für die Vermehrung solcher Kenntnisse Sorge zu tragen, welche
dem Einzelnen im spätern bürgerlichen Leben nötig und von Vorteil sind.
Es ist allgemein anerkannt, in wie hohem Grade segensreich die Armee
nach dieser Richtung wirkt. Namentlich das feste Aneinanderschließen von
Männern aus den verschiedensten Lebenskreisen, die Kameradschaftlichkeit und
die damit verbundene gegenseitige Treue entwickelt sich in den Reihen des
deutschen Heeres in solchem Maße, daß sie vielfach die Dienstzeit weit über¬
dauert und die Grundlage abgiebt für manche Vereinigung mit Zwecken und
Zielen, die in ihrer weitern Verbreitung wieder dem allgemeinen zu Gute
kommen.
Zu diesen letztem gehören vor allen Dingen die Kriegervereine. In
Preußen, dem eigentlichen Lande der allgemeinen Dienstpflicht, vielleicht auch
in einigen andern deutschen Staaten bestanden derartige Vereine und Verbände
schon längere Zeit, infolge der Neugestaltung so mancher politischen und mili¬
tärischen Verhältnisse habe» sie sich aber setzt über das ganze Reich verbreitet.
Man wird in der Annahme nicht zu hoch greifen, daß augenblicklich wenigstens
eine halbe Million thatkräftiger Männer, lauter frühere Soldaten der verschie¬
densten Dienststellung und aus allen bürgerlichen Gesellschaftsklassen, zu solchen
Kriegervereineu oder Verbänden zusammengeschlossen sind. Mögen diese Ver¬
einigungen nun verschiedene Bezeichnungen führen oder in Bezug ans die Mit¬
gliedschaft sich teilweise innerhalb eines räumlich eng begrenzten Rahmens bewegen,
so gründen sie sich doch ohne Ausnahme auf das aus militärischer Dienstzeit
hergeleitete Gefühl der Kameradschaft, des festen Zusammenstehens in Freud und
Leid, und haben wohl sämtlich die Unterstützung hilfsbedürftiger Vereinsmit¬
glieder und ihrer Witwen und Waisen zu einem schönen Zwecke ihrer Wirk¬
samkeit gemacht. Eine über das Gebiet dieser ihrer innern Thätigkeit hinaus¬
reichende allgemeine Bedeutung gewinnen aber die Kriegervereine dadurch, daß
sie in ihrer Gesamtheit das Panier echt deutscher Fürstentreue hoch und heilig
halten und so schon durch die bloße Thatsache ihres Bestehens für die destruk¬
tiven Tendenzen gewisser politischen Richtungen einen Stein des Anstoßes bilden.
Zum erstenmale nach jahrhundertelanger Schmach und Zerstückelung war
es in den denkwürdigen Feldzügen der Jahre 1870 und 1871 den streitbaren
deutschen Männern ans allen Gauen des weiten Vaterlandes vergönnt gewesen,
Schulter an Schulter in hingebender Waffenbrüderschaft zu kämpfen und dem
übermütigen Erbfeinde deutscher Kultur und Gesittung den Fuß auf den Nacken
zu setzen. Sie hatten dabei gelernt, sich nicht lediglich als die Söhne einzelner,
wenn auch noch so begabter Stämme und Staaten, sondern gleichzeitig als die
Mitglieder eiuer starken, zu neuem Leben erwachten Nation zu fühlen. In der
nachklingenden Begeisterung gemeinsam durchlebter großer Zeit, in dem stolzen
Selbstgefühl, welches die Brust jedes Patrioten bei der Aufrichtung des neuen
Reiches schwellte, fehlte es auch nicht an Anregungen, welche bezweckten, durch
Verbindung sämtlicher vorhandenen deutschen Kriegervereine aus Nord und Süd,
aus Ost und West zu einer einzigen Gemeinschaft der thatsächlichen Zusammen-
geHörigkeit, dem Streben nach gleichen Zielen, auch äußern unzweifelhaften Aus¬
druck zu verleihen.
Aber der betrübenden und beschämenden Thatsache gegenüber, daß es bei
der Gestaltung des Reichs nicht einmal hat gelingen wollen, eine völlige Einheit
in Bezug auf die deutscheu Heereseinrichtungen herzustellen, kann es kaum Wunder
nehmen, daß auch die Einigungsbestrebuugen der Kriegervereine nicht zum Ziele
führten. Bekanntlich hat der deutsche Kaiser durch Zusätze und besondere Ver¬
träge auf einen erheblichen Teil der Gerechtsame Verzicht geleistet, welche die
Reichsverfassung dem obersten Bnndesfeldherrn gewährleistete, und wie wir jetzt
statt von dem „deutschen Heere" von der preußischen Armee und den mit ihr
verbundenen Kontingenten, von einer bairischen, würtembergischen und sächsischen
Armee sprechen, so hat sich auch in Sachen der Kriegervereine von neuem der
alte Satz bewahrheitet, wie schwierig, um nicht zu sagen unmöglich es ist, die
Deutschen unter einen Hut zu bringen. So erscheint die Entwicklung des
Kriegervereinswesens während der letzten zehn Jahre schon deshalb anch für
weitere Kreise nicht ohne Interesse, weil sie die Zähigkeit partiknlaristischer
Bestrebungen scharf hervortreten läßt auch in Angelegenheiten, die mit der
innern politischen Gestaltung des deutschen Reiches in keinem Zusammenhange
stehen.
Im Frühjahre 1872 gab ein sächsischer Kamerad die erste Anregung für
den Zusammenschluß der bestehenden Kriegervereine. Seine Zeitschrift, der
„Deutsche Kriegerbund," fand in den beteiligten Kreisen allgemeinen Anklang.
Gleich eine der ersten Nummern konnte auch von den Wünschen berichten, mit
denen der Kaiser eine gedeihliche Fortentwicklung des Kriegcrvereinswesens be¬
gleitete, und aus allen Teilen des Reichs meldeten sich bestehende Vereine, welche
sich an der Bildung eines großen Bundes zur Vereinigung aller Wasfengenossen
beteiligen wollten.
Auf einer Zusammenkunft in Weißenfels am 14. April 1873 gelang denn
anch die Stiftung des „Deutschen Kriegcrbundcs," nachdem vierzig Vereine
ihren Beitritt sofort erklärt, mehr als hundert denselben in Aussicht gestellt hatten.
Ein preußischer höherer Offizier z. D. führte den Vorsitz, und abgesehen davon,
daß derselbe General noch heute Ehrenvorsitzender des Bundes ist, legt auch
der Umstand von der stetigen Weiterentwicklung des Bundes Zeugnis ab, daß
ihm der Kaiser als König von Preußen in neuerer Zeit die Rechte einer
juristischen Person verliehen hat.
Die Satzungen des Deutschen Kriegerbundes verbieten bei den Versammlungen
und Verhandlungen jede Erörterung politischer und religiöser Angelegenheiten.
Dagegen will der Bund, welcher sich aus Vereinen zusammensetzt, deren Be¬
stehen sich auf das ehemalige Militärverhältnis ihrer Mitglieder gründet, das
Band der Kameradschaft auch im bürgerlichen Leben unter seinen Mitgliedern
erhalten und Pflegen, wie das Nationalbewußtsein und die Liebe zu Kaiser
und Reich stärken und beleben. Im Falle eines Krieges stellt sich der Krieger-
bnnd dem Staate im Sinne der Genfer Konvention zur Verfügung, und wäh¬
rend friedlicher Zeit sieht er einen hervorragenden Teil seiner Thätigkeit in der
Unterstützung von alten und notleidenden Bundesangchörigen, sei es durch
einmalige oder fortlaufende Geldspenden an die Mitglieder oder durch Ge¬
währung von sterbe-, Begräbnis- und Ansstattungsgelderu an deren An¬
gehörige.
Im ganzen haben sich der Organisation des Kriegcrbundes bis jetzt 1546
Vereine angeschlossen, und die täglich wachsende Mitgliederzahl betrügt in runder
Summe 120 000. Es ist hier nicht der Ort, ans die innere Gliederung des
Bundes näher einzugehen, welche sich im allgemeinen an die Bildung der
Landwehrl'ezirke im Reiche anschließen soll. Der Sitz des Bundes befindet sich
in der Reichshauptstadt, und das eigentliche Leben desselben pulsirt in dem
jährlich zu Ostern oder Pfingsten, und zwar jedesmal an einem andern Orte
zusammentretende» Abgevrdncteutage, auf welchem Delegirte der angeschlossenen
Vereine über sämtliche gemeinschaftlichen Angelegenheiten beraten.
Seine ethischen Ziele verfolgt der Bund dnrch eine Wochenschrift, die
„Parole," welche bereits in ihren siebenten Jahrgang eingetreten ist; in neuester
Zeit geht auch die Idee eines Anschlusses an das Zentralkomitee des Roten
Kreuzes ihrer Verwirklichung entgegen. Zur Förderung der materiellen Zwecke
aber erhebt der Bund von den verbündeten Vereinen und den ihnen betretenden
Einzelmitglieder» Beitrittsgclder und Jahresbeiträge. Diese sind sehr gering
bemessen und ermöglichen auch dem ärmsten Manne die Teilnahme. Das Bei¬
trittsgeld beträgt für jeden Verein zwischen 3 und 15 Mark, für einen aus
mehreren Einzelvereinen zusammengesetzten Verband 15 Mark, während an
Jahresbeiträgen jedes Mitglied, sofern der Verein an der Unterstützungskasse
des Bundes Teil nimmt, 20 Pfennig, im andern Falle gar nur 2 Pfennig
zu entrichten hat. Trotzdem hat der Bund während seines neunjährigen Be¬
stehens bis zum Jahre 1881 in runder Summe 43 000 Mark an Unterstützungen
für hilfsbedürftige Kameraden verwenden tonnen, und die Zahl der Gesuche,
welche abgelehnt werden mußten, hat sich in erfreulicher Weise vermindert.
Die Bundeskasse ist daneben zu einem Bestände von etwa 37 000 Mark an¬
gewachsen. Ebenso haben die Sammlungen innerhalb des Kamcmdenkreises für
eine Stiftung „Zum ewigen Gedächtnis an das 70jährige Dienstjubiläum
Sr. Majestät des Kaisers Wilhelms am 1. Januar 1877" einen inzwischen auf
mehr als das doppelte angewachsenen Grundstock von 5000 Mark ergebe», und
die vom Kaiser genehmigte „Kaiser Wilhelm- und Kaiserin Augusta- goldene
Hvchzcitsstiftung" besitzt'ein Kapital von etwa 58 000 Mark. Die Zinsen
beider Fonds werden zu Unterstützungen an mittellose Witwen und An¬
gehörige von Bundesmitgliedern verwendet. Verschiedne Einrichtungen, Ab¬
kommen mit Industriellen u. dergl. sind geeignet, den Bundesmitgliedern manche
Vermögensvorteilc zu sichern, und eine neueste Stiftung aus Anlaß der silbernen
Hochzeit des kronprinzlichen Paares, die allerdings noch nicht ins Leben ge¬
treten ist, bezweckt die Errichtung eines Waisenhauses, bez. die Ansammlung
eines Fonds für elternlose Kinder ehemaliger deutscher Soldaten.
Die Tendenzen des Deutschen Kriegerbnndes erscheinen somit vom reinsten
Pcitriotismns getragen, sein Ziel hoch und weit gesteckt, und aus der ziffer¬
mäßigen Höhe der erzielten Erfolge geht aufs neue deutlich hervor, in welchem
Umfange selbst schwache Kräfte in ihrer Vereinigung großes zu vollbringen im¬
stande find. Man Hütte deshalb annehmen können, daß sich die überwiegende
Mehrzahl bestehender und etwa noch sich bildender Kriegervereinigungen dem
so gewonnenen festen Kern umso lieber und vertrauensvoller anschließen würden,
als, wie bereits angedeutet, Vereine aus allen dentschen Gauen dem Vnnde
angehören, und als neben der kaiserlichen Familie zahlreiche deutsche Fürsten
den Bnndesbestrebungen die wärmste Förderung angedeihen lassen.
Das ist aber keineswegs der Fall. Schon auf dem oben erwähnten Krieger¬
tage in Weißenfels machten sich die Anfänge einer völlig bewußt vorgehenden
Gegnerschaft geltend und führten zunächst zu einem Kartellbündnis einer Minder¬
zahl der Erschienenen, ohne daß doch sämtliche dem Kriegerbnnd nicht beitretende
Kriegervereine nun Platz innerhalb dieses zweiten Verbandes gefunden hätten.
Vielleicht erschienen die maßgebenden Anschauungen innerhalb des Kriegerbundes
als zu preußisch gefärbt, die ganze Gliederung desselben zu stramm zentralistisch,
vielleicht trat der persönliche Ehrgeiz eines oder des andern Führers hier, wie
so oft, einer Vereinigung hindernd in den Weg, oder das alte deutsche Erbübel
der vorwiegenden Kirchthnrmsinteressen drängte sich abermals in den Vorder¬
grund; genug, trotz des allseitig und wiederholt ausgesprochenen Wunsches
konnten die verschiednen Kriegertage in Leipzig 1874, Berlin 1875 und München
1876 keine Einigung erzielen, und auch die Auflösung des Kartellbündnisscs wie
die darauf folgende Bildung einer Kriegerkameradschaft waren nicht imstande,
an diesem Ergebnis etwas zu ändern.
Im Jahre 1878 konnte der General der Infanterie z. D. von Glümer
den verschiednen Verbänden die Mitteilung machen, daß der Kaiser in Aussicht
gestellt habe, unter bestimmten Voraussetzungen das vielseitig erbetene Protektorat
über sämtliche Kriegervereine Deutschlands zu übernehmen, sofern diese letztern
zu einem allgemeinen Verbände sich vereinigen würden. Unter dein Eindrucke
dieser Botschaft schien der am 8. Mai 1881 im alten historischen Römersaale
zu Frankfurt, gerade zehn Jahre nach dem dort abgeschlossenen Friedensverträge,
zusammentretende Kriegerkongreß, auf der äußerlich von allen Seiten erstrebten
Bahn einen Schritt vorwärts kommen zu sollen. Zwar fehlten die großen
Verbände Baierns und Sachsens, und auch der Rücktritt des würtember-
gischen Vereinsvertreters brachte die bestehenden Sonderbestrebungen zum
Ausdruck, doch wurde eine vorläufige Organisation angenommen und dem
Vvrstaudü des deutschen Kriegerbnndes bis zu dem binnen Jahresfrist zu be¬
rufenden Abgeordnetcntage das Präsidium des deutschen Kriegerverbandes über¬
tragen.
Leider dienten die sogenannten Eisenacher Besprechungen am 12. März
1882 dazu, die thatsächliche Vereinigung nicht herbeizuführen, wohl aber die
Lage in einer Weise zu klären, welche auf die Partikularistischen Neigungen
einzelner Vereine das hellste Licht wirft. Die Landesverbände in Baiern und
Baden hatten die Einladung zu der Versammlung, welche die aufzustellenden
Satzungen beraten sollte, überhaupt dankend abgelehnt, und der Vertreter des
würtembergischen Kriegerbundes erklärte gleich zu Anfang der Verhandlungen,
daß er einem Verbände auf der bisherigen Grundlage nicht beitreten könne,
wenn er auch um der Sache willen die Hand zur Verständigung zu bieten
bereit sei. Wenn aber von dieser Seite der innere Widerstand gegen die Sache,
um deretwillen man zusammengekommen war, nur passiv in vorsichtigem Zurück¬
halten sich äußerte, so trat dagegen ein Delegirter des sächsischen Kriegcrvereius-
bundcs unumwunden mit seiner Gegnerschaft hervor. Von feiten und im Auftrage
dieses Militürvereiusbuudes, welcher 754 Vereine mit fast 76 000 Mitgliedern
zählt, hob dieser Herr dem gedruckten Protokolle gemäß wiederholt hervor, daß
man sich in Sachsen niemals für die Sache des Zusammenschlusses interessirt
habe, jede „stramme" oder „lose" Vereinigung ablehne und überhaupt „kein
Protektorat des Kaisers brauche," da der König von Sachsen Protektor des
Militärvereinsbundes sei. Ausdrücklich betonte der Vertreter noch, daß er sich
in dieser Hinsicht eins mit seinen Auftraggebern wisse, von denen auch nicht
fünfhundert anders dächten als er.
Nach diesen Vorgängen konnte der am 8. Oktober 1882 in Berlin abge¬
haltene Deutsche Kriegertag nur unter den ungünstigsten Vorbedingungen für
ein Gelingen eröffnet werden, und das Ergebnis der dortigen Verhandlungen
scheint denn auch eine Einigung der Kriegervereine in unabsehbare Ferne ge¬
rückt zu haben. Die großen Landesverbände von Baiern, Würtemberg, Sachsen,
Baden, Hessen und Oldenburg hatten sich überhaupt fern gehalten, dagegen
waren Delegirte aus Weimar, Sondershausen und von den preußischen Prv-
vinzialverbänden, im ganzen die Vertreter von 180 418 Mitgliedern erschienen.
Als sich später Differenzen über den Abstimmungsmodns ergaben, traten noch
die Abgeordneten des deutschen Kriegerbundes mit mehr als 117 000 Mitgliedern
von den Verhandlungen zurück. Der Rest von 63000 Stimmen einigte sich
dann über einen Entwurf für die Organisation des deutschen Kriegerverbandes,
ans dessen einzelne Bestimmungen es hier aber umso weniger ankommt, als eine
sämtliche deutschen Kriegervereine umfassende Verbindung sicherlich auch jetzt
nicht erreicht werden wird, selbst wenn der in einigen Monaten tagende Ab¬
geordnetentag des Deutschen Kriegerbundes der Eintritt dieses letztern in den
Verband beschließen sollte, was kaum zu erwarten ist.
Inzwischen scheint auch an allerhöchster Stelle eine Veränderung in den
Anschauungen bezüglich des Zusammenschlusses aller deutschen Kriegervereine
Platz gegriffen zu haben. Wenigstens machte vor wenigen Monaten unwider¬
sprochen eine Notiz die Runde durch die Tagesblätter, der zufolge der Kaiser
sich dahin ausgesprochen habe, daß eine Vereinigung von Kriegerverbünden ver-
schiedner Staaten nur unter wesentlicher Beteiligung der betreffenden Staats¬
regierungen anzustreben sein würde. Damit wäre den gesamten Einigungsbe-
strcbungen geradezu der Boden unter den Füßen entzogen, namentlich wäre das
kaiserliche Protektorat, dieses letzte und höchste Ziel der alten Krieger, vorläufig
unerreichbar.
Unsre Zeit krankt augenscheinlich an der Sucht, Vereine für alle möglichen
und unmöglichen Zwecke zu begründe». Wenn trotz solcher unleugbar vorhandnen
Überproduktion das Kriegervereinswesen in seiner Entwicklung und Ausdehnung
stetig fortschreitet, so liegt darin das beste Zeichen, daß die Sache einen gesunden
und kräftigen Kern birgt. Die Gegner eines allgemeinen Kricgerverbcmdes meinen
nun, daß jeder einzelne Verein seine hohen Ziele in der ihm angewiesenen räum¬
lichen Begrenzung ebensogut und besser verfolgen könne, als wenn er durch An¬
schluß an einen größer« Verband einen Teil seiner Selbständigkeit dahingäbe.
Dem außerhalb stehenden vorurteilsfreien Beobachter will es denn aber doch
scheinen, als ob das virious unitis auch hier imstande wäre, noch mehr und
besseres zu leisten als partielle Bemühungen, Dies ist aber nicht der Kardinal¬
punkt der Frage, denn in der That verfolgen ja die einzelnen Vereine und Ver¬
bände ihre Zwecke mit großer Umsicht und gutem Erfolge, Vielmehr gewinnt
die Zersplitterung von Tendenzen, bei denen die Notwendigkeit eines innigen
Zusammenwirkens recht eigentlich ans der Hand zu liegen scheint, ihre nicht zu
unterschätzende Bedeutung als Zeichen der Zeit, Mag der Freund des Krieger-
vercinswesens den Mißklang der Trennung bedauern, der politische Schwarz¬
seher ist imstande, Schlüsse aus derartig anscheinend geringfügigen Momenten
zu ziehen, auf eine immer größere Verhältnisse annehmende Zerrissenheit inner¬
halb des nach außen glücklich geeigneten Reiches, für den Patrioten aber er¬
giebt sich aus dem Erkennen von scharf ausgeprägte» Sonderbestrebunge» a»f
einem verhältnismäßig jenigen Gebiete die erneute eriiste Mahnung, mit allen
Kräften an seiner Stelle einzustehen für die stete innere Kräftigung unsers Vater¬
landes, Diese allein gewährleistet die Machtstellung des deutschen Reiches
nach außen, und nur die letztere wiederum ist imstande, uns den Frieden zu
erhalten, den wir ausnahmslos von Gott erflehen.
is Peter Janssen von feiten der königlichen Staatsregierung den
Auftrag erhielt, den Festsaal des neuerbauten Rathauses in Er¬
furt mit Gemälden historischen Inhalts ans den wechselvollen
Schicksalen der Stadt auszuschmücken, hatte er sich bereits durch
mehrere monumentale Arbeiten einen geachteten Namen erworben.
Wie sehr man aber auch den Reichtum und die Harmonie der Komposition, die
realistische Lebendigkeit der Auffassung, die tiefe Charakteristik und den gro߬
artigen Ausdruck der Figuren bewunderte, so fanden diese Lobeserhebungen immer
ihre Grenze an dem matten und wohl auch etwas trockenen Kolorit. Der
Grund dieses Mangels lag jedoch, wie wir durch die letzte Arbeit des Künst¬
lers erfahren haben, nicht an der Beschränktheit seines Farbengefühls und seines
koloristischen Könnens, sondern er war einerseits in der von Janssen gewählten
Technik, der Malerei in matten Wa/Hsfarben, andrerseits darin zu suchen, daß
der Künstler sich noch nicht so schnell von der Tradition losringen konnte, in
welcher er aufgewachsen und erzogen worden war.
Geboren an: 12. Dezember 1844 in Düsseldorf, machte er seine ersten Vor¬
studien in der Kunst bei seinem Vater, dem Kupferstecher T. W. Th. Janssen
und trat dann in die Düsseldorfer Akademie ein, wo er später ein Schüler
Bendemcmns wurde. Führte ihn dieser frühzeitig auf eine stilvolle Behandlung
historischer Stoffe und auf Größe der Auffassung und Charakteristik, so gewann
er auch einen lange Zeit nachwirkender Einfluß auf seine Ausbildung des
Kolorits. Bendemann war zu tief mit den Anfängen der Düsseldorfer Schule
verwachsen, als daß er dem Kolorit eine andre Stellung hätte einräumen können
als die eines untergeordneten Gliedes innerhalb des Organismus eines Ge¬
mäldes. Auch in seinen spätern Bildern, namentlich in der großen Komposition
von 1872 „Wegführung der Juden in die babylonische Gefangenschaft," wo er
deu Versuch machte, mit dem modernen Farbenrealismus zu wetteifern, gelang
es ihm nicht, den Eindruck unharmonischer Buntheit und süßlicher Färbung zu
überwinden und starke, einheitlich' wirkende Farbenakkorde anzuschlagen. In
monumentalen Arbeiten trat dieser Zug ängstlicher Zurückhaltung, welchen man
im Gegensatz zu der energischen koloristischen Ausdrucksweise unsrer Zeit einen
kontemplativer nennen möchte, noch mehr in den Vordergrund. Diese Zurück¬
haltung ist nur die Folge des Cvrnelianischen Systems, welches auch sein Nach-
folger im Direktorate der Düsseldorfer Akademie, Wilhelm Schadow, trotz seiner
sonstigen Gegnerschaft gegen Cornelius unbedenklich übernommen hatte. Man
hat es heute in seiner allgemeinen Giltigkeit wohl überall als irrig erkannt.
Damals mag es ja seine Berechtigung gehabt haben, insofern nämlich, als es
von dem gewiß richtigen Grundsatze ausging, daß die Malerei sich bei Aus¬
schmückung von Wandflächen den architektonischen Grundbedingungen des Raumes
unterzuordnen habe, und als damals die eben zu neuem Leben erwachte Archi¬
tektur vornehmlich durch den Einfluß Schinkels und Leo von Klenzes noch nicht
zur Erkenntnis dessen gelangt war, was die Farbe der Architektur zu leisten
imstande ist. Eine vollkommene Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit gegen
die belebende Wirkung des Kolorits, welche sich bei den Schülern sogar zu einer
entschiedenen Abneigung und Feindseligkeit gegen die Farbe steigerte, war die
charakteristische Eigentümlichkeit jener Männer, an deren Namen sich die Wieder¬
geburt unsrer Baukunst aus dem Griechentum knüpft. Es ist bekannt, daß dieser
Irrtum auf falschen Voraussetzungen beruht, daß er sich aus mißverständlichen
Auffassungen und namentlich aus einer unvollkommenen Kenntnis der griechischen
Architektur erklärt. Die Forschungen der spätern Jahrzehnte bis herab zu den
Ausgrabungen in Olympia haben uns gelehrt, daß die alten Griechen keines¬
wegs zwischen langweiligen Säulen und Statuen von weißem Marmor umher¬
gelaufen find und ihren Farbensinn keineswegs bloß durch den Anblick des
„ewig blauen" Himmels befriedigt, sondern daß sie vielmehr emsig darnach ge¬
strebt haben, die tote Flüche des Marmors durch allerhand bunte Verzierungen
zu beleben und selbst den Marmorstatuen durch Einreibungen mit aufgelöstem
Wachs, durch Bemalung der Gewänder, durch leichtere Färbung der nackten
Teile, durch Einsetzung von Bronze und Edelsteinen in die Augen, durch Zusatz
von goldnen Schmuckgegenständen u. s. w. den Schein des Lebens zu geben.
Nachdem nun einmal die falschen Boraussetzungen gefallen sind, müssen auch
die Konsequenzen fallen, welche man aus ihnen gezogen hat. Die Cornelianer,
die Nazarener und ihr Anhang werden sich nun freilich auf die Neste alter Wand¬
malereien in romanischen und gothischen Kirchen berufen, aus welchen sie den
besten Teil ihrer Argumente für ihre matte Farbengebung geschöpft haben. Aber
sie vergessen dabei, daß ihnen diese Reste in einem völlig verderbten Zustande
zu Gesicht gekommen sind. Entweder haben die Fresken durch Nässe oder
Sonnenlicht gelitten, oder sie sind erst nach Jahrhunderte langer Verborgenheit
unter der deckenden Tünche hervorgezogen worden. Kann unter solchen Um¬
ständen von einer Erhaltung der ursprünglichen Farben die Rede sein? Weiß
jemand, wie diese Wandmalereien unmittelbar nach ihrer Vollendung ausgesehen
haben? Jetzt, wo sie nach langer Entwöhnung des Lichts wieder demselben
ausgesetzt werden, verbleichen sie schnell und nehmen daher ein ganz andres,
trübseligeres Ansehen an, als sie früher besessen haben, und aus dieser ihrer
jetzigen Beschaffenheit heraus haben sich jene Fanatiker der Farblosigkeit ihr
knechtendes Dogma herauskonstruirt. Wenn heute eine rumänische oder gothische
Kirche in ihren Wandmalereien restaurirt wird, schreien sie über die moderne
„Barbarei" Zeter und Mordio, weil Rot wirklich rot und nicht rosenfarbig,
Dunkelblau wirklich dunkelblau und nicht himmelblau aussieht.
Die Logik der Thatsachen schneidet auch diese Zöpfe ab. Mittlerweile hat
sich die moderne Architektur völlig von dem nüchternen Griechentum, welches
Schinkel und seine Nachfolger für das höchste Ziel alles künstlerischen Strebens
hielten, emanzipirt. Man hat längst in dem Zeitalter der Renaissance einen
Geist entdeckt, welcher dem unsrigen verwandt ist, und die Freude an der
farbige» Erscheinung der Außenwelt ist wieder in einer Generation von Menschen
erwacht, welche fast ein Jahrhundert lang Schwarz, Weiß und Hechtgrau für
den Inbegriff alles Schönen hielt. Jetzt hat sich neben Schwarz und Weiß
auch wieder das Not einen ebenbürtigen Raum erobert, d. h. mit andern Worten,
neben den neutralen, gebrochnen Farben haben sich die ursprünglichen, präzisen,
reinen und ungebrochnen Farben des Spektrums ihren Platz gesichert. Die
Gothiker haben sich dieser Neuerung, welche von der allgemeinen Gunst getragen
und die schließlich zum Zwange wurde, nicht entziehen können. Ihre Hoffnung,
daß mit der Wiederaufrichtung des neuen deutschen Reiches auch eine Rückkehr
zum gothischen Stile, welchen man in hartnäckigem Irrtum immer noch für
den spezifisch deutscheu hält, beginnen würde, hat sich nicht verwirklicht. Ihre
Wirksamkeit beschränkt sich nach wie vor ans Kirchen und Rathäuser, wofern
nicht der Charakter einer altertümlichen Stadt die Anwendung des gothischen
Stils auch auf andre Profangebäude begünstigt. Aber am Ende haben auch
die Gothiker der strengsten Observanz viele von ihren frühern Vorurteilen fallen
lassen müssen. Wieweit sie nach dieser Richtung gegangen sind, beweist am
besten das Erfurter Rathaus und insbesondre der Saal, welchen Janssen mit
seinen Wandgemälden dekorirt hat.
Unter dem Drucke der Tradition also, in welcher Jcmssens künstlerische
Entwicklung stattfand, konnte er kaum andre Ergebnisse zur Reife bringen, als
sie die ersten Jahre seiner Thätigkeit aufweisen. Im Jahre 1869 legitimirte
er sich zunächst für seinen Beruf durch ein in der Weise Bendemanus gemaltes
Ölbild „Christus verleugnet den Herrn" und durch verschiedene Porträts. Nach
dem Kriege beteiligte er sich an einer Konkurrenz, welche behufs der Ausschmückung
des Rathauses in Krefeld ausgeschrieben worden war. Er erhielt den ersten
Preis, es wurde ihm jedoch die Ausführung der Gemälde damals nicht über¬
tragen, da er sich von den im Programm vorgeschriebnen Stoffen völlig entfernt
und statt der gewünschten Stadtgeschichte, die ihm wenig Interessantes bot, unter
dem Eindruck des eben verflossnen großen Jahres die Folgen der Uneinigkeit
und Einigkeit durch vier große und fünf kleinere Bilder aus der Geschichte
Hermanns des Cheruskers zur Darstellung gebracht hatte. Es wurde nun die
Wahl des Stoffes für eine zweite Konkurrenz freigestellt, und infolge derselben
wurde Janssen die Ausführung des Cyklus, wie er ihn sich ursprünglich gedacht
hatte, übertragen. Er begab sich nun nach München, um dort einen Teil der
Kartons anzufertigen, und vollendete das ganze Werk im Laufe des Jahres 1873.
Die Technik war die Malerei in matten Wachsfarben, für welche das Rezept
von Andreas Müller maßgebend war. Im Jahre 1872 erhielt er den Auftrag,
für den großen Saal der Bremer Börse in einem großen, von Herrn Wätjen
gestifteten Wandgemälde nach dem Willen des Stifters die „Kolonisirung der
Ostseeprovinzen" darzustellen. Auch dieses Bild leidet trotz seiner großartigen
Konzeption unter der gewählten Technik, es ist flau und trocken in der Farbe
und ohne koloristische Haltung. Wie wäre es, wenn der Meister sich jetzt, nach
der Fülle gewonnener Erfahrungen, noch einmal über das Bild hermachte und
durch Auffrischung der Farben und durch Belebung und Erwärmung des
Kolorits auch der schönen Komposition zu vollerer Wirkung verHülfe, voraus¬
gesetzt, daß die Bremer Börsen ältesten ihren Geldsack aufthaten? Dem langweiligen
Saale könnte ein bischen Farbe ohnehin nicht schaden.
Die nächsten Jahre widmete Janssen der Ölmalerei. Außer einigen kleinen
Bildern vollendete er im Jahre 1876 eine Komposition, das „Gebet der Schweizer
vor der Schlacht bei Sempach," auf welcher neben der bedeutenden Auffassung
vornehmlich die energische und innerhalb der Gesetze des historischen Stils rea¬
listische Charakteristik der Köpfe auffiel. Das trockene und harte Kolorit
machte sich hier weniger störend bemerkbar, weil es mit zur Charakteristik der
herben und strengen Köpfe diente. Um dieselbe Zeit begann er mit den Vor¬
arbeiten für die Ausmalung des zweiten Corueliussaales in der Berliner Na-
lioualgälerie, welche in zehn Bvgeufeldern und einer großen, die Giebelflüche
der einen Schmalwand bedeckenden Komposition die Prometheussage behandeln
sollte. Vor der Ausführung dieser Kompositionen, welche ebenfalls in matten
Wachsfarben zu erfolgen hatte, stand dem Künstler ein schwieriger Kampf mit
dem leitenden Architekten der Nationalgalerie, Strack, bevor. Aus der Schule
Schinkels hervorgegangen, war derselbe einer der entschiedensten Vertreter des
oben gekennzeichneten Prinzips der Farblosigkeit in der Architektur. Janssen,
welcher sich bereits mehr und mehr von der Düsseldorfer Schultradition ent¬
fernt hatte, wollte in seinen Wandmalereien nunmehr dem Kolorit einen freiern
Spielraum gewähren, als er demselben bisher gestattet hatte. Aber der Wider¬
spruch des Architekten zwang ihn, sich dem gesamten dekorativen System der
Nationalgalerie, in welchem eine Art Chokoladenfarbe den lebhaftesten Ton
angab, unterzuordnen. Unter solchen Umständen machten die Malereien in der
Farbe wiederum einen wenig erfreulichen Eindruck. Trotzdem brachen sich die
Vorzüge der Komposition und — als ein neues Element in der künstlerischen
Individualität des Malers — die Schönheit und der ideale Reiz seiner Formen-
gebung siegreich Bahn. Letztere Vorzüge dokumentirten sich vornehmlich in dem
großen Bilde der Giebelsläche, welches den trotzigen, an den Felsen geschmiedeten
Titanen darstellt, zu welchem sich, aus den Fluten des Meeres auftauchend, die
wehklagenden Okeanidcn und der greise Okeanos selber gesellt haben. In der
Zeichnung und Formengebung, die sich zwar auf einer streng naturalistischen
Grundlage bewegte, gleichwohl aber nach den Gesetzen des monumentalen Stils
idealisirt war, gab sich ein hochentwickeltes Schönheitsgefühl kund, und es war
daher doppelt zu bedauern, daß sich die Kraft des Künstlers nicht nach allen
Seiten gleich unbeschränkt entfalten durfte. Indessen waren zu der Zeit, als die
Nationalgalerie eröffnet wurde, zwei Felder an der Seite und oberhalb der Nische, in
welcher die Biiste des Cornelius steht, noch leer geblieben, und als der Künstler
sich an die Bemalung derselben machte, gelang es ihm endlich, die ihn beengenden
Fesseln zu sprengen und — allerdings nur zur Probe — freie Hand zu be¬
komme». Diese Probe fiel äußerst glänzend aus. Das neue Gemälde, welches
den Allbesieger Eros über zwei gefesselten Dämonen, den Symbolen der Elemente,
und zu ihm emporschwebend die Personifikationen der Ilias und der Odyssee
mit den vornehmsten Helden der beiden Gedichte darstellt, bildet einen so schroffen
Gegensatz gegen die früheren Kompositionen, daß die Kritik jenes Prinzips der
gedämpften Farben nicht vernichtender ausfallen konnte. Wie ganz anders wirkt
jetzt die Mvdellirung der Figuren! Um wieviel plastischer und leuchtender lösen
sich dieselben aus dem Grunde und wie prächtig glänzt die frische und gesunde
Farbe, ohne über den architektonischen Nahmen hinauszuwachsen oder die feier¬
liche Stimmung des Raumes durch überlaute Unruhe zu beeinträchtigen! Janssen
hatte sich damit als zu der größten Aufgabe befähigt legitimirt.
Nachdem er im Jahre 1878 zwei kleine Friesbilder für das Seminar in
Mörs, welche Hauptmomente aus dem Reformationszeitalter und der Geschichte
des braudenburgisch-preußischen Herrscherhauses darstellen, gemalt hatte, begann
er mit den Vorarbeiten zur Ausschmückung des Erfurter Rathauses, Er för¬
derte diese umfassende Arbeit so schnell, daß die neun Gemälde schon Ende 1881
vollendet wurden. Im Winter zeichnete der Künstler in Düsseldorf die Kartons
und während der wärmern Jahreszeit führte er die Gemälde an Ort und Stelle
in Wachsfarben direkt auf die Wand aus. Er trug kein Bedenken, monatelang
in der thüringischen Stadt zu verweilen und auf die Annehmlichkeiten seines
Ateliers und seiner Häuslichkeit zu verzichten. Wer sich einmal der monumen¬
talen Malerei widmet, muß dieses Opfer bringen können, Nur die Ausführung
eines Gemäldes an derjenigen Stelle, für welche es bestimmt ist, ist zugleich die
sicherste Bürgschaft für ein vollständiges Gelingen, Im beständigen Zusammen¬
hang mit dem Raume, stets die Wirkung des Raumes, die Umgebung, die Be¬
leuchtung und den übrigen Schmuck berücksichtigend, wird auch ein mäßig be¬
gabter Künstler ein durch seine Einheitlichkeit imponirendes Werk zustande bringen
können, während selbst der genialste Meister leicht an Umständen, die er nicht
zu rechter Zeit in den Kreis seiner Berechnung gezogen hat, scheitern kann.
Ein nachträgliches „Zusammenstimmen," Retouchiren und nachhelfen wird immer
eitel Flickwerk bleiben.
Bei der Ausführung dieser großen Arbeit hatte Jenssen zunächst den un¬
schätzbaren Vorteil, daß er sich in allen Fragen, welche die künstlerische Gestal¬
tung und die malerische Ausführung seiner Kompositionen betrafen, unbeschränkt
sah. Nur die Stoffe waren ihm von den Geschichtskundigen der Stadt vor¬
geschrieben, Erfurts Geschichte ist recht bunt und kraus, arm an erhebenden
Momenten und desto reicher an Szenen der Erniedrigung, der Verwirrung und
der Gewaltthätigkeit, die gerade nicht dazu geeignet sind, die Phantasie eines
Künstlers zu schwungvollen Schöpfungen zu begeistern. Gleichwohl hat sich der
Maler mit großem Geschick seiner mißlichen Aufgabe entledigt. Wo der Inhalt
der Darstellung ihm keine Reize bot und wo keine hervorragenden Charaktere
oder doch wenigstens markige Volksthpen zu schildern waren, hat er der Farbe
vollste Freiheit gelassen und so dem Auge durch den satten Schein des Kolo¬
rits, durch die schillernde Pracht der Gewänder eine Zerstreuung, ein Wohl¬
gefallen geschaffen, welches der geistige Inhalt der Komposition nicht ge¬
währen kann. Und daß er dieses vermochte, daß er so stark in die Farbe gehen
konnte, verdankt er der in den kräftigsten Tönen gehaltenen Dekoration des
Saales, welche der Erfurter Stadtbaurat Spielhagen mit reich entwickeltem
Farbensinn geschaffen hat. Aus dunkel gebeizten Eichenholzrahmen leuchten die
Bilder heraus. Unter ihnen zieht sich ein reich geschnitztes Gestühl mit hin
einem Jntarsiafries darüber. Über den Gemälden sind in Lünetten die Bilder der
brandenburgisch-preußischen Regenten angebracht, und die dunkle Holzbeklcidung
der Decke ist durch eine ungemein schwungvolle, graziöse und leicht befiederte
Ornamentik, welche dem Dekorationsmaler Schayer verdankt wird, aufgelichtet.
Da die drei Wände, welche die neun Gemälde aufgenommen haben, in der
Mitte durch je eine Thür durchschnitten werden, mußte das Mittelbild eines
jeden Trio darnach gegliedert werden. Realistisch gehaltene Kompositionen waren
in diesen gebrochenen Flächen nicht gut anzubringen, und so entschied sich der
Maler für Darstellungen symbolisch-allegorischen Inhalts, welche nicht einen
bestimmten Moment aus der Geschichte der Stadt zur Anschauung bringen,
sondern ganze Epochen zusammenfassen oder in ihrer geistigen oder politischen
Bedeutung symbolisiren. Dadurch hat der Künstler zugleich einen wirksamen
Wechsel und eine gleichsam rhythmische Gliederung in die Bilderreihe hinein¬
gebracht. Dieselbe beginnt an der Nordseite mit der Predigt des heiligen Boni-
facius in der Wagweide bei Erfurt (719), durch welche die Erfurter zum
Christentum bekehrt wurden. Es folgt über der Thür und an den sich rechts
und links von derselben anschließenden Seiten die Darstellung der Schutzpatrone
Thüringens und Erfurts, der heiligen Elisabeth und des heiligen Martin, und
im Hintergrunde der Kinderkreuzzug, welcher sich auf das von dem goldigen
Grunde wie eine Vision, wie eine Fata Morgana abhebende Jerusalem zu be-
wege. Den Schluß der ersten Reihe bildet die Demütigung Heinrichs des Löwen
vor Kaiser Friedrich Barbarossa in der Peterskirche in Erfurt (1181). Das
erste Bild der Ostseite zeigt die in Siegesjubel aus einer Raubritterburg heim¬
wärts ziehenden Erfurter Bürger, welche dieselbe unter der Führung des ernst
und gebietend im Zuge einherreitenden Kaisers Rudolf von Habsburg erobert
und zerstört haben. Das Bild über der Thür erinnert durch die thronende Ge¬
stalt der Wissenschaft, der ^Jena mater, und durch die Vertreter der vier Fakul¬
täten, unter denen sich Luther und Eobanus Hesse befinden, an die kurze, aber
ruhmvolle Blütezeit der Universität, und durch die beiden Engel, welche mit
Schriftbändern in den Händen die Wissenschaft umschweben, an die ÜMMs
ovsouroruin. virorum, welche von Erfurt ausgegangen sind. Das folgende Bild
ruft in dramatischer Gestaltung das sogenannte „tolle Jahr" ins Gedächtnis,
jenen Aufruhr von 1509, wo der Pöbel in das Rathaus drang, sich der Stadt¬
räte bemächtigte und das Regiment an sich riß, welches er unter vielen Greuel-
.und Gewaltthaten ein Jahr lang behauptete. Der Einzug des Kurfürsten und
Erzbischofs Johann Philipp von Mainz und die Huldigung der Bürgerschaft
vor demselben, mit welcher die Bilderreihe der Südseite beginnt, führt uns in
eine trübe Zeit der Stadt, in welcher ihre Selbständigkeit aufhört. Mit der
Einverleibung Erfurts in die Monarchie Preußen (1803), deren das folgende
Thürbild durch die Huldigung der Stände vor König Friedrich Wilhelm III.
und Luise gedenkt, begann eine neue glückverheißende Ära. Sie wurde nur
durch die Franzosenherrschast unterbrochen, deren schimpflichstes Denkmal, der
auf dem Anger zu Ehren „Napoleons des Großen" errichtete hölzerne Obelisk,
am 6. Januar 1814 beim Einzuge der Preußen niedergerissen wurde. Diesen
Akt der Volksjustiz stellt das letzte Bild des Cyklus dar.
Welch ein ungeheurer Abstand zwischen diesen Bildern, in welche» sich der
Realismus der Farbe und der Charakteristik mit einer stilvollen Gestaltung und
Gliederung der Komposition zu einem Zusammenklange von seltener Harmonie
vereinigt, und der fremdartig abstrakten, aller Weltlichkeit und Sinnlichkeit ab¬
gekehrten Formensprache eines Cornelius! Welcher Abstand aber anch in der
Charakteristik von den frostigen Wandmalereien, den schematischen, eines jeden
individuellen Lebens entbehrenden Gestalten der spätern Düsseldorfer, die mau
zu ihrer Zeit Realisten im Gegensatze zu Cornelius nannte! Es ist ein eigen¬
tümliches Spiel des Zufalls, daß die Reform der Monumentalmalerei — denn
als einen Reformator auf diesem Gebiete darf man Jenssen aus vielen und
guten Gründen bezeichnen — von Düsseldorf ausgegangen ist, und zwar von
der Akademie ausgegangen ist, an welcher Janssen seit 1877 als Professor und
gegenwärtig als Vorsitzender des Direktoriums wirkt. Das wäre ein Mann,
welchem getrost diese bedeutsame Stellung mit größerer Machtvollkommenheit
anvertraut werden könnte. In der Blüte der Jahre, in der Fülle der Kraft,
mit gerechtem Stolze auf eine Reihe hervorragender Thaten blickend und doch
bescheiden und einsichtsvoll, von jedem großsprecherischer Wesen frei, immer das
Lob ablehnend und auf die Zukunft, auf größere Thaten verweisend, würde dieser
Mann, auch in seiner Persönlichkeit und in seiner biedern, ehrlichen Natur, in
seiner Duldsamkeit gegen junge aufsprosseude Talente das vollkommene Gegen¬
bild von Cornelius, nicht bloß in seiner Kunst voraussichtlich von belebendem
und fördernden Einfluß auf das Gedeihen einer Körperschaft sein, mit welcher
die Geschichte unsrer modernen Malerei und insbesondre der Monumentalmalerei
auf das innigste verknüpft ist. Um noch einmal das Technische der Frage,
welches uns hier nebenbei beschäftigt hat, zu berühren, so hat Janssen bewiesen,
daß keine andre Technik für monumentale Zwecke den Ansprüchen, welche man
an die Farbe richtet, in gleichem Maße gerecht wird wie die Wachsmalerei,
vorausgesetzt, daß sie durch keine Beschränkungen an der vollen Entfaltung ihrer
Wirkungen gehindert ist.
in 30, Dezember des verflossenen Jahres ist in Gießen ein Maun
aus dem Leben geschieden, dessen Name mit den Kämpfen über
die neuere Entwicklung der katholischen Kirche Deutschlands Wohl
für immer verknüpft bleiben wird, Anton Bernhard Lutterbcck,
geboren zu Münster am 23. April 1812, in Münster und Berlin,
wo er in besonders nahem Verhältnis zu Böckh stand, dnrch philologische, philo¬
sophische und theologische Studien gebildet, ist durch sein Wirken als Dozent
wie durch seine Schriften lange Jahre, von 1842 bis 1859 als Professor der
katholischen Theologie, dann, nach Auflösung der katholischen Fakultät durch
den Bischof Ketteler, von 1859 bis 1877 als Professor der klassischen Philo¬
logie, eine Zierde der Gießener Universität gewesen, ausgezeichnet durch Be¬
gabung, Tiefe des Geistes und durch Tiefe und Umfang des Wissens, gleich
daheim in den Wissenschaften des klassischen Altertums wie der Philosophie
und der Theologie, dem Systeme Franz von Baaders, dessen Werke er mit
Hofmann in Würzburg herausgab, zugewandt und darum dem mittelalter¬
lichen Mystizismus geneigt, aber auch geschätzt von astronomischen Autoritäten
wegen seiner Kenntnisse des gestirnten Himmels, die er für die Geschichte des
Neuen Testamentes verwertete, dabei ein kindlich reines Gemüt, das in wahrer
christlicher Demut sich stets bewußt blieb, daß die Furcht Gottes aller Weisheit
Anfang ist.
Daß ein solcher Mann, trotz seiner glühenden Liebe zur katholischen Kirche,
nicht mit den mannichfachen Äußerlichkeiten und Absonderlichkeiten — um keine
härteren Ausdrücke zu gebrauchen —, in denen so viele Katholiken das Wesen
des Katholizismus sehen, und noch weniger mit dem hierarchischen Streben, in
Summa mit dein ganzen Ultramontanismus, wie er durch jesuitischen Einfluß
seit einigen Jahrzehnten sich wieder in Deutschland geltend macht, einver¬
standen sein konnte, ist selbstverständlich, und so hat er denn in Gemeinschaft
mit den andern Mitgliedern der im ganzen dieselbe Richtung verfolgenden
Gießener, katholischen Fakultät das Ideal eines Katholizismus erstrebt, der
ebenso der Wissenschaft und den Staatsgesetzen als der evangelischen Kirche
gerecht werde. Daher sein Kampf für eine bessere wissenschaftliche Bildung des
katholischen Klerus gegen die Bildung in den bischöflichen Seminarien, welche
uur als Ersatz zulässig sein sollten, wo keine Universitntsbildung möglich sei.
Daher aber auch die Brandlegung oder Aufhebung der katholischen Fakultät in
"Gießen durch den ultramontanen Bischof Ketteler in Mainz, weil wahre Wissen¬
schaft, die ja keineswegs unchristlich ist, Friede mit dem Staate und der evan¬
gelischen Kirche vom Standpunkte des römischen Katholizismus unmöglich ist.
Äußerlich ist freilich Lutterbeck unterlegen, aber was er in diesem Kampfe ge¬
leistet, das und vornehmlich seine „Geschichte der katholisch-theologischen Fakultät
zu Gießen" wird ein Pfahl im Fleische des Ultramontanismus bleiben.
Nach alledem ist es begreiflich, daß Lutterbeck nicht ungewiß sein konnte,
welche Stellung er zum Schutze des wahren Katholizismus gegen die Ungeheuer¬
lichkeit des Jnfallibilitätsdogmas als Fälschung des wahren Katholizismus ein¬
zunehmen habe. Er gehört zu den vortrefflichen Männern, welche ihr besseres
Wissen und Gewissen höher gestellt haben als die Unwahrheit, und so hat er
als würdiger, ebenbürtiger Kampfgenosse eines Döllinger, Friedrich, Huber,
Reinkens n. a. für die wirklich katholische Wahrheit ein mannhaftes Zeugnis
abgelegt — namentlich durch sein Sendschreiben an Pius IX. —, dessen Eindruck
bleiben wird. Freilich hat er, wie seine Freunde und Parteigenossen, erst all¬
mählich erkannt, daß ihr Streben mit der Herrschaft Roms über die Kirche bei
dem Jndifferentismus oder der Schwäche der sogenannten Gebildeten und bei
der Urteilslosigkeit der Massen unvereinbar sei, aber er hat noch die Trennung
der Altkatholiken von Rom als die endliche sichere Bürgschaft für die Rettung
des wahren Katholizismus, dem die Zukunft gehört, begrüßt.
Mit Lutterbeck ist in Gießen eine ehrwürdige Gestalt geschieden, welche die
Erinnerung verkörperte an die eine Zeit lang so blühende Gießener katholisch-
theologische Fakultät, an der so ausgezeichnete Männer wie Standenmayer,
Kühn, Luft, Leopold Schmid, Scharf vor und mit ihn: gewirkt haben.
n den letzten Dezcmbertagen des Jahres 1877 weilte Herr
von Bennigsen als Gast des Fürsten Bismarck in Varzin, Im
Herbst desselben Jahres hatte der Minister des Innern, der in¬
zwischen verstorbene Graf Friedrich Eulenburg, seine Entlassung
erbeten, statt deren aber vorläufig einen Urlaub auf sechs Mouate
erhalten. Der Minister fiir Landwirtschaft, Dr. Fricdenthal, verwaltete bis zur
Entscheidung über das Entlassnngsgesuch des Grafen Eulenburg dessen Mi¬
nisterium. Ende Dezember nun bot Fürst Bismarck Herrn von Bennigsen dieses
Ministerium an, das heißt, er erbot sich, dem Könige die Berufung des Herrn
von Bennigsen vorzuschlagen. Herr von Bennigsen, wie man weiß, machte die
Entscheidung von einer Rücksprache mit seinen Parteigenossen abhängig. Diese
legten ihm eine dreifache Bedingung auf, die er dem Kanzler zu stellen habe:
1. bei dem Plane, die Reichseinnahmen zu erhöhen, dürfe nicht vom Tabccks-
mvnopol die Rede sein; 2. neben Herrn von Bennigsen müßten noch einige
andre angesehene Nationalliberale in die Regierung treten; 3. bei der Ver¬
mehrung der Reichseinnahmen müßten konstitutionelle Garantien gegeben werden:
d. h. der Reichstag sowohl wie der preußische Landtag müßten ein erweitertes
Recht zur Streichung von Einnahmen erhalten. Wenn die Zeitungen damals
recht berichtet haben, so hat Fürst Bismarck auf diese Forderungen erwiedert,
auf dem Tabaksmonopol bestehe er nicht, wenn man andre zum Ziele führende
Vorschläge zu machen wisse; die beiden andern Punkte hat er zunächst aus¬
weichend behandelt.
Wir haben diese Vorgänge, die wohl, nachdem sie bei verschiednen Gelegen¬
heiten erörtert worden, so, wie wir sie angeführt, als festgestellt gelten dürfen,
noch einmal vergegenwärtigt, weil vom Dezember 1877 ein wichtiger Abschnitt
der innern deutschen Politik zu datiren ist. Im April desselben Jahres hatte
Fürst Bismarck dringend und ernstlich seinen Rücktritt von dem Kaiser erbeten.
Dieses Gesuch ist nicht das erste und nicht das letzte um die Gewährung des
Abschiedes gewesen. Allein in den andern Fällen hat es sich, wie man an¬
nehmen darf, um Meinungsverschiedenheiten über einzelne Fragen gehandelt.
Im April 1877 legte der Kanzler sich die Frage vor, ob er nicht an dem
Punkte seiner Thätigkeit angelangt sei, wo er dieselbe schließen müsse. Es
handelte sich für ihn um ein bedeutungsschweres Entweder — Oder. Das
deutsche Reich war unter Dach gebracht, der innere Ausbau fehlte. Der Fürst
mußte sich sagen, daß ein neues und schweres Werk zu beginnen sei. Das Reich
besaß die Zentralvrgane eiuer Regierung in Bundesrat und Reichstag, deren
Bildung und Funktion eines jener Gesetze, die man vorzugsweise Verfassungen
»eure, in weiten Umrissen beschrieb. Aber ein weit, weit andres Ding als ein
Gesetz mit seinen Paragraphen ist eine wirkliche Verfassung. Zu einer solchen
gehören lebendige Organe, d. h. Kräfte des nationalen Lebens, die zum Besitz
und Gebrauch der Verfassung innerhalb der Gcsctzesumrisse erzogen und be¬
fähigt sind, permanente Gebilde, in welche» sich Gesellschaft und Staat durch¬
dringen, in welche die Gesellschaft den Stoff, der Staat das Pflichtgefühl, die
Umsicht und Mäßigung hineinlegt. Auch diese Kräfte, die den lebendigen Ein¬
geweiden gleichen, und die man, wenn man an den Namen nicht falsche Deu¬
tungen knüpfen will, als Stände bezeichnen darf, erschöpfen noch nicht den
Vcrfassungsorganismus. Zu dieseni gehören vielmehr noch eine ganze Reihe
eingelebter Institutionen oder funktioneller Thätigkeiten in Zentral- und Lokal-
Verwaltung, Rechtspflege, Kirche, Schule, Finanzen u. s. w. Dies alles, alles
fehlte dem deutschen Reich. Die Einzelstaaten, aus denen es bestand, hatten
freilich entwickeltere Organismen, aber das Reich sollte und mußte ja diese
Organismen beschränken, weil sie in ihrer Partikularistischen Schwäche dem
Nationalleben nicht genügt hatten. Die Einzelstaaten sollten also andre werden
und mußten es, wenn das Reich seine Aufgabe, ein deutsches Nationalleben zu
schaffen und zu tragen, erfüllen sollte. Dazu kam noch ein schwerwiegender
Umstand. Man hatte so oft vom deutschen Reiche geträumt nud sich der Sehn¬
sucht überlasse» nach der Herrlichkeit, die es bringen sollte. Aber dabei hatte
man, was freilich sehr natürlich ist, nicht Zeit noch Lust gehabt, an die schweren
Pflichten zu denken, die es mit sich bringen mußte. Nationale Herrlichkeit ist
niemals in der Geschichte umsonst besessen worden, sondern der Preis unaus¬
gesetzter Anstrengung gewesen. Die nationale Herrlichkeit der Deutschen aber,
das mußte jedem für das Verständnis der Geschichte befähigten Sinn klar sein,
konnte, wenn sie je wieder hervorzurufen war, nur mit ebenso viel Geschick,
Kraft und Opferwilligkeit behauptet werden, als ihre Neuschaffung erfordert
hatte. Die deutsche Nation war groß gewesen, als die elementare Kraft ihres
Volkstums den Weltteil nach allen Richtungen überflutet hatte. Nachdem aber
in langen Epochen dem deutschen Volke alle andern Nationen in staatlicher Ent¬
wicklung vorausgekommen waren, mußte es sich sagen, daß die Mitbewerbnug
unter den rivalisirenden Kräften des Weltteiles in der geographischen Mitte
desselben am schwersten durchzuführen sei. Wir mußten uns sagen, daß der
latente Rassenhaß und der dunkle Weltherrschaftstraum der Slavenwelt zur
tageshellen Leidenschaft aufflammen müßten, wenn wir, aus dem Zustande harm¬
loser und ohnmächtiger Passivität heraustretend, als eine gewappnete, ihren Anteil
an den Wcltgcschicken fordernde Macht dastehen würden. Wir mußten uns
sagen, daß wir, das Thor des Westens verschließend, den Traum der Franzosen,
daß wir das politisch selbstlose Material ihrer Weltherrschaft abzugeben gut
genug seien, für immer zerstörend, einen Lebensbestandteil dieser Nation ent¬
reißen würden, den sie erst verschmerzen könne, nachdem sie viele Jahre lang
den Eindruck der deutschen Unüberwindlichkeit empfangen.
Zu allen diesen gewaltigen Aufgaben mußte das deutsche Reich erst zu¬
bereitet werden. Es besaß wohl deu Kern des unübertrefflichen Heeres, das ihm
die Wege zu seiner Wiederaufrichtung gebahnt hat. Aber die erzogenen Kräfte,
die ein solches Heer dauernd erhalten, die den ganzen wirtschaftlichen, intellek¬
tuellen und sittlichen Organismus mit ihm ins Gleichgewicht setzen können, ohne
welches ein solches Heer sich nicht auf seiner Höhe behaupten kann und dem
schwachen Ganzen zu große Opfer auferlegt, diese Kräfte fehlten.
Im April 1877 stand Fürst Bismarck vor der Frage, ob er, vertrauend
dem Wort, das er einst selbst gesprochen: „Setzen wir Deutschland in den
Sattel, reiten wird es schon können," den ungeübten Reiter auf dem gefährlichsten
Wege sich selbst überlassen solle. Die künftige Geschichtschreibung wird vor
der Thatsache als einem Rätsel stehen, daß der deutsche Liberalismus, der zehn
Jahre lang der Hebel der nationalen Politik in der Hand des Kanzlers ge¬
wesen, von den Schwierigkeiten der Zukunft so gar keine Ahnung gehabt hat.
Die Liberalen träumten von nichts als von dem Eintritt des vollen parla¬
mentarischen Regimentes und dem interessanten Würfelspiel um die Minister¬
sitze durch die Würfe parlamentarischer Beredsamkeit und glücklicher Taktik.
Alle innern Aufgaben glaubte man zu lösen durch die immer vollständigere
Abstreifung wirtschaftlicher Fesseln; ein Zoll nach dem andern muß fallen, jede
Schranke der Gewerbefreiheit, wo noch eine zu finden ist, dann wird das Para¬
dies erblühen. Dabei stand im Jahre 1877 der Fanatismus des Ultramon¬
tanismus einerseits, der Fanatismus der Sozialdemokratie andrerseits, welche
beide den Besitz unbeschränkter Preßfreiheit und Versammlungsfreiheit in vollem
Maße benutzten, auf der Höhe. Die Demokratie ihrerseits, repräsentirt in
Preußen durch die Fortschrittspartei, im Süden durch die Volkspartei, über¬
schüttete den nationalen Liberalismus für jedes Zugeständnis mit Hohn und
Verachtung, das letzterer bei den Justizgesetzen zur Einschränkung der Massen¬
herrschaft den Regierungen gemacht hatte. Es erscheint heute schon als unfaßbar
und wird einer spätern Zeit noch unfaßbarer sein, wie der nationale Liberalismus
diesen Kräften gegenüber, die, auf dem Boden des allgemeinen Stimmrechts
bequem sich ausbreitend, mit Ausnahme der rcinpolitischen Demokratie ihre
Zahlen im Parlamente wachsen sehen, mit Ungeduld von der Verlegung der
Souverainetät in dieses Parlament träumen konnte. Denn nur aus diesem
Traume ist das Drängen auf die sogenannten konstitutionellen Garantien, ist
die Forderung einer Parteiregierung, nach der Art, wie man sie sich in Deutsche
land vorstellt, nämlich so, daß die Partei die Minister wie einsetzt, so inspirirt,
erklärlich.
Als Fürst Bismarck Herrn von Bennigsen in das Ministerium ziehen wollte,
hatte er natürlich nicht an die Einsetzung einer Parteiregierung nach der un¬
möglichen, in Deutschland herrschenden Einbildung einer solchen gedacht. Er
hatte geglaubt, der Name und die Persönlichkeit des Herrn von Bennigsen würde
dem nationalen und liberalen Teile des deutschen Volkes eine Bürgschaft sein,
daß bei der umufschieblich gewordnen Ausbildung neuer zusammenballender In¬
stitutionen an keine Entfremdung von den wahren Bedürfnissen des Volksgeistes,
sondern nur an die Bewahrung derselben in der Erfüllung der zwingenden
Gebote der Gesamtlnge zu denken sei. Als Herr von Bennigsen der Einladung
des Kanzlers das Programm des Liberalismus entgegenstellte, war er der treue
Dolmetsch des letztern in seiner damaligen Geistesverfassung und Zukunftsansicht.
Aber Fürst Bismarck konnte ans diesem Programm nur entnehmen, daß die
Fortbildung des deutscheu Reichs dem Liberalismus anvertrauen diese Schöpfung
in Todesgefahr stürzen heißen würde. Ebenso sehr wie das „Niemals," das
sein kaiserlicher Herr im April auf das Entlassungsgesuch geschrieben hatte,
mußte die Beurteilung der Frage, über die auch der nationale Liberalismus sich
nicht erhöht dem Fürsten die Notwendigkeit einprägen, sich seinem großen, aber
nach der Beschaffenheit des Materials noch so gebrechlichen Werke bis zum
letzten Atemzug zu weihen.
Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Sie haben, wie es scheint, vielleicht
nur auf der Oberslüche scheint, eine immer steigende Entfremdung zwischen dem
Reichskanzler und der Gesamtheit der im nationalen Liberalismus zusammen¬
gefaßten Richtungen an den Tag gebracht. ,
Es waren fünf Ziele der innern Politik, auf welche das Auge des Fürsten
zunächst gelenkt war, die Svzialreform, wenigstens in den dringendsten und
nächsten Forderungen, und als Bedingung derselben die Zollreform; ferner die
Preußische Verwaltungsorganisation und die^ Sicherstellung des Steuerwesens
im Reich und in den Einzelstaaten; endlich die Eisenbahnrcform, d. h. die
Konsolidation der Eisenbahnen durch ihren Übergang in Reichshand.
Die Zollreform ist dem Fürsten nicht, wie man wohl zuweilen behauptet
hat, nur ein Mittel gewesen, um die Stimmen zur Vermehrung der Reichs¬
emnahmen zusammenzubringen. Der Fürst erkannte vielmehr, daß jede Sozial¬
reform, d. h. jeder Versuch, auf die richtige Verteilung des Volkswohlstandes
einzuwirken, vergeblich sein müsse, wenn die Quellen des Wohlstandes einem lecken
Fasst gleichen, das im unaufhaltsamen Auslaufen begriffen ist. Der Fürst glaubte
für die Schädigung wichtiger Quellen des nationalen Wohlstandes durch die
Unbeschränktheit der fremden Einfuhr deutliche Zeichen zu haben. Diese Wahr¬
nehmungen bestimmten ihn, die Rückkehr zu einem gewissen Schutzzollsystem in
Angriff zu nehmen. Vielleicht hat bei der Erwägung dieses Entschlusses das
Gefühl der Verantwortung stärker auf ihm gelastet wie bei irgendeinem der folgen¬
reichen Entschlüsse seiner Laufbahn. Er hatte selbst im Reichstag ausgesprochen,
daß die Frage nach ihrem ganzen Umfange von keiner Einsicht zur Zeit beherrscht
werde. Aber angesichts eines sich verschlimmernden Übels muß der Staatsmann
handeln, auch wenn es keine perfekte Theorie der Heilung giebt. Bezeichnend
für die deutsche Art ist es, daß durch die Zollreform mehr als durch irgend
einen Schritt der Reichskanzler sich das Vertrauen eines patriotisch gesinnten
Teiles der deutschen Liberalen entfremdet hat. Der Theorie zuwider sind die
Wirkungen der Tarifrcform oder, was auch die überzeugtester Gegner zugeben
müssen, die begleitenden Erscheinungen derselben nur günstige gewesen. Es sind
also nicht einmal Interessen, oder nur sehr vereinzelte Interessen, von welchen
die nachhaltige Opposition gegen die Tarifreform ausgeht. Es ist vielmehr die
von der Unfehlbarkeit ihrer Einsicht überzeugte Theorie. Man muß dies achten,
und es ist zu bedauern, daß der Kampf mit der freihändlerischen Opposition,
die zum Teil aus ruhigen, ernsten Männern besteht, eine so bittre und unschöne
Form angenommen hat. Einen großen Anteil daran hat freilich die politische
Opposition des Fortschritts, welche sich der Freihandelslehre als willkommener
Waffe bedient. Den überzeugten Anhängern der deutschen Freihandelslehre
möge in Bezug auf den Inhalt der Frage, die sich im gegenwärtigen Zusammen
hange nicht eingehend behandeln läßt, nur folgende Erwägung immer wieder
empfohlen sein, die keineswegs neu ist. Die Segnungen des Freihandels setzen
zu ihrer Verwirklichung die Ausbreitung der Freihandelsprinzipien über den
Erdkreis oder doch über einen Kreis bedeutender Wirtschaftsgebiete voraus.
Hütte wirklich ein patriotischer Anhänger des Freihandels in Deutschland es
wagen wollen, die Freihandelspolitik bei uns fortzusetzen, während die andern
großen Nationen beim Schutzzoll beharrten oder zu ihm zurückkehrten? Die
Folge wäre dann doch nicht abzuwehren gewesen, daß die ersten Quellen der
wirtschaftlichen Unabhängigkeit: Ackerbau, Waldkultur u. s. w. versiegt wären,
während wir keinen Produktionszweig gehabt hätten, dessen Artikel das Ausland
uns hätte abnehmen müssen. Wir wären mindestens einer sehr gefährlichen
Krisis für eine Periode von unberechenbarer Dauer ausgesetzt worden, wenn
wir bei den großen Anforderungen, die der Staat in der nächsten Zeit unver¬
meidlich an die nationale Wirtschaft stellen muß, die letztere starken Schwankungen
preisgegeben hätten.
Der Zolltarif wurde mit einem Schlage im Jahre 1879 erneuert. Auf
dem Wege der Sozialreform giebt es keine Muster, jeder Schritt ist ein Ex¬
periment, und so ist es kein Wunder, daß auf diesem Wege uoch nicht einmal der
erste Schritt gethan worden ist. Die Unfallversicherung der Arbeiter sollte dieser
Schritt sein, und von unserm Standpunkte haben wir zu bedauern, daß die
Gedanken der ersten Vorlage in der zweiten so vielfach aufgegeben und nach unserm
Urteil keineswegs durch praktischere ersetzt worden sind. Auch bei diesem Gegen-
stände können uns die Einzelheiten heute nicht beschäftigen. Wir finden uns nur
gedrungen, hervorzuheben, daß nach unsrer Überzeugung eine heilsame und weit¬
greifende Sozialreform denkbar ist, welche den Boden der individuellen wirt¬
schaftlichen Freiheit keineswegs prinzipiell aufgiebt oder beeinträchtigt. Bei der
Unfallversicherung hat sich diese Frage auf den Punkt zugespitzt, ob die Ver¬
sicherung der Arbeiter auf die Produktionskosten der Industrie allein zu über¬
nehmen sei oder ob das Prinzip der wirtschaftlichen Selbsthilfe einen Staats¬
beitrag zu den Versicherungsprämien gestatte. Wir bejahen ohne Unsicherheit
die letztere Frage. Denn auch die Anhänger der individualistischen Wirtschafts¬
theorie haben noch nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die absolute Aus¬
dehnung derselben behauptet, haben noch nicht behauptet, daß der Staat keine
Armenschulen und ähnliche Anstalten anlegen, daß er den Schulunterricht nicht
wenigstens einem Teile des Volkes auf Kosten der Gesamtheit unentgeltlich zu¬
wenden dürfe. Die Versicherung der Arbeiter ist aber unsers Erachtens nicht
bloß ein Akt der materiellen Fürsorge, sondern weit mehr noch ein Akt der
moralischen Pädagogik, durch welchen die Gesamtheit sich aus einem bisher
verwüsteten Teil der Volkskraft eine gesunde Kraft zu erziehen versucht. Daß
dafür der Staat einen Aufwand zu machen berechtigt ist, muß auch die indivi¬
dualistische Wirtschaftstheorie anerkennen.
Bei der Aufgabe der preußischen Verwaltungsorganisation ist für den
Fürsten wohl der Gesichtspunkt maßgebend, daß das feste Gefüge des preu¬
ßischen Staates erhalten werde müsse, der den unerschütterlichen Kern der
deutschen Nationalität bleibend zu bilden berufen ist. Mit geringer Überlegung
war der Liberalismus bereits im Begriff, einer Autonomie der preußischen Pro¬
vinzen zuzusteuern. Mau fragte nicht, wo denn die Widerstandsfähigkeit in
schwere» Gefahren liegen werde. Bei Kreis-, Dorf- und Stadtparlamenten kann
sie sich niemals ausbilden. Die Verwaltungsreform war eine Zeit lang un¬
verkennbar auf dem Wege, die Einheit der Verwaltungsaktion in lokale Auto¬
nomien und Unbeholfenheiten zu verzetteln.
Die Steuerreform, die schon so oft hier behandelt worden ist, erwähnen wir
in dem jetzigen Überblicke nur, um den folgenden Puukt wiederholt zu erhellen.
Ein Steuersystem lebt sich langsam ein, die Gesellschaft muß lernen, es nicht
nur zu ertragen, sondern auch durch eine erhöhte Spannung und geschicktere
Anwendung ihrer Kräfte den Ersatz zu finden. Deshalb ist es kurzsichtig,
wenn der Liberalismus immer nur nach Maßgabe des einzelnen Bedürfnisses
einzelne Opfer auflegen will, als ob dieselben immer zu haben wären.
Die Eisenbahnreform ist gelungen, wenn auch noch nicht ganz in der er¬
strebten Weise. Hier hat die Voraussicht des Fürsten eine unbestrittene Be¬
stätigung empfangen.
Als der Fürst im April 1877 seine Entlassung erbat, wurden die Schwierig¬
keiten, die ihm der Ultramontanismus bereitete, vielseitig als Hauptgrund ver-
mutet. Man war daher überrascht, daß der Fürst nach Wiederübernahme der
Geschäfte nicht den Kulturkampf mit neuem Eifer aufnahm. Die Notwendig¬
keit fiel indeß weg zunächst infolge des Personenwechsels auf dem heiligen Stuhle.
Der Fürst hatte bei diesem Kampfe Hindernisse und Unterlassungen gefunden,
auf die er vielleicht gefaßt gewesen war, aber auf die er nicht gerechnet hatte. Immer
hatte er von der Möglichkeit eines friedliebenden Papstes und der von selbst
dann sich ergebenden Einstellung des Kampfes gesprochen. Leo XHI. gab seit
seiner Thronbesteigung alsbald wenigstens die äußern Zeichen einer einlenkenden
und friedlichen Gesinnung. Der Friede ist nicht erreicht worden, und ob er zu erreichen
ist, bleibt nach wie vor ungewiß. Aber das Feuer des Kulturkampfes hat an
Intensität beträchtlich verloren; es ist die Frage, wem die Schwächung dieser
Glut zu Gute kommt, ob der ultramontanen Führung oder dem deutschen Reiche.
Der Kulturkampf ist sozusagen in ein chronisches Stadium getreten; es
fragt sich sehr, ob der Ultramontanismus die Rückführung in das akute Sta¬
dium zu bewirken in der Lage ist. Einen unverkennbaren Nachteil hat aber
die Schwächung dieses Gegensatzes dem Staate gebracht. Sie hat eine Reaktion
im Bunde mit dem Ultramontanismus in den Gesichtskreis der öffentlichen
Meinung gerückt, und die Unvorsichtigkeit der konservativen Partei, die einen
solchen Bund als Ziel aufs innigste zu wünschen hinstellt, hat der Befürchtung
eines solchen die weiteste Ausbreitung gegeben. Dadurch sieht sich der Fürst
vielfach gehemmt und in seinen Absichten verkannt.
Dies ist das Ergebnis eines arbeitsvollen Lustrums: eine Frucht, sonst
nur Ansätze, die gehemmt, aber nicht zurückgewiesen sind. Wer daraus einen
Vorwurf herleiten will, der hat keine Ahnung, daß der innere Bau des deutschen
Reiches das dankbarste, aber auch das schwerste Werk ist, dessen Gelingen uns
zur stärksten Nation erheben, dessen Mißlingen uns aus der Reihe der Na¬
tionen ausscheiden lassen wird.
crgessen wir nicht, Verehrtester Herr Kamerad, sagte der Graf,
daß die deutsche Armee, wie sie jetzt dasteht, unvergleichlich
an Größe, Ruhm und innerer Tüchtigkeit ist! Niemals,
so weit wir die Kriegsgeschichte zurückverfolgen können, hat es
eine solche Armee gegeben. Sie ist vorzüglich organisirt, ihr
Material ist das brauchbarste, ihre Bewaffnung steht auf der Höhe der
Technik, ihr Offizierkorps ist das durchgcbildetste, und selbst der Unteroffizier
und der gemeine Mann stehen an moralischem Wert wie an militärischer Disziplin
höher als in jeder andern Armee. Das Ganze ist beseelt von einem ritter¬
lichen Geiste, der von höchster Stelle ausgeht, indem die erhabne Persönlichkeit
des Monarchen als das Musterbild eines Kriegsherrn jedem einzelnen Manne
in imposanter Weise vor Augen steht. Diese Armee ist eine bewunderungs¬
würdige Schöpfung, sie ist fehlerlos, soweit ein Menschenwerk das sein kann,
sie ist ein Wunder.
Ja ja, versetzte der Baron, das ist im ganzen richtig. Aber ich bin der
Meinung, daß jede Schöpfung, so vollkommen sie sein mag, immer noch der
beständig bessernden Hand bedarf. Nichts darf stillstehen, sonst geht es zurück.
Und ich kann meine Bedenken auf Eurer Exzellenz Dithyramben hin nicht auf¬
geben. Solche ritterliche Erscheinungen wie in der alten preußischen Armee giebt
es heutzutage, wo die Welt sich ins Flache gewendet hat, nur noch sehr ver¬
einzelt. Mein seliger Vater, der als Kind noch den großen König mit
leiblichen Augen gesehen hat, erzählte mir oft aus der Zeit, wo er mit
Eurer Exzellenz Vater zusammen im Regiment Gendarmes stand, voni
Prinzen Louis Ferdinand. Das war noch ein Herr, einer jener glän¬
zenden Kavaliere, wie sie vordem in Frankreich berühmt waren/ aber auch
bei uns wohl vorkamen, ein Herr von echter Soldatenehre! Er soll groß
gewesen sein, schön wie Apollo, geschickt in allen Leibesübungen, ein gewandter
und dreister Reiter, einer der stärksten Fechter, im Ringen und Voltigiren un¬
übertrefflich. Mein Vater hat gesehen, daß er drei Finger in die Läufe von
drei Jnfanteriemuskcten steckte, die damals ein gut Stück schwerer waren als
jetzt, und sie so mit einemmale aufhob. Wenn er in der sehr schönen und
prächtigen Uniform seines Regiments erschienen sei, mit rotem Kragen, Rabatten
und Aufschlägen, mit goldnen Schleifen mit losen Püscheln besetzt, sei es zu
Fuß oder zu Pferde, und nie auf einem andern als dem allerschönsten Pferde,
so sei es nicht anders gewesen, als wenn der vornehmste Herr in der Welt, der
schönste, und der Kriegsgott selber sich sehen ließe. Dazu von mannichfaltigen
Kenntnissen, ein Virtuose auf dem Klavier, der Liebling aller Frauen, von
einer unbeschreiblichen Liebenswürdigkeit und Anmut. Natürlich mußte eine
solche Erscheinung den demokratischen Schriftstellern mißfallen, und sie haben
den Prinzen von ihrer Ofenecke aus mit Tinte bespritzt, wie sie überhaupt die
alte Zeit verleumden, um sich selber wichtig zu machen. Um ihren einfältigen
Idee» von Volksheeren eine Unterlage zu schaffen, haben sie von jeher das Maul
weit aufgerissen und das Unglück von Jena als die Folge des Junkertums und
absoluten Regiments hingestellt, während doch die preußische Armee damals
ebenso tapfer, glänzend ausgerüstet und opferfreudig war, wie sie es immer
gewesen ist, und in den Niederlagen von 1806 nur die warnende Hand Gottes
zu erblicken ist, welche auf das in unserm Lande fressende Gift der Ideen von
1789 hinwies. So drehen die verdammten Schreiber die Wahrheit herum und
thun, als ob sie in der Welt regieren müßten.
Der Graf lächelte. Er stand auf einem andern Standpunkte als sein eifernder
Nachbar und seine Ansichten waren so verschieden von denen des Barons, daß
er nicht einmal den Versuch einer Vereinigung machte. Ein stilles, beschau¬
liches Leben auf dem Lande und die Beschäftigung mit seinen Lieblingsschrift¬
stellern Montaigne, Montesquieu und Pascal hatten ihn dem Interesse an der
Politik und selbst an militärischen Dingen, seitdem er außer Dienst war, ent¬
fremdet, und er hörte den Reden des Barons Sextus nur zumeist aus Nach¬
giebigkeit ruhig zu.
Es trat eine Pause ein, dann sagte der Graf, um dem Gespräche eine
andre Wendung zu geben, daß er sich sehr gefreut habe, Dorothea so wohl zu
sehen. Die Reise nach dem Süden scheine ihr sehr gut gethan zu haben.
Dorotheas Gesundheit war immer eine vorzügliche, sagte der Baron langsam.
Ja, sie war immer ganz vorzüglich.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
Ich sollte meinen, bemerkte der Graf, daß das kein Grund wäre, betrübt
zu sein.
Der Baron zuckte die Achseln. Ach, mein alter Freund, sagte er, wenn
ich sehe, wie das Mädchen blüht und wie stark und schön sie ist, da muß
ich nur zu oft dcircm denken, welche Freude es für mich sein würde, wenn das
ein Junge wäre.
Sein Gesicht verdüsterte sich, und er blickte vor sich nieder.
Nun, versetzte der Graf, ich Muß offen gestehen, daß ich solche Gedanken
sür eine große Undankbarkeit und Ungerechtigkeit halte. Sie sollten sich freuen,
solch eine anmutige und liebenswürdige Tochter zu haben, die Ihnen das
Alter froh macht und in Ihrem alten, düstern Schlosse wie ein Heller Stern
glänzt.
Es ist wahr, sagte der Baron, es mag wohl undankbar sein. Aber ich
kann nicht anders. Seit sechshundert Jahren haben die Sextus hier diesen alten
Sitz inne, haben seine Mauern und Zinnen gegen Heiden und Christen, Dänen,
Polacken, Russen und Österreicher verteidigt und sind immer eine treue Stütze
des Thrones gewesen. Wenn ich bedenke, daß ich der letzte sein soll, und daß
ich keinen Sohn habe, auf den ich den schönen Besitz vererben kann, wenn ich
mir das klar mache, dann —
Er seufzte tief und schüttelte wehmütig den Kopf.
Ich verstehe das nicht ganz, sagte der Graf. Ich habe es immer ver¬
mieden, diesen Punkt zu berühren, weil ich Ihre Empfindlichkeit darin kenne,
alter Freund, aber so viel ich weiß, existirt doch eine Nebenlinie des Hauses
^ Sextus in Hessen, welche erbberechtigt ist. Also würde die Herrschaft Eichhausen
doch immer noch bei einem Sextus bleiben.
Der Baron richtete bei diesen Worten den Kopf hoch auf und sagte mit
zorniger Entschiedenheit: Ehe ich den hessischen Sextus dies Schloß und diese
Herrschaft überließe, würde ich lieber bei der Regierung um Aufhebung der
Familiengesetze nachsuchen und das Schloß dem Fiskus, die Ländereien aber
meiner Tochter vermachen — wenn es möglich wäre. Die hessischen Sextus
sind Abtrünnige, und ich achte sie für schlechter als die Demokraten. Wenn
das Schreibervolk Revolution macht, so kann man es ihm nicht übel nehmen,
denn es ist nichts und hat nichts und kann bei Umwälzungen nur gewinnen.
Aber wenn eine Familie von altem Adel liberale Neigungen hat und ihr Chef
selber auf der linken Bank im Parlamente sitzt, dann ist es nicht zu verzeihen,
und ich zerschneide das Tischtuch. Nein, ich habe einen andern Weg im Ange.
Auf das Glück, diese Herrschaft in direkter Linie weiter zu vererben, muß ich
freilich verzichten, aber ich will wenigstens, soviel in meinen Kräften steht, dafür
sorgen, daß sie nicht dazu dient, die Macht der Feinde des Königtums zu
stärken. Es besteht von Alters her eine nahe Beziehung zwischen uns und der
gräflichen Familie von Altenschwerdt in Schlesien. Blasius Sextus, mein Vor¬
fahr im siebenten Grade, welcher im dreißigjährigen Kriege ein kursächsisches
Kürassierregiment kommandirte, war mit einer Komtesse Altenschwerdt vermählt.
Ein Graf Altenschwerdt, Kammerherr der Kaiserin Maria Theresia, heiratete
wiederum Dorothea Sextus, Endlich hat mein Großvater, der Oberst Blasius
Sextus, große Verbindlichkeiten gegen das Haus Altenschwerdt gehabt, indem
er, als junger Offizier bei Kunersdorf verwundet und gefangen, sein Leben der
Gräfin Adelheid von Altenschwerdt verdankte. Er liebte diese Dame, welche sehr
schön gewesen sein soll, doch war die Liebe eine unglückliche, da die Gräfin bereits
verheiratet war, und er heiratete selber in spätrer Zeit eine andre Dame, meine
Großmutter, In seinem Testament aber machte er eine Bestimmung, welche
seine große Verehrung des Hauses Altenschwerdt bekundet. Der alte Herr hat,
wie ich aus den Schriftstücken und Briefen jener Zeit entnommen habe, großen
Wert auf äußerliche Umstünde gelegt, welche als eine Art von Vorbedeutung
für die Ereignisse der Zukunft angesehen werden konnten, und so scheint er, wie
ich mit Erstaunen gemerkt habe, das Vorgefühl besessen zu haben, es werde
einmal mit dem Hause Sextus dahin kommen, daß kein männlicher Erbe lebe.
Er hat nämlich bestimmt und zum Familiengesetz zu machen durchgesetzt, daß
die Herrschaft Eichhausen, im Falle des Ausbleibens männlicher Descendenz, an
das Haus Altenschwerdt kommen solle, in dem Falle, daß eine Freiin von
Sextus einen Nachkommen der Adelheid Altenschwerdt heirate. Diese Bestimmung
zeigt mir den einzigen Weg, auf dem es mir möglich ist, den hessischen Sextus
die Erbschaft vorzuenthalten, Dorothea muß den Grafen Altenschwerdt heiraten,
oder Eichhausen fällt nach meinem Tode an den liberalen Herrn Botho von
Sextus, was Gott verhüten möge.
Kennen Sie den Grafen Altenschwerdt? fragte der General.
Nein, ich kenne ihn persönlich nicht. Ich weiß nur, daß er ein sehr be¬
fähigter und strebsamer junger Herr sein soll, der gegenwärtig Attachö bei unsrer
Botschaft in Paris ist. Ich muß gestehen, daß mir der Gedanke einer Ver¬
bindung zwischen zwei jungen Leuten, die uicht durch gegenseitige Neigung,
sondern durch irgendwelche andern Gründe zu einander geführt werden, immer
etwas unangenehmes gehabt hat. Deshalb habe ich mich bis vor kurzem noch
uicht ernstlich mit diesem Plane beschäftigt. Erst das Auftreten des Herrn
Botho von Sextus bei den parlamentarischen Verhandlungen im Februar hat
mir den entscheidenden Anstoß gegeben, und ich habe vor einigen Monaten an
Gräfin Sibylle geschrieben, um sie zu veranlassen, einen unauffälligen Schritt
der Annäherung ihres Sohnes herbeizuführen. Der gute Vetter Botho läßt
sich nicht träumen, was bevorsteht. Er denkt, die Herrschaft könnte ihm nicht
entgehen, sonst Hütte er doch zweimal überlegt, was er gethan hat.
Ich habe den alten Grafen Altenschwerdt gekannt, sagte der General, Er
starb schon vor etwa zwanzig Jahren, Es war ein etwas excentrischer Herr,
wenn ich mich recht entsinne.
Die ganze Familie ist mir persönlich nicht bekannt. Aber ich habe eben
dasselbe von dem verstorbenen Grafen gehört. Er war viel auf Reisen und
interessirte sich für die Kunst. Ich für meine Person war im Dienst bis zu
meinem zweiundvicrzigsten Jahre und habe mich seiner Zeit um nichts als meine
Schwadron und die Verwaltung meiner Güter bekümmert. Ich bin einigermaßen
gespannt darauf, den jungen Grafen kennen zu lernen, Gräfin Sibylle hat nur ge¬
schrieben, daß sie mit ihrem Sohne Bad Fischbeck besuchen und von dort aus
eine Anknüpfung bewirken würde, welche in Dorotheas Augen dem Zufall zu¬
zuschreiben wäre. Auch die Nachfolge des Hauses Altenschwerdt ist gegenwärtig
auf zwei Augen gestellt. Eine eigentümliche Fügung der Vorsehung, daß so
viele der ältesten und reinsten Geschlechter erlöschen oder zu erlöschen drohen!
Die beiden Herren waren während dieses Gesprächs in dem Blumengarten
vor der Halle langsam auf- und abgeschritten, und der Baron stand jetzt still
und sah mit einem nachdenklichen Blick zum Himmel auf, als wollte er dort
oben um Rat fragen wegen der befremdlichen Ereignisse auf Erden. Der Ge¬
neral dachte an die Meinung der Philosophen, daß es die Entfernung von der Natur
sei, welche die reichen Stände aussterben lasse, sodaß sie nur aus den armen
Klassen rin neuem Blut erhalten werden könnten. Aber er sprach seine Ge¬
danken nicht aus, weil er wußte, daß sie den Freund nur ärgern würden.
In diesen: Augenblicke kehrte das junge Paar von seinein Gange durch den
Park zurück und trat durch das Thor in den Garten. Ihre Züge waren be-
< lebt durch den Austausch von Meinungen, in denen sie sich beide einander geistig
verwandt gefunden hatten, und als der Graf diese beiden schönen und vornehmen
Gestalten neben einander daherkommen sah, durchzuckte ihn das Gefühl, daß der
Plan seines Freundes, die Herrschaft Eichhausen zu retten, auf einen Wider¬
stand stoßen könne, der keine geringere Macht als Gott Amor selber zum Rück¬
halt haben würde.
Der Abend war vorgerückt und ein tiefer, bläulicher Schatten lag auf der
hohen Mauer und den starken Pfeilern mit ihrem dichten SchlinM'wachs, dunkel
blickte der Park durch das weite Thor herein. Als das jugendliche Paar er¬
schien und einen Augenblick stillstand, indem es die alten Herren erblickte, hob
es sich in der Thoröffnung wie auf einem Gemälde mit dunkelm Hintergrunde
ab. Dorothea sah unter dem Strohhute mit kirschroten Bändern auf dem
schwarzen Haar und in ihrem hellen Sommerkleide mit roten Schleifen hell und
lieblich aus, neben ihr stand Eberhardt ernst und männlich, und das blonde,
lockige Haar glänzte auf dem unbedeckten Haupte.
Nun, mein Herr Maler, rief der Baron, haben Sie genug alte Bäume
gesehen? Ich dächte, Sie müßten einigen Appetit bekommen, und ich will hoffen,
Dorothea, daß man uns den Tisch gedeckt hat.
Die kleine Gesellschaft trat in die Halle ein und schritt durch sie hindurch
in ein Gemach, welches durch einen Kronleuchter mit zahlreichen Wachskerzen
erleuchtet war. Es war ein hohes, dunkel getäfeltes Zimmer, an dessen Wänden
Stillleben niederländischer Schule hingen, Abbildungen solcher Gegenstände,
welche die Eßlust reizen, oder Darstellungen, welche den Ursprung der Tafel-
zierten anschaulich machen sollten: der Laden eines Wildhündlers, wo die bräun¬
lichen Leiber der Hirsche und Rehe mit dem glänzenden Gefieder jagdbaren
Geflügels kontrastirten, die Halle des südländischen Früchtehändlers mit ihren
Hügeln von saftigem Gemüse und schwellendem Obst, Tische, auf denen in zier¬
licher Anordnung Krüge und Gläser mit funkelndem Wein, rotglünzende Pfir¬
siche und Melonenschnitte sich präsentirten. Der in der Mitte des Zimmers
gedeckte Tisch aber schien gleichsam das Resultat der aus jenen Abbildungen
geschöpften Schlüsse zu sein und überbot an Reiz jene Darstellungen, Das
Silbergeschirr des Hauses Sextus, obwohl hier nur in einer bescheidnen Form,
der kleinen Abendtafel angemessen, auftretend, zeigte Reichtum und Geschmack,
das feine Porzellan, die geschliffenen Karaffen und Gläser waren von einer
geschickten Hand ans dem schimmernden Damasttuch geordnet, und die aufgesetzten
Speisen boten einen einladenden Anblick,
Dorothea nahm ihren Platz zwischen ihrem Vater und dem Grafen und
wies Eberhardt den Sitz ihr gegenüber an. Der Kellermeister nahm mit ge¬
wichtigen Ernst am Büffet Stellung, und ein gewandter Diner in der Livree
des Hauses trug die Schüsseln auf,
Eberhardt hatte für alle Einzelheiten, welche die Anordnung des Abend¬
essens betrafen, ein offnes Auge, denn er fühlte sich angenehm berührt von der
gediegenen Eleganz dieses Haushalts, und seine Künstlernatur fühlte sich wohl
in schöner Umgebung. Aber mehr als alle übrigen Erscheinungen fesselte ihn
sein Gegenüber, und es mochte wohl sein, daß es erst ein Abglanz von Dorv-
theens Schönheit war, der die übrigen Personen und Dinge des Schlosses ihm
erfreulich machte. Das helle Licht im Speisezimmer, welches Dorotheens Züge,
das belebte Spiel ihrer Bewegungen und den Ausdruck ihrer Augen vorteil¬
haft hob, schien den Eindruck des Spaziergangs im Park erst recht lebendig in
ihm zu machen und jeden einzelnen Schritt, jedes Wort des Gesprächs von
neuem in seiner Erinnerung hervorzurufen. Inmitten der allgemeinen Unter¬
haltung, die lebhaft und' ungezwungen war, da sie sich um solche Gegenstände
drehte, welche einen für alle gefälligen Gesprächsstoff bildeten, hörte er nur
den silberhellen Klang ihrer Stimme und wiederholte sich mit Hilfe dieses Tones
die Worte interessanteren Inhalts, die er vorhin von ihren Lippen gehört hatte.
Man sprach von den Eindrücken, welche Italien mache. Der Baron war mit
seiner Tochter zu derselben Zeit dort gewesen wie Eberhardt, und viele Punkte
waren ihnen gemeinsam bekannt. Auch der General hatte in frühern Jahren
einmal eine längere Reise durch die schöne Halbinsel gemacht und in Rom einen
Aufenthalt von mehreren Monaten genommen.
Für den deutschen Maler scheint das Studium Italiens ganz unerläßlich
zu sein, sagte er. Ich habe aber niemals den Grund davon recht einsehen
können. Es ist nur sogar oft so vorgekommen, als ob die individuelle Be¬
gabung des jungen Künstlers unter dem Einfluß der älteren Meister litte, da
deren Art als unbestreitbar mustergiltig angesehen wird. Können Sie mir er¬
klären, Herr Eschenburg, wie das zusammenhängt?
Ich muß gestehen, daß ich selbst Zweifel an der Nichtigkeit des Italien-
Dogmas hege, erwiederte Eberhardt, Ich hörte in München so allgemein und
mit solcher Entschiedenheit erklären, daß der Künstler nach Italien gehen müsse
wie auf eine hohe Schule der Malerei, daß ich auch die Reise machte. Ich
fürchte aber, daß sie bei mir nur geringen Erfolg gehabt hat, und ich neige zu
der Ansicht, daß die Notwendigkeit der italienischen Reise eine Tradition ist wie
eine andre, verehrt wegen ihres Alters. Wenn jemand ein tüchtiges Talent
nach Italien mitbringt, so können ihm die reichen Galerien der dortigen Pa¬
läste sehr lehrreich und die pittoresken Landschaften sehr anregend werden, wo
aber das Talent unbedeutend ist, wirkt auch Italien kein Wunder, Und in der
That kann es sich ereignen, daß ein junger Künstler in der unbedingten
Verehrung eines alten Meisters die Ausbildung der ihm eigentümlichen Rich¬
tung hintansetzt, um sklavisch eine fremde Eigenart zu kopiren, womit dann seine
Kunst am Ende ist.
Wir müssen Herrn Eschenburgs Mappe durchforschen, wenn der Künstler
es gestattet, sagte der General, zum Baron gewandt.
Wenn sich die Herrschaften den Anblick einiger dürftigen Skizzen gefallen
lassen wollen, sagte der Maler, welcher einen dankbaren Blick Dorotheens auf
den Geueral zu bemerken glaubte, so werde ich dieselben gern vorlegen. Es
mag das Interesse an den bekannten Gegenden der hiesigen Umgebung der mangel¬
haften künstlerischen Auffassung zu Hilfe kommen.
Der Baron äußerte, daß er schon lange den Wunsch gehegt habe, ein
Bild seines Schlosses zu besitzen, und es ward verabredet, der Maler solle am
folgenden Tage mit seiner Skizzenmappe wieder erscheinen.
Dann begab sich die Gesellschaft in den anstoßenden Salon, und Dorothea
setzte sich an den Flügel, um Lieder vorzutragen, welche sie selbst auf dem
Instrumente begleitete,
Ihre Stimme war schön und rein, eine klangvolle Sopranstimme, Sie sang
ein Lied von Schumann, und die edeln Empfindungen dieses Meisters der
Tonkunst gewannen eine» herrlichen Ausdruck durch der Sängerin innigen Vor¬
trag und bewegten Eberhardts Herz, Er saß in sich versunken in einer fernen
Fensternische und blickte zum sternbesäeten Nachthimmel hinauf, während die
Tonwellen erregend durch seine Seele zogen, Vergangenheit und Zukunft vergaß
er, diesen Tönen hingegeben, und sein Denken verschwamm ganz in die Empfin¬
dung des Schönen.
Als die Sängerin schwieg, weckte ihn des Barons Stimme aus seinem
Sinnen,
Dorothea meinte auf der Reise, sagte diese tiefe, etwas bärbeißige Stimme,
sie würde ihr bischen Musik aus Mangel an Übung ganz vergessen. Aber ich
finde, sie singt heute besser als je. Du hast heute eine ganz besondre Schneide,
mein Kind, sodaß selbst diese süßlichen Sachen ganz stramm klingen. Nun thust
du uns aber auch den Gefallen, meinen alten Regimentsmarsch zu spielen. Der
ist doch das beste, was je ein Komponist zustande gebracht hat.
Dorothea lächelte und erfüllte des Vaters Wunsch, dann aber mahnte die
späte Stande den General und Eberhardt zum Aufbruch. Der Baron wollte
anspannen lassen, um beide Herren nach Hause fahren zu lassen. Doch nur der
General nahm den Wagen an, Eberhardt zog den Heimweg zu Fuß vor, da
die Nacht hell genug sei, um die Wanderung angenehm zu machen.
Als er sich von Dorothea empfahl und ihr gute Nacht wünschte, war ihm
wunderlich zu Mute. Etwas zauberhaftes schien in der Luft zu liegen, die
Finger unsichtbarer Feen schienen heimliche Gewebe aus den Lichtstrahlen der
Kerzen zu weben, um die Herzen der Gäste zu umstricken. Er verneigte sich
vor ihr, während sie neben ihrem Flügel stand, und In diesem Augenblicke hatte
sie etwas unbeschreiblich Anmutiges. Von dem dunkeln, glatten Hvlzgetäfel des
Fußbodens und der Decke strahlten die gelblichen Lichter in einer Weise wieder,
als sei ihr Zweck nur der, die Gestalt Dorotheens zu einer ätherischen Erschei¬
nung zu machen. Sie stand in ihrem hellen Kleide mit leicht ineinander ge¬
schlungenen Händen und der schwarzen Haarkrone auf dem Haupte reizend da.
Während er ihre ihm dargebotene Hand ergriff, um sie an seine Lippen zu
führen, suchte sein Blick den ihrigen, und für eine Sekunde senkten sich ihre
Lider mit den langen, dunkeln Wimpern herab.
Gute Nacht, sagte sie leise.
Er fühlte eine kurze, selige Spanne Zeit lang die Spitzen ihrer kühlen
Finger an seinen Lippen, und in die schmerzliche Stimmung seiner Seele, die
seit der Trauernachricht gleich einem dunkeln Schleier alle seine Teilnahme am
wechselnden Leben umhüllte, fiel ein besänftigender Ton, ein Tropfen himmlischen
Balsams auf eine brennende Wunde.
Er schritt in tiefem Sinnen und in einer Art von Berauschung dahin und
durchmaß den Korridor und die Vorhalle des Schlosses fast ohne von seiner
Umgebung zu wissen. Als er den Saum des Waldes erreicht hatte, blieb er
stehen und blickte nach dem alten Schlosse zurück, welches jetzt düster und drohend
in seiner schwarzen Masse dalag. Nur ein einziger Heller Punkt strahlte aus
dem finstern Koloß hervor, und Eberhardt meinte aus der Lage schließen zu
können, daß es Dorotheens Fenster sei, auf dessen Altan er heute mit ihr ge¬
standen hatte.
Zu seiner Rechten sah er den schwarzen Spiegel des kleinen, stillen Ge¬
wässers, bei dem er am ersten Tage ihrer Bekanntschaft umgekehrt war. Ein
Heller Stern blickte aus dieser dunkeln Tiefe hervor.
Er wandte sich ab und tauchte in den Wald ein. Wenig um den Weg
bekümmert, kam er in eine Gegend, die ihm unbekannt war. Indem er dem
Laufe eines Baches nachging, der in engem Thale ihm murmelnd entgegenfloß,
wurden die Höhen zur Seite niedriger, und der Wald erhellte sich. Er trat in
eine Lichtung hinaus, aus welcher ihm lautes Brausen schon seit längerer Zeit
entgegengeschallt war, und sah sich vor einem Wasserfall, Über große Fels-
blöcke, welche eine Reihe von Kaskaden in einer Strecke von mehreren hundert
Schritten bildeten, ergoß sich hellglänzendes, schäumendes Wasser herab, und
gerade vor ihm blickte die Sichel des Mondes zwischen den Wipfeln einzeln
stehender knorriger Eichen herab und beleuchtete das stürzende, brausende Gewässer,
Der Anblick bot Eberhard: eine überraschende Ähnlichkeit mit einem Thale, das
er so oft durchwandert hatte, mit einem Seitenthale des Hudson. Hier waren
die niedrigen Hügel, welche in sanftem Schwunge rechts und links auseinander¬
traten, um den silberhellen, brausenden Bach hindurchzulassen, hier die hohen
Bäume mit ihren phantastisch zum Himmel ragenden Ästen, und ringsum in
weiterer Ferne der dichte, düstere Wald, welcher die Höhen bedeckte und das
engere Thal in einem weiteren eingebettet umschloß. Und jene helle Sichel selbst
am tiefblauen Himmel, sie war derselbe schwermütig blickende Planet, der im
Hudson sich spiegelte und dessen Rundgang er oft an jenem fernen Ufer wan¬
delnd mit seiner jugendlichen Bewunderung verfolgt hatte.
In der deutlichen Gegenwart dieser Natur, die ihm so bekannt erschien,
vollzog sich in seinem Innern ein Wechsel der Szenerie, sodaß er für einen
Augenblick glaubte, noch in jenem fernen Lande zu sein und sich fragen mußte,
ob hier oder dort die Wirklichkeit sei. Eine täuschende Macht verschob die An¬
haltepunkte seines Bewußtseins. Aber anch nachdem er sich besonnen hatte und
den schweifenden Sinnen wieder die Klarheit der Unterscheidung zurückgekehrt
war, blieb eine geliebte Gestalt, die Gestalt der Mutter, in hellstem Lichte vor
ihm stehen, als wandle er hier mit ihr zusammen, höre ihre Stimnie und sähe
den milden Blick ihrer blauen Augen.
Würdest du mir wohl zürnen, Mutter, fragte er in seinem Herzen, wenn
du mit verklärtem Blick herabsähest auf meine Schritte? O nein, ich glaube
dein freundliches Lächeln zu sehen, das meine Kindheit erhellte und mir stets
erschien wie ein tröstlicher Stern.
Er stand regungslos, auf seinen Stock gestützt, und sein Blick tauchte sich
in das unergründliche, dunkle Blau des nächtlichen Himmels. Und immer wieder
kam, wenn er sich dem ruhigen Fluß seiner Empfindungen überließ, ein zweites
Bild neben dem der Mütter in der Erinnerung hervor, und der mitfühlende Blick
schwarzer Augen strahlte ein besänftigendes Licht über den Widerstreit seiner
Gedanken ans. Die unausgesprochen Worte, welche er hente in Dorotheens
Antlitz gelesen hatte, erklangen mit einer unwiderstehlichen Beredsamkeit, und
als er seinen Stab weitersetzte und langsam mit gesenktem Haupte einbog in den
vom Laubdach der Eichen dem Mondlicht entzogenen Waldweg, da verbreitete
sich auf seinen Züge» immer mehr der Ausdruck eines friedlichen Nachdenkens,
(Fortsetzung folgt,)
Molivres Tartüffe, Geschichte und Kritik, Von Wilhelm Mangold, Oppeln, Franck.
Weit über zweihundert Jahre sind verstrichen, seit Molisre bei Gelegenheit jenes
„Zauberfestes" (?Ja.iÄrs cis enelnMtss), das sein königlicher Gönner in Ver¬
sailles 1664 dem staunenden Hofe gab, und das mehr der La Balliere als der
jungen Königin und der Königinmutter gegolten haben soll, sein neuestes Werk,
den Tartüffe, wiewohl noch unvollendet, aufführen durfte. Bis in unsre Zeit herein
aber flammt zuweilen der Streit, der über das Lustspiel bald nach jener ersten
Aufführung entbrannte, wieder auf, so noch 1877 in einer Schrift des Ultramontanen
Veuillot und einer Gegenschrift Lapommerayes; und der bei Lebzeiten des Dichters
gegen den Tartüffe geführte Kampf, über dem es erst 1667 zu einer öffentlichen
Aufführung des längst vollendeten Stückes und nur zu einer einzigen kam, und
der endlich 1669 durch die Freigabe desselben einen gewissen Abschluß fand, erregt
noch heute das Interesse der Literatur- und Geschichtsfreunde, Handelt es sich
doch um ein gewaltig ernstes Geisteswerk, das sich hinter der komischen Maske
birgt, um ein Lustspiel einzig in seiner Art, besonders (auch nach Goethes Meinung)
in der Exposition unübertrefflich.
Ein rühmlich bekannter Molisreforscher, Wilhelm Mangold, hat neuerlich diesem
Stücke eine Monographie gewidmet, welche gründliche Gelehrsamkeit mit ansprechender
Form vereinigt und — im wesentlichen auf den Ergebnissen der großen Despois-
Mesnardschen Ausgabe Molisres fußend — die Tartüffefrage für das deutsche Pu¬
blikum allseitig und gewiß in den meisten Punkten abschließend erörtert und darstellt.
Der Verfasser geht von der Betrachtung des Bildungsganges des Dichters und
der religiösen Verhältnisse seiner Zeit aus, behandelt eingehend Stoff, Entwurf
und Tendenz des Tartüffe, seine Geschichte, sowie seine dramatische Technik, und
läßt endlich eine ethische und ästhetische Kritik folgen. Aus den vielen interessanten
Einzelheiten des Buches heben wir nnr den Nachweis hervor, daß das Stück von
1664 in seinen drei Akten nicht die ganze Handlung in kürzerer Form enthalten
haben kann, sondern unvollendet gewesen sein muß, die Beleuchtung des Ver¬
hältnisses, in welchem der Tartüffe zum Don Juan steht, ferner den glücklichen
Versuch, die oft geschmähte Lösung des Knotens wo nicht zu rechtfertigen, so doch
zu erklären, sodaß nur der Borwurf auf Molisre hafte» bleibt, einen Hauptpunkt
(die Denunziation Orgons als Staatsverbrechers, die Tartüffe beim Könige anbringt,
und dnrch die er — unbedacht — sich notwendig selbst denunzirt) nicht genügend
in den Bordergrund gerückt zu haben. Besonders ansprechend ist uns die Analyse
der Charaktere und der Handlung erschienen, beachtenswert auch der Exkurs über
die Theorie des Lächerlichen. Wenn übrigens Mangold auch für den moralischen
Wert des Stückes mit voller Entschiedenheit in die Schranken tritt, so ist er doch
unbefangen genug einzuräumen, daß die Art, wie Molisre manche Ausdrücke ge¬
weihten Charakters (in der ersten Bearbeitung mehr noch als in dem spätern Texte)
anwendet oder nachahmt, einen gewissen Anstoß zu erregen geeignet ist. Mit bestem
Gewissen können wir jedenfalls die Freunde von Mvlisres Meisterwerk einladen,
sich von so kundigen Führer hinein in die Tiefen desselben geleiten zu lasse».
indes ist gewiß, als das Unvorhergesehene. Zu diesem franzö¬
sischen Sprichworte hat die vergangene Woche wieder einmal ein
überraschendes Beispiel geliefert. Sonnabend den 13. Januar
weihte der Prinz of Wales zu Woolwich das Denkmal ein,
welches dort vor der Militärakademie dem Andenken des im
letzten Kaffernkriege gefallenen Sohnes Napoleons III. errichtet worden war.
Der Teilnehmer an der Feier hatten sich viele eingefunden, aber sie trug kein
politisches Gepräge. Der Imperialismus schien schon seit Jahren begraben.
Mit dem frühzeitigen Tode des kaiserlichen Prinzen hatte, so durfte man an¬
nehmen, der letzte Teil der Napoleonischen Trilogie ausgespielt, die mit dem
Tage begann, wo der Korse Napoleon sein Patent als Unterleutnant im Re-
gimente von La Mre erhielt. Es war eine großartige Dramengruppe gewesen,
voll gewaltiger Kämpfe, Siege und Niederlagen, voll unerhörten Aufsteigens und
Sinkens, voll hellsten Glanzes und tiefster Dunkelheit in raschem Wechsel. Wie
man den ersten Cäsar, den römischen, den großen Friedensstörer Roms genannt
hat, so war Napoleon I. sein Abbild, der große Friedensstörer Europas. Er
war es sogar über sein Grab auf Se. Helena hinaus, in der Partei und in
der Legende, die er hinterlassen, und er blieb es auch dann noch, als Ludwig
Philipp seine Asche aus dem einsamen Weidenthale bei Longwood abgeholt und
in der Prachtgruft mit den zwölf riesigen Siegesgöttinnen Pradiers im Pa¬
riser Jnvalidendome bestattet hatte. Der unruhige Geist des kriegsgewaltigeu
Friedensstörers war mit dieser Feier nur neu belebt und ging von neuem durch
die Welt. Seine Legende fand in Thiers ihren wirkungsvollen Geschichtschreiber.
Der graue Rock von Marengo und der Degen von Austerlitz spielten ihre Rolle
vor den Franzosen fort. Ludwig Bonaparte begann mit lächerlichen Demo»-
strationen und wurde trotzdem im Laufe der Zeit Kaiser Napoleon III. und bald der
einflußreichste Herrscher seiner Tage. Er sank und fiel zuletzt und starb in der
Verbannung, Aber der Glanz des Sterns der napoleoniden war durch Sedan
nur verdunkelt, nicht erloschen. Über der Gruft von Chiselhurst schien er fort,
umgeben von neuen Hoffnungen, neuen ehrgeizigen Bestrebungen und neuen
Intriguen. Sie schienen verweht in alle Winde, als das Grabgewölbe der
kleinen katholische» Kapelle in jener stillen kentischen Stadt sich wieder öffnete,
um die Gebeine seines Sohnes aufzunehmen, und die Statue, die am 13. Januar
zu Woolwich enthüllt wurde, hätte, so konnte man meinen, auf ihrem Fußgestell
die Inschrift tragen können, daß die Trilogie in der That nun ausgespielt habe.
Es war eine Täuschung, aber eine verzeihliche. Es sollte noch ein Nach¬
spiel geben, aber dasselbe hatte einen sast komischen Anstrich. Am 16. Januar
fand sich Paris mit einem Manifeste des Prinzen Napoleon überrascht, das,
an die Straßenecken angeschlagen und zu gleicher Zeit im „Figaro" abgedruckt,
eine heftige Anklage gegen die Republik enthielt und sich wie eine Art Vor¬
schatten des herannahenden Kaiserreiches geberdete. Offenbar durch den Tod
Gambettas angeregt und von dem Wunsche beseelt, dem „Roh" in Frohsdorf
zuvorzukommen, dessen Anhänger sich in den letzten Tagen gleichfalls neu er¬
mutigt gerührt hatten, trat der „rote Prinz" darin ganz ausdrücklich als Erbe
des Kaiserthrones und mit der einfachen Unterschrift „Napoleon" als bereits
Kaiser von Rechts wegen auf, und zugleich verkündete er mit energischen Worten
das Evangelium des allein entscheidenden und Frankreich allein seligmachenden
Plebiscits, der Grundlage des napoleonischen Cäsarismus.
Es war ein Ereignis. Zunächst wurden sehr verschiedne Urteile darüber
laut. Die einen fanden die Sache ganz in der Ordnung, andre, zahlreicher,
nannten sie einen großen Mißgriff, wieder andern erschien sie geradezu abgeschmackt.
Man erörterte das Manifest noch, als der ersten Überraschung eine zweite auf
dem Fuße folgte: der Prinz sah sich, von einer Morgenspazierfahrt in seine
Wohnung zurückgekehrt, auf Befehl der Regierung von dem Polizeikommissar
Element empfangen, der ihn schon 18?2 unter Thiers verhaftet hatte, und der
ihm jetzt ankündigte, er sei beauftragt, ihn „wegen einer Handlung, die auf Umsturz
der Regierungsform abziele," vor Gericht zu bringen. Bald nachher erschien
der Staatsanwalt, und nach kurzem Verhöre und einer erfolglosen Haussuchung
führte eine Droschke den Gefangenen nach der Conciergerie ab. In der Depu-
tirtenkammer gab das Manifest und die Verhaftung seines Urhebers Anlaß zu
heftigen Szenen. Die Bonapartisten erhoben gegen die letztere als eine Ge-
setzesverletzung ungestümen Einspruch, wofür ihr erster Wortführer d'Ornanv
zur Ordnung gerufen wurde. Sie machten geltend, daß jeder Franzose das
Recht habe, sich mit einer Ansprache an seine Mitbürger zu wenden, und daß
das Manifest nicht gegen den Staat, sondern nur gegen die Republik gerichtet
sei. Der Minister der Justiz erklärte, die volle Verantwortlichkeit für das Ver-
sichren des Staatsanwalts zu übernehmen und leugnete den Unterschied zwischen
Republik und Staat. Zuletzt sprach der Abgeordnete Floquet sein Einver¬
ständnis hiermit aus, behauptete, die Republik dürfe sich die jetzt täglich laut-
werdmdeu Ansprüche der ihr feindlichen Parteien nicht mehr ruhig gefallen
lassen, und schloß mit dem Antrage auf Erlaß eines Gesetzes mit folgendem
Wortlaut: „1. Der Aufenthalt im Gebiete Frankreichs, Algeriens und der
Kolonien ist den Mitgliedern der Familien, welche in Frankreich regiert haben,
untersagt. 2. Die im vorhergehenden Paragraphen erwähnten Personen können
in Frankreich keine politischen Rechte besitzen." Die von dem Antragsteller be¬
fürwortete Dringlichkeit dieses Vorschlages wurde trotz starker Proteste der Bona¬
partisten mit großer Majorität, 328 gegen 112 Stimmen, von der Kammer
angenommen und der Antrag einem Ausschusse überwiesen.
Dies die Thatsachen. Bevor wir unsre Meinung darüber abgeben, hören
wir zunächst die öffentliche Meinung Frankreichs, wie sie sich in einer Anzahl
von Organen der Presse ausspricht. Ihre Urteile lauten sehr' verschieden. Das
republikanische „Paris" sagt: „Die Republikaner von 1883 sollten nicht vergessen,
wie grotesk die ersten öffentlichen Kundgebungen desjenigen waren, der sich bald
Napoleon III. nennen sollte. Wenn wir nicht rasch aufhören, uns unter
einander zu streiten und zu schelten, so werden wir der großen Masse in die
Hände arbeiten, die, ohne Partei, ohne Glauben und Verbindungen, allezeit
bereit ist, zu passender Stunde eine Reaktion und den Umsturz der Verfassung
zu begünstige». Wenn unsre Freunde dies begreifen, so wird Herr Jerome
Bonaparte zum erstenmale in seinem Leben seinem Vaterlande einen Dienst er¬
wiesen haben. Aber um des Himmels willen, das Ministerium darf sich nicht
verpflichtet fühlen, ihn zu verbannen, sondern muß sorgen, daß er in Paris
bleibt." Auf der andern Seite ruft die „France" aus: „Die Regierung, die
immer über anarchistische Verschwörungen Wache hält, muß dieser auf die Finger
sehen. Die Massen werden zum Aufstande gegen die Republik aufgestachelt,
und der Prätendent geberdet sich als Kaiser. Man stecke ihn sofort ein, und
die Republik zeige ihm, was sie von seinen angeblichen aus dem Plebiscit
hervorgehenden Rechten hält." Der orleanistische „Soleil" sagt: „Wir sind zu
den schlimmsten Tagen des Konvents zurückgekehrt, zu den Ausschreitungen und
Verbrechen, die zum 18. Brumaire führten. Glaubt man, daß das konservative,
liberale und katholische Frankreich sich von einer Demokratie terrorisiren lassen
wird, die vor Furcht den Verstand verloren hat? Gewiß nicht." Im „Figaro"
bemerkt Magnard: „Das Manifest des Prinzen Napoleon hat die Republikaner
buchstäblich toll gemacht. Seine Verhaftung, wobei man ihn behandelte, als
ob er jemand die Uhr gestohlen hätte, zeigt, daß sie von Sinnen sind." Der
„Rappel" sagt: „Da beantragt Herr Flvqnet die Austreibung aller Prinzen,
und die Kammer votirt für Dringlichkeit. Wir hoffen zuversichtlich, daß sie
das nur gethan hat, um rascher den abgeschmackten Vorschlag verwerfen zu
können." Das „Parlament," gleichfalls ein republikanisches Blatt, äußert, die
Sache sei nicht geeignet, ängstlich zu stimmen, wohl aber, nachdenklich und zu
veränderter Politik bereit. Die „Patrie" schreibt: „Republikaner, ihr habt
eine willkürliche und ungesetzliche Verhaftung vollzogen. Das Manifest des
Prinzen enthält auch nicht den Schatten eines Versuches gegen die Sicherheit
des Staates, und wenn ihr bei eurer Verfolgung beharrt, so werdet ihr euch
lächerlich machen. Das wißt ihr auch ganz wohl. Indem ihr den Prinzen
verfolgtet, dientet ihr seiner Sache. Ihr habt ihm seine Festung Ham geschaffen.
Ihr habt gestern vielen das Wort Kaiser auf die Lippen gebracht. Prinz Na¬
poleon ist in seinem Manifest als Prätendent aufgetreten, und ihr Republikaner
habt durch eure Verfolgung, eure Debatte in der Kammer und eure Abstimmung
diese seine Stellung als Prätendent anerkannt und geweiht." Cassagnac endlich
im „Pays" greift den Prinzen an, weil er nicht mit Gewaltschritten vorgegangen
ist. Er schreibt: „Ein wirkliches Manifest hat kein Recht, so platonisch zu sein.
Wenn jemand denkt, daß das Land unter einer monströsen Regierung leide,
und daß er als dessen Retter auftreten müsse, so hat er etwas andres zu thun
als mit Druckerschwärze zu hantiren. Er thut, was General Mallet that, er
versucht mit einigen ergebenen Leuten die Regierung zu stürzen. Er riskirt es,
erschossen oder auf Lebenszeit in die Festung Ham eingeschlossen zu werden...
Wollen Ew. Hoheit mir wohl sagen, was Sie zu thun bereit sind? Was für
eine materielle Organisation ist geschaffen worden, auf welche Regimenter können
wir uns verlassen, und welche Generale haben sich Ihnen angeschlossen? . ..
Mit einem Worte, man hat zwei dumme Streiche begangen: der Prinz wird
seinen Schritt bitter bereuen, denn er dachte ihn ungestraft zu thun, und die
Regierung ist in Verlegenheit wegen seiner Verhaftung."
Fragen wir nun, was den Prinzen Napoleon bewogen haben kann, gerade
jetzt gegen die Republik aufzutreten, so ist schon angedeutet worden, daß er,
ähnlich wie die Legitimsten, von der Meinung ausgegangen sein muß, daß
dieselbe mit Gambettas Tode allen Halt verloren habe. Das ist aber, wo
nicht ein grober Irrtum, so doch eine arge Übertreibung, wie die Behauptungen
der ersten Sätze seines Mauifests, von denen nur soviel wahr ist, daß die
Republik und ihr Parlamentarismus sich uach außen hin ziemlich schwach und
im Innern wenig fruchtbar erwiesen haben. Vielleicht verbreitet sich diese
Erkenntnis in nicht sehr langer Zeit über größere Kreise, und vielleicht gelingt
es dann einem populären und energischen Politiker, an die Stelle der jetzigen
Regierungsform eine andre zu setzen. Gegenwärtig steht es noch nicht so
schlimm mit der Existenzfähigkeit der französischen Republik, und dem Prinzen
Napoleon wird es voraussichtlich niemals beschieden sein, die Rolle dessen zu
spielen, der ihr das Lebenslicht ausbläst. Er hat niemals viele Anhänger
gehabt. Wahrend des Kaiserreichs fand er zuweilen einigen Beifall, wenn er
als Führer der dynastischen Opposition sprach, aber immer hegte man dabei
Bedenken und Mißtrauen gegen ihn. Weder die Mittelklasse noch die Arbeiter
setzten Vertrauen in seinen Charakter, und am wenigsten hielt man in der
Armee von ihm. Mag sein jetziger Angriff auf die Republik manchen nicht
unwillkommen gewesen sein, so hat sich doch gewiß nur das kleine Hänflein seiner
persönlichen Freunde jemals träumen lassen, von ihm die Rettung Frankreichs
aus seiner dermaligen unerfreulichen Lage zu erwarte». Damit soll keineswegs
behauptet werden, es mangle ihm an Fähigkeiten. Im Gegenteil, er besitzt
mehrere von den Eigenschaften, die Napoleon I. zu Erfolgen führten,
einen klaren Kopf, ein kühles Herz, die Mischung demokratischer Grundsätze
mit despotischen Zielen; aber es gebricht ihm an allen militärischen Eigen¬
schaften, selbst an der niedrigsten, an persönlichem Mute, und ebenso sehr fehlte
es ihm, nach allen den Manövern zu urteilen, mit denen er seine Zwecke
verfolgte, an dem, was wir politische Ehrlichkeit nennen. Immer zeigte er
während des zweiten Kaiserreichs ein doppeltes Gesicht, Er nahm von seinem
Vetter hohen Rang und reiches Einkommen an, trat aber bei Hofe und vor
dem Publikum als Radikaler in weltlichen und geistlichen Fragen auf, als eine
Art Egalitö, der im Hinblick auf die Möglichkeit, daß der Geist der Revolution
doch einmal die Oberhand gewinnen könne, sich den Rücken deckte und sür die
Zukunft empfahl. Als das Kaiserreich fiel, zog er den Imperialisten ganz aus,
und als Napoleon III. gestorben war, weigerte er sich wiederholt, dessen
Sohn als Erben seines Rechts anzuerkennen, zweifelsohne, weil er sich der
Hoffnung hingab, einmal Präsident der roten Republik werden zu können. Er
hatte damals das Suceessionsrecht, das er jetzt in seinem Manifest betont,
gänzlich vergessen; denn der wirkliche Erbe hatte wenig Aussichten, und er selbst
als Nächstberechtigter noch weniger. Die Assagaye eines Zulnkasfern änderte
dies, er wurde Erbe der Kaiserkrone und der regelmäßige dynastische Chef einer
zwar nicht sehr zahlreichen, aber festzusammenhaltenden und wohlorganisirten
Partei, Aber jetzt kamen ihm, wie man zu sage» pflegt, seine alten Sünden
zu Haus und zu Hofe. Er hatte seinem Vorgänger das Recht abgesprochen,
das ihm selbst jetzt zufiel, er hatte es überhaupt geleugnet und konnte es so¬
mit nicht für sich geltend machen. Er hatte die Kirche beleidigt, mit welcher
die Napoleons verbündet gewesen waren. Er hatte den Noten gespielt, ohne die
Noten für sich zu gewinne», wohl aber die Mittelklasse scheu vor seinen Ab¬
sichten gemacht. Er hatte mit all seiner Klugheit nirgends Dank, überall dagegen
gerechten Argwohn geerntet. Als unehrlicher Demokrat, als' von der imperia¬
listischen Partei abgefallen, als grundsatzloser Politiker war er für die in der
Zukunft schwebende Kaiserkrone so ungeeignet wie einst sein Vorbild Egalits,
wenn ihn die Guillotine verschont hätte, zum Erben der Königskrone ungeeignet
gewesen sein würde, deren Träger er aufs Schaffst hatte schicken helfen.
Sein jetziges Manifest kann mit all seinen schönen Worten seine Vergangenheit
nicht auslöschen.
Zu dem Mißtrauen aber, mit dem ihn alle Parteien betrachten, kommt
noch, daß er einen Namen trägt, der jetzt keine Empfehlung mehr ist. Früher
standen auf der Fahne der napoleoniden Marengo, Austerlitz und Jena, jetzt
stehen dahinter Metz und sedem. Dieses Symbol bedeutet nicht mehr die
Besiegung von halb Europa, sondern die Verkleinerung Frankreichs um zwei
Provinzen. Der Name Napoleon erinnert an den Abfluß von fünf Milliarden
Franken aus dem französischen Vermögen, an eine gewaltige Vermehrung der
Staatsschuld »ut an schwere Besteuerung jedes einzelnen. Wenn Prinz Jerome
der Republik ihre Sünden vorrückt, so erheben sich in jedermanns Gedächtnis
die schwerern Sünden des Kaiserreichs wie grimme Schatten.
So erscheint es unbegreiflich, wie der Prinz auf den Gedanken gekommen
ist, die Franzosen würden auf seine Anregung hin einen allgemeinen Umsturz
der jetzt bestehenden staatlichen Einrichtungen vornehmen. Er konnte kaum
hoffe», daß sie auch nur auf seinen Rat hören würden. Sehen wir uns aber
sein Manifest näher an, so begegne» wir einem Kvthurnstile, der uns wenig
behagt, kurzen Sätzen, die doch den Kopf hoch tragen, als ob sie gewichtige
Wahrheiten wären, während sie nnr pathetische Übertreibungen sind. Sie
klingen wie Echos aus der Zeit des großen Napoleon, sind aber kaum geschäfts¬
mäßig zu nennen. Jener bediente sich der Worte, wie er sich der Armeen
bediente, er appcllirte nicht an die öffentliche Meinung, sondern lief Sturm gegen
sie, er trieb niemals Kritik und gab niemals große Versprechen, ohne hinter
ihnen große Truppenmassen Hermarschiren zu lassen. Wo aber sind die Ba¬
taillone seines Epigonen?
Und worauf läuft denn am Ende dieser Ausbruch ausgeklügelter Heftigkeit
hinaus? Praktisch ist es eine Erklärung über zwei Punkte, deren erster sein
Erbrecht in Betreff des kaiserlichen Szepters betrifft. Er begründet seinen
Anspruch auf den Umstand, daß er der älteste lebende Sohn Jeromes, des
Bruders Napoleons, ist, und auf acht Plebiscits, deren erstes 1800 und deren
letztes 1870 stattfand, und er hat ganz recht, wenn er behauptet, das Volk
habe dabei, aufgefordert, seinen Willen mit Ja oder Nein kundzugeben, mit
großer Stimmenmehrheit und Emphase Ja gesagt. Indeß kennt man ja die
Geschichte dieser Berufungen an das Volk und weiß zur Genüge, daß kaum
jemals eine andre Antwort erfolgen konnte, da die Berufenden die Zügel der
Gewalt in der Hand hielten und eine unwiderstehliche Streitmacht zur Unter¬
drückung der Folgen eines Nein zur Verfügung hatten.
Der andre Punkt wird schlauer behandelt. Niemand konnte den Prinzen
in dem Verdachte haben, in Sachen der Religion und Kirche allzu ängstlich zu sein.
Aber der erste Napoleon hatte es vorteilhaft gefunden, als Gönner und Be¬
schützer der Kirche zu gelten, und so thut es sein Verwandter ihm nach, indem
er versichert, daß die Religion von Gottesleugnern verfolgt werde, daß der
Staat ihr keinen Schutz gewähre, und daß nur in getreuer Beobachtung der
Bestimmungen des Konkordats das Heil zu finden sei. Hier kann der Prinz
auf Beifall bei einem großen Teile der Franzosen rechnen; denn die in letzter
Zeit von der Regierung adoptirte Politik hat sehr viele vor den Kopf gestoßen
und in ihren Gefühlen verletzt. Ein weiterer Zug des Manifestes ist ein stark
markirtes Hinneigen zu sozialistischen Grundgedanken/ das ans den Beifall der
Roten berechnet ist. Im übrigen ist das Netz, mit welchem Anhänger eingefangen
werden sollen, ziemlich weit ausgebreitet. Der Prinz sagt „seinen Mitbürgern,"
daß Frankreich „sich verzehrt," daß es keine Regierung hat, daß es mit den
Finanzen übel bestellt, daß die Verwaltung diskreditirt ist, daß die richterlichen
Behörden das Verständnis für ihre Aufgabe verloren haben. Die auswärtige
Politik läßt die Schwachen im Stiche, sie hat in Tunis Spekulanten gedient,
und sie ist in Ägypten thöricht und feig Verfahren. Der Fehler liegt (eine durch¬
aus richtige Bemerkung) an den parlamentarischen Einrichtungen, das Heilmittel
in der Wahl eines obersten Beamten durch das Volk. Hinter dem Ganzen
steht, dünn verhüllt durch die Behauptung, daß Prinz Jerome eine bestimmte
Sache und ein Prinzip vertrete, das Verlangen nach persönlicher Beförderung.
Kurz, das Manifest ist nur ein neues Glied in der langen Reihe demagogischer
Adressen an das Volk, mit welcher die Bonapartes seit dem Anfange dieses Jahr¬
hunderts sich bei den Franzosen zu insinuiren versucht haben.
Die französische Republik hat bis jetzt das Glück gehabt, nur ohnmächtige
und wenig geschickte Gegner zu haben. Das gilt wie vom Prinzen Jerome
so auch voni Grafen Chambord, der sich gute Aussichten mit starrköpfigen Fest¬
halten an der weißen Fahne verdarb, und vom Grafen von Paris, der jenem
seine Ansprüche opferte und nun mit ihm steht und fällt. Aber dieses Glück
hat auch seine Schattenseite gehabt, es hat die Republikaner uneinig gemacht.
Nicht ernstlich bedroht durch Prätendenten, befehdeten sich die verschiednen Frak¬
tionen der Partei. Sie konnten sichs unter den obwaltenden Umständen ja
gestatten, es gab in der Kammer kein Gegengewicht, wie es eine starke Oppo¬
sition bildet. Infolge dessen vergaß man republikanischerscits nicht bloß die
Pflicht des Zusammenhaltens, sondern auch die der Mäßigung in den Zielen.
Sozialisten, extreme Kirchenfeinde, Verfechter unausführbarer Theorien, Leute,
die kein stehendes Heer und keinen permanent eingesetzten Richterstand wollten,
sahen eine vortreffliche Gelegenheit vor sich, ihre Ansichten zu verwirklichen.
Hütte es eine starke Opposition gegen die Republik gegeben, wäre ein Prätendent
mit guten Aussichten vorhanden gewesen, so würde man verpflichtet gewesen
sein, sich maßvoll und vorsichtig zu verhalten. Man würde dann nicht ohne
Not die religiösen Gefühle eines großen Teiles des Volkes verletzt haben, man
würde uach außen hin fest und würdig aufgetreten sein, man würde die Ge¬
rechtigkeitspflege, das Eigentum und die persönlichen Rechte mehr geachtet haben.
Wäre Prinz Jerome imstande, einen Aufstand hervorzurufen oder auch nur
länger Aufsehen zu machen, so würde sein jetziger pcipieruer Staatsstreich der
Republik den Dienst erweisen, auf diese Unterlassungssünden aufmerksam zu
machen. So wie die Dinge stehen, wird er nur die moralische Ohnmacht des
Prinzen in grelleres Licht stellen.
Damit aber richtet sich auch das Verfahren der Regierung gegen ihn vom
politischen Standpunkte. Die Schwäche der napoleonischen Sache würde sicherlich
noch deutlicher und überzeugender hervorgetreten sein, wenn die Minister des
Präsidenten Grevy das Manifest vom 16. Januar mit schweigender Gering¬
schätzung behandelt hätten. Wenn irgend etwas den Prinzen aus der Vereinsamung
und Unbeliebtheit heraushelfen konnte, in welcher er die Jahre daher lebte, so
war es seine Verhaftung und der Prozeß, der ihr folgen wird, und bei dem
überdies das sehr liberale Preßgesetz der Republikaner jüngsten Datums eine
Freisprechung wahrscheinlich macht. Käme es aber anders, so erinnere man
sich, daß die Haft, die Ludwig Napoleon in Ham verbüßte, sehr viel dazu bei¬
getragen hat, ihm im Gedächtnis der Franzosen eine feste Stätte zu bereiten.
Ein Prätendent, dem man gestattet, zu sagen und zu schreiben, was ihm beliebt,
und mit seiner Papierkrone auf dem Kopfe durch die Straßen von Paris zu
stolziren, würde eine vortreffliche Gegenproklamcitivn gegen alle Behauptungen
von der Schwäche der Republik gewesen sein. Hätte man Plon-Plon in Ruhe
gelassen, so wäre sein Manifest schwerlich zu einiger Bedeutung gelangt, so
würde es keine Werkstatt und keine Fabrik in Aufregung versetzt haben und
noch viel weniger in einer Kaserne gelesen und beachtet worden sein. Es wäre
das totgeborne Kind geblieben, das es von Anfang an war.
an pflegt uns Deutschen nachzusagen, daß wir, bei vielfältigen un¬
bestrittenen Vorzügen, doch im ganzen keine sonderlich liebens¬
würdige Nation seien. Das hört sich nicht eben lieblich an, und
jeder sucht gern nach Argumenten, um sich so strengen Urteils zu
erwehren, sei es, daß er sich mit der Überzeugung durchdringt, daß
wir nur nicht genügend gekannt seien, oder daß er sich einredet, das Urteil sei
wohl überhaupt so schlimm nicht gemeint. In einem Punkte aber wird der
Satz von der spezifisch minderen Liebenswürdigkeit der Deutschen, fürchte ich,
schwer zu widerlegen sein. Wissenschaftliche und literarische Kritik ist an sich
ein Geschäft, bei dem es, im mannhaften Kampfe für die Wahrheit, gewiß durch¬
aus nicht in erster Reihe auf Liebenswürdigkeit ankommt; indeß kann sie doch
mit größerer oder geringerer Urbanität betrieben werden. Der deutschen kritischen
Muse aber ist es von jeher eigen gewesen, daß sie sich gern mit dem mindern
und mindesten Maße begnügte. Zu Zeiten ist das sicher wohl angebracht; auch
gilt das robusteste kritische Auftreten ja natürlich als die rechtfertigende Kehr¬
seite von deutscher Gründlichkeit und fester wissenschaftlicher Überzeugungstrene;
aber die Medaille wäre auch ohne jenen Revers schön und vielleicht noch schöner.
Ich weiß nicht, ob es in Frankreich oder England geschehen könnte, daß
ein hervorragendes nationales Geschichtswerk von ähnlicher Bedeutung wie der
jetzt erschienene zweite Band von Treitschkes „Deutscher Geschichte im neunzehnten
Jahrhundert"*) einen so unglimpflichen Empfang in der Presse erführe, wie er
diesem Buche sofort nach seinem Erscheinen widerfahren ist. Der Verfasser ist
ein Mann, dessen Name in unauflöslicher ehrenvoller Verbindung steht mit der
Geschichte aller unsrer deutschen Kämpfe seit nun fast zwanzig Jahren, der auf
die Bildung und Klärung des politischen Urteils fast in allen großen Fragen
unsrer neuesten nationalen Entwicklung größeren Einfluß geübt hat als viel¬
leicht irgend ein andrer, welchem die Macht des gesprochenen und geschriebenen
Wortes zur Verfügung stand, ein Patriot von unbezweifelter Reinheit und Hoheit
der Gesinnung, ein Schriftsteller von glänzender und vielseitiger Begabung, der
seit Jahren der neueren deutschen Geschichte eindringende historische Studien
zugewandt hat und die Darstellung dieser Geschichte als sein eigentliches Lebens¬
werk betrachtet. Der mit Spannung erwartete Band erscheint, in welchem die
grundlegende Zeit von 1816 bis 1819 behandelt wird, eine Arbeit von breiter
und großer Anlage, von reicher Detailansführung, mit hinreißender Beredsam¬
keit geschrieben, mit all den Vorzügen ausgestattet, die man erwarten durfte,
natürlich auch mit gewissen Anlässen zu Zweifel und Widerspruch, die jedermann
ebenfalls voraussehen konnte, der von den historisch-politischen Grundanschauungen
und von dem politischen Temperament des Verfassers eine Vorstellung besaß.
Alles in allem eine Leistung, welche, auch wenn sie nicht in allen Kreisen oder
nicht in allen ihren Teilen Sympathie und Zustimmung finden mochte, doch
jedenfalls den Anspruch erheben durfte, daß man sie vor dem Publikum, an
welches sie sich richtete, zu Worte kommen ließ. Dieses Minimum von littera¬
rischer Höflichkeit, oder richtiger Billigkeit, ist dem Buche Treitschkes nicht zu
Teil geworden. Kaum vierzehn Tage nach seinem Erscheinen — von den nächst-
interessirten Kreisen abgesehen hatten gewiß nur uoch wenige Leser den über
sechshundert Seiten starken Band zu Ende gebracht — beeilte sich Professor
Baumgarten in Straßburg, dem deutschen Publikum die fertigen Resultate seiner
Lektüre vorzulegen und in einer Reihe von Artikeln der „Allgemeinen Zeitung"
(6., 9. und 12. Dezember) eine Art von öffentlicher Hinrichtung an dem Buche
zu vollziehen oder wenigstens zu versuchen. Denn wenn es auch an partiellen
Lobsprüchen nicht fehlte, deren Zubilligung zuletzt auch wieder mit einem Frage¬
zeichen versehen wird, so resumirt sich doch das Gesamturteil des Kritikers
dahin, daß „die ersten und wesentlichsten Eigenschaften jedes Historikers hier in
ungewöhnlichem Maße fehlen." Das Publikum der verbreitetsten deutscheu
Zeitung wurde also davon benachrichtigt, daß das Buch, welches zu lesen es sich
anschickte, nicht das Werk eines wirklichen und ernsthaften Historikers sei.
Ich erinnere mich keines Falles, wo einem historischen Werke von einiger Bedeu¬
tung gegenüber die Kritik die Aufgabe, dasselbe bei dem Publikum summarisch zu
diskreditiren, mit so dringlicher Hast ergriffen hätte, wie es hier geschehen. Gewöhn¬
lich läßt man doch den Autor ausreden, das heißt in diescmFalle, man läßt dem
Publikum Zeit, von dem zu kritisirenden Objekte zunächst in unbefangener Weise
Kenntnis zu nehmen. Das gewiß verderbliche Buch Janssens ist in dieser Hin¬
sicht glimpflicher behandelt worden. Die Eile, womit der harte kritische Urteils¬
spruch gegen Treitschke verkündigt wurde, nötigt zur Auswerfung der Frage, ob
hier denn wirklich Gefahr im Verzüge war, ob wirklich eine Veranlassung vor¬
lag, ehe noch das Buch selbst seine Wirkung thun und sich vielleicht den Bei¬
fall argloser Leser gewinnen konnte, die öffentliche Meinung so peremtorisch zu
prüoccupiren und ihr ein Gegengift wider verderbliche Wirkungen einzuflößen.
Denn nicht ein obskurer Feuilletonist, auch nicht einer von den Mitarbeitern
der „Historisch-politischen Blätter" war es, der hier so laut seine Stimme er¬
hob, sondern ein hvchangcsehener Gelehrter von bestem Namen, ein Mann, der
in politischer Beziehung bisher im großen und ganzen als ein Gesinnungs- und
Parteigenosse des Angegriffenen gegolten hatte und der sich nun in so brüsker
Weise von ihm lossagte. Ein Angriff, von solcher Seite kommend und mit so
feindseliger Schärfe auftretend, konnte natürlich eine gewisse Wirkung nicht ver¬
fehlen, schon durch sein Erscheine», ganz abgesehen von der Begründung. Zu¬
nächst aber scheint es, als ob man in der Presse hiermit die Sache als abge¬
than betrachtete. Eine schneidige und in allen Hauptpunkten wohlbegründete
Erwiederung Treitschkes in den „Preußischen Jahrbüchern" rief einen neuen
Aufsatz Baumgartens in der „Allgemeinen Zeitung" (6. Januar) hervor; in der
Weserzeitung trat or. Bulle mit einigen Artikeln sekundirend an des letztern
Seite; bis zur Stunde, wo ich diese Zeilen schreibe, hat, so viel ich sehe, das
Trcitschkcsche Buch außer einem wohlwollenden und verständigen Feuilletvn-
artikel in der Berliner „Post," welcher sich an die allgemeinen Eindrücke hielt,
keine weitern Besprechungen erfahren; man hat von den Angriffen Baumgartens
hie und da Notiz genommen, mehr oder minder schadenfroh vielleicht, auch
wohl ohne die Erwiederung Treitschkes zu erwähnen; im übrigen tiefes Still¬
schweigen, wie auf Kommando oder Verabredung — kurz , so will es scheinen,
der Straßburger Zensor hat sein Wort gesprochen, die öffentliche Meinung hat
ihre Direktion erhalten, und die Angelegenheit ist erledigt.
Ich bekenne, daß ich dieser kurz angebundenen Erledigung nicht beipflichten
kann, und indem ich es übernommen habe, den Lesern dieser Zeitschrift von dem
Erscheinen des Buches Kunde zu geben, kann ich den Ausdruck des Bedauerns
nicht zurückhalten über das oben bezeichnete kritische Verfahren, welches ich un¬
billig und nur zum kleinsten Teile gerechtfertigt finde.
Es hat gewiß jedermann das formelle Recht, seine Meinung über ein Buch
zu sagen, welches mit seinem Erscheinen sich der öffentlichen Beurteilung dar¬
bietet. Für ein so hastiges Vordrängen mit einem (für einen großen Teil des
Buches wenigstens) summarisch verwerfenden Urteil indeß wird man besonders
augenfällige und zwingende Gründe vorzuführen haben, welche ein solches Auf¬
treten rechtfertigen oder vielleicht gar zur Pflicht machen. Diese Gründe können
entweder gegeben sein in der vollständigen Nichtigkeit einer Leistung, welche so
schnell als möglich bei Seite geworfen werden soll, oder in irgend einer Art
von Gemeinschädlichkcit, deren Wirkungen man schleunigst vorbeugen zu müssen
glaubt. In der That hat sich auch Baumgarten dieser Anforderung nicht ent¬
zogen, sondern in einer Reihe von Spezialansführungen nachzuweisen unter¬
nommen, daß Treitschkes Forschung ungenügend sei, daß er, verleitet von seiner
nltrapreußischen Einseitigkeit, eine Reihe von Sünden gegen die historische Ge¬
rechtigkeit begangen habe, durch welche sein Werk auf das Niveau einer publi¬
zistischen Parteischrift herabgedrückt werde. Man mußte nach den schallenden
Trompetenstößen des ersten Artikels auf ganz vernichtende thatsächliche Ent¬
hüllungen gefaßt sein.
Wenn ich nun überblicke, was Baumgarten in den folgenden Aufsätzen von
wirklich durchschlagenden Nachweisen und Berichtigungen im einzelnen beigebracht
hat, so muß ich bekennen, daß durch dieselben der siegesgewisse Ton seiner Heraus¬
forderung nicht im mindesten gerechtfertigt erscheint. Wenn nichts schlagenderes
vorgebracht werden konnte, so hatte die Sache jedenfalls keine so große Eile;
manches wäre wohl auch geeigneter für die Besprechung in einer Fachzeitschrift
gewesen. Die einzelnen behandelten Punkte sind zum Teil solche, über welche
eine begründete Meinungsverschiedenheit bei dem gegenwärtigen Stande unsrer
Kenntnis und bei der Beschaffenheit des vorhandenen Materials sehr wohl be¬
stehen kann; bei einigen bin ich für meinen Teil der entschiedenen Meinung, daß
der Kritiker es war, welcher fehlgegriffen hat. Übrigens habe ich die erfreuliche
Beobachtung gemacht, daß bei dem nicht sachkundigen Publikum, für welches die
Artikel ja in erster Reihe bestimmt waren, die am ungenügendsten begründeten
Vorwürfe den stärksten Eindruck machten.
Ich habe nicht die Absicht, das Für und Wider aller zwischen den beiden
Gegnern erörterten Streitpunkte hier nochmals zu rekapituliren und gehe nur ans
einzelnes etwas näher ein. Wenn Treitschke dem Vorwurfe, daß er das Wiener
Archiv nicht benutzt habe, die Mitteilung entgegenhält (die er ja vielleicht auch
in der Vorrede hätte machen können, vielleicht aber aus guten Gründen nicht
gemacht hat), daß er um Zulassung zu demselben nachgesucht habe, aber ab¬
schläglich beschieden worden sei, so sollte man eigentlich meinen, die Sache sei
damit erledigt. Baumgarten beruhigt sich dabei noch nicht: allerdings, erklärt
er, werde die Benutzung des Wiener Archivs für die Zeit nach 1815 in der
Regel nicht gestattet, aber es würden Ausnahmen gemacht; „ich habe den stärksten
Grund, anzunehmen, daß die allbekannte Liberalität des Ritters von Arneth zu
Gunsten Treitschkes eine Ausnahme zugelassen haben würde, wenn er von ihm
eine objektive Verwertung des ihm dargebotenen Materials hätte erwarten können."
Das würde, wie man Wohl deuten darf, die erfreuliche Perspektive eröffnen, daß
einem Glücklicheren sich bald jene inhaltreichen Schränke offnen werden; und in
der That, nachdem man in Wien die Veröffentlichung von Metternichs „nach¬
gelassenen Papieren" gestattet hat, ist nicht wohl einzusehen, warum man die
einmal durchbrochenen Schranken nicht völlig hinwegräumt. Bisher aber ist es
nicht geschehen; es ist mir im Augenblick eine einzige Ausnahme erinnerlich:
Karl Mendelssohn hat für die beiden Bände seiner neueren griechischen Geschichte
wertvolle diplomatische Materialien aus Wien erhalten. Aber was für den Historiker
der orientalischen Frage ausnahmsweise erreichbar war, das ist es doch eben that¬
sächlich für das Studium der deutschen Frage bis jetzt nicht gewesen. Man
hat Treitschke zurückgewiesen, mögen die Gründe sein, welche sie wollen; aber
auch kein andrer hat bis jetzt jene Schätze heben dürfen, und auch die so reg¬
same und auf so verschiedenen Gebieten thätige Schule jüngerer österreichischer
Geschichtsforscher scheint dieses doch gewiß sehr erkleckliche Früchte versprechende
Arbeitsfeld meiden zu müssen. Trotz alledem kann sich Baumgarten die Insi¬
nuation gegen Treitschke nicht versagen, daß man ihn wohl zugelassen haben
würde, wenn man seiner Objektivität getraut hätte. Es ist uicht meine Sache,
die Diskretion einer solchen Andeutung zu erörtern; aber eine sehr elegante Ge¬
fechtsmanier scheint mir das nicht zu sein. Im übrigen finde ich es ganz glaub¬
lich und begreiflich, wenn man in Wien die erste Ausnahme auf diesem heikeln
Gebiete nicht gerade zu Gunsten eines Historikers von so prononeirter politischer
Stellung machen wollte. Es ist einmal nicht anders, alle Wahrheitsliebe, alles
Streben nach Objektivität vorausgesetzt, dieselben Dinge aus denselben Doku¬
menten erforscht spiegeln sich anders wieder in dem einen Kopfe als in dem
andern; die Zeichnungen können sich decken, die Beleuchtung ist eine andre;
jedenfalls aber hat man in Wien das Recht, auch die Beleuchtung zu wählen,
in welcher man die Julina der österreichisch-deutschen Geschichte zum erstenmale
vor das Publikum treten lassen will.
Von den süddeutschen Archiven hat Treitschke nur das badische in Karls¬
ruhe, welches ihm in der liberalsten Weise geöffnet wurde und reichliche Aus¬
beute gewährte, benutzt; das bairische und würtenbergische nicht. Er hat sich
nicht darüber ausgesprochen — was immerhin wohl hätte geschehen können —,
ob er in München und Stuttgart gleichfalls einen abweisender Bescheid erhalten
oder in der Voraussicht eines solchen den Versuch unterlassen hat, allerdings
würde derselbe wohl sehr aussichtslos gewesen sein. Natürlich wäre, wie
jedermann zugeben wird, eine Ergänzung des Materials von jener Seite her
höchst wünschenswert gewesen, zumal da die Darstellung der süddeutschen Ver¬
fassungskämpfe einen wichtigen, wenn auch verhältnismäßig kleinen Teil des
vorliegenden Bandes bildet, Vollständigkeit des Materials wird jedoch bei
einem solchen ersten Wurfe niemals zu erreichen sein; auch französische, englische,
russische Gesandtschaftsberichte würden gewiß recht lehrreich sein und manches
interessante Detail zu Tage bringen. Wenn aber Baumgarten von einer
Äußerung des preußischen Gesandten Otterstüdt in Darmstadt ans dem Jahre
1818, worin dieser sich unzufrieden über die Stellung seiner Regierung zu den
kleinen deutschen Höfen ausspricht, die ihm nicht positiv energisch genug scheint
und die eine wachsende Gleichgiltigkeit gegen Preußen aufkommen lasst, „sodnß
ich geradezu hier nichts vermag" — wenn Baumgarten an diese Äußerung die
Bemerkung knüpft, daß dies in München und Stuttgart sich wohl ähnlich ver¬
halten haben möge, und „daß die Berichte so gestellter Diplomaten kein
zuverlässiges und ausreichendes Material für die Schilderung der politischen
Entwicklung in den Mittelstaatcn abgeben können," so übersieht Baumgarten
doch einerseits, daß mit der Klage Otterstädts nur gesagt ist, daß er keinen
Einfluß in Darmstadt erlangen könne, aber nicht daß es ihm an Information
mangle; und andrerseits liegt uns ja die Ausbeute ans den Berichten dieser
Diplomaten in zahlreichen Mitteilungen Treitschkes vor. Diese Berichte Zastrows
aus München, Küsters aus Stuttgart machen aber durchaus den Eindruck recht
intimer Wohlunterrichtetheit, wenngleich ihre Verfasser nicht gerade Diplomaten
ersten Ranges sein mochten. Man kann nur den Wunsch hegen, daß die durch
, das Treitschkesche Buch gegebene Anregung auch an diesen Stellen die Neigung
erwecke, Kenntnis und Verständnis der damaligen Vorgänge durch Eröffnung
der eignen Archive zu fördern; inzwischen aber haben wir durch die vorliegende
Darstellung doch recht viel neues, wissenswertes und auch recht gut be¬
glaubigtes erfahren.
Genug von diesen Archivfragen, die ich hier nicht berührt haben würde,
wenn ich nicht die Beobachtung gemacht hätte, daß die aus diesen Unterlassungs¬
sünden gezogenen Argumente Baumgartens, auf die er selbst nicht einmal das
Hauptgewicht seines Angriffs legen will, gerade in den weitern Kreisen des
zeitungsgebildeten Publikums auf besonders guten Boden gefallen sind; man
kann Leute, die kaum wissen, was ein Archiv ist, aber ihre Augsburger Beilage
getreulich studieren, sie mit großem Aplomb ins Feld führen hören.
Ich gehe nicht ein auf die Debatte über die leidige Schmalzsche Dennnziations-
schrift gegen die geheimen Gesellschaften, über den darob entbrannten litterarischen
Kampf und über das Verhalten König Friedrich Wilhelms dabei. Die Dar¬
stellung, welche Treitschke von diesen Vorgängen giebt, und weiterhin seine Recht-
fcrtignng derselben, worin er sonst die allgemein angenommene und hart getadelte
Parteinahme des Königs für Schmalz in Zweifel zieht und das Verhalten des
Königs mehr in das Licht vermittelnder Gerechtigkeit zu rücken sucht, ist lebhaft
angegriffen und als ein Hauptbeweis hingestellt worden für die einseitige Par¬
teilichkeit des Verfassers für den preußischen Herrscher. Ich neige für meine
Person in dieser Frage allerdings mehr zu der Auffassung, daß die Verleihung
des vielbesprvchnen roten Adlerordens an Schmalz doch nicht so ganz harmlos
gewesen sein dürfte. Aber ich kann auch nicht in Abrede stellen, daß die Ein¬
wendung Treitschkes ihre Berechtigung hat, es sei bis jetzt durch nichts erwiesen,
daß diese Ordensverleihung in irgend einem Zusammenhange stehe mit dem De¬
nunziationsstreit, und es könne dieselbe wohl auch schon vorher angeregt und
schließlich um ganz andrer Verdienste willen dem sonst wohl beleumundeten
Beamten und Gelehrten zu Teil geworden sein. Die Verordnung des Königs,
womit er die Fortsetzung der literarischen Fehde untersagt, kann man dem Wort¬
laute nach gar wohl als eine Mitverurteilung der Schmalzschen Broschüre
deuten, welche den „unnützen Streit" hervorgerufen. Die spitzfindige Deutelei,
womit Dr. Bulle in einem seiner Artikel in der Weserzeitung sogar aus dem
Wortlaute einzelner Wendungen in der königlichen Verordnung eine Überein¬
stimmung des Königs mit Schmalz und eine Parteinahme für denselben heraus¬
lesen will, wird schwerlich viele Leser überzeugt haben. Jedenfalls liegt die
Sache doch nicht so absolut Kar, daß ein Zweifel an der Richtigkeit der bis¬
herigen Auffassung als ein offenbarer Hochverrat an der Sache der historischen
Wahrheit hingestellt werden dürfte.
Daß Treitschkes Darstellung des burschenschaftlichen Treibens, daß namentlich
seine Auffassung der That Karl Ludwig Sands, für welche er wesentlich Karl
Follen verantwortlich macht, in allen Stücken das richtige treffe, wird sich
mit Bestimmtheit weder bejahen noch verneinen lassen. Bei allem geheimbünd-
lerischen Treiben stehen wir meistens irgendeinem unfindbaren x gegenüber;
wir wissen heute noch nicht, wann und wo die Sekte der Carbonari entstanden
ist, und wissen, so viel auch darüber geschrieben ist, ziemlich wenig von ihrer
Organisation und von ihren inneren treibenden Kräften. Wo Verschwiegenheit
höchstes Gesetz und organisirte Lüge die notwendigste Bedingung des Bestehens
ist, wird dem künftigen Historiker die Aufgabe sehr erschwert. An psychologischer
Wahrscheinlichkeit fehlt es dem Bilde, welches Treitschke hier entwirft, nach
meiner Auffassung nicht, und die Einwendungen, welche Baumgarten zu Gunsten
Follens erhebt unter Hinweisung auf dessen spätere Thätigkeit in Amerika, sind
von jenein gewiß mit vollem Rechte zurückgewiesen worden. Durchaus willkürlich
aber ist die Behauptung des Kritikers, daß die vor zwei Jahren veröffentlichten
Lebenserinnerungen Heinrich Leos, auf welche Treitschke für die Begründung
seiner Auffassung Gewicht legt, eine Quelle seien, „deren tendenziöser Charakter
jedem historisch geschulten Forscher sofort in die Augen springt." Mag dem
alten, bald bekehrten Burschenschafter in der Zeit, wo er diese „Bildungsmvtive
in seinem Leben" niederschrieb, manches etwas grell in der Erinnerung wieder
aufgeleuchtet sein, einen eigentlich tendenziösen Charakter kann ich doch in den
Aufzeichnungen nicht erkennen, deren reicher und lebensvoller thatsächlicher In¬
halt zu dem belehrendsten gehört, was wir über das studentische Treiben jener
Jahre besitzen. Noch jüngst hat auch der alte Frommann in Jena, der doch
einst mitten in diesen Dingen stand, in seiner kleinen Biographie Rotenhans
die „historische Objektivität" der Leoschcn Schilderungen ausdrücklich anerkannt.
Den eklatantesten Nachweis für die Gewaltsamkeit, womit Treitschke die
klarsten geschichtlichen Thatsachen nach seinem Gefallen umbiege, glaubt aber
Baumgarten in einer Enthüllung gegeben zu haben, auf welche er auch in seinem
neuesten Artikel nochmals replizirend zurückkommt. Der unbefangene Leser er¬
hält hier den Eindruck, als habe der Straßburger Professor den geehrten
Kollegen in Berlin auf einer ganz notorischen kleinen Quellenfälschung in tla-
N'Mei ertappt.
Es handelt sich um die Zeit kurz vor den verhängnisvollen Karlsbader
Beschlüssen, und speziell um die Verhandlungen Metternichs mit König Friedrich
Wilhelm III. über die preußische Verfassungsfrage. Der österreichischen Politik
kam alles darauf an, zu verhindern, daß das moderne konstitutionelle Ver-
fassnngswesen, welches bereits in Baiern und Baden Eingang gefunden, nicht auch
noch durch den Hinzutritt des preußischen Staates einen Zuwachs von Macht
und Anerkennung finde, dessen weitere Konsequenzen dann unabsehbar erschienen.
Die Aufgabe Metternichs war, den König von etwaigen Velleitäten in dieser
Richtung zurückzuhalten, den liberalen Tendenzen Hardenbergs entgegenzuar¬
beiten, und schon auf dem Aachener Kongreß im Herbst 1818 hatte er in seinen
persönlichen Unterredungen mit ihm nicht ohne Erfolg das Gemüt des Königs
bestürmt und ihm die Überzeugung einzuflößen versucht, daß eine preußische Ge¬
samtstaatsverfassung im Sinne des modernen Reprüsentativsystems — „Zentral-
reprciseutation durch Volksdeputirte" ist sein Ausdruck — den Keim künftiger
Revolution, für welche ohnedies schon in Heer und Beamtentum bedenkliche
Elemente vorhanden wären, zweifellos in sich trage. Er hatte zu derselben Zeit
zwei Denkschriften an Hardenberg und an den ihm politisch nahestehenden Mi¬
nister Wittgenstein gerichtet, von denen die eine „Über die Lage der preußischen
Staaten" die Verfassungsfrage speziell ins Auge faßt. Diese Aachener Denk¬
schrift ist in Metternichs Papieren (III, 172) gedruckt. Bei allen sonstigen
Vorbehalten stellt sich dieselbe jedenfalls ausdrücklich auf den thatsächlichen Boden
der königlichen Verkündigung vom Mai 1815, durch welche dem preußischen
Volke der Erlaß einer Verfassung verheißen war: „Es bestehen Versprechen von
seiten der Regierung; sie müssen gelöst werden." Diese Lösung aber soll er¬
folgen durch die Gründung von Provinzialständen für die von Metternich auf¬
gestellten sieben provinzialen Gruppen des preußischen Staates, und diesen nur
das Recht der Bitten und Vorstellungen für Angelegenheiten ihrer provinziellen
Sphäre, sowie die Reparation der direkten Steuern zugewiesen werden; sollte
in der Folge eine „Zentralrepräsentation" nützlich oder unvermeidlich erscheinen,
so würde diese, schlägt die Denkschrift vor, etwa durch einen Ausschuß von je
drei Mitgliedern der einzelnen provinzialständischen Körperschaften zu bilden sein.
In seinem Begleitschreiben an Wittgenstein freilich fiigt Metternich hinzu, daß
dieser letztere Vorschlag einer „Zentraldeputation" ihm auch schon sehr bedenklich
erscheine, er stelle ihn nur auf aus Rücksicht auf das öffentliche Versprechen
des Königs, ohne dieses würden ihm bloße Provinzialstünde ohne jede zentrale
Vereinigung am angemessensten erscheinen.
So weit war diese Angelegenheit in Aachen gediehen. Eine Wirkung der
Metternichschen Vorstellungen war in der Behandlung der Verfassungsfrage
zunächst in Berlin nicht zu bemerken; die Berufung Humboldts ins Ministerium
schien vielmehr eine günstige Wendung im Sinne der liberalen Erwartungen
anzudeuten. Im März 1819 erfolgte die Ermordung Kotzebues. Im August
trat auf Metternichs Veranstaltung der Karlsbader Konferenz zusammen, deren
Beschlüsse, wenn man sie so nennen will, den verhängnisvollen Umschwung in
Deutschland herbeiführten.
Einige Tage vor der Eröffnung derselben traf Metternich in Teplitz mit
dem König Friedrich Wilhelm zusammen. Er war in der gehobensten Stimmung:
^.ovo l'Mo as visu, j'ssvörs b^ters 1a rsvolutiov Allsmanäs, tont vomiruz j'^i
vAneu 1s oououLiNnt co monäs, schreibt der soi-äisg-ut Besieger Napoleons
an seine Gemahlin. Am 29. Juli fand zwischen ihm und dem König eine ge¬
heime Unterredung statt. Ich lasse hier bei Seite, welches die Resultate der¬
selben für die allgemeinen deutschen Angelegenheiten und für den gemeinsam zu
unternehmenden Repressionsfeldzug waren; sie rechtfertigten bekanntlich nur
allzusehr Metternichs enthusiastische Hoffnungen. Im Zusammenhange damit
aber stand nun auch ein erneutes Vorgehen in Bezug auf die preußische Ver¬
fassungsfrage, und dieses ist hier allein ins Auge zu fassen. Es kommt uns
für unsre Betrachtung lediglich auf die Frage an: Welche Forderung hat
Metternich in jener Teplitzer Konferenz, oder richtiger in den beiden Konferenzen,
die er mit dem Könige hatte (denn eine zweite Unterredung fand am 31. Juli
statt), in Bezug auf die preußische Verfassnngsangelcgenheit von Friedrich
Wilhelm gestellt?
Es liegen uns über diesen Vorgang zwei Berichte Metternichs vom 30. Juli
und vom 1. August als einzige Quelle vor. Der erste derselben erzählt ein¬
gehend, meist in direkter Rede, den Verlauf der ersten Entrevue; der zweite
erwähnt die Konferenz vom 31. Juli nur vorübergehend und faßt vornehmlich
die allgemeinen Gesichtspunkte und Resultate zusammen. Diese Berichte sind in
Metternichs Papieren (III, 398 ff.) gedruckt. Metternich überreichte hierauf dem
König zu seiner weitern Information eine Denkschrift, welche leider nicht mehr
vorhanden zu sein scheint, deren Inhalt aber er selbst dahin angiebt, daß sie
„den wahren Unterschied zwischen landständischen Verfassungen und einem so¬
genannten Repräsentativsystem deutlich bezeichnete," Das Resultat endlich
dieser Besprechungen mit dem König und der darauf folgenden Miuister-
verhandlungen wurde am 1. August in einer von Hardenberg und Metternich
unterzeichneten Punktation niedergelegt; diese Teplitzer Punktation hat Treitschke
im Anhang zu seinem Bande veröffentlicht.
Von der Audienz am 29. Juli giebt nun Metternich in seinem ersten
Bericht an den Kaiser eine höchst lebendige Darstellung, in welcher der König
die Rolle eines völlig hilflosen, durch die Schrecknisse der Zeit eingeschüchterten,
seiner nächsten Umgebung mißtrauenden Fürsten spielt, welcher die von Metternich
gebotene Hand mit der Angst eines Ertrinkender ergreift, König und Minister
begegnen sich in der Auffassung, daß Hardenberg vermöge seiner Altersschwäche
und seiner „kuriosen" liberalisirenden Umgebung wohl das Gute wolle, aber
oft das Schlechte unterstütze, und daß er selbst eine Stütze erhalten müsse durch
Aufstellung fester Grundsätze, über die man sich jetzt mit dem Staatskanzler
selbst einigen müsse, „Die ganze Sache, so schließt Metternich seine Darlegungen,
beschränkt sich auf einen Satz, Sind Eure Majestät entschlossen, keine Volks-
e>. tretung in Ihrem Staate einzuführen, der sich weniger als irgend ein andrer
hierzu eignet, so ist die Möglichkeit der Hilfe vorhanden. Außer derselben
besteht keine andre,..So und bis hierher zitirt Baumgarten in seinem
Artikel die Worte Metternichs! Dieser aber führt fort: „Sie können Ihr Ver¬
sprechen im Sinne derselben lösen; hätten Sie sogar das Gegenteil versprochen,
so paßt die heutige Stunde nicht mehr zu der verflossenen," und er bittet
dann den König, in Konferenz über die Angelegenheit mit Hardenberg, Bernstorff
und Wittgenstein treten zu dürfen. Ich bitte vorläufig von dieser Aposiopesc
Baumgartens Notiz zu nehmen,
Juden, Treitschke (S. 550) den Inhalt dieses Gesprächs kurz referirt, um¬
schreibt er die soeben bezeichnete Stelle mit den Worten: „Doch könne noch alles
gerettet werden, wenn die Krone sich entschließe, ihrem Staate keine Volksver¬
tretung in dem modernen demokratischen Sinne zu geben, sondern
sich mit Ständen zu begnügen,"
Wie man sieht, sügt er zu dem von Metternich ohne weiteren Zusatz ge¬
brauchten Worte „Volksvertretung" diejenige nähere Interpretation hinzu, welche,
Wie er glaubt, Metternich dabei notwendig im Sinne gehabt haben mußte. Er
'se der Meinung, daß Metternich auch hier in Teplitz noch den König nicht
gewarnt habe vor dem Erlaß einer Verfassung schlechthin, sondern nur vor
etwaigen Velleitüten Hardenbergs im weitergehenden liberalen Sinne, in dem,
wie Metternich selbst sich oft ausdrückt, „demokratischen" oder „demagogischen"
Sinne der süddeutschen Verfnssungsexperimente. Diese Deutung hat Treitschke
den Text seiner Darstellung aufgenommen, ein rein stilistisches Verfahren, auf
Erleichterung des Verständnisses berechnet und darum zweifellos erlaubt, ja
für den Leser erwünscht — vorausgesetzt nur, daß die Interpretation richtig ist.
Gerade diesen Punkt nun hat Baumgarten zum Gegenstande seines heftigsten
Angriffs auf Treitschke erwählt. Dieser „willkürliche Zusatz" in „unsre einzige
Quelle" eingeschoben, wird als der handgreiflichste Beweis proklamirt für die
vollendete Leichtfertigkeit und Gewissenlosigkeit der Trcitschkeschen Geschichtschrei¬
bung. Ich bin überzeugt, daß der Kritiker gerade hier ihm und sich selbst am
schwersten Unrecht gethan hat.
Baumgarten will den Wortlaut der oben angeführten Stelle aus Metter-
nichs Bericht in dem Sinne verstanden wissen, daß der österreichische Staats¬
mann dem König Friedrich Wilhelm hier einfach geraten habe, überhaupt keine
„Volksvertretung" einzuführen, also das Versprechen von 1815 beiseite zu werfen.
Seine Begründung ist von großer Einfachheit. Sie stützt sich einerseits auf
den erwähnten Wortlaut, ohne die Mehrdeutigkeit des Wortes „Volksvertretung"
in diesem Zusammenhange zu erwägen; sie macht andrerseits das folgende Rä-
sonnement: Wenn Metternich bereits in Aachen im Herbst 1818 soweit war, daß
er dem König riet, nur Provinzialstünde einzurichten, um höchstens in: Notfall
eine sehr eingeschränkte „Zentraldeputation" zu gewähren, so ist es doch höchst
wahrscheinlich, daß er jetzt in Teplitz, wo die allgemeine Lage der Dinge e' u
viel gespanntere, wo die Ermordung Kotzebues erfolgt war, auch in seinen Fen-,
derungen in Betreff der preußischen Verfassungsfrage einen Schritt weiter ging
und dem König einfach riet, gar keine Volksvertretung einzuführen.
Das ist die ganze Argumentation. Und nun erwäge man: in allen bis¬
herigen Verhandlungen zwischen Preußen und Österreich hatte es sich für das
letztere lediglich darum gehandelt, die preußische Politik festzuhalten bei dein
Gedanken an eine möglichst unschädlich zu gestaltende, landständische, womöglich
rein provinzialständische Verfassung und ihr alle weiter gehenden liberalen Ex¬
perimente zu verleiden. Noch nie hatte man es gewagt, dem König direkt den
Bruch des Versprechens von 1815 zuzumuten; noch in der Aachener Denkschrift,
die für die Augen des Königs bestimmt war, hob Metternich ausdrücklich hervor,
daß dieses Versprechen in irgend einer Weise eingelöst werden müsse, und selbst
in dem Begleitschreiben an Wittgenstein wagt er nur die hingeworfene Bemerkung,
ob man nicht auch die „Zcntraldeputation," als vielleicht zur Revolution führend,
werde streichen müssen. Und nun soll hier in Teplitz Metternich dem König
gegenübergetrcten sein und demselben Auge in Auge diesen persönlich beleidigenden
Vorschlag gemacht haben? Und der König, an dessen persönliche Ehrenhaftigkeit
und Gewissenhaftigkeit man doch wohl noch wird glauben dürfen, nimmt diesen
Affront ruhig hin ohne ein Wort des Widerspruchs und weist den Beleidiger
an, das einzelne mit seinen Ministern festzustellen? Ist das alles auch nur im
entferntesten glaublich? Und weiter. Zwei Tage darauf überreicht Metternich
dem König die oben erwähnte Denkschrift. Wir kennen ihren Inhalt nicht im.
einzelnen, aber das wissen wir aus Metternichs eigner Angabe mit Bestimmt¬
heit, daß sie handelte von dem „wahren Unterschied zwischen landständischen Ver¬
fassungen und einem sogenannten Repräsentativsystem," daß sie also zweifellos
die relativen Vorzüge der ersteren vor dem letzteren erörterte, und zwar, wie
Metternich ebenfalls zu erkennen giebt, eingehender als die frühere Aachener
Denkschrift, aber doch jedenfalls mit derselben Tendenz der Diskreditirnng der
„demokratischen" Rcpräsentativvcrfassungen und der relativen Zulcissigkeitser-
klärung für die landständischen. Wenn Baumgnrten aus diesem letzten Zusätze
Metternichs über den Unterschied zwischen der Aachener und der Teplitzer Denk¬
schrift die Folgerung zieht, daß Metternich natürlich in Teplitz, nach Kotzebues
Ermordung, „einen viel schärferen Ton" habe anschlagen müssen als in Aachen,
so ist der schärfere Ton freilich nur allzu empfindlich zu verspüren gewesen; aber
er richtete sich gegen Presse und Universitäten, In Bezug auf die preußische Ver-
fassungsfrage aber ist man offenbar in Teplitz nicht weiter vorgegangen als in
Aachen; denn es ist undenkbar, daß Metternich an 29, Juli dem König empfohlen
haben sollte, gar keine Verfassung zu geben, und ihm zwei Tage darauf — ohne
daß auch nur die leiseste Andeutung vorhanden wäre, daß der König etwa diesen
ersten Vorschlag zurückgewiesen — in einer Denkschrift die Vorzüge des einen
^erfasfungsshstems vor dem andern klar zu machen sucht. Und zu alledem tritt
nun die Teplitzer Punktation vom 1, August 1819 hinzu, welche das Resultat
der Verhandlung fixirt, im wesentlichen durchaus analog der Aachener Denk¬
schrift, nur mit dem Zusätze, daß Preußen „erst nach völlig geregelten inneren
und Fiuanzverhältnissen" an das Verfassungswerk zu gehen gedenke, wie dies
eben immer schon die Absicht Hardenbergs gewesen war. Nirgends eine Spur
davon, daß der preußische König und sein Staatskanzler sich hier in Teplitz
weitergehender Zumutungen von seiten Metternichs zu erwehren gehabt hätten.
Aber wäre es nun nicht vielleicht doch möglich, daß Metternich in jener
ersten Audienz am 29, Juli jede „Volksvertretung" schlechthin dem König wider¬
riet und erst in der Folge, als er auf Widerstand stieß (von welchen: er aber
nichts berichtet), diese Zumutung fallen ließ und zu der frühern Basis zurück¬
kehrte? Dieser Ausweg würde, wenn auch uur in höchst gezwungener Weise,
möglich sein, wenn der Bericht Metternichs wirklich so lautete, wie ihn Baum¬
garten in seinem Aufsatze zitirt. Aber in auffallender Weise läßt dieser gerade
die Worte weg, in welchen der augenscheinliche Beweis für die Unmöglichkeit
seiner Auffassung liegt, Metternich sagt ausdrücklich (ich habe die Stelle oben
S. 241 wörtlich verzeichnet) zu dem König: Es giebt nur ein Mittel, den Staat
zu retten, nämlich wenn Sie keine „Volksvertretung" einführen, und Sie können
dies mit völliger Wahrung Ihres öffentlich erteilten Versprechens. Das heißt
also natürlich: Führen Sie keine liberale „demokratische" Verfassung ein, sondern
nur eine land- beziehentlich provinzialständische. Nehmen wir die Deutung an,
in welcher Baumgarten das Wort „Volksvertretung" hier verstanden wissen
will, so gelangen wir einfach zu dem Nonsens, daß Metternich dem König sagt:
Führen Sie gar keine Verfassung ein, brechen Sie Ihr Versprechen vom Jahre
1815, Sie können dies thun mit völliger Währung desselben!
Baumgarten hat also hier die eigentlich für die Streitfrage entscheidenden
Worte seines Aktenstückes einfach unterdrückt.
Es fällt mir nicht ein, an diese Beobachtung ähnliche Anklagen zu knüpfen
von historischer Gewissenlosigkeit, „willkürlicher Umbiegung der klarsten That¬
sachen" und dergleichen, wie sie Baumgarten in der heftigsten Weise gegen
Treitschke zu schleudern sich berechtigt glaubt. Die Eilfertigkeit, womit diese
Kritik in die Welt gesetzt werden mußte, kann wohl ausreichen, um jenes Über¬
sehen begreiflich zu machen, und verwunderlich bleibt es nur, daß Baumgarten
auch bei Abfassung seines letzten Artikels, in welchem er auf die Frage noch¬
mals zurückkommt, sich nicht veranlaßt gesehen zu haben scheint, das wichtige
Aktenstück selbst noch einmal genauer anzusehen, sondern die betreffende Stelle
nochmals mit Auslassung der entscheidenden Worte zitirt. Wollte jemand hier
den Straßburger Kritiker mit dem gleichen Maße messen, mit welchem er
Treitschke gemessen, und zusehen, „wie diesem Hochmut die eigue wissenschaftliche
Leistung entspricht," so läge die Versuchung zu kräftigeren stilistischen Wen¬
dungen im sittlichen Entrüstungsstile ja vielleicht auch nahe — sie würden hie'-,
ebenso übel angebracht sein wie sie es dort sind.
Jedenfalls behält also in diesem Punkte, auf welchen der Kritiker so be¬
sonders Gewicht legte, die Auffassung Treitschkes vollständig Recht; die Anklage
Baumgartens fällt schwer auf ihn selbst zurück.
Freilich erhebt er noch andre Vorwürfe. Er tadelt, daß Treitschke den
Metternichschen Bericht nicht in allen Einzelheiten wiedergegeben, daß er die¬
jenigen Stellen verschwiegen habe, welche allzu demütigend für den preußischen
König lauten; er rügt die hier wie bei andern Gelegenheiten hervortretende ein¬
seitige Vorliebe des Verfassers für den König, dessen Verhalten er ungerecht
beschönige, während auf Hardenberg die Verantwortung für alles Uhle ab¬
gewälzt werde; er kommt wiederholt zurück auf die feindselige und geringschätzige
Behandlung, welche Metternich überall zu Teil werde, und welche es unver¬
ständlich erscheinen lasse, wie dieser Mann dennoch einen so beherrschenden
Einfluß in Deutschland und in Europa habe ausüben können. Es wäre über
alle diese Fragen mancherlei zu sagen, mehr als ich den Lesern dieser Zeitschrift
für heute zumuten darf. Es ist keineswegs meine Meinung, für die Dar¬
stellung Treitschkes in allen Einzelheiten eintreten zu wollen; ich gebe vollständig
zu, daß an manchen Stellen sein Kolorit etwas grell, seine Ausdrucksweise
vielleicht allzu lebhaft ist; ich würde für meinen Teil Hell und Dunkel nicht
selten anders verteilen, in dem Aufsetzen starker Lichter sparsamer sein. Aber
ich zweifle auch hier, ob Baumgarten mit seinen Einwendungen gerade immer
das richtige trifft. Ich hebe nur eins hervor.
Baumgarten ereifert sich darüber, daß Treitschke Metternich mit einem
allerdings recht kräftigen Ausdruck einen der größten Lügner des neunzehnten
Jahrhunderts nennt und die Zuverlässigkeit mancher in den „nachgelassenen
Papieren" enthaltenen Berichte fiir sehr zweifelhaft hält. Seine in spätern Jahren
gemachten Aufzeichnungen über frühere Erlebnisse, giebt Baumgarten zu, mögen
bedenklich sein; aber anders verhalte es sich mit den amtlichen Schriftstücken,
die selbstverständlich auch kritisch zu prüfen seien, aber doch im ganzen die Prä-
sumtion der Wahrheit für sich hätten. Gegen diesen Satz ist im allgemeinen
wohl nichts einzuwenden, und namentlich dagegen nicht, daß auch Berichte über
soeben geschehenes doch einer kritischen Betrachtung zu unterwerfen sind. Aber
wie hat dies Baumgarten in dem eben behandelten Falle geübt? Er nimmt
einfach ohne jedes kritische Bedenken den Metternichschen Bericht vom 30. Juli
für die bare Wahrheit; er hebt nachdrücklich hervor, daß er „unsre einzige Quelle'
sei, und verfährt bei seiner Benutzung geuau so, als ob es ein anerkannter kritischer
Grundsatz wäre, daß die Angaben einer „einzigen" Quelle ohne weiteres als
vorläufiges gesichertes Material zu gelten hätten. Und wie viele Bedenken
erheben sich doch bei näherer Betrachtung gegen die Wahrheit, die Vollständig¬
keit, die Aufrichtigkeit dieses Berichtes. Von allen Gründen der UnWahrschein¬
lichkeit abgesehen, die sich aus unsrer Kenntnis der Persönlichkeit Friedrich
Wilhelms herleiten lassen, wie auffallend ist die Geflissentlichkeit, womit der
Briefsteller seinem Kaiser die Vorstellung beizubringen sucht von einem großen
Erfolg, den er auch in der Verfassungsfrage davon getragen, während er doch
thatsächlich über den Standpunkt, der bereits im vorhergehenden Herbste in
Aachen erreicht worden war, nicht hinausgekommen ist; er sucht die Vorstellung
zu erwecke», als sei Hardenberg nun völlig aus dem Sattel gehoben und von
dem König selbst preisgegeben, was beides nicht der Fall war; die armselige
Ratlosigkeit des preußischen Herrschers wird in die grellste Beleuchtung gestellt,
wie einen gefesselten Sklaven führt er ihn seinem Herrn vor. Hatte Metternich,
abgesehen von der Selbstgefälligkeit, die sich so leicht über das Gewicht der
eignen Erfolge täuscht, etwa besondre Gründe, hier dem Kaiser gegenüber so
stark aufzutragen? Man könnte diese Frage wohl auswerfen, zumal wenn man
bemerkt, daß Kaiser Franz offenbar garnicht der Meinung war, daß sein Minister
in der Verfassungsangelegenheit in Teplitz einen Sieg errungen habe. In seiner
Resolution auf die erhaltenen Berichte, welche sich in den „nachgelassenen Pa¬
pieren" gleichfalls abgedruckt findet (III, 269), spricht er in ziemlich kühlem und
trocknen Tone aus, daß er mit den getroffncn Arrangements und namentlich
auch mit den provinzialstündischen Absichten Preußens keineswegs sehr einver¬
standen sei. Wußte Metternich, daß sein Monarch eigentlich von der Teplitzcr
Zusammenkunft mehr gewünscht und erwartet hatte? War das für ihn eine
Veranlassung, wenigstens das Erreichte in möglichst brillantem Aufputz vorzu¬
führen? Und soll man dann, wenn man dies als möglich zugiebt, dieser
„einzigen" Quelle alle ihre drastischen, wohlberechneten Effektstücke einfach glauben
und nachschreiben? Ich finde, Treitschke war in seinem vollen Rechte, wenn er
hier Auswahl traf und das allzu unwahrscheinliche bei Seite ließ, er hätte
darin vielleicht selbst noch weiter gehen können, aber jedenfalls war sein Ver¬
fahren kritischer als dasjenige, welches Baumgarten ihm zumutet. Die Ausnutzung
der Metternichschen Papiere ist ja erst begonnen, es können noch manche „Bei¬
träge zur Kritik der Metternichschen Memoiren" geschrieben werden; aber alle
Aktenstücke, worin dieser auf seine Verherrlichung vor sich selbst und vor andern
so sehr bedachte Staatsmann Bericht erstattet über zeugenlose Unterredungen
mit wichtigen fürstlichen Persönlichkeiten, sollten stets mit starkem kritischen
Mißtrauen angesehen werden. Die Versuchung war in solchen Fällen zu stark
und wohl oft plus loro aus lui. Es ist schon von Treitschke auf die bekannte
Unterredung mit Napoleon in Dresden im Juni 1813 hingewiesen worden, bei
welcher die Frage durch das Vorhandensein des gegenüberstehenden Berichtes
von Fällt besonders komplizirt wird; ich möchte in demselben Sinne auf eine
andre Aufzeichnung Metternichs aufmerksam machen, in welcher er von einer
Unterredung berichtet, die er im Jahre 1838 in Pavia mit dem König Carlo
Alberto von Sardinien unter vier Augen hatte (Nachgelassene Papiere, IV, 257).
Man darf diesem Carignan gewiß ein reichliches Maß von Verstellungskunst
zutrauen, aber diese Sprache, diese Selbstdemütigung Metternich gegenüber noch
im Jahre 1838 — ich würde mich nie für berechtigt halten, in einer geschicht¬
lichen Darstellung von dem Dokument als einen: glaubwürdigen Gebrauch zu
machen.
Doch genug von diesen Einzelheiten. Ich habe geglaubt, auf dieselben ein¬
gehen zu sollen, weil der Angriff Baumgartens sich in erster Reihe gegen die
wissenschaftliche Leistung Treitschkes richtete, gegen das ungenügende seiner
Forschung, gegen die Schwächen seiner Methode. Ich hoffte dem Leser wenigstens
den Eindruck bereitet zu haben, daß die Begründung dieser Anklagen im ein¬
zelnen doch keineswegs eine so wohl fundirte und über allem Zweifel stehende
ist, um den hohen Ton und die Maßlosigkeit der ausgesprochenen kritischen
Verurteilung zu rechtfertigen.
Aber gab es vielleicht ein andres berechtigteres Motiv für jenen so be¬
schleunigten Warnungsruf an das Publikum? Wie ich oben sagte, könnte ein
solches ja auch in irgendeiner Gemeinschädlichkeit des Buches liegen, deren
Wirkung man sich verpflichtet glaubt vorzubeugen.
Das Verdienst, diesen Ton zuerst angeschlagen zu haben, gebührt dem
Dr. Vnlle in Bremen mit seinen Artikeln in der Weserzeitung. In der That
ist, wie wir hier erfahren, das Treitschkesche Buch bei allem belehrenden, was
es bietet, für unsre fernere deutsche Entwicklung eine ernste Gefahr. Das ein¬
seitige Borussentum des Verfassers und seine ungerechte und lieblose Härte gegen
alles in Deutschland, was den preußischen Anschauungen und Bestrebungen sich
entgegenstellt, ist eine Schädigung nicht nur für die historische Wahrheit, sondern
auch für die innerliche Einigung unsers Volkes; diese Treitschkesche Tendenz
„verschärft die seit 1866 sich vermittelnden partikularen Gegensätze in der ge¬
hässigsten Weise/' Armer Treitschke! Also darum zehn Jahre und darüber
„deutscher Kämpfe," um jetzt von Dr. Bulle in Bremen als offenkundiger, wenn
auch als unfreiwilliger Förderer des Partikularismus vor dem deutschen Volke
in Anklagezustand versetzt zu werden! Aber als Eideshelfer tritt diesem Ankläger
sofort Vaumgarten zur Seite. In seiner Erwiederung auf Treitschkes Replik
enthüllt er den eigentlichen Grund des „raschen Hervortretens mit seiner Ver¬
wahrung"; auch ihn hat, wie wir nun erst erfahren, die patriotische Angst über die
möglichen schädlichen Wirkungen des Buches getrieben; er hat bereits Beobachtungen
darüber gemacht, wie dasselbe in der That höchst nachteilig zu wirken beginne;
es war die höchste Zeit; „Ultramontane und Partikularisten sollten nicht das
Recht erhalten, die Unbilden Treitschkes allen Freunden Preußens zur Last
zu legen."
Ich will zunächst, da ich doch auch einige Beobachtungen im Süden an¬
zustellen Gelegenheit gehabt habe, nur bemerken, daß Baumgarten dem süddeutschen
Publikum gar keine Zeit gelassen hat, in unbefangner Weise das Buch auf sich
wirken zu lassen. Und dies muß ich als einen Vorwurf gegen ihn festhalten.
Warm», wenn das Buch wirklich dazu angethan war, verstimmend oder gar
erbitternd in Süddeutschland zu wirken (was ich bezweifle), konnte man nicht
süddeutschen Stimmen darüber den Vortritt lassen und abwarten, ob wirklich
das vermeintliche Gift so schädlich wirke? Wenn die Artikel der „Allgemeinen
Zeitung" eine „Verwahrung" sein sollten — war es denn so pressant nötig,
Süddentschland darüber zu belehren, daß Professor Bnumgarten in Straßburg
„ein besserer Freund Preußens" sei als Treitschke? Die Kenntnisnahme von
dein Buche erfolgte in den weiteren Leserkreisen gleichzeitig mit der Lektüre jener
Artikel, in den meisten Füllen Wohl sogar erst nach derselben. Diese feindselige,
mit scheinbar vernichtenden Argumenten auftretende Kritik aus dem Munde eines
angesehenen Gelehrten, eines Norddeutschen, eines reichspatriotischen Mannes,
eines Liberalen mußte von vornherein auf das Urteil aller minder selbständigen
Leser, d. h. der meisten, einen einseitig prävkkupirenden Eindruck machen. Die
Unbekehrten und Unbelehrbaren — Ultramontane und Partikularisten — werden
im Geiste Baumgarten die Hand geschüttelt haben für das treffliche Arsenal
wohlzugespitztcr Waffen, welches er ihnen zur Verfügung stellte; bequemer konnten
sie uicht dazu kommen. Den unbefangeneren Leser aber weist er mit einer solchen
in die Formen rein sachlicher Kritik gekleideten Geslisscntlichkeit auf diejenigen
Punkte hin, über welche er es sich gleichsam selbst schuldig sei in empfindliche
Erwse zu geraten, daß diese Anregung unmöglich auf steinigen Boden fallen
konnte; wir befinden uns in Deutschland ja gemeinhin im Tadel wohler als in
der Anerkennung, und es kann jeder immer auf Dank rechnen, wenn er dem
Publikum Material an die Hand giebt, um einer sonst todwürdigen Erscheinung
gegenüber sich in die angenehmere kritische Attitüde setzen zu können. Ich stehe
nicht an, es, als das Resultat meiner Beobachtungen wenigstens, auszusprechen:
Wenn wirklich, wie unsre beiden Kritiker es befürchten wollen, das Buch Treitschkes
in Süddeutschland zeitweilig die Wirkung haben sollte, Verstimmungen hervor¬
zurufen, das Gefühl des Gegensatzes von Norden und Süden wieder mehr zu
beleben, die Partikularistischen Empfindlichkeiten zu reizen und zu starken, so trüge
jenes unzeitige aufstachelnde kritische Gebahren größere Schuld daran als das
Buch selber, und der Vorwurf einer höchst unpolitischen Handlungsweise träfe
mit größerem Rechte jene wohlwollenden Ärzte, die das Übel hervorriefen, um
sich an seiner Heilung zu exerziren und zu exhibiren.
Aber ich denke, die Sache liegt überhaupt anders. Sind denn alle jene
Gedanken, Ansichten, Auffassungen Treitschkes, die man jetzt mit so großer Em¬
phase als gemeinschädlich und gefährlich zu brandmarken sucht, wirklich so neu
und bisher unerhört? Warum schlug Baumgarten nicht schon bei dein Er¬
scheinen des ersten Bandes an die Lärmglocke? Mit dem gleichen Aufwande
von Scharfsinn und Feindseligkeit hätten sich an diesen ganz ähnliche Expek-
tvrativne» knüpfen lassen. Ja die dezidirte Vorliebe für Preußen, für seine
politischen Leistungen, sür seine Herrscher und Staatsmänner, die geringe Mei¬
nung von dem produktive» Werte des süddeutschen Konstitutionalismus und
Liberalismus, das abfällige Urteil über gewisse Persönlichkeiten — geht das
alles nicht als der rote Faden durch Treitschkes ganze politische, akademische,
schriftstellerische Thätigkeit von jeher? Aber hat sich diese Thätigkeit als eine
verderbliche erwiesen? Hat nicht gerade Treitschke vielleicht einiges dazu bei¬
getragen, das Verständnis für Wesen und Bedeutung des preußischen Staates
unter unsern süddeutschen Landsleuten zu befördern und auch gerade unter den¬
selben die einst so verbreitete Überschätzung des kleinstaatlichen Liberalismus auf
ein bescheideneres Maß zurückzuführen? Und womit soll die Behauptung er¬
wiesen werden, daß solche Anschauungen „vor zwanzig Jahren einen gewissen
Sinn haben mochten, gegenüber dem heutigen deutschen Reiche aber nicht die
mindeste Berechtigung haben"? Ein Satz, der zu Konsequenzen führen würde,
denen Baumgarten selbst am lebhaftesten widersprechen müßte. Wir können
doch wohl in Deutschland uoch ein kräftiges Wort über die Kleinstaaterei von
1815 an vertragen, zumal da wir alle wissen, daß jetzt ein neuer Wein in die
alten Schläuche gegossen ist. Meint der „Selbstkritiker" des Liberalismus die
Linie ein für allemal unverbrüchlich für alle festgesetzt zu haben, über welche
man bei der Betrachtung dieser Dinge nicht hinausgehen dürfe? Kein Unbe¬
fangener in Süddeutschland wird heute durch eine noch so scharfe Kritik jener
Zustünde sich in Empfindungen verletzt fühlen, die ihm ein politisches Heiligtum
sind, und etwa in seinen Gefühlen für Kaiser und Reich erkalten — den Be¬
fangenen aber ist doch nicht zu helfen. So wenig wie es einst etwa einen Riß
zwischen Vaiern und dem liberalen Deutschland machte, als Gewinns sein un¬
gerechtes Zerrbild von König Ludwig in die Welt schickte. Vor allem aber ist
eins ausgeschlossen. Gewiß könnte, wie Baumgarten sagt, „heute gar nichts
verkehrteres gedacht werden, als den nichtprenßischen Deutschen die Empfindung
zu wecken, als sehe man in Berlin mit Geringschätzung auf sie herab." Aber
wer hat dies gethan? Wer kann das Buch Treitschkes im Zusammenhange
lesen, ohne berührt zu werden von dem Hauche seines warmherzigen patriotischen
Empfindens für das Ganze unsers deutschen Volkstums, welches er so fein¬
sinnig in seinen verschiednen Ausprägungen zu charakterisiren weiß? Die poli¬
tische Seite ist doch nur die eine; aber man braucht nur auf das wundervolle
erste Kapitel des Bandes zu verweisen, worin er die geistigen Strömungen der
ersten Friedensjahre schildert — eines der glänzendsten Spezimina geistvoller
und umfassender kulturgeschichtlicher Darstellung, die wir besitzen, — um die
Ungeheuerlichkeit einer solchen Anklage, wenn sie ernstlich erhoben werden sollte,
zu charakterisiren.
Und zuletzt. Nun ja, es wird niemand in Treitschke einen Historiker er¬
kennen wollen von der Strenge und Kühle Rankescher Objektivität, welche ich
für meinen Teil allerdings als das Höchste und Reinste verehre, was die deutsche
Wissenschaft auf dem Gebiete historischer Leistung zur Anschauung gebracht hat,
deren Anwendbarkeit auf alle Objekte aber wenigstens nicht erwiesen ist. Es
ist wahr, neben vielen andern beneidenswerten Gaben haben die Götter diesem
Manne etwas heißeres Blut verliehen, als in den Adern der meisten andern
fließt. Es ist ein leidenschaftlicher Zug in seinem Wesen, nicht allein in seinem
Darstellen und Urteilen, sondern schon in seinem Sehen und Erkennen. Leiden¬
schaft kann den Blick trüben, sie kann ihn auch schärfen zu höher gesteigerter
Erkenntniskraft, und in leidenschaftlichen Naturen wird sie bald in der einen,
bald in der andern Richtung wirken. Es liegt mir fern, zu leugnen, daß nicht
auch bei Treitschke die ungünstige Wirkung erkennbar sei; er ist stark und heftig
in seinem Für und in seinem Wider, er kann auch ungerecht sein und ist es
vielleicht bisweilen, es kann ihm begegnen (und ihm allein?), daß in dem ge¬
schlossenen Gesamtbild einer Persönlichkeit, welches ihm aus seinen Studie«?
erwachsen ist, einzelne Züge zu Gunsten oder Ungunsten sich verschieben oder
ihm entfallen; das ist bei Friedrich Wilhelm III. wohl zuweilen geschehen, und
in der von den beiden Kritikern vielbesprochnen Charakteristik Rottecks würde
ich gewiß gewünscht haben, daß ihm die von Dr. Bulle angeführten Stellen
nicht entgangen oder entfallen wären, welche das von dem Haupte der süd¬
deutschen Liberalen entworfene Bild allerdings in einigen Zügen korrigiren.
Aber man wolle doch solche Fündchen nicht so maßlos aufbauschen. Und ent¬
springt nicht andrerseits aus jener leidenschaftlichen Bewegtheit des Naturells
gerade auch das beste, was uns an dieser Geschichtschreibung erfreut, die warme
und erwärmende Lebhaftigkeit der Darstellung, die stets präsente Fülle konkreter
anschaulicher Lebensbilder, die sprechende Natürlichkeit der Charakterschilderungen,
das hinreißende Pathos bei der Entwicklung der großen, allgemeinen, idealen
Gesichtspunkte? Das mag dem einen wertvoller erscheinen als dem andern,
aber man muß es doch stehen lassen, und wir sollten uns freuen, daß in der
Reihe unsrer zahlreichen lebenden deutscher Historiker — nach Antlitz und Artung
trotz aller Schuleinheit doch eine recht bunte Reihe — dieser Mann steht als
eine bedeutende und eigenartige Erscheinung, welche die Liebe der Jugend besitzt
und die Achtung des Alters verdient, und sollten uns damit zufrieden geben,
daß nicht allen Bäumen eine Rinde wächst.
Baumgarten hat in seinem letzten Artikel wiederholt seine Anerkennung für
diejenigen Teile des Treitschkcschen Buches ausgesprochen, welche sich speziell ans
die innere Geschichte des preußischen Staates in deu Jahren 1816 bis 1819
beziehen. Dieser Akt der Gerechtigkeit konnte nicht umgangen werden gegenüber
deu unzweifelhaft grundlegenden Verdiensten dieser Abschnitte, die einen sehr
großen Teil des Bandes füllen und auf Grund eindringlichster Aktenstudien zum
erstenmale den hochwichtigen Prozeß der preußischen Neugründung in jenen
Jahren, die Schwierigkeiten und ersten Erfolge der neuen Verwaltungsordnung,
den Beginn der Kämpfe um die Verfassungsfrage, die Heeresvrganisativn und
vor allem die Begründung der neuen preußischen Zollpolitik in gründlichster und '
aufklärendster Weise behandeln. Auch den wichtigen Abschnitten über die An¬
fänge des dentschen Bundestags und über die Beziehungen Preußens zu dem¬
selben wird das Lob belehrender Aufklärung nicht vorenthalten. Gegenüber
dieser nicht zu versagenden Anerkennung fällt die Gewaltsamkeit und Unbilligkeit
des Gesamturteils und die ketzerrichterische Harte des ganzen kritischen Auftretens
um so mehr ins Gewicht.
Ich fasse meinen Eindruck zusammen: Diesem Manne und diesem Buche ist
öffentlich Unbill geschehen, und da kein andrer es that, habe ich mich veranlaßt
gesehen, dies hier auszusprechen und zu begründen.
Bücher dieser Art bestehen, und Rezensionen werden vergessen. Die Kundigen
entnehmen ans diesen, was wert ist, behalten zu werden; die Nation wird sich
an das Ganze halten und ihr Verhältnis zu demselben feststellen. Der Spruch
erfolgt vielleicht nicht in vierzehn Tagen; aber das Urteil der Nation wird darüber
entscheiden, ob Treitschkes „Deutsche Geschichte" eine unwissenschaftliche, politisch '
schädliche Parteischrift ist oder eine Zierde unsrer historischen Literatur.
in Bemühungen der Physiker, zwischen der Farbenskala und der
Tonleiter eine Analogie nachzuweisen,^) die man bis zur völligen
Parallelisirnng ihrer beiderseitigen harmonischen Verbindungen,
dort bestimmter Farbe», hier gewisser Töne, auszudehnen versucht
hat, sind so alt wie die Aufstellung eiuer Farbentheorie überhaupt.
Sie gründen sich auf die naheliegende Beobachtung, daß die Farben, ähnlich
wie die Töne, in Beziehungen zu einander stehen, welche teils einen die ästhetische
Empfindung wohlthuend berührenden (harmonischen), teils einen sie verletzenden
(disharmonischen) Eindruck hervorrufen. Schon die von Newton geltend ge¬
machte Thatsache, daß es ebensowohl sieben einfache Farben wie ganze Töne
in der Oktave gebe, mehr noch der Gebrauch, die Bezeichnungen gewisser ver¬
wandten Eigenschaften beider wechselseitig aus der einen auf die andre Sphäre
zu übertrage», indem z, B. einerseits von hellen, klaren Tönen, andrerseits von
schreienden Farben gesprochen wird, ja daß die Ausdrücke Farbe und Ton selber
dnrch wechselseitige Übertragung auf das andre Gebiet angewendet werden, sofern
z, V, von Klangfarbe in der Musik, von Ton in der Malerei und in beiden
von Konsonanz, Dissonanz, Harmonie, Akkord, ja von Dur- und Mollton¬
arten, Temperatur u. s. f. gesprochen wird — alle diese und andre Umstände
scheinen nicht nur auf eine Verwandtschaft überhaupt, sondern auf eine innerliche
gesetzmäßige Analogie der beiden Gebiete hinzudeute». Dieser Schluß erhält
außerdem noch eine sehr ins Gewicht fallende Bestätigung dadurch, daß — ganz
abgesehen von der Ähnlichkeit der ästhetischen Wirkung, worauf sich zunächst
nur eine Verwandtschaft zwischen den betreffenden Kunstsphären, der Malerei
und der Musik, gründet — die physikalischen Elemente derselben, das Licht und
der Schall, selbst schon zahlreiche Erscheinungen darbieten, deren Analogie sich
ebenfalls in identischen Bezeichnungen kundgiebt, indem man sowohl in der
Optik wie in der Akustik, d. h. nicht mir in Beziehung auf das Licht, sondern
auch auf den Schall, vou Reflexion, Beugung, Interferenz, ja sogar von Polari¬
sation spricht.
Alle diese Momente scheinen zu deutlich für eine innere Analogie zwischen
den beiden Gebieten der Farben- und der Tonwelt oder — wenn man die
betreffenden Erscheinungen vom subjektiven Gesichtspunkt betrachtet — zwischen
der Nerventhcitigkcit des Auges und des Ohres zu sprechen, als daß man die¬
selbe als zufällig oder willkürlich ohne weiteres von der Hand weisen dürfte.
Die folgenden Erörterungen gehen auch keineswegs darauf ans, jede Verwandt¬
schaft zwischen ihnen als Illusion hinzustellen, sondern mir darauf, die Grenzen
derselben genauer zu bestimmen, d, h, nachzuweisen, daß jene Analogie nicht,
wie man vielfach zu behaupten versucht hat, als ein durchgreifender Parallelismus
zu betrachten ist, sondern daß sie im wesentlichen nur eine symbolische Bedeutung
besitzt, welche, wenn sie über diese in der differenten Natur der beiden Sinnes¬
organe, Auge und Ohr, begründete Schranke hinaus zu einer positiven Gleich¬
förmigkeit potenzirt wird, zu haltlosen und widerspruchsvollen Konsequenzen
führt, welche nur deu zweifelhaften Wert einer unwissenschaftlichen Spielerei
beanspruchen dürfen.
Betrachten wir zunächst einige in der Geschichte der Physik auftretenden
Ansichten, in denen, auf Grund anscheinend empirischer Ergebnisse und mathe¬
matischer Berechnungen über die Natur der Farben und der Töne, jener
Parallelismus zwischen der Farben- und der Tonharmonie behauptet wird, um
dieselben nach Maßgabe der thatsächlichen Differenz zwischen den optischen und
akustischen Erscheinungen oder — was dasselbe ist — zwischen den Sinnes-
empfindungen des Auges und des Ohres einer Prüfung zu unterziehen. Zunächst
bedarf der Ausdruck „was dasselbe ist" einer nähern Erklärung, insofern er
scheinbar zwei Betrachtungsweisen identifizirt, die im Grunde einen Gegensatz
zu einander bilden. Die Physiker nämlich nehmen bei dieser Frage, wie über¬
haupt durchgehende den Erscheinungen gegenüber einen objektiven Standpunkt
ein, d. h. sie betrachten die Erscheinung als eine gegebene, bekannte Thatsache
und suchen dieselbe mit Hilfe zum Teil sehr gewagter Hypothesen zu erklären,
während in Wahrheit — worauf auch Schopenhauer, im Anschluß an Kant,*)
in seiner interessanten Abhandlung „Vom Sehen und den Farben" hingewiesen
hat — überall, wo es sich um Sinneswahrnehmungen handelt, das zunächst
uns Bekannte und wirklich Gegebene nicht die Erscheinung, sondern nur unsre
Empfindung davon ist, von deren Natur wir auf die Natur der Erscheinung,
d. h. von einer uns bekannten Wirkung auf eine unbekannte Ursache, zurück-
schließen. Indem wir nämlich den Inhalt der Empfindung gleichsam nach außen
projiziren, verleihen wir ihm eine scheinbare Objektivität, von der wir schlechter¬
dings nicht wissen und sagen können, ob sie in dieser Form überhaupt vor¬
handen ist. Es kann zugegeben werden, daß irgendwelche objektive Ursache für
unsre Empfindung existirt; was aber deren eigentliches Wesen oder, um mit
Kant zu sprechen, was das „Ding an sich" darin sei, wissen wir nicht.
Dies auf Farbe und Ton angewendet, müssen wir also sagen, daß sie als
Farbe und Ton nur in unserm Auge oder Ohr existiren, daß aber das, was sie
außer denselben sind, uns durchaus unbekannt ist; und wenn sie nach dieser
Seite hin als Luft- und Äthcrschwingungen definirt werden, so liegt es auf der
Hand, daß — abgesehen von der rein willkürlichen Annahme eines „Äthers,"
dessen Existenz niemand experimentell hat nachweisen können — damit über die
Natur dessen, was wir objektiv als Farbe und Ton bezeichnen, nicht das geringste
ausgesagt ist. Übrigens läßt sich die Behauptung, Farbe und Ton seien Lnft-
nnd Ätherschwingung, schon dadurch widerlegen, daß wir Farben sehen und
Töne hören, denen thatsächlich gar keine objektive Erscheinung entspricht, z, B.
die sogenannten komplementären Farbenspektra, welche auf rein subjektiven
Ncrvenempfindungen beruhen, sowie das, was populär als Ohrenklingen be¬
zeichnet wird u, a. in. Wenn die Physiker also, statt von der Wirkung, d, h.
von dem Inhalt der Sinnesempfindung, als dem allein thatsächlich Gegebenen,
auszugehen und von diesem durch Analogie aus Wahrscheinlichkeitsgründen auf
die unbekannte Ursache derselben, d, h. auf die Erscheinung, zurückzuschließen, die
Sache umkehrend von der Erscheinung, als dem angeblich Gegebenen, ausgehen
und dieselbe, unter Zugrundelegung rein willkürlicher Hypothesen,*) die sich jeder
experimentellen Untersuchung entziehen, objektiv zu erklären unternehmen, z, B.
die Wellenlängen der Ätherschwingungen und die Geschwindigkeit der letzter»
auf hunderttansendstel eines Millimeters, bez. auf hundertbillionstel einer Se¬
kunde — das Violett z, B, soll eine Geschwindigkeit von 487 Billivnsteln einer
Sekunde besitzen! — berechnen zu können glauben, so ist dies ein durchaus
verkehrtes Verfahren, dessen Verkehrtheit den Gipfel erreicht, wenn sie aus der
thatsächlich unbekannten Ursache, ans der Erscheinung nämlich, ans die Natur
der Sinnesempfindung schließen wollen.
Nach dieser die allgemeine Stellung der Physiker den Erscheinungen
gegenüber überhaupt kennzeichnenden Vorbemerkung wende ich mich nun zu
den geschichtlichen Daten, soweit sie für unsre Frage der Analogie von Farbe
und Ton von Interesse sind. Schon Newton, der Erfinder der Siebenfarbcn-
theorie, stellte eine Vergleichung der einfachen Farben mit den ganzen Tönen
einer Oktave auf, wobei er aber nur die Breite der Farbenstreifen im prisma¬
tischen Spektrum zu den musikalischen Intervallen der phrygischen Tonleiter in
Beziehung zu setzen versuchte. Diese Vergleichung beruht aber auf einem so
augenscheinlich sophistischen Trugschluß, daß es unbegreiflich ist, wie sich der¬
selbe — Schopenhauer nennt ihn in seiner derben Manier einen unverschämten
Hnmbug — bis in die neueste Zeit durch die physikalischen Lehrbücher hindurch
hat fortpflanzen können. Daß nämlich Newton — statt der thatsächlich im
Spektrum (wie jeder Regenbogen beweist) enthaltenen sechs einfachen Farben,
Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Violett — deren sieben annahm, indem er zu dem
eigentlichen Blau noch ein zweites etwas dunkleres, das sogenannte Indigo, hinzu¬
fügte, geschah eben nur der Analogie zu den sieben Tönen der Oktave zu Liebe;
auf diese Weise war es dann allerdings sehr wohlfeil, in der Zahl 7 eine Analogie
zu entdecken. Daß aber thatsächlich mir sechs einfache Farben im Spektrum
existiren, geht ans folgender, sich als unwiderstehlich der Überzeugung auf¬
drängenden Erwägung hervor. Wenn man die Bezeichnung Einfachheit im
strengsten Sinne nimmt, so kann sie ohne Zweifel nur auf solche Farbe» An^
Wendung finden, welche dnrch keine Mischung herstellbar sind, da die Mischung
den Begriff der Einfachheit notwendig aufhebt. Solcher Farben giebt es aber
nicht sechs, geschweige denn sieben, sondern mir drei: Gelb, Rot, Blau, die ich
deshalb Urfarben nennen möchte, weil alle andern Farben und Farbennuancen
entweder durch ihre Mischung oder durch Abtönung zu Weiß oder Schwarz ent¬
stehen. Letztere beideu sind nämlich keine Farben im spezifischen Sinne des Wortes,
sondern bedeuten nur positive und negative Farblosigkeit, d. h. sie sind Surrogate
des reinen Lichts und der reinen Finsternis. Gelb, Rot, Blan sind also, als
Urfarben, allein einfach,*) wenn man, wie bemerkt, diesen Ausdruck im strengsten
Sinne nimmt. Was die andern drei sogenannten einfachen Farben Orange, Grün,
Violett betrifft, so braucht mau nur den Regenbogen mit unbefangnen Auge anzu¬
sehen, um zu erkennen, daß Orange den Übergang von Gelb zu Rot, Grün den von
Gelb zu Blan, Violett den von Blau zu Rot bildet, d. h. daß sie aus der Mischung
je eines Paares der betreffenden Urfarben entstehen. Wenn Newton also ein
„etwas dunkleres Blau" als siebente Farbe im prismatischen Spektrum entdeckt
haben wollte, so hätte er mit demselben Rechte z. B. auch ein „etwas dunkleres
Rot," etwa Karmin, hinzufügen können, was er wahrscheinlich auch getan haben
würde, wenn zufällig die musikalische Tonleiter uicht sieben, sondern acht Töne
umfaßte. Daß aber thatsächlich nur sechs Farben — ich nenne sie Grund¬
farben —, nämlich die drei Urfarben mit ihren einfachen Mischungsprvduktcn,
oder aber eine unendliche Menge derselben im Spektrum existiren — unendlich
deshalb, weil die Farben gegen einander nicht scharf abgegrenzt sind, sondern
tontinuirlich in einander verfließen —, ergiebt sich ans einer mit mathematischer
Genauigkeit nachweisbaren Thatsache, in welcher sich das Prinzip für die Ge¬
setzmäßigkeit jeder wissenschaftlichen Farbeutheorie offenbart, nämlich daraus,
daß die aus der Mischung je zweier Urfarben hervorgehende Grundfarbe je den
komplementären Gegensatz zu der dritten Urfarbe bildet. So ist die Mischung
von Gelb und Blan, nämlich Grün, des Komplement zu Rot, die von Gelb und
Not, nämlich Orange, das Komplement zu Blau, die von Not und Blau, nämlich
Violett, das Komplement zu Gelb,
Die hohe Wichtigkeit dieses Gesetzes mag es rechtfertigen, wenn ich diesen
Punkt behufs besserer Verständlichkeit, mit Hilfe einer einfachen Konstruktion,
etwas näher zu crlüuteru versuche. Bekanntlich ist die Reihenfolge der einfachen
Farben im prismatischen Spektrum sowie im Regenbogen folgende: Rot, Orange,
Gelb, Grün, Blau, Violett, Die gesperrt gedruckten Farben sind die Urfarben,
die andern drei Grundfarben ihre Komplemente, welche aus der Mischung der
ihnen benachbarten Urfarben entstehen. Nun liegt aber auf der Hemd, daß, da
ebenso wie Orange aus Rot und Gelb, Grün aus Gelb und Blau hervorgeht,
auch Violett aus Blau und Rot entsteht, an Violett also sich Not anreihen
oder, was dasselbe bedeutet, die mit Violett schließende Reihe sich zu Rot zurück¬
wenden muß, d. h, daß die Farben¬
reihe nicht eine gerade Linie, sondern
ihrem Wesen nach einen Kreis bildet.
Trägt man daher ans einen solchen
Kreis, dessen formale Notwendigkeit
sich aus dem Gesagte» von selbst er¬
giebt, die Namen der Farben auf, so
erhält man die nebenstehende Kon¬
struktion, bei der der Leser gebeten
wird, die auf dem Kreise ander-
wenig verzeichneten Linien und Be-
zeichnnngen zunächst unberücksichtigt zu lassen, um vorläufig nur die Name»
und Stellungen der sechs Grundfarben im Ange zu behalten.
Der Ausdruck Komplement (von eollixlcM, ausfüllen, ergänzen) bedeutet
Ergünzungsfarbe, d. h. eine Farbe, welche sich mit einer andern, ihr entgegen¬
gesetzten zum gesamten Farbenkreis ergänzt. Denn da dieselbe, z, B. Grün,
schon zwei Urfarben, nämlich Blau und Gelb, enthält, so bildet sie mit der
dritten, Rot, ein Fnrbenpaar, in welchem alle drei Urfarben, d. h. eben der
ganze Farbenkreis, enthalten sind. Ebenso Gelb mit Violett, Blau mit Orange.
Wenn man nun mit diesem einfachen, aber gerade in dieser Einfachheit
die Beziehungen der sechs prismatischen Farben zu einander mit mathematischer
Unbedingtheit offenbarenden Grundgesetz die Siebeufarbentheorie Newtons, die
noch heute in den physikalischen Lehrbüchern spukt, vergleicht, so ist mau wirklich
versucht, Schopenhauer Recht zu geben, wenn er behauptet, daß die Physiker,
weil sie in den Farben nichts als Namen und Zahlen sehen, vom Wesen der
Farbe keine Ahnung haben, sondern, blind in vea'w rag-gistri schwörend, schon
zufrieden sind, wenn sie nnr rechnen und kalkuliren können. Vor allem aber
ist der Ausspruch Schopenhauers, daß, da prinzipiell in der Theorie immer nur
von Farbenpaaren die Rede sein könne, schon aus diesem Grunde — abgesehen
von allen andern Momenten — die Siebenfarbentheoric einen Widerspruch
gegen die wirkliche Natur der Farben enthalte, weil sie eine ungerade Zahl von
einfachen Farben oder, wie der doktrinäre Ausdruck lautet, von „sieben homogenen
farbigen Lichtstrahlen" annimmt, durch das obige Gesetz der Komplementarität
zur zweifellosen Gewißheit erhoben.
Was daher von einer Parallelisiruug der Farben mit den Tönen hin¬
sichtlich ihrer analogen harmonischen Verhältnisse zu halten sei, die ans diese
falsche Theorie sich gründet, kann man von vornherein schon ermessen: sie ist
in Wahrheit nichts andres als — um mit Herrn Dubois-Rehmonds, allerdings
in andrer Richtung zur Anwendung kommenden Worten zu rede» — die „tot
geborne Spielerei" (zwar nicht eines „nntodidaktischeu Dilettanten," wie er die
Farbentheorie Goethes bezeichnet, sondern) eines im Autoritätsglauben be¬
fangenen Fachwissenschaftlers. Als eine solche Spielerei ist namentlich das von
dem Jesuiten Peter Louis Castel erfundene „Farbenklavier" zu bezeichnen, auf
welchem die sieben prismatischen Farben der Art mit den sieben Tönen der
musikalischen Tonleiter in Verbindung gebracht waren, daß beim Anschlagen einer
Taste ein mit einer bestimmten Farbe bemaltes Täfelchen aufklappte, während
gleichzeitig der ihr angeblich entsprechende Ton geflötet wurde. Welche konfuse
Vorstellung der Erfinder dieses famosen Instrumentes von der Natur der Farben
hatte, ersieht man aus der Art, wie er sie unter die Töne zu verteilen suchte.
Blau nämlich bezeichnete er — aus welchem Grnnde, behielt er für sich —
als den Grundton 0', Rot als die Quint v, Gelb als die Terz über die
übrigen dazwischenliegenden Farben und Töne aber disponirte er auf die Weise,
daß er Grün, weil es zwischen dem Grundton und der Terz in der Mitte liegt,
mit v, Violett dagegen, welches, da es doch zwischen Rot und Blan liegt, ans
demselben Grunde mit L hätte bezeichnet werden müssen, mit ^ markirte, weil
ü schon für Gelb in Anspruch genommen war. Diese unlogische Konsequenz
weist schon den Widerspruch in solcher Parallelisirnng auf, ganz abgesehen von
der Willkür in der ganzen Zusammenstellung. Was die noch fehlenden Töne
betrifft, so sollte ? dem Rosa, d. h. einer bloßen Mischung von Rot und Weiß,
die hier also als einfache Farbe eingeführt wurde, und schließlich H einem
„etwas brennenden" (!) Blau — einer ganz neuen Erfindung, welche insofern
von Interesse ist, als damit die kälteste aller Farben zur wärmsten gestempelt
wurde — entsprechen. Nicht nur der bis zur Sinnlosigkeit gehende Wider¬
spruch in der Zusammenstellung selbst, sondern auch, als Konsequenz davon, der
völlige Mangel eines Verständnisses von der Natur der Farben liegt in dieser
phantastischen Spielerei so auf der Hand, daß es keines besondern Nachweises
desselben bedarf und man sich nnr wundern muß, wie selbst in den physikalische»
Lehrbüchern der Gegenwart noch immer frischweg i» Bezug auf Farben von
Terzen, Quinten u. s. f. geredet wird. Die einfache und naheliegende Erwägmig,
daß. wenn irgendeine Farbe, etwa Blau, als Grundton, eine andre, etwa Rot,
als Quinte angenommen wird, man sofort vor einer nicht zu beantwortenden
Frage steht, sobald gefordert wird, die — sei es tiefere oder höhere — Oktave,
die ja denselben Ton, nur mit halber oder doppelter Schwingungszahl, angiebt,
durch eine Farbe zu bezeichnen, hätte längst alle Versuche einer solchen Paralleli-
siruug als hinfällig erkennen lassen sollen.
Ehe ich noch einige andre in der Geschichte auftretenden Ansichten über
einen angebliche» Parallelismus zwischen den Farben und Tönen erwähne, muß
ich zur Orientirung derjenigen Leser, welche sich nicht mit der Frage der Farben-
theoric vertraut gemacht haben, einige erklärende Worte über den prinzipiellen
Unterschied zwischen der Newtonschen und der Goethischen Farbenlehre voraus¬
schicken, wobei mir übrigens die Absicht fern liegt, mich in diesen — trotz Herrn
Dubois-Neymonds*) Versicherung, daß die Gvethische Theorie „längst gerichtet"
sei — noch immer schwebenden Streit näher einzulassen, Newton behauptet,
daß der reine Lichtstrahl aus sieben verschiedenfarbigen Strahlen zusammen¬
gesetzt sei, welche verschiedene Brechuugsart besäßen; weshalb, wenn man den
weißen Lichtstrahl durch ein kleines Loch in ein dunkles Zimmer fallen läßt
und ihn durch ein Prisma auffängt, eine Zerlegung des Strahles in seine Teile,
d, h. eben in die sieben einfachen Farben, bewirkt werde, welche sich auf der
gegenüberliegenden Wand darstellen. Es ist dies das sogenannte prismatische
Spektrum, welches aber, wie schon erwähnt, thatsächlich nur aus sechs einfachen
Farben besteht. Dieser Theorie gegenüber erklärt Goethe die Entstehung der
Farben — ohne Beihilfe eines „kleinen Lochs" und der prismatischen Brechung —,
und zwar zunächst den Kontrast von Gelb und Blau, durch die Einwirkung
eines trübenden Elementes, nämlich der Erdatmosphäre, welche den Gegensatz
des reinen Lichtes und der absoluten Finsternis in der Art abschwäche, daß
das weiße Licht durch die Trübung verdunkelt, die Finsternis eben dadurch er¬
hellt erscheine. Gelb ist ihm also getrübtes oder verdunkeltes Licht, Blau ge¬
trübte, d. h, erhellte Finsternis. Als Beweis führt er an, daß die Sonne in
der Nähe des Horizontes, wo ihr Licht also durch eine dichtere und dickere
Schicht der Erdatmosphäre hindurchgehen muß, gelber, d. h, orangefarben, oft
sogar bis zum Roten (daher die Morgen- und Abendröte) abgedämpft erscheint,
während das Blau des Himmels umso tiefer sich darstellt, je höher man empor¬
steigt, d. h, je dünner die Schicht des Trübenden wird, (Bekanntlich erscheint
den im Luftballon aufsteigenden der Himmel fast schwärzlich, und umsomehr,
je höher sie sich erheben.) Es ist dies das sogenannte Goethische „Urphänomen,"
das trotz seiner — im Gegensatz zu der rein hypothetischen Theorie von der
„Zusammensetzung des einfachen weißen Lichtstrahles aus sieben farbigen
Strahlen" — auf thatsächliche Erfahrung begründeten, einleuchtenden Beweis-
kraft noch immer von den Physikern perhorrescirt wird, obgleich sich sämtliche
Erscheinungen in diesem Gebiete auf die einfachste und natürlichste Weise
daraus erklären lasse», während dies auf Grund der Newtonschen durchaus
hypothetischen Theorie keineswegs oder nur mit Hilfe neuer, sehr gewagter
Hypothesen in sehr gezwungener Weise möglich ist. Man muß daher Schopenhauer
Recht geben, wenn er die Annahme, das reine weiße Licht sei aus sieben farbigen
Strahlen, und die absolute Helligkeit aus sieben Dunkelheiten zusammengesetzt, mit
der Behauptung vergleicht, eine einfache Wahrheit sei aus sieben Irrtümern
oder ein genialer Gedanke aus sieben Albernheiten zusammengesetzt, Auch Goethe
macht sich in seinen „zahmen Xenien" darüber lustig durch das Epigramm:
Es lehrt ein großer Physikiis
Und seine Anverwandten:
Nil luoo obsourius.
Jawohl I Fiir Obskuranten I*)
Kommen wir nunmehr zu der Frage nach der Analogie der Farben mit
den Tönen zurück. Die Newtousche Theorie hat in neuerer Zeit dazu geführt,
die Schwingungen des sogenannten Äthers, dessen durchaus problematische
Existenz von den Physikern ohne weiteres als feststehende Thatsache ange¬
nommen wird, zu messen, wodurch Zahlen herauskommen, die dem Laien dnrch
ihre Ungeheuerlichkeit imponiren (oben habe ich ein Beispiel davon angeführt).
Diese Messungen haben z. B. Unger veranlaßt, eine Theorie der Farbenharmonie,
begründet auf die Vergleichung der Lichtwellenverhältnisse mit den musikalischen
Intervallen, aufzustellen, indem er eine sogenannte „chromharmonische Scheibe"
konstrnirte, welche zwölf verschiedene — d. h. sieben ganze und fünf halbe —
Farbentöne enthielt, die den zwölf halben Tönen der Tonleiter entsprechen
sollten. Abweichend davon, aber immer im Zusammenhang mit der Newtonschen
Theorie, wollte Preyer in Jena gefunden haben, daß die Schwingungen der
sieben — denn sieben müssen es einmal sein — einfachen Farben in ihren
Schwingnngszahlen genau denen der diatonischen Tonleiter entsprächen, wo¬
gegen Listing herausrechnete, daß die Schwingnngszahlen der Hauptfarben eine
arithmetische Reihe bilden, was bekanntlich bei der Tonskala nicht der Fall ist.
So hebt immer eine Berechnung der Physiker, obschon sie sämtlich auf dem
Prinzip der Siebenfarbentheorie beruhen, die andern auf — der beste Beweis
für die Haltlosigkeit der ganzen Theorie.
*) Ein andermal sagt er:
Spaltet nur immer das Licht! Wie öfters strebt ihr zu trennen,
Was euch allen zum Trotz eins und ein einziges bleibt.
Neu ist der Einfall nicht; hat man doch selber den höchsten,Einzigsten reinen Begriff Gottes in Teile zerlegt!
Wenn aber derartige grobmaterielle Versuche einer Parallelisirung von
Farben und Tönen entschieden zurückzuweisen sind, weil sie auf einer völligen
Verkennung der verschiednen Natur der betreffenden Erscheinungs- und An-
schmiungsformen beruhen, so schließt dies nicht aus, daß in mancher Hinsicht
eine Art Ähnlichkeit zwischen den optischen und akustischen Gesetzen obwaltet,
eine Ähnlichkeit, die einfach darin ihren Erklärungsgrund hat, daß diese Gesetze
sich auf die beiden höchsten Sinne beziehen, welche — im Unterschiede von der
chemischen Natur des Geruches und Geschmackes und der mechanischen des Tast¬
sinnes — allein ästhetischer Empfindungen im spezifischen Sinne des Wortes
fähig sind. Aber wir werden sehen, daß gerade die nähere Bestimmung dieser
Ähnlichkeiten den Beweis liefert, daß daneben eine so große prinzipielle Ver¬
schiedenheit zwischen ihnen herrscht, daß von einer Parallelisirung ihrer Er¬
scheinungen keine Rede sein kann.
Äußerlich lassen sich alle Ähnlichkeiten zwischen den beiden Wahrnehmungs¬
sphären des Auges und Ohres darauf zurückführen, daß die Erscheinungs- oder
richtiger Anschauungsformen sowohl der Farben wie der Töne auf Schwin¬
gungen, einerseits der Seh-, andrerseits der Gehörnerven, oder — wenn man
mit den Physikern diese subjektiven Anschauungsformen nach außen projizirt,
d. h. auf ihre unbekannte objektive Ursache beziehen will — auf sogenannten
Äther-, beziehentlich Luftschwingungen beruhen. Aber selbst diese scheinbare
Gleichheit der Bewegungsformen enthält nicht bloß wesentliche Unterschiede, sondern
verwandelt sich bei näherer Betrachtung zum Teil sogar in einen Widerspruch,
Denn abgesehen davon, daß der Unterschied in der Geschwindigkeit, mit welcher
sich Licht und Schall bewegen, ein so kolossaler ist, daß kaum noch von einer
formalen Ähnlichkeit zwischen ihnen gesprochen werden kann — beispielsweise
würde der Schall zur Zurücklegung des Weges, welchen das Licht in einer
Sekunde durchmißt (nämlich 42 000 Meilen), fast vier Monate brauchen, da
er in der Sekunde nur etwa 1050 Fuß zurücklegt —, und daß ohnehin der
Schall, bei günstiger Leitung, mir auf eine sehr kurze Eutfernung — Kanonen¬
donner z, B, nur auf wenige Meilen — sich fortpflanzt, während das Licht
noch von den viele Millionen Meilen entfernten Fixsternen unser Auge trifft,
so ist besonders der Umstand von Wichtigkeit, daß die Medien für das Licht
in ganz entgegengesetzter Weise als die Medien für den Schall wirken, indem
der letztere durch ein dichteres Medium, z, B. die Erde, besser geleitet wird als
dnrch ein dünneres, z, B. die Luft, während beim Licht gerade das Gegenteil
stattfindet. Ferner Kanonendonner oder Pferdegetrappel wird noch deutlich
gehört, wenn man das Ohr ans die Erde legt, während die Luft den Schall
nicht mehr vermittelt, und unter der Luftpumpe giebt eine Glocke überhaupt
keinen Ton mehr von sich. Ferner, wenn man, auf Grund einer vorgeblichen
Analogie zwischen Farben und Tönen, etwa die dunklern (tiefern) Farben mit
den tiefern Tönen in Parallele stellen wollte, so würde sich auch in dieser Be-
ziehung ein Gegensatz ergeben, insofern der von Ohre noch wahrnehmbare tiefste
Ton die geringste Anzahl von Schwingungen, nämlich 32 in der Sekunde, macht,
während die tiefste Farbe, das Violett nämlich, nach den Berechnungen der
Physiker die größte Schwingnngszahl, nämlich 487 Billionen in der Sekunde,
besitzen soll.
Wenn man übrigens diese beiden Zahlen -— ganz abgesehen von dem darin
sich offenbarenden Gegensatz in der Bewegungsform —, nämlich 32 mit 487 Bil¬
lionen, zusammenhält, so muß eine auf Grund solcher Ähnlichkeit, nämlich daß
es sich doch beiderseits um „Schwingungen" handle, behauptete Analogie der
beiden Erscheinungsgebiete jedem Unbefangenen geradezu absurd vorkommen. Die¬
selbe kolossale Differenz waltet auch zwischen den von den Physikern ebenfalls
herausgerechneten Wellenlängen einerseits der farbigen Strahlen, andrerseits der
Töne ob, indem gegenüber der 3'/z Fuß laugen Welle des Tones ^ der Stimm¬
gabel die Wellenlänge des violetten Strahles etwa ein Hunderttausendstel eines
Zolles beträgt. Schon diese ungeheuren Differenzen in den Bewegungsformen
der Farben und Töne — angenommen, die Berechnungen der Physiker hätten
einen objektiven Wert — deuten darauf hin, daß, wenn beim Schall, wie beim
Licht, von Beugung, Reflexion, Interferenz und ähnlichen Modifikationen der¬
selben gesprochen wird, diese gleichnamigen Ausdrücke in optischer Beziehung
eine ganz andre Bedeutung haben als in akustischer. Was z. B. die Re¬
flexion betrifft, so könnte man aus Grund des bekannten Gesetzes, daß der Ein¬
fallswinkel stets gleich dem Ansfallswinkel ist, diese beim Licht sich kundgebende
Erscheinung nicht nur mit der ähnlichen des Schalles, sondern auch mit derjenigen in
Analogie stellen, welche beim Stoß fester Körper, z. B. einer von der Bande
abprallenden Billardkugel, stattfindet; und mit gleichem Rechte könnte man die
Erscheinung der sogenannten Interferenz, welche bei sich lombinirenden Wellen¬
bewegungen des Wassers stattfindet, mit der gleichnamigen des Lichtes identi-
fiziren. Dürfte nun dieser auf ganz allgemeinen physikalischen Gesetzen be¬
ruhenden, durchaus äußerlichen Ähnlichkeiten halber jemand mit einem Anschein
von Recht behaupten, daß sich darin eine Analogie zwischen Licht und Billard¬
kugel, beziehentlich Wasser, hinsichtlich ihrer spezifischen Natur, offenbare?
Was die anderweitigen gleichnamigen Bezeichnungen für gewisse Erschei¬
nungen der beiden Sphären (Farbe und Ton) betrifft, d. h. diejenige», welche
speziell dem Tongebiet angehören, aber auf das der Farben übertragen sind,
wie Konsonanz und Dissonanz, Harmonie, Zweiklang, Dreiklang, Akkord, Dnr-
und Molltonart, Temperatur u. s. f., so herrschen auch in dieser Beziehung,
abgesehen von ihrer ganz allgemeinen ästhetischen Bedeutung, die hier uicht in
Frage kommen kann, prinzipielle Unterschiede, von denen ich nur einen hervor¬
heben will, weil sich in ihm der Mangel an innerlicher Analogie zwischen den
beiden Gebieten in augenscheinlichster Weise offenbart, nämlich der Gegensatz der
Dur- und Molltonart, ein Ausdruck, der bekanntlich sowohl bei harmonischen
Farben- wie Tonverbindungen angewendet wird. Im musikalischen Mord bildet
bekanntlich der Grundton mit der großen Terz und der Quinte, also z. B,
den harten Dreiklang oder sogenannten Durakkord, welcher durch die Ver¬
tauschung eines einzigen Tones mit einem andern, nämlich der großen Terz mit
der kleinen, sich in den weichen Dreiklang oder den Mollakkord verwandelt. In
der Farbenskala dagegen würde, wenn beispielsweise Gelb, Rot, Blau, d, h, die
drei reinen Urfarben, den Durakkord repräsentirten, dnrch Vertauschung der
großen Terz (Not) mit der kleinen (etwa Rotorange; denn dies liegt im Ver¬
hältniß zu Rot dem Grundton Gelb um ebensoviel näher wie dem L im
Verhältnis zu L) kein Mollakkord, sondern lediglich Disharmonie entstehen,
weil der Übergang von Dur zu Moll in der Farbenskala eine Verschiebung
sämtlicher den Akkord bildenden Töne bedingt. Aus dem Durakkord Gelb, Rot,
Blau würde daher ein Mollakkord nur durch eine Verschiebung dieser Farben
entweder bis zu ihren Komplementen Orange, Grün, Violett oder (noch „mol¬
liger") bis zu den Mischfarben Rotorange, Gelbgrün, Blauviolctt, oder auch
Gelborange, Blaugrün, Rotviolett erzielt werde». Der Ausdruck „molliger" ist
hier nicht etwa Spaßes halber gebraucht, sondern ganz ernsthaft gemeint, denn
es drückt sich darin ebenfalls die eine wesentliche Differenz enthaltende That¬
sache aus, daß die Bezeichnung Moll in der Farbenskala eine nur relative,
d. h. gradweise sich steigernde Bedeutung besitzt, während sie in der musikalischen
Skala von festem, durchaus konstanten Wert ist.
Es herrscht nämlich für alle harmonischen Farbenverbindungen das Gesetz,
daß nur diejenigen Farben eine vollkommen harmonische Verbindung darstellen,
in denen der ganze Fnrbenkreis oder, was dasselbe ist, die drei Urfarben —
sei es unmittelbar, sei es durch Mischung — repräsentirt sind. Dies Prinzip
liegt seinem Wesen nach im Begriff der Harmonie selbst. Harmonie wird
gewöhnlich in den ästhetischen Lehrbüchern schlechthin als „Einheit in der
Mannichfaltigkeit" definirt. Allein da weder jede zu einer Einheit zusammen¬
gefaßte Mannichfaltigkeit, noch jede in sich mannichfaltige Einheit schon eine
lückenlose Verbindung organisch gegliederter Teile darstellt, so besagt jene De¬
finition sowohl zu viel wie zu wenig. Das Wesen der Harmonie liegt vielmehr
einerseits in der Ganzheit, andrerseits eben in der organischen Gliederung der unter
sich verschiednen Teile. Werden z. B. die sämtlichen Teile einer in Stücke zer¬
schlagenen Statue ungeordnet mit einander verbunden, so ist zwar eine Einheit
mannichfaltiger Teile, aber weder eine Ganzheit noch eine organische Gliederung
vorhanden; fehlen wesentliche Teile davon, bei sonst richtiger Anordnung der
übrigen, so findet zwar organische Gliederung der vorhandenen, aber keine Ganz¬
heit statt. Diese beiden Momente also, Ganzheit und innerhalb derselben or¬
ganische Gliederung der Teile, d. h. gesetzmäßige Anordnung derselben, sind für
den Begriff der Harmonie wesentlich. Damit ist aber hinsichtlich der harmo¬
nischen Farbenverbindungen der Satz begründet, daß nicht schon solche Farben,
die überhaupt zu einander stimmen — wie Arme, Leib und Beine der Statue,
deren Kopf fehlt —, sondern nur solche, die außerdem eine Totalität bilden,
in denen also der gesamte Farbenkreis repräsentirt ist, einen harmonischen Mord*)
darstellen. Ganz ähnlich ist es in der Musik, wo auch der bloß mit der Terz
oder der Quinte verbundene Grundton zwar nicht disharmonisch wirkt, aber doch
mit ihnen noch keinen harmonischen Akkord bildet.
Auf diesem, in der Praxis,**) z. B. in der dekorativen Malerei, oft instinktiv
befolgten Gesetze beruht — in wesentlicher Verschiedenheit von den gleichnamigen
Bezeichnungen der Tonleiter — der Unterschied zwischen den Zwei-, Drei-, Vier-,
Sechsklängen. Der harmonische Zweiklang wird durch ein beliebiges komple¬
mentäres Farbenpaar gebildet, z. B. Rot-Grün, Gelb-Violett, Blau-Orange,
aber auch durch Rotorange-Blaugrün, Rotviolett-Gelbgrün, Gelborange-Blan-
violett u. s. f., denn in allen diesen Farbenpaaren ist der ganze Farbenkreis
enthalten, und alle diese Zweiklänge stehen, je nachdem in ihnen die Urfarben
unmittelbar oder aber gemischt vorkommen, in einem relativ sich abschwächenden,
d. h. gradweise sich erweichenden Verhältnis zwischen Dur und Moll. Dasselbe
findet im Dreiklang statt, dessen Dnrform dnrch die reinen Urfarben Gelb-Rot-
Blau gebildet wird, während ihre Komplemente Violett, Grün, Orange einen
schon weichern, die aus diesem mit jenen gebildeten Mischfarben (z. B Rotorange,
Gelbgrün, Blauviolett) einen noch viel weichern Akkord bilden. Dennoch hat der
Dreiklang das Eigentümliche, daß die denselben bildenden Farben stets relativ
gleichwertige Bedeutung haben. Etwas ähnliches findet beim Sechsklaug statt,
indem hier die gleichwertigen Urfarben mit den zwar gegen sie im Range nie-
driger stehenden, unter sich aber ebenfalls relativ gleichwertigen komplementären
verbunden sind: es sind dies die sechs einfachen Farben des Regenbogens. Anders
im Vierklang, welcher durch vier im Farbenkreise an den Spitzen zweier sich recht¬
winklig schneidenden Durchmesser stehende Farben, also z. B, Rot, Grün, Gelb¬
orange, Blauvivlett oder Gelb, Violett, Rotorange, Blaugrün oder Blau, Orange,
Rotviolett, Gelbgrün gebildet wird. In diesen letztern Verbindungen reprüsentiren
die dazu beitragenden Farben drei verschiedene Wertstufen, indem immer eine
Urfarbe mit ihrer komplementären und außerdem mit zwei Mischfarben zu¬
sammengestellt ist. Aber gerade in dieser Ungleichwertigkeit, welche keineswegs
die harmonische Wirkung ausschließt, liegt infolge der größern Mannichfaltigkeit
ein höherer Reiz für die ästhetische Empfindung, und außerdem in praktischer
Beziehung, d. h. nicht bloß hinsichtlich der Koloristik in der Malerei, sondern
auch hinsichtlich des allgemeinen ästhetischen Bedürfnisses, z. B. bei Auswahl
von Farben sür Kleidung, Zimmerdekoration, Teppiche u. s. s., ein sehr wesent¬
liches Moment.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß die angebliche Analogie
zwischen der Harmonie der Farben und der Töne nur in den Köpfen unklarer
Phantasten vorhanden ist, die sich nicht die Mühe geben, die spezifische Natur
beider Elemente näher zu untersuchen.*) Zum Überfluß will ich noch darauf hin¬
weisen, daß der Unterschied zwischen der Farbenskala und der Tonleiter sich auch
schon darin kundgiebt, daß, während in der letztern jeder Ton als Grundton
und demgemäß auch als Terz, Quinte u. s. s. fungiren kann, woraus bekanntlich
die verschiednen Tonarten (Laur, (läur, Mui u. s. f.) sich entwickeln, die Farben
der Farbenskala durchaus konstant bleiben, sodaß hier von Tonarten in gleichem
Sinne garnicht die Rede sein kann, sowie daß, wie schon erwähnt, die Be¬
zeichnung Oktave, d. h. derselbe Ton, aber mit doppelter oder halber Schwin¬
gungszahl, in der Farbenskala keinen Sinn hat. Endlich ist noch hinsichtlich
der Bezeichnung „Klangfarbe" (in der Musik) und „Farbenton" (in der Malerei),
worin eine Übertragung von Elementen der einen Sphäre auf die andre statt¬
findet, die ebenfalls Anlaß zur Behauptung einer innern Verwandtschaft zwischen
dem Farben- und dem Tongebiet gegeben hat, zu bemerken, daß auch hierin
vielmehr ein auffälliger Beweis für ihre Differenz zu finden ist. Während
nämlich der Ausdruck Ton in der Malerei die Bedeutung hat, daß die konstante
Qualität der Farbe oder die sogenannte Lvkalfarbe in Fluß gebracht und
gleichsam idealisirt, d. h. vergeistigt wird, bezeichnet der Ausdruck Klangfarbe
in der Musik das gerade Gegenteil, indem hier Farbe eine lediglich materielle
Bedeutung besitzt, der Ton also vielmehr entgeistigt wird. Denn die Klang-
färbe eines Instrumentes, einer Stimme u. s, f. hat mit der innern Qualität
des Tones, d, h. mit seiner Höhe und Tiefe, mit seiner relativen Stärke, seinem
Anschwellen und Sinken nichts zu thun, sondern L bleibt 0, ob es auf einer
Violine gestrichen oder auf einer Trompete geblasen wird; der Unterschied beruht
hier vielmehr lediglich darin, daß das erstere durch die Schwingung einer Darm¬
saite, das zweite durch das Schwingen von Metall hervorgebracht wird; er ist
also ein durchaus an dem Material haftender. Wie kann man bei diesem dia¬
metralen Gegensatz der Bedeutung, welche in jener Übertragung liegt, noch von
Analogie reden?
Aber es kommt bei der Vergleichung der Tonharmome mit der Farben¬
harmonie noch ein weiteres Moment in Betracht, welches, da es nur dem einen
Gebiet, nämlich dem der Farben, angehört, jede Parallelisirung zwischen ihnen
schon deshalb als bloße Illusion kennzeichnet, weil auf ihm der wesentlichste
Charakter der Farben als solcher überhaupt beruht: dies ist der Unterschied
zwischen warmen und kalten Farben, für den in der Musik jedes Analogon fehlt.'
Dieser Puukt ist vou großer Wichtigkeit. Visher hat man — auch Goethe
und Schopenhauer, obwohl ich sonst im Prinzip ihre Auffassung des Wesens der
Farbe teile — wesentlich nur die Helligkeitsuuterschiede zwischen den Farben in Be¬
tracht gezogen. Goethe, der die Natur der Farbe im Gegensatz zum reinen
Licht als ein schattiges (sxt^av) bezeichnete, ließ sich durch diese an sich ganz
richtige, aber einseitige Auffassung verleiten, hieraus den Schluß zu ziehen, daß
die Grade der Helligkeitsintensität, wenn nicht den einzigen, so doch den wesent¬
lichsten Unterschied zwischen den Farben ausmachten. Das trübende Element
der Erdatmosphäre verwandelt das reine weiße Licht der Sonne — dies ist
seine Theorie — zunächst in die hellste Farbe, das Gelb; bei stärkerer Trübung
entsteht Orange, dann Not, dann Violett, endlich Blau.*) Er spricht dabei zwar
auch von Wärme der Farben, identifizirt sie aber gewissermaßen mit der Hellig¬
keit, indem er Gelb nicht bloß als die hellste, sondern mich als die wärmste
und ihren Gegensatz Blau nicht nur als die kälteste, sondern auch als die
dunkelste betrachtet. Hierin liegt der Fehler seiner im übrigen richtigen An¬
schauung. Gelb ist zwar die hellste, aber nicht die wärmste Farbe, sondern dies
ist Orange, das Komplement zu Blau, und Blau ist zwar die kälteste, aber
nicht auch die dunkelste Farbe, sondern dies ist Violett, das Komplement zu
Gelb. Daher ist auch, worauf schon Schopenhauer hingewiesen hat, seine An¬
nahme eines polaren Gegensatzes von Gelb und Blau nicht zutreffend, sondern
ein solcher Gegensatz kann nur zwischen komplementären Farben, also Gelb und
Violett oder Orange und Blau, stattfinden, während zwischen Gelb und Blan
nur ein Kontrast herrscht, der durch Rot, den Herrscher im Farbenreich, ver¬
mittelt und durch dessen Komplement Grün insofern bestätigt wird, als dies
aus der Mischung von Gelb und Blau entsteht, während polarisch entgegen¬
gesetzte, d. h. komplementäre Farben, wenn sie gemischt werden, stets einander
zur Farblosigkeit neutralisiren, d. h. entweder bei stofflicher Mischung Schwarz,
bei prismatischer Deckung Weiß geben.
Die Ursache, aus welcher die Helligkeitsintensität mit der Wärmcintensitcit
bei den Farben nicht zusammenfällt, kann hier ohne ausführlichere Erörterung
nicht erklärt werden; ich muß mich auf folgende Andeutung beschränken, deren
Inhalt, beiläufig gesagt, meines Wissens durchaus neu ist. Das an sich absolut
kalte Licht der Sonne (daher gerade auf deu höchsten Bergen der Schnee niemals
schmilzt)*) erleidet dnrch das trübende Element der Erdatmosphäre eine zweifache
Modifikation, nämlich einmal eine quantitative Schwächung, welche der Grund
der Verschiedenheit der Helligkeitsgrade ist, sodann eine Hemmung seiner Be¬
wegung, welche sich nicht uur in der Form der Strahlenbrechung, wie man
bisher annahm, sondern auch als Verlangsamung seiner Geschwindigkeit äußert
und die wahre Ursache der Verschiedenheit der Wärmeintensitüt ist. Daß Licht
dnrch materiellen Widerstand in Wärme sich verwandelt, ist eine bekannte
Physikalische Thatsache; und was die Farbe» betrifft, so hat man durch Versuche
herausgebracht, daß sogar im prismatischen Spektrum die dunklern Farben¬
streifen mehr Wärme enthalte» als die Hellem. Diese durch die Hemmung
bewirkte Verlangsamung, bez. Erwärmung des Lichts — mag man den Aus-
druck „Erwärmung" im materiellen oder im ästhetischen Sinne verstehen —
nenne ich, im Unterschied von seiner quantitativen, seine qualitative Modifikation.
Nun aber liegt es auf der Hand, daß eine nur geringe, dnrch das trübende
Element hervorgebrachte Schwächung zwar die hellste Farbe (Gelb) hervorbringt,
daß aber hier die Hemmung noch zu schwach ist, um schon den größten Wärme¬
grad zu erzeugen. Dieser wird daher, bei sich verstärkender Trübung, erst in
Orange erreicht. Ferner ist einleuchtend, daß, wenn die Hemmung einen solchen
Grad erreicht, daß das Licht bis auf die Hälfte seiner Wirkung überhaupt als
Helligkeits- und Wärmequelle reduzirt wird, nicht bloß die erstere, sondern auch
die zweite wieder konstant abnehmen müssen, und zwar zunächst bis zu ihren
respektiven Ausgleichpunkten, d. h. bis zu denjenigen Punkten der Skala, in
welcher einerseits Helligkeit und Dunkelheit, andrerseits Wärme und Kälte
einander die Waage halten. Bis zu diesen Punkten, die aber — wie bemerkt —
für Helligkeit »ud Wärme nicht zusammenfallen, kann man von positiven (d. h.
von hellen wie warmen), darüber hinaus von negativen (d. h. von dunkeln und
kalten) Farben sprechen. Dadurch teilt sich nun der Farbenkreis in zwei
Doppelhalbkreise, welche, da Gelb die höchste Helligkeit, Orange die höchste
Wärme repräsentirt, leicht dadurch zu konstruiren sind, daß man auf dem Durch¬
messer Gelb-Violett, der das Maximum und Minimum der Helligkeit darstellt,
einen ihn rechtwinklig schneidenden Durchmesser errichtet, also Rvtorange-
Blangrün, welcher als Helligkeitsdurchmesser die helle Kreishälfte von der
dunkeln scheidet, während der auf dem Durchmesser Orange-Blan, welcher das
Maximum und Minimum der Wärme repräsentirt, errichtete Durchmesser Not¬
violett-Gelbgrün als Wärmedurchmcsser die warme Kreishälfte von der kalten
trennt. In beiden Durchmessern findet natürlich ein Ausgleich, und zwar in dem
erste» zwischen Helligkeit und Dunkelheit bei verschiedner Wärmeintensitüt, in
dem zweiten zwischen Wärme und Kälte bei verschiedner Helligkeitsintcnsität
statt; denn Notorange ist zwar ebenso hell wie Blaugrün, dieses aber kälter als
jenes, Notviolett zwar ebenso warm wie Gelbgrün, dieses aber Heller als jenes.
In diesen verschiednen Beziehungen liegt nun überhaupt die Möglichkeit eiues
Unterschiedes der Farben als solcher, da, wenn Helligkeits- und Wärmeiutensität
zusammenfielen oder überhaupt nur, wie Goethe wollte, die Helligkeitsunterschiede
im wesentlichen die Natur der Farbe bestimmten, garnicht abzusehen wäre,
weshalb die ganze Skala sich nicht auf eine einfache und monotone Abstufung
von Grau, d. h.' von Helligkeitsgraden zwischen Weiß und Schwarz, beschränkte.
Nur die durch die verschiedne Wärmeintensität in Verbindung mit der Hellig¬
keitsskala bewirkte Differenz zwischen Helligkeit und Wärme jeder Farbe macht
der Ursprung der Farben als solcher überhaupt erklärlich.
Wenn sich dies aber so verhält, d. h. wenn die Natur der Farben, als
dieser besondern Modifikationen des reinen, farblosen Lichts, wesentlich durch
den Hinzutritt der verschiednen Wärmcqualität zur Helligkeitsskala bedingt ist,
so kann — abgesehen von den andern, oben betrachteten Thatsachen — schon
im Prinzip von einer Parallelisirung zwischen Farben und Tönen keine Rede
sein, da für den Unterschied des Wärmegrades jede Ähnlichkeit im Bereich der
Töne mangelt.
illiccnt hatte aus dem schmucken kleinen Hause, welches so trau¬
lich in der alten Mauer stand, eine Botschaft erhalten, und
während Dorothea mit dein Maler in den Park hinauswandelte,
schickte sich ihre Milchschwester und Gesellschafterin an, hinüber-
zugehen. Das kleine Haus war von ihrem Oheim, dem Wirt-
schaftsinspektor Schmidt, bewohnt, der die Leitung der großen Herrschaft Eich¬
hausen führte und seit langen Jahren der Interessen des Hauses Sextus mit
großem Eifer waltete. Die Tante Schmidt hatte ihr sagen lassen, daß Bruder
Rudolf aus Holzfurt herübergekommen sei, und daß sie freundlich zum Abend¬
essen eingeladen werde.
Millicent stand eine Minute lang unschlüssig vor dem Spiegel in ihrem
netten, mit buntem Kattun ausstaffirter Zimmerchen, welches nahe an Dorotheens
Gemächern lag. Sie wußte nicht, ob sie das braune Kleid mit den Atlas¬
schleifen anziehen, oder ob sie ihr Satinkleid anbehalten und eine blaue
Schleife dazustecken sollte. Nicht als wäre der Ton der Jnspektorwohmmg
gerade förmlich gewesen, aber man mußte doch auch deu Verwandten gegenüber
auf das Äußere halten. Es war sehr hübsch und gemütlich bei Inspektors,
und Millicent hing sehr an dem Bruder ihres Vaters und dessen verchrungs-
würdiger Gattin, nur hätte sie gewünscht, daß dort etwas mehr Anerkennung
der feineren Bildung herrschte. Vierbeinige Geschöpfe Gottes, Pferde, Rinder
und noch andre Tiere, deren Wert von rationeller Mästung abhing, spielten
in den Interessen der Jnspektorsbehausuug eine so hervorragende Rolle, daß
Millicent sich davon zeitweise etwas bedrückt fühlte. Und daß sie selbst, die
im Umgange mit Dorothea und auf weiten Reisen viel gelernt hatte, von
höherem Geistesschwunge beseelt war, ließ man dort nicht recht gelten. Es
war ihr nicht möglich, mit der Tante Schmidt ein erhebendes Gespräch über
ihre Lieblingsdichter, Lord Byron oder Lamartine oder George Sand zu führen,
die gute Frau fiel immer wieder in den niedrigen Kreis solcher Ideen zurück,
die den Stand des Eingemachten und den Inhalt der Rauchkammer zum Mittel¬
punkte hatten.
Nun war auch noch ihr Bruder Rudolf da, der eine ganz besondre Rolle
in der Familie spielte. Millicent wußte oft nicht recht, was sie aus ihm
machen sollte. Er war der älteste der Geschwister, und es schien so, als wollte
er die andern beherrschen. Er hatte immer Pläne, nur war Millieent in
Zweifel, ob dieselben auch wohl immer vernünftig wären. Und ein ganz be¬
sondrer Punkt war noch da, über den sie sich mit ihrem Bruder garnicht ver¬
ständigen konnte. Er wollte sie seit einiger Zeit bald mit diesem, bald mit
jenem Herrn seiner Geschäftsfreundschaft verheiraten und schien nicht begreifen
zu können, daß Millicent gerade in dieser Angelegenheit ihren eignen Kopf
aufsetzte.
Millicent zog das braune Kleid an, von dem sie glaubte, daß es ihrem
Äußern einen strengern und festern Charakter gäbe.
Als sie drüben in das Gesellschaftszimmer trat, fand sie ihren Bruder
allein und offenbar ungeduldig. Er ging mit langen Schritten auf und ab in
der Stube und stellte sich, als sie mit freundlichem Gruß hereinkam, spöttisch
lächelnd vor sie hin.
Nun? fragte er, haben Jhro Gnaden die Fürstin Dorothea endlich geruht,
dem Ehrensräulein Urlaub zu erteilen?
Es war dies ein Ton, den Millicent nicht liebte, und sie antwortete nur
mit Achselzucken. Rudolf hatte eine demokratische Ader und konnte sich nur
selten enthalten, abfällige Bemerkungen über die Aristokratie zu machen, deren
Spitze sich gegen das ihm unangenehme abhängige Verhältnis seiner Schwester
kehrte. Wenn Millicent in ihren Geschichtsstudieu an die Enthauptung des
stolzen Königs Karl oder die Abstimmung über Leben und Tod des guten
Ludwig kam, so dachte sie sich unter den trotzigen Parlamcntsincinnern und
Jakobinern Gestalten, zwischen denen auch ihr Bruder Rudolf hätte sitzen können.
Gleichwohl hatte er von Ansehen einige Ähnlichkeit mit ihr. Er hatte
ebenfalls blühende Farben, eine Erbschaft vom Vater her, der sein Leben lang
in freier Luft gearbeitet hatte, und seine vorstehenden Augen waren blau >wie
die ihrigen. Nur spielte bei ihm das Haar, welches bei Millicent goldig
glänzte, stark ins Note, und er ward nicht dadurch verschönt, daß seine Ohren
abstanden und sein Kopf dazu noch ungewöhlich breit war. Auch lag in seinen:
Blick nicht die fröhliche Gutherzigkeit der Schwester, sonder» er hatte etwas
schlaues und forschendes.
Was ist denn das für eine Geschichte gewesen mit dein Bauerburschen?
fragte er von neuem. Die Tante hat mir da eine wahre Räubergeschichte er¬
zählt von Verkleidung, Überfall und Rettung,
Es war eine ganz nichtssagende Geschichte, erwiederte Millicent. Dorothea
und ich hatten uns als Fischermädchen verkleidet und einen großen Korb mit
Wein, Pasteten und dergleichen, sowie el» Vouquet als Willkomm zum alten
General getragen. Es war ein Scherz, und der alte Herr hat sehr gelacht, als
er in den Fischermädchen, die plötzlich vor ihm im Zimmer standen, uns er¬
kannte. Auf dem Heimwege begegnete uns ein unverschämter Bursche, der uns
molestirte, und der fremde Maler, der jetzt drüben ist, kam zufällig dazu und
jagte den Schlingel fort.
Ist es denn jetzt so weit gekommen, daß ihr dem General das Essen
bringen müßt?
Du liebe Zeit, Rudolf, wenn wir dem guten alten Herrn nicht zuweilen
mit etwas substantiellen unter die Arme greifen, so verhungert er womöglich.
Sein Haushofmeister ist in Verzweiflung. Kaum hat der General seine Pension
empfangen, so schenkt er sie weg, und es bleibt kaum so viel übrig, um dem
alten Herrn Mittags eine Wassersuppe oder ein Gericht Kartoffeln und Kohl
vorsetzen zu können.
Und läßt er es sich denn gefallen, daß ihr ihm Wein und Pasteten bringt?
Er erfährt es nicht und merkt es nicht. Wir gaben den Korb an den
Großvater Degenhard ab und nur das Vouquet natürlich dem Grafen selbst.
Degcnhard setzt dem Grafen dann nach und nach die guten Sachen vor und
ißt den Kohl und die Kartoffeln selber.
Siehst du, sagte ihr Bruder, indem er den Kopf mit Rednergeberde zurück¬
warf, da haben wir die deutschen Zustände in einen: engen Rahmen übersichtlich
zusammengestellt. Von unten die Bedientenhaftigkeit und von oben den Bettel-
stolz! So können wir freilich niemals zu wahrhaft freien Institutionen und
zu dem Wohlstand andrer Nationen kommen. Ein hochmütiger Adel, der nichts
gelernt und nichts vergessen hat, dazu ein verknöcherter Bauernstand. Und das
macht Opposition gegen den strebsamen, gebildeten, intelligenten Bürger, der doch
allein dem Lande Kraft giebt und es auf der Höhe hält.
Millicent lachte. Es ist gut, daß der Onkel noch zu thun hat, sagte sie.
Wenn er dich hörte, würde es eine schöne Szene geben. Übrigens kann ich dir
sagen, daß der Graf einer der edelsten Menschen auf der Welt ist und der alte
Degenhard auch. Es ist nur die reinste Herzensgüte, die den Grafen sein Geld
verschenken läßt, und daß Degeuhard bei ihm ausharrt, ist eine rührende Treue.
Mangel an Wirtschaftlichkeit, meinst du wohl, und Einfalt, sagte Rudolf.
Die alte Gewohnheit des Verschwendens ist es beim Grafen. Das wirft sein
Geld erst für Pferde und Frauenzimmer weg, spielt und wettet, und ist dann
so in die Gewohnheit gekommen und denkt, es wächst vielleicht von irgendwoher
wieder nach. Und dem alten Degenhard steckt noch die militärische Dressur im
Leibe, und er macht es wie die ausrangirten Kavalleriepfcrde vor der Droschke,
die beim Trompetensignal durchgehen.
Weißt du, wie es mit dem Grafen ist? Ich kann so etwas nicht ruhig
mit anhören, rief Millicent eifrig. Der Graf könnte ganz bequem leben, denn
er hat eine Pension von mehr als dreitausend Thalern, und das Grundstück
gehört ihm. Aber er giebt sein Geld an bedürftige Kameraden weg, die
ihn darum angehen, er verleiht ohne Sicherheit, oder verschenkt wohl gar. Und
dann, wenn du mir versprichst, es niemand wieder zu sagen, will ich es dir
erzählen.
Was willst du mir erzählen, meine liebe Millieent? fragte ihr Bruder
eifrig, indem er einen Stuhl neben ihren Platz am Fenster rückte. Du weißt,
ich bin verschwiegen wie der Ziehbrunnen da im Hofe.
Der Graf ist verheiratet, berichtete Millicent, aber seine Frau ist ihm untreu
geworden. Sie ist ihm davongelaufen und hat sich von einem schlechten Menschen
und falschen Freunde des Grafen entführen lassen. Der Graf hat deshalb
seinen Abschied genommen und sich hierher in die Einsamkeit zurückgezogen.
Aber was thut er? Es ist ein Geheimnis, aber ich habe es erfahren. Er
unterstützt mit seinem Gelde heimlich die treulose Frau, welche mit ihrem Ent¬
führer zusammen im Auslande lebt. Darum ist er selber arm, und ist das nicht
ein schöner, himmlischer Zug von ihm?
Die gute Millicent vergoß zwei große Thränen, während sie mit hochroten
Wangen so sprach.
Nicht möglich! Nein, was doch für Geschichten nnter diesen vornehmen
Leuten Passiren! sagte ihr Bruder. Weißt dn nicht noch mehr über den Fall?
Wer ist denn der Entführer? Seine Augen funkelten vor Neugierde.
Millicent schüttelte den Kopf. Es ist mir nichts näheres darüber bekannt.
Ich habe dir etwas mitzuteilen, begann ihr Bruder wieder nach einer
kleinen Pause, indem er ihr näher rückte. Es ist gut, daß wir jetzt gerade
allein sind, da können wir ungestört darüber sprechen.
Millicent blickte von ihrer Näharbeit auf und sah ihn etwas unruhig an,
da sie zu ahnen glaubte, wovon er sprechen wollte.
Das Grundstück des Grafen ist mir nicht unbekannt, fuhr ihr Bruder fort.
Es liegt nicht weit von der Thongrube, die ich kürzlich gekauft habe, und
mittelst deren ich eine Terracottafabrik einzurichten beabsichtige. Nun sind dort
im Garten nicht nur der Großvater und der Vater Degenhard am Kohl und
an den Kartoffeln thätig, wie du sagst, sondern auch ein Enkel, ein sehr gut
aussehender und fleißiger junger Mann. In Holzfurt nun wird allerhand
geklatscht und gelogen, und da ist eine alte Base meiner zukünftigen Schwieger¬
mutter, die ihre Zeit dazu verwendet, von einem Hause zum andern zu gehen
und die Geschichten hin und her zu tragen, die darin Passiren und ohne sie
Vielleicht nicht schnell genug unter die Leute kommen möchten. Diese alte
Dame hatte ganz vor kurzem eine Geschichte von einer Fischerin und einem
Gärtner aufgebracht, welche mir nicht gefiel, und ich habe mir deshalb vor¬
genommen, ein ernstes Wörtchen mit dir zu sprechen. Die Stellung, in der
du dich befindest, paßt mir nicht, und deine Aufführung —
Millieent war sehr rot geworden unter diesen Worten, und ihre Augen
blitzten vor Entrüstung, Was hast du gegen meine Stellung und meine Auf¬
führung zu sagen? rief sie. Wie kannst du als ein Mann dich dazu hergeben,
den Klatsch von alten Basen aufzulesen? Was fällt dir ein, mir —
Ihr Bruder kam durch diesen heftigen Ausbruch nicht aus der Fassung.
Er winkte ihr mit der Hand, zu schweigen und fuhr fort: Höre mich bis zu
Ende an und überzeuge dich davon, daß ich nur dein Bestes will. Du bist
hier in einer Stellung, die deiner nicht würdig ist. Du bist nicht mehr als
eine Dienerin, obwohl du dir Schmeichelst, der stolzen Baronesse Freundin zu
sein. Nur von ihrer Lanne hängt es ab, ob du so oder so behandelt wirst,
und schon allein der Umstand, daß dn im Schlosse nicht mit an der Tafel
speisest, beweist zur Genüge, daß du nichts weiter bist als eine Kammerjungfer,
die durch die Gnade der Herrschaft ausgezeichnet wird. Daher ist es auch
gekommen, daß dein Streben keine höhern Ziele hat, sondern daß du darauf
verfallen konntest, mit dem Enkel des gräflichen Haushofmeisters, das heißt
eines Bettlers, der bei einem andern Bettler die Faxen eines vornehmen
Dieners treibt, eine Liebelei anzufangen. Schweig nur still, es ist doch so.
Etwas ist immer daran, wenn die Leute ihre Mäuler aufsperren. Mir aber
paßt so etwas nicht in den Kram. Ich bin ein Mann in bedeutender und
einflußreicher Stellung, ich werde binnen wenigen Jahren ein sehr wohlhabender
Mann sein, und ich will umsoweniger mit meiner Familie Schande einlegen,
als ich jetzt die Tochter eines Geheimen Rats heirate.
Bist dn nun fertig? fragte Millieent.
Ja, nun bin ich vorläufig fertig, und dn kannst sprechen, antwortete er.
Dann möchte ich dir bemerken, sagte sie, daß meine Stellung sicherer und
angenehmer ist als deine eigene. Du hast immer etwas an der Familie Sextus
auszusetzen, hast auch immer deine Geschwister regieren und verbessern wollen,
es wäre aber klüger, du sähest vor deine eigenen Füße und lehrtest vor deiner
eigenen Thür. Du räsonnirst aus die vornehmen Leute, und du selbst ließest
dir den kleinen Finger abhacken, oder sogar den ganzen Arm, wenn du selbst
es nur erreichen könntest, daß die Leute in Hvlzfurt dich halb so höflich grüßten
wie einen von den Männern, auf die du schiltst und über die du dich aufhältst.
Du meinst, du wärest bedeutend und einflußreich, weil du eine Zeitung besitzest
und Direktor der Gewerbebank bist, aber nimm dich in Acht mit deinen Pro¬
jekten, die alle Tage neu find. Du könntest sonst eines Tages ans der Nase
liegen. Du wirst in einigen Jahren ein sehr wohlhabender Mann sein? Ich
will es dir wünschen, aber ich für meine Person freue mich immer erst über
das Geld, das ich wirklich in der Tasche habe. Was deine Verheiratung be¬
trifft, so fragst du ebensowenig nach deiner Braut wie sie nach dir, und so wie
ich dich kenne, hast du den alten einfältigen Geheimen Rat, wie du ihn nennst, der aber
in Wirklichkeit ein Geheimer Kanzleirat ist, mit deinen zukünftigen Reichtümern
beschwatzt, sonst würde er die Verlobung garnicht erlaubt haben. Aber meinet¬
wegen! Ich bekümmere mich nicht darum, nur bitte ich mir aus, daß du dich
auch nicht um meine Angelegenheiten bekümmerst!
Herr Rudolf Schmidt lachte laut, konnte aber doch eine Bewegung und
Miene des Ärgers nicht unterdrücken. Denn einige von Millicents Bemerkungen
hatten ihn, weil sie die Wahrheit enthielten, empfindlich getroffen. Herr Rudolf
Schmidt redete sehr demokratisch, und wer ihm glaubte, der mußte denken, es
stecke der echte Volkstribun in ihm und er sei voll Verachtung alles Glanzes
und aller Ehren der vornehmen Stände, Aber heinilich erging es Herrn Rudolf
Schmidt darin ähnlich wie jenem ängstlichen Schneider, der nichts lieber hörte
und las als entsetzliche Kriegsgräuel und heldenhaften Sturm und Kampf, oder
wie jenem Buckligen, der nichts so hoch verehrte als schöne Gestalten, oder wie
dem Lahmen, den: nichts entzückender däuchte als zierlicher Tanz, oder wie
jenem Lügenbolde, dem nichts mehr Respekt einflößte als ein Mann, der die
Wahrheit sprach. Wenn Herr Rudolf Schmidt in seinen besten Stunden sich
ein schönes Zukunftsbild phantastisch ausmalte, so hatte dies gar keine Ähn¬
lichkeit mit der Stellung eines Bolkstribuncn, Denn dann stellte er sich vor,
er sei Kommerziellrat und mit Orden geschmückt, mache ein großes Haus in
Holzfurt und lade die Offiziere der Garnison zu Bällen und Diners ein, werde
von den angesehensten Firmen der Stadt mit Hochachtung behandelt und von
den Leuten, die ihn jetzt nicht kennen wollte», beneidet. Es gab eine ganze Reihe
von Männern in Hvlzfnrt, die er gar zu gern gedemütigt hätte. Das waren
die patrizischen Kaufleute, die von seiner Gewerbebank wie von einer unsolider
Neuerung dachten, und er hätte viel darum gegeben, sie tüchtig zu ärgern und
ihnen zu zeigen, daß er mehr vermöge als sie. Stets bewegten sich seine Ge¬
danken um Spekulationen, die eines überlegenen Geistes würdig wären, nämlich
so beschaffen, daß sie unter Verachtung des langsamen pedantischen Weges der
Kleinigkeitskrämer in wenigen großen Schlägen ein Kapital zusammenbrächten,
welches den Besitzer hoch über die Häupter der jetzigen Matadore in Holz¬
furt emporhöbe- Du bist ein verwettertes Mädchen, sagte er, und ich wollte,
ich hätte einen Prokuristen, der deine Schlagfertigkeit besäße. Aber Unrecht
hast du doch. Es giebt Verhältnisse, die du nicht beurteilen kannst. Du bist
ja ganz gebildet, hast wenigstens eine Menge von unnützen: Kram in deinem
Kopfe, aber du bist in dieser aristokratischen Gesellschaft von veralteten Ideen
angesteckt und deshalb auch hinter der Neuzeit zurückgeblieben. Du verstehst
nichts von Nationalökononne. Ich sage dir, Millieent, es giebt wenig Leute,
die sich darauf so verstehen wie ich. Und deshalb sind meine Projekte ge¬
sund, Sie schwimmen mit der Zeitströmung, deshalb müssen sie Erfolg haben.
Sei ein vernünftiges Mädchen, Millieent, thu mir den Gefallen und komme zu
mir nach Holzfurt, Ich werde für dich sorge», und ich werde dir eine glänzende
Partie auswählen, Ich weiß schon jemand, der für dich Paßte, einen sehr
ansehnlichen hübschen Mann, auch gebildet, einen Juristen, den ich zum Beirat
bei meinen Unternehmungen machen will. Ich statte dich reichlich aus, und
für ein gutes Einkommen für dich und deinen Mann will ich schon sorgen. Er
soll den Titel Direktor und einen Gehalt von zwanzigtausend Mark, dazu noch
Tantieme haben. Laß den Gärtner laufen, Millieent. Heiraten und versorgt
sein ist besser. Ich habe nicht den geringsten Begriff davon, wie es überhaupt
möglich ist, daß man sich liebt um nichts und wieder nichts, und ich ärgere
mich, wenn ich nur daran denke, daß ein vernünftiges Mädchen wie du solche
Albernheiten mitmacht.
Einen Beirat willst dn nehmen? fragte Millieent mit leichtem Tone und
in der Absicht, die Unterhaltung von diesen: ihr fatalen Punkte abzulenken. Wozu
brauchst du denn nur einen Beirat, da dn doch selbst so klug bist?
Das will ich dir sagen. Alle Banken haben gern einen gelernten Juristen
in der Direktion, damit sie nicht in Kollision mit den Gesetzen kommen.
Wie sollen sie denn mit den Gesetzen in Kollision kommen?
Ja, das hängt damit zusammen, daß sie Geschäfte machen, kaufmännische
Geschäfte, Geldoperationen und so weiter, und daß man sich in Acht nehmen
muß, dabei innerhalb der gesetzlichen Schranken zu bleiben.
Ich sollte meinen, wenn man nur immer ehrliche Geschäfte triebe, wäre
keine Gefahr vorhanden, die gesetzlichen Schranken zu überschreiten.
Das verstehst du nicht, Millieent, die Sache liegt tiefer. Von Ehrlich¬
keit oder Unehrlichkeit ist garnicht die Rede, Jedes Geschäft besteht einfach
darin, daß ich möglichst billig einlaufe und möglichst teuer verkaufe. Die Grenze
aber zwischen dem Geschäft, bei welchem das Gesetz verletzt wird, und dem Ge¬
schäft, bei welchem es nicht verletzt wird, ist oft nur für einen erfahrenen Ju¬
risten zu erkennen, und selbst für ihn nicht in jedem Falle.
Millieent schüttelte den Kopf, Das scheinen mir doch unsaubere Geschäfte
zu sein, von denen du sprichst, und ich will nicht hoffen, daß dn auch der¬
gleichen treibst.
Ihr Bruder lachte. Du bist gerade so naiv, sagte er, wie mein unglück¬
licher Redakteur, der Dr. Glock, Der meinte neulich auch, es wäre Betrug,
wenn ich eine Waare, welche zehn Thaler wert ist, unter dem Vorgeben, sie
sei zwanzig wert, an den Mann brächte.
Das scheint mir allerdings auch Betrug zu sein, sagte Millieent.
Ja, dir. Dir und dem or. Glock, sagte ihr Bruder. Wenn ihr beiden
Recht hättet, so hätten die Gerichte viel zu thun. Die Sache ist aber nicht so,
sondern der Käufer soll selber seine Angen aufthun und nicht so dumm sein,
vorauszusetzen, daß ich als Verkäufer die Wahrheit sage. Darauf ist der ganze
kaufmännische Verkehr basirt, und nur junge schwärmerische Mädchen oder un¬
praktische Wolkenkukuksheimer sehen die Sache anders an.
Wenn das wirklich so wäre, wie du sagst, so hättest du auch nicht nötig,
dich mit einem Juristen zu verbinden.
Fehlgeschossen, mein Engel, Während die Sache ganz so ist, wie ich sagte,
giebt es gleichwohl ein Gesetz, welches so beschaffen ist, daß der Arglose sich am
leichtesten darin fängt. Das Gesetz ist eine Dornenhecke, um welcher die Schafe
mit ihrer Wolle hängen bleiben, während der Wolf darüber springt oder glatt
durchschlüpft. Ein tüchtiger Jurist macht vieles möglich, was dem Kaufmann,
der die Gesetze nicht kennt, den Hals brechen würde, und deshalb findest du fast
bei allen industrielle» Unternehmungen, besonders aber bei den Banken, Juristen
angestellt.
Du magst nun soviel reden, wie du willst, Rudolf, und die Wahrheit nach
deiner Manier noch so sehr verdrehen, ich bleibe dabei, daß das alles nicht
richtig ist, und daß der Verkehr in der Welt auf Treue und Ehrlichkeit, aber
nicht auf Schlauheit gestellt ist. Ich warne dich auch aus treuem, schwester¬
lichen Herzen vor deinen großen Unternehmungen und Projekten, Sei be¬
scheiden, Rudolf, begnüge dich mit redlichem Gewinn, dann hast du es nicht
nötig, einen juristischen Beirat zu bezahlen.
Wie das in den Tag hinein schwatzt! rief der Bruder ärgerlich. Es ist
die alte Geschichte, daß das El klüger sein will als die Henne, Da redet man
sich nun die Zunge milde, um so einem Weiberköpfchen Vernunft zu predigen
und das ist das Resultat! Aber sieh doch, geht da nicht deine gnädige Baro¬
nesse spazieren? Wer ist denn der verwettert hübsche Kerl neben ihr?
Millicent blickte auf die Frage ihres Bruders zum Fenster hinaus und sah
Eberhardt und Dorothea in einiger Entfernung vom Hause langsamen Schrittes
unter dem grünen Laubdach der stolzen Buchen dahinwandeln.
El, das ist eben der fremde Herr, der Maler, der uns zu Hilfe kam,
sagte sie.
Ein Maler? fragte ihr Bruder wieder. Er sieht aus wie ein Graf. Geht
die hochmütige Dorothea so vertraulich mit einem Maler um?
Vertraulich! rief Millicent. Was ist denn da für eine Vertraulichkeit?
Du bist abscheulich, Rudolf! Und wie kannst du Dorothea hochmütig nennen?
Sie ist sehr liebenswürdig, sehr freundlich, ohne eine Spur von Hochmut, und
das weißt du selbst.
Ich weiß es nicht, lieber Schatz, und du brauchst nicht so aufzufahren.
Ich muß gestehen, daß sie mir, so oft ich mit ihr zusammenkam, immer den
Eindruck gemacht hat, als fühlte sie sich als Prinzessin gegenüber einem Sklaven.
Aber darum keine Feindschaft. Es steckt den Leuten im Blute, und sie können
nicht anders. Ein Bürgerlicher ist in ihren Augen eine niedrigere Art von Menschen¬
gattung, und nun gar der Sohn eines Ackerbürgers und einer Kammerjungfer,
die in ihren eignen Diensten stand, der Bruder einer — Gesellschaftsdame!
Du magst nun sagen, was dn willst, und nach deiner Manier über alles
herfallen, was über dir steht, sagte Millicent mit zornroten Wangen, ein- für
allemal verbitte ich mir jedes Lästern Dorotheens in meiner Gegenwart, Sie
hat ein Herz wie Gold, sie ist so liebenswürdig, sie ist zu mir wie eine Schwester
zur andern, Sie ist so dankbar für jeden Beweis der Liebe, und sie hat der
Liebe so sehr entbehren müssen, wie du recht wohl weißt,
Rudolf blinzelte, ganz ungerührt, listig mit den Augen,
Mir scheint, sie will es jetzt mit der Liebe nachholen, sagte er. Sich doch
nur, meine kluge Mittl, wie sie den schönen Maler anguckt!
Aber in diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und das Gespräch der
Geschwister wurde durch das Eintreten der Tante unterbrochen, welche ankün¬
digte, daß das Abendessen aufgetragen sei. Das Gesicht der guten Frau glänzte
im Bewußtsein vollbrachter großer Thaten, denn bis zu diesem Augenblicke war
sie in Speisekammer, Küche und Keller thätig gewesen, um den Tisch zu Ehren
ihres Neffen reichlicher als sonst zu besetzen und die Ehre ihres Namens als
der gediegensten Hausfrau des ganzen Kreises aufrecht zu erhalten,
Ihre Ankündigung wurde vou Herrn Rudolf nicht ungern vernommen,
denn so sehr er sich in seiner jetzigen Stellung und Einsicht erhaben fühlte über
die beschränkte Lebensauffassung des Inspektorhauses, so wußte er doch recht
wohl, daß er in ganz Holzfurt vergeblich nach solchen Rückenteilen gemästeter
Ochsen und Kälber, nach solchem Geflügel und solchen Pasteten suchen würde,
wie sie von der verehrungswürdigen Tante zur Belastung der Tafel herbei¬
geschafft wurden.
Er bot der stattlichen Matrone, der die weiße Haube gar ehrbar auf dem
grauen Haupte saß, mit städtischer Höflichkeit den Arm und führte sie in das
Erdgeschoß zu dem wohlbekannten Eßzimmer, dessen solide Stühle auf deu Besuch
gewichtiger Männer eingerichtet waren, und dessen Mitteltisch, ebenfalls aus
kernigem Holze geschnitten, schon manchem Kreise stämmiger Landwirte und dem
Andrang schwerer Schüsseln und ungezählter Flaschen Stand gehalten hatte.
Es Pflegte sich in diesem Zimmer nicht um Kleinigkeiten zu handeln, hier wurden
nicht nach windiger französischer Manier aus Sardinen, Salat und Kartoffeln
drei Gänge gemacht. Wie die Breite und Festigkeit der Sitze, so sprach auch
die Farbenstimmung der Dekoration, ein tiefer brauner Ton mit schwarzer Um¬
rahmung, von germanischem Ernste. Lockende Darstellungen heiterer Zecher am
Fasse und mit goldschimmernden Pokalen zierten die Wände, abwechselnd mit
den Bildnissen der besten Pferde Eichhüuser Zucht, wie edler Nenner, die preis¬
gekrönt zu Hoppegarten und Hamburg gelaufen waren. Dazwischen ragten die
Gehörne von Rchböcken hervor, die dem Gewehre des Inspektors zum Opfer
gefallen waren. Es war ein Raum, worin gediegene Esser behaglich ihre Arme
aufstützen mochten und wo ein Mann seine fünfte oder sechste Flasche noch mit
Ruhe zu schlürfen ermutigt wurde.
Ein dralles Banermädchen mit rundem Gesicht, das vom Küchenfeuer und
dem zur Verschönerung fleißig gebrauchten fettigen Wischtuch glühte und glänzte,
trug einen Korb voll großer, schwarzer Flaschen herbei, den sie neben dem Stuhle
des Hausherrn niedersetzte, und gleich darauf trat auch dieser selbst herein, ein
großer Manu mit weißem Bart und breitem, freundlichem Gesicht, in grauer
Joppe und mit sporeullirrendeu Stulpenstiefeln,
Herr Rudolf Schmidt setzte mit geteilten Gefühlen seine Füße unter den
Tisch seines Oheims, Er kam nicht oft aufs Laud hinaus, und nicht Mangel
an Zeit allein war es, was ihn fernhielt. Es bäumte sich in ihm etwas auf
gegen das im Boden festwurzelnde Wesen seiner Verwandten, die in starrer
Anhänglichkeit an die Herrschaft im Schlosse sich gegen das Wehen des Zeit¬
geistes ebenso trotzig verhielten, wie die dort draußen ihre starken Äste aus¬
streckenden Eichen gegen das Wehen des Windes. Aber wenn er die gutherzigen
Mienen der alte» Leute betrachtete, und wie er nun so die weißgedeckte Tafel
überschaute, in deren Mitte eine gewaltige Wildpastete, von einem ganzen
Schinken und einem dampfenden Rinderbraten flankirt, paradirte, da schmolz
sein Herz, und seine von Kapitalbildung erfüllte Seele ahnte den Segen der
festliegenden Scholle.
Ein ganz ungemein vollkommen ausgebildetes Rindvieh gedeiht hier bei
euch, sagte er sinnend, indem er zusah, wie die glänzende Klinge in des In¬
spektors Hand, tief eindringend, mächtige blutrote Scheiben aus dem Braten löste.
Das wird auch nicht mit Aktien vou Gewerbebaukeu gefüttert, erwiederte
der Inspektor schmunzelnd und mit pfiffigem Blick. Dann öffnete er die erste
der schwarzen Flaschen und füllte die Gläser mit dem perlenden dunkeln Bier,
welches in Eichhauscn selber gebraut wurde.
Rudolfs Widerspruchsgeist, schon im Begriff, eingeschläfert zu werden, er¬
wachte von neuem. So seid ihr nun, sagte er, indem er sein Glas gegen das
Licht hielt, Vieh könnt ihr mästen und Bier könnt ihr brauen, aber das könnt
ihr nicht einsehen, daß erst die gesellschaftliche Vereinigung rechten Nutzen aus
den Produkten des Landes zu ziehen vermag. Da seht dies Bier, es ist wahr¬
haftig besser als das bairische, das ich in Holzfurt mit zwanzig Pfennigen das
halbe Liter bezahlen muß. Gesetzt nun, ihr vergrößertet eure Brauerei auf
Kosten einer Gesellschaft und brächtet das Bier in den Handel, glaubt ihr, es
würde schlechter dadurch, daß die Aktien auf zweihundert stiegen? Wenn ihr
das so einrichtetet, wie ich es euch zeigen würde, so striche euer alter Baron
auf einem Brett soviel für die Brauerei ein, wie ihm die ganze Herrschaft in
einem Jahre einträgt, und du, Onkel, würdest Direktor mit einem Gehalt von
viertausend Thalern.
Der Inspektor verzog sein Gesicht zu einem breiten Lachen und schlug den
Neffen mit schwerer Hand scherzend auf die Schulter. Schwindel und Flausen!
sagte er gemütlich.
Ja ja, ich weiß schon, erwiederte jener. Eichhausen stand, ehe die Sündflut
kam. Die floß darum weg, und so blieb Eichhausen, wie es war. Aber einerlei!
Wenn ich euern Baron einmal zu fassen bekomme, werde ich ein ernstes
Wörtchen mit ihm reden. Er wird nicht so starrköpfig sein, das eigne Interesse
mit Füßen von sich zu stoßen. Er hätte nichts nötig, als mir ein einziges
Wörtchen der Zustimmung zu sagen, dann würde ich ihm die ganze Geschichte
in Gang bringen, ohne daß er auch nur den Finger zu rühren brauchte. Ich
mache mich anheischig, ihm hunderttausend Thaler baar auszuzahlen, ohne daß
er irgend etwas riskirt. Er brauchte nur das lumpige Grundstück abzutreten,
das jetzt keine fünftausend Thaler wert ist. In Bier wären glänzende Geschäfte
zu machen, Deutschland ist geeinigt, und die patriotische Begeisterung ist so
groß, daß alle Sorten getrunken werden. Die vorhandnen Brauereien, so viele
ihrer schon sind, genügen dem Bedarf nicht mehr. Bier ist ein solides Geschäft,
denn getrunken wird immer, im Winter zur Erwärmung, im Sommer der
Kühlung wegen, wenn die Geschäfte gut gehen, aus Freude, und wenn sie
schlecht gehen, zum Trost. Jetzt sind fünf Milliarden ins Land geflossen, und
jeder gute Bürger hat die Verpflichtung, auf seineu Anteil daran früh, mittags
und abends einmal zu trinken. Wenn wir unser Bier mir halb so stark brauen,
wie dies hier, so kann es dem bairischen Konkurrenz machen, die Kalkulation
stellt sich zu fünf bis sechs Pfennigen Herstellungskosten auf das Liter, und wir
verkaufen es zu fünfzehn Pfennigen an die Wirte, die immer noch ein gutes
Geschäft dabei machen. Die Aktien werden zu achtzig emittirt, wir behalten
einen Posten für uns, treiben sie bis hundcrtscchzig, schlagen unsern Posten los
und streichen mit Leichtigkeit zwei- bis dreihunderttausend Thaler ein.
Wie dem Rudolf das Maulwerk geht! sagte der Inspektor ruhig, nachdem
er während der Rede des Neffen einen tüchtigen Bissen verzehrt hatte. Weißt
du noch die Zeit, Alte, wo er noch nicht allein gehen konnte und wo er allemal
auf die Nase fiel, wenn er über die Schwelle da wollte? Die Beine waren
noch unsicher, aber das Müulchen ging schon wie geschmiert. Und um die
Zeit, da er konfirmirt wurde, sagte unser Herr Pfarrer einmal scherzend zu
ihm: Rudolf, Rudolf, bedenke, es ist einem jeden Menschen eine bestimmte Anzahl
Worte zugemessen, die er hier auf Erden reden darf. Nimm dich in Acht, daß
du nicht zu früh damit fertig wirst.
(Fortsetzung folgt.)
Ein vortreffliches Buch, und ein Buch, das uns lange gefehlt hat. Bei dem
lebhaften Interesse, dus heutzutage, anch in Laienkreisen für sprachwissenschaftliche
Fragen herrscht, bei dem Reiz, den vor allem das Gebiet der Wvrtgcschichtc und
Wortbedeutung ausübt, ist ein vollständiges, zuverlässiges und nicht allzu umfäng¬
liches etymologisches Wörterbuch unsrer Sprache — welches nicht bloß über alle
urdeutschen, sondern anch über alle durch Volksetymologie umgestalteten (nm-
gedcutschtcu) Lehnwörter Auskunft giebt — wohl ein von tausenden fast täglich ge¬
fühltes Bedürfnis. Ein Glück, daß der Abhilfe dieses Bedürfnisses nicht, wie es
so oft geschieht, irgend ein spekulativer Dilettant, sondern ein Mann der Wissen¬
schaft sich unterzogen hat. Kluge ist, wiewohl er noch zu unsern jüngern Germa¬
nisten zählt, einer der gründlichsten Kenner unsrer Sprachgeschichte und beherrscht
das hier in Frage kommende weitzcrstrente Material wie vielleicht wenige. So
hat man denn überall in seinem Buche das wohlthuende Gefühl, daß man sich in
ganz sichern Händen befinde, was ans einem so schlüpfrigen Gebiete wie dem der
Wvrterkläruug von höchster Wichtigkeit ist. Kluge hat aber auch ein ungewöhn¬
liches Geschick, reiche Belehrung in knappster Form zu spenden; trotz der bei einem
Handbuche von mäßigem Umfange gebotenen Kürze herrscht überall die größte
Klarheit, in zweifelhaften und unentschiednen Fällen ist stets das vorhandene
Material vollständig vorgelegt und jedes Für und Wider vorsichtig erwogen, und
welche Fülle kulturgeschichtlich interessanter Thatsachen fällt ganz beiläufig ans
diesen kleinen Lexikvnsartikelu ab!
Die vorliegendem vier Lieferungen (ö, 1,50 Mark) reichen bereits bis zu dem
Worte „Pauke." Das Werk wird anso bestimmt mit sieben bis acht Lieferungen
vollständig sein. Wir gestehen, daß uns seit lauger Zeit kein Buch in die Hände
gekommen ist, dem wir so von Herzen wünschten, daß es in den Büchcrschcch jedes
gebildeten deutschen Hauses aufgenommen würde, wie Kluges Wörterbuch. Es wird
anch sicherlich manche Auflage erleben.
Dies Buch enthält uicht, wie man nach dem Titel vermuten könnte, den
dritten Teil von fünfzehn Essays, also etwa Nummer elf bis fünfzehn, sondern
wvhlgczählte fünfzehn Aufsätze, von denen einzelne sogar wieder in mehrere Unter¬
abteilungen zerfallen. Unter fünfzehn nämlich thut es Grimm nicht — fünfzehn
erschienen 1374, ebensoviel 137ö. Diesmal die Mandel wieder vollzumachen, scheint
ihm freilich etwas schwer geworden zu sein. Figurirt doch darunter als Nummer
acht eine bereits vor fünfundzwanzig Jahren gelieferte Übersctzungsprobe ans
Emersvns IteprsMirtÄtivv Uhr — die Aufsätze über Goethe und Shakespeare, von
denen Grimm selber sagt, daß sie keinen hervorragenden Platz unter Emcrsons
Arbeiten einnehmen—, als Nummer neun der Aufsatz über Bettina, der vor einigen
Jahren zuerst das Goethcjahrbuch eröffnete, dann wieder als Einleitung zu der
neuen Ausgabe von Goethes „Briefwechsel mit einem Kinde" abgedruckt wurde
und nun hier glücklich zum drittenmale erscheint, als Nummer eins ein Aufsatz
über Emerson, der in aller Eile noch den andern vierzehn, als sie im Druck bereits
vollendet waren, mit besondrer Paginirung vorangestellt worden ist. Aber auch
im übrigen macht die Sammlung den Eindruck einer Stoppellese, Was man
wenigstens unter der Bezeichnung „Essay" zu verstehen pflegt und was auch Grimm
früher selber darunter verstanden hat, paßt nicht auf eine einzige der hier zu¬
sammengedruckten Arbeiten, Unter der Überschrift „Die Gebrüder Grimm" z, B.
sind ein kurzer Nekrolog auf Wilhelm Grimm, der 1359 in der Vossischen Zeitung
stand, eine Reihe von Notizen über Jakob Grimm, die bereits in der Sammlung
der kleinen Schriften desselben gedruckt sind, und endlich die Biographie Ludwig
Grimms, des Malers und Kupferstechers, aus der Brvckhausschen Encyklopädie zu¬
sammengestellt; ein andrer Aufsatz enthält „eine Reihe von Gedanken," welche die
in Berlin veranstaltete Festsitzung zu Rauchs hundertjährigem Geburtstage hervor¬
gerufen hat; ein Aufsatz über Anselm Feuerbach ist durch die Berliner Feuerbach-
cmsstclluug veranlaßt worden. Fast alle andern Aufsätze — wir können sie hier
nicht einzeln aufzählen — enthalten Spezialstudien zur Kunstgeschichte, namentlich
über Raphael, Michelangelo und Dürer. Wie Hermann Grimm auf den Gedanken
hat kommen können, alle diese Arbeiten, die von Hans aus für die verschiedenste»
Leserkreise bestimmt gewesen sind, hier zusammendrucken zu lassen unter dem Schein,
damit ein Buch für die weitem Kreise der Gebildeten zu bieten — denn diesen
Schein will doch der Titel „Essays" erwecken —, ist uns unverständlich. Wer den
Aphorismen über Allegorien und Personifikationen von Städten bei italienische»
Dichtern und Künstlern Interesse abgewinnt, die in dem Aufsatze „Fiorenza" auf¬
gereiht sind, der wird sich schwerlich sür die profunden Allgemeinheiten begeistern,
die ans Emersons Feder als ein angeblicher Essay über Goethe hier vorgesetzt
werden- Und umgekehrt.
Für uns war übrigens der Wiederabdruck der beiden Aufsätze Emersous, zu¬
sammengehalten mit dem Hymnus auf Emerson, den Grimm an der Spitze des
Buches anstimme, nicht ohne Interesse. Wir haben uns oft gewundert, bei Grimm
neben so viel echtem Witz (Witz im guten altdeutschen Sinne) und so reichen Kennt¬
nissen so viel gemachte Geistreichigkeit und gelehrte Renommisterei, so viel tief¬
sinnige, aber höchst überflüssige Betrachtungen, so viel gesuchte Parallelen und Anti¬
thesen anzutreffen. Daß das bloße Manier sei, darüber waren wir uus immer
klar. Nun wissen wir doch, wen er da kopirt hat: es ist sein Abgott Emerson.
Schließlich können wir die Bemerkung nicht unterdrücken, daß auch die
stilistische Seite der vorliegenden „Essays," insbesondre derjenigen neuern Datums,
viel zu wünschen übrig läßt; das Buch ist reich an stilistischen Nachlässigkeiten und
Geschmacklosigkeiten. In Grimms „Vorlesungen über Goethe" verfolgt einen förmlich
der fehlerhafte Satzanfang, der gewiß hundertmal dort vorkommt: Goethe, als er —
Goethe, indem er — Goethe, nachdem er — Goethe, obgleich er :c. So heißt
es denn anch hier in dem Aufsatze über Emerson: Den Amerikanern, als sie —
Mein-e, obgleich das Buch :e. In demselben Aufsatze, steht folgende ganz unglaub¬
liche Stelle: „Emerson wurde den 25. Mai 1303 in Boston geboren, studirte
Theologie bis 1826, begann 27 zu predigen und zog sich 1835 uach Concord
zurück, die (!) kleine Stadt, die acht Generationen früher von einem Vorfahren ge¬
gründet worden war. 1332 ging (!) Emerson zuerst in.(!) Europa, wo er Frank-
U'ich, Italien und England sah. 36 erschien Naturo." Ganz zu schweigen von
so unangenehmen Provinzialismen, wie fortfallen, fortlassen, fortdenken, fvrtnehuien,
fortbleiben, deren Anwendung ein Schriftsteller wie Hermen Grimm doch wahr¬
haftig dem Jargon der Hannoveraner und Berliner Tagespresse überlassen könnte.
Lessing, Goethe und Schiller haben geschrieben: wegfallen, weglassen, wegbleiben ?c.
Ist das etwa nicht mehr fein genug?
Mit diesem fünfte» Bande ist die schreiblustige Verfasserin der „Musikalischen
Studienköpfe" bei den Frauen angelangt, d. h., da es nennenswerte Kompouistinnen
nicht giebt, bei den Klavierspielerinnen und Sängerinnen. Das Buch beschränkt
sich ans die Lebenden; den Reigen eröffnet, wie sichs gebührt, Frau Clara Schu¬
mann, ihr folgen Sophie Merker, Anna Mehlig, Marie Krebs (warum noch immer
„Mary"? So hieß sie doch uur, so lange sie „Wunderkind" war, und das ist
lange her), Erika Lie, Ingeborg von Brousart, Annette Essipoff, Pauline Viardvt,
Dvsir6e Artot, Adelina Patti, Amalie Joachim, Pauline Lucca u. s. w., in Summa
zwei Dutzend. Noch einen sechsten Band hinzuzufügen, der etwa „die Frauen im
Törtchen der Vergangenheit" behandelte, dürfte seine Schwierigkeiten haben, denn
eine Hauptquelle für den vorliegenden, die der Verfasserin überlassenen eignen Mit¬
teilungen der Gefeierten, würde dabei in Wegfall kommen.
La Mara ist eine merkwürdige schriftstellerische Erscheinung; mau möchte sagen,
sie stehe in der Mitte zwischen Forkel und Elise Polko. Auf der einen Seite steckt
ein halber Gelehrter in ihr, der mit Sammeleifer, Spürsinn und Genauigkeit seineu
Stoff zusammenträgt; auf der andern ist ihr aber doch ein bunter und in die
Augen fallender Ausputz dieses Stoffes von solcher Wichtigkeit, daß sich in jeder
Zeile die weibliche Hand verrät. Wie anders sehen die musikalischen Charakterköpfe
von Riehl aus!
Die Darstellungsweise der Verfasserin war, wenn wir uns recht erinnern, in
frühern Bänden ansprechender. In diesem neuesten Bande verrät sie eine gewisse
nervöse Unruhe, die bisweilen fast etwas atemloses annimmt. Möglich, daß das
mit dem Stoffe zusanuncnhängt. Es ist keine Kleinigkeit, über vierundzwanzig
lebende Virtuvsinncn hintereinander in ewigem Entzücken zu sein und sich dabei
womöglich nicht zu wiederholen. Daher wohl anch der absonderliche Wortschatz,
den die Verfasserin entfaltet und den sie sich teils aus allerhand Fremdwörtern,
die im Munde einer Fran freilich komisch genug klingen (wie „Pianistische. Auto-
rität" n. ahnt.), teils aus allerhand Zeitnngsneotvgismen, die sie förmlich ge¬
sammelt zu haben scheint, zurechtgemacht hat. Gleich auf der zweiten Seite wird
der alte Wieck ein „Klavierpädagog" genannt. Nun sage einer, wo bei Czernyschen
oder Diabellischcn Etüden die Pädagogik steckt! Am Ende reden wir anch noch
von Singe- und Tanz-, Zeichen- und Schreibpädagogcn.
mer der ersten Januartage hat, wie kürzlich berichtet wurde, in
Paris einen Verein entstehen sehen, welcher sich die antieng¬
lische Liga nennt, und welcher der Londoner Presse so wichtig
erschien, daß sie ihn in Leitartikeln besprach. Wir beabsichtigen
das nicht zu thun, sondern weisen nur kurz auf die Erscheinung
hin, chnrakterisiren sie mit einigen Worten und greifen dann aus den Haupt-
Punkten des Programms, welches die Gründer des Vereins aufstellen und ihren
Landsleuten empfehlen, einen besonders interessanten heraus, um daran eine Be¬
trachtung allgemeiner Art zu knüpfen.
Die neue Liga, eine Art Seitenstück zur Patriotenliga, aber von anstän¬
digem Charakter,*) scheint ernst gemeint zu sein, und die Eltern des Kindes
sind, nach dessen Physiognomie zu schließen, Verdruß über das Verhalten Eng¬
lands in Ägypten und eine stark ausgeprägte schutzzöllnerische Gesinnung. Der
Verein wird also wohl vorzüglich auf Fabrikantenkreise berechnet sein, und die
britische Politik am Nil wird den Anlaß geboten haben, gerade jetzt, wo die
Unterhandlungen zwischen Paris und London über eine Verständigung wegen der
Zukunft Ägyptens zu stocken scheinen und die Gambettisten heftig darüber klagen,
daß das „treulose Albion" in seiner Selbstsucht Frankreich nicht miternteii lasse,
wo es nicht mitgesät hat, mit einer Demonstration hervorzutreten. Nicht mit
Unrecht erinnert das Programm die Franzosen an den famosen Cobden-Rouher-
schen Handelsvertrag, dessen geheime Geschichte wir den Lesern dieser Blatter
vor einiger Zeit erzählt haben, und der, weit mehr in: englischen als im fran¬
zösischen Interesse abgeschlossen und nach seinem Ablaufe uicht wieder er¬
neuert, erst eines der Bindemittel der beiden Völker war und dann zum ersten
Anlaß wurde, sie einander bis zu einem gewissen Grade zu entfremde». Auch
die Klage, daß die französischen Interessen jenseits der Meere fast überall von
England bedroht seien, wobei auf Ägypten, Tonkin, Madagaskar und das Kongv-
laud hingewiesen wird, ist nicht ganz ohne Grund, wenn anch Frankreich hier,
wo die Wettbewerbung ja frei ist, selbst die Schuld trägt, wenn es mit seine»
Kolonien uoch uicht besser steht. Ganz richtig aber scheint nus, obwohl es
allen andern Staaten, die sich dem Freihandelsprinzipe zuwendeten, ebenso ging,
der Satz: „Wo Frankreich sich auch ein Feld für seine Handelsthätigkeit er¬
öffnete, überall trat ihm England, welches ein allgemeines Monopol erstrebt,
mit offner oder geheimer Feindseligkeit entgegen." Daraufhin verlangt die Liga:
Aufrechterhaltung des Statusquo in Ägypten, energische Verteidigung der fran¬
zösischen Interessen in den obengenannten afrikanischen und ostasiatischen Län¬
dern, Schöpfung einer vom Staate subventionirten Handelsflotte, deren Schiffe
sich nach Bedürfnis in Kreuzer verwandeln könnten, Differenzialhafenzölle und
eine Abänderung der Klauseln des Pariser Vertrages, welche die Ladung neu¬
traler Fahrzeuge vor der Wegnahme sicher stellen und die Ausgabe von Kaper¬
briefen verbieten — Klausel», denen bekanntlich die Vereinigten Staaten von
Amerika ihren Beitritt versagt haben.
Wir betrachten von diesen Forderungen nur die eine, ans welche die fran¬
zösische Regierung in gewisser Beschränkung eingehen wird, und auf welche sie
zum Teil, wenn auch bis jetzt nicht in großem Stile, bereits eingegangen ist,
die Ausdehnung des überseeischen französischen Besitzes und die Entwicklung des¬
selben zu Kolonien, wobei wir vorzüglich aus englischen Quellen und nament¬
lich ans einer Übersicht über die Kolonialpolitik Frankreichs schöpfen, die sich
vor einigen Wochen im van^ lölöAmxn fand.
Wir haben schon einmal kurz darauf hingewiesen, daß in der letzten Hälfte
des vorigen Jahres unter den französischen Politikern das schon vor einigen
Jahren wiedererwachte Streben nach Gründung neuer überseeischer Niederlassungen
und besondrer Lebhaftigkeit hervorgetreten ist. Wir sagten, wiedererwacht; denn
dieselbe Bewegung hat sich in den letzten zweihundert Jahren von Zeit zu Zeit
nicht minder energisch geregt, und zwar kann man die Erscheinung nicht gerade
sehr auffallend nennen, wenn man bedenkt, daß in den Adern der Franzosen
neben gallischem Blute auch nord- und südgermanisches strömt, die Engländer,
Deutschen und Skandinavier aber vor allen andern Völkern den Trieb besitzen,
sich über das Meer auszudehnen, und das Geschick, Kolonien zu gründen. Das
Wiedererwachen jenes Triebes unter den Franzosen bezeichnet einen Wendepunkt
in der Geschichte ihrer dritten Republik, die nunmehr eine unternehmungslustige
Kolonialpolitik wieder aufnimmt, welche in gleicher Weise von der Regierung der
Restaurationsepoche, von der Julimonarchie und vom zweiten Kaiserreiche be¬
günstigt wurde, nachdem schon die alten absolutistischen Könige Frankreichs, na¬
mentlich im Jndianerlcmde Nordamerikas, in Canada, südlich von der Kette der
großen Seen und im Mississivpithale, zum Teil mit Hilfe der Jesuiten, gro߬
artige Pläne dieser Art auszuführen begonnen hatten, damit aber an den Hinder¬
nissen gescheitert waren, die ihnen der besser zur Gründung von Niederlassungen
geeignete Geist Englands und der Puritaner der Jankeestaaten entgegenstellte.
Napoleon der Erste, der zur See kein Glück hatte, verkaufte das ungeheure
Gebiet von Louisiana, welches damals das ganze Mississippithal in sich begriff,
an die Vereinigten Staaten, und zog Eroberungen in Europa vor, wo er einige
Jahre lang Herr und Meister war. Die 1815 wieder auf den Thron gesetzten
Bourbonen gingen mit ihrer Flotte über das Mittelländische Meer, griffen den
Seeräuberstaat Algier an, vernichteten ihn und legten die Grundlagen zu einem
nordafrikanischen Reiche von erheblicher Ausdehnung, welches von Ludwig Phi¬
lipp erweitert und befestigt und von der gegenwärtigen Republik durch Annexion
von Tunesien nochmals vergrößert wurde. Unter Napoleon III. spielte die
französische Flagge an den europäischen und levantinischen Küsten wiederholt
eine bedeutende Rolle, daneben aber wurden die ferner gelegenen Besitzungen
nicht vernachlässigt, und die große Expedition nach Mexiko, indirekt gegen die
nordamerikanische Republik gerichtet, bewies, wie weitreichend, freilich aber auch
wie unklar und wie wenig auf Kenntnis und verständige Beurteilung der That¬
sachen gegründet die Pläne waren, welche der Kaiser jenseits des Atlantischen
Meeres verfolgte. Infolge der Nnpolevnischen Katastrophe hatte die jetzige Re¬
publik länger als ein Jahrzehnt zuviel daheim zu sorgen und zu schaffen, um
an überseeische Unternehmungen denken zu können, Sie hatte gewaltige fiska¬
lische und finanzielle Aufgaben zu lösen, sich des Audringens der monarchischen
Parteien zu erwehren, die republikanische Staatsform auszubauen, das Heer neu
zu bilden und eine Anzahl innerer Einrichtungen umzugestalten. Indeß kehrte
zuletzt der Augenblick zurück, wo der Wunsch nach Ausdehnung sich von neuem
fühlbar machte, und das erste Symptom desselben war der Einbruch in Tunis,
wo die Krnmirs einen brauchbaren Vorwand geliefert hatten. Der Minister
Waddington gestand ganz offen, daß die tunesische Expedition einer Politik ent¬
sprungen sei, die auf Ausdehnung des Einflusses und Besitzstandes Frankreichs
jenseits der Meere gerichtet war. Früher schon ohne Zweifel hatten die Staats¬
männer der Republik die Idee Ludwig Napoleons weiter ausgesponnen, die sie
in Cochinchina teilweise verwirklicht gefunden hatten, und so gingen sie nach
Tonkin; desgleichen verloren sie den Senegal und die französischen Nieder¬
lassungen in Westafrika zu keiner Zeit ganz aus den Augen.
Indeß hatte man in den letzten beiden Jahren seine Blicke noch vorzugs¬
weise auf Tunesien und auf die Mittel und Wege zu richten, mit denen das¬
selbe in eine französische Provinz zu verwandeln war. Seitdem dies aus dem
gröbsten durchgeführt ist, ist man dem Gedanken von Kolonialreichen in andern
Wcltgegendc» thatsächlich näher getreten, und es liegt deutlich ans der Hand,
daß, was mich die Meinung des französischen Volkes von der Angelegenheit
sein mag, die Pariser Politiker der festen Überzeugung sind, Frankreich bedürfe
zu seiner Wohlfahrt und Größe Niederlassungen, Stationen und Kolonien in
fernen Gegenden der Erde, und sie hätten die Pflicht, nach Möglichkeit dahin
zu wirken, daß ihm solche zu Teil würden. „Wir haben eine doppelte Politik
zur Wahl vor uns, sagt ein hervorragender französischer Journalist, zwei
einander widersprechende Vorstellungen von unsrer Zukunft. Nach der einen soll
Frankreich in seinen Grenzen bleiben, sich zufrieden geben mit dem, was es hat,
andern erweiterte Gesichtskreise und überströmende Thätigkeit, kühne Unterneh-
mungen und weitreichenden Handel überlasse». Die zweite Politik ist die jetzt
adoptirte — Ausbreitung über fremde Länder, und diese ist vorzuziehen," was
er dann zu begründen versucht.
Betrachten wir das, was bisher zur Ausführung der zweiten politischen
Idee geschehen ist, so kann man nicht sagen, daß die eigentliche Aktion und die
Vorbereitungen zu weiterem einen großartigen Stil zeigen. Dies gilt zunächst
von der beabsichtigten Expedition nach Tonki». Das im Süden des chinesischen
Reiches gelegne Land Tonkin wurde 1802 vom Beherrscher des benachbarten
Arran unterjocht und blieb von da an bis 1872, wo ein französischer Kauf¬
mann den Roten Strom, den Hauptfluß des Landes, hinauffuhr, den Europäern
verschlossen. Im Jahre darauf wurde es durch eine Handvoll Franzosen er¬
obert, aber am 24. März 1874 schloß die Regierung der Republik mit dem
Könige von Arran, Tuduk, einen Vertrag ab, durch welchen Tonkin wieder
nnter dessen Souveränetät gestellt wurde. Zu gleicher Zeit machte Frankreich
demselben ein Geschenk von fünf Dampfschiffen, hundert Kanonen und tausend
Tabatiörcgewehren samt einem Vorrat von Munition. Als Gegenleistung wurde
bedungen, der König solle Tonkin dem europäischen Handel öffnen und auf dem
Roten Flusse die freie Schifffahrt nach dem südwestlichen China aufrecht er¬
halten. Die französischen Konsuln in den Städten Hanoi und Haifong wurden
angewiesen, die Ausführung dieser Bestimmungen zu überwachen, sie mußten
aber bald berichten, daß der König Tuduk seinen Verpflichtungen nicht nach¬
komme, und so entsendete im April des vorigen Jahres der französische
Kommandant von Cochinchina den Schiffskapitän Riviöre mit einigen Kanonen¬
booten und zwei Kompagnien Marinesoldaten nach Hanoi, wo sie sich der
Zitadelle bemächtigten. Diese kleine Trnppenmacht befindet sich noch dort, ist
aber von Anmänner und chinesischen Strompiraten eingeschlossen, und so gilt
die beabsichtigte Expedition in erster Linie der Befreiung Riviöres und seiner
Leute. Mit den Truppen, die vor etwa vier Woche» von Toulon »ach dem
Roten Strome abgegangen sind, wird man schwerlich viel mehr ausrichten. Sie
sollte» nur eine Verstärkung sein und bestände» aus nicht mehr als 750 Mann
Marineinfanterie. Rivivre hat ungefähr halb soviel Truppen unter sich, und
so wird die gesamte Streitmacht der Franzosen in Tonkin, wenn Kapitän
Rvnvier, der Führer der Verstärkung, in Hanoi eintrifft, etwa 1100 Mann
betragen. Damit kann man keine großen Eroberungen nach der Gebirgskette
hin machen, welche sich zwischen der Gegend von Hanoi und der chinesischen
Provinz Juunan erhebt, dagegen genügt diese Truppenzahl wahrscheinlich für
die Franzosen, wenn sie sich im Osten des Gebirges behaupten wollen, und
ohne Zweifel wird ein kleines Danipfergeschwader hinreichen, die „Piraten von
der schwarzen Flagge," welche jetzt den Kapitän Riviere ccrniren, zu ver¬
scheuchen oder zu vernichten. Nach neueren Nachrichten aber.wäre die Ver¬
stärkung unter Rouvier nur der Vortrab einer größern Truppenmacht, welche
die Bestimmung hätte, ganz Tonkin zu erobern. Wäre das begründet und
gelänge die Absicht, so würden die Franzosen gewiß das Land nicht wieder
räumen, das ihnen den Weg nach den reichsten Provinzen Chinas erschlösse.
Es würde sich dann nur fragen, ob letzteres, welches die Oberhoheit über den
König Tuduk beansprucht, einer Eroberung des Landes durch die Franzosen
geduldig zusehen würde. Der Pariser Gesandte des Kaisers von China soll sich
dahin geäußert habe», daß die Regierung des Reiches der Mitte zwar vorläufig
nichts gegen die französische Expedition nach Tonkin einzuwenden habe, daß sie
aber das Protektorat über das Land mit Frankreich zu teilen wünsche, und
daß es am besten sein werde, jenem eine neutrale Stellung zu geben, wie sie
Belgien besitze. Da Frankreich dazu vermutlich nicht bereit sein wird, so wäre
es nicht unmöglich, daß sich über Tonkin ein Streit zwischen Peking und Paris
entspänne. Auch in England dürfte der Feldzugsplan der Franzosen nicht mit
günstigen Augen betrachtet werden; denn schon vor nenn Jahren wies Lord
Beacousfield, damals noch Herr Disraeli, darauf hin, daß eine französische
Besetzung Tonkins die Malakkastraße, den Haupthandelsweg der Engländer »ach
China, in bedenklicher Weise bedrohen werde, und noch mehr Sorge verursacht
den britischen Kaufleuten die Aussicht auf einen Krieg zwischen China und
Frankreich, denn ein solcher würde den englisch-chinesischen Handel um sehr
bedeutende Summen verkürze».
Wie die nach Tonkin bestimmte Armada vorläufig zu ziemlich kleinen
Dimensionen zusammengeschrumpft ist, so auch die Expedition nach dem Kongo,
die ursprünglich ebenfalls in großem Stil nntcrnvnune» werden sollte. Die
Kammer hat für die Unterstützung Brazzas und zur Ausführung seines Traktats
mit dem Negerkönige Makoto die Summe von 1 020 000 Mark bewilligt, und
das Unternehmen ist aus einem militärischen Feldzuge zu einem wissenschaft¬
lichen geworden und wird von den Departements der Marine und des Aus¬
wärtigen geleitet. Herr de Brazza wird mit wenigen Begleitern in das
Kongothal eindringen und diese interessante Gegend mit der Niederlassung der
Franzosen am Gabun zu verbinden suchen. Wieviel zu erreichen er imstande
sein wird, worden wir ja seiner Zeit erfahren; einen großen Eindruck wird er
mit den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln auf Westafrika nicht macheu,
aber wenn ihm nicht Hindernisse in den Weg gelegt werden oder gar ein Verbot
seiner Bestrebungen erfolgt, so kann sich aus demselben ein Verkehr mit Märkten
entwickeln, welcher den seefahrenden und handeltreibenden Nationen ziemlich
dankenswerte Vorteile gewährt. Stanley, der Reisende und Entdecker, wird
allerhand gegen ein Verfahren einzuwenden haben, das ihn eines Teils seines
Ruhmes zu berauben sucht. Es würde aber unerfreulich sein, wenn ans der
großen Wasserstraße im Innern Südafrikas, welche kühne Reisende der Welt
erschlossen oder enthüllt haben, Eifersüchteleien, Streitigkeiten und Zusammen¬
stöße ausbrechen sollten. Wir meinen, es sei dort Raum für viele unternehmungs¬
lustige Leute.
In einer andern Weltgegend, im Osten Afrikas, darf man wohl ein ent¬
schiedenes Vorgehen der Franzosen erwarten. Wir halten die Pariser Nachricht
des LtÄnäN'ä, daß die französische Negierung nur im äußersten Notfalle Schiffe
und Truppen in größerer Menge nach Madagaskar entsenden werde, für
nicht recht glaubwürdig. Mit andern Worten: wir bezweifeln, daß eine Expe¬
dition nach jener Insel nur in dem Falle abgehen werde, daß die Hovas den
Frankreich freundlich gesinnten Stamm der Sakalavcis angreifen lind vertreiben
sollten, in welchem Falle die Franzosen entweder die Angreifer durch ein Bom¬
bardement zurückwerfen oder die von ihnen gegenwärtig mit nur 18 Soldaten
besetzte Insel Rossi Bö räumen würden. Auch die Behauptung andrer eng¬
lischen Blätter, zwischen Frankreich und der Regierung in Antanarivv bereite
sich ein Abkommen vor, nach welchem letztere den Anspruch des erstem auf deu
Besitz gewisser Inseln und Küstenstriche, wo es bereits Fuß gefaßt hat, that¬
sächlich anerkennen werde, ist nach dem Verhalten der nmdagassischen Gesandten,
die in Paris und in London waren, schwerlich begründet. Richtiger scheint uns
die Meinung des v^it^ lölegraxli, welcher sagt: „Gegenwärtig wird zwar von
Madagaskar und dem französischen Protektorat über diese ungeheure Insel wenig
gesprochen, aber es ist höchst unwahrscheinlich, daß man den großen Plan auf¬
geben werde. Wird er ins Werk gesetzt, so wird eine seiner Folgen vermutlich
ein Wiederaufleben des Sklavenhandels zu Gunsten der französischen Insel
Rouillon sein; wenigstens erwarten das die dortigen Kolonisten. Die Sklaven¬
händler haben sich lange Zeit der Flagge Frankreichs bedient, und dieser Mi߬
brauch erschwert die Unterdrückung des abscheulichen Gewerbes. Ein britisches
Kriegsschiff nahm erst vor kurzem bei den Komoroinscln, nicht weit von Ma¬
dagaskar, mehrere Daus mit Sklaven weg, und sollte ein französisches Protek¬
torat zustande kommen, so werden unsre Kreuzer unter lästigeren Bedingungen
größere Wachsamkeit zu üben haben."
Tunis, die wichtigste der neuen Erwerbungen Frankreichs, wird demselben
in der nächsten Zeit jährlich ein gutes Stück Geld kosten. Die Regierung ver-
langte neulich zur Deckung der Okkupationskosten von der Kammer 25 Mil¬
lionen Mark, und 20 Millionen wurden bewilligt. Bis jetzt hat der franzö¬
sische Steuerzahler für die Besetzung Tunesieus eine Summe ausbringen müssen,
die dreißig Franken pro Kopf der Bevölkerung des mmektirten Landes gleich¬
kommt. Das wird aber ohne Zweifel noch eine gute Weile so fortgehen, und
wenn Frankreich dort gegenwärtig 33 000 Mann Soldaten zu unterhalten hat,
so werden sich dieselben schwerlich so bald, wie der Kriegsminister neulich in der
Kammer hoffte, auf 20- bis 22 000 Mann vermindern lassen, und auch diese
Zahl erscheint noch groß, wenn man bedenkt, daß die ehemalige Regentschaft
höchstens dritthalb Millionen Einwohner zahlt. Bei der Debatte über den
Gegenstand wurde wieder die alte Klage laut, die tunesische Expedition habe
nur den Vorteil von Finanziers bezweckt. Etwas mag davon wahr sein, aber
im wesentlichen hatten, wie Waddingtons obenerwähnte Erklärung beweist, die
französischen Staatsmänner die Größe Frankreichs und die Verstärkung der
Stellung desselben am Mittelmeere dabei vor Augen. Über die gesamte französische
Kolonialpolitik aber schließen wir uns der Ansicht des VÄI^ lÄc^raM an, welcher
über die verschiednen Akte dieser Politik sagt: „Sie entspringen nicht dem tief¬
gefühlten und dringenden Bedürfnisse eines Volkes, das in seinen Ursitzen zu
zahlreich geworden ist. . . . Wären die Franzosen eine rasch wachsende Nation,
wimmelte ihr Land von Männern und Frauen, die sich mit jedem Jahre er¬
heblich mehrten, so würde ein eifriges Umschauen nach einer auswärtigen Unter¬
kunft für diesen Überschuß der Bevölkerung ganz natürlich sein. Die Statistik
aber lehrt uns, daß die Bevölkerung trotz einer starken Einwanderung von aus¬
wärts, die jährlich an hunderttausend Köpfe beträgt, nur sehr langsam wächst.
Indeß muß Frankreich am besten wissen, welche Politik ihm am dienlichsten ist,
ob eine auf innere Entwicklung oder eine auf Ausdehnung nach anßen hin ge¬
richtete. Das ist sein unbestreitbares Recht. Aber die, welche ihn: wohlwollen,
dürfen wohl bezweifeln, ob es klug ist, fragwürdige Unternehmungen in ent¬
legene» Ländern und fernen Meeren zu beginnen." Und über die Stimmung,
welcher die Forderungen der antienglischen Liga entsprungen sind, sagt das
Blatt in einem andern Artikel, wie uns dünkt, gleichfalls großenteils zutreffend:
„Die einfache Wahrheit scheint zu sein, daß unsre guten Nachbarn jetzt übel
gelaunt sind. Das verdrießliche Bewußtsein, daß sie durch eigne Schuld bei den
ägyptischen Wirren nicht zum besten gefahren sind, und daß Europa ihre Ver¬
suche, eine Verlorne Position wiederzugewinnen, mehr mit Lächeln als mit Teil¬
nahme betrachtet, läßt sie fortwährend die Haltung des Protestirenden annehmen
und querulirend versichern, daß sie sich vor niemand fürchten. Mit der Zeit
wird eine ruhigere Stimmung sich bei ihnen einstellen, und inzwischen können
sie versichert sein, daß die Engländer ihnen eine Ausdehnung ihres Kolonial¬
besitzes von allen Dingen am wenigsten mißgönnen werden. Es ist sonderbar,
daß die Franzosen, wenn sie ihren eifersüchtigen und verdrießlichen Anfall haben,
nicht sehen, wie groß die Welt ist, und wieviel Raum zivilisirten Ansiedlern
noch offen liegt/'
Ob England ganz so unbesorgt und neidlos auf die französische Kolonial-
politik blickt, wie hier versichert wird, wollen wir unerörtert lassen. Ein Frage¬
zeichen daneben wird erlaubt sein. Dagegen kann von Deutschland mit aller
Bestimmtheit behauptet werden, daß es ohne irgendwelche Mißgunst jene Politik
sich weiter entwickeln und die größten Dimensionen annehmen sehen würde —
ohne Mißgunst, ja mit aufrichtigem Wohlgefallen.
er finanzielle Einfluß Rothschilds in Frankreich, der unter Na
poleo» einwurzelte, unter der Restauration wuchs und sich aus¬
breitete, unter Louis Philipp zur Blüte tum und jetzt Früchte
trägt, war damals schon oft ein politischer, obgleich die Reklame,
welche Rothschild immer aufs ungeheuerlichste zu benutzen ver¬
stände» hat — man darf nicht vergessen, daß es nicht bloß Zeitungsreklame giebt — ,
immer einen finanziellen Hintergrund hatte, da den Faiseurs der Börse die Politik
immer nur als Hilfsmittel der Gewinumacherei gegolten hat und gilt. Rothschild
betonte oft, daß er der wahre Elihuburrit sei. Er vertrage sich mit allen Par¬
teien und Regierungen. Dies behauptete z> B. die „Allgemeine Zeitung," die
den Einflüssen Rothschilds immer zugänglich war, schon vor vierzig Jahren:
„Das Haus Rothschild gehört keiner politischen Partei an; die Rothschild? sind
die Freunde des Königtums,*) der Gesetzlichkeit (?!) und des Friedens, und als
solche konnten sie ihren überwiegenden finanziellen Einfluß unter den hertrogenen
Ministerien eines Decazes, Villsle, Martignac und Polignac wie unter der Re¬
gierung des Königs Louis Philipp bewahren." Rothschild fand sogar für gut,
im Jahre 1840, gelegentlich des Thiersschen Rheingcschreies, sür sich als Friedens¬
träger Reklame machen zu lassen. Es kam dann zum Zeitnngskampfe zwischen
beiden, und als die Politik Thiers' scheiterte, wurde dies thatsächlich von vielen
Seiten dem übermächtigen Einflüsse Rothschilds zugeschrieben. Schon damals
sah man die politische Hauptstütze der Macht Rothschilds und des zunehmenden
Einflusses der Börse auf Politik und Staat im Konstitutionalismus. Man
bezeichnete schon ums Jahr 1840 in Frankreich die Mehrzahl der Deputaten
als „Rothschilds Knappen"! andrerseits bezeichnete man unter Louis Philipp
auch die Bankiers als die eigentlichen Generale des Königs, und ein zeit¬
genössischer Schriftsteller, der dies hervorhebt (Szavnrdy, Politische und un-
politische Studien und Bilder), setzt hinzu, daß Louis Philipp gewußt habe,
„daß die Börse die Seele des Materialismus ist, der die moderne Gesellschaft
belebt; er wußte, was er that, wenn er die legitime Aristokratie zu Gunsten
der Aristokratie des Geldsackes enterbte," ein Bewußtsein, welches wir allerdings
noch bezweifeln möchten.
Ans den Gründen, die wir im Eingang unsrer Erörterung entwickelt haben,
war damals wie hente noch die französische Rente die Grundlage der Agiotage
an der Pariser Börse. Allein wie sehr auch diese Rente wegen ihrer allge¬
meinsten Verbreitung in alle Verzweigungen des nationalen Lebens hinein, die
ja von selten des Staates selbst seit Jahrhunderte» begünstigt und gefördert
worden war, zu einer kontinuirlichem Ausbeutung des kleinen Kapitalbesitzes ge¬
eignet war, so war ihre Wirksamkeit, wenn auch eine sehr sichere, doch auch
eine sehr langsame. Nur unter außergewöhnlichen Umständen ließ sich hier ein
großer Streich vollführen, und solche außerordentliche Umstände kamen doch
nicht täglich vor, wenn sie sich auch immer von Zeit zu Zeit machen ließen;
z. B. im Jahre 1824, wo Rothschild den damaligen Minister Villöle zur Kon-
vcrtirung der fünfprozentigen Rente in dreiprozentige zu veranlassen wußte,
ungefähr so wie in diesen Tagen den ungarischen Finanzminister, Grafen
Szapary.
Die gesamte Schuld Frankreichs betrug im Jahre 1824 3 066 783 666
Franks, womit im wesentlichen der Fonds, der damals der Börse zu ihren
Spekulationen zur Verfügung stand,*) da neben ihnen eigentlich nur noch
spanische und neapolitanische Schuld i» Paris an der Börse zirkulirten, erschöpft
war. Nach dem Projekt Rothschilds, der sich — angeblich zur Durchführung
desselben — mit allen großen Finanzhäusern verband, sollten zunächst 1000
Millionen zur Konversion kommen, dergestalt, daß für 76 Franks alte 6prozentige
Rente 100 Franks neue gegeben werden sollten. Die damalige Konversionsidee Roth¬
schilds gleicht der heutigen in Ungarn wie ein El dem andern. Es sollte nicht
wirklich konvertirt werden, nicht so, wie es dem Begriff einer Konversion entspricht,
daß den Inhabern alter Renten der entsprechende Betrag neuer mit einer
Prämie oder ohne eine solche zum Umtausch angeboten werden sollte. Das wäre
ja nichts gewesen als ein bloßes glattes Geschäft, an dem sich ein sonder¬
licher Gewinn natürlich nicht hätte machen lassen. Vielmehr war die Haupt-
„Konversions"-Bedingung die, daß nnr das Konvcrsionstonsvrtinm die
neuen Titel vom Staate im Verhältnisse von 75 zu 100 erhalten sollte,
während jenes seinerseits sowohl hinsichtlich des Rückkaufs- als des Nenvcr-
kaufspreises völlig freie Hand hatte. Und thatsächlich war auch beschlossen,
nicht weniger als 80 Prozent für die gezählten 75 vom Publikum wieder herein¬
zuziehen.
Alsbald, als nnr die vorläufige» Abmachungen zwischen dem Finanzminister
und Rothschild vorlagen und keineswegs noch die Genehmigung der Kammer
feststand, begann an allen Börsen die sinnloseste Agiotage, und in Frankfurt,
Amsterdam, Wien u. s. w. handelte man die noch garnicht kreirte Rente zu 83^,
ganz so, wie 57 Jahre später die ungarische! Andrerseits wurde die alte fünf-
prozentige Reute durch das Konsvrtinm zurückgekauft, und zwar zum Kurs
von 106 bis 110, zu welchen Kursen unter der Hand und ohne daß die
übrigen Kousortialbeteiligten irgendetwas davon ahnten. Rothschild kolossale
Beträge auf Zeit verkaufte, so zugleich auf das Mißlingen des ganzen von ihm
laneirten Projektes spekulircnd.
Thatsächlich mißlang das Projekt, die französische Pairskammer verwarf
dasselbe, und das Ministerium Villöle kam zum Sturz. Es gab damals
Stimmen, und es scheint nicht, als Hütten sie Unrecht gehabt, welche behaupteten,
daß Rothschild selbst, nachdem er sich in kolossalster Weise für das Mißlingen
engagirt, dieses Mißlingen thatsächlich durch Bestechung von Kammermitgliedern
herbeigeführt habe. Denn die Entscheidung war, nachdem die Deputirtenkammer
für das Projekt gestimmt hatte, fast schon sicher für das Projekt, sodaß die
übrigen Kvnsortialmitglieder fest an das Gelingen glaubten, während in der
That auch nur eine ganz kleine Majorität der Pairskammer das Ganze zum
Sturz brachte. Der Gewinn Rothschilds war ungeheuer. Neue Reute, die er
unter der Hand natürlich ebenfalls zum höchsten Kurse massenhaft verkauft
holte, brauchte er nicht zu liefern, da sie nicht erschien. Alte Rente hatte er in
ungeheuern Beträgen verkauft zu 104 bis 110; uun konnte ec selbst davon kaufen,
wieviel er wollte, zu 98, da seine uneingeweihten Konsortialbeteiligten zu jedem
Preise losschlagen mußten. Aber diese letztern blieben furchtbar sitzen, und mehrere
derselben verloren den größten Teil ihres Vermögens. Es war gewissermaßen
die Nemesis sür solche perfide Handlungsweise, welche Rothschild sechs Jahre
später traf, als er die letzte Anleihe Karls X. im Betrage von 78 Millionen
zum Kurse von 102 bis 107 übernommen hatte und dabei dnrch die Ordonnanzen
und deren Folgen überrascht wurde. Die Rente fiel im Augenblick um fast
30 Prozent. Da aber Rothschild damals schon stark genug war, um nicht ver¬
kaufen zu müssen, und da er ebenfalls schon den Meistbetrag der Anleihe an
seine „Geschäftsfreunde" abgegeben hatte, so war es auch diesmal nicht er, der
Schaden von der Sache hatte. Vielmehr waren es wieder die „Geschäfts¬
freunde" Rothschilds und das Privatpublikum, welche allerdings vielfach
genötigt waren, nach dem Sturze zu verlaufen, die die Suppe aufzuessen
hatten. Rothschild spekulirte nun — unbekümmert um das Geschrei,
das seine „Freunde" jetzt allerdings gegen ihn erhoben, da er sie garnicht
mehr kennen wollte, ü, 1^ vaisss — mit welchem Effekt, ersieht man daraus,
daß die Reute im Februar 1831 auf 48 herabgesunken war, während das Haus
Rothschild sich aller Ende» zusmumcuthat und Geld schaffte, wo es zu haben
war, um „nur billig" zu kaufen.
War auch — selbst nach unsrer Überzeugung — der oben skizzirte Vor-
gang des Jahres 1824 wesentlich ein perfider Streich Rothschilds, indem er
der schwankenden Waage einen willkürlichen Druck gab, so war doch jenes
Schwanken selbst noch ein Produkt ftnatsmännischer Ehrenhaftigkeit. Chanteau-
briand stand mit vollem Bewußtsein dem Frevel wider den nationalen Wohl¬
stand gegenüber, und in dieser auch in ihrem Verfall noch so glänzend
repräsentirten staatsmännischen Ehrenhaftigkeit fand sich auch noch ein Damm
gegen die finanzielle Korruption, die freilich schon damals schlich, die aber erst
seit Ludwig Philipp frech über die Straßen zu schreiten begann. Binnen wenigen
Jahren der Regierung dieses Königs Mammon zeigten sich die höchsten Kreise
der Gesellschaft bereits angefault und von Verbrechen durchseucht; selbst Ver¬
wandte der königlichen Familie erschienen unter den Dieben. Dem gegenüber
war das rapide Steigen der Rente, die beim Antritt Ludwig Philipps 48 ge¬
standen hatte, bis 126 und mehr (dreiprozentige über 86) nnr ein Schcinglanz.
Der Verlust, den die Nation damit an die großen Finanzfaisenrs erlitt, als sie
mit raschen schlugen wieder weit unter pari fielen, ist umso größer gewesen.
Allein es spielt, wie wir schon angedeutet haben, die Rente heute keines¬
wegs mehr jene ausschließliche Rolle in Frankreich wie ehedem. Zwar den
eigentlichen Charakter der letzten Reserve für den kleinen Kapitalisten hat sie
nicht verlöre».*) Aber obgleich die Zahl der kleinen Rentiers eine ungeheure
geworden ist und jede Menge der frühern Zeit weit hinter sich läßt, besonders
auch deshalb, weil ehedem die Rentiers sich meist auf die Städte beschränkten,
während sie sich gegenwärtig sehr stark über die ländliche Bevölkerung verbreiten,
so ist doch für deu Charakter der Finanzbeziehungen der französischen Bevölkerung
die -Reute nicht mehr ausschließlich maßgebend. Wir haben schon bemerkt,
daß auch dies wesentlich ein Werk Rothschilds ist. Was ihm zuvor bei laugen
und mannichfachen Versuchen zur Einführung fremder Titel nicht glücken wollte,
ergab sich von selbst mit der Einführung des Eisenbahnwesens und der Über¬
lassung desselben an die Privntspeknlation, was in Frankreich, wo doch die
Neigung der Staatsgewalt zum Gouverniren eine sehr starke ist, von vornherein
auf deu direkten Einfluß Rothschilds auf die Münster, deu König und die
Kammern selbst zurückzuführen ist. Was man damals in Frankreich sagte: daß
die Deputirten nur Knappen Rothschilds und der Börse seien, empfing mit Be¬
ginn des Eisenbahnbaues erst seine tiefere Bedeutung, und die Korrumpirung
der Staatsgewalten und der Publizität wurde damals erst zum System durch¬
gebildet.
Dieses System der Korrumpirung kommt zur nacktesten Erscheinung in der
„Betciluug" mit finanziellen Vorteilen, für welches leicht eine Form gefunden
war. Und diese Form, obgleich sie das Wesen der Korruption nicht zu ver¬
decken vermag, konnte lange Zeit, kann sogar noch heute der Sache in den
Augen des naiven Publikums einen ansehnlichen Anstrich geben und hat schließlich
bis zum unverschämtesten Handel mit Publizität geführt. Thatsächlich sind
heute die 209 Finanzblätter, die Frankreich zu besitzen so glücklich ist und die
zu einem erheblichen Teile gratis in das Publikum ausgestreut werden, sowie
die „ökonomischen" und „kommerziellen" Teile sämtlicher politischen Blätter
Frankreichs lediglich OoMe des Schachers, und dieselben sind sogar zum größten
Teil im Besitze von Aktiengesellschaften oder Banken, welche die finanzielle Aus¬
beutung derselben zum offen betriebenen Geschäfte machen. Und soweit ist man
schon in der Verderbtheit der Anschauungen vorgeschritten, daß, als kürzlich
bekannt wurde, gelegentlich der Laneirung der sogenannten „privilegirten otto¬
manischen Anleihe" — eines schönen Wechselbalgs übrigens — sei von der
Vertretung der Journale nicht weniger als eine halbe Million Franks verlangt
worden lediglich für die Aufgabe, die neue „Anleihe" dem Publikum heraus¬
zustreichen, man sich wohl allgemein über die „Unverschämtheit" der Forderung
Minderte, aber für den schmachvollen Charakter des ganzen Handels niemand
Gefühl zu haben schien.
In früherer Zeit und bei Beginn der Korrnptiousbewegung war man
etwas „delikater." Da hätte selbst Rothschild nicht gewagt, irgend einem, den
er gewinnen wollte, eine nackte Summe anzubieten. Man machte dies feiner
dnrch Bcteilung am Gewinn des Unternehmens. Man „interessirte" den König,
Minister, Pairs, Kammermitglicder und Publizisten für die fraglichen Unter¬
nehmen, indem man ihnen einen gewissen Kvusortialanteil am Unternehmen zum
Überncchmcknrs oder wenigstens einen Aktienanteil zum Subskriptiousknrs zu¬
schrieb und weder Einzahlung noch Abnahme der Stücke von ihnen verlangte,
vielmehr die fraglichen Stücke ans Rechnung der Bedenken in der Agiotage um¬
schlug und ihnen bloß die Differenz gntbrachte und aufzählte.
Es liegt auf der Hemd, welche Wirkungen durch dieses ziemlich einfache
Taschenspielermittel in einer Welt, wo Reichtum alles zu sein begann, erreicht
werden mußten. Selbst die „empfindliche Ehrenhaftigkeit" täuschte sich darüber
hinweg, daß es makelhaft sein könnte, eine derartige „Beteilnng" anzunehmen.
Man täuschte sich darüber hinweg durch die Selbstvorspiegelnng, daß man ja
selbst überzeugt sei vou der Vortrefflichkeit des Projekts, dem seiue guten Dienste
zu widmen man „interessirt" worden war. Man würde jn sehr gern die
Anteile, die man zugeteilt empfing, selbst thatsächlich übernehmen, machte man
sich weiß, wenn es nötig wäre, wenn nicht allzuviele sich um dieselben bewerben
würden; mau that ja den guten Leuten wirklich einen Gefallen, wenn man ihnen
die Einzahlung überließ und sich selbst mit dem Empfang des Gewinnes be¬
gnügte. Daß aber das „Interesse" am Gewinn etwa das Urteil und die Ab¬
stimmung in der Kammer oder die Haltung in deu Spalten des Journals be¬
einflussen könne, das wies man weit von sich, wo man sich ja von vornherein
klar gemacht hatte, daß man nur seiner Überzeugung folge, wenn man dem „ge¬
weckten Interesse" ein klein wenig Rechnung trage.
Denn der Weg zur Hölle ist bekanntlich nicht nur mit guten Vorsätzen,
sondern mehr »och mit bester Gesinnung gepflastert, und die „ehrlichen Leute"
sind nicht nur in Frankreich zu einer ganz besondern Kaste angewachsen, zu
einer Kaste, deren nähere Definition zu geben sich ein ganzes Heer von Roman¬
schreibern bisher vergebens bemüht hat. Darauf, daß zwischen der Vortreff¬
lichkeit einer Sache an sich und der Vortrefflichkeit der Durchführung ein Ab¬
grund der Niederträchtigkeit gähnen kann, darauf brauchte man bei der sophi¬
stischen Beschwichtigung des Gewissens, wenn eine solche nötig war, nicht zu
kommen, und die Differenz zwischen Differenz und Spekulation brauchte ein
simples Kammermitglied oder ein abgesetzter Publizist, dessen Beruf es war,
seinen ungeduldigen Lesern Tag für Tag den höhern Sinn der politischen
und wirtschaftlichen Aktionen klar zu machen, noch viel weniger zu begreifen
als Professor Gareis in Gießen, der neuerdings es unternommen hat, die Feinde
der Börse mit eines Esels Kinnbacken zu schlagen.
Indem daher Rothschild daran ging, in Frankreich das Eisenbahnwesen zu
monopolisiren, hatte er immerhin ziemlich leichtes Spiel. Von der Vortrefflich-
keit der Sache war jedermann überzeugt, und daß eine Ausführung, die ver¬
stand, alle einflußreichen Persönlichkeiten auf so verbindliche Weise für die Sache
zu „interessiren," noch vortrefflicher sein mußte, verstand sich von selbst. Aller¬
dings warf das furchtbare Eisenbahnunglück vom 5. Mai 1842 einen grellen Schein,
auf die Rvthschildschc Vorircfflichkeit und die Fouldsche „Konkurrenz," der man
ja die doppelte Versailler Eisenbahn verdankte; aber auch die thatsächlichen
Vrandopfer, die da der Moloch der Gewinnsucht forderte, wurden bald über¬
deckt durch das „gesteigerte Interesse," das die Faiseurs für ihre Eisenbahn¬
politik zu erwecken verstanden. Die „Differenz" zwischen Baukosten, welche die
Faiseurs wirklich für den Bahnbau ausgaben, und zwischen dem Bankapital,
welches sie in der Aktienmenge und -Höhe zum Ausdruck brachten, endlich das
Agio, das sie darauf schlugen, wurden durch die Trinkgelder, welche sie an Ab¬
geordnete und Publizisten gaben, schwerlich nennenswert verkürzt. Wenn man
z. B. bedenkt, daß auf die französische Nordbahn, deren Bauwerk nach guten
Quellen 150000000 Franks noch nicht erreicht, nicht weniger als 400000 Aktien
zu 500 Franks fundirt, und daß schon die Promessen derselben auf 900
getrieben wurden, so kann man einen ungefähren Begriff erhalten von dem
ungeheuern Gewinn, den die Hauptkvnsortialmitglicder, Rothschild, Lafitte und
Hottinger, von denen Rothschild mit der Hälfte beteiligt war, schon bei Beginn
gemacht hatten. Sicher näherte sich der erste Gewinn Rothschilds an diesem
Geschäft dem Betrage von 100000000 Franks, ohne den spätern Gewinn,
den aus dem wechselnden Fallen und Steigen der Aktien herauszuschlagen ihm ein
leichtes war; letzterer ergab sich ja einfach durch das Kaufen beim Fall der Kurse,
durch das Verkaufen beim Steigen derselben. Man verkennt nicht, daß jetzt
erst die Epoche des Wachsens ins Unendliche für Rothschild gekommen war, so
kolossal die frühern Gewinne bei Staatsanleihen auch gewesen waren; bis zu
höher als 25 Prozent wie hier waren sie doch kaum jemals und nur im kleinen
gekommen.
Die Thätigkeit, welche Rothschild und die ihm mehr oder weniger nahe¬
stehenden Glieder der IlMw-liimnev auf dem Eisenbahngebiete entwickelten, war,
den riesigen Gewinnen entsprechend, bald eine riesige. Bei allen großen
französischen Eisenbahnen, welche sich den Verkehr Frankreichs zum Zweck der
Eisenbahnen prvvinzweise unterwarfen, ist Rothschild beteiligt. In Österreich
schritt er fort, indem er hauptsächlich die Süd- und lombardische Bahn in Be¬
schlag nahm. Diese hatte der Staat bereits größtenteils fertig gebant, und
Rothschild übernahm sie mit ungeheuern Baugewinn. Mit unvergleichlicher
GeschiMchkcit ist dann diese Bahn so mit Kapitalnnsprüchen belastet worden,
daß sie endlich aufhörte, auf die Aktien etwas abzuwerfen, während das Unter¬
nehmen für die meist in Rothschilds Besitz befindlichen Obligationen etwa sechs
Prozent Zinsen und diese Obligationen selbst mit fast fünfzig Prozent Aufschlag
zurückzahlen muß. Überhaupt beruht ein Hauvtkuustgrisf der systematischen
Aussmigung des nationalen Wohlstandes darin, daß die Unternehmungen, welche
von der Börse ausgehen, und die an sich die beste wirtschaftliche Basis haben
können, durch Überlastung mit Kapitalansprüchen erdrückt werden. Alle ans dem
kapitalistischen Wege erbauten Eisenbahnen sind mit mindestens dem doppelten
Betrage des für sie wirklich aufgewendeten Kapitals, oft aber noch weit höher
belastet. Die „Differenz" gehört von vornherein der Börse. Und wenn nun,
wie dies natürlich geschehen muß, das Publikum, welches Titel dieser derartig
überlasteten Unternehmungen im Subskriptionswege g.1 M-i oder gar mit Agio
erworben hat, in der Erwartung, einen entsprechenden Zinsertrag zu erwerben,
in dieser Erwartung getäuscht, sich jener wieder zu entledigen sucht, so erfolgt
sofort der stärkste Druck auf den Kurs, der nun rapid abwärts geht, sodaß
dem Publikum, das den Börsenmachinationen naiv gegenübersteht, das neben
dem Zins- auch noch den vollen Kapitalverlust befürchten muß, nun umsomehr
sich des unsichern Wertes zu entledigen sucht. Dann kommt die zweite Differenz
zu Gunsten der Faiseurs, welche die Titel zu ihrem doppelten oder dreifache»
Wert an das Publikum verkauft hatten und dieselben nun, soweit es ihnen be¬
liebt, zur Hälfte oder zu noch geringerem Preis wieder on sich bringen.*) Die
Ähnlichkeit dieses „Geschäfts" mit dem gewöhnlichen Schacher und Trödel ist
unverkennbar, auch die „prmz'pickte" Ähnlichkeit. Denn der Schacher gipfelt
auch in dem gewerbsmäßigen „billig kaufen" und darauf folgendem verkaufen
„mit Profit." Mag nun der „Profit" im einzelnen Falle anch klein sein,
„Prosit" bleibt immer. Und w-um sich nun ein kleiner Profit unausgesetzt
gewerbsmäßig aufeinandechönst, so muß derselbe schließlich zum schneidendsten
Werkzeug der Aufsaugung des erarbeiteten Wohlstandes werden.
Als in den fünfziger Jahren noch sich die Agiotage soweit verstieg, schon
unverblümte Staatshilfe — verblümte empfing sie ja ohnehin schon seit langer
Zeit — zu fordern, da entrüstet>i sich alle einsichtig/n Finanzpolitiker
darüber, und gewichtige Stimmen sagten die Konsequenzen, die sich daraus er-
geben müßten, voraus. In einem anonym erschienenen, allerdings sachlich
vielfach unzulänglichen, hinsichtlich der sozialpolitischen Einsicht in finanzielle
Dinge aber vortrefflichen Buche jener Zeit^) heißt es wahrhaft prophetisch: „Wehe
aber allen frivolen und leichtsinnig betriebenen Spekulationen, wenn die eigent¬
lichen Wehen eintreten und ihnen die Nachwehen folgen,"
Dem Eisenbahnschwindel, dessen erste und zweite Krisis mit der politischen
Krisis von 1848 in nächster Verbindung standen, folgte der Bankenschwindel, dnrch
den die Unsicherheit des Eigentums ans die Spitze getrieben wurde. Hier waren
die Verhältnisse noch ärger als bei den Eisenbahnen, Bei letztern handelte es
sich doch immer noch um Einrichtungen produktiver Art, die nur durch den
frevelhaftesten Finanzschwindel eines Teiles dieser Produktivität beraubt wurden.
Bei den Banken handelt sichs aber lediglich um bloße Geldschöpfapparate, die
auf der einen Seite voll in das volle greifen und ans der andern einige Tropfen
des Überflusses in die durch sie geschaffene künstliche Leere tröpfeln lassen. Durch
sie wird eine wahrhaft peinliche Überreizung des finnnzwirtschaftlichen Zustandes
geschaffen. Die fast permanent gewordne „Geldklemme" ist ihr Werk, obgleich
sie sogar Scheingeld in Massen fabrizirt haben. Denn sie legten das wirkliche
Geld, in dem sich der Umschlag des ledigen Kapitals vollzieht, sest zur „Fun-
dativn" ihres Scheingeldes und ihrer spekulativen Manöver, während eben jenes
Scheingeld die Zahl der schwankenden Werte nur noch vergrößerte, also auch
die Schwankungen nur vermehrte und verschärfte. Alle Schwankungen wirt¬
schaftspolitischer Art sind Quellen von „Differenzen" und daher der Ilg-nec-liimnes
und den Börsenspielern überhaupt so nützlich, wie sie für die Sicherheit einer
stetigen Wirtschaftsgcstaltung und insbesondre für die Fundation eines weit¬
verzweigten Völkerwohlstandes gefährlich sind.
Durch die Banken schuf sich die UMtö-lmMLö Apparate der Agiotage,
deren ungeheuerliche Brauchbarkeit zu diesem Zwecke die Faiseurs immer besser
zu benutzen verstanden. Die erste Periode des Bankengründnngsschwindels 6n ^roh
bietet in dieser Hinsicht schon erstaunliches. Schon im Jahre 1856 berechnete
man die im Umlauf befindliche» Bankpapierc auf drei Milliarden. Der Schnitt
ins Fleisch des allgemeinen Wohlstandes, der dnrch sie gemacht wurde, wird
scharf genug angedeutet durch die Thatsache, daß die meisten dieser Papiere mit
mehr als fünfzig Prozent Agio ins Publikum geschleudert wurden, daß dann
plötzlich ein Krach eintrat und ein Sinken fast aller dieser Papiere bis auf
etwa fünfzig Prozent des Nominalwertes mit sich brachte.
Gleichwohl war der erste Bankkrach, der damit herbeigeführt wurde, noch
ein Kinderspiel gegen die Zustünde, welche die Schwindelperivde schuf, die sich zehn
Jahre später auf diesem Gebiete zu entwickeln begann. Nicht mir wurden die
alten schon einmal verkrachten Banken wieder auf das fürchterlichste „vergrößert,"
indem man die Aktien derselben maßlos vermehrte, lediglich um „mehr Material"
für die Agiotage zu besitzen. Man gründete überall neue Banken in ungeheurer
Anzahl, umgab dieselbe mit neuem Brimborium, brachte dieselben „mit der Arbeit
in nächste Verbindung," selbstverständlich nur zum Scheine und lediglich des
Namens wegen, köderte dadurch das Publikum wirklich und pumpte nun ver¬
mittelst dieser Banken und bankähnlichen Anstalten wieder Milliarden aus dem
kapitalbesitzcnden Publikum heraus. Im Anfang hatten die Faiseurs wenigstens
nur ausnahmsweise alles, was ihnen an Kapital bei diesen Banken anvertraut
worden war, gestohlen; einen schäbigen Rest zu lassen, erschien noch als „An-
standspflicht." Wenig mehr als zehn Jahre genügten, um auch den letzten
Schein von Anstand bei unsern Agioteurs verschwinden zu lassen. Der grandiose
Diebstahl, der unter dem Titel „Amerikanische Eisenbahnbonds" von der Börse
aus verübt wurde, ließ keinen Zweifel, daß unsre Gesetzgebung thatsächlich für
große Diebe keinen Strick hat, und das Aktiengesetz des Herrn Laster wurde
auch in Deutschland zum Dietrich, selbst die festeste Privatkasse zu öffnen. In
Frankreich freilich hatte man schon zur Zeit des ersten Eisenbahnschwindels den
furchtbarsten Vorwurf auch gegen die Gerichte, jeder andre könne auf ihrem
Parket fallen, nur nicht der große Börsenschwindler, dessen Agiotage eine glück¬
liche sei; nur wenn einer an der Börse schon gestürzt sei, dann halte es die
Justiz für eine Ehre, ihn nachrichterlich abzuthun. Dies wurde in Flugschriften
jener Zeit in heftigster Sprache zum Ausdruck gebracht, und es fehlt wirklich
nicht an Thatsachen, welche für solche Anklagen eine Grundlage liefern
könnten.
Binnen wenigen Jahren wuchsen jene Börsenuntcrnehmen, welche keinen
andern Zweck hatten, als zum Differenzinstrument zwischen dem Beutel des
Publikums und dem der „Bankiers" zu dienen, ins Ungeheuerliche. Sie
sind geradezu unzählbar. Wenn man glaubt, sie sämtlich zusammenge-
funden zu haben, so finden sich doch immer noch einige verborgen. Nur
allein in Wien verkrachten seit Mai 1873 nicht weniger als Sö Bankinstitute
mit einem Kapital von 233 Millionen Gulden, wovon mehr als 150 Millionen
Gulden vollständig verloren waren. Dies bezeichnet aber nur den Verlust an
den baaren Einzahlungen auf das Nominaltapital. Der weit höhere Verlust
am Agio bleibt außer Betracht. Und diesen ganzen Betrag kann man bezeichnen
als dem Publikum direkt gestohlen, denn hinter ihm steht keinerlei wirtschaftliche
Schöpfung. Hier handelt sichs aber nur um einen ganz kleinen Ausschnitt aus
dem Treiben der Agiotage, auf deren Gesamtumfang an den europäischen Börsen
allenfalls geschlossen werden kann, wenn man erfährt, daß in dem Zeitraume
vom Anfang des Jahres 1870 bis zu Mitte des Jahres 1873 allein in der
österreichisch-ungarischen Monarchie nicht weniger als 507 Börsenunternehmungen
mit 2095 Millionen Gulden Kapital gegründet wurden, wozu noch 21 öffent¬
liche Anleihen mit 176 Millionen Gulden hinzutraten.*)
Was aber in Frankreich in den Jahren vor 1870 geschehen war, stellt
dies alles weit in den Schatten. Hier war überdies nach und nach eine überaus
bedeutungsvolle Umwälzung in den Anschauungen des Publikums vor sich ge¬
gangen. Vordem hatte nämlich dieses letztere, soweit es seine Erübrigungc»
in mobilen Werten anlegte, sich fast ausschließlich auf die Staatsrente be¬
schränkt. Bis zum Jahre 1843 war, wie wir oben gesehen haben, selbst
die Beteiligung des Publikums an der Staatsrentc noch eine verhältnismäßig
weniger zahlreiche; erst seit diesem Jahre stieg die Beteiligung, offenbar
nnter dem Einflüsse der Regierung, ganz unverhältnismäßig rasch zu erstaunlicher
Höhe und zog so fast alle Elemente der Bevölkerung, die größere Ersparnisse
zu macheu in der Lage waren, unter die Herrschaft der Börse. Daß seitdem
diese letztere mit ihren Versuchen, die weitesten Kreise der Bevölkerung auch an
sogenannte „exotische Werte" zu gewöhnen, weit mehr Erfolg hatten als ehedem,
läßt sich wohl leicht denken. Die Verminderung des Rentenertrages, die mit der
rapiden Zunahme der Rentiers und der damit verbundenen Verteuerung der
Rente Hand in Hand ging, war der erste Anlaß, durch den sich ein Teil des
Publikums gewinnen ließ, auch den Nebentiteln größere Aufmerksamkeit zuzu-
wenden. Es ist ja bekannt, wie es als eine besonders geschickte Kapitalanlage
gilt, die Werttitel zu „mischen," um so Sicherheit und hohen Ertrag zu ver¬
binden. Hierzu raten die Bankiers insbesondre den Leuten, die noch vor den
Unsicherheiten der unmittelbaren Agiotage zurückschrecke«, wohl aber ein hohes
Erträgnis ihres Kapitals haben möchten. Man nimmt daher einen Teil sicherer
Titel mit geringem Erträgnis und einen andern Teil unsicherer Titel mit
mutmaßlich hohem Erträgnis. Unglücklicherweise ist der Erfolg keineswegs
der, den man aus solcher Mischung erwartet. Die „Sicherheit" ist sicher ver¬
loren, aber der hohe Ertrag hängt vollständig in der Luft. Und wenn sich
eine Weile hoher Ertrag thatsächlich zeigen sollte, so ist dies wirtschaftlich umso
schlimmer, denn der Besitzer solcher Mischung wird in diesem Falle die sichern
Titel wegen ihres niedern Ertrages weit hinter die unsichern Titel zurückstellen
und in den meisten Fällen endlich dazu schreiten, diese selbst mit Verlust zu ver¬
kaufen, um sich größeren Zinsertrag zu verschaffen, was in sehr vielen Fällen in
vollem Vermögensverlust seinen Abschluß findet.
Auch nach dieser Richtung hin hat die Vankgründungsepoche unter dem
zweiten Kaiserreich wahrhaft verheerend gewirkt. Insbesondre der OiMit, mMlisr
hat alle Begriffe von Vorsicht und Sicherheit verwirrt. Dieses Institut, an¬
geblich zur Belebung des Kredits und des Unternehmungsgeistes gegründet,
hatte thatsächlich nur den Zweck der Agiotage, bei der sie das alte System
Rothschild auf die Spitze trieb. Der <Ä6an> wobilior gründete große und kleine
Unternehmungen in Menge. Alle waren mit übertriebenen Kapitaltiteln be¬
lastet. Nicht nur wurden Aktien weit mehr, als das Bedürfnis erheischte, aus¬
gegeben und wurden Gründer und Aufsichtsrate mit ausschweifenden, besonders
materielle» Vorteilen bedacht; es wurden oft auch noch unter allerlei Vorwänden
besondre Anleihen auf das wirkliche oder fiktive Vermögen gemacht. Hiervon be¬
zahlte man einige fette Dividenden, wodurch die Menge der „gemischen Rentiers"
gereizt wurde und die Grundlage einer erfolgreichen Agiotage gewonnen war.
Diese wurde natürlich getrieben so weit als möglich, und dann verschwand
das Zauberschloß. Aktionäre und Gläubiger sahen ins Leere. Der Prozeß
Mirss hat auf diesen Schlammhaufen von Dieberei und Dicbesgesinnnng einen
Blick werfen lassen. Derselbe blieb indeß vereinzelt, während man damals die
ganze Uimtö-tinWeo wegen der gleichen Manipulationen hätte ins Zuchthaus
schicken können.
Die Politik des zweiten Kaiserreiches war für die Agiotage gemacht. Und
die mexikanische Affäre ließ keinen Zweifel mehr, daß bis zur vollständigen, anch
politischen Unterwerfung Frankreichs unter die Börse kein großer Schritt mehr
sei. Es war in der That nur noch eine Frage der Zeit, um Herrn von Roth¬
schild als Beherrscher des alten Reiches der Gallier und Franken zu sehen.
uf dem Grabe Gmnbettas befand sich unter andern ein Kranz
mit folgender Inschrift: „Die Kammer der Petersburger Rechts-
anwälte dem großen Patrioten und Redner"; die tschechische
Bürgerschaft verschiedner böhmischer Städte mit unaussprechlichen
Namen beeilte sich, ihr Beileid telegraphisch auszudrücken; die
kroatischen Studenten in Wien stimmten eine laute Heldenklage an. Der Tod
des Trägers der Revanchcidee hat in der That in der gesamten slavischen Welt
kaum weniger Schmerz verursacht als in der französischen, und die erstere ver¬
langt ja auch mindestens ebenso heiß nach Revanche wie die letztere. Nach
Revanche? Wofür? Jeder slavische Knabe wird darauf, ohne auch nur einen
Augenblick nachzudenken, erwiedern: Für den Berliner Frieden,
Über diesen Punkt herrscht in der That unter allen Russen und den ihnen
zugewandten Völkerschaften nur eine Meinung. Rußland ist durch den Ber¬
liner Frieden tötlich beleidigt worden, und es ist es seiner Ehre schuldig, diesen
Flecke» aus seinem Wappenschilds möglichst bald so oder so zu entfernen. Zu¬
gefügt wurde ihm aber diese Schmach von niemand anders als von Deutsch¬
land. Daher das Verlangen nach Revanche, daher die Verehrung für einen
Mann, mit dem die Slaven doch an und für sich ganz und gar nichts zu thun
hatten. Man sah in ihm und ehrte in ihm den Rächer der vermeintlich von
Deutschland angetasteten russischen Ehre.
Dieser thörichten Vorstellung ist weder mit dem Hinweise, daß die deutsche
Diplomatie Rußland in allem, was dasselbe überhaupt verlangte, unterstützt
habe, uoch sonst mit Gründen der Vernunft irgendwie beizukommen, denn sie
ist nichts andres als ein erwünschter Vorwand, den Deutschenhaß, der die
russische Intelligenz ohne Zlveifel zur Zeit beseelt, gerechtfertigt erscheinen zu
lassen. Mau haßt die Deutschen, und da man fühlt, daß man nicht an sie
kann, so lange beide Staaten freundnachbarlich zu einander stehen, so muß Ru߬
land durch Deutschland beleidigt worden sein. Da sich nun aber keinerlei Be¬
leidigung anderweitig auftreiben läßt, so muß Deutschland schuld daran sein,
daß der Frieden von Se. Stefano dem Berliner Frieden weichen mußte. Daß
auch dieser ein für Nußland doch immer noch sehr vorteilhafter war, wird voll¬
ständig ignorirt.*)
Rußland hat im Berliner Frieden nicht nur die infolge des Krimkrieges
Verlornen Landesteile wieder an sich gebracht, sondern vor allem auch in seiner
Bewegung gegen Konstantinopel hin gewaltige Fortschritte gemacht. Während
die frühern russischen Türkenkriege am Balkan endigten, werden die künftigen
am Fuße des Balkan beginnen.
Das heutige Fürstentum Bulgarien ist in der That kaum etwas andres
als eine russische Provinz mit einem erblichen Generalgouvemeur an der Spitze.
So erscheinen die Dinge den Russen, so den Bulgaren. Welche Stellung der
Fiirst einnimmt, wird sich aus dem folgenden ergeben.
Die russische Presse aller Schattirungen ist darin vollständig einig, daß
die Bulgaren keine andre Aufgabe haben, als den Russen als Vorposten zu
dienen. Alle Vorgänge im Fürstentum werden lediglich von diesem Gesichts-
punkte aus diskutirt, jede selbständige Regung wird kurzer Hand als Hochverrat
gebrandmarkt. Man ist auch weit entfernt davon, dem Fürsten seine russen¬
freundliche Haltung hoch anzurechnen, man ist vielmehr der Meinung, daß er
damit nur seine Pflicht erfülle.
Die Bulgaren selbst urteilen kaum anders. Die ehemalige Rajah ist viele
Jahrhunderte lang an die Fremdherrschaft gewöhnt, und die Herrschaft der recht¬
gläubigen, slavischen Russen erscheint ihr natürlich als ein großer Fortschritt
gegenüber dem türkischen Regiment. Die Bewohner des Fürstentums waren in
der That in keiner Weise darauf vorbereitet, die Leitung des Gemeinwesens in
die eigne Hand zu nehmen. Die wenig zahlreiche» gebildeten Bulgaren hatten
ihre Erziehung im Auslande genossen, sie hatten sich teils eine russische, teils
eine deutsche Bildung angeeignet. In beiden Fällen waren sie ihren Volks¬
genossen mehr oder weniger entfremdet, fehlte ihnen eine genaue Kenntnis der
realen Verhältnisse ihrer Heimat. Unter dem türkischen Regiment war ferner
der gebildete Bulgare ein ganz ebenso rechtloser Sklave gewesen wie der Bauer,
der letztere hatte daher vor dem erster» auch keinerlei Respekt. Um der Bildung
als solcher eine Macht einzuräumen, muß man selbst schon mehr oder weniger
gebildet sei». Die bulgarische Intelligenz endlich bestand außer aus patriotischen
Ehrenmännern auch aus einer Anzahl Personen, welche el» langes Exil oder die
Beugung unter das brutale türkische Joch nicht eben besser gemacht hatte. Diese
thaten das ihrige, um die geringe Ehrfurcht, welche der bulgarische Bauer etwa
vor seinen gebildeten Landsleuten hegte, völlig zu beseitigen. So war denn
das Gros der Nation ganz einverstanden damit, daß die Russen das Heft
in den Händen behielten. Gegenwärtig ist die gesamte staatliche Macht des
Landes vollständig in den Händen Rußlands, und zwar nicht nur indirekt, in¬
fofern es dasselbe durch den ihm ganz ergebner Fürsten regiert, sondern auch
direkt, indem alle wirklich einflußreichen Stellungen von russischen Militärs und
Beamten eingenommen werden. In der bulgarischen Armee ist der Bulgare
auf eine noch geringere Stufe herabgedrückt, als die ist, welche die Jndier im
englisch-indischen Heere einnehmen. Vom Kompagnieführer aufwärts bis zum
Kriegsminister von Kaulbars besteht das ganze Offizierkorps einzig und allein
aus Russen. Ein zahlreicher Stamm von russischen Unteroffizieren sorgt dafür,
daß die Vorgesetzten stets die engste Fühlung mit ihren Untergebenen behalten.
Exerziert wird nach dem russischen Reglement, ja die bulgarischen Soldaten
haben sogar die russischen Soldatenlieder lernen müssen, um sie beim Aus- und
Einmarsch singen zu können. Aber das alles genügt noch nicht. Künftig sollen
auch die bulgarischen Subalternoffiziere immer auf zwei Jahre »ach Rußland
geschickt werden, »in durch den Dienst im russischen Heere ganz zu Russen zu
werden. Es leuchtet ein, daß, sobald dies ein paar Jahre lang geschehen sein
wird, die bulgarische Armee sich durch nichts von einem russischen Armeekorps
unterscheiden wird.
In der Zivilverwaltung, an deren Spitze übrigens anch der russische General
Svbvleff steht, ist dem bulgarischen Element mehr Spielraum gelassen. Es ist
das ein unter den derzeitigen Umständen unschädliches Zugeständnis an die öffent¬
liche Meinung, zumal da der bulgarische Beamte, wie wir schon sahen, wenig
oder keinen Einfluß ans seine Volksgenossen hat. „Ich versichere Ihnen, sagte
ein bulgarischer Minister zu einem russische» Reisenden, daß im Volke ein russischer
Fähnrich mehr Ansehen genießt als ein bulgarischer Minister" „Wißt ihr, wer
Bulgarien regiert?" fragte derselbe Reisende bulgarische Bauern. „Gewiß, er¬
hielt er zur Antwort, der russische Zar regiert es, der den Fürsten Alexander
über uns gesetzt hat."
Dem allen entspricht es, daß auch jede offizielle Äußerung der bulgarischen
NolkSrepräsentanten überfließt von Dank gegen den Zaren, den eigentlichen Geber
aller guten Gaben. „Mit außerordentlicher Frende, heißt es in der Adresse,
mit welcher das bulgarische Parlament jüngst die Thronrede des Fürsten be¬
antwortete, nehmen wir wahr, daß Bulgarien sich andauernd des Wohlwollens
und der Liebe unsers Befreiers, Rußlands, erfreut. Die Vertreter des bul¬
garischen Volkes schätzen, überhäuft von Wohlthaten (!), die Protektion und
Gunst unsers Beschützers sehr hoch, da Bulgarien nur durch die sympathische
Zuneigung und den Schutz unsers Befreiers und Beschützers vorwärts schreiten
und blühen kann. Wir Vertreter des bulgarischen Volkes bitten Ew. Hoheit,
dem erhabenen Herrscher aller Reußen Alexander III., dem Erben unsers großen
Befreiers, die Versicherung unsrer tiefsten Dankbarkeit und unsrer Ergeben¬
heit für die erhabene kaiserliche Familie und für das Andenken unsers Be¬
freiers, das nie in einem bulgarischen Herzen erlöschen wird, zu Füßen zu
legen."
Den in diesem Dankeshymnus ausgedrückten Gefühlen wiederum entspricht
es, daß mau stets, bereit ist, für den Befreier Rußland ins Zeug zu gehen.
Als ein Beweis, welches Grades von Selbstverleugnung man in dieser Be¬
ziehung in Bulgarien fähig ist, möge folgende Stelle aus einer Korrespondenz
der „Moskowskija Wedomosti" (1882, Ur. 298) dienen, zu deren bessern: Ver¬
ständnis ich ein paar Worte vorausschicke. König Milan von Serbien machte
im Herbste des vorigen Jahres einen Besuch am Hoflager des Fürsten von
Bulgarien. Da der König sich auf Österreich stützt, so galt es, ihm den Wert
der russischen Freundschaft für die Balkanslaven und ihre Fürsten in möglichst
demonstrativer Weise vor Auge» zu führen, und dieser Aufgabe entledigte man
sich in folgender Weise.
„König Milan — heißt es in der Korrespondenz — stieß in Bulgarien
mit jedem Schritt ans Anzeichen der regen Verbindung mit Rußland und dem
russischen Volke, und diese Anzeichen wurden vor den, Schützling des Hauses
Habsburg nicht nur nicht verborgen, sondern im Gegenteile durch den Fürsten
Alexander nach Möglichkeit hervorgehoben. Fangen wir damit an, daß ihm der
russische Dampfer Golubtschik entgegengeschickt wurde, auf dem sich der im
russischen Dienste stehende General Lessowvi und der Oberst Stanitzki befanden,
welche für die ganze Zeit seines Aufenthalts in Bulgarien bei dem Könige zur
Dienstleistung befohlen waren. In den an der Donau gelegnen Städten empfingen
ihn seitens der Armee russische Offiziere. In Sistowo rief der höchste Geistliche
der Eparchie dem Könige ziu „Das durch das Blut der russische» Brüder ge¬
schaffne Bulgarien ist glücklich, den Herrscher eines ihm verwandten Landes be
grüßen zu können." Sobald der König in Ruschtschnl bulgarischen Boden
betreten hatte, war der erste, welche» der Fürst Alexander seinem Gaste vorstellte,
der russische General Svbvleff, Ministerpräsident des Fürstentums, der eigens
behufs dieser Begegnung aus Sofia herbeigerufen worden war. Sodann mußte
der König die Bekanntschaft eines andern russischen Generals, des Kriegsministers
Kaulbars mache». Den Generalen folgte der russische diplomatische Agent in
Bulgarien, Herr Arsscnjeff, der ebenfalls für die Zeit, in welcher der König in
Rufchtschuk verweilte, vom Fürsten Alexander dorthin berufen worden war.
Ferner: nach der serbischen Volkshymne erdröhnte sofort die russische, und Fürst
Alexander sowie alle Soldaten salutirtcn, während die Zivilisten die Hüte ab¬
nahmen. Vor dem Palais stellten die kommandirenden Offiziere die Ordonnanzen
in russischer Sprache vor. Der Metropolit von Ruschtschuk sprach in seiner
Begrüßungsrede an den König von der Notwendigkeit eines engen Zusammeu-
schlußes der Slaven behufs der Bekämpfung des Feindes (!) derselbe». Das
erste bulgarische Salz und Brot mußte der König Milan genießen, indem er
neben dem General Svbvleff saß. Die Deputation der Stadt, deren Gast er
war, erklärte dem König ^ natürlich nicht ohne vorhergegangne Verständigung
mit dem Fürsten Alexander — gerade heraus, daß das Slaventum sich mir um
Rußland gruppiren dürfe, und daß Serbien und Bulgarien nicht mir nach Sprache
und Glauben Schwestern, sondern noch mehr durch das russische Blut verbunden
seien, welches für die Befreiung dieses wie jenes Landes vergossen worden sei.
Während der Parade wandte sich der Fürst Alexander an die Truppen in
russischer Sprache, alles Kommando war russisch, wahrend der Rückkehr von der
Parade sangen die bulgarischen Soldaten russische Lieder, während des Früh¬
stücks, welches die Offiziere dem Könige gaben, hörte man nur russisch. Hier
konnte der König nicht länger an sich halten und gab seiner Verwunderung foule
dem Neid Ausdruck, den er in Bezug auf das bulgarische Heer empfand, indem
er bekannte, daß es bei ihm nichts ähnliches gäbe. Man erwiederte ihm be¬
scheiden, daß Bulgarien alles dieses Rußland verdanke.
Übrigens konnte keine Manifestation zu Gunsten Rußlands dem König
Milan ein Wort oder eine Anspielung auf Rußland und den russischen Zaren
entlocken. Er brachte keinen Toast ans den russische» Kaiser aus. Als Fürst
Alexander ihn während des städtischen Festmahls um die Erlaubnis bat, diese
seine Pflicht (sie) erfülle» zu dürfen, verweigerte sie der König. Das Porträt
des russischen Kaisers befand sich, von Guirlanden umkränzt, wie zum Vorwurf
stets vor den Augen des Königs, wann immer er sich zu Tisch setzte."
So unsre Korrespondenz. Dieselbe läßt deutlich genug erkennen, in welcher
Weise der Fürst seine Aufgabe auffaßt. Noch deutlicher aber geht das hervor
aus einer Audienz, welche der Fürst am Tage vor der Begegnung mit dem
Könige von Serbien dem russischen Journalisten Moltschanoff gewährte. Herr
Mvltschanoff war damals Reiseredakteur — wenn man so sagen darf — der
in Petersburg erscheinenden „Nowoje Wremja" (Neue Zeit). Die „Neue Zeit"
ist das den Deutschen feindlichste Blatt Rußlands. In den mit der Journa¬
listik vertrauten Kreisen genießt das Organ des Herrn Suworin nur ein sehr
geringes Ansehen, im großen Publikum aber ist sein Einfluß groß, denn dem
Herausgeber wie den Redakteuren ist jedes Mittel recht, um das Publikum an¬
zuziehen. Die Herren Feodoroff und Bnrenin scheuen in dieser Beziehung keinerlei
Verantwortung. Herr Moltschanoff befand sich im Auftrage seines Blattes ans
der Balkanhalbinsel und hatte um eine Audienz nachgesucht. Die Aufzeichnungen,
welche er über den Verlauf derselben machte, geben, seiner Versicherung nach,
mit stenographischer Treue die Worte des Fürsten wieder. Sie sind ferner am
9./21. Oktober des vorigen Jahres in dem genannten Blatte veröffentlicht
worden, ohne Widerspruch zu erfahren; der Korrespondent soll endlich — Zei¬
tungsnachrichten zufolge ^- eben im Begriffe sein, die Redaktion eines offiziellen
bulgarischen Blattes zu übernehmen. Seine Mitteilungen erscheinen daher durchaus
zuverlässig.
Nachdem Herr Moltschanoff mit dem Fürsten in größerer Gesellschaft ge¬
frühstückt hatte, nahm der Fürst ihn beiseite. Sie wollen während der ganzen
Zeit des bevorstehenden Besuches des Königs bei uns bleiben? — Ja, Hoheit,
erwiederte ich, dieses Fest ist für uns in doppelter Beziehung interessant, einmal
als die Begegnung zweier slavischen Herrscher und sodann als ein Besuch des¬
jenigen Königs in Bulgarien, von dem jetzt in Österreich und Rußland so viel
gesprochen wird. — Ich weiß das, aber ich glaube diesen Gerüchten nicht, ich
kann ihnen nicht glauben. Die Politik, um derentwillen man den König an¬
klagt, erscheint mir positiv unmöglich. — Wir nennen sie unnatürlich. — Ja.
Ich glaube, daß diese Gerüchte jeder Begründung entbehren. Werden doch auch
wir wegen Germanisirung, wegen der Erfolge der katholischen Propaganda an¬
gegriffen. Aber Sie werden natürlich selbst erkennen, daß das die reine Lüge
ist. — Verzeihen Ew. Hoheit, aber ich habe solche Anklagen gegen Bulgarien
nicht aussprechen hören. — Wie? Haben Sie denn nicht die „Ruß" des Herrn
Aksakoff gelesen? Dort wird versichert, daß man in den Straßen von Sofia
nur Deutsch reden höre, daß die Propaganda der Katholiken nicht gehindert
werde u. s. w. Ich versichere Ihnen, daß das alles nicht wahr ist. Es wundert
mich ungemein, daß die russische Presse so unwahren Nachrichten Raum giebt.
Ich bat Aksakoff, und ich bitte Sie — fragen Sie telegraphisch bei mir an
behufs Verifizirung dessen, was nur Jhre» aus Bulgarien schreibt, und ich gebe
Ihnen mein Wort, daß ich — die Nachricht sei mir lieb oder leid — nichts
verbergen und die Wahrheit sagen werde. Unwahre und unerfreuliche Nach¬
richten über Bulgarien in den russischen Blättern sind so kränkend, und sie be¬
leidigen die Bulgaren so sehr! — Das ist ohne Zweifel sehr traurig, Ew. Hoheit,
aber die Redaktionen sind nicht immer schuld. — Ich begreife, daß man sie
täuscht, aber ich bin der Meinung, daß Organe wie „Neue Zeit," „GoloS"
und „Ruß" hier ständige erprobte Korrespondenten haben müßten.
Der Fürst kommt dann nochmals auf die angebliche katholische Propaganda
zurück und leugnet, daß eine solche stattfinde. Darauf Herr Mvltschanoff: Aber
Rumelien, Ew. Hoheit? — Ach, das ist etwas andres. Ich begreife einfach
nicht, was dort vor sich geht. Man tritt dort in Versammlungen zusammen,
und man sendet mir ein Programm dessen, was ich für Bulgarien zu thun
habe, bei Strafe der Vertreibung. Es erscheinen dort Blätter, welche die Bul¬
garen zur Opposition gegen mich und die russische Politik aufreize»; die Un¬
zufriedenen, und unter ihnen sogar Offiziere meiner Armee, begeben sich von
hier dorthin — mit einem Worte, dort findet eine vollständige Demoralisation
der Bulgare» statt, welche auf die Ruhe und die Ordnung im Fürstentnme sehr
schädlich einwirkt. So können wir kaum fortleben. — Darin liegt noch ein
Grund mehr für die Notwendigkeit einer Einigung Bulgariens, und wir, Eure
Hoheit, sind sogar der Meinung, daß die Gegenwart dieser Einigung überaus
günstig sei. — Das kann sein. Da nimmt England Ägypten und alle Welt
zieht den Hut. Wollte Rußland so verfahren, so würde jedermann: „Zu Hilfe"
rufen. Hatten Sie Gelegenheit, meine junge Armee zu sehen? — Gestern,
Eure Hoheit, wohnte ich der Parade eines Regiments bei. — Und welchen
Eindruck empfingen Sie? — Ich freute mich unendlich und wunderte mich über
die schnellen Fortschritte. — O ja. Ich danke das den russischen Offizieren, welche
ausnahmslos die ehrenwertesten Anstrengungen machen, um das Heer gut aus¬
zubilden. Ich bin ihnen sehr verbunden.
Ich erzählte darauf dem Fürsten, sährt der Berichterstatter fort, was mir
am Tage vorher auf der Parade begegnet war. Nach den Worten des Baron
Kaulbars: „Ich danke euch, Kinder. Mit euch ist es eine Lust, gegen den Feind
zu gehen. Ihr seid fertig" lächelten die Soldaten fröhlich und fragten mich:
Nun, wenn wir fertig sind und wenn es eine Lust ist — warum führt man
uns denn nicht gegen den Feind? — Gegen welchen Feind? fragte ich da¬
gegen. — Gegen den Türken, antworteten die Soldaten im Chor. — Einen
andern Feind habt ihr nicht? fragte ich weiter. — Wie sollten wir nicht, war die
Antwort, wir haben noch einen. — Wer ist es? — Der Österreicher. Der
Fürst hörte meinen Bericht mit fröhlichem Lachen (!) an und kam dann wieder
auf die russische Presse zurück. Ich begreife nicht, warum man mich in Ru߬
land nicht liebt. Etwa deshalb nicht, weil ich meiner Abstammung nach ein
Deutscher bin? Aber ich bin doch hier ein Bulgare, der eifrigste bulgarische
Patriot, und als solcher ein ebenso eifriger Freund Rußlands. Außer mir kränkt
Ihre Presse auch die Bulgaren, welche russischen Urteilen gegenüber überaus
empfindlich sind. So hat z. B. die Rede, welche die Vertreter von Moskau
an den Fürsten von Montenegro richteten, uns sehr betrübt. — Weshalb,
Eure Hoheit? — Wie Sie sich erinnern werden, sagte Tschitscherin (der Ober¬
bürgermeister von Moskau): Montenegro ist die einzige slavische Macht, welche
der brüderlichen Politik Rußlands stets treu geblieben ist. Darin sahen wir
einen gegen uns und Serbien gerichteten Vorwurf. Haben wir etwa diesen
Vorwurf verdient? — Verzeihung, Hoheit, aber das verhielt sich doch nicht
ganz so. Moskau sprach vou der Geschichte, Bulgarien aber hat noch leine,
deshalb konnte auch in der Rede des Oberbürgermeisters von Moskau von Bul¬
garien nicht wohl die Rede sein. — Ich bin sehr froh, wenn die Dinge so
liegen. Wir wären sonst sehr gekränkt. Ich kann natürlich nicht den Anspruch
auf eine solche Popularität erheben, wie sie der Fürst Nikolai zu genießen so
glücklich ist, ich weiß, daß ich sie nicht verdient habe, aber sie bildet einen Teil
meines Ideals. Man hat mich in Rußland getadelt wegen der politischen Ver¬
änderungen in Bulgarien. Aber leben Sie selbst hier, und Sie werden sich
überzeugen, daß ich nicht anders verfahren konnte. Man hat bei Ihnen die
hiesigen Bewegungen übertrieben. Sie waren wirklich nicht ernsthafter Natur;
viele meiner geschworenen Feinde von gestern bitten mich heute um eine An¬
stellung. Ich wünsche von ganzer Seele, daß Rußland über Bulgarien nur die
Wahrheit erführe. Ich bin überzeugt, daß dann zwischen uns keinerlei Mi߬
verständnis aufkommen könnte.
Ich habe diese Unterhaltung zwischen dem Fürsten von Bulgarien und dem
Reiserednkteur der „Neuen Zeit" hier ihrem ganzen Umfange nach in wörtlicher
Übersetzung wiedergegeben, weil sie nach vielen Richtungen hin interessant ist.
Sie beweist jedenfalls, daß der Fürst seine Sache mit der Rußlands vollständig
identifizirt, und daß Rußland sich auf ihn durchaus verlassen kann.
Ganz ohne Widerspruch ist diese völlige Hingabe an die russischen Inter¬
essen freilich nicht geblieben. Selbst eine Nation wie die heutige bulgarische ist
nicht imstande, auf jede Selbständigkeit ganz zu verzichten; aber die Opposition, an
deren Spitze Dragan Zankoff steht und deren Organ die „Swetlina" ist, ist
ohnmächtig und bringt es über kleine Skandale, wie denjenigen, welcher zur Ver¬
haftung Zankoffs in Rnschtschuk führte, und wie die Demonstration vor dem
Hause Soboleffs am Geburtstage der Kaiserin von Rußland (14./26. November),
nicht hinaus. In der Stunde der Entscheidung wird das Fürstentum dem rus¬
sischen Reiche gehorchen, wie ein gut geschultes Roß dem Schenkeldruck seines
Reiters.
Erwägt man, welcher Anstrengungen es in frühern Türkcnkriegen ans
Seiten Rußlands bedürfte, um nur mit den Douaufestungen fertig zu werden,
so leuchtet es ein, wie unvergleichlich günstiger seine Lage künftig sein wird,
Ist dem aber so, so haben die Russen doch wahrlich keine Ursache, sich so zu ge-
berden, als ob ihnen der Berliner Friede keinerlei Vorteile gebracht hätte, als
ob das russische Blut während des letzten Krieges nutzlos vergossen worden wäre.
s ist eine erfreuliche Thatsache, daß in der protestantischen Theo¬
logie der Gegenwart, insbesondre in der kirchenhistorischen Forschung,
mehr und mehr sich die Überzeugung Bahn bricht, daß zur Er-
kemituis der ersten Jahrhunderte des Christentums, vorzüglich da,
wo es sich um das volkstümliche Bewußtsein und die kultur¬
geschichtlichen Verhältnisse der ältesten Gemeinden handelt, das durch die
patristische Literatur gebotene Quellenmaterial seine Ergänzung zu entnehmen habe
aus dem reichen Ertrage an Monumenten verschiedenster Art, welche seit mehr
als zwei Jahrhunderten aus den unterirdischen Grabstätten der ältesten Christen¬
gemeinde, den Katakomben, gehoben worden sind und noch gehoben werden.
Daß diese Einsicht verhältnismäßig spät aufgegangen ist, darüber wird man sich
nicht wundern, wenn mau bedenkt, daß erst seit wenigen Dezennien die kirchen¬
historische Arbeit, soweit sie von Theologen geleistet wird, darauf aus ist, auch
ihrerseits den Gesetzen streng wissenschaftlichen Verfahrens, wie es auf andern
Gebieten üblich ist, sich anzubequemen. Wir sagen „darauf aus ist," denn
thatsächlich läßt sie auch heute noch in Beziehung auf Stil und Methode
manches zu wünschen übrig.
Während die Kirchengeschichte im modernen Sinne des Wortes bekanntlich
eine Schöpfung der Reformation ist, und das erste Hauptwerk der lutherischen
Theologie, die Magdeburger Centurien, direkt oder indirekt von weitreichenden
Einfluß auch auf die katholische Kirchengeschichtschreibnng war, so haben wir
ans dem Gebiete kirchlich-monumentaler Forschung das umgekehrte Verhältnis,
die römisch-katholischen Theologen und Archäologen hatten schon seit vielen
Dezennien altchristliche Denkmäler pnblizirt und kommentirt, ehe die Protestanten
überhaupt aufmerksam darauf wurden. Auch in der Gegenwart noch knüpft
sich die Katakombenforschung in hervorragendster Weise an die Namen katholischer
Gelehrten, zumal an den des italienischen Commcndatore Giovcm Battista de
Rossi in Rom, der im Auftrage des Papstes die Oberleitung über die Aus¬
grabungen in den römischen Katakomben führt und durch wissenschaftliche
Leistungen ersten Ranges anch unter den klassischen Archäologen sich einen geach¬
teten Namen gemacht hat.
Nun wird die wissenschaftliche Aufrichtigkeit de Rossis von niemand in
Zweifel gezogen werden; aber seine Schriften rufen häufig den Eindruck hervor,
daß er wenigstens unbewußt durch seine kirchliche Stellung und seine dogma¬
tischen Anschauungen beeinflußt werde. Er hat einst ausdrücklich die auf die
Monumente gegründete kirchliche Altertumswissenschaft als ein Gegenmittel gegen
die Irrtümer der Zeit im Bereiche des Kirchlichen und Religiösen bezeichnet
und dementsprechend seinen Arbeiten eine apologetische Richtung gegeben, wenn
diese auch nicht immer deutlich erkennbar hervortritt, Dazu kommt, daß das
eigentliche Arbeitsfeld de Rossis nur die römischen Katakomben sind. Zwar
haben sowohl er als auch andre, die von ihm angeregt waren, vereinzelt mich
weiter gegriffen; indeß war das nur fragmentarische Arbeit, und eine Darstel¬
lung, deren Objekt die Gesamtheit der altchristlichen Grabdenkmäler bildet und
die zudem den Anforderungen wissenschaftlicher Forschung, wie sie in der klas¬
sischen Archäologie die jüngere Schule übt, volle Genüge leistete, blieb ein
Desideratum.
Ein junger Gelehrter, dem wir schon eine Abhandlung über die Neapoli¬
tanische» Katakomben, sowie „Archäologische Studien über altchristliche Monu¬
mente" verdanken, Viktor Schultze, Privatdozent an der Leipziger Universität,
hat in einem kürzlich erschienenen Werke Die Katakomben*) diese Aufgabe zu
lösen versucht. In präziser Darstellung giebt er uns eine vollständige Übersicht
über die altchristlichen Katakomben, ihre Architektur, ihre Malerei und ihre»
reichen Inhalt an Inschriften, Gerätschaften, Schmucksachen, Amuleten n, s. w,,
und den Anhang feines Buches bildet eine Einzelbeschreibung von zwölf Kata¬
komben im Morgen- und Abendlande auf Grund seiner eignen Untersuchungen.
Man gewinnt aus Schultzes Buche zunächst einen schätzbaren Überblick über
den Stand der Katakonibenforschung der Gegenwart, Eine außerordentlich reiche
Literatur, die er sorgfältig verzeichnet hat, und die in ihren Anfängen bis an
das Ende des sechzehnten Jahrhunderts zurückreicht, hat sich um dieses Thema
angesammelt. Je näher man der Gegenwart kommt, umso mehr schwillt sie an,
England, Frankreich, Italien und Deutschland sind dabei beteiligt. Das ist an
sich gewiß erfreulich. Aber wie stark ist doch in dieser Literatur auch der
Dilettantismus vertreten! Es wäre im Interesse der Katakombenforschung zu
wünschen, daß dieser recht bald abgeschüttelt würde. Eine andre auffallende
Thatsache ist, daß durch diese Fülle von großen und kleinen Schriften eine
wunderbare Einmütigkeit geht: de Rossis Urteile und Vermutungen nicht minder
wie sein Material ziehen sich wie ein roter Faden durch alle hindurch. Wir
stehen hier vor einem Autoritätsglauben, der bei allem Respekt vor der wissen¬
schaftlichen Bedeutung des römischen Gelehrten doch als verderblich bezeichnet
werden muß, und so ist es doppelt erfreulich, daß Schultze sich von vornherein
auf einen kritischen Standpunkt stellt. Die Folge ist denn mich, daß er in einer
ganzen Reihe wichtiger Fragen zu den traditionellen Anschmmngcn in Wider¬
spruch tritt. Da seine Beweisführung sich überall ans das vorliegende Quellen¬
material stützt und haltlosen Konjekturen ebenso beharrlich ausweicht wie den
Verlockungen der Apologetik, so ist damit ein bedeutender Schritt vorwärts
gethan.
Im folgenden heben wir einiges hervor, was sich auf das Verhältnis des
altchristlichen Kulturlebens zu dein antiken bezieht, einmal, weil gerade hierfür
die Katakombenfvrschung überraschende Resultate ergeben hat, dann, weil die
Zuufttheologen diesem Verhältnisse gegenüber eine auffallende Gleichgiltigkeit
zeigen. Solange man aber nicht weiß, wie auf dein Gebiete wisseuschnftlichen,
sozialen, ethischen und auch religiösen Lebens heidnisches und christliches Volks-
tum sich verhielten, solange kann man anch von einem Verständnis der alten
Kirchengeschichte nicht sprechen.
Der dritte Hauptteil von Schultzes Darstellung handelt über die Bildwerke
der Katakomben, und es ist hier zunächst die Rede von dem Entwicklungsgange
der altchristlichen Kunst, Daß die herkömmliche Meinung von dem angeblichen
Knnsthasse der alten Christen falsch sei, wußten wir schon. Hier wird nun zum
erstenmale gezeigt, was eine besonnene Forschung längst hätte bemerken sollen,
daß die christliche Kunst durchaus auf dem Boden der antiken Kunst entstanden
ist und diese als Voraussetzung hat. „Es gab eine Zeit, wo die Kunst in der
Kirche die unverändert heidnische war." Dieser überraschende, aber durchaus
richtige Satz, der über die vorsichtigen Konzessionen des französischen Archäo¬
logen Raoul-Rochette weit hinausgeht, ist ein wichtiger Schluß von den ältesten
Wandmalereien, insbesondre von den Deckengemälden in den Neapolitanischen
Katakomben.
Es läßt sich genau beobachten, wie dann das Christliche auf der antiken
Basis mehr und mehr Boden gewinnt, wie die Künstler von Schritt zu Schritt
weiter gehen. Aber auch in einer Zeit, wo man von einer fertigen christlichen Kunst
reden darf, im dritten und vierten Jahrhundert, erinnern noch zahlreiche Trümmcr-
stücke aus der Antike, die mit fortgeschleppt worden, an das frühere Verhältnis.
Eros und Psyche, die Dioskuren, Figuren und Gruppen ans dem Nereiden-
eyklus wie aus dem bacchischen Kreise, das Gorgoneivn, die Sirenen u. a. tauchen
immer wieder mitten unter den biblischen Darstellungen auf. Auch in zahl¬
reichen Einzelheiten in den christlichen Bildern selbst scheint die antike Kunst und
Vorstellung hindurch.
Noch merkwürdiger aber ist es, daß auch die altchristliche Symbolik sich
nach Maßgabe der Antike gestaltet hat. Der beliebten Art und Weise der tires-
lichen Archäologen, in den Bildwerken der Grabstätten die Gesamtheit altchrist¬
licher Dogmatik und Ethik vorauszusetzen und mit großem oder geringem Auf-
wmide von Gelehrsamkeit und Scharfsinn an das Tageslicht zu bringen, stellt
Schultze den Satz entgegen: „Wie in griechisch-römischen Gräbern und auf
deren Monumenten der bildnerische Schmuck dazu diente, Vorstellungen vom
Tode und vom Jenseits auszudrücken, so haben in demselben Sinne die christ¬
lichen Gemeinden ihre Cömeterien mit Darstellungen versehen, welche ihnen die
ans dem Tode errettende Macht Gottes und seines Christus tröstend vor Augen
stellte. Dieser parallele Gang heidnischer und christlicher Sitte ist nicht zufällig:
er beruht auf einer gleichen Richtung religiösens Strebens und religiöser An¬
schauung, die nur in der Form, nicht in ihrer Grundlage auseinandergehen. Die
Betonung der Fortdauer und die Bemühung, durch religiös-sittliche Leistung
sich diese mehr zu sichern, ist dem absterbenden Heidentum ebenso charakteristisch
wie den in der Heidenwelt lebenden Gemeinden." Damit ist für die Auslegung
der altchristlichen Bildwerke ein neuer Gesichtspunkt gewonnen; dieselben treten
in eine wesentlich andre Beleuchtung und verlieren das rätselhafte Unbestimmte,
welches die traditionelle Interpretation bei ihnen voraussetzt. Wir bewegen uns
auf zuverlässiger Grundlage und erkennen von neuem, wie eng der Zusammen¬
hang des altchristlichen, volkstümlichen Bewußtseins mit der heidnischen Um¬
gebung war.
Nicht minder stark und eigentümlich tritt der Einfluß der Antike in der
altchristlichen Sitte hervor, das Grab mit mancherlei Gegenständen des täg¬
lichen Lebens auszustatten. Die Katakombe S. Agnese in Rom, welche 5753
Gräber umfaßt, hat in dieser Hinsicht ergeben: 283 Glasgefäße und Email-
gcgenstände, 33 Thongefäße, 131 Lampen, 148 Ringe und Knochen, 29 Münzen,
88 Knöpfe und mannichfach gestaltete Stücke aus Horn, 6 Glasschale» und
35 Gegenstände verschiedner Art. Die herkömmliche Erklärung hat sich auf
verschiedene Weise abgemüht, diese merkwürdige Thatsache zu verstehen. Daß
die Erklärung allein in der antiken Sitte und der dieser zu Grunde liegenden Vor¬
stellung vom Grabe als dem ewigen Hause der Seele zu finden sei, leuchtet
ein. Die einzelnen Gegenstände beweisen dies weiterhin, Die Nägel find in
den christlichen Gräbern in derselben Bedeutung vorhanden wie in den heid¬
nischen, d. h. als Symbole der sasva. QöosssitÄS, nicht etwa als Zeiche» und In¬
strumente des Martyriums. Auch das El, das Sinnbild der Fortpflanzung und
damit der Fortdauer, ist um dieses Inhalts willen aus den heidnischen in die
christliche» Grüber herübergenommen worden. Später wurde es dann ein
Symbol der Auferstehung. Ja selbst die Münze als Fährgeld für Charon
(vavrt^L ö/^oc,') fehlt nicht; diese Sitte hat sich sogar bis tief in das Mittel¬
alter hinein erhalten. Auch die Amulete offenbaren in ihrer Form und in
ihrem Inhalte den Einfluß antiker Superstition. In anderen mischen sich heid¬
nische, christliche und jüdische Elemente,
Zum Schlüsse möge noch der Inschriften gedacht sein, über die Schnitzes
Werk ebenfalls einen Abschnitt hat. Auch diese zeigen eine starke Einwirkung
nicht nur des antiken Jnschriftenformnlnrs, sondern auch antike Vorstellungen,
wie der Verfasser im einzelnen zeigt. Die altchristlichen Inschriften haben das
v' N (vis NMiduiz), die echt antike Tröstung Mwo iminortalls, die ebenfalls
heidnische Bezeichnung des Grabes als ckomris Äswrim oder xerxswa söäös,
selbst vom Tartarus, vom Styx und vom Elysium wird bisweilen ge¬
sprochen — kurz, man merkt überall den durchdringenden Einfluß der antiken
Sitte und Anschauung, aus der sich erst im fünften Jahrhundert die christlichen
Inschriften Herausarbeiten, ohne jedoch je ganz davon frei zu werden. Der
Beweis, „daß die Kluft zwischen den antiken und den altchristlichen Inschriften
nicht so groß ist, wie angenommen wird," kontrastirt freilich sehr mit den üblichen
Auslassungen über dieses Verhältnis. Aber es entspricht durchaus den that¬
sächlichen Verhältnissen, wenn der Verfasser hinzufügt: „Es ist keine gerechte
Beurteilung, nach den schroffen Ausdrücken, welche einzelne antike Epitaphien
bieten, den Geist des griechisch-römischen Jnschriftentums zu bemessen, das an
manchen Punkten eine Innigkeit des Gefühles und eine reine Menschlichkeit
offenbart, welche die altchristlichen Inschriften, mit wenigen Ansncchmen, ver¬
missen lassen."
So bietet denn Schultzes Buch des Neuen und Interessanten viel. Man
ersieht aus demselben schon jetzt klar, welchen bedeutenden Einfluß die Kata-
kvmbenfunde, wenn erst das massenhafte Material vollständig durchgearbeitet
sein wird, auf unsre Anschauungen über die Entwicklung des religiösen Be¬
wußtseins und die Kulturzustände der ersten Christen noch ausüben werden.
Namentlich aus den Inschriften ist »och eine bedeutende dogmcngeschichtliche Aus¬
beute zu erwarten.
Herkömmlich tritt jedes Jahr um die Weihnachtszeit in der
herrschenden Nezensirtemperatur gegenüber der deutschen Lyrik und
lyrischem Epik eine bemerkenswerte Erhöhung ein. Für einige
Wochen dürfen die verpöntem Kinder der Musen sich ihres Lebens
erfreuen, eine Reihe seit einem Jahre staubig gewordener Redens¬
arten von quellender Frische der Empfindung, natürlichen, Fluß des Verses,
feinstem „Schliff der Form" werden in Zeitungen und Wochenschriften hervor¬
geholt, wo sonst das frei variirte Goethische „Schlagt ihn tot den Hund, es ist
ein — Poet" in vollster Geltung steht. Da werden auf einmal Groß und
Klein, wie sie der Hirt zum Thore hinaustreibt, oder vielmehr, wie sie der
Buchbinder in Leinwand mit Goldpressung bindet, in gleichem Tone gelobt und
einige Dutzend Dichter entweder neu in Szene gesetzt oder in der Art empfohlen, wie
man um Weihnachten in haushälterischer Familien verstaubtes Kinderspielzeug
frisch aufzuputzen und aufzustutzen pflegt. Mit wunderbarer Naivität wird an¬
genommen, daß diese Weihnachtsbescheerung in Dichtern durchaus keine Konse¬
quenzen nach sich ziehe. Schon im Januar gilt es wieder, daß die Zeit der
Poesie vorüber sei, und die erbärmlichste Kriminal- und Sensativnsnovelle, das
schnoddrigste und nichtigste Feuilleton haben für die Literatur der Gegenwart
angeblich mehr zu bedeuten wie das reifste und reinste Gedicht, die beste Samm¬
lung „lyrischer Ergüsse," wie der geschmackvolle Ausdruck zu lauten pflegt.
Die Verweisung der Lyrik auf den Weihnachtsbüchertisch ist uns schon
längst als eine UnWürdigkeit erschienen und befördert eine schlimme Gewohnheit
des Publikums. Wenn es nur zu festlicher Veranlassung üblich ist, sich um
Poeten zu kümmern, so kümmert man sich eben niemals um sie, Wahl- und
unterschiedslos greift man entweder nach den Günstlingen der Mode und dem
einen Dichter, den die Svrtimeutsbuchhaudlungen in beliebter Gedankenlosigkeit
jedermann in die Hand drücken, oder man läßt sich durch die erste beste Re¬
klame der eben gelesenen Weihnachtsbücherschau für den ersten besten bestimmen.
Uns dünkt es, daß die bessern Dichter der Gegenwart so gut ein Recht ans Be¬
achtung und selbständige Besprechung haben als andre liternrische Erscheinungen,
und daß wir deshalb auch nach und außer der Festzeit die Blicke und die Teil¬
nahme unsrer Leser ans einige poetische Erscheinungen des eben abgelaufenen
Jahres lenken dürfen.
Die gehaltreichste, in ihrer Weise erfreulichste poetische Gabe, die uns seit
längerer Zeit vor Augen gekommen ist, die kleine epische Dichtung Bruder
Rausch, ein Klostermärchen von Wilhelm Hertz (Stuttgart, Gebr. Kröner),
sei, wie billig, hier zuerst genannt. Es ist eine vortrefflich erzählte, leicht
mittelalterlich gefärbte Klostersagc, welche durch die Anmut des Vortrags und
die warme Lebendigkeit aller Einzelheiten noch mehr anspricht als durch den
Stoff. Irren wir nicht, so ist diese Sage vom „Bruder Rausch" zuerst durch
Oskar Schade mitgeteilt worden, doch gehört die reizende Gestaltung, die leise
ironische Schlußwcndung durchaus dem modernen Dichter an. Die leichtflüssigen
Verse, die wie in lebendiger mündlicher Rede hervorquellen, scheine» nie Selbst¬
zweck zu sein und nur der kurz und keck vorgetragenen Erzählung zu diene»,
sie schließen gleichwohl gereifte Kunst und eine Fülle sprachlicher Reize i» sich.
Im Kolorit gemahnt die Erzählung an gute Bilder einer ältern Schule, es
siud kräftige, lichtvolle, nicht blendende Farben, welche die schildernden Teile des
Gedichts auszeichnen, und der Dichter vergißt keinen Augenblick, daß alle Be¬
schreibung in der Poesie gleichzeitig Stimmung wecken und die Handlung fördern
muß. Die Abenteuer des „Bruder Rausch" treten anspruchslos genug vor das
deutsche Publikum, aber sie bergen einen Anspruch in sich, den liebenswürdigsten
und erquicklichsten Schöpfungen des letzten Jahrzehnts beigezählt zu werden.
Minder unbedingt läßt sich ein größeres erzählendes Gedicht Die Historia
von Herrn Hartwig und der treuen Else von Johann von Wilden-
radt (Hamburg, Otto Meißner) rühme», welches nach Ausdehnung und Anlage
schon ein Epos genannt werden könnte. Den historischen Hintergrund zur Er¬
findung des Dichters bildet der letzte siegreiche Kampf der Dithmarschen um
ihre uralte Bauernfreiheit, die vielgefeierte und vielbesungene Schlacht von
Hemmingsted. Der Stoff verträgt eine öftere Behandlung ,und es kommt nur
darauf an, wie der Dichter die historischen Ereignisse mit seiner Erzählung und
seinen Gestalten verflicht. Das Wildenradtsche Gedicht zeugt sicher von Talent,
einzelne Situationen treten mit plastischer Kraft hervor, andre sind dnrch stim¬
mungsvolle Schilderung ausgezeichnet, und unter den eingeflochtenen lyrischen
Dichtungen entkeimen wenigstens einzelne einem tiefern Empfinden. Im ganzen
aber ist der Roman, welcher die Schlußhandlung des Gedichts, den Kampf und
Sieg bei Hemmiugstcd, einleitet, viel zu breit ausgesponnen. Die ganze Historie
von Herrn Hartwig und der treuen Else würde gedrängter, knapper und ein¬
facher gehalten eine tiefere Wirkung hervorbringen. Die Rolle, welche Herrn
Hartwig in Leben und Tod zugewiesen ist, erscheint dem Leser doch als eine
gar zu leidende; die Übergänge im ganzen Gedicht erscheinen gegenüber der
Detaillirung, namentlich der Einleitung, oft genug jäh und unvermittelt. Dazu
ist das Versmaß, die dnrch Scheffels „Trompeter von Säckingen" vielbeliebt
gewordnen reimlosen vierfüßigen Trochäen, dem gewählten Stoffe keineswegs
verwandt, zerstört an vielen Stellen die Illusion und wirkt sür die Schlacht¬
darstellung im letzten Teile des Gedichts besonders ungünstig. Eine bemerkens¬
werte Ungleichheit der sprachliche» Gesamthaltung des Gedichts, in der sich
frischer Schwung, stimmungsvolle Würde und dann wieder eine gewisse All¬
täglichkeit und Plattheit begegnen, erweckt den Eindruck, als ob der Verfasser
gut thu» würde, seine Kraft zunächst einmal i» kleinerem Rahmen zu erproben.
Vor allem aber möge er sich hüten, in einem so ernst gemeinten, im große»
und ganzen völlig realistisch gehaltene» Gedicht plötzlich eine Göttermaschineric
eigner Erfindung einzufügen — dergleichen stört den Anteil, den er mit seiner
Anlage erweckt, empfindlich und verstärkt den Eindruck der Ungleichheit, welchen
die poetische „Historie" hinterläßt.
Eine poetische Gabe voll bedeutenden selbständigen Inhalts sind ohne Frage
die Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer (Leipzig, H. Hässel). Der
Dichter des „Georg Jenatsch" und der farbenreichen Novelle „Der Heilige"
verleugnet auch in seinen lyrischen Produktionen seine Eigentümlichkeit nicht.
Die Gedichte C. F. Meyers haben nur selten einen musikalischen Gang, es sind
meist Bilder, welche in einem besondern Lichte erglänzen. Niemals trivial, aber
manchmal gesucht, ja gequält, in ihrer Stimmung meist elegisch, selten heiter
und hoffnungsvoll, wenden sich diese Erinnerungen und Trcinme, diese Bilder
und Balladen an jenen kleinen Leserkreis, welcher Teilnahme für eine Subjek¬
tivität hat, deren Empfinden, Schauen und Gestalten beinahe nirgend mit dem
Empfinden und Schauen andrer zusammentrifft. Wie bei der Mehrzahl der
neuesten Poeten findet sich anch bei C. F. Meyer ein starker Beisatz von Re¬
flexion, und selbst die kräftigen erzählenden Dichtungen scheinen zum Teil aus
einem schmerzlich grüblerischen Sinnen des Dichters erwachsen zu sein. Wen
die düstern Grundstimmungen des Verfassers nicht schrecken, dem bietet die
Sammlung vorzügliches. Gedichte wie „Lenzfahrt," „Der Marmorknabe,"
„Das tote Kind," „Jetzt rede du!" „Das Glöcklein," „Einer Toten," „Am
Himmelsthor," unter den erzählenden „Der Gesang der Parze," „Das Geisterroß,"
„Mit zwei Worten," „Die Ketzerin," „Papst Julius," „Miltons Rache" ver¬
dienen mit unsrer Sprache fortzuleben und verbürgen, daß in dem Dichter ein
eigner Sinn und eine kräftige Phantasie wirksam sind. Der poetische Ausdruck
dieser Eigenschaften ist hier und da schwerflüssig, doch dafür von jeder nach-
gcstammelten Phrase und von Wiederholungen frei. Immerhin aber giebt das
Überwiegen eines tiefen und schweren Ernstes bei unsern besten Dichtern zu
denken; wie würde sich eine Dichtung ausnehmen, in der kein andrer Geist lebte
als der, dessen Wehen wir in C. F. Meyers Gedichten empfinden!
Der landesüblichen Weise der Lyrik näher steht ein Dichter, dem wir zum
erstenmale begegnen. Die Gedichte von Friedrich Storck (Stuttgart,
G. I. Göschensche Verlagsbuchhandlung) sind von Plattheiten der Erfindung und
abgegriffenem Phrasen nicht frei, die Lässigkeiten des Ausdruckes und, ums
schlimmer ist, die Geschmacklosigkeiten im Ton ganzer Gedichte können erkältend
wirken. Doch wäre es ungerecht, ein gewisses Talent, ein poetisches Naturell
voll Frische und Beweglichkeit in den bessern Gedichten des Bandes zu ver¬
kennen. Namentlich die Lieder, welche an ältere geistliche Weisen anklingen, wie
„Vertraue!" und das Frühlingslied „Wach auf," einzelne der Liebeslieder und
Waldlieder sind zwar nicht „neu," aber warm empfunden und frisch gesungen.
In vielen andern und namentlich in den zahlreichen Glossen verrät sich, daß die
Gedichte Storcks zu einem guten Teil Nachklänge von poetischen Tönen andrer
sind, und daß oft genug die bloße Freude am Rhythmus und Reim vorwaltet.
Auch dagegen soll nichts erinnert werden, als daß der Dichter damit die Ver¬
pflichtung übernimmt, seine Form sorgfältig zu Pflegen nud sich vor jeder Tri¬
vialität zu wahren. Daß Storck dieser einfachen Verpflichtung häufig nicht
nachkommt, muß er sich selbst sagen, einzelne ernst gemeinte Gedichte gewinnen
bei ihm geradezu das Ansehen der Parodie. Wenn er Goethe anspricht:
Und doch dich preisend greif' ich III die Saiten,
Du Dichter ersten Ranges aller Zeiten!
Poet, dem in der Musen heil'gen Tempel
Das.Haupt der Kranz des höchsten Ruhmes schmückt;
Deß Werk, ein hohes, herrliches Exempel
In Ewigkeit wird strahlen unverrückt u. s. w.
so sind wir in der That um Biedermcyer und Genossen gemahnt.
selbständiger in der Empfindung, durchgebildet in der Form, zu poetischen
Individualitäten gereift, treten zwei Lyriker vor uns, deren Namen sich schon
guten Klanges erfreuen: Heinrich Zeise und Ernst Scherenberg. Die Dichtungen
des ältern von ihnen Aus meiner Liedermappe von Heinrich Zeise
(Hannover, Arnold Weichelt) erscheinen als zweite vermehrte Auflage und
mögen zum größern Teil in frühere Tage zurückreichen. Sie bewähren, daß
der Dichter von seiner Muse durch das Leben begleitet worden ist, die meisten
seiner neueren Liedweisen quellen so frisch, warm und ungekünstelt hervor wie
die besten der älteren Gedichte Zeises. Man kann kaum sagen, daß in dieser
Sammlung von Liedern und Gelegenheitsgedichten im besten Sinne einzelne
besonders hervorragen. Die Eigenart des Dichters bringt es mit sich, daß er
mich seine innersten Empfindungen, seiue eigensten Erlebnisse in eine lyrische Form
kleidet, welche zur Allgemeinheit spricht. Vurns, Beranger, die mit Unrecht ver¬
gessenen deutschen geselligen Lyriker vom Ende des vorigen Jahrhunderts haben
ihn hierin beeinflußt. Und man kann nicht leugnen, daß Zeises Wald- und
Wanderlieder, seine kernhaften Trvstsprüche im Wechsel des Lebens, seine genu߬
frohen Trinklieder und zahlreichen Liebesgesange auf jeden Leser kräftig und
unmittelbar wirken. Es ist Mark und Gesundheit, Gefühl für alle Schönheit
des Lebens, männlicher Ernst und ein feiner, an der Natur genährter Sinn in
ihnen, die Verse des Lyrikers meist tadellos und oft einschmeichelnd und voll
Wohllautes. Gleichwohl macht sich ein gewisses Gefühl der Ermüdung beim
Lesen so zahlreicher fast gleichartiger und völlig gleichwertiger Gedichte geltend.
Zeise sinkt unter die Durchschnittslinie des Empfiudnngsgehnlts und Ausdrucks
seiner Lieder selten herab, aber er erhebt sich beinahe nie über dieselbe. Keine
Weise, die uns ins tiefste Herz hineinklänge, kein Bild, das immer wieder vor
uns stünde, kein Gedicht, das sich der Erinnerung unvergeßlich einprägte!
Daran mag auch der Zufall seinen Anteil haben — immerhin aber würde es
uns nicht leicht fallen, sollten wir aus den guten Gedichten dieser Liedermappe
ein Dutzend der vortrefflichsten herausheben.
Zeigt sich Zeise im ganzen als eine lebensfrohe und harmlose Dichternatur
(nur durch die letzten Gedichte seines Bandes geht ein Hauch des Schmerzes
und einer herben Resignation), so stellt sich Ernst Scherenberg auch in seinen
Neuen Gedichten (Leipzig, Ernst Keil) vorwiegend elegisch, jedenfalls tief
ernst gestimmt dar. Der Grundton des ersten Gedichts:
Gern vergaß ich, was ich litt,
Neuem Lcnzcsgruß zu lauschen —
Doch mit jedem Wcmvcrschritt
Weck' ich welker Blätter Rausche»
klingt durch die kleine Reihe der zugleich formschönen und schlichten Gedichte
des kleinen Bandes wenigstens durch die besten, „Stimmungen" und „Vermischte
Gedichte" überschrieben, hindurch. Wir müssen aber diese Abschnitte höher halten
als die „Zeitgedichte" desselben Dichters. Obschon wahrlich eine schwungvoll
kräftige Mahnung wie die „Am zehnjährigen Gedenktage des Frankfurter Frie¬
dens" als gutes Wort an guter Statt geehrt werden muß, so tritt doch in ver-
schiednen andern Zeitgedichtcn jenes rhetorische Element hervor, welches sich uur
selten in echte Poesie wandeln läßt. Aus tiefster Seele erklingen dagegen Ge¬
dichte wie „Schließe, schließe die Augen," „Musengruß," „Vorwärts," „Der
Arbeit Segen," „An Karl von Holtet."
Eine ziemlich gereifte Begabung für poetische Erzählung und Schilderung
spricht aus den Dichtungen des Prinzen Emil zu Schönaich-Carolath
(Stuttgart, G. I. Göschen), erfreulich wirkt sie selten. Der erlauchte Dichter
scheint bei Byron, Alfred de Musset und den französischen Romantikern über¬
haupt in die Schule gegangen. Er wirkt mit grellen Gegensätzen, wie sie das
größte und bedeutendste Gedicht des kleinen Bandes, „Angelina," aufweist. Die
Prachtmomente des ersten Teiles werden dnrch den grell häßlichen Schluß stark
beeinträchtigt. Auch „Die Sphinx," „Der schwarze Hans" und die lyrischen
Gedichte sind vom Geiste jenes herben, hosfnungsarmen Pessimismus erfüllt,
dem aller Genuß und alle Schönheit der Welt nur den Stachel schärft. Es
ist Leben, Blut, Kolorit, feines Schönheitsgefühl in diesen „Dichtungen," und
für das, was uns darin abstößt, wäre es wohl unrecht, den einzelnen
Dichter verantwortlich zu machen. Es ist eine Zeitkrankheit, die Hunderte er¬
greift und dahinrafft und sich lieber die ernsten, ticfergestimmten, reicheren Na¬
turen als die leichten, selbstzufriedenen zu Opfern wählt. Wenige sind stark
genug, die Krankheit zu überwinden, ja neue Kraft in der Genesung noch zu
gewinnen, doch werden nur diese wenigen die Dichter der Zukunft sein.
err Rudolf Schmidt zuckte die Achseln, Das Projekt der Aktien¬
gesellschaft Brauerei Eichhauscn stand so klar und deutlich vor
seinem innern Auge, daß es ihm ganz unbegreiflich war, wie ein
verständiger Mensch es ignoriren könne.
Du warst recht lange nicht bei uns, lieber Rudolf, sagte seine
Tante in freundlichem Tone.
Viel zu thun, entgegnete er. Und ich werde morgen eine Reise auf etwa
vier Wochen antreten.
Wohin willst du denn, mein Kind? fragte die gute alte Frau, Aber zunächst,
mein lieber Junge, laß dir hier das Stückchen Schinken auf den Teller legen.
Du ißt ja garnicht. schmeckts dir nicht?
Er war immer stärker im Reden als im Essen, bemerkte der Oheim.
Ich habe eine Geschäftsreise vor, sagte der Neffe.
Wohin denn? fragte Millicent.
Ach, durch Pommern und Mecklenburg und nach Holstein, es ist in Angelegen¬
heiten der Terracottafabrik.
Terracottafabrik? fragte der Oheim. Was ist denn das für eine Fabrik?
Es ist meine Fabrik.
Deine? Von der habe ich ja noch kein Sterbenswort gehört.
Nun, ich habe doch die Thongrube dort unten am Wildbruch gekauft.
Dort richte ich sie ein.
Ah, sie soll erst gebaut werden! sagte der Inspektor mit seinem breiten Lachen.
Nun, sagte Rudolf ruhig, der Ofen ist die Hauptsache, und der ist beinahe
fertig. Ich reise vorläufig mit Proben, um mir die Kundschaft zu erwerben.
Ich will doch gleich Absatz haben, wenn die Waare fertig ist.
Aber was sind denn das für Proben? Du sagtest doch, der Ofen wäre
beinahe fertig, da kann doch noch nichts gebrannt sein.
Wie Ihr schwerfällig seid! Die Proben hat ein sehr geschickter Töpfer
am Rhein gebrannt, aus ganz eben solchem Thon, wie er sich in meiner Grube
findet. Ich werde dir die Steine gelegentlich zeigen, ganz reizende Fliesen, die
sich zur Bekleidung von Küche und Flur und zu tausend andern Zwecken vor¬
züglich eignen. Ich habe den Mann als Werkführer engagirt.
Das ist doch eine unsichere Geschichte, sagte der Inspektor kopfschüttelnd.
Wenn nun Bestellungen auf dein Anerbieten hin gemacht werden und du noch
gar kein Fabrikat hast?
Ich werde es haben, ich werde es haben, mein lieber Onkel. Soll ich etwa
unnütz Zeit verlieren, daß mir ein Konkurrent zuvorkommt?
Und wenn dein Brand nicht gelingt? Wenn vielleicht gar der Ofen nicht
gerät? Oder wenn am Ende dein Thon nicht der passende ist?
Professor Werthmann, der erste jetzt lebende Chemiker, hat mir ein Gut¬
achten über meinen Thon ausgestellt, welches jetzt in allen Blättern veröffent¬
licht wird. Mein Thon eignet sich brillant zu meinem Zweck. Ich werde mit
den Fliesen anfangen und mit solchen Krügen und Vasen fortfahren, welche die
Damen lackiren und bekleben können. Nachher, wenn alles gehörig organisirt
ist, und wenn ich einen tüchtigen Modelleur gewonnen habe, werde ich Figuren
zum Schmuck von Dächern, Eingängen, Gärten, Gräbern und so weiter fa-
briziren.
Du unternimmst viel, mein Junge, sagte der Oheim. Unternimm nur nicht
zu viel! Du hast die Gewerbebauk, du hast die Zeitung, ich dächte, das wäre
genug für einen Mann.
Es kommt alles auf die Organisation an, entgegnete sein Neffe. Ein schöpfe¬
rischer Geist vermag viel. Die Arbeitsteilung, das ist es, worauf es ankommt.
Ich thue nichts, als daß ich, gleichsam als Zentrum der Intelligenz, in der
Mitte stehe, und um mich kreisen die Räder der Maschine. Ich arbeite nicht
selbst, wenigstens nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Ich lasse arbeiten.
Ich gebe den Anstoß, ich überwache, und unzählige Werkzeuge meines Geistes
sichren dessen Ideen aus. So gut wie zwei Unternehmungen, kann ich deren
drei, deren zehn, deren hundert haben. Der Riese Briareus hatte hundert Arme,
ich habe sie auch.
Ach nein, sagte die Tante, das wäre nichts für mich. Ich glaube, wenn
ich das sollte, da würde ich verrückt. Mir füllt schon mein einziger Haushalt
den Kopf aus, wenn ich nur uoch einen dazu bekäme, wüßte ich nicht mehr,
wo mir die Gedanken stünden. Und ich glaube auch, wer seine Arbeit recht
gewissenhaft nimmt, der kann nicht mehrerlei nebeneinander thun. Niemand kann
zween Herren dienen, heißt es in der Bibel.
Das ist anders gemeint, mein gutes Tnntchen. Die Bibel meint, niemand
könne Gott dienen und dem Mammon, und das ist auch richtig. Aber wer in
einer und derselben Richtung arbeitet, so daß alles, was er thut, demselben
Zwecke dient, der kann vielerlei nebeneinander treiben. Meine Unternehmungen
dienen alle einem einzigen großen Zwecke, nämlich dem Wohle des armen
Volkes,
Alle Hagel! rief der Inspektor,
Gewiß thun sie das, versetzte Rudolf, Wem zu Gefallen habe ich mit un¬
endlichen Mühen die Gewerbebank gegründet? Etwa mir, der ich mit kleinem
Gehalt die oberste Verwaltung leite? Nein, den tausenden von kleinen Leute»
zu Gefallen, die hier ihr geringes, sauer erworbenes Kapital sicher und lohnend
anlegen können. Wem dient die Zeitung? Eben diesem Volke, dessen Inter¬
essen sie vertritt. Für wen errichte ich Fabriken? Für eben dies arme Volk,
das darin Arbeit findet und zugleich das köstliche Geschenk der persönlichen
Freiheit bewahrt, einer Freiheit, die ihm unter dein Druck des Grundbesitzes
verloren gehen würde. Und habe ich nicht, abgesehen von diesem eigentlichen
armen Volke, gar manchem verdienten Manne, der Schiffbruch erlitten hatte im
Lebenssturm, neue Lebenslust mit einem neuen Wirkungskreis verliehen? Da
ist der katholische Priester, der in natürlicher Empörung gegen die Tyrannei
des Cölibats sich verheiratet hatte und nun einer der Direktoren der Gewerbe¬
bank ist, da seht ihr —
Entschuldige, daß ich dich unterbreche, sagte Millicent, Der Koch sagte
mir heute Morgen, sein Sohn, der jetzt das Gymnasium durchgemacht hat und uach
Hause gekommen ist, und der, wie sein Vater behauptet, ein sehr intelligenter
junger Mann ist, suche eine Stelle an einer Zeitung, da er eine unüberwind-
liche Neigung für die Literatur habe. Könntest du ihn vielleicht gebrauchen?
Sehr intelligent? fragte ihr Bruder dagegen. Paßt mir nicht in die Zei¬
tung. Mir ist der Dr. Glock schon viel zu intelligent. Ich brauche sür meine
Zeitung Sitzfleisch, die Intelligenz habe ich selber. Aber laß ihn herüberkommen,
ich will ihn mir ansehen.
Millicent wußte, wie gern ihr Bruder bedrängten oder suchenden Leute:?
zu Hilfe kam. Sie glaubte gleich ihm selber, daß nur sein gutes Herz ihn dazu
triebe. Ich kann ihn jetzt gleich holen lassen, sagte sie und sandte das Mädchen
hinüber ins Schloß.
Warum will denn der junge Mensch nicht lieber auch Koch werden? fragte
ihr Bruder.
Ja siehst du, er hat eine gelehrte Bildung erhalten, weil sein Vater etwas
besseres aus ihm machen will, als er selber ist. Und der Junge selber hat einen
ganz besondern Trieb für die Wissenschaft. Zum Studiren freilich langt das
Geld nicht.
Das ist ein wahres Unglück, wie viele Leute jetzt ans ihren Kindern Ge¬
bildete machen wollen! sagte Rudolf, Nachher sind diese dann zu gelehrt für
ein Handwerk, bleiben aber immer noch zu dumm für die Wissenschaft, sind
nicht Fisch und nicht Fleisch, wollen oben hinaus, anstatt unten redlich und
fleißig ihr Brod zu verdienen, machen ein Projekt über das andre, die alle
fehlschlagen, treiben sich ans den Redaktionen, an den Banken und in den Kneipen
umher und vergrößern schließlich das Proletariat, welches hinter den soziali¬
stischen Agitatoren herläuft.
Der Inspektor stieß einen Kernfluch aus und ließ seine Faust gleich einem
Schmiedehammer auf den Tisch fallen. Das war mir aus der Seele gesprochen,
mein Junge, sagte er, aber hol mich der Teufel, wen» ich begreife, daß du es
sagst. Dacht' ich doch meiner Seel', der gnädige Herr Hütte gesprochen.
Da weiß ich nicht, für wen das ein Kompliment sein soll, ob für deinen
gnädigen Herrn oder für mich, sagte sein Neffe kaltblütig. Nach jeder Seite
hin Gerechtigkeit, und ein unbestochenes Urteil über alles, das ist mein Wahl¬
spruch.
Bitte, redet nur nicht über Politik, sagte die Tante, indem sie jedem der
beiden Männer ein großes Stück Wildpastete auf den Teller lud. Meinen
Heringssalat habt ihr noch garnicht versucht. Und schenk auch die Gläser wieder
voll, Millicent.
Rudolf lachte und ließ es sich schmecken. Der Heringssalat war vorzüg¬
lich, auch die Kompots waren von Meisterhand bereitet, und mit Vertrauen
ging man, nachdem die schweren Schüsseln abgeräumt waren, dem Stachelbeer¬
kuchen, dem Kirschkuchen, allerhand Früchten und dem Käse entgegen, einem Dessert,
das von Danziger Goldwasser und einem im Hause bereiteten uralten Wach-
holderbrnnntwein begleitet wurde.
Inzwischen trat der Sohn des Kochs, ein etwas blasser Jüngling von
neunzehn Jahren, bescheiden herein.
Da ist unser junger Gelehrter, sagte der Inspektor. Schenk ihm ein Gläschen
ein, Frau, daß er Farbe in die Backen bekommt. Der arme Junge sieht ja
schon wie ein Professor aus.
Also, mein Freund, wir wollen Literat werden? fragte Rudolf den Jüng¬
ling, der verlegen sein Glas mit Branntwein in die Hand nahm. Und warum
werfen Sie sich nicht auf die ehrenvolle und einträgliche Branche Ihres Herrn
Vaters?
Ich habe eine so große Neigung für die Literatur, antwortete dieser er¬
rötend. Und ich glaube, Herr Direktor, daß man es darin weit bringen kann,
wenn man früh anfängt.
Herr Rudolf Schmidt war in sehr guter Laune. O ja, sagte er, den jungen
Menschen mit kritischem Ange betrachtend, das kann man schon. Aber es ist
mit der Literatur eine eigne Sache. Ich kenne einige kenntnisreiche Schrift-
steiler von glänzender Begabung und ehrlichen! Wahrheitsdraug, Solch einer
möchten Sie wohl sein?
Gewiß, solch einer möchte ich sein, erwiederte der Jüngling mit freu¬
digen! Blick.
Es ist nur fatal, sagte Herr Rudolf Schmidt, daß diese Herren wenig zu
beißen und zu brechen haben.
Der Jüngling blickte ihn verwundert an.
Dagegen giebt es allerdings auch einige hundert fleißige Leute, die für den
täglichen Bedarf des Publikums sorgen, fuhr Herr Schmidt fort, Leute, die
sozusagen dem Publikum die literarischen Krippen und Raufen regelmäßig füllen.
Und die stehen sich recht gut, haben oft brillante Einnahmen,
Der Jüngling sah noch erstaunter in Herrn Schmidts schlau blickendes
Gesicht,
Können Sie wohl über einen Gegenstand, von dem Sie nichts wissen, ein
Buch oder doch wenigstens einen belehrenden Aufsatz schreiben?
Nein, sagte der Jüngling zögernd.
Dann werden Sie es in der Literatur nicht weit bringen. Können Sie
denn aber wenigstens eine Kritik über ein Buch schreiben, das Sie nicht gelesen
haben?
Auch das kann ich nicht.
Dann werden Sie es in der Literatur nicht weit bringen. Können Sie
denn aber, wenn die Partei es verlangt, beweisen, daß das Weiße schwarz ist?
Das kann ich nicht und möchte es auch nicht können, sagte der Jüngling
entrüstet.
Dann ist es ganz unmöglich, daß Sie es in der Literatur weit bringen,
sagte Herr Schmidt lachend.
Verzeihen Sie, daß ich Sie belästigt habe, sagte der Jüngling stolz, indem
er das Glas, von dein er nur genippi hatte, auf den Tisch stellte. Er machte
eine Verbeugung und wollte sich entfernen.
Warten Sie noch einen Augenblick, sagte Herr Schmidt, dem die Miene
der Enttäuschung bei dem armen jungen Manne leid that. Ich will Ihnen
sagen, es giebt viel Andrang in der Literatur, und ich kann Ihnen dazu kaum
raten. Aber ich wüßte einen andern Platz, für den Sie sich vielleicht eignen
möchten. Ich brauche einen Kassirer für meine Tcrraeottafabrik, Überlegen Sie
sich, ob Sie dazu Lust haben und sagen Sie mir über vier Wochen Bescheid,
wenn ich von meiner Reise zurückgekehrt bin.
Der Jüngling zog sich in einiger Verwirrung zurück, Herr Rudolf Schmidt
aber unterhielt seine Verwandten noch lange mit deu Einfällen seines lebhaften
Geistes und erregte noch mehrmals die Mißbilligung und Verwunderung des
würdigen Oheims, bevor er anspannen ließ, um nach Holzfurt, dem Mittel-
Punkte seiner Thätigkeit, zurückzufahren,
Es war schon tief in der Nacht und auf den Thürmen von Holzfurt schlug
es eins, als Herrn Rudolf Schmidts Wagen über das Pflaster der Stadt
rasselte. Doch schimmerte aus den Fenstern seiner Wohnung noch Licht, und
er bemerkte mit Zufriedenheit, daß die Redaktion seiner Zeitung noch thätig
war, Herr Schmidt hatte eine angenehme Fahrt gehabt, indem er sich nach
einem guten Abendessen den Spekulationen über seine verschiedenen Unter¬
nehmungen vertrauensvoll hingab und nur die eine Besorgnis hegte, daß sein
gutes Herz ihn vielleicht zu weit führe, sodaß durch die Anstellung überflüssiger
Personen sein Budget zu stark belastet werden möchte. Als er die erleuchteten
Fenster seines Redaktionszimmers bemerkte, kam ihm der Gedanke, noch einige
Worte der Weisheit in die Ohren des or. Glock zu träufeln, bevor er zu Bett
ginge, und so stieg er denn die Stufen hinan.
or. Glock sah nicht sehr erfreut von seinem Pulte auf, als die Thür sich
öffnete und er den Besitzer der „Holzfurter Nachrichten" eintreten sah. Er war
der Meinung, daß er die Zeitung auch ohne Hilfe fertig bringen könne, und
war nicht erbaut davon, daß Herr Schmidt ihm so häufig seinen guten Rat
angedeihen ließ.
Aber dieser kümmerte sich darum nicht, denn er war der entgegengesetzten
Ansicht und fest überzeugt, daß nur sein Geist dem politischen Gebilde des
Dr. Glock wahres Leben einhauche. Er schwang sich auf den Komtoirschemel,
dem Sitze des Redakteurs auf der andern Seite des Puits gegenüber, und sagte:
Ich habe die Absicht, für die nächsten vier Wochen zu verreisen. Sehen Sie
nur zu, daß während der Zeit nichts passirt! Das Blatt ist jetzt gerade gut im
Zuge, wir haben in den beiden letzten Quartalen gegen fünfzehnhundert Abon¬
nenten gewonnen, und es wäre Schade, wenn die Sache wieder zurückginge. Ich
verlasse mich auf Sie,
Über dem Pulte hing eine Lampe mit großem Schirm herab, die einzige,
welche gegenwärtig brannte, und ließ ein Helles Licht auf die Gesichter der
beiden Männer fallen, welche einander ansahen. Es war ein starker Gegensatz
zwischen beider Aussehen, und beide fühlten den Unterschied, der zwischen ihrem
Denken und Fühlen bestand. Am meisten freilich der Redakteur, ein zierliches
Männchen mit etwas träumerischem Ausdruck der klugen Augen, die von nächt¬
licher Arbeit am Schreibtische gerötet waren und mit Unbehagen durch die Brille
hindurch den geschäftslustigen Besitzer betrachteten. Er fühlte sich von der
Gegenwart desselben stets bedrückt, gleich als hätte er diese bäurisch vierschrötige
Gestalt auf seinem Nacken zu tragen. Gerade in diesen: Augenblicke war er
durch den Besuch besonders unangenehm berührt worden, denn es hatten seine
Gedanken, wie er so allein mit seiner Lampe über die Mitternachtsstunde hin¬
ausgekommen war, einen dichterischen Flug genommen, und er hatte den erst
halb beendeten Leitartikel bei Seite geschoben, um einige tief empfundene Ge¬
fühle in gereimter Form zu Papier zu bringen. Nun schob er das Blatt, ver¬
wirrt gleich einem ertappten Schulknaben, nnter ein Löschpapier und rief seine in
den Gefilden des Parnaß schweifenden Ideen schleunigst zurück zu der prosaischen
Zusammenstellung der unfertigen Zeitungsnummer,
Es ist mir lieb, daß Sie mit dem Gange der Zeitung zufrieden sind, sagte
er mit feiner, dünner Stimme, Auch ich glaube die Beobachtung zu machen,
daß sich das Publikum allmählich an unsre Art der Anschauung gewöhnt, und
ich habe die Hoffnung, daß meine Arbeit nicht vergeblich gewesen ist, sondern
daß es mir mehr und mehr gelingen wird, gesundes politisches Denken unter dem
Volke heimisch zu machen.
Hin! machte Herr Schmidt, Ja ja, gesundes politisches Denken! Wenn
man nur wüßte, worin das eigentlich besteht. Wissen Sie, Herr Doktor, meiner
Meinung nach ist es für uns immer das sicherste, so zu schreiben, wie das Publikum
es gerne liest, und dabei alle politische Prinzipienreiterei bei Seite zu lassen.
Dr. Glock errötete.
Wenn Sie meinen, das Publikum gewöhne sich an Ihre Anschauung, fuhr
Herr Schmidt fort, so sind Sie sehr im Irrtum, gerade als wenn Sie sich beim
Fahren einbildeten, die Bäume kämen Ihnen entgegengelaufen.
Wenn Sie Recht hätten, so könnte mir das alle Freude an meiner Arbeit
verderben, sagte or. Glock ärgerlich.
Aber ich bitte Sie, erwiederte Herr Schmidt lachend, Sie rudern dieses
Blatt jetzt in das dritte Jahr, und da dächte ich, sollten Sie doch wohl endlich
eingesehen haben, worauf es ankommt.
Sie meinen die Annoncen, sagte Dr. Glock.
Da haben Sie nicht Unrecht, und Sie brauchen es nicht mit dieser höhnischen
Betonung zu sagen. Allerdings sind die Annoncen die Hauptsache. Aber wir
reden jetzt nicht von dem Zweck, sondern von den Mitteln, und ich bitte Sie
zum Hundertstenmale, Ihren Idealismus ein wenig zu zügeln. Sonst habe ich
keine ruhige Stunde auf meiner Reise.
Dr. Glock rutschte von seinem Sitze herab und ging unruhig im Redaktions¬
zimmer auf und ab. Die geschäftlichen Gesichtspunkte, welche für Sie ma߬
gebend sind, sagte er, dürfen für meine Art zu denken und zu schreiben nicht
die Regel bilden. Eine derartige Fessel ist mir unerträglich. Und Sie selber
thun sich Schaden, wenn sie ein derartiges Verlangen stellen. Denn Sie schädigen
die Zeitung dadurch, daß Sie mein Empfinden lahmen. Wenn ich gute Artikel
schreiben soll, so darf ich nicht ängstlich um mich sehen, ob ich etwa hier oder
dort anstoße und die heiligen Annoncen verletze!
Herr Schmidt sah ihm ruhig von seinem hohen Sitze zu und sagte dann
gelassen: Sie können mich auf einem Butterbrot fressen, wenn ich weiß, was Sie
eigentlich wollen.
Dr. Glock stieg wieder auf seinen Schemel hinauf, dünnste die Feder ein
und begann schnell und kratzend zu schreiben.
Es ist die alte Geschichte, fuhr Herr Schmidt fort, Sie haben wieder
einmal meine Meinung gründlich mißverstanden. Ich bin ja sehr damit zu¬
frieden, wenn Sie Ihren Ideen freien Lauf lassen. Das giebt hübsche flüssige
Artikel, die sich angenehm lesen. Es fällt mir garnicht ein, Sie zu beschränken
und zu fesseln. Nur darauf wollte ich Sie aufmerksam machen, daß es ein Irrtum
ist, wenn Sie glauben, das Publikum erziehen zu können. Denn wenn Sie in
dem Wahne stecken, laufen Sie Gefahr, etwas zu schreiben, was das Publikum
noch nicht weiß. Das wollen die Leute nicht. Die Leute Wollen nur das lesen, was
sie schon wissen, Stoßen sie auf etwas andres, so ärgern sie sich, finden die
Zeitung dumm und geben das Abonnement auf.
Das ist ganz einfach paradox, sagte der Redakteur, die Feder hinwerfend.
Das Publikum Null im Gegenteil gerade das neueste wissen. Nur der Umstand,
daß die Zeitung frisch und neu ist, giebt ihr ja' überhaupt ein Interesse, sonst
könnte man ebensogut die Zeitungen vom vorigen Jahre lesen.
Ja was die Ereignisse betrifft, da haben Sie Recht, aber die stehen in
jeder Zeitung, und da könnte der Leser ebensowohl ein ultramontancs oder kon¬
servatives als ein liberales Blatt lesen. Ich spreche von dein Parteistandpunkte,
und da verlangt jeder Leser eine Zeitung, die ihm jeden Tag sagt, daß er Recht
hat. Deshalb lesen die Ultramontanen die Germania, die Konservativen die Kreuz-
zeitung, und die Liberalen die Kölnische. Aber keine vernünftige Redaktion läßt
sich darauf ein, gesundes politisches Denken zu verbreiten, wie Sie es nennen.
Wir machen die „Holzfurter Nachrichten," also haben wir zu schreiben, wie die
Bewohner Holzfnrts und der umliegenden Dörfer denken. Thun wir das, so
lesen die Leute das Blatt. Wenn sie es lesen, so inscriren sie auch darin, denn
man inserirt in den Blättern, die gelesen werden. Inscriren die Leute, so rentirt
die Zeitung, und alles ist in Ordnung. Lesen die Leute sie aber nicht, so in¬
scriren sie nicht, und dann machen wir kein Geschäft.
In das redliche Gemüt des Dr. Glock stießen diese Worte einen scharfen
Stachel. Es wurmte ihn immer von neuem die Einsicht, daß der Besitzer der
Holzfurter Nachrichten überhaupt keinen politischen Charakter habe und die Re¬
daktion denkenden Männern gegenüber in ein zweifelhaftes Licht setze. Hatte er
doch sogar einmal ganz ernstlich die Frage aufgeworfen, ob es nicht zweckmäßig
sei, allmählich nach der sozialistischen Partei hinüberzuschwcnlen, angeblich des¬
halb, weil deren Doktrin die einzige wahrhaft logische sei, in Wirklichkeit aber
deshalb, weil gegen fünftausend Stimmen des Kreises auf den sozialdemokratischen
Kandidaten gefallen waren.
Doch er bezwang sich und sagte ruhig: Sie sind zu sehr Pessimist, Herr
Schmidt. Das Publikum ist nicht so einfältig und hartnäckig, wie Sie es dar¬
stellen. Freilich darf man ihm nicht das Gegenteil von dem bieten, was seine
politische Überzeugung ist, aber man kann dach innerhalb der bestimmten Richtung
immer noch belehrend wirken. Man kann neue Gesichtspunkte hereinziehen, den
Kreis der vorhandenen Anschauungen erweitern und so mit einiger Geschicklich-
keit sein Publikum nach und nach ans eine höhere Stufe politischer Klarheit
heben. Wenn ich das nicht dächte, so möchte ich lieber Holz hacken als eine
Zeitung redigiren.
Herr Schmidt war glücklich über den Widerspruch, der ihm Gelegenheit
gab, eine Rede zu halten. Holz hacken, mein verehrter Herr, ist unter Um¬
ständen ein sehr gutes Geschäft, sagte er. Aber was Sie dn von der höhern
Stufe politischer Klarheit sprechen, will mir nicht einleuchten. Meiner Meinung
nach ist gerade eine gewisse Unklarheit in allen Artikeln das beste für eine
Zeitung. Ich lobe mir eine dämmerige, nebelhafte Haltung. Glauben Sie mir,
die Leute mögen nicht einmal ihre eigne Meinung in recht deutlicher Weise aus¬
gedrückt lesen. Es macht sie ängstlich, weil sie dann die Konsequenzen vor
Augen sehen. Kein Weltblatt hat eine bestimmte Richtung. Ich rate Ihnen,
lesen Sie selber, ehe Sie Ihren Leitartikel schreiben, vorher immer den letzten
der Kölnischen Zeitung. Die ist ausgezeichnet redigirt. Sie ist immer in der
Stimmung des Bürgers, der seinen Frühschoppen getrunken hat, angeregt, hoff¬
nungsvoll. Ihr Bestreben, Herr Doktor, muß sein, zwar recht forsch und tapfer
im Ausdruck, aber in der Sache höchst behutsam zu sein. Deshalb auch in
wichtigen Angelegenheiten möglichst zahm und kurz, dagegen in Kleinigkeiten
scharf und ausführlich! Hauptsächlich Vorfälle im Auslande benutzt eine um¬
sichtige Redaktion zu scharfen, gewichtigen und drohend klingenden Artikeln. Das
Publikum fühlt sich in seinem Selbstgefühl gehoben, wenn die Zeitung barsch
und kurz über fremde Regierungen urteilt. Im allgemeinen muß es immer so
aussehen, als ob etwas gesagt würde, während doch in Wirklichkeit nichts gesagt
wird. Hierin liegt die große Kunst der Redaktion. Eine gewisse Feinfühligkeit
für die öffentliche Meinung ist das ganze Geheimnis, und deshalb ist es das
beste, den Artikel so zu halten, daß am Schluß das Gegenteil von dem gesagt
wird, was zu Anfange steht, sodaß ein jeder herauslesen kann, was ihm gefällt.
So zu schreiben, dazu gehört nichts als Geschicklichkeit. Und vor allem, lieber
Doktor, betonen Sie in jeder Nummer den Segen der Selbsthilfe. Denn das
ist nicht nur den Grundsätzen der Gewerbebank gemäß, sondern klingt auch allen
Leuten angenehm, die etwas besitzen. Sie werden dadurch in der Meinung be¬
stärkt, es sei ihr eignes Verdienst, daß es ihnen gut geht. Und wir wolle»
doch leben und müssen uns deshalb mit den Besitzenden gut stehen.
Wenn das Ihr einziger Beweggrund ist, so ist es traurig, sagte Dr. Glock
entrüstet. Aus einem andern Grunde vertrete ich das Prinzip der Selbsthilfe.
Ich sehe in ihm das edelste Pfand der Freiheit, einen Schutzwall gegen die Be¬
vormundung des Staates wie gegen den begehrlichen Aufruhr der gedankenlosen
Masse.
Schreiben Sie das auf, das ist ein gutes Wort, sagte Herr Schmidt.
Lassen Sie das nicht umkommen, setzen Sie es in die Zeitung. Aber wissen
Sie, unter uns — wir, die wir die Phrasen selbst machen — man pflegt zu
sagen, daß ein Pfarrer den andern nicht rühren kann. Ich denke, die Selbst¬
hilfe ist Wohl eine Erfindung, um die Arbeiter dumm zu machen. Ohne die
Bevormundung des Staates ist noch kein Fortschritt in der Kultur möglich ge¬
wesen. Wir führen heute noch mit der Kutsche von Holzfurt nach Berlin, wenn
der Staat keine Eisenahnen gebaut und nicht bei den Privatbahnen wenigstens
die Zinsgarantie übernommen hatte. Doch ich sehe, es ist schon zwei Uhr, und
ich will Sie nicht länger stören. Leben Sie wohl, Herr Doktor, und vergessen
Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe.
Der kleine Doktor hatte, ohne ein Wort zu entgegnen, den Blick starr auf
das ihm widerwärtige Gesicht des Herrn Schmidt gerichtet, ruhig diese Rede mit
angehört und brachte jetzt nichts weiter vor als: Glückliche Reise! Sobald
aber das rote Haar mit dem breitkrempigen Hut bedeckt und die breite Ge¬
stalt in der Thür verschwunden war, glitt der Chefredakteur von seinem Sitze
herab, zeichnete mit mächtigem Armschwung drei Kreuze in die Luft, rief laut:
Pfui! und ging dann wieder, die Stirn gefaltet und die Hände in den Taschen
geballt, auf und nieder in dem Zimmer mit der einsam in die Nacht schei¬
nenden Lampe.
O du verächtlicher Geldmensch! murmelte er zwischen den Zähnen. Also
nichts als Geschäft ist dir auch die Literatur! Aber freilich, ist mir denn das
neu? Habe ich es denn nicht immer gewußt, daß du jedem Ideal fremd bist,
daß anstatt des Herzens ein Hauptbuch in deiner Brust wohnt? Elendes Ge¬
würm! Wie? Sind wir nicht die Lehrer des Volkes? Sind wir nicht die
wahren Ritter vom Geiste? O, schmähliche Fessel, die mich in deiner Hand auf
dieser Galeere hält!
Er schob die Brille in die Höhe, da er fühlte, daß Thränen der Wut seinen
Blick verdunkelten, drückte das Taschentuch an die Augen und räusperte sich
kräftig, um eine gesetzte Haltung mit Gewalt herbeizuzwingen. /
Nein, sagte er sich, nein und tausendmal nein! Du kennst die Menschen
nicht, elender Pessimist, der du in der herrlichen Schöpfung der allmächtigen
Natur nichts als Masken siehst, nichts als Fratzen und Zahlen. Eine erhabene,
eine edle Gattung ist das menschliche Geschlecht. Es ist voll Geist, voll Güte,
voll Strebens, voll Liebe zur Wahrheit! Deine niederträchtigen Ratschläge sind
durchaus falsch, und ich werde gerade das Gegenteil von allem thun, was du
für richtig hältst. Es ist die große Aufgabe des Schriftstellers, die Einsicht,
welche ihm verliehen ward, dem Volke zu Gute kommen zu lassen, und es ist
Sünde gegen den heiligen Geist, wenn er versteckt, verheimlicht oder gar ver¬
fälscht, was ihm offenbart ist. Die Menschen sind dankbar für jede Belehrung,
die ihnen zu Teil wird, wenn sie ihnen nur in der richtigen Form gegeben wird.
Sie wollen das Gute, nur sind sie beschränkt, in niedrigen Geschäften des täg¬
lichen Lebens verkommen und nicht imstande, aus sich selbst die Schätze zu
finden, welche der Fortschritt der Wissenschaften gefördert hat. Wir Journalisten
sind die Vermittler zwischen den Männern strenger unnahbarer Wissenschaft
und der Menge des Volkes, Ich werde die glückliche Zeit deiner Abwesenheit
benutzen, um dem Kreise von Lesern, der um mich versammelt ist, eine Leuchte
aufzustecken, und du sollst dich wundern, geldgieriger, engherziger Manu, wenn
du bei deiner Rückkehr siehst, daß gerade die Nichtbefolgung deines Rates auch
in materieller Hinsicht den schönsten Erfolg gehabt hat. Ich habe eine glän¬
zende Idee, Es ist wahr, daß Belehrung in trockner, nüchterner Form keine
Wirkung übt, darum zeigt sich die Kunst des Schriftstellers erst in der Art
und Weise, wie er belehrt und bessert. Ich werde jetzt meine satirischen Auf¬
sätze, die ich als Buch herauszugeben beabsichtigte, vorläufig in den „Nachrichten"
bringen. Ich gebe ihnen den Titel „Der Spaziergänger in Holzfurt," Das
ist eine Idee,
Der kleine Doktor legte den Finger an die Nase und blickte mit Begeisterung
in das Lampenlicht,
Eine glänzende Idee! Es ist viel Witz im Volke, das Lachen ist der
Götter schönstes Geschenk! Was sie in didaktischer Weise nicht begreifen, das wird
ihnen in der humoristischen Verkleidung einleuchten. Viele Mängel und Schwächen
unsrer Gesellschaft sind in meinen satirischen Aufsätzen gegeißelt, und ich schmeichle
mir, sie siud in einer so pikanten Art durchgenommen, daß niemand sich der
Lektüre entziehen kann. Das wird gefallen! Man wird lachen, und es wird
jenes befreiende Lachen sein, das Lessing als den edeln Zweck des Lustspiels
hinstellt. Man wird die Lehren herauszuschälen wissen, man wird seine Fehler
abzulegen suchen, und die ewigen Wahrheiten, welche das Menschengeschlecht
zu beseligen bestimmt sind, werden aus meiner Satire in blendendem Glänze
hervortreten!
Begeistert von dieser Idee beschleunigte or. Glock die Vollendung des
Morgenblattes und warf sich gegen Sonnemnsgang auf sein Junggesellcnlager,
an in angenehmen Träumen literarischen Ruhmes neuer Tagesarbeit entgegen-
zuschlummern.
Er schlief noch, als Herr Rudolf Schmidt bereits sein Gepäck, worunter
sich eine riesige Kiste mit bunten Fliesen befand, zur Bahn befördern ließ und
selbst in seinem leichten Wagen über Land fuhr, nachdem er noch in zarter
Aufmerksamkeit feiner Braut eine aus Eichhauseu mitgebrachte junge Gans über-
sandt hatte. Er beabsichtigte, vor Beginn der eigentlichen Reise seinen Bruder,
deu Algenarzt, in Fischbeck zu besuchen, mit welchem er auf etwas gespanntem Fuße
lebte. Es war ein Dorn in seinen Augen, daß dieser Bruder eine Beschäftigung
trieb, über die man in Holzfurt spottete.
Nach einer Fahrt von etwa drei Stunden kam er in Fischbeck an und be-
gab sich sofort in das große, mit vielen Balkonen und Markisen versehene Haus
am Strande, worin Herr Gottlieb Schmidt mit einer zahlreichen Schaar seiner
Patienten wohnte. Er hatte seinen Bruder seit einem Jahre nicht gesehen und
war beim Eintreten in das Haus verwundert über die Anzeichen starken Be¬
suches der Heilanstalt und den pompösen Empfang, der ihm zu Teil wurde.
Während er beim Näherkommen schon die Ballon zum großen Teile besetzt
gesehen hatte, voll von Herren und Damen, die dort ihr zweites Frühstück in
frischer Seeluft einnahmen, traf er im Flur auf einen stattlichen Portier mit
goldnen Knöpfen und ward von diesem einem gewandten Diener überwiesen,
der ihn ins Wartezimmer führte und ihm eine Marke mit der Nummer 45
einhändigte.
Unsinn, sagte Herr Rudolf Schmidt, als er die Nummer las und das
Wartezimmer voll Leute sah. Ich habe Herrn Schmidt in einer dringenden
Angelegenheit zu sprechen, ich bin sein Bruder, ich bin kein Patient,
Der Herr Doktor machen keine Ausnahmen, sagte der gewandte Diener
mit höflicher Entschiedenheit, Es ist strenge Vorschrift, die Sprechstunde regel¬
mäßig einzuhalten.
Herr Schmidt hatte große Lust, sich gar nicht an die strenge Vorschrift
zu kehren, sondern ohne weiteres in die verbotene Pforte einzudringen, dennoch
hielt ihn die Scheu vor den anwesenden Leuten zurück, und er ging leise brum¬
mend wieder hinaus und begann nach seiner Art das Haus zu durchspüren.
So stieg er denn bis zum obersten Stock hinauf, schritt durch alle Korridore,
guckte in alle Thüren hinein, welche offen standen, und betrachtete alle Leute,
die ihm begegneten. Dann ging er wieder hinab, versuchte in das Laboratorium
einzudringen, um dem Geheimnis der Bereitung des Algensaftes auf die Spur
zu kommen, scheiterte hier aber an der Undurchdringlichkeit und Grobheit des
Pharmaceuten und begab sich nun in die Küche, um sich ein Butterbrot und
ein Glas Wasser geben zu lassen. Er nahm es nicht gut auf, daß er hierfür
fünfzig Pfennige bezahlen mußte, denn er liebte es nicht, für sein Frühstück so
viel Geld auszugeben, und ging verdrießlich in den Garten, wo er im Schatten
einer Linde das Butterbrot verzehrte. Hier verbesserte sich seine Laune etwas
dadurch, daß er durch den Spalt einer grünen Holzwand hindurch ein nachbar¬
liches Paar belauschen konnte. Der Stamm der Linde nämlich stand gerade in
der Wand, die dem Baum zu Gefallen ausgeschnitten war, und zwischen dem
Stamm und der Planke war genug Raum, um hindurchschielen zu können.
Herr Schmidt entdeckte ans der andern Seite die Frau Kvmmerzienrätin Bella
Edelstein aus Holzfurt, die sich mit einer stählernen Gabel die Zähne stocherte
und von einem keckblickenden Herrn in Berliner Accent gnädige Frau genannt
wurde. Er erinnerte sich beim Anblick des reichen Schmucks der Dame mit
Vergnügen des Bankrotts, den ihr Mann im vergangnen Winter gemacht hatte.
Der Mann sollte damals gestorben sein, aber Herr Schmidt glaubte, daß er noch
lebe und in Amerika sei. Er war nun höchst begierig, zu erfahren, ob Bella
den Mut habe, sich von neuem zu verheiraten, und er lauschte dem Gespräche
mit gespannter Aufmerksamkeit,
(Fortsetzung folgt.)
or etwa drei Wochen begab sichs, daß das republikanische Paris
des Morgens beim Erwachen erfuhr, daß ein Prätendent gewagt
habe, sich offen als Erben der Bonaparte zu bezeichnen, die den
französischen Kaiserthron innegehabt hatten. Die Sache erregte
sofort Aufsehen, und daraus entwickelte sich rasch große Verlegen¬
heit und gefährliche Unsicherheit und Verwirrung. Eine kluge und entschlossene
Negierung hätte nur zwei Wege vor sich gesehen: den Prätendenten zu fassen
und über die Grenze zu befördern oder ihn und seine Maueranschläge als nicht
vorhanden zu betrachten und ungeschoren zu lassen und dem Senat und den
Abgeordneten zu sagen, daß die Republik stark genug sei, um solche Possen mit
schweigender Verachtung zu behandeln. In beiden Fällen hätte sie etwas für
Minister wie für Generale unschätzbares gethan, sie Hütte die Initiative er¬
griffen, und wie sich dann auch die Kammer Verhalten hätte, die Minister würden
die Stärke gezeigt haben, auf die ein rasches und entscheidendes Handeln schließen
läßt. Aber leider schickten sie ihren Gegner wider das Gesetz in die Conciergerie,
ließen die Sache in der Schwebe und schufen Bewerbern um die Volksgunst
und um hohe amtliche Stellung Gelegenheit, sich der Leitung der Angelegen¬
heit durch Anträge zu bemächtigen. Die Folgen zeigten sich bald in Gestalt
von zu weit gehenden Vorschlägen von seiten der Linken, in Kompromissen, die
heute entworfen und gut geheißen, morgen zurückgezogen wurden, und zuletzt
in einer Ministerkrisis, der ein Teil des Grcvyschen Kabinets mit Einschluß des
Premiers zum Opfer fiel. Allerdings konnte man von einem Ministerium,
das von Anfang an nur als ein zeitweiliges, als Lückenbüßer zu betrachten war
und sich auf keine entschiedne Mehrheit im Hanse der Abgeordneten stützen konnte,
nicht die Geistesgegenwart und Festigkeit erwarten, die ein starkes und har¬
monisch zusammengesetztes Kabinet an den Tag zu legen pflegt, wenn Schwierig¬
keiten sich zeigen. Die Herren wurden überdies überrascht, und nichts stellt
Menschen oder Regierungen so sehr auf die Probe als das Unerwartete.
Duelcrc und seine Kollegen hatten freilich nicht geschlafen oder sich den Intri¬
guen gegenüber, die in einem Lande, wo der Parteigeist unaufhörlich wühlt
und Kronprätendenten vorhanden sind, niemals ruhen, gleichgiltig verhalten, ,
Sie hatten, wie wir aus der Rede Fallieres', des bisherigen Ministers des Innern
und nunmehrigen Premiers, ersehen, die Augen offen gehabt, aber nur nach
einer Richtung, nur nach der Vendee und Görz, nicht nach der Avenue d'Artim
hin gesehen. Sie waren bereit, eine Erhebung der päpstlichen Zuaven mit
Charette an der Spitze zu unterdrücken, indem sie der tröstlichen Zuversicht
lebten, „die ganze Nation werde wie ein Mann gegen jeden realistischen Ver¬
such aufstehen," aber sie hatten sich nicht für den Fall vorgesehen, daß ein
tapferer Prinz, statt ein Kriegsroß zu besteigen und den Degen gegen die
Republik zu ziehen, den Kleisterpinsel schwang und ein Plakat anklebte, und daß
solches Thun nicht allen lächerlich, ja vielen bedenklich erschien. So zeigten
sie im ganzen Verlaufe der Angelegenheit eine Schwäche, die nicht nur sie selbst
diskreditirte, sondern der Autorität in Frankreich überhaupt schweren Abbruch
that. Endlich aber kam dazu noch, daß die Mitglieder des Kabinets in
der Stunde der Prüfung geteilter Ansicht waren. Das Ergebnis von alledem
mußte selbstverständlich ein unerfreuliches sein. Zunächst gestattete man einer
wie Ebbe und Flut wechselnden Kammermehrheit, sich des heikeln Gegenstandes
ohne Leitung durch eine Persönlichkeit von hervorragender Befähigung und be¬
deutendem Ansehen zu bemächtigen. Die gewaltthätigsten und rücksichtslosesten
Mitglieder der Linken drängten sich vor und machten sich daran, das Problem
durch Proskriptionen zu lösen. Dann legten die Minister einen Plan vor, gegen
den etwas weniger einzuwenden war, mit dem sie sich aber immerhin vor dem
Sturm beugten, welcher von der Seite der Radikalen sich erhoben hatte. Und als
zuletzt das Komitee, dem die Sache zur Beratung überwiesen worden war, in
einen Vergleich willigte, von dem es hieß, das Ministerium werde ihm beitreten,
verwarfen drei Mitglieder des letzteren, der Premier, der Kriegs- und der Ma-
rineminister, den Kompromiß und traten schließlich von ihren Ämtern zurück.
So hat man den Riß in die Regierung, welcher die Folge von Plon-
Plons Manifest und den Gesetzvorschlägen Floquets und Vallues war, zur Not
geflickt und eine sofortige ernstere Krisis für den Augenblick abgewendet. Und
dann ist eine Verständigung der Kammer mit dem neuen Kabinet erfolgt. Die
Vorschläge des letztern, Entlassung der Prinzen aus ihren Stellen, Ausstreichuug
der politischen Rechte, die sie bisher besaßen, und eventuelle Verbannung der¬
selben aus dem Lande, sind vom Abgeordnetenhause mit großer Majorität an¬
genommen worden. Aber es ist sicherlich damit nur zeitweilig windstill geworden.
Es ist dem bis jetzt noch unvollständigen Kabinet gelungen, sich mit der Volks¬
vertretung über sehr'harte Maßregeln gegen die früher herrschenden Familien zu
verständigen; aber wahrscheinlich wird eine Entscheidung des Senats alles ver¬
werfen, was man vereinbart hat, und dann wird kaum ein andrer Weg übrig
bleiben als der einer Berufung an den Willen des Volkes, d. h. die Auflösung
der Deputirtenkammer und die Wahl neuer Abgeordneten,
In Betreff des Senates ist es von Interesse, sich zu erinnern, daß nicht
weniger als 117 Mitglieder dieser Körperschaft in ihrer jetzigen Zusammensetzung
in der Nationalversammlung mit abstimmten, als dieselbe am 8. Juni 1871
sich für Aufhebung der Gesetze entschied, welche die königlichen und kaiserlichen
Prinzen aus dem Lande verbannt hatten. Von diesen votirten 83 für und 26
gegen die Aufhebung, während 8 sich der Abstimmung enthielten. Unter denen,
die sich gegen die Aufhebung aussprachen, befanden sich Herr Duclerc und
General Billvt, die sich jetzt vom Amte zurückgezogen haben, weil sie das
Floquetsche Austreibuugsgcsetz auch in seiner gemilderten Gestalt nicht billigen,
während der Admiral Jauregniberry sich damals neutral verhielt. Diese That¬
sachen sprechen für sich selbst. Unter den eiüschiedensten Gegnern der Aufhebung
der Verbannungsgesetze von ehedem waren Männer, die jetzt eher das größte
Opfer brachten, das ein Staatsmann bringen kann, als daß sie Maßregeln gut¬
hießen, an deren Wirksamkeit sie früher glaubten. Es ist daher mehr als wahr¬
scheinlich, daß der Senat das Austreibungsgesetz des Ministeriums Falliöres
und der Deputirtenkammer mit überwiegender Majorität verwerfen wird.
Wie die öffentliche Meinung in den Kreisen der maßvolleren Republikaner
diesen Widerspruch zwischen der ersten und der zweiten Kammer Frankreichs
ansieht, ergiebt sich aus dem Mtiong,!, einem Blatte, das sonst stramm zur
republikanischen Sache hält. Es heißt da:
„Was uns vor allem notthut, ist eine Regierung. Giebt es denn in der
Kammer keine Männer, gesegnet mit guter Gesundheit und begabt mit recht¬
schaffnen und vernünftigen Ideen? Hoffen wir, daß der rechte Mann auf der
Bühne erscheinen wird, ehe es zu spät ist, um das Haus daran zu erinnern,
daß es eine Menge von Gesetzen giebt, über die es ohne das Wagnis, mit dem
Senat in Zwiespalt zu geraten, verhandeln kann. Hoffen wir ferner, daß er
der Kammer die Gefahr zeigen wird, der sie sich und die Republik aussetzt. Das
Land ist es überdrüssig, die Beute erkünstelter Robespierres, Dantons und
Se. Justs zu sein, die es vor den Augen des Auslandes lächerlich machen, es
in jeder Weise, zu Hause und in den Kolonien, zu Grunde richten und auf
seinen Leichnam klettern würden, um sich sehen zu lassen und ein bischen be¬
kannter zu werden. Es ist es müde, sich unter das Joch einer Rotte kleiner
Despoten zu beugen, es besteht darauf, daß die Kammer ihm Frieden verschafft
oder ihrer Wege geht." Diese Zeilen hätten vor kurzer Zeit in den Spalten
des bonapartistischenstehen können.
Das neue Ministerium setzt sich wie folgt zusammen: Falliöres Minister
des Innern und bis auf weiteres der auswärtigen Angelegenheiten, auch Minister¬
präsident, Deves Justiz, Tirard Finanzen, öffentliche Arbeiten Herisson, Unter¬
richt Duvaux, Handel Pierre Legrand, Mass Landwirtschaft, Cochery Eisen¬
bahnen und Telegraphen, Krieg Thibnudin, endlich Marine provisorisch Mahy,
Vom neuen Premier de Fallieres ist außerhalb Frankreichs nicht viel mehr
bekannt, als daß er die Pflichten eines Verwaltungsbeamten erst in unter¬
geordneter, dann in hervorragender Stellung erfüllt hat, und daß er die Gabe
der Beredsamkeit in ziemlich hohem Grade besitzt. In der letzten Krisis hat er
die Eigenschaft intellektueller Beweglichkeit, die mau auch als Opportunismus
bezeichnet, an den Tag gelegt, indem er sich lieber den Umständen anpaßte, als
sie zu beherrschen und unter seine Überzeugung und seinen Willen zu beugen
versuchte. Anfangs jeder Proskription und Austreibung abgeneigt, verließ er
bald diesen Boden und schloß sich den Bestrebungen an, welche die weniger
maßlosen Mitglieder des mit dem Floquetschen Gesetzentwurfe betrauten Aus¬
schusses an den Tag legten. Er riet den Kompromiß an, welcher aber auf Nach¬
geben in dem wesentlichsten Punkte des Regierungsvorschlags basirt. So be¬
gegnete er, den Abhang hinabgleitend, den Radikalen auf halbem Wege und
machte nun die Entdeckung, daß sein Chef und zwei andre seiner Kollegen sich
weigerten, mit ihm die so geschickt geschaffne schiefe Ebne zu betreten. Als die
Meinungsverschiedenheiten im Kabinet sich nicht länger verbergen ließen und der
Ministerpräsident, der General und der Admiral sich gegen die Verbmmungs-
gesetzc erklärten, so waren Amtsniederlegungen unvermeidlich. Da Herr de
Fallieres bei der Verhandlung mit dem Kammeransschusse die Hauptrolle gespielt
hatte, so erntete er auch den Haupterfolg. Unter seinen Kollegen war kein
Nebenbuhler, und als Ferry vor der unbequemen Aufgabe zurückschrak, ein
neues Ministerium zu bilden, lag es ans der Hand, daß der bisherige Minister
des Innern der gegebne Mann war. Er hatte die Mehrheit seiner Kollegen
hinter sich, und so kam es, daß das neue Kabinet des Präsidenten Grevy
nur eine neue Auflage des alten war. Ob es eine verbesserte ist, wird abzu¬
warten, vorläufig aber gelind zu bezweifeln sein.
Blicken wir zurück, so sahen wir den Prinzen Jerome Bonaparte gleichsam
auf den Leichenstein Gambettas tretend sein wichtigtuerisches Manifest anschlagen.
Es enthielt einige bittre Wahrheiten für die Republikaner, hätte aber für eine
entschlossene Regierung und ein einiges Volk keine Gefahr enthalten. Leider
aber war das Kabinet, in welchem Duelcrc den Vorsitz führte, von seinem Ur¬
sprung an nur provisorischer Natur und fristete seine Existenz mehr durch die
Nebenbuhlerschaft der Parteien, in welche das Volk und seine Vertreter zerstieben,
als durch seine Begabung und seine politischen Leistungen. So wurde Frank¬
reich von plötzlicher Verwirrung überrascht, und zwar zu einer Zeit, wo es Ruhe
und Ordnung in besonderen Maße nötig hatte, wenn es der innern Übel Herr
werden wollte, die es bedrohten. In Marseille waren die Sozialisten nicht ein¬
mal Franzosen genug, um höflich gegen die Exkaiserin zu sein, die ihnen einen
Palast und einen Park geschenkt hatte. In Lyon wollen die Roten dem Seiden¬
handel durch Wahl von Kommunisten aushelfen, welche statt geordneter Regierung
die Anarchie empfehlend Gott für abgeschafft erklären. In Paris drängen die
Munizipalräte die Deputirten zu überstürzten Anträgen, und die demokratischen
Klubs überwachen die Munizipalräte. Es sieht aus, als ob es den „Entschiedener"
nicht genügte, die Prinzen dem Löwen des Radikalismus vorzuwerfen. Man
hört auch schon wildes Geschrei, welches sich gegen die Priester, die Beamten,
die Träger von Titeln und vor allem gegen die freilich vielfach mit Recht ver¬
haßte Finanzwelt richtet. Alles das wirkt ans die finanzielle und kommerzielle
Lage zurück, die, wenn auch noch keineswegs verzweifelt, doch gestört ist, und
das Barometer der Pariser Börse zittert und fällt wie vor einem heraufziehenden
Gewitter. Und weiter: jene Furcht und jener Haß hallen in den Kreisen der Ab¬
geordneten wieder, die nicht wieder gewählt zu werden fürchten, wenn sie wider¬
sprechen wollten, und werden von Ministern kundgegeben, die im Amte zu bleiben
wünschen. Wenn aber zu der Furcht vor den Prätendenten und ihren Anhängern
einiger Grund vorhanden ist, so liegt er lediglich in der Schwäche der Republik.
Dieselbe würde stark sein, wenn sie ihre Aufgabe begriffe, d. h. wenn sie wüßte,
daß sie konservativ und friedfertig sein muß, wenn sie am Leben bleiben will.
Wenn eine Napoleonische Restauration denkbar wäre, so würde der neue Kaiser
beinahe von vornherein auf einen Nachekrieg gegen Deutschland hinsteuern müssen.
Ebenso würden die Legitimsten und Orleanisten, um die vou Paris aus das
Laud beeinflussende chauvinistische Genossenschaft zu befriedigen, das Versprechen
eines baldigen Kreuzzugs zur Wiedergewinnung der Rheingrenze geben müssen.
Und doch kann kein Zweifel darüber obwalten, daß die große Mehrheit der Franzosen
einen solchen Krieg verabscheut, ihn wenigstens sür die Gegenwart und die nächste
Zukunft nicht will. Aber die jetzige Regierung hat das Land nicht gehörig in
der Hand, und so überläßt sie sich zu sehr der Strömung des Parteitreibens.
Warum beging sie den ersten Fehler in dieser Angelegenheit, die Verhaftung
des Prinzen Napoleon, und warum den zweiten, die Adoptirnng der Floquet-
schen und Ballueschen Anträge in ihren wesentlichen Punkten? Einfach aus
Furcht vor der leidenschaftlichen und aufsässigen Mehrheit der Deputirten, welche
sie zu unterstützen vorgab. Sie war ein geduldetes Kabinet, und sie wußte
recht wohl, daß sie jeden Augenblick von vorn und zugleich von hinten ange¬
griffen werden konnte. Die ganze jüngste französische Politik in auswärtigen
Angelegenheiten läßt sich nur begreifen und entschuldigen, wenn man sich diese
Lage der Minister vergegenwärtigt. Freycinet und Duelerc waren ebenso rasch
entschlossen als ängstlich, heute unternehmend, morgen unentschieden, jetzt voll
Eifer und den nächsten Tag zögernd, lediglich weil sie bald mehr den Tadel
des Zentrums, sie opferten französische Interessen, bald mehr den Vorwurf der
Linke» fürchteten, sie wollten der Börse zu Gefallen Frankreich in einen neuen
mexikanischen »der tunesischen Krieg stürzen. Dieselbe Angst davor, daß eine
Jnterpellation von den Bänken der letzter» Seite sich in eine Anklage verwandeln
könnte, zwang die Mehrheit des Ministeriums Duclere, den Prinzen Plon-Plon
zu verhaften und radikalen Vorschlägen zur Änderung der Gesetzgebung im
wesentlichen beizutreten. Da haben wir wieder einmal den Segen des Parla¬
mentarismus.
Es ist, wie es scheint, das Loos aller französischen Republiken, langsam
nach der Revolution und Anarchie hinzugleiten und dann von einer Eisenfnust
nnter despotische Herrschaft gebracht zu werden. Die Entfernung der Prinzen
von ihren Kommandos, die Entziehung der Wählbarkeit und die eventuelle Aus¬
treibung derselben aus dem Lande, welche die Regierung beantragt und die
Kammer beschlossen hat, sind nichts ungewöhnliches bei unsern Nachbarn jenseits
der Vogesen. In mehr komischer Gestalt zeigte sich diese Tendenz bei jeder
Negierungsveränderung in der Niederreißung von Statuen, in der Entfernung
von Emblemen der Monarchie, in der Umlaufung von Straßen und Plätzen
und in der Auslöschung von Inschriften. Als die erste Revolution die Ver¬
bannung über die Prinzen und Adlichen des alten Frankreichs verhängte, war das
begreiflich, ja natürlich; die Aristokratie hatte den Krieg in der Vendee entzündet
und sich mit dem Auslande verschworen, sie war in die Reihen der Landesfeinde
eingetreten und mit den Heeren derselben in Frankreich eingebrochen. Die Prinzen,
die man jetzt verfolgt, haben nichts der Art gethan, sie mögen Hoffnungen hegen,
die auf Restauration hinzielen, der Prinz Napoleon hat sich offen dazu bekannt,
aber die Herzöge des Hauses Orleans haben sich verhalten, als ob sie die Re¬
publik anerkennten, und d'Aumale hat sie, gleichviel, ob mit Hintergedanken,
wirklich und ausdrücklich anerkannt. Dennoch werden alle über einen Kamm
geschoren, und zwar einzig aus dem Grunde, weil die Republikaner die Lehre
vom fürstlichen Erbrechte hassen und fürchten. Sie wollen allgemeine Gleich¬
heit und statuiren doch eine schreiende Ungleichheit. Das Kind eines Prinzen
soll nicht mit dem Rechte auf eine Krone, das Kind eines Bauern uicht mit der
Aussicht auf politische Knechtschaft und Nichtbefähiguug zur Mitregierung durch
das Stimmrecht bei den Wahlen geboren werden. Aber während sie die erb¬
lichen Vorrechte bekämpfen, erklären sie mit Eifer, daß jene Nichtbefähigmig
erblich sei, und so ist es nichts mit ihrer Doktrin, daß alle Menschen gleich
geboren seien; denn Fürstenkinder sind dann politische Parias.
Und ebenso verstehen die Herren von der Linken die Freiheit, die sie fort¬
während im Munde führen — beiläufig ganz mit der selbstsüchtigen Inkonse¬
quenz nach der Moral: „Ja, Bauer, das ist ganz was andres," die wir bei
unserm fortgeschrittenen Liberalismus gewohnt sind. Als die äußerste Linke,
die jetzt starken Einfluß übt und gute Aussicht hat, das Heft ganz in die Hand
zu bekommen, noch im Schatten stand und wenig Hoffnung hatte, ans Regiment
zu gelangen, willigte sie mit Vergnügen in ein außerordentlich liberales Pre߬
gesetz. Unter demselben ließ sich der Druck und das Anschlagen der Prokla¬
mation Jerome Napoleons nicht als Vergehen betrachten; denn „Provokationen"
sollten nach ihm straflos sein, wofern ihnen nicht Handlungen folgten. Flvqnct
sagte damals: „Was ist eine Provokation? Eine Operation des menschlichen
Denkens, ein Meinungsausdruck. Sie wird dadurch, daß man sich durch An¬
nahme eines Gesetzes entscheidet, sie zu verdammen, nicht tadelnswert oder ver¬
brecherisch. Entscheidet man sich, Meinungen nicht zu bekriegen, so kann man
auch Provokationen nicht angreifen, da sie nur Operationen des menschlichen
Geistes sind." Wohl im Hinblick auf diese und ähnliche Äußerungen erließ der
Prinz Napoleon sein Manifest, seine Provokation, und siehe da, Herr Floquet
und seine Partei, die im Jahre 1881 für unbeschränkte Preßfreiheit waren,
schlagen jetzt vor, ihn zu verbannen, lediglich wegen einer „Operation des Geistes,"
und die Regierung tritt dem bei.
Wir sehen jetzt deutlich, was für ein politisches Chaos durch das Ministerium
Duclerc mit dünner Kruste bedeckt und teilweise verborgen war. Der Tod
Gambettas und der Maueranschlag eines Prätendenten mit wenig Aussicht auf
Erfolg haben hingereicht, die Rinde zu durchbrechen und die kochende Ver¬
wirrung zu enthüllen. Wir wissen nicht, was der ehemalige Diktator von Tours
unter den obwaltenden Umständen sür opportun gehalten haben würde, aber
ein klares, entschiedenes Wort wäre von ihm zu erwarten gewesen. Er würde,
gleichviel, was er den Prinzen gegenüber gethan oder unterlassen hätte, dem
Ministerium mehr Halt gegeben und der Kammer mehr Entschiedenheit ein¬
geflößt haben. Jetzt sind die vielen schwierigen Fragen, welche fanatische und
engherzige republikanische Doktrinäre auf die Tagesordnung gebracht haben, eine
Beute zufälliger Parteigruppirungen. Die Republik mag nicht, wie behauptet
wird, „auf einem Vulkane sitzen," aber auf der einen Seite ist Mißtrauen, ans
der andern Furcht erweckt worden. Statt durch das Aufsteigen und Platzen
des bonarpartistischen d^Avr ä'öff^ gestärkt zu werden, ist die Republik ge¬
schwächt worden, nicht so sehr durch die Verhaftung Plon-Plons als durch die
schroffen Maßregeln gegen die andern Prinzen, die an 1793 gemahnen, wo man
ebenfalls ganze Klassen von Staatsangehörigen dem Scherbengerichte unterwarf.
Wäre die Handlung Jerome Napoleons gesetzlich strafbar gewesen, so konnte
doch im ärgsten Falle nur er selbst dafür gestraft, seiner politischen Rechte be¬
raubt werden, nicht alle seine Standesgenossen. Weil A eine Thorheit oder ein
Verbrechen begeht, muß T gezüchtigt werden, weil ein napoleonide die Republik
angreift, ist notwendig gegen das Haus Orleans einzuschreiten, urteilt die Logik
eines Volkes, das sich etwas daraus einbildet, das logischste auf Erden zu sein,
das ist die lächerliche Seite der sonst sehr ernsten Verwickelung. Werden die
Maßregeln gegen die Prinzen auch vom Senat angenommen, so wird jeder¬
mann in Frankreich fragen: Wer ist bei uns noch sicher, wenn seine Gegner an
der Gewalt sind? So werden sich namentlich Generale und andre höhere
Offiziere fragen, die der Linken verdächtig erscheinen, und so wird Mißbehagen
und Ungewißheit auch über die Führer der Armee sich verbreiten, denen das
Gegenteil dieser Empfindungen im Interesse des Staates vor allem zu
wünschen ist.
Wie diese Schwierigkeiten sich lösen werden, und wie diese langwierige Krisis
auf die nahe Zukunft Frankreichs wirken wird, ist nicht leicht zu sagen. Das
Land hat in sich Kräfte, die jeden Verlust leicht und rasch wieder ausgleichen.
Der Fleiß, die Unternehmungslust und die Sparsamkeit der Franzosen scheinen
im Verein mit andern von ihren löblichen Eigenschaften sehr wohl imstande zu
sein, die Irrtümer und Mißgriffe einer ganzen Reihe von Revolutionen wieder
gut zu machen. Aber wir müssen uns andrerseits erinnern, daß die Nation nie
zuvor von einer Schuldenlast bedrückt worden ist wie der jetzigen. Napoleon I.,
der auf dem ganzen europäischen Festlande Kriegskontributionen eintrieb, war
dadurch in den Stand gesetzt, Frankreich zu schonen. Auch unter dem zweiten
Kaiser war es in Schulden- und Steuersachen auszuhalten. Seit 1870 aber
haben sich die jährlichen Abgaben mehr als verdoppelt, und die in Aussicht ge¬
nommenen öffentlichen Arbeiten drohen die Last noch erheblich schwerer zu machen.
Die politischen Wirren dieser Tage haben sicherlich nicht zur Förderung der
gewerblichen und kommerziellen Interessen des Landes beigetragen, und es ver¬
steht sich von selbst, daß die Kapitalisten im heutigen Frankreich ihr Geld nicht
so leicht ans Unternehmungen verwenden werden wie unter einer festen Regierung.
Was endlich die auswärtigen Angelegenheiten betrifft, so wird man jetzt
wohl die kluge Voraussicht des Fürsten Bismarck erkennen, mit der er im
Gegensatze zu Graf Arnim die Errichtung und Befestigung der französischen
Republik nach Möglichkeit begünstigte und förderte. Er sah voraus, daß der
Parlamentarismus, die Demokratie, die halbe oder ganze Anarchie zu Hause
Frankreich nach außen hin machtlos und bündnisunfühig machen würde. Es ist
sicher, daß, während eine russische Allianz mit Gamvetta kaum möglich war,
ein Einverständnis zwischen dem Zaren und Herrn Clemenceau, dem zukünftigen
Ministerpräsidenten, völlig undenkbar ist. Nicht nur würde Nußland, mit dem
wir jetzt besser als je zuvor stehen, die Berührung vermeiden, sonder» Cle-
meneean, der stehende Heere und kriegerische Abenteuer verabscheut, ist stolz auf
ein Frankreich, das seine Thatkraft und seine Hilfsmittel einzig und allein auf
den Weiterbau der heimischen Verhältnisse zu verwenden entschlossen ist.
Zum Schlüsse noch eine Betrachtung. Man kann die französische Republik
nicht mehr jung nennen. Sie existirt gesetzlich schon zehn und praktisch sogar
dreizehn Jahre. Sie hat reichlich Zeit gehabt, sich fest und tief zu gründen
und ein Gebäude mit neuem Recht, neuer Ordnung und neuem Gedeihen auf¬
zuführen, und doch scheint sie damit geringen Erfolg gehabt zu haben. Wenigstens
haben ein paar Mauerauschläge mit den Worten „Prinz" nud „Napoleon" auf
die Franzosen wie die Beschwörung eines Schwarzkünstlers gewirkt und alles
ins Wanken gebracht. Die napoleonische Legende schien sich in Nebel aufgelöst
zu haben, Sedan hatte Austerlitz ausgelöscht, die Verminderung des französischen
Gebietes hatte die Erinnerung an die Eroberungen des ersten Bonaparte ver¬
dunkelt, schwere Steuern ließen selbst die Bauern den Wohlstand vergessen,
welcher unter dem zweiten Kaiserreiche geherrscht hatte. Der Tod des Sohnes
Louis Napoleons hatte die Imperialisten eines populären und unternehmenden
jugendlichen Führers beraubt lind an Stelle desselben ihnen einen höchst unbe¬
liebten Manu als Verfechter ihrer Sache aufgenötigt, den ein Teil der Partei
durchaus nicht mochte. Und trotz alledem hat der Imperialismus Leben in sich
behalten, „mit zwanzig Todeswunden auf dein Schädel" schwankt sein Geist durch
die Politik des Landes, und die Republik ist nicht stark genug, über den Spuk
zu lachen. Auch andre Gespenster sehen wie eine Gefahr aus. Von 1830 an
mußte das Erloschensein der bourbonischen Sache volle vierzig Jahre lang als
feststehende Thatsache gelten. Ludwig Philipp regierte achtzehn Jahre, und als
er vertrieben wurde, dachte in Frankreich keine Seele an Berufung des Grafen
Chambord auf den Thron. Der Republik von damals folgte das Kaiserreich,
und die Aussichten auf eine Restauration verblichen noch mehr. Gab es hier
und da noch Freunde der alten Dynastie, so schloß der Charakter des erblichen
Trägers ihrer Ansprüche alle vernünftig begründete Hoffnung aus. Er war
ein frommer Herr, der an Wunder glaubte, sehr geduldig, allen Wagnissen ab¬
geneigt, nur entschlossen in seiner Weigerung, die nationale Fahne und mit ihr
die neue Zeit anzuerkennen. Freunde wie Gegner stimmten darin überein, daß
nur ein Mirakel ihm die Krone aufs Haupt setzen könne. Und siehe da, das
Mirakel war 1873 nahe daran, sich zu vollziehen. Der „Roh" hatte sein Mani¬
fest mit der weißen Fahne noch nicht zurückgenommen, als der Graf von Paris
die Ansprüche der jüngern Linie zu Gunsten der ältern aufgab, und die Ver-
sailler Nationalversammlung schien jetzt eine Mehrheit von Rohalisten zu ent¬
halten. Später waren die Ehren, welche dem Prinzen des Hauses Orleans zu¬
teil wurden, an sich ein Beweis, daß „der Aberglaube der Legitimität," wie es
die Republikaner nennen, in Frankreich nicht ganz ausgestorben sein kann. Die
jüngere Linie der Bourbonen hatte in Gestalt des Grafen von Paris in Frohs-
dorf mit voller Überlegung auf unmittelbare Erfolge verzichtet, sie hatte sich
dort zu den Ideen des letzten Vertreters der ältern bekehrt und sich damit dessen
UnPopularität eingeimpft. Seit ihrer Rückkehr nach Frankreich haben diese
Prinzen wenig gethan, um sich beliebt zu machen. Und doch fürchtet die Re¬
publik offenbar diese stillen, reservirten, obskuren Herren, als ob die bloße
Gegenwart derselben im Lande mit einem zweiten General Monk drohte.
Gewisse ausländische Beobachter behaupten, die Franzosen seien ein wetter¬
wendisches Volk, das leicht vergesse, und die Revolution habe einen tiefen Ab¬
grund zwischen dem alten und dem neuen Frankreich aufgerissen. In Frankreich
selbst giebt es Stimmen, welche meinen, die Republik habe im Herzen des Volkes
tiefe Wurzel geschlagen, die 1789 eroberte Gleichheit aller Stände gelte ihm
als Kleinod, und das Königtum werde niemals wieder aufgerichtet werden.
Und doch finden wir unter diesem wankelmütigen Volke eine Partei, welche hart¬
näckig an der Sache der Legitimität festhält, und das kleine Wort „Fürst" setzt
seine jetzigen Regenten, die Abgeordneten, so in Schrecken, daß sie den „Götzen"
über die Grenze bringen zu müssen glauben, damit kein Götzendienst getrieben
werde. In der Sagenwelt giebt es Länder, Städte und Inseln, wo die Menschen
nur altern, aber nicht sterben können. In Frankreich scheinen die monarchischen
Parteien gleicher Unsterblichkeit teilhaftig zu sein. Unter den Völkern germa¬
nischer Abkunft begegnen wir dieser Erscheinung nicht. In Deutschland schwand
das Welfentum, das Augustenlmrgertum und die Partei des Kurfürsten von
Hessen rasch zusammen. Wer denkt in Schweden noch an die Rückkehr der
Wasas auf den Thron? In England giebt es schon längst keine Jatobiten
mehr. Bei den Kelten verhält sichs anders, hier haben „Verlorne Sachen" immer
noch einen weiten und eifrigen Kreis von Freunden, In Irland findet Brian
Born noch seine Verehrer, in Frankreich, besonders in der Bretagne und andern
Provinzen mit starkem keltischen Element, das Bvnrbonentum, und in andern
Gegenden der Bonapartismus.
Ist also Frankreich im Herzen monarchisch oder republikanisch gesinnt?
Nehmen wir das Wort etymologisch, so sind wir geneigt, zu glauben, daß das
am tiefsten eingewurzelte und dauerhafteste Verlangen des französischen Volkes
die Regierung oder doch die moralische Herrschaft eines Einzige» ist, heiße er
nnn Napoleon oder Gambetta oder sonstwie. An Jerome wird dabei freilich
nicht gedacht.
eini alle Völker der Erde unter sich einen Freihandelsvertrag ab¬
schließen,^) sodaß jeder überall taufen und überall hi» frei
von allen Beschränkungen verkaufen kann, so ist dasein
Freihandel, der vernünftig ist. Ob er auch möglich ist - das
ist eine andre Frage.
Ist er aber in dieser Ausdehnung nicht möglich, so bleibt doch immerhin
die Frage: Wo? Sagen wir beispielsweise, innerhalb Enropa und Amerika.
Obwohl das schon eine sehr bedeutende und bei unsern heutigen Verkehrsver-
lMtnissc» überaus fühlbare Beschränkung wäre, so wollen wir es gleichwohl als
Freihandel gelte» lassen, wenn innerhalb Europas und Amerikas jeder dieser beiden
Staaten alles ohne jede Beschränkung überall kaufe» und überall hin verkaufen
kann. Wen» wir aber jeden in Deutschland ohne Beschränkung verkaufen
lassen, während unsre Produkte nicht nur in Amerika, sondern schon in Eng¬
land, Frankreich, Rußland und Österreich Schutzzöllen begegnen, so ist das eben
nicht Freihandel, sondern es ist eine großartige Dummheit, die zur Ver¬
armung führt.
Die Auswanderung hat in Deutschland in erschreckender Weise zugenommen
und namentlich, seit Amerika hohe Schutzzölle etablirt hat. Während in
Deutschland die jungen Gewerbsleute ohne Arbeit umherirren, ist in Amerika
vollauf Arbeit zu hohen Löhnen. Unsre Arbeiter wandern dahin ans, und wir
senden ihnen bereits für Produkte aller Art deu Arbeitslohn in ihre neue Heimat,
den sie besser in der alten verzehrt hätten.
Man sagt, durch Schutzzölle werde nur die Indolenz gefördert. Das ist
nicht wahr. Der Arbeiter will den höchstmöglichen Lohn, und er steht mit
diesem natürlichen berechtigten Verlangen auf gleicher Stufe mit dem Kapita¬
listen, der sein Kapital möglichst hoch verzinsen will. Wenn der Kapitalist sein
Vermögen in einem industriellen Unternehmen anlegen will, so fragt er sich ganz
selbstverständlich: Welches Unternehmen verspricht mir den meisten Gewinn?
Er wird doch sicher sein Kapital nicht in einem Unternehmen anlegen, von
welchem er schon im voraus weiß, daß nichts dabei verdient wird. Selbst wenn
er weiß, daß nur die landesüblichen Zinsen verdient werden, so wird er lieber
sein Geld auf Hypotheken anlegen oder sich sichere Staatspapiere kaufe» und
nicht ein Risiko tragen, welches immer, selbst mit dem besten industriellen Unter¬
nehmen, verbunden ist.
Daß aber das Kapital sich auf Industrien wirft, das bewirkt der Schutz¬
zoll. Der Schutzzoll verteuert die Waare, das ist richtig, aber das soll er
auch. Kann man im Lande eine Waare nicht zu demselben Preise herstellen,
wie sie vom Auslande geliefert wird, so muß man einen Schutzzoll darauf legen,
damit sie hergestellt werde, denn entweder das Anstand ist dem Inlande
durch langjährige Erfahrung überlegen (England), oder die Arbeitslöhne sind
im Auslande billiger (Belgien, Österreich), das Ausland hat Überproduktion
und verkauft mit Verlust:e. In allen diesen Fällen, oder wenn ein Artikel
aus irgend einem Grunde im Inlande nicht gemacht wird, muß er durch einen
Zoll geschützt werden, damit er gemacht werde.
Im amerikanischen Zolltarif vom Jahre 1871 sieht man dieses Prinzip
durchgeführt, Jeder Artikel, an welchem irgend Arbeit haftet, ist mit hohen
Zollsätzen geschützt, nur Rohstoffe sind frei. Uhren z. B. hat man mit 25 Pro¬
zent ack vlüoröm belegt, sodaß also eine Uhr von 100 Mark Wert 25 Mark
Zoll bezahlt. Infolge dieses Zolles hat sich in Amerika eine so bedeutende
Uhrcnindustrie entwickelt, daß sie ihre Fabrikate bereits in alle Welt sendet;
auch in Deutschland kauft man jetzt amerikanische Uhren, die hier mit einem
Zoll von höchstens 50 Pfennigen eingehen, gleichviel welchen Wert sie haben,
lind doch sind, sowohl in der Schweiz als in England und nun in Amerika,
die tüchtigsten Uhrcnarbeiter — Deutsche, Vor dem Kriege hat Amerika
100000 Ballen Baumwolle verarbeitet. Heute, nachdem dort Baumwollengarne
mit 20 bis 40 Prozent Wertzoll geschützt sind, verarbeitet es bereits 2 Mil¬
lionen Ballen, Der Zoll soll die Waare verteuern, damit ihre Herstellung ein
rentables Unternehmen wird und sich infolge dessen das Kapital darauf wirft.
Es ist unwahr, daß dadurch die Indolenz gefördert nud der betreffende Artikel
auf die Dauer verteuert werde. Denn die Intelligenz bemächtigt sich niemals
derjenige» Industriezweige, die keinen Gewinn versprechen, sondern sie, gerade
sie wendet sich dahin, wo der höchste Gewinn in Aussicht steht. Also Kapital
und Intelligenz wenden sich dahin, nicht die Indolenz, Und gerade deshalb
wird der Artikel nicht auf die Dauer verteuert. Denn so lange die Fabri¬
kation eines Artikels ein gutes Geschäft ist, d, h. mehr trägt als die lautes-.
üblichen Zinsen, so lange wendet sich neues Kapital dahin, d, h. es entstehen
neue Fabriken, und die naturnotwendige Folge ist, daß die wachsende Konkur¬
renz im Inlande den Preis der Waare drückt, sodaß er schließlich niedriger wird
als vor dem Schutzzölle, Der Gewinn aber für das Land besteht nicht darin,
daß das auf diese Unternehmungen verwendete Kapital hohe Zinsen getragen
hat, sondern darin, daß der Artikel nun im Inlande gemacht wird, daß so und
so viele Arbeiter damit beschäftigt worden sind und uun auch fortbeschäf¬
tigt werden. Der Artikel ist jetzt — und das vollzieht sich heutzutage in
wenigen Jahren — billiger als er früher war, aber der Arbeitslohn, der dafür
ausgegeben wird, wird im Lande verzehrt, und das ist der große Segen
der Schutzzölle,
Nehmen wir z, B, die sogenannte» „Pariser Artikel." Die Gegner der
Schutzzölle sagen: Die kann der Deutsche gar uicht machen, dazu gehört der fran¬
zösische feine Geschmack, die Fertigkeit, die auf langjähriger Erfahrung beruht,
und das große Kapital; wenn wir darauf Schutzzölle legen, so werden wir
diese Artikel zwar künftighin sehr teuer bezahlen müssen, aber wir werden nichts
schönes bekommen.
Wohlan, belegen wir Pariser Artikel mit einem hohen Schutzzoll, ja mit
einem Prohibitivzoll! Was wird geschehen? Die Fabrikation dieser Artikel in
Deutschland ist sofort ein gutes Geschäft. Angenommen selbst, aber nicht zu¬
gegeben, der Deutsche sei in der That nicht fähig, diese Artikel herzustellen
— denn ein großer Teil dieser Arbeiter in Paris sind eben Deutsche —, so
wird der Pariser, weil seine Waare jetzt in Deutschland viel teurer bezahlt wird
als früher, sofort mit seinen Arbeitern, seiner Erfahrung, seinem Geschmack und
seinem Kapital nach Deutschland gehen und dort arbeiten und viel verdienen.
Aus diesem letztern Grunde aber wird das nicht ein einziger, es werden es
viele thun, und schließlich werden doch am Ende mich Deutsche an diesem arten
Geschäfte Partizipiren, und in wenig Jahren werden wir in Deutschland die
sogenannten „Pariser Artikel" gerade so billig und schön haben als früher, noch
billiger — der auf sie verwendete Arbeitslohn wird nicht in Paris, er wird
in Deutschland verzehrt werden.
Zu einer Zeit, wo in Frankreich und England hohe Schutzzölle, ja Pro¬
hibitivzölle bestanden, entstand der deutsche Zollverein „auf freihändlerischer
Grundlage," Wo blieb da die deutsche Industrie? Da hörte man allerwärts:
Wir brauchen keine Industrie, Deutschland ist ein ackerbautreibender Staat,
Die deutsche Eisenindustrie war durch englische Prohibitivzölle und englische
Kohlen ruinirt, die deutsche Leiuenindustrie war durch hohe Schutzzölle Eng¬
lands und Frankreichs und dnrch englische Maschinen ruinirt, und in diese»
beiden Industriezweigen, welche die Grundlage zu Englands Macht und Größe
wurden, nahm einst Deutschland die erste Stelle ein!
Man sage nicht, England hat eben Kohlen und Eisen, Deutschland ist
reich an Kohlen und Eisen, aber sie schlummern in der Tiefe, während Eng¬
land, nachdem es in Deutschland die Fabrikation des Eisens gelernt hatte, seine
Kohlen- und Erzlager erschloß, riesige Hohöfen baute und seine Eisenproduktion
dnrch Prohibitivzölle schützte. Mau sage nicht, England sei durch seine mari¬
time Lage uns überlegen, Deutschland hatte einst die Suprematie in der Leinen-
fabritativn. Als aber England die Spinnmaschinen erfunden hatte, da legte es
Prohibitivzölle auf Leinengarne und Leinenwaaren und verbot noch überdies die
Ausfuhr von Spinnmaschinen. Mittlerweile mußte Deutschland einsehen lernen,
daß es ein ackerbautreibender Staat sei.
Merkwürdigerweise blieben Baumwollenwaaren im Zollverein mit 50 Thaler
pro Zentner geschützt, und infolge dieses Zolles blühte die Banmwollenwcberei
in hohem Grade fort, Sie blieb aber auch lange der einzige blühende Industrie¬
zweig, aber eine Lehre hat man nicht daraus gezogen.
Und doch, auf einmal im Jahre 1861, nahm die gesamte Industrie in
Deutschland einen mächtigen Aufschwung wie nie zuvor. Zunächst verursachte
ein rapides Steigen der Baumwvllengarnpreise das Steigen der Preise aller
Textilerzeugnisse, es wurden eine Menge neuer Baumwollenspinnereien, dann
aber auch Flachs- und Wollenspinnereien gebaut, die Webereien blühten auf,
konsequenterweise daun die Maschinenfabriken, deren viele neue entstanden, wäh¬
rend sich ältere bedeutend vergrößerten, im weitern Verlaufe die Eisen- und
Kohlenwerke. Das Gros der Konsumenten, die Arbeiter, hatten vollauf zu thun,
sie hatten Verdienst, und da sie kauften, so blühten alle Gewerbe und auch
die Landwirtschaft. Nie auch hat man die deutschen Kammern so bereit ge¬
sehen im Geldbewilligen wie Ende der sechziger Jahre, und allerwärts wurden
die Beamtengehalte aufgebessert.
Fragen wir nach der Ursache dieses jähen Aufblühens der deutschen In¬
dustrie, so finden wir sie im amerikanischen Kriege, der im Jahre 1861 begann.
Infolge dieses Krieges war die Verschiffung von Baumwolle aus Amerika un¬
möglich, vierzehn Millionen Ballen waren während der nächsten vier Jahre dem
Weltmarkt entzogen, und sofort trat ein rapides Steigen der Baumwollengarn¬
preise el», und damit derjenige aller Gespinnste. Und so wirkte der amerikanische
Krieg in Deutschland faktisch wie ein bedeutender Schutzzoll auf Garne.
Dieser Krieg dauerte vier Jahre, und diese wenigen Jahre Schutz habe»
genügt, der deutschen Industrie den mächtigen Aufschwung zu verleihen, den
wir in den sechziger Jahren gesehen haben. Aber eine Lehre hat man nicht
daraus gezogen.
Die während dieser Periode entstandenen industriellen Unternehmungen
haben das Lehrgeld, welches jedes neue Etablissement bezahlen muß, verdient,
sich gekräftigt und bestehen heute noch. Viele später, ohne Hilfe dieses künst¬
lichen Schutzzolles, entstandenen Unternehmungen gingen zwar zu Grunde, wurden
aber von den Nachfolgern billig gekauft und bestehen dadurch ebenfalls fort zum
Segen des Landes. Von da an aber, nachdem mit Beendigung des amerika¬
nischen Krieges der künstliche Schutzzoll gefallen war, lind unter der gleichen
Wirkung des deutsch-frauzöPscheu Handelsvertrages entstanden wenig neue Unter¬
nehmungen mehr.
Die wirtschaftliche Krisis im Jahre 1873 war zunächst hervorgerufen
dnrch den Börsenkrach. Dadurch, daß plötzlich alle Werte sanken, war jeder,
der irgend Papiere besaß, auf einmal ärmer geworden. Wer erst 100000 Mark
besaß und darnach lebte, hatte auf einmal nur noch 20000 Mark oder noch
weniger. Darnach mußte die Lebensweise geregelt, es mußte gespart werden,
und dieses Sparen in ganz Europa bewirkte die wirtschaftliche Krisis, die in
Deutschland umso fühlbarer war, als die Überproduktion des Auslandes den
deutschen Markt offen fand und sich dahin warf. Und das war der härteste
Schlag für die junge deutsche Industrie, daß sie mit dem Auslande, welches
infolge der Krisis mit Verlust verkaufte, koniurrireu mußte.
Das hauptsächlichste Argument, welches man gegen das Schutzzollsystem
aufstellt, ist der Konsument. Man sagt, der Konsument hat darunter zu leiden
und zwar zum Nutzen einzelner. Diese Behauptung erscheint im ersten Augen¬
blick sehr einleuchtend, denn der Konsument ist eben derjenige, der kaufen muß,
und der einzelne ist irgend ein Fabrikbesitzer, der sich allein den Schutzzoll zu
Nutzen macht und sich auf Kosten der Käufer bereichert. Betrachten wir aber
einmal die Sache näher und untersuchen wir, wer der Konsument und wer der
einzelne ist.
Da jeder Mensch konsumirt, so ist auch jeder el» Konsument, mithin auch
der Landwirt mit seinen Arbeitern, der Industrielle mit seinen Arbeitern, der
Gewerbsmann mit seineu Arbeitern, der Kaufmann mit seinem Personale, alle
Produzenten sind zugleich Konsumenten, Wenn sich nun der Produzent
zum Schaden des Konsumenten bereichert, so bereichert er sich doch faktisch zu
seinem eigne» Schaden, und wen» der Konsument zum Vorteil der Produ¬
zenten benachteiligt wird, so wird er faktisch zu seinem eignen Vorteile benach¬
teiligt.
Wenn wir vou Konsumenten sprechen, so müssen wir darunter unter
allen Umständen die große Masse der Produzenten verstehen. Die Re-
sultate der Berufsstatistik werden ergeben, daß man nicht von Konsumenten rede»
kann, ohne damit die Produzenten genannt zu haben. Auch der Soldat ist
Produzent, uicht nur insofern er irgend einem Gewerbe angehört, sondern anch
noch insofern er sein Leben zum Schutze des Vaterlandes und dessen Wohl¬
standes in die Schanze schlüge. So ist es doch wahrhaftig nicht, daß hier eine
Fraktion Konsumenten und dort eine Fraktion Produzenten sich feindlich gegen¬
überstünden. Konsumenten und Produzenten sind keine Gegensätze. Allerdings
sind ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung scheinbar nur Konsumenten, die Be¬
amten, allein es wird einem vernünftigen Menschen ebensowenig einfallen, die
Beamtengehalte den durch ein Schutzzollsystem erhöhten Werten der Lebensbe¬
dürfnisse nicht anzupassen, als er daran denken kann, dieses kleinen Bruchteils
wegen ein Wirtschaftssystem, welches geeignet ist, die Nation wohlhabend und
reich zu machen, nicht einzuführen, und überdies sind die Beamten, wenn sie
Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe hoch halten und nach Kräften fördern,
Produzenten in eminenten Sinne.
Nun sagt man aber, zu Gunsten einzelner würden die Konsumenten be¬
nachteiligt. Es ist in der That uicht abzusehen, wer diese einzelnen sind, wenn
man nicht die Fabrikdirektoren darunter verstehen will, denn die Gutsbesitzer,
Gewerbsmeister sind doch nicht einzelne, und Fabrikdirektoren erscheinen nur
deshalb einzelne, weil Deutschland leider wenig Fabriken hat. Aber wie steht
es denn mit der Bereicherung dieser einzelnen? Das kann man mit Sicher¬
heit annehmen, daß jede Aktiengesellschaft ihren Direktor so billig als möglich
zu bekommen sucht, und hat ein solcher einen relativ hohen Gehalt, so kann man
mit derselben Sicherheit annehmen, daß man einen billigeren eben nicht hat habe»
können.
Nun ist es aber doch ganz und gar unwesentlich, was der Besitzer oder
der Direktor eiuer Fabrik verdient oder verliert, ob er reich oder arm wird,
denn wenn er reich wird, so kann er doch immerhin nicht mehr verbrauchen als
ein Mensch oder eine Familie; aber die meisten werden nicht reich, sie werde»
höchstens wohlhabend, wenn sie sparsam sind, und im andern Falle werden sie
nicht einmal das, und wie viele Fabrikbesitzer sind schon arm geworden! Wesent-
lich aber ist die Anzahl Arbeiter, die unter diesem Direktor Beschäftigung findet,
wesentlich ist der Arbeitslohn, den diese Arbeiter einnehmen und im Lande
verzehren, nährend er ohne Schutzzölle ins Ausland geht. Das ist das
Wesen und der große Segen eines Schutzzollsystems!
Deutschland könnte jährlich 2000 Millionen Zentner Steinkohlen fördern
und damit 350000 Arbeiter mit 1 Million Familiengliedern ernähren; es könnte
100 Millionen Zentner Roheisen Produziren und damit 70000 Arbeiter mit
200000 Familiengliedern beschäftigen; denn Deutschland ist reich an Erzen und
an Kohlen, Ob dabei so und soviele Direktoren wohlhabend oder nicht
wohlhabend werden, ist gleichgiltig, ob aber die eine Million und 600000
Menschen nur allein durch die Kohlen- und Eisenindustrie ernährt werden, ob
diese jährlich 250 Millionen verdienen und im Lande verzehren, oder ob dieser
Arbeitslohn für fremdes Eisen ins Ausland geht, ob die Erze und Kohlen in
der Tiefe ruhen bleiben oder zu Nationalvermögen werden, das ist nicht gleich-
giltig.
Ein Zoll von 1 Mark für 100 Kilo Roheisen ist kein Schutzzoll, sondern
ein Finanzzoll, er ermöglicht lediglich den bestehenden Kohlen- und Eisenwerken
die Existenz, ruft aber neue nicht hervor. Darum muß er hoher sein, damit
die reichen Schätze, die in Deutschlands Erde ruhen, gehoben werden.
Wer ist denn der Konsument, der unter einem höhern Zoll auf Eisen leiden
würde? Da hört man Landwirte sich beschweren. Als ob sie überhaupt Eisen¬
konsumenten wären! Wenn ein bedeutender Landwirt seinen jährlichen Bedarf
an Hufeisen, Pflugscharen, Wagenreifen :e, zusamnmirechnet, so bringt er noch
keine 20 Zentner heraus, und wenn der Zentner anstatt 50 Pfennigen 2 Mark
Zoll zahlen würde, so würde das erst 30 Mark ausmachen. Viel wichtiger ist
es für den Landwirt, daß 1 Million 600000 Menschen Käufer für seine Pro¬
dukte werden. Der Arbeiter, der zu hohen Löhnen vollauf beschäftigt ist, ist
ein ganz andrer Konsument als derjenige, der fechtend die Dörfer durchwandert.
Eisenkonsument ist der Maschinenfabrikant, aber selbst ihn drückt ein Zoll
von 2 Mark auf den Zentner Roheisen gar nicht. Eine Lokomotive z.B. wiegt
ungefähr 600 Zentner und kostet etwa 30000 Mark, Mit dem Zoll würde
sie 31000 Mark kosten. Aber wie lange denn? Mit einem Zoll von 2 Mark
für den Zentner hätten wir in wenigen Jahren eine so große Eisenindustrie,
eine so große Konkurrenz in Deutschland, daß wir die billigsten Eisenpreise
Hütten, die wir je gehabt haben.
Aber das Aufblühen von Kohlen- und Eisenindustrie würde gerade den
Maschinenfabriken vollauf zu thun geben. Deutschland hat heute 4 Millionen
und 800000 Spindeln und ernährt damit 56000 Arbeiter mit 24 Millionen
Mark Arbeitslohn. Wieviel dabei Besitzer oder Direktoren beteiligt sind, ist
gleichgiltig, nicht aber, ob die 24 Millionen in Deutschland verzehrt werden oder
im Auslande, ob die Spindelzahl sich vermehrt oder vermindert. Großbritannien
hat heute 40 Millionen Spindeln! Selbst wenn der Besitzer einer Fabrik durch
Mißwirtschaft oder Unglück zu Grunde geht, besteht doch die segenbringende
Wirkung des Schutzzolles fort, insofern er die Fabrik ins Leben gerufen hat.
Denn eine solche Fabrik kommt so lange billiger in andre Hände, bis sie pro-
sperirt, aber sie geht fort und beschäftigt die Arbeiter, und für sie, für die
große Masse der Menschen, ist der Schutzzoll ein Segen, nicht sür ein¬
zelne.
Hüten wir uns, daß die kleine Industrie, die uns nicht etwa ein wohlberech¬
netes Wirtschaftssystem, sondern der Zufall, der amerikanische Krieg, geschaffen,
nicht wieder untergehe, und auch noch die Arbeiter, die darin beschäftigt sind,
zum Feiern verdammt werden!
Daß dem Arbeiter geholfen werden muß, zu dieser Überzeugung ist man
wohl durchweg gelangt, und die Gesetzgebung hat sich bereits nach allen Rich¬
tungen damit beschäftigt, aber das ganze Streben macht den Eindruck, als solle
der Pelz zwar gewaschen, aber doch nicht naß gemacht werden, und erinnert
lebhaft an die Katze und den heißen Brei, Was man aber will, das muß man
auch ganz wollen, und es giebt uur ein Gesetz zu Gunsten der Arbeiter: es ist
dasjenige, welches sie gesucht macht, es ist das Gesetz zum Schutze der
nationalen Arbeit.
Wenn der Arbeiter guten Verdienst hat, so kauft er nicht nur Fleisch und
Weizen, sondern alle möglichen Lebensbedürfnisse, und das bewirkt wieder die
Prosperität der Landwirtschaft und aller Gewerbe und schließlich den Reichtum
der Nation und des Staates, in welchem man nicht mehr den Armen oder einen
von Unglück betroffenen Landstrich an die Mildthätigkeit der Menschen verweisen
möchte, sondern mit der Steuerkraft des Landes der Not und dem Elende steuert.
Ehemals haben wir an dem Aufbau des deutschen Reiches kräftig und freudig
mitgearbeitet und schließlich denen zugejubelt, die es fertig gebracht hatten. Heute,
anstatt das große Werk fortzusetzen, das deutsche Reich zu erhalten und zu kräftigen,
scheint es doch, als grollten wir, daß es nicht nach unserm Rezept zustande ge¬
kommen ist, und versagen womöglich alle Mittel zur Erhaltung desselben. Deutsch¬
lands geographische Lage ist aber derart, daß es nur mit großem Aufwande
erhalten werden kann. Und da kann es sich nicht darum handeln, überall zu
sparen und den Aufwand zu unterlassen, sondern es handelt sich darum,
Deutschland in die Lage zu versetzen, den notwendigen Aufwand machen zu
können. Ob ein General 10 000 oder 20 000 Mark Gehalt hat. ist gleich-
giltig, ob aber der General eine Schlacht gewinnt oder verliert, das ist nicht
gleichgiltig. Wenn das deutsche Heer von einem Kriege siegreich heimkehrt, dann
fragen wir nicht darnach, was es in Friedenszeiten gekostet hat, sondern wir
danken Gott, daß namenloses Elend von uns gewendet ist. Wenn aber die
Armee, was Gott verhüten wolle, geschlagen heimkehrt, dann würde jahrzehnte-
langes Ersparen des ganzen Militärbudgets nicht ausreichen, die Verluste auch
nur einigermaßen zu decken. Der Staat kann nicht vom Sparen, er muß vom
Verdienen leben, und das kann nur durch den Schlitz der nationalen Arbeit ge¬
schehen.
Da haben wir aber die ewigen Kämpfe, Auf der einen Seite fragt man:
Wo kann gespart werden? auf der andern Seite: Wo sollen die Steuern her¬
kommen? Der bekannte Refrain der Wahlreden heißt schon: Ich werde gegen
jede Erhöhung der Steuern und für Verminderung des Heeres stimmen. Nun,
damit kann man aber hente selbst dem Bauer nicht mehr imponiren, denn er
weiß nur zu gut, was zur Erhaltung des Staatshaushaltes gehört, und daß
Steuer» bezahlt werden müssen; er weiß aber ebensogut, daß, wenn er selbst
zehn Prozent Steuern weniger als bisher zu zahlen brauchte — und das wäre
ja schon eine ganz unerhörte, faktisch garnicht ausführbare Ersparnis —, ihm
damit nicht gedient wäre, sondern daß ihn der Schuh wo ganz anders drückt.
Der Bauer von heute weiß, daß er einesteils für seine Produkte zu wenig
zahlungsfähige Konsumenten hat, und daß andernteils noch überdies seine Pro¬
dukte, Getreide und Fleisch, vom Auslande eingeführt werden, sodaß er dieselben
unter den Erzeuguugskosteu verkaufen muß. Das ändert ihm keine noch
so große Steuerersparnis, sondern nur ein Schutzzoll, der nur dann in
Wegfall zu kommen hätte, wenn der Preis seiner Produkte eine gewisse Höhe über¬
steigt. Der Bauer weiß mir zu gut, daß fechtende Handwerksburschen keine Kon¬
sumenten seiner Erzeugnisse siud, und daß nur der Arbeiter, der lohnende Arbeit
hat, Fleisch und Weizen kauft und kaufen kann. In der That, wenn ein Bauer,
der heute 100 Mark Steuern zu zahlen hat, auf einmal nur 50 Mark zu zahlen
hätte, nein, wenn er gar keine mehr zu zahlen hätte, wäre denn dem geholfen?
Mit nichte», weil ihm nicht die 100 Mark fehlen, sondern- es fehlen ihm 400
oder 500, die er für seiue Produkte mehr erhalten müßte, wen» seine mühselige
Arbeit belohnt werden soll, die er aber mir dann mehr einnehmen könnte, wenn
die Zahl der Konsumenten stiege und wenn er gegen die Einfuhr ausländischer
Produkte wenigstens soweit geschützt wäre, daß er nicht mit offenbarem Verlust
verkaufen müßte. Wenn aber derselbe Bauer durch den Schutz der nationalen
Arbeit 500 Mark mehr einnimmt, dann zahlt er auch recht gern mehr Steuern.
Auch er kaun nicht vom Sparen, sondern nnr vom Verdienen leben.
So, rufen da die Gegner der Schutzzölle, also die Lebensmittel sollen dem
armen Manne verteuert werden? Ja, die Lebensmittel sollen verteuert werden,
denn das ist ein Glück für die Nation, aber sie werden deswegen nicht dem
armen Manne verteuert. Denn der arme Mann ist derjenige, der nicht arbeiten
kann, und dessen Lebensmittel werden nicht so verteuert, daß er es irgend
empfände, Wohl aber wird der arme Mann weit besser gestellt sein, wenn er
unter einer reichen Nation lebt, als unter einer, die, wie Deutschland, immer
mehr der Verarmung entgegengeht.
Es giebt aber noch einen armen Mann, es ist derjenige, der arbeiten will,
arbeiten kann, aber keine Arbeit findet. soll dem damit geholfen werden, daß
man die Lebensmittel entwertet? Was helfen ihm denn die billigsten Lebens¬
mittel, wenn er sie nicht kaufen kann? Man muß ihn in den Stand setzen,
Lebensmittel kaufen zu können — das ist der Kern der sozialen Frage.
Alles andre sind Doktrinen.
Der Arbeiter hat ein Recht zu verlangen, daß die Institutionen
des Staates derart sind, daß der, der arbeiten will und kaun, auch
Arbeit findet. Es ist falsch, Fabrikate aus dem Auslande zu beziehen, die
unsre Arbeiter machen könnten, während diese fechtend umherziehen und schließlich
auswandern müssen, um im Auslande an jenen Fabrikaten mitzuarbeiten, für
die wir ihnen dann den Arbeitslohn ins Ausland senden, damit sie sich dort
teure Lebensmittel kaufen können, die sie in ihrem Vaterlande bei billigeren
Preise entbehren mußten.
Wie viele Vorschläge haben wir zur Steuer der „Vagabondage"! Zucht¬
häuser, Gendarmen, Kolonien, Religion, Schule und sogar Prügelstrafe. Die
Katze und der Brei! Das Überhandiiehmeil der Landstreicher geht ganz gleichen
Schritt mit dem Überhandnehmen der Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit ist
das Erziehungsmittel des Landstreichers, gleichviel, ob er nicht arbeiten will oder
ob er keine Arbeit finde. Solche, die nicht arbeiten wollen, hat es zu allen
Zeiten gegeben, und sie werden kaum aussterben. Aber wer arbeiten will und
doch keine Arbeit findet, der ist eben wohl oder übel arbeitslos.
Bete und arbeite! Dieses ernste Wort ist heute eine ebenso ernste Mah¬
nung an die Volksvertretung. Es ist recht, daß der, der beten will, die Schule
und die Kirche finde. Sorget aber dafür, daß er auch Arbeit finde! Der
billigste Weizen und das billigste Fleisch nützen dem feiernden Arbeiter nichts,
und der arbeitende und gesuchte Arbeiter empfindet die Preiserhöhung der Lebens¬
mittel, die dadurch entsteht, daß ein Bauer, der 100 Mark Steuern bezahlt, für
die Folge 500 Mark mehr einnimmt, garnicht. Ein solcher hat etwa jährlich
zu verkaufen:
Nimmt er hierfür 500 Mark mehr ein, so werden Getreide und Fleisch unge¬
fähr 10 Prozent teurer. So viel aber fluktuiren ja die Lebensmittelpreise ohne¬
dies, und keinem Menschen wird es einfallen, wenn einmal in einem Jahre die
Preise 10 Prozent höher als in einem andern sind, darin einen Notstand zu
sehen. Selbst einem Minderbemittelten nicht, einem verschämten Armen, der zu
seinem Unterhalte jährlich vielleicht 400 Mark braucht. Er würde eben, selbst
wenn alle Lebensbedürfnisse 10 Prozent teurer wären, dann 440 Mark brauchen,
während, wenn es allenthalben Arbeit giebt, auch die Arbeit solcher Leute: Nähen,
Häkeln, Stricken, Sticken, Schreiben :c. besser bezahlt werden muß, als es leider
heute der Fall ist.
Aber auch wenn das nicht der Fall wäre, so kann man doch nicht das
ganze Wirtschaftssystem eines Landes nach den Bedürfnissen der Minderbemit¬
telten oder der verschämten Armen ?,e. einrichten; man kann doch nicht Handel,
Gewerbe, Landwirtschaft zu Grunde richten, nur damit dem Armen sein Brot
nicht verteuert werde. Das Wirtschaftssystem kann doch nur den Wohlstand
der ganzen Nation im Auge haben. Daß man die Minderbemittelten und
die Armen nicht vernachlässigen durs, versteht sich wohl von selbst, und für die
Annen sollte ganz anders gesorgt werden, als es jetzt geschieht und leider ge¬
schehen kann. Aber woran liegt es denn, daß unsre Armen so schlecht versorgt
werden? Denn das ist buchstäblich der Fall. Es liegt an der Armut der
Nation. Wenn aber durch Schutz der nationalen Arbeit die Nation wohlhabend
und reich wird, so wird sie auch für ihre Armen besser sorgen, sie wird nicht
mehr von der Armenlast sprechen, sondern von dem schönen Berufe, den Armen
und Notleidenden ausgiebig zu helfen. Warum sieht man denn keinen Juden
betteln? Weil die Juden ihre Armen reichlich ernähren, und das thun sie, weil
sie im Durchschnitt eben reicher sind als wir. Das bisher in Deutschland befolgte
Wirtschaftssystem aber erzeugt Arme, und weil sie erzeugt werden und in
immer größerm Maße überHand nehmen, so sollen mich noch die landwirtschaft¬
lichen Produkte durch Einfuhr ausländischer entwertet, es soll die Industrie und
dann konseguenterweise anch die Landwirtschaft ruinirt werden. Die Macht eines
jeden Staates ist bedingt durch das Blühen seiner Industrie und seiner Land¬
wirtschaft. Wenn die eine krankt, so leidet die andre mit. Wo beide blühen,
da ist Steuerkraft, Reichtum und Macht, und da blühen auch Künste und
Wissenschaften, und wo sie darniederliegen, da geht der Staat trotz aller Er¬
sparnisse der Machtlosigkeit und Verarmung entgegen, und die Akademien der
Künste und Wissenschaften bleiben — unvollendet.
Was wird heute nicht zur Verbesserung unsrer Zustände alles vorgeschlagen!
Reform des Bankwesens, genossenschaftliche Organisation des Kredits, Ab¬
schaffung der indirekten Steuern und dergleichen mehr. Nichts ist einfacher als
das Kreditwesen. Jedes Geschäft, welches rentirt, hat Kredit, und das andre
hat keinen, und das ändert keine Reform und keine Organisation. Legen wir
heute, wie Amerika, auf Uhren einen Wertzoll von 50 Prozent, so wird jeder
tüchtige Uhrenarbeiter, der eine Uhrenfabrik gründen will, Kredit habe», bei
50 Pfennigen auf die Uhr aber keinen. Schützen wir die landwirtschaftlichen
Erzeugnisse so, daß ein Bauer, der 100 Mark Steuern bezahlt, 500 Mark
mehr verdient als bisher, so ist der ganze landwirtschaftliche Kredit ge¬
hoben. Heute aber hat fast kein Bauer mehr Kredit,- weil alle Welt weiß, daß
er nichts mehr verdient. Warum waren denn sonst die Bauern wohlhabend?
Weil sie geschützt waren, und zwar uicht durch einen geringen Zoll, sondern
durch einen sehr hohen, nämlich durch den Mangel an Dampfschiffen und
Eisenbahnen! Damals konnte der inländische Markt nicht mit fremden land¬
wirtschaftlichen Produkten überfüllt werden. Damit soll nicht gesagt sein, daß
nicht die neuern Verkehrsverhältnisse ein Segen seien, aber amerikanische Dampf¬
schiffe und russische Bahnen zahlen uns keine Steuern, sondern unsre Bauern,
und darum müssen sie geschützt werden.
Mit der Verminderung der Steuern ist garnichts gethan. Es ist schon
oben nachgewiesen, daß dem Bauer nicht nur der Betrag der Steuern, sondern
daß ihm viel mehr fehlt. So ist es aber allcrwiirts. Es ist ja sehr wohl¬
gethan, wenn man den untersten Klassen die Steuern erläßt, aber geholfen ist
ihnen damit nicht; denn dieselbe Ursache, welche ihnen das Bezahlen der Steuern
erschwert, erschwert ihnen überhaupt daS Bezahlen und somit die Befriedigung
ihrer Bedürfnisse, es ist der Mangel an Arbeit. Dadurch, daß wir immer
von der erdrückenden Last der Steuern, namentlich des Militärbudgets, sprechen,
verdecken wir die wahre Notlage. Nicht die Verausgabung des
Stenerbctrages ist das, was das deutsche Volk drückt, sondern der
Mangel einer weitaus größern Einnahme. Wenn heute die deutsche
Nation gar keine Steuern mehr zu zahlen hätte, so wäre ihr dennoch anrichten
geholfen. Nicht das, was sie an die Staatskasse, sondern das, was sie an's
Ausland bezahlt, bewirkt ihre Verarmung.
Obwohl die direkte Steuer die richtigste, weil natürlichste, ist, so ist sie doch
in einem armen Staate die härteste. Sie muß unter allen Umständen bezahlt
werden, nicht aber immer die indirekte. Die indirekten Steuern aber führen,
wenn sie hoch genug, wenn sie wirkliche Schutzzölle sind, am schnellsten zur
Ermöglichung der direkten Steuern. Bei 50 Pfennigen Zoll auf eine Uhr zahlt
jeder, der eine Uhr kauft, 50 Pfennige indirekte Steuern, und diese Steuer bleibt.
Bei 50 Prozent Wertzoll gehen in kurzer Zeit keine Uhren mehr vom Auslande
ein, es entwickelt sich im Lande eine Uhrenindustrie, die indirekte Steuer fällt
mit dem Wachsen dieser Industrie weg, sie wird zunächst der Staatskasse nichts
mehr einbringen, aber anch dem Konsumenten nicht mehr zur Last fallen, weil
die heimische Konkurrenz die Preise drückt. Aber der Industriezweig wird
steuerfähig geworden sein. Darum wenn die Zölle hoch genug siud, so
führen sie zur Steuerkraft des Landes, und dann sind direkte Steuern
am Platze.
Deutschland ist den sogenannten freihändlerischen Weg leider seit vielen,
vielen Jahren gegangen. Wehe aber denen, die es diesen Weg ferner führen,
er führt zu gänzlicher Verarmung, dann aber auch wieder zum politischen
Untergänge des deutschen Reiches. Gott bewahre es vor diesem Wege, ans dem
es nnr dahin kommen wiirdc, daß wir wieder singen müßten: Was ist deS Dent-
schen Vaterland?
user zweiter Aufsatz*) hat die Absicht, die Gesetze aufzuzeigen,
nach welchen die Rcgenbildnng im einzelnen sich vollzieht, und
sich über die Wetterprognose zu verbreiten. Was den letzter»
Punkt betrifft, so sind wir in Betreff des vergangenen Jahres
einigermaßen deprimirt. Die Prognose ist gar zu oft fehlge¬
schlagen, man ist zu deutlich darauf hingewiesen worden, das; die gegenwärtigen
Resultate noch sehr unvollkommene sind. Aber man ist doch auf dem richtigen
Wege, und das ist die Hauptsache. Ob freilich der von Professor KliukcrfueS
in Göttingen eingeschlagene der richtige ist, bezweifle ich.
Natürlich ist das Vorhandensein einer gewissen Fcuchtigkeitsmeuge in der
Luft die Voraussetzung des Regens. Wenn mau diese Feuchtigkeit messen kauu,
so hat mau — scheint es — einen Maßstab der Wahrscheinlichkeit des Regens.
Die Feuchtigkeitsmenge der Luft zu bestimmen ist aber nicht schwer und läßt
sich auf ganz direktem Wege bewerkstellige». Wir wenden dazu einen Blechkasten
an vou genau bekanntem Inhalte, etwa von ein zehntel Kubikmeter. Der Kastell
hat oben und unten Röhrenansätze, welche durch Messiughähne geschlossen sind.
Auf die obere Röhre paßt ein gleichfalls oben und unten offnes Glasgefäß.
In dasselbe werden Stücke von Chlorcalcium gelegt, einem Stoffe, welcher mit
großer Energie Wasser aufnimmt; das Gefäß wird gewogen und auf dem obern
Röhrenaufsatze befestigt, nachdem der Kasten mit Wasser oder besser noch mit
Öl gefüllt worden ist. Werden beide Hähne geöffnet, so fließt ein zehntel Kubik¬
meter Ol aus, der Raum füllt sich mit Luft, die Luft wiederum wird gezwungen,
das obere Glasgefüß zu Passiren und ihren Feuchtigkeitsgehalt abzugeben. Der
letztere wird durch die Wage festgestellt. Zum Beispiel: Das Glasgefäß hat vor
dem Experimente 150 Gramm gewogen, nach demselben wiegt es 160,25 Gramm.
Diese 0,25 Gramm sind die der Luft entzogenen Wasserdämpfe. Die Luft ent-
hielt also auf den Kubikmeter 2,5 Gramm Wasser. Und da wir das Experiment
bei 10 Grad Wärme vornahmen, so ergiebt sich eine relative Sättigung von
25 Prozent. Die Luft kann also noch 75 Prozent mehr Feuchtigkeit tragen,
ehe sie dieselbe niederzuschlagen gezwungen wird. Mau könnte also, wenn die
Luft nicht viel mehr Wasser enthält, als das Experiment nachweist, prognostiziren:
Es wird nicht regnen.
Für den praktischen Gebrauch ist aber dieses Verfahren nicht anwendbar.
Es ist viel zu umstündlich und zu teuer. Einfacher und doch von genügender
Sicherheit ist der Psychrometer, ein Apparat, der ans zwei feinen, völlig gleichen
Thermometern besteht. Das eine dieser Thermometer ist an der Quecksilberkugel
mit einem Stückchen Musselin umwunden und wird angefeuchtet, das andre bleibt
trocken. Da nun, wie wir schon sahen, bei der Verdunstung Wärme gebunden
wird, so sinkt die Temperatur des feuchten Thermometers, während die des
trocknen unverändert bleibt. Die Verdunstung aber und mithin auch die Tem-
peraturdifferenz ist umso größer, je geringer die vorhandene Feuchtigkeit der
Luft ist. Eben jetzt, während ich schreibe, ist gar keine Differenz zu beobachten,
die Luft trieft aber auch von Regen, während an warmen Sommertagen die
Differenz 7 Grad und darüber beträgt. Aus diesem Temperaturunterschiede
nnn läßt sich sowohl die absolute als auch die relative Feuchtigkeit der Luft
berechnen. Würde bei 20 Grad Wärme das trockne Thermometer 20 Grad,
das feuchte 16 Grad zeigen, so würde sich eine absolute Fenchtigkeitsmcnge von
14,9 Gramm auf den Kubikmeter Luft oder, wie man es gewöhnlich ausdrückt,
14,9 Millimeter Dunstdruck und 67 Prozent Feuchtigkeitsgehalt ergeben.
Noch einfacher, wenn auch von geringerer Sicherheit, ist das von KliukerfncS
eingeführte Hygrometer. Es beruht aus der Eigenschaft enger Räume, Wasser
aufzusaugen, wobei die Struktur des hhgrometrischen Körpers verändert wird.
Der bekannteste derartige Apparat ist das Wetterhäuschen mit den zwei Thüren,
aus welchen je nach dem Feuchtigkeitsgehalte der Luft und seiner Einwirkung
auf el» Stück Darmsaite das Männlein oder das Frünlein heraustritt. Klinker-
fues wendet als wasserempfindlichen Stoff entfettete Haare an. durch welche ein
Zeiger bewegt wird. Auf diese Weise können die Feuchtigkeitsprvzente direkt
abgelesen werden.
Der beobachtende Leser wird sich erinnern, daß die Klinkerfuesschcn Prognosen
von konsequenten Mißgeschick verfolgt waren. Mir ist es ebenso gegangen, so¬
lange ich glaubte, mit dem Hygrometer arbeiten zu tonnen. Die Mängel des
Apparates liegeu jedoch auf der Hand. Sie geben den Feuchtigkeitszustand der
unmittelbar über dem Erdboden liegenden Luftschicht an, nicht den jener Höhen,
aus denen der Regen kommt. Liegt der Beobachtungsort in einem Flußthale,
so kann es geschehen, daß das Instrument Sättigung anzeigt, die auch wirklich
im Thale vorhanden ist, während die Luft relativ trocken ist. Aber auch bei
günstiger Lage irrt das Hygrometer leicht, weil Temperatur und Scittigungs-
grad bei aufsteigender Höhe schnell wechseln. Ich habe deshalb die Feuchtigkeits¬
zahlen seit Jahr und Tag ans meinen Wetterberichte» entfernt und freue mich,
daß H, I, Klein in seiner „Allgemeinen Witternngsknude"") rät: „Der Prat
tiker in der Wetterprognose soll sich »in die relative Feuchtigkeit der Luft
garnicht kümmern, und es ist überhaupt zu bedauern, daß sie in den Wetter¬
berichte» noch mitgeschleppt wird.""") Statt dessen schlägt Kiel» die A»we»d»»g
des Spektroskops vor.
Ich darf wohl als bekannt voraussetze», daß die Fraueuhoferscheu Linien
des Svnncnspcttrums von Dämpfen herrühren, welche gewisse Lichtstrahle» des
dnrch sie hindnrchlenchtcndc» Souucninner» absorbiren. Doch waren auch einige
zwischen den Linien <ü und I) gelegne Linien als terrestrische bekannt. Man
wußte, daß sie dnrch die Wasserdämpfe der L»se entstehen und umso lebhafter
hervortrete», je gesättigter die Luft ist. Kiel» schlägt nach dem Vorgange vo»
Piazzi Smith die Beobachtung dieser Linien als Regenprophete» vor und teilt
als sichere Erfahrung mit: „Sind die Rcgcnlinien schwach und fein, so ist i»
den nächste» Stunde» kein Regen zu erwarten, siud sie aber sehr dunkel, breit
und verwaschen und fast der D-Linie gleich, so kann man mit großer Sicher¬
heit auf Regen schließen, der in spätestens vier bis sechs Stunden eintreten
wird. Nur bisweilen setzt dieser Regen aus, bei weitem in den meisten Füllen
bietet das Spektroskop eine große Sicherheit in seinen Regcnanzeigen." Jeden¬
falls hat der Apparat vor den vorhergenannten den Vorzug, daß man mit
ihm den Wassergehalt der obern, regenbringenden Schichten prüft.
Die gegenwärtige Meteorologie richtet ihr Augenmerk in erster Linie auf
die Schwereverhültnisse der Luft und auf die infolge dessen entstehende» Strö¬
mungen. Um im kleinen ein Vorbild dessen zu finden, was täglich im großen
stattfindet, brauche ich nicht weit zu schauen. Vor mir steht die Lampe. Die
Luft über meinem Schreibtische ist mit einigem Tabaksrauche gemischt, was den
Vorteil bietet, daß man ihren Gang beobachten kann. Ich sehe, daß sie von
allen Seiten der Lampenglocke zuzieht, in derselben aufsteigt, so an die Decke
gelangt lind dort sich wieder ausbreitet. Die Erwärmung der Luft war die
Ursache der Bewegung gewesen. Die durch die Erwärmung leichter gewordene
Luft war emporgestiegen, während die benachbarte Luft in den aufgelockerten
Raum eindrang. Leider hält der Tabaksrauch nicht lange genug vor, um be¬
obachten zu können, daß die erwärmte Luft sich unter der Decke ausbreitet und
in einiger Entfernung niedersteigt, um zur Lampe zurückzukehren und den Kreis-
lauf zu erneuern. Deutlicher läßt sich der Vorgang im Winter an einem ge¬
heizten Zimmer erkennen, wenn es ein wenig „raucht." Die Luft steigt vom
Ofen an die Decke, wandert unter derselben bis zum Fenster, sinkt dort nieder
und kehrt am Boden sich ausbreitend zum Ofen zurück.
Was sich hier im kleinen beobachte» läßt, geschieht nun auch im großen
überall da, wo die gleichen Voraussetzungen vorhanden sind. Über einem stark
erwärmten Lande oder Erdteile steigt die Luft in kräftigem Strome aufwärts
und zieht die benachbarten Regionen in das aufgelockerte Gebiet hinein, während
sie selbst sich abkühlend an andrer Stelle wieder niedersteigt. Da nun die Luft
sich in der Gegend des Äquators am lebhaftesten erwärmt, so findet die eben
beschriebene Erscheinung im Äquatorialgürtel um die ganze Erde herum statt.
Ich bitte einen Atlas aufzuschlagen, in welchem die Luft- (und Meeres-) Strö¬
mungen eingezeichnet sind. Eine solche Karte zeigt nördlich vom Äquator einen
Gürtel, welcher die Inschrift: Region der Calmen (Windstillen) trägt. Das ist
diejenige, je nach der Jahreszeit nördlicher oder südlicher rückende Zone, in
der die stark erwärmte Luft aufsteigt. Nur wagerechte Luftströme werden als
Wind empfunden, die aufsteigende Luft ist still. Nördlich und südlich reihen sich
die Regionen der Passate an, jener Luftströme, welche nördlich und südlich herau¬
sließen, »in den leerer gewordenen Raum der Calmen wieder auszufüllen, erwärmt
zu werden, aufzusteigen und sich dem Kreislaufe anzuschließen. Hier haben wir
also einen oder vielmehr zwei völlig geschlossene Kreise. Die Richtung derselben
würde, wenn die Erde stille stünde, eine genau nordsüdliche sein. Da sich die
Erde jedoch von Westen nach Osten dreht und die auf ihr befindlichen Gegenstände,
anch die Luft, diesen Weg mitmachen, so kommt die von Norden nach Süden strö¬
mende Luft aus Gegenden von langsamerer in solche von schnellerer Bewegung,
bleibt also zurück und wandelt dadurch ihre im Grunde nördliche Richtung
in eine solche, die als Nordost empfunden wird. Dasselbe gilt in seiner Weise
auch von der südlichen Halbkugel, die ich im folgenden außer Acht lassen will.
Aber auch die Kugelgestalt der Erde trägt zu diesem Kreislaufe bei. Wäre
die Erde ein Zylinder, so könnte die obere Luftschicht trotz ihrer Abkühlung bis
zu deu Polen fließen, ohne zum Niedersteigen gezwungen zu werden. Da aber
die Erde eine Kugelgestalt hat, so werden die nach Norden fließenden Ströme in
ihrem Laufe begrenzt, stauen sich und bilden gleichsam einen Luftberg, der über
der Atmosphäre lastet, nach unter drängt und nördlich und südlich an der Erd¬
oberfläche auseinanderfließt, südlich als der schon erwähnte regenlose Nordostpassat,
nördlich als ein außertropischer Regenwiud. Dieser Vorgang findet etwa bei 30 Grad
Breite statt, so jedoch, daß sämtliche Zonen mit der Sonne nördlich und südlich
wandern. Das Klima von Südeuropa hängt von diesen Vorgängen ab. Spanien,
sowie die Küstenländer des mittelländischen Meeres befinden sich im Sommer
im Bereiche des regenlosen Nordostpassates, während wir vorübergehend die
Niederschläge der subtropischen Regenzone zu kosten bekommen; im Winter rückt
die Nordgrenze des Passates bis ins Innere der Sahara, und Italien, Spanien,
Algier und Syrien erhalten ihre Winterregen. Wenn wir also erfahrungsmäßig
im Juli und August unsere Negcnperiodc haben, so können wir uns damit trösten,
daß die gleiche Erscheinung rings um die Erde herum stattfindet, wo nicht aus¬
gedehnte Kontinente und hohe Randgebirge den Regen abfangen.
Untersuchen wir die eben beschriebenen Vorgänge mit dem Barometer in
der Hand, den wir für einen Luftschwercmesser und für nichts andres, am aller¬
wenigsten sür ein Wetterglas anzusehen haben, so finden wir unsre Theorie
vollauf bestätigt. Unter dem Äquator in dem Gebiete aufsteigender Luft herrscht
tiefer Barometerstand; diesen gelockerten, aufsteigenden, leichter gewordenen Zu¬
stand der Luft, nicht den zugleich fallenden Regen, zeigt das Barometer an. Bis
zum 30. Grade nimmt der Luftdruck, wie es das Barometer anzeigt, zu, bis
er zwischen dem 30. und 40. Grade sein Maximum erreicht. Dies ist der Gürtel
der kumulirten, niedersteigenden Luftmasse.
Von dieser Grenze an verliert die Witterungserscheinnng ihren regelmäßigen
Charakter. In deu höheren Luftschichten findet auch nördlich vom 40. Grade
eine konstante südwestliche Strömung statt; auch Stauungen treten ein, da ja
der Raum sich fortgesetzt einengt, je weiter die Strömung nach Norden gelaugt.
Aber diese Maxima des Luftdruckes kommen und gehen und sind in ihrem Auf¬
treten offenbar abhängig von dem jetzt übermächtigen Einflusse der Temperatur-
unterschiede von Wasser und Land. In Asien durchbricht, wie ich im ersten
Aufsätze zeigte, dies Verhältnis den vorhin geschilderte» Zug der Passate
vollständig. Vom April bis zum September weht im Indischen Ozean ein Süd¬
westwind auf den stark erwärmten Kontinent zu, vom Oktober bis zum März
weht Nordostwind von dem Kontinente auf den wärmer gebliebenen Ozean zu.
Auch an den Küsten von Afrika und Südamerika macht sich neben dem Passat
der Monsnmwind geltend, und zwar an einzelnen Küsten nicht allein in jährlichen,
sondern auch in täglichen Perioden. Nachts weht Landwind, Tags Seewind.
Zur Zeit des Windwechsels treten mit großer Regelmäßigkeit Gewitter ans, man
pflegt dort — ich denke an einige Küstenstädte Brasiliens — einzuladen „zu
einer Tasse Chokolade vor dein Gewitter" oder „zu einem Spaziergang nach
dem Gewitter," und kann annehmen, daß das Gewitter vielleicht pünktlicher ist
als der Gast.
An der Grenze dieser Monsumgebiete im Australische», Chinesischen und
Westindischen Meere finden wir den Schauplatz der schwersten Orkane, die wir
als Prallwinde bezeichnen können. Denn es ist ihnen eigentümlich, daß sie zur
Zeit des Monsumwechsels eintreten, also zu einer Zeit und in einem Gebiete,
wo große, in ihrem Flusse abgelenkte Luftmeere anfeinanderpressen. Was will
die gepreßte Luft anfangen? Sie fliegt, indem sie gewaltige Regenmassen stürzen
läßt, in wirbelnder Wut nach oben und fließt in den obern Regionen dahin
ab, wo sie Raum findet.
Daß auch in unsern Breiten der Monsumcharakter der Witterung zur Geltung
kommt, haben wir in den Augusttagen vorigen Jahres erfahren können. Man
erinnert sich der kolossalen Hitze, die der Regenperiode in der Erntezeit voraus¬
ging. Durch dieselbe wurde das Luftmeer über Deutschland, Ungarn und West¬
rußland bedeutend gelockert. In letzterem Bezirke war die Hitze sogar am größten.
Während nun die erhitzte Luft emporstieg und in obern Schichten abfloß, bildete
sich eine Druckdifferenz zwischen der Luft über dem nordatlantischen Meere und
dem Festlande Europas heraus. Die Ausgleichung derselben fand durch einen
anderthalbe Woche dauernden regengesättigten, quer durch Deutschland ziehende!!
Nordwind, einen richtigen Monsun, statt, welcher erstarb, nachdem Plus und
Minus des Druckes sich ausgeglichen hatten.
Aus dein Zusammenwirken der verschiedensten Faktoren der Wärme und
Druckdifferenz über Land und Meer, sowie den großen tellurischen Strömungen
entspringt in unsern Breiten ein Witterungscharakter, den man regellos nennen
möchte. Wenigstens haben die längsten Beobachtungsreihen zu einem Gesetze der
Witterung nicht geführt. Erst nachdem man anfing, das gleichzeitige Wetter¬
bild größerer Gebiete zu beobachten, fand sich Regel und Gesetz. Nehmen wir
einmal irgend ein altes Zeitungsblatt in die Hand, etwa das vom 14. Oktober
des Jahres 1881. Wenn wir da die Windrichtungen der Witternngsmitteilung der
Secwarte lesen, so zeigt sich, daß nicht weniger als sämtliche Winde zugleich wehen;
in Nordirland aus Norden, in Schottland aus Nordosten, im Kanal aus Westen,
an der Küste der Nordsee aus Südwesten, in Magdeburg aus Süden, in Sylt
aus Südosten. Aber die scheinbare Regellosigkeit verliert sich, sobald wir die
Richtungen in eine Karte eintragen. Da zeigt sich deutlich, daß die Winde im
Kreise herumjagen, geradeso als ob sie im Bogen auf einen gemeinsamen Mittel¬
punkt zuliefen. Vergleichen wir mit dieser Lage die Barometerstände, so zeigt
sich, daß dieser imaginäre Mittelpunkt den tiefsten Stand hat. Am 14. Oktober
1881 lag dies Zentrum über Shiclds in England und zeigte den abnorm niedrigen
Stand von 725 Millimetern. Ringsherum nahm der Barometerstand zu und
betrug in Cork, Münster und Sylt 745 Millimeter, in Brest, Leipzig, Warschau 755,
in Bordeaux, Nizza und Trieft 760 Millimeter. Werden die Orte gleicher Baro¬
meterhöhe mit Linien verbunden — sogenannten Isobaren —, so entstehen kon¬
zentrische Kreise. Der Ort niedrigsten Standes wird durch deu innersten Kreis
bezeichnet und barometrisches Minimum genannt. Der Leser erinnert sich, in
den Wetterkarten der Tageszeitungen häufig derartige Zeichnungen gesehen und
in dem begleitenden Texte gelesen zu haben, daß das Minimum etwa östlich bis
Jütland oder nordöstlich bis Finnland vorgeschritten sei. Am 14. Oktober 1881
früh 8 Uhr lag es über dem mittleren England, umkreist von Winden, die im
Südosten, Westen und Nordwesten mit der Heftigkeit des Sturmes auftraten,
während im Innern nur mäßige Bewegung herrschte. Seinen Einfluß hatte
der Wirbel bereits bis Magdeburg ausgedehnt, wo sich die Luft bei Südwind
und Regen dem Ringeltcinzc anzuschließen begann, während Leipzig »och unbe¬
rührt war. Man sieht: Der Wind bläst nicht, er fließt. Die Ursache
seines Wesens liegt nicht dort, wo er herkommt, sondern da, wo er
hinfließt.
Unsre Karte zeigt uns ferner, daß der ganze Südosten des Wirbels, also
da, wo südwestliche Winde wehen, in Regen eingehüllt ist, während Aberdeen im
Norden keine Bewölkung und Irland im Westen desselben geringe Bewölkung
hat. Unsre Karte zeigt uns endlich vor dem Wirbel Temperaturen von 11 bis
13, hinter demselben solche von 6 Grad und darunter.
Was schließen wir aus alledem für die Wetterprognose? Garnichts, wenn
der Wirbel feststeht. Wenn er jedoch etwa nach Osten fortrücken sollte, würden
wir den östlich gelegenen Orten eine ganze Reihe von Witterungserscheiuungcn
voraussagen können. Wir würden z. B. für Sylt, welches am 14. Oktober 1881
mäßig Südostwind und Regen hatte, voraussagen: Der Wind wird nach Westen
herumgehen und bei fortgesetztem Regen zum Sturme werden. Später wird bei
iwrdwestlichem, immer noch starkem Winde die Temperatur abnehmen und der
Himmel uuter einzelnen Regenböen sich aufklären. Dies alles unter der Voraus¬
setzung, daß der Wirbel innerhalb vierundzwanzig Stunden über die Nordsee hinüber
gewandert ist.
Dies geschah nun auch wirklich. Am 16. Oktober lag der Mittelpunkt des
Wirbels über Südschweden, indem er über ganz Norddeutschland Wcststurm
verursachte und seinen Einfluß in kräftiger südwestlicher Strömung bis zu den
Alpen ausdehnte. Das Regengebiet, welches am Tage zuvor bis nach Magde¬
burg reichte, war bis Memel vorgeschritten. Auf der Rückseite des Cyklon er¬
blicken wir fast nur mit Fragezeichen bezeichnete Wetterstationen und erkennen
darin die Verwüstung, die der Sturm an den Telegraphenstangen angerichtet
hat. Wir sehen aber auch, daß nur die südliche Seite der Depression Sturm«
hatte, während die östliche und nördliche Seite von schwachen Winden umkreist
wurden, womit übereinstimmt, daß diese südliche Seite enggedrängte, die nörd¬
liche weitere Isobaren hatte. Stellen wir uns die Situation landkartenartig
vor, derart, daß die Isobaren als Höhenlinien betrachtet werden, so haben wir
ein aus Luft gebildetes Kesseltiefland vor uns, dessen Randerhebung südlich steil,
nördlich flach ist, und von dessen Höhen südlich reißende Sturzbäche, nördlich
langsame Strömung herabfließen.
Der Leser begreift, daß mit dem Kommen und Gehen dieser Depressionen
der Witteruugscharakter aufs engste zusammenhängt, daß aber zugleich hiermit
die Elemente der Voraussage gegeben wären, wenn nur Richtung und Schnellig¬
keit sich einigermaßen sicher vorhersehen ließen. Dies ist nnn aber leider keines¬
wegs der Fall. Die Depressionen sind, was Zunahme und Abnahme ihrer
Stärke, Richtung und Schnelligkeit betrifft, von ganz unberechenbaren Launen.
Jetzt macht sich z. B. ein Minimum westlich von Irland bemerkbar; man er-
wartet es für den nächsten Tag über England oder der Nordsee, aber es hat
vorgezogen, einen Tag lang stillzustehen, um um statt nach Osten nach Norden
abzuziehen. Ein andres/das kaum merkbar über Frankreich sich ausbildete,
marschirt in vierundzwanzig Stunden bis zum schwarzen Meere, während eine
gleichzeitige nördlichere Depression sich Tage lang über der Nordsee herumtreibt.
Solche Unberechenbarkeiten verursachen der Prognose große Schwierigkeiten, die
noch wachsen, wenn die Gebiete niederen Druckes sich nicht völlig zu Cyklonen
ausbilden, sondern als Furchen, Zunge» oder breite Flächen auftreten. Ju solchen
Fällen ist die Voraussage viel mehr auf die Verwertung praktischer Erfahrungen
und eiuen gewissen meteorologischen Takt als auf die Anwendung bestimmter
Witterungsgesetze angewiesen.
Dennoch läßt sich im Kommen und Gehen der Depressionen eine gewisse
Gesetzmäßigkeit wahrnehmen. Sie haben gewisse Zugstraßeu, die sie mit Vor¬
liebe freqnentiren. Diese Straßen beginnen für uns sichtbar zu werden in dem
Raume vom Viskayischen Meere bis zu deu Hebriden und pflegen entweder
über die nördliche Nordsee ins Eismeer oder quer über die skandinavische Halb¬
insel oder längs der Küste von Nord- und Ostsee zu leiten. In das Innere
des Festlandes kommt eine Hauptdeprcssivn selten. Doch bilden sich am Rande
der Hauptdepression auch häufig sekundäre Minima; diese statten uns speziellen
Besuch ab und bringen Gewitter und Regen vollauf. Eine in deu Winter-
monaten nicht selten besuchte Straße führt durch Spanien oder Südfrankreich
und die Lombardei nach der Balkanhalbinsel, sie geht also südlich von uns
dnrch und verursacht über Italien schwere Regenfälle, während wir die Winde
der Nordseite, Frost und rauhes Wetter zu kosten bekommen. Oder eine über
dem mittelländischen Meere ausgebildete Depression zieht nördlich quer durch
Deutschland. Bei solcher Gelegenheit giebt es im Winter die heftigsten Schnee-
stürme. Vor allem wird der Meteorologe aus der Gruppirung der Winde, der
Barometerstände und dem bereits beobachteten Vorrücken deu Weg zu erraten
haben und darnach seine Voraussage einrichten.
Es hat sich gezeigt, daß die barometrischen Minima, sobald sie westlich von
Irland oder von Schweden Land treffen, zögernd stehen bleiben, auch an Kraft
verlieren und langsamer vorschreiten. Hierbei werden namentlich im Winter
erhebliche Mengen von Regen, bez. Schnee niedergeworfen, und wir verdanken
beide Rheinüberschwemmungen der eben geschilderten Witterungserscheinung.
Aus alledem ist zu ersehe», daß die Ursache ihres Wciterschreitens und
ihrer Zugrichtung im Feuchtigkeitsgehalte der Luft fliegt. Diese Feuchtigkeit
stürzt als Regen nieder, und in den leeren Raum tritt gleichsam das Minimum
ein, um die gleiche Ursache weiter vorwärts zu tragen. Es ist auch vielfach
ersichtlich, daß Minima an der Grenze von verschieden erwärmten Luftmeeren
entlang ziehen und eine Ausgleichung herbeiführen. Man könnte den Vorgang
mit der Arbeit einer Mähmaschine vergleichen, welche das links stehende Korn
erfaßt, im Bogen hcrnmnimmt und nach rechts ablegt. So nimmt der Luft¬
wirbel der Depressiv» den südwestlichen Strom, hebt ihn empor und wirft ihn
gleichsam über die Achsel hinter sich, sodaß er in höhern Regionen als Südost
abfließt, eventuell mit dem in tieferer Schicht strömenden kälteren Nordwest in Be¬
rührung tretend das bekannte aus der Regeuecke oder dem „Negenlvche," oder
wie die Gegend sonst lokal benannt wird, abscheuliche ans Regen oder Schnee-
schaner» bestehende Unwetter bildet. Umgekehrt wird der die Rückseite umkreisende
kalte Nordoststrom durch denselben Wirbel emporgehoben und i» hohen Luft¬
regionen als Nordwest entlassen.
Das eben ausgesprochene kann natürlich nur für eine Vermutung gelten,
da wir — was im Interesse der Meteorologie sehr zu bedauern ist — über
die Vorgänge in den höheren Luftregionen keine Kenntnis haben und nur von
Luftschiffer« erfahren, daß in denselben sehr mannichfaltige, der Luftbewegung
an der Erdoberfläche entgegengesetzte Strömungen herrschen. Nur ein Zeichen
hat man, welches Schlüsse auf den Zustand der obern Regionen zu machen
gestattet; es ist die Gestalt und der Zug der bereits erwähnten Cirrnswolken.
Nach der eben ausgeführten Hypothese muß beim Herannahen einer Depression
Südwestwind in den tiefen, Nordwestwind in den hohen Regionen herrschen,
letzterer müßte an dem Zuge von federartig gestalteten leichten Schleiern zu
erkennen sein, ersterer müßte Trübung der Luft am Horizonte und eine auf¬
steigende Wolkenbank mitbringen. Dies ist auch genau so der Fall, und die
Erscheinung ist unter dem Namen Wetterbaum allgemein bekannt. Wenn die
Vomusbcrechnung von Schnelligkeit und Richtung einer Depression immer eine
prekäre Sache bleibt, so haben wir vom Eintreffen derselben ganz sichere Vor¬
zeichen im Auftreten der eben geschilderten Merkmale,
Nach dem Wetterkanou der barometrischen Minima müßte also der Ver¬
lauf folgender heim Fallendes Barometer, Südost- bis Südwestwind und
Regen; steigendes Barometer, West- bis Nordwestwind und hell werdender
Himmel bei sinkender Temperatur, Diese Ordnung trifft auch zu für England,
Skandinavien und die deutschen Küstenländer. Für das deutsche Binnenland ist
sie nicht zutreffend; wir erhalten die meisten Niederschlüge bei steigendem Baro¬
meter und nordwestlichen Winde, Dies hat seinen Grund darin, daß der Regen,
welchen die südwestliche» Winde bringen, von dem weitgedehnten Vorlande ab¬
gefangen wird, und daß für uns die Nordsee die ergiebigste Regenquelle ist.
Diese nordwestlichen Winde gelangen aber zu uns, wenn die Depression bereits
vorüber ist und das Barometer zu steigen anfängt. Wie oft wird auf das Ba¬
rometer gescholten und ihm vorgeworfen, daß es falsch zeige! Man sieht, wie
ungerecht das ist.
Nicht selten aber auch verläuft der ganze mehrfach geschilderte Prozeß in
rapider Weise, der Wind springt förmlich herum, und Regen und Sonnenschein
folgen einander in wenigen Stunden. Dies geschieht, wenn sich, wie schon oben
erwähnt, am Rande einer größern Depression ein Teilminimum misgebildet hat,
»ut es ist die Aufgabe der Wetterprognose, das Entstehen dieser Teilmiuima
zu überwachen und die etwaigen Folgen in Rechnung zu ziehen. Solche noch
unfertige oder unregelmäßig gebildete Minima zeigen sich ans der Isobaren¬
karte als Schlingen oder Ausbuchtungen.
Übrigens erhalten wir die stärksten Niederschlage nicht beim Auftreten
tiefer Minima, vielmehr ist auf Regen zu rechnen, wenn sich eine flache De¬
pression, das heißt eine solche, welche von ihrem Rande bis zur Mitte nur
wenige Millimeter Unterschied zeigt, über dem Festlande ausgebreitet hat. Wie
diese allgemeinen Verhältnisse sich nach Berg und Thal, trocknem und nassem
Lande modcrire», ist schon früher gezeigt worden.
Dem barometrischen Minimum steht gegenüber das barometrische Maximum,
ein Zustand, in welchem die Luft an einem bestimmten Orte aufgehäuft ist. Das
Barometer steht an einem solchen Orte hoch, und die Winde strahlen von
ihm nach allen Seiten anseinnnder. Bei einem barometrischen Maximum
liegt die Ursache des Windes da, wo er herkommt. Da hierbei selten Nieder¬
schläge vorkommen, solche Regionen sich vielmehr durch Trockenheit und klare
Kälte im Winter, wie Hitze im Sommer auszeichnen und wir vom Regen handeln,
so unterlasse ich es, auf dies Kapitel näher einzugehen.
Nun liegt die Frage nahe: Welches ist der Grund des Auftretens der
Maxima und Minima? Warum nehmen sie hente die, morgen eine andre Bahn?
Wovon hängt überhaupt der Witteruugscharakter eines Jahres ab? Warum
haben wir im Winter 1882 kaum eine Flocke Schnee gehabt und seitdem diese
abnormen Regenmassen? Eine Antwort ist auf diese Fragen nicht zu geben.
Die Meteorologen erwarten eine Beantwortung dieser Fragen von einer genauen
Erforschung des Polargebietes. Auch das vergangene, regelwidrig verlaufene
Jahr macht plausibel, daß Verschiebungen der Kältepole auf Niederschläge und
deu allgemeinen Witteruugscharakter bis zur subtropischen Region hin ihren
Einfluß geltend machen. Auch die Verhältnisse des Nord- und Südpoles müsse»
mit einander in Verbindung stehen. Wenigstens ist es ziemlich auffallend, daß,
während in diesem Jahre unsre arktischen Meere mit Eis vollgepackt sind uudHapa-
rauda zeitig große Kältegrade gehabt hat, in Australien, also gerade dem Gebiete
der Antipoden, in diesem Sommer — dort dem Winter — Schnee gefallen ist.
Das ist für Australien ein ganz außerordentliches Vorkommnis. Es könnte sein,
was dnrch weitere Untersuchungen festgestellt werden müßte, daß durch die
Verschiebung allgemein tellurischer Verhältnisse unser Witteruugscharakter be¬
stimmt wird.
Inzwischen müssen wir uns begnügen mit dem, was auf unserm Beobachtungs-
gebiete verstanden und vorausgesagt werden kann, und das ist in diesem un¬
günstigen Jahre immer noch eine Zahl von 70 bis 80 Prozent richtigen Vor¬
aussagen. Das Publikum weiß nur noch nicht recht, was es mit den täglichen
Witterungsprognosen anfangen soll; es mißversteht sie und unterläßt es meist,
die allgemeine Prognose der Hamburger Seewarte, welche ganz Mitteleuropa
umfaßt, zu lotalisiren. Natürlich muß ein von der Wetterwarte vorausgesagter
Regen zu andrer Zeit und andrer Weise auftreten, je nachdem die Lokalbeobachtnng
in Köln oder München oder Breslau stattfindet.
Hier fehlt es noch an einer genügenden Organisation. Es scheint, als
sollten die politischen Nöte, aus denen wir Deutschen nun einmal nicht heraus¬
kommen, auch nach der Richtung des Wetterdienstes von übeln Einflüsse sei».
Schon seit Jahren wird im preußischen Abgeordnetenhaus? wie auch im Reichs¬
tage auf eine Organisation des Wetterdienstes gedrängt, aber ohne Erfolg. Die
Reservatrechte der Mittelstaatcn in Bezug auf den Post- und Telegraphendienst
haben es verhindert, daß der Plan ernstlich in die Hand genommen wurde.
Sodann hat man es aber auch in Preußen überhaupt nicht allzueilig, Geld
auszugeben für Dinge, deren praktischer Nutzen noch nicht zahlenmäßig fest¬
steht. Man hofft, daß die gegenwärtigen Überschwemmungen die Sache in Fluß
bringen werden; ich glaube es nicht, denn in der That würde eine Organisation
des Wetterdienstes solche Ereignisse weder voraussagen noch abwenden können.
Kleinere Staaten wie Sachsen sind dem größer» Nachbar mit gutem Bei¬
spiele vorausgegangen. In Preußen, besonders in der Provinz Sachsen ist auf An¬
regung der MagdebnrgischenZeituug ein landwirtschaftlicher meteorologischer Verein
ins Leben getreten. Ob freilich mit den Kräften von Privatleuten eine große
Organisation für die Dauer aufrecht erhalten werden kann, scheint zweifelhaft,
umsomehr, als man in den weitern Kreisen von dem direkten praktischen Werte
der Wetterbeobachtungen noch sehr unzutreffende Vorstellungen hat. Ihr Wert
wird entweder überschätzt, worauf dann die Enttäuschung nicht ausbleiben kann,
oder, wie oben gezeigt, man versteht nicht die allgemeine Prognose zu lotalisiren.
Es fehlt gewiß nicht in jedem Zentrum einer Provinz an einem unterrichteten
Manne, welcher es übernehmen würde, die allgemeine Prognose zu individuali-
siren; es kommt nur darauf an, eine möglichst allgemeine und schnelle Ver¬
breitung zu verschaffen. Man ist hierbei zunächst noch auf die Presse an¬
gewiesen; es müßte möglich sein, daß auch Lokalblätter die bekannten Wetterbild¬
karten bringen und mit einer erläuternden Bemerkung versehen. Bisher haben
nur wenige große Blätter das Opfer gebracht, Karten herstellen zu lassen, von
denen die meisten recht gut sind, diejenige des größten Neklameblattes in
Deutschland sehr schlecht ist.
le Geschichte des Egmont grenzt stofflich nahe an den Götz, und
es ist wohl möglich, daß Goethe bei Gelegenheit seiner Quellen¬
studien zum Götz auch der Geschichte des Abfalls der vereinigten
Niederlande seine Aufmerksamkeit zugewandt hat. Ans Nieder¬
schreiben ging er jedoch erst im Herbst 1776, um die fürchterliche
Lücke auszufüllen, welche ihn von Lilli trennte. Doch schrieb er das Stück
nicht, wie den ersten Götz, in einem Zuge, in Reih und Folge nieder; sondern,
wie in „Dichtung und Wahrheit" erzählt wird, griff er „nach der ersten Ein¬
leitung sogleich die Hauptszcuc an, ohne sich um die allenfalsigen Verbindungen
zu kümmern." Sein Vater, der das so leicht entstehende auch leicht vollendet
zu sehen glaubte, spornte ihn Tag und Nacht zur Arbeit. In der Unruhe, mit
welcher er der Ankunft des Wagens entgegensah, der ihn nach Weimar bringen
sollte, aber unverhältnismäßig lange ausblieb, schrieb er an dem Stücke weiter
und brachte es — dank dem Beifall des Vaters, der das Stück vollendet und
gedruckt zu sehen wünschte, weil er hoffte, daß der gute Ruf seines Sohnes
dadurch vermehrt werden würde — beinahe zu Ende, Aber die Unruhe, welche
dem Stücke anfangs zu Gute gekommen war und den Dichter warm gehalten
hatte, vermehrte sich und hinderte zuletzt die Arbeit, sodaß das Schauspiel,
noch ehe Goethe nach Weimar ging, liegen blieb.
Diese äußern Daten geben uns in der That einige Anhaltepunkte über
die noch in Frankfurt vollendeten Teile des Gedichts. Da Goethe sagt, er habe
das Stück beinahe zustande gebracht, so dürfen wir wohl annehmen, daß es
bis in den vierten Akt, aber nicht fortlaufend, geschrieben war. Dieser Akt
enthält ja auch die Hauptszene (zwischen Egmont und Alba), welche er sogleich
nach der Einleitung in Angriff nahm; und unter dem Namen der ersten Szene
wird das Stück bereits im Gothaischen Theaterkalender ans 1777 u, f. erwähnt,
wo es „Das Vogelschießen von Brüssel" oder „Die Vogelwiese" genannt wird.
Aus der zweite» Szene zitirt Goethe an Frau von Stein (Januar 1776):
„Geht mir auch wie Margreten v, Parma: Ich sehe viel voraus, das ich nicht
ändern kann."
Als Goethe den Egmont im Dezember 1778 wieder in Angriff nahm,
wandte er sich zunächst den Lücken zu, welche er in der Verbindung der Szenen
gelassen hatte. Er schrieb laut seinem Tagebuche am 5, Dezember 1778 die
Szene zwischen Alba und seinem Sohne, am 13, früh den Monolog Aldas.
Dann aber bleibt er, wie das erstemal und mich späterhin, im vierten Akte
stecken, offenbar bei der Szene zwischen Egmont und Alba, welche geändert
werden mußte. Es ist kein Zufall, daß Goethe gerade hier, wo er um wenigsten
aus seinem Innern schöpfen konnte, wo mit der Person Aldas die historische
Tragödie in ihre Rechte trat, immer wieder ins Stocken gerät. Erst nach der
Ausführung der Iphigenie geht Goethe abermals daran! im Mai 1779 rückt
Egmont, und noch am 23. Juni schreibt er eine Szene am Egmont — wieder
bleibt das Stück im vierten Akte liegen, Tasso »ut Elpenor treten dazwischen.
Im Dezember 1781 nimmt Goethe die Arbeit bei dem fatalen vierten Akte,
den er hasse und notwendig umschreiben müsse, und ohne den er mit diesem
Jahre auch dieses lang vertrödelte Stück beschließen zu können meinte, wieder
auf. Nochmals stockt es hier; erst im März 1782 geht er wieder daran und
hofft ihn endlich zu bezwingen; freilich werde es langsamer gehen, als er an¬
fangs gedacht habe. Über die Art der Änderungen und das, was ihm an dem
ersten Entwürfe mißfiel, spricht er sich jetzt folgendermaßen aus: „Es ist ein
wunderbares Stück. Wenn ichs noch zu schreiben hätte, schrieb ich es anders
und vielleicht gar nicht. Da es nun aber da steht, mag es stehn; ich will nur
das allzu aufgeknöpfte, studentcnhafte der Manier zu tilgen suchen, das der
Würde des Gegenstandes widerspricht." Erst am 5. Mai schickt Goethe die
Dichtung in dieser zweiten Redaktion an die Tochter Mösers, mit der aus¬
drücklichen Versicherung, der Versuch sei vor einigen Jahren gemacht worden,
und er habe seit der Zeit nicht so viel Muße gefunden, um das Stück so zu
bearbeiten, wie es wohl sein sollte.
Erst zwölf Jahre nach dem ersten Anfange nimmt Goethe den Egmont in
Italien von neuem vor und führt ihn zu Ende. Es ist eigentümlich, Goethes
Äußerungen über diese Arbeit während der italienischen Reise zu lesen.
Während er die Iphigenie lind den Tasso nur als eine Mühe und eine Plage
empfindet, fühlt er sich während der Arbeit am Egmont ordentlich wieder jung,
alles geht ihm von der Hand, und manchmal kommt ein Hauch der Jugendzeit
ihn wieder anzuwehen. Er ist voll guter Hoffnung, das Stück, von dessen
Vollendung er so oft abgehalten worden war, seltsamerweise gerade in Rom
zu vollenden; und das zu einer Zeit, in welcher sich in Brüssel ähnliche Szenen
abspielten und Kaiser Josef durch seiue Händel mit den Brabantern ihm seinen
Egmont interessant zu machen schien. Ja während bei Iphigenie und Tasso
von einem andern Publikum als dem Weimarischen garnicht die Rede ist, kann
Goethe es mit dem Egmont nicht erwarten, ihn gedruckt zu sehen, damit er
so frisch, wie er aus seiner Feder geflossen, ins Publikum komme. Und doch
war die Arbeit, wie er nachher erkannte, eine unsäglich schwere Aufgabe, die er
ohne eine ungemessene Freiheit des Lebeus und des Gemütes nie zustande ge¬
bracht hätte. Ein vor zwölf Jahren begonnenes Werk sollte vollendet werden,
ohne es umzuschreiben! So bewahrheitet sich auch hier Goethes Wort, daß er
in Italien nicht bloß zum Genusse der Kunst und der Altertümer, sondern auch
zum Gemisst der Geschichte und des Lebens wieder erwacht sei; und er konnte
nach Vollendung des Egmont sagen, daß er kein Stück mit mehr Freiheit des
Gemütes und mit mehr Gewissenhaftigkeit vollbracht habe.
Sogleich nach der Iphigenie wollte Goethe an den Egmont gehen; aber
die Reise nach Unteritalien trat dazwischen. Nach seiner Rückkehr nimmt er das
Stück in Rom vor, und die Arbeit geht anfangs wieder schnell. Am 6. Juli 1787
ist der erste Akt im reinen und zur Reife, an ganze Szenen brauchte er hier
nicht zu rühren. Am 17. Juli ist Egmont bis in den vierten Akt gediehen.
Dann geht es wieder langsam, erst am 1. August wird er damit fertig. Am
11. August kann er bereits die Vollendung des Ganzen melden, wenn auch bis An¬
fang (5.) September immer noch etwas zu bessern und Lücken auszufüllen bleiben.
Diese äußeren Daten sollen dem folgenden Versuche, der Entstehung des
Egmont von innen beizukommen, nur als Stützpunkte dienen. Ich versuche,
dem Gange des Stückes folgend, nachzuweisen, was man aus inneren
Gründen etwa in die Frankfurter und was in die Weimarer Zeit, zu welcher
Italien keinen Gegensatz bildet, zu verweisen hätte. Das chronologische Moment
ist uns dabei sehr gleichgiltig, von Wichtigkeit aber der Unterschied, welchen die
verschiednen Partien in Bezug auf Stil und Ton aufzeigen. Wenn ich daher
sage, diese oder jene Szene scheine in die Frankfurter Zeit zu gehören, so meine
ich zunächst damit, daß sie im Stile von Sturm und Drang, besonders im
Stile des Götz gehalten sei; das biographische Moment kommt erst hinterher
in Betracht.
Daß die Volks- und Bürgcrszeuen in der aufgeknöpfte», stndentenhaften Manier,
welche Goethe an der ersten Fassung tadelte, besser wiederzugeben waren als in
dem klassischen Stil der Weimarer Zeit, ist von vornherein deutlich. Volks¬
und Massenszenen, soweit sie nicht bloße Aufzüge sind, hat Goethe nach dem
Götz und Egmont nicht mehr geschrieben; anch die Szenen „vor dem Thore"
im Faust werden vor der italienischen Reise anzusetzen sein. In Frankfurt haben
wir auch die Modelle zu den Bürgern im Egmont zu suchen. Zwar schildert
Egmont selber seine Landsleute (in der später umgearbeiteten Szene mit Alba)
sehr vorteilhaft: „Es sind Männer, werth Gottes Boden zu treten, ein jeder
rund für sich, ein kleiner König, fest, rührig, fähig, treu, an alten Sitten hangend.
Schwer ist's, ihr Zutrauen zu verdienen, leicht, zu erhalten. Starr und fest!
Zu drücken sind sie, nicht zu unterdrücken." Aber dieser Schilderung entsprechen
die Bürger im Stücke sehr wenig. Diese führen vielmehr das Goethen schon in
der Zeit des Götz verhaßte Sprüchelchen für Weiber: „Leben und leben lassen"
im Munde: unsre Fürsten, sagt Soest, müssen leben und leben lassen; unsre
Miliz, sagt Jctter, lebte und ließ leben. Mehr oder weniger sind sie alle Philister,
und deutlich spricht sich hier Goethes Abneigung gegen seine Frankfurter Mitbürger
aus, welche im Festhalten an alten reichsbürgcrlichen Rechten, Sitten und Cere-
mvnien erstarrt waren und zu deren langsamem Wesen die Weite und Gcschwindig^
keit seines Naturells in beständigem Gegensatz stand. Ans den Worten Egmonts
aber spricht der Weimarische Goethe, der nu die Frau voll Stein schreibt: „Wie
sehr ich wieder Liebe zu der Klasse von Meuschen gekriegt habe, die um, die
niedere nennt, die aber gewiß für Gott die höchste ist! Da sind doch alle Tilgenden
beisammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Frende über das
leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden," der sich von einem Buchbinder während
der Arbeit sein Schicksal und sein Leben erzählen läßt und jedes Wort, das er
sagt, so schwer wie Gold findet und ein Dutzend Lavaterscher Pleonasmen nötig
hält, um die Ehrfurcht auszudrücken, die er für den Menschen empfinde. Auch
Vansen, der hin ein verhört, wo es nichts heraus zu verhöre» gibt, erinnert an
Goethes kurze Advvkatenpraxis in der Frankfurter Zeit. Und endlich stimmt
damit auch der Stil dieser Szenen überein. Die wörtliche Ausnutzung der
Quellen in den Schilderungen der Schlacht bei Gravelingen, Karls V. und der
Bilderstürmer ist ganz in der Art des Götz. Auch das rasche Abbrechen der
Szenen, unbekümmert um die Art, wie die Personen von der Szene geschafft
werden sollen, erinnert an den ersten Götz, wo der Dichter die Personen mitten
in der Unterredung im Stiche läßt.
Im Götz sind die Personen in verschiedene Gruppen geteilt, welche mit.
einander gar nicht oder nur in vorübergehende Berührung geraten. Adelheid
und Götz zum Beispiel bekomme» sich, obgleich sie Hauptpersonen sind, garnicht
zu Gesicht. Briefe und Sendboten vermitteln zwischen diesen Gruppen hin und
her. Das ist ganz ähnlich im Egmont, nur daß die Verbindung durch die
politischen Fäden der Handlung besorgt wird. Auch Alba steht ja eigentlich
außerhalb des Stückes und tritt nur einmal auf, wo er unbedingt nötig und
nicht zu umgehen war. Wir wissen, wie viel Mühe dieser Akt Goethen gemacht
hat, und gerne wäre er gewiß auch hier dem Auftritte ausgewichen. So steht auch
die Gruppe der Bürger, unbekümmert um Klärcheu und die zu ihrer Gruppe
gehörigen Personen, für sich: beide berühren sich nur im letzten Akte. Ganz
für sich allein steht die Regentin da; sie spielt eigentlich nnr mit sich selbst,
denn Macchiavell ist ein bloßer Notbehelf, den ihr Goethe in Person eines Ver¬
trauten an die Seite gegeben hat, um einen Dialog möglich zu machen, und
den er nur deshalb widersprechen läßt, um den Dialog dramatisch bewegter zu
machen und auch der Gegenpartei vor der Regentin zum Worte zu verhelfe».
Wir wissen bereits aus den äußern Daten, daß die erste dieser Szenen in die
Frankfurter Zeit gehört, und hier finden wir ebenfalls eine Schilderung der
Bilderstürmer wörtlich nach Strada.
Die Szenen zwischen Klärchen und Brackcnbnrg lagen Goethen in der Zeit
seiner Liebe zu Lilli und in der Periode schmerzlicher Entsagung am nächste».
Mit solcher Wahrheit und Innigkeit, wie diese unglückliche Liebe, schildert Goethe
nur das, was aus seinem eignen Innern genommen ist. Daß Goethe eigne
Züge in Brackenburg festgehalten hat, ist unzweifelhaft. Er sah in ihm etwa
einen jüngern Goethe, den Leipziger Goethe, der den Verlust Katheders nicht
verschmerzen kann, der auch noch etwas schülerhafte Geberden hat. Wie Bracken¬
burg bei den Schulexerzitien immer der erste ist und vom Rektor das Lob erhält!
„Wenn es nur ordentlicher wäre, nur nicht alles so übereinander gestolpert,"
so schreibt Goethe an Oeser: „Sie wissen, ich hatte immer einen hübsche» Fond
c»i Reflektioncn, die ich Ihnen meistenteils vortrug, freilich gingen sie manchmal
etwas quer, nun da belehrten Sie mich eines besseren." Möglich aber auch, daß
Goethe mit eignen Zügen das Bild eines andern ergänzt hat. Der Bruder der
Karoline Flachsland (der späteren Frau Herder) konnte sich über den Verlust seiner
Geliebten niemals trösten und hing selbst, nachdem sie einen andern geheiratet
hatte, mit unerschütterlicher Liebe und Treue an ihr. Daß Klärcheu übrigens
in der ersten Szene unter dem Namen Klare, später nnr als Klnrchen einge¬
führt wird, erinnert uns an einen ähnlichen Wechsel der Namensformen im
Faust (Gretchen, Margarete), wird uns aber kaum zu weiter» Resultate» führen:
im Dialog heißt es auch hier durchgehends Klärcheu.
Die zweite Szene des zweite» Aktes ist meines Erachtens ganz in die
Weimarer Zeit zu verlegen, unzweifelhaft aber die Unterredung mit dem Se¬
kretär. Sie enthält durchgehends Selbsterlebtes. Voran eine Kleinigkeit: Richard
soll dem Grafen Oliva in Egmonts Namen antworten und dabei seine Hand
nachahmen. Das ist Goethes Verfahren in späterer Zeit, dem ja auch unter
vielem verhaßten das Schreiben das verhaßteste war. In der Weimarer Zeit
nun suchte Goethes Diener, Philipp Seidel, die Handschrift seines Herrn täu¬
schend nachzuahmen; ein leichtes Stück — auch der Komponist Kayser hat sich
später die Hand Goethes so natürlich angeeignet, daß er auf ihn ni»e» falsche»
Wechsel hätte ausstellen können. Aber weiter: Es ist ein Brief vom alten Oliva
eingelaufen, der Egmont vorsorglich vor dem leichten, unbekümmerten Leben
warnt. Egmont antwortet barsch und rauh gegen den guten Mann und recht¬
fertigt diesen Ton damit, daß er immer wieder diese alte Seite berühre und
doch wisse, wie verhaßt ihm diese Ermahnungen seien. Solche Warnungen wegen
seines tollen Treibens hatte Goethe in der ersten Zeit seines Weimarer Auf¬
enthaltes von vielen Seite» erhalte». Auch sein Freund Merck mußte erst
durch el» längeres Zusammensei» mit Goethe und dem Herzoge auf der Wart¬
burg bei Eisenach überzeugt werde», daß das Spiel, das Goethe in Weimar
spiele, doch nicht auf ganz haltloser Basis gespielt werde. Seinem Freunde
Zimmermann ließ Goethe durch die Stein schreiben: „Grüße Zimmermann, sage
ihm, ich hab ihn nicht verkannt, aber ich hab eine Pik auf alle meine Freunde,
die mich mit Schreiben von dem, was man über mich sagte, wider ihren Willen
plagten. Du kennst meine Lage am besten, also sag ihm was Dir's Herz sagt.
Sag ihm, er solls für sich behalten, soll mich lieb behalten." Über den Brief
Olivas sagt Egmont: „Da bringt er wieder die alten Märchen auf, was wir
ein einem Abend in leichtem Übermut der Geselligkeit und des Weins getrieben
und gesprochen, und was man daraus für Folgen und Beweise durchs ganze
Königreich gezogen und geschleppt habe," Das ist eine noch viel deutlichere
Anspielung auf die Klatschereien, welche man über das Treiben in Weimar ver¬
breitet hatte, als die oft bemerkte Stelle in der Lila:
Baron. Da giebts solche politische alte Weiber, die weitläufige Correspon-
denzen haben und immer etwas Neues brauchen, woher es auch stamme, daß das
Porto doch nicht ganz vergeblich ausgegeben wird. In der Welt ist im Grunde
des Guten soviel als des Bösen; weil aber Niemand leicht was gutes erteilte, dagegen
Jedermann sich einen großen Spaß macht, was Böses zu erfinden und zu glauben,
so gibts der favorablen Neuigkeiten soviel. Und so Einer —
Friedrich, Nun, sein Sie nicht böse! Es war ein guter Freuuo —
Baron, Den der Teufel hole! Was gings ihn an, ob ich tot oder lebendig
war? — Wenn er ein guter Freund war, warum mußte er der erste sein, der
meine Wunde tödtlich glaubte?
Aber auch den alten Oliva, der Egmont wie ein Vater liebt, den Egmont selber
hinterher einen „guten, ehrlichen Alten," einen „treu sorglichen" nennen muß,
welcher in seiner Jugend wohl auch nicht so bedächtig gewesen sei, werden wir
»»schwer in Klopstock finden. Er hatte Goethen einen Beweis seiner Freund-
schaft geben zu müssen geglaubt und ihn väterlich warnend von allen Verirrungen
abgemahnt. Goethe hatte barsch und rauh, wie Egmont dem Oliva, geant¬
wortet: „Verschonen Sie uus künftig mit solchen Briefen, lieber Klopstock! Sie
helfen uus nichts und machen uns immer ein paar böse Stunden. Sie fühlen
selbst, daß ich darauf nichts zu antworten habe. Entweder ich müßte als Schul-
knabe ein ?tüör xveos-öl anstimmen oder sophistisch entschuldigen oder als ehr¬
licher Kerl vertheidigen und käme vielleicht in der Wahrheit ein Gemisch von
allen Dreyen heraus, und wozu? Also kein Wort mehr zwischen uns über die
Sache. Glauben Sie mir, daß mir kein Augenblick meiner Existenz überbliebe,
wenn ich auf alle solche Anmaßungen antworten sollte." Diese Antwort ver¬
letzte Klopstock tief, und es entspricht nur dem versöhnenden Charakter, welchen
Goethes Dichtung allerorten hat, wenn er den alten Oliva hier nicht mit der¬
selben Antwort entläßt.
Überhaupt aber muß man Egmonts dämonischen Lebensmut, der sich be¬
sonders in dieser Unterredung mit dem Sekretär äußert, im Zusammenhange
mit einer Reihe kleinerer Gedichte aus der Weimarischen Zeit betrachten, in denen
sich das frische, thatkräftige Wesen ausspricht, mit dem sich Goethe immer mehr
in die Weimarer Geschäfte und in das Leben fand. Die Gedichte „Beherzigung,"
„Erinnerung," „Einschränkung," „Sorge," „Mut" u. a. sprechen ein ebenso
festes, sicheres, frisches Ergreifen des Lebens ohne Neben- und Seitenblick ans
wie die bekannten Worte Egmonts: „Kind! Kind! Nicht weiter! Wie von un¬
sichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonncnpferde der Zeit mit unsers Schick¬
sals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, muthig gefaßt, die Zügel
festzuhalten und, bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die
Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum,
woher er kam!" Dem widerspricht es nicht, daß Goethe diese Worte, welche
auch der rhythmische Ton nach Weimar verweist, an den Schluß von „Dichtung
und Wahrheit," also scheinbar in die Frankfurter Zeit, gesetzt hat; denn er folgt
hierbei dem künstlerischen Drauge, das Leben in die Dichtung auslaufen zu lassen
und den Leser damit gleichsam auf eine Fortsetzung seiner Lebensbekenntnisse
zu verweisen; wie er ja in einem spätern Zusatz der italienischen Reise auch
seinen Schmerz um den Verlust Italiens in die Qualen des Tasso ausklingen läßt.
Ein untrügliches Kennzeichen aber ist der Rhythmus. In der Weimn-
rischeu Zeit stellt sich wiederholt in Goethes prosaischen Dichtungen, selbst in
den Maskenzügen, weder gesucht noch gemieden, der iambische Rhythmus ein.
Die Iphigenie, die zwei erste» Akte des Tasso, den Elpenor hat er um diese
Zeit in rhythmischer Prosa geschrieben; auch die Proserpina hat er erst später
in Verse abgeteilt, und selbst in den Maskenzüge» findet man iambische Verse
eingestreut. Man lese nur die Prosa der besprochenen Szene wie folgt:
Ich stehe hoch und kann und muß noch höher steigen;
ich fühle
'mir Hoffnung, Muth und Kraft. Noch hab
ich meines Wachsthums Gipfel nicht erreicht.
'Und steh ich droben einst, so will ich fest,
Nicht ängstlich stehen. Soll ich fallen,
So mag ein Dmmerschlag, ein Sturmwind, ja,
Ein selbstverfehlter Schritt mich abwärts (in die Tiefe) stürzen.
Und dazu vergleiche mau inhaltlich das bekannte: „Sehe jeder wie ers treibe,
sehe jeder wo er bleibe und wer steht, daß er nicht falle." Dagegen verlassen
uns in der folgenden Szene zwischen Egmont und Oranien alle Anhaltepunkte:
einzelne iambische Anklänge können leicht auch einer spätern Umarbeitung an¬
gehöre», und nur etwa der politische Inhalt, welcher Schulung in Stnntsge-
schcifte» voraussetzt, spricht für die Weimarer Zeit.
Währelid die Szene zwischen Margarete und Macchiavell ganz im Stile
der Frankfurter Zeit gehalten ist und nirgends ländischen Rhythmus aufweist,
stellt uns die folgende Szene zwischen Klärchen und Egmont ein Schwierigeres
Problem. Der kritische Herausgeber von „Dichtung und Wahrheit" meint,
Goethe habe in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Egmont und einem
ihm und seiner Größe (ein unglückliches Wort!) ganz hingegebenen Mädchen
aus dem Volke ein Gegenbild zu seinem eignen abgebrochenen mit Lilli sich
schaffen wollen; hier sollte alles vorhanden sein, was er vermißt, alles beseitigt,
was ihn gequält habe. Auch auf Modelle hat von Loeper hingewiesen: etwa
die Christel, auf welche Goethe das Gedicht „Hab' oft einen dumpfen, düstern
Sinn" gedichtet hat; oder das Offeubacher Mädchen, zu welchem Goethe mit
den Stvlbcrgen und sicher auch allein wallfnhrtete und über welches Max Rieger
in seiner Biographie Klingers näheres mitgeteilt hat. Aber sicher haben auch
künstlerische Motive Goethe geleitet, indem er diese Liebschaft einflocht. Sie
sollten Egmont in die innigste Beziehung mit dein Volke bringen, ihn in einer
Art Verwandtschaft mit demselben zeigen, ein natürliches Band mit dem Seelen¬
bande vereinigen. Mag nun der Anfang dieser Liebesszene mit dem Liede
„Frendvvll und lcidvoll" immer in die früheste Zeit fallen, so fühlt man sich
doch versucht, den Schluß in die spätere Zeit zu verlegen: der oft verdrießliche,
steife, kalte Egnivut, der an sich halten, bald dieses, bald jenes Gesicht mache»
muß, für alle arbeitend und sich bemühend, oft ohne Zweck, meist ohne Lohn —
dieser Egmont, meint man, müsse dem Weimarischen Geschäftsleben entlehnt sein.
Und doch malt Goethe in einem Briefe vom 13. Februar 1775 seiner Freundin
Auguste Stolberg ganz so einen doppelten Goethe, mie Klürchen dem Egmont
einen doppelten Egmont aus, wenn er (also noch ehe am Egmont gearbeitet
wurde) schreibt: „Wenn Sie sich, meine liebe, einen Goethe vorstellen können,
der im galonirtcn Rock, sonst von Kopf zu Fuße auch in leidlich konsistenter
Galanterie, umleuchtet vom unbedeutenden Prachtglanze der Wandleuchter und
Kronenleuchter, mitten unter allerley Leuten, von ein Paar schönen Angen am
Spieltische gehalten wird, der in abwechselnder Zerstreuung aus der Gesellschaft,
ius Conzert, und von da auf den Ball getrieben wird, und mit allem Interesse
des Leichtsinns, einer niedlichen Blondine den Hof macht; so haben Sie den
gegenwärtigen Fastnachts Goethe, der Ihnen neulich einige dumpfe tiefe Gefühle
vorstolperte, der nicht an Sie schreiben mag, der Sie auch manchmal vergißt, weil
er sich in Ihrer Gegenwart ganz unausstehlich fühlt.... Aber nun giebts noch
einen, der im grauen Biberfrack mit dem brnnnseidncn Halstuch und Stiefeln,
der in der striechcudeu Februarluft schon den Frühling Ahndet, dem nnn bald
seine liebe weite Welt wieder geöffnet wird, der immer in sich lebend, strebend
und arbeitend, bald die unschuldigen Gefühle der Jngend in kleinen Gedichten,
das kräftige Gewürze des Lebens in mancherlei Dramas, die Gestalten seiner
Freunde und seiner Gegenden und seines geliebten Hnnsraths mit Kreide auf
grauem Papier, »ach seiner Maaße auszudrücken sucht, weder rechts noch links
fragt: was von dem gehalten werde was er machte? weil er arbeitend immer
gleich eine Stufe höher steigt, weil er nach keinem Ideale springen, sondern
seine Gefühle sich zu Fähigkeiten, kämpfend und spielend, entwickeln lassen will.
Das ist der, dem Sie nicht aus dem Sinne kommen, der auf einmal am frühen
Morgen einen Beruf fühlt Ihnen zu schreiben, dessen größte Glückseligkeit ist
mit den besten Menschen seiner Zeit zu leben." So früh hat Goethe seine Doppel¬
stellung zur äußern Welt, und lange bevor er in der bekannten Stelle des Faust
der Doppelnatur in seinem Innern Ausdruck gab, schmerzlich empfunden.
Die einleitenden Szenen im Palaste Aldas weisen durch den Stil auf eine
ältere Zeit. Bilder wie diese: „Ihr Schicksal wird sie wie eine wohlberechnete
Sonnenfinsternis pünktlich und schrecklich treffen," „vor ihrer Thüre siehts aus,
mis öl> ein Kranker im Hause wäre" sind ganz im Geschmacke des Götz, Die
folgende Szene zwischen Alba und seinem Sohne ist nach dem Tagebuche in
Weimar entstanden oder doch überarbeitet; der folgende Monolog Aldas gleich¬
falls, der sich sast ganz in ländischen Rhythmus bewegt.
Trug Dich Dein Pferd so leicht herein
Und scheute vor dem Blutgeruche nicht
Und vor dem Geiste mit dem blanken Schwert,
'Der ein der Pforte Dich empfängt? Steig ab!
So bist Du mit dem einen Fuß im Grab —
Und so mit beiden! Ja, streicht' es nnr und klopfe
Für seineu mntWgen Dienst zum letzten Man(e)
Den Nacken ihm! Und mir bleibt keine Wahl.
In der Verblendung, wie hier Egmont naht,
Kann er Dir nicht zum zweiten Mal sich liefern!
Daß Goethe die folgende Szene zwischen Egmont und Alba in Weimar um¬
gearbeitet hat, würde man dagegen aus der äußern Form nicht erkennen, denn
sie zeigt den Rhythmus nirgends deutlich. In die Szene zwischen Klürchen
und den Bürgern stehlen sich dagegen hier und da wieder iambische Rhythmen
ein, und der folgende Monolog Egmonts ist durchaus rhythmisch bewegt, stellen¬
weise (besonders am Schlüsse) ganz iambisch:
O haltet, Mauern, die ihr mich einschließt, jnmschließt?^
so vieler Geister wolgemeintes Drängen
nicht von mir abund welcher Muth ans meinen Augen sonst
sich über sie ergoß, der kehre nnn
ans ihren Herzen in meines wieder!
O ja, sie rühren sich zu Tausenden!
Sie kommen, stehen mir zur Seite!
Ihr frommer Wunsch eilt dringend zu dem Himmel,
er bittet um ein Wunder.
Und steigt zu meiner Rettung nicht ein Engel nieder,
so seh' ich sie uach Lanz und Schwertern greifen.
Die Thore spalten sich, die Gitter springen,
Die Mauer stürzt vor ihren Händen ein,und der Freiheit des einbrechenden Tages steigt Egmont fröhlich entgegen.
Wie manch bekannt Gesicht empfängt mich jnnchzend!
'Ach Märchen, wärst du Mann, so sah ich Dich
Gewiß auch hier zuerst und dankte Dir,
was einem Könige zu danken hart ist — Freiheit.
Wenn Egmont hier die Gerechtigkeit des Königs und die Freundschaft der Re¬
gentin mit einem glänzenden Feuerbild der Nacht vergleicht, welches ihm ver¬
schwunden sei und ihn allein auf dunkelm Pfade zurückgelassen habe, so ist das
ein Bild im Stile des Tasso, wo es gleichlautend heißt:
Es geht die Sonne mir der schönsten Gunst
Ans einmal unter; seinen holden BlickEntziehet mir der Fürst n»d läßt mich hier
Auf düsterm, schmalem Pfad verworren stehn
Wenn Egmont ferner sich aus den düstern Wänden eines Saales hinweg und
ins Freie hinaussehnt, so liegt hier gleichfalls Erlebtes ans dem Weimarer
Conseil zu Grunde, und selbst vom Hombnrger Hofe schreibt Goethe einmal an
die Stein: „So ziehen wir an den Höfen herum, frieren und langeweilen, essen
schlecht und trinken noch schlechter. Hier jammern einen die Leute, sie fühlen
wie es bey ihnen aussieht und ein fremder macht ihnen bang, Sie sind schlecht
eingerichtet und haben meist Schöpfe und Lumpen um sich. Ins Feld kaun
man nicht und unterm Dach ist wenig Luft,"
Auch die Abschiedsszeue zwischen Klürcheu und Brackenburg und besonders
der folgende Monolog Brackeuburgs weist durch ländischen Rhythmus auf eine
spätere Entstehung, nur der Schluß verrät auffallenderweise keine Spur davon. Nur
ganz selten und erst am Eude treten hier Jamben auf. Auch die Motive sind
zum Teil alt, die Erzählung des alten Neides, den Alba den: Egmont aus den
Jugendjahren nachträgt, setzt ein in der Sturm- und Drangzeit typisches Ver¬
hältnis wie zwischen Götz und Weisungen voraus. Der Enthusiasmus Ferdinands
gehört gleichfalls der frühern Epoche an, die hohe Begeisterung für el» großes
Vorbild, welche die Stürmer und Dränger gegenüber Shakespeare empfanden
und bethätigten, dem sie auch menschlich nahe zu treten meinten. Vielleicht hat
Goethe für die letzte Szene die ausführlichen Nachrichten benutzt, welche er sich
durch Lavater über die letzten Stunden und die letzte Unterredung des 1780
in der Schweiz des Hochverrates angeklagten und enthaupteten Pfarrers Waser
kommen ließ. In den letzten Absätzen klingt das Stück wieder iambisch aus:
Dich schließt der Feind von oller Seiten ein!
Es blinken Schwerter; Freunde, höhern Muth!
Im Rücken hohe Ihr Eltern, Weiber, Kinder!
Und diese treibt ein hohles Wort des Herrschers,
nicht ihr Gemüth, Schützt Eure Güter!!
Und Euer Liebstes zu erretten,
fallt freudig, wie ich Euch ein Beispiel gebe!
err Schunde wurde bald gestört. Vom Hause her kam eine Dame
in deu Garten geschritten, die seine Blicke auf der Stelle fesselte.
Er dachte, sie wäre über die besten Jahre hinaus, aber immer
noch schön. Er bemerkte an ihr eine stolze Haltung, einen
leichten Gang und ein höchst elegantes Promenadenkostüm.
Als sie ihn sitzen sah, änderte sie die Richtung ihres Weges, kam auf ihn
zu und rief: Nun, Doktor, Sie kamen ja gestern Abend nicht mehr!
Herr Schmidt erhob sich und verbeugte sich unter dem Eindruck dieser
offenbar sehr vornehmen Persönlichkeit. Er sah, als die Dame näher kam, daß
sie in der That sehr schön war, wen» auch ihre Nase vielleicht ein wenig zu spitz
und ihr Kinn etwas zu sehr vortretend war. Ein verteufeltes Gesicht, dachte
er für sich.
Verzeihen Sie, gnädige Frau, sagte er, es liegt wohl eine Verwechslung
mit meinem Bruder vor, der mir allerdings ähnlich sieht. Ich bin nicht der
Doktor Schmidt, sondern der Bankdirektor Schmidt aus Holzfurt.
Ach, ich sehe jetzt, sagte sie, die Augen leicht zudrückend und ihn anblin¬
zelnd, während sie zugleich eine Lorgnette aus der Umschlingung vieler kleinen
funkelnden Scichelchen an der Uhrkette loszumachen bemüht war. Eine große
Ähnlichkeit, entschuldigen Sie. Aber — Bankdirektor sagten Sie, nicht wahr,
Bankdirektor. Da könnten Sie mir vielleicht sagen, weshalb die Kreditaktien
jetzt so sehr heruntergegangen sind?
Zu dienen, sagte Herr Schmidt. Er sah sich das Gesicht mit immer stei¬
gender Neugierde an. Die Augen waren sehr dunkel, beinahe schwarz, und
hatten einen verwegenen Ausdruck. Die Wangen waren rot und das übrige
Gesicht herrlich weiß. Herr Schmidt verstand äußerst wenig von den Toiletten-
geheimnissen der Damen, aber er dachte, es sei möglich, daß hier gewisse Künste
in Anwendung gekommen seien, von denen er wohl gehört hatte.
Er erklärte der Dame ausführlich die Verhältnisse, welche auf den Kurs¬
stand der Kreditaltieu einzuwirken pflegten, und sie hörte mit großem Inter¬
esse zu.
Haben Sie doch die Liebenswürdigkeit, mich zu begleiten sagte sie dann
in einem Tone, der die Gewohnheit des Befehlens verriet. Ich habe ans meinem
Zimmer eine Liste verschiedner Papiere, über die ich mir Ihre Belehrung er¬
bitte. Ich bin die Gräfin von Altenschwerdt.
Herr Schmidt verneigte sich tief und folgte der Dame ans ihr Zimmer.
Eine lange und eingehende Unterhaltung ward dort zwischen den beiden ge¬
pflogen, und als Herr Schmidt nach einer Stunde wieder herauskam, war der
Ausdruck seines Gesichts ein sehr vergnügter. Er hatte die Fran Gräfin voll¬
ständig davon überzeugt, daß bei der jetzigen Lage der Geschäfte, unter dem Zu¬
strömen der unermeßlichen französischen Kriegsentschädigung, die Anlage in
Bankwerten die vorteilhafteste sei, und daß vorwiegend die Unternehmungen des
Herrn Schmidt glänzende Zinsen versprachen.
Die Sprechstunde war gerade vorüber, und der Bruder hatte jetzt Zeit
für Familienbesuche und Privatangelegenheiten. Es war nicht wunderbar, daß
die etwas kurzsichtige Gräfin Altenschwerdt in der Entfernung die Brüder mit
einander verwechselt hatte. Beide hatten dasselbe rote Haar und blühende Gesicht,
denselben breiten Kopf, wenn auch gewisse Verschiedenheiten in Form und Farbe
bei genaueren Zusehen zu entdecken waren. Gottliebs Unterkiefer war sehr weit
vorgeschoben, und sein Mund befand sich dicht unter der laugen, nach unten
gehenden Nase, was ihm einige Ähnlichkeit mit der Physiognomie des Fuchses
verlieh.
Wie kommst du denn dazu, dich Doktor nennen zu lassen? fragte Rudolf
beim Eintreten. Ich finde, du nimmst großartige Manieren an, aber dieser
Titel könnte dich doch mit den Gerichten in Konflikt bringen.
Ich nenne mich niemals Doktor, entgegnete der Algenarzt mit listigen
Lächeln. Wenn me ne Patienten und meine Domestiken mir ans eigne Hand
diesen Titel geben, kaun ich nichts dafür.
Aha, sagte Rudolf, indem er sich dem Bruder gegenüber in einen Lehn-
stuhl setzte, so bist du also wirklich ein großer Arzt geworden! Ich sehe, dein
Haus ist voll, und das amüsirt mich köstlich.
Der Bruder zuckte die Achseln.
Rudolf betrachtete ihn eine Zeit lang schweigend und mit scharfem Blick,
konnte aber nicht die leiseste Spur vou Beschämung in Gottliebs Gesicht ent¬
decken.
Weißt du, lieber Gottlieb, sagte er dann, die Leute schwatzen bei mir zu
Hanse allerhand über dich, was mir nicht lieb zu hören ist.
Da thust du am besten, nicht zu hören, mein lieber Rudolf, sagte der andre
kaltblütig,
Rudolf schüttelte den Kopf, Du bist doch immer noch der alte, sagte er
mit bedauerndem Tone, immer noch der Leichtfuß, der guten Rat erfahrener
Männer in den Wind schlägt,
lind die erfahrenen Männer sitzen mir doch gerade gegenüber, sagte Gott¬
lieb, Aber ich will dir etwas sagen, Wenn du el» Bruder wärst, wie es sich
gehörte, so tratest du gehörig auf und fragtest die Leute, die über mich schwatzen,
was sie denn eigentlich wollten.
Was sie wollen, kann ich dir sagen, den» ich höre es oft genug, Sie be¬
haupten, du wärst ein Kurpfuscher, der reinen Schwindel triebe, indem er kranke
Menschen kuriren wollte, ohne Medizin studirt zu haben. Sieh einmal, Gott-
lieb, ich habe eine wichtige Reise in bedeutenden Geschäfte» eigens anfgeschobe»,
um dich erst z» besuchen und ein ernstes, brüderliches Wort mit dir zu sprechen.
Denn ich bin der Älteste und fühle die Verantwortung für den guten Ruf der
Familie auf mir lasten, seitdem unser guter Vater tot ist. Deshalb darfst du
mir das nicht übel nehmen, sondern solltest dich eher darüber freue», daß ich
mich so für dich interessire. Du hast so bedeutende Fähigkeiten, bist ein so
gewandter Mensch und raffinirter Geschäftsmann, wie ich ans dein Zustande
deiner Anstalt entnehme, Willst du da nicht lieber mit meiner Hilfe etwas
Solides anfangen, anstatt Geschäfte zu treiben, die keinen gesunden Boon haben
und über kurz oder laug zusammenbrechen müssen, wenn sie auch für den
Augenblick noch so blühend sind?
Der Natnrarzt hörte bis zum letzten Worte ernsthaft zu, dann aber brach
er in ein lautes Lachen aus und wälzte sich behaglich in dem großen, mit rotem
Sammet überzogenen Lehnstuhl, welchen er gleich einem Throne bei seinen Kon¬
sultationen zu behaupten Pflegte und auch beim Besuche seines Bruders nicht
verlassen hatte.
Ein höchst gelungener Kerl bist du doch, sagte er endlich. Ich glaube,
wenn du einmal in den Himmel kommst, gehst dn direkt zum lieben Gott und
giebst ihm einen guten Rat, wie er die Welt regieren soll. Aber ich will nicht
undankbar sein, sondern dir mich wiedererzählen, was die Leute über dich schwatzen,
Sie meinen, du wärst ein Hans Dampf in allen Gassen, der immerfort neue
Geschäfte ansinge, ehe noch die alten sichergestellt wären. Ich aber bin ein
besserer Kerl als du, denn wenn ich so etwas höre, nehme ich dich in Schutz
und sage, du wärst ein Genie und von beschränkten Köpfen nicht zu verstehen.
Und du darfst es mir nicht übel nehmen, wenn ich dir auch aus brüderlichem
Herzen rate, dich in deinen Unternehmungen zu beschränken, Dn hast so be¬
deutende Fähigkeiten, bist ein so gewandter Mensch und raffinirter Geschäfts¬
mann, wie ich aus dem Zulauf zu deiner Gewcrbcbank und der Verbreitung,
deiner Zeitung entnehme. Willst du da nicht lieber solid verfahren als immer
neue Projekte machen, die keinen gesunden Boden haben und über kurz oder
lang znsanimenbrechen iniissen, wenn sie mich fiir kurze Zeit Prosperiren? Meine
Hilfe dazu kann ich dir freilich nicht anbieten, weil dir die Kenntnisse fehlen,
um Assistenzarzt an meiner Heilanstalt zu sein.
Das ist doch ein bischen stark, sagte Rudolf ärgerlich. Wie kannst dn dir
mir herausnehmen, kaufmännische Unternehmungen mit deiner Pfnscherei zu ver¬
gleichen? Ich bin ein gelernter Kaufmann und arbeite in meinem Fache, wäh¬
rend du doch nicht die Keckheit haben wirst, zu behaupten, du wärst ein stu-
dirter Mediziner!
Mein lieber Junge, ereifere dich nicht, sagte der andre. Wir wollen beide
Geld verdienen, nicht wahr? Und ist nicht das Geld, welches ein Mann ver¬
dient, der beste Beweis dafür, daß er seine Sache versteht, einerlei, ob er zünftig
oder nicht zünftig ist?
Du hast also die Dreistigkeit, schlankweg zu leugnen, daß es eine medizi¬
nische Wissenschaft giebt, ohne deren Kenntnis es unmöglich und also ein
völliger Schwindel ist, kranke Menschen zu kuriren!
Es ist merkwürdig, entgegnete der Natnrarzt, daß selbst die klügsten Leute,
zu denen ich dir die Ehre anthue dich zu rechnen^ völlig vernagelt sind, sobald
es sich um Gesundheit und Krankheit handelt. Ich kenne Leute, die das Gras
wachsen hören und weder an Gott noch den Teufel glauben, die aber, wenn
sie krank sind, so abergläubisch werden wie ein altes Weib, das sich einbildet,
ihrer Kuh wäre die Milch durch Zauberei vergangen. Es ist aber gut, deun
wovon sollten wir Ärzte sonst leben?
Was willst du damit sagen? Das verstehe ich nicht.
Ja, das sehe ich dir an, sagte Gottlieb lachend, Dn bildest dir ein, die
Natur wäre so beschaffen, daß sie ans die gelehrten Leute wartete, um in Ord¬
nung zu kommen.
Willst du denn etwa behaupte,?, Krankheiten würden von selbst besser?
Mein guter Junge, es giebt nach meiner Erfahrung zwei Arten von Krank¬
heiten. Die einen werden von selbst besser, die andern überhaupt nicht.
Das ist stark!
Aber wahr.
Und deshalb giebst du gegen alle Krankheiten Algensaft und hast die Stirn
zu behaupten, das wäre kein Humbug.
Lieber Rudolf, du hast ebensowenig nötig, mir zu sagen, daß der Algen¬
saft Humbng ist, wie ich es nötig habe, dir zu sagen, daß die Gewerbebank
Humbng ist.
Ich gebe es auf, sagte Rudolf, indem er sich erhob. Aber niemals wirst
du mit aller deiner Sophistik die Thatsache aus der Welt schaffen, daß es Hun¬
derte von ganz verschiednen Krankheiten giebt, und daß sie logischer Weise ver¬
schieden behandelt werden müssen,
Ich will dir einmal erzählen, was ich bei dem berühmten Geheimen Ober¬
medizinalrat Professur Dr. Meder gelernt habe, wo ich, wie dn weißt, zwei
Jahre lang Heildiener war, entgegnete der Naturarzt. Der Mann hatte eine
kolossale Praxis und verordnete eine riesige Menge von wissenschaftlichen Heil¬
mitteln, ganz so wie du meinst, daß es geschehen miißte, gegen jede Krankheit
etwas andres. Gegen Rheumatismus gab er Salizylsänre und verordnete Moor¬
bäder, gegen Gicht gab er Lithion, gegen Herzleiden Digitalis, Magenleidenden
verschrieb er Pepsin, und so weiter, wie du dir schon denken kannst. Zur Ab¬
wechslung ließ er auch elektrisiren oder konzentrirte Gase einatmen und ähnliche
Scherze. Nun war er selber ein fideles Männchen und steckte nicht in der
festesten Haut. Bald drückte es ihn hier, bald dort, bald war der Appetit weg,
bald hatte er den Hexenschuß, bald Husten. Da fiel es mir um auf, daß er
selber niemals Salizylsänre oder Opium oder Chinin oder sonst etwas von den
heilsamen Sachen einnahm, die er seinen Patienten verordnete. Dafür hatte er
die Manier, wenn er krank wurde, nichts zu essen, außer etwas altem Zwie-
back, wozu er frisches Wasser trank. Er wurde aber allemal schneller wieder
gesund als seine Patienten. Und einmal, als er ganz steif von Rheumatismus
war, fragte ich ihn, ob er sich nicht etwas wollte elektrisiren lassen. Wir hatten
eine schöne, starke Maschine dazu im Hause, welche ich bediente, da sagte er, ich
wäre ein naseweiser Bursche und sollte warten, bis ich gefragt würde.
Herr Rudolf Schmidt war sehr übler Laune. Er fand, daß sein Bruder
Gottlieb alle seine schlechten Eigenschaften, seine Rechthaberei, seine Geschwätzig¬
keit und seine Dreistigkeit in dem verflossenen Jahre ihrer Entfremdung noch er¬
heblich gesteigert habe. Doch wollte er nicht ohne jeden Nutzen wieder fort¬
gehen.
Laß es gut sein, sagte er. Meinetwegen thue, was du willst. Wir wolle»
auf gutem Fuße bleiben, so viel an mir liegt. Und eins wollte ich dir noch
sagen: Hier ist eine Gräfin von Altenschwerdt bei dir in der Kur —
Ich will einmal nachsehen in meiner Liste, sagte Gottlieb. Weißt du, die
vornehmen Leute drängen sich hier so, daß ich die Namen nicht alle im Kopfe
behalten kann.
Ein bodenloser Schwindler! sagte Rudolf seufzend für sich, indem er die
Augen zur Decke erhob.
Ganz recht, sagte Gottlieb nach einer Weile, ans einem großen Buche
lesend. Nummer zweitausenddrcihnndertviernndsiebzig, Gräfin Sibylla von Alten¬
schwerdt aus Breslau. Nummer zweitausenddreihundertfünfnndsiebzig, Graf
Dietrich von Altenschwerdt, deren Sohn, aus Paris.
So, also auch ein Sohn, sagte Rudolf. Ich habe mir die Mutter kennen
' gelernt, als ich im Garten war. Sie hatte einen Empfehlungsbrief an mich
von ihrem Bankier in Breslau und sagte, sie hätte die Absicht gehabt, mich
zu besuchen, wäre aber ihrer Gesundheit wegen noch nicht dazu gekommen.
Was das für ein heilloser Humbug ist! sagte Gottlieb für sich, indem er
sein Buch zuklappte und in ein Fach seines ungeheuern, mit Tiegeln, Retorten,
Schädeln und alten Folianten bedeckten Schreibtisches legte.
Die Gräfin hat die Absicht, ihr Vermögen mit meiner Hilfe anzulegen,
fuhr Rudolf fort. Nun ist freilich bei mir ein solcher Zudrang von Kapitalien,
daß mir nicht viel daran liegt, das Geld zu bekommen. Immerhin will ich
das Vertrauen nicht täuschen. Wenn du daher Gelegenheit haben solltest, mit
der Gräfin über mich zu sprechen, so bestätige ihr nur, was sie übrigens von
ihrem Bankier schon erfahren hat, daß sie bei mir alle Garantien findet.
Sehr gern, mein Junge, entgegnete Gottlieb. Ich brauche dich nicht weiter
zu bitten, daß du der Gräfin erklärst, meine Kurmethode sei die rationellste der
Neuzeit, denn das merkt sie schon von selber.
Rudolf verzog das Gesicht. Leb wohl! sagte er mit einem neuen Seufzer.
Gottlieb wuchs ihm über den Kopf, das war schmerzlich.
Leb wohl, mein Junge, glückliche Reise, erwiederte der Nlgcnarzt.
Auf dem Balkon eines der schönsten Zimmer in der Heilanstalt des Herr»
Gottlieb Schmidt lag an diesem Morgen el» junger Mann im Lehnstuhl, rauchte
eine Cigarrette und blickte träumerisch in die auf deu Strand spukenden Welle»
hinein. Er hatte eine zarte Gesichtsbildung, eine blasse Farbe, und auch seine
'Hände waren zart und weiß. Seine dunkeln, lebhaften Augen, das dunkel¬
braune, leicht gelockte Haar und der feine, braune Schnurrbart gaben dem ari-,
stokratisch geschnittenen Gesicht einen interessanten und etwas koketten Ausdruck.
Aus seinem Sinne» weckte ih» ein Klopfe» an die Thür des Zimmers und
das Hereintreten des Briefträgers. Es gab einen Brief, dessen Empfang be¬
scheinigt werden mußte, und mit Erstannen sah der Jüngling die Aufschrift des¬
selben, welche eine Einlage von tausend Mark ankündigte. Doch wurde seine
Aufmerksamkeit sofort auf einen andern Brief gelenkt, den er gleichzeitig erhielt
und der eine französische Adresse von kritzlicher Damenhand trug.
Mit beiden Briefen begab er sich zu seinem Platz auf dem Balkon, nahm
ein Messerchen mit Perlmutterheft zur Hand und blickte von einer Adresse zur
andern hin und her, unentschlossen, welches Schreibe» er zuerst öffnen solle.
Endlich siegte die deutsche Aufschrift, er steckte deu Pariser Brief in die Tasche
und schnitt den andern auf.
Gleichgiltig ließ er den Tauseudmarkschei» stecke», las aber mit erfreuter
Miene die begleitende» Zeile».
Hochgeborner Herr Graf, hieß es darin, ich habe das Vergnügen, Euer
Hochgeboren mitzuteilen, daß die erste Auflage Ihrer Gedichte vergriffen ist,
und daß ich in, Begriffe bin, die zweite Auflage auszugeben. Indem ich
mich beehre, Ihnen hierbei das ausbedungene Honorar ^ M. 1000 ganz er¬
gebenste auch für die neue Ausgabe zu überreichen, möchte ich mir die Anfrage
erlauben, ob es nicht ratsam wäre, nunmehr den in der That reizenden Ge¬
dichten, die dem Publikum so gut gefallen, den Namen des Autors vorzusetzen
und somit die bisherige Anonymität fallen zu lassen. Es wird nur von Euer
Hochgeboren Entscheidung abhänge», ob Sie Ihren Namen denen der ersten
Lyriker der Neuzeit einreihen wollen. Indem ich Euer Hochgeboren gütiger
Rückäußerung hierüber entgegensehe, verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung
Euer Hochgeboren ergebenster Friedrich Müller, Verlags bnchhcindler.
Der Jüngling blickte mit schimmernden Augen von dem Papiere auf und
sah wieder nachdenklich in die See hinaus.
So ist es doch wahr, sagte er sich, so haben meine hochfliegenden Hoff¬
nungen mich nicht betrogen. Ich bin ein Dichter, das göttliche Licht der Schön¬
heit leuchtet auch in meiner Seele!
Gedankenvoll lauschte er dem Brausen des ewig bewegten Wassers und
folgte dem Spiel der immer neu cmsschwellenden, vordringenden und zusammen¬
sinkenden Wellen.
O, ihr meine Götter, dachte er, was würdet ihr sagen, wenn ihr meine
Gedichte lesen könntet? Du, Heinrich Heine, du, Alfred de Musset, du unsterb¬
licher Ariost! Würdet ihr mich anerkenne»? O ja, ich bin euresgleichen!
Aber niemals soll der Name des Grafen Dietrich von Altenschwerdt dem
Publikum bekannt werden. Er ist zu adlich. Er darf nicht von den breiten
Mäulern des gemeinen Volkes befleckt werde». Er darf nicht anders von der
Masse genannt werden, als in Verehrung vor unserm Stamm, und soll nicht
ans bedruckten: Papier von Hand zu Hand gehen und der Kritik des unwissende»,
sühllose» Pöbels anheimfallen. Auch kenne ich meine Verwandtschaft. Sie
würde entsetzt sein, wenn sie wüßte, daß jene erotischen Gedichte, welche die
Entrüstung der Frommen bilden, von dieser Hand hier geschrieben, von diesem
flammenden Herzen erdacht sind!
Doch wie? Habe ich dich auch nur einen Augenblick vergessen können,
süßes, kleines Geschöpf, phantastische Odette?
Er zog den französischen Brief aus der Tasche, öffnete ihn, küßte die Unter¬
schrift und begann mit Eifer die acht vollgekritzeltcn Seiten zu lesen, wobei er
oft in lautes Lachen ausbrach.
Er war sehr vertieft in den Brief, der mannichfache Schwierigkeiten bot,
weil oft der Raum nicht ganz den Anforderungen der Schreiberin entgegenge¬
kommen war, sodaß sie kreuz und quer geschrieben hatte, so sehr vertieft, daß
er nicht bemerkte, was um ihn her vorging. Eine Dame war in sein Zimmer
getreten, hatte ihn aus dem Balkon erblickt und stand nun vor ihm.
Dietrich! sagte sie in strengem Tone, welch ein Eifer!
Er fuhr zusammen, blickte errötend ans und ließ die Hand mit dem Briefe sinken.
Mama! sagte er. Entschuldige, daß ich dich nicht sah.
Daß dn mich nicht sahst, mein liebes Kind, das bedauere ich nur deshalb,
weil ich sehen muß, wie wenig dn dich an die Vorschriften des Arztes hältst.
Er hat dir doch so eindringlich vorgestellt, daß du jede ernste, jede aufregende
Beschäftigung vermeiden müßtest, wenn deine Nerven sich erholen sollten. Dn
hast auch geraucht, Dietrich. Ich rieche deutlich den türkischen Tabak. Dietrich,
was soll dir der Algensaft helfen, wenn du dabei rauchst und eine aufregende
Korrespondenz führst?
Meine liebe Mama, erwiederte Dietrich, indem er den Brief in die Tasche
gleiten ließ, für meine Nerven ist die Langeweile das allerschlimmste, und meine
Korrespondenz ist mir nur eine angenehme Erholung.
Die Gräfin schüttelte den Kopf. Deine Backen sind ganz rot, sagte sie.
Gewiß war dieser Brief aus Paris, und gewiß ist er von einer jener leicht¬
fertigen Damen geschrieben, die niemals Rücksicht auf das Wohl derer nehmen,
die sie zu lieben vorgeben.
Ah bah, Mamachen, denke dir nicht solche unwahrscheinliche Gespenster¬
geschichten aus. Ein ganz unschuldiger Brief von einer Dame ans der Ge¬
sellschaft.
Ob es eine Dame aus der Gesellschaft ist oder nicht, das thut nichts zur
Sache, Dietrich. Im Gegenteil, es macht mich umso mehr besorgt. Ich bitte
dich, lieber Sohn, halte nnr diese paar Wochen wenigstens die Kur streng ein.
Es ist so sehr nötig für deine Gesundheit. Laß auch das Rauchen! Doktor
Schmidt sagte mir, daß der Algensaft von einer einschneidenden Wirkung auf
den Organismus wäre und sich durchaus nicht mit Kaffee, Thee, Wein, Tabak
und allen derartigen anregenden Dingen vertrüge. Er müsse sich dann geradezu
in Gift verwandeln. Ich bitte dich, Dietrich, richte dich darnach.
Gut, liebe Mama, ich will folgsam sein. Quäle dich nicht. Es war ja
nur eine einzige Cigarrette. Und das Leben ist so ganz ohne türkischen Tabak
und Kaffee wahrhaftig recht schwer! Ich finde die Kur hier recht unangenehm.
Es ist geradezu lächerlich, von so materiellen Dingen überhaupt uur zu sprechen,
aber ich muß sagen: seit den drei Tagen, die wir hier in dem verwünschten
Hanse sind, bin ich noch nicht satt geworden. Ich mag das Zeug nicht, was
wir hier bekommen. Wer hat dir nnr den Gedanke» eingegeben, hierher zu
gehen? Ich vermute, die ganze Geschichte läuft darauf hinaus, daß man Geld
an uns verdienen will, denn wir zahlen einen dörrenden Preis und werden
dafür ausgehungert.
Du bist ein Kind, sagte die Dame stirnrunzelnd und doch mit schmeichelndem
Tone. Kannst du denn nicht um deiner Gesundheit willen ein paar Wochen
Diät halten? Dieser Doktor Schmidt ist ein ganz ausgezeichneter Arzt, er hat
die brillantesten Kuren gemacht, nud der Algensaft verträgt sich nnn einmal
mit keiner ander» Lebensweise. Die scharfen Substanzen, Jod und Brom, und
wie alle die Dinge heißen mögen, die in den Algen enthalten sind, verwandeln
sich in höchst gefährliche, ätzende Säfte, wenn sie mit heterogenen Stoffen im
Magen vereinigt werden.
Der Jüngling lachte. Du redest wahrhaftig, liebe Mama, als wärest du
ein Apotheker.
Es ist meine Liebe zu dir, Dietrich, das solltest du bedenken, sagte sie, das
Taschentuch an die Augen drückend.
Und ich will dir einen kleinen Trost bringen, fuhr sie fort. Damit du
dich nicht so sehr laugweilst, bin ich darauf bedacht gewesen, dir eine Zerstreuung
unschuldiger Art zu verschaffen. Ich habe das junge Mädchen kommen lassen,
das du früher so gern spielen und singen hörtest, Anna Glock. Sie hat sich
in den beiden Jahren, wo sie auf dem Konservatorium in Leipzig war, sehr
verbessert und ist jetzt wirklich eine Virtuosin.
Ah! rief Dietrich erheitert, wahrhaftig? Der Adjutant? Der Adjutant ist
wieder da? Das ist mir angenehm. Sie ist ein gutes Tierchen und sie soll
mir gleich heute Morgen ein Konzert geben.
Er war bei diesen Worten aufgestanden und im Begriff hinauszugehen,
als seine Mutter ihn am Arme festhielt und bat, ihr noch ans kurze Zeit Gehör
zu schenken.
Der Ton ihrer Stimme klang dabei so eigentümlich, daß Dietrich sie ver¬
wundert ansah.
In dem scharf geschnittenen, aber immer noch schönen Gesicht funkelten die
dunkel» Augen mit einem besondern Feuer, und eine große Energie sprach sich
in ihm aus. Zwischen ihren Zügen und denen des Sohnes bestand eine starke
Ähnlichkeit, aber gerade in diesem Augenblicke trat auch die Verschiedenheit
zwischen beiden deutlich hervor. Das schöne Gesicht des jungen Grafen hatte
im Vergleich zu dem der Mutter einen weibischen Ausdruck. Es war weicher
in den Formen, Nase und Kinn waren nicht so spitz und nicht so scharf hervor¬
tretend, und sein Blick hatte nicht den funkelnden Blitz, sondern ein schimmerndes
Licht, das weniger Stolz und Energie als Eitelkeit und Selbstliebe anzuzeigen
schien.
Ich habe noch etwas ernsthaftes mit dir zu besprechen, sagte die Gräfin,
und ich rechne um so mehr auf deine Aufmerksamkeit und Folgsamkeit, als du
überzeugt sein mußt, daß alles, was ich denke und thue, nur dein Glück be¬
zweckt.
Du machst mich sehr neugierig, erwiederte der junge Graf, indem er sich
in den Lehnstuhl zurücksinken ließ.
Unsre Hierherkunft, sagte die Gräfin bedächtig, ist einerseits durch die Rück¬
sicht auf deine Gesundheit, andrerseits durch ein fast ebenso wichtiges andres
Moment bestimmt worden. Ich muß dir mitteilen, lieber Dietrich, was du doch
zu einer oder der andern Zeit einmal erfahren mußt, daß nämlich dein Vater,
der vor langen Jahren starb, nicht, wie du bisher geglaubt hast, eines natür¬
lichen Todes —
Wie? fragte der junge Graf erbleichend.
Dein Vater erschoß sich, sagte die Gräfin.
Es entstand eine lange Pause. Des jungen Grafen Gesicht war schmeiz-
lich verzogen, und in seinem Blick spiegelte sich der Eindruck eines erschreckend
vor ihm aufsteigenden Unheimlichen wieder. Die Gräfin sah vor sich nieder
und bewegte mechanisch ihr Augenglas in den schlanken, spitz zulaufenden Fingern.
Wie kam das? fragte Graf Dietrich, mühsam atmend.
Dein Vater lebte die letzten Jahre in einer geheimnisvollen Unruhe, fuhr
die Gräfin fort, welche wohl im Zustande seiner Nerven begründet war. Er
hatte die letzten fünf Jahre seines Lebens die Eigentümlichkeit, niemals einen
Brief zu öffnen, den er erhielt. Er lebte in einer nervösen Angst, eine Mah¬
nung eines seiner Gläubiger, eine Rechnung, eine Klage oder sonst etwas un¬
angenehmes in den Briefen zu finden, und ließ sie deshalb sämtlich uneröffnet.
Ich habe unendliche Stöße von geschlossenen Briefen nach feinem Tode in den
Kästen seines Schreibtisches und seines Bureaus gefunden. Es ist wahr, daß
er höchst verschwenderisch lebte, und daß er wohl Grund hatte, sich vor dem
Ende zu fürchten, aber doch war unser Vermögen so bedeutend, daß selbst die
unsinnigen Ausgaben deines Vaters es nicht völlig hatten erschöpfen können.
Dein Vater scheute sich, die Bilance zu ziehen, scheute sich, dem Stande unsrer
Finanzen ins Gesicht zu sehen, lebte von Tag zu Tag weiter, indem er sich
selbst betrog und betäubte, und schoß sich endlich tot, als er der Überzeugung
war, er müsse gänzlich ruinirt sein.
Entsetzlich! sagte Graf Dietrich leise. Er fühlte halb unbewußt mit der
Ha»d nach der Tausendmarknote in seiner Tasche und atmete ängstlich.
Als ich nach seinem Tode mit unserm Sachwalter die hinterlassenen Pa¬
piere ordnete, faud ich, daß allerdings der größte Teil unsers Vermögens dahin
war, daß unser Gut und Schloß nicht mehr zu behaupten waren, daß aber doch bei
geschicktem Arrangement noch eine Summe vou etwa hundertundzwanzigtansend
Thalern für dich, mein Sohn, und für mich übrig blieben.
O, wie schrecklich ist es, zu denken, flüsterte Dietrich, daß der Vater sich
in einem solchen Irrtume das Leben nahm! Mich dünkt, wir hätten so lange
Jahre noch glücklich zusammen mit dem Rest unsers Vermögens leben können!
Die Gräfin zuckte die Achseln. Es ist einmal geschehen, sagte sie, und
man thut am klügsten, nicht an die unwiederbringliche Vergangenheit, sondern
an die Zukunft zu denken. Ich gab mir Mühe, mit den Zinsen dieses Kapitals
für uns beide eine standesgemäße Existenz zu bestreiten und —
Aber liebe Mama, sagte Graf Dietrich, sie unterbrechend, ist denn eine so
große Summe nicht völlig ausreichend gewesen? Bei einer vierprvzentigen An¬
lage haben wir doch schon etwa fünftausend Thaler jährlich zu verzehren.
Du hast dich nie um Geld bekümmert, sagte die Gräfin ungeduldig, und
du weißt gar nicht, was das Leben kostet. Wenn du dich aber recht besinnen
willst, so wirst du finden, daß du in Paris etwa zwölftausend Franken jähr¬
lich gebrauchst. Es ist das eine Erbschaft deines Vaters, daß du stets deine
Einnahme groß findest und stets beinahe das doppelte von dem aufgiebst, was
du hast.
Graf Dietrich biß sich in die Lippen und schwieg.
Du bist jetzt ein junger Manu, Attache und wenig zu Ausgaben ver¬
pflichtet, aber wenn du erst höher stehst, was hoffentlich nicht ausbleiben wird,
so wirst du andre Summen nötig haben. Das ist es, woran ich denke, und
worauf ich jetzt ziele. Es hat sich nämlich gegenwärtig für dich eine glänzende
Aussicht gezeigt, die ich wohl in der Lage, worin wir uns befinden, eine himm¬
lische Fügung nennen darf. Seit Jahrhunderten nämlich besteht zwischen unserm
Hanse und einem andern, höchst angesehenen, reinen und reich begüterten Ge¬
schlechte, dem der Freiherren von Sextus, eine gewisse Beziehung, die sich durch
kriegerische Traditionen, Herzensangelegenheiten und dergleichen angeknüpft und
befestigt hat. Nun erhielt ich vor nicht langer Zeit von dem jetzigen Chef des
Hauses Sextus einen Brief mit einer, mich in hohem Maße überraschenden
Mitteilung. Der Baron schrieb mir, es bestehe eine testamentarische Verfügung,
daß bei Aussterben der männlichen Descendenz der Sextus die Vermählung einer
Tochter dieses Hauses mit dem Erben der Grafen von Altenschwerdt das Ver¬
bleiben des Majorats bei der weiblichen Descendenz zur Folge haben solle.
Er schrieb mir zugleich, daß der vorgesehene Fall jetzt eingetreten sei, daß nur
noch eine Tochter in der ältern Linie am Leben und daß er geneigt sei, eine
Verbindung mit unserm Hause zu bewirken. Es geht hieraus also hervor, daß
die Herrschaft Eichhausen, dieser wundervolle Besitz, in deine Hände gelangen
muß, wenn du die Freiin Dorothea von Sextus, die Erbin dieses glänzenden
Namens und Vermögens, heiratest. Diese Angelegenheit ist der zweite Grund,
warum wir hierher gezogen sind. Das Schloß Eichhansen liegt nur drei Stunden
von hier, und es läßt sich eine scheinbar unabsichtliche Zusammenkunft zwischen
dir und der jungen Dame, die ganz unbekannt mit unserm Plane ist, bewerk¬
stelligen. Was sagst du dazu?
Während die Gräfin mit diesen und andern Worten, worin sie sich aus¬
führlich über die Familie Sextus und die Herrschaft Eichhanse» ausließ, ihren
Plan darlegte, lauschte ihr Sohn stumm und atemlos, und mehrfach wechselte
die Farbe auf seineu Wangen.
Meine beste Mutter, sagte er, du redest mir vou Ruhe vor und predigst
mir, ich sollte mich vor Aufregungen hüten, und dabei stürzest du mich inner¬
halb zehn Minuten dreimal in die Lava des glühenden Vesuv und kühlst mich
dreimal wieder im Eismeer ab.
Die Gräfin beobachtete jetzt sorgfältiger das Gesicht ihres Sohnes, woran
sie bis jetzt durch den Eifer ihrer eignen Auseinandersetzung verhindert worden
war, und sah mit Besorgnis, wie sehr der junge Mann bewegt war.
Sie stand auf, schloß ihn in die Arme, drückte einen Kuß auf seine Stirn
und sagte: Ich sehe, wie gut es ist, mein lieber Dietrich, daß wir uns ent¬
schlossen haben, einige Wochen ganz deiner Gesundheit zu leben. Der Aufent¬
halt hier an der See wird dir gut thun. Deine Nerven sind durch die An¬
strengungen deines Berufes angegriffen. Auch ist es uicht meine Absicht, den
Besuch in Schloß Eichhausen zu machen, bevor du gestärkt bist und ein besseres
Aussehen hast.
Erlaube mir, liebe Mama, es scheint mir wohl der Mühe wert, zunächst
deinen Plan im Prinzip zu besprechen. Weißt dn wohl, daß der Gedanke einer
Heirat für mich etwa so erfreulich ist, wie das plötzliche Erscheinen eines
brüllenden Löwen es sein würde, der jetzt hier einträte, um mich zu ver¬
schlingen?
El, welche Phantasie! sagte die Gräfin ärgerlich.
Ich versichere dir, liebe Mama, ich habe ein Gefühl, als sei plötzlich aller
Friede, alle Sicherheit ans der Welt verschwunden. Ein Schrecknis von »och
nicht genan zu erkennender Form grinst mich an. Ich bitte dich, beste Mama,
wozu soviel Klugheit, wozu so viele Pläne? Ich lebe friedlich dahin, ich thue
nichts böses, warum mußt dn mich so erschrecken?
Du bist ein Kind, ich mag dies nicht hören, sagte die Gräfin. Dn kannst
doch nicht immer unvermählt bleiben! Wenn du deinen Weg in der Welt
machen willst, wenn nicht die Bilder deines Ehrgeizes immer bloße Bilder bleiben
sollen, so mußt du für früher oder später eine passende Partie ins Auge fassen.
Ich will nicht hoffen, daß du durch irgend eine zu weit getriebene Tändelei
gebunden bist.
Das nicht, o nein, nichts liegt mir ferner als das. Aber ich will dir gestehen,
liebe Mama, daß niemand wohl ans Erden lebt, der so wenig zum Ehemann
taugt wie ich. Mich ängstigt jeder Gedanke einer Fessel. Ich habe mich in¬
stinktiv schon stets gegen das Eintreten in einen Verein, eine bestimmte Gesell¬
schaft gesträubt, die Ansprüche an mein regelmüßiges Erscheinen stellen könnte.
Mein Klub in Paris ist das einzige Band dieser Art, und dort kann ich kommen
und gehen, wie ich will. Ich bin ein geborner Junggeselle. Ich verehre alle
Frauen, ich erkenne den Liebreiz, die Güte, die Armut überall, in jeder Gestalt
an, aber der Gedanke, mich mit einem einzigen dieser lieblichen Wesen auf
immer zu verbinden, und wäre sie ein Engel mit einer Million — der Ge¬
danke treibt mir den Schweiß auf die Stirn!
Du bist ein Narr! rief die Gräfin heftig.
Es ist möglich, ich glaube es selbst, aber ich bin einmal so beschaffen. Ja,
ich kann wohl sagen, ich weiß so genan, was ich bin, daß du garnicht nötig
hast, mir darüber etwas zu sagen, antwortete er trotzig.
Ein scharfer, bitterer Zug zeigte sich HIN die Lippen der Gräfin, und ihre
weißen Zähne wurden sichtbar, als sie verächtlich lächelte.
'
Da sehe ich ganzdeinen Vater vor mir stehen, sagte sie, das ist dieselbe
Schwäche und derselbe ziellose Eigensinn, die ihn zu Grunde gerichtet haben.
Der Sohn antwortete nicht, drehte die Spitzen seines Schnnrrbartes und
blickte vor sich nieder.
Es thut mir leid, fuhr die Gräfin fort, daß ich dich so selten in der
Laune finde, der Vernunft Gehör zu geben. Seit einem halben Jahre habe»
wir uns nicht gesehen, ich habe mich so gefreut, dich wieder in meine Arme
schließen zu können, und die sechs Wochen des einsame» Aufenthalts hier habe
ich mir als eine Festzeit ausgemalt. Nun sind wir noch keine Woche wieder
zusammen, und schon bist du meiner überdrüssig.
Aber beste Mama, wenn ich nur ein Wort gesagt habe, was dich zu
diesem Vorwurf berechtige» könnte, so will ich mir die Zunge abbeißen. Du
übertreibst furchtbar. Ich habe nur meine Vorliebe für mein jetziges un-
gebuudnes Leben ausgesprochen. Und das lag doch wohl nahe genug angesichts
des Projekts einer gemachten Heirat. Denn gemacht im eigentlichen Sinne des
Wortes wäre doch diese Partie. Weder hat die Dame die geringste Neigung
für mich, noch ich für sie. Wir kennen uns garnicht, haben uns nicht mit
Angen gesehen. Daß ich da erschreckt bin, daß ich zandre, daß ich Bedenken
habe, ist doch wohl natürlich. Ich bitte dich, beste Mama, nicht diese finstre
Miene! Ich mag das nicht sehen. Komm, mach ein andres Gesicht. Dn
weißt, mit welcher Zärtlichkeit ich an dir hänge.
Er näherte sich mit diesen Worten der Mutter, strich ihr mit schmeichelnder
Hand die Stirn glatt und sah sie bittend an.
Sie lächelte, schüttelte den Kopf und sagte seufzend: Ein Kind bist dn,
Dietrich, ein Kind. Überlege, was ich dir gesagt habe, und teile mir deine
Meinung mit, wenn du in einer vernünftigen und ernsthaften Stimmung bist.
Ich habe noch einige Briefe zu schreiben und überlasse dich jetzt deinem Nach¬
denken.
Der junge Graf ging, als er allein war, unruhigen Schrittes hin und
her und seufzte mehrfach.
Was alles auf mich einstürmt! dachte er. Ich weiß kaum »och, was ich
zuerst anfange», was ich zuerst bedeuten soll! Diese gute Mutter! Sie ist
so besorgt um mich, sie will immer das beste, sie ist wie eine lebendige Vor¬
sehung, aber wahrhaftig, ich bin wie ihr Staatsgefangner, ich bin wie el»e
Drahtpuppe in ihrer Hand! Nun will sie mich verheiraten, und ich sehe es
schon voraus, mir hilft kein Gott. Wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hat,
so wird sie es auch durchführen. Es ist ganz »uausstehlich! Und was sie
mir alles erzählt hat! Mein Vater! Das Vermögen! Großer Gott, mir
wirbelt der Kopf.
Er drehte sich unter solchen Gedanken eine frische Cigarrette, zündete sie
an, rauchte mit Wohlbehagen und zog den Brief Odettens wieder hervor. Aber
er hatte keine Ruhe beim Lesen. Wie er so dasaß in seinem bequemen Stuhle
und die schwere» Wolken vor sich hinblies, trug seine Stirn das Gepräge des
Nachdenkens, und seine Angen hafteten beharrlich ans derselben Stelle der feinen
kritzlichen Handschrift. Er las nicht, sondern er grübelte.
Endlich warf er den Rest der Cigarrette weg, faltete den Brief zusammen
und erhob sich.
Ich habe keine Ruhe, sagte er sich, ich werde den Adjutanten aufsuchen.
Er kann mir etwas Vorspielen, daß meine Nerven sich beruhigen. Es war ein
prächtiger Gedanke von Mama, den Adjutanten wiederkommen zu lassen.
(Fortsetzung folgt.)
Der Direktor der Berliner Kunstakademie, Herr Anton von Werner, macht
uns in einer Zuschrift vom 2. Februar darauf aufmerksam, daß in dem zweite»
Artikel unsers geschätzten Mitarbeiters, des Herrn or. A. Rosenberg, über die
Pflege der Monumentalmalerei in Preußen (Grenzboten 1883, Heft 2) sich hin¬
sichtlich der Entstehung der Fresken von Hermann Prell in, Berliner Architekten-
Hause eine irrtümliche Angabe befindet, deren Berichtigung in sachlichen Interesse
wünschenswert erscheint.
Es ist nicht richtig, daß „das Vertrauen der Staatsregierung Herrn Prell
jene umfassende Aufgabe zuwendete," sondern die Entstehung dieser Arbeiten ist
zunächst der Initiative eines Kunstfreundes, des Barons vou Biel-Kalkhorst,
zu danken, welcher eine Stiftung von jährlich 3000 Mark zur Förderung der
Freskomalerei in Privaträumen errichtet hat, mit der Bestimmung, daß ab¬
wechselnd Schüler der Akademien oder Kunstschulen von Berlin, München,
Düsseldorf, Dresden und Karlsruhe die betreffenden Arbeiten ausführen sollen.
In München ist in dieser Weise das Freskobild im Treppenflur der Wimmerschen
Kunsthandlung entstanden. In Berlin hat, da die Aufgabe, die gesamten Wand-
flächen des Architektenhauses iwseo zu malen, zu umfangreich war, als daß sie
für 3000 Mark hätte ausgeführt werden können, der Architektenverein aus seineu
Mitteln 3000 Mark und die Staatsregierung den Rest (3000 oder 4000 Mark)
zugeschossen, die letztere nicht ohne Bedenken darüber, ob es wohl korrekt sei,
Stnatsgelder zur künstlerischen Ausschmückung von Privatbesitz zu bewillige».
Herr von Werner deutet am Schlüsse seiner Zuschrift noch an, daß die von
unserm Herrn Mitarbeiter ausgesprochnen Bedeuten gegen die Anwendung der
Freskvtcchnik — welche auch Herr von Werner als ungeeignet für die Dekoration
von Jnnenrüumc» ansieht — sowie die wegen einer gewissen Jugendlichkeit in
der künstlerischen Auffassungsweise der Prellschcn Bilder sich durch den Charakter
der Stiftung wohl erledigen dürften.
leder einmal richten sich die Blicke der politischen Welt in Frank¬
reich und bis zu einem gewissen Grade auch jenseits der Grenzen
desselben auf das Pariser Oberhaus, und es ist, als ob die
Tage wieder gekommen wären, wo vor zwei Jahren der berufene
Artikel 7 und der Gesetzentwurf in Betreff des Lifteuskrntiniums
jene parlamentarische Körperschaft beschäftigten und schließlich von ihr verworfen
wurden. Abermals ist der französische Senat mit der Lösung einer heikeln
Frage beschäftigt, und die natürliche Folge dieser Lage der Dinge ist, daß die
öffentliche Meinung im Lande sich in zwei Lager spaltet, in deren einem man
den Senat als eine veraltete, nur hinderliche Einrichtung betrachtet, während
das andre die würdigen dreihundert Herren dieser Kammer als mögliche Retter
der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Radikalismus preist.
Am 4. Februar wurde das gegen die Prinzen der früher regierenden
Dynastien gerichtete Proskriptionsgesetz dem Senate, wie es von den Deputirten
beschlossen worden war, vorgelegt, und obwohl der Justizminister dasselbe nicht
als dringlich bezeichnete, entschied man sich sofort, einen besondern Ausschuß zur
Vorbereitung zu wählen. Die Freunde der Maßregeln gegen die Prinzen waren
für Aufschub der Sache, unterlagen aber einer Verbindung des rechten und des
linken Zentrums. Die genannten beiden Gruppen oder Fraktionen berieten
dann getrennt über die Gesetzvorlage. In der Versammlung des linken Zen¬
trums kam es zu einer sehr lebhaften Erörterung, und namentlich Leon Sah
sprach sich mit großer Entschiedenheit gegen die Maßregeln aus. Die Deputirten-
kammer hat nach seiner Ansicht durch Beschluß derselben ihre Befugnis über¬
schritten, die sich nur auf Schaffung allgemeiner Gesetze und auf Resolutionen
erstrecke. Er sei, fuhr er fort, bereit, einer Resolution beizutreten, welche die
Politik der Legitimsten und Bonapartisten verurteile. Von der Existenz einer
orleanistischen Politik wollte er nichts wissen. Der Orleanismns sei, behauptete
er, nur noch ein historischer Begriff, das Wort einer toten Sprache, von Interesse
höchstens für Altertumsforscher; denn die Prinzen des Hauses Orleans hätten
ihn selbst vor aller Welt verleugnet und aufgegeben. Der Redner sagte ferner,
wenn die Regierung wirklich mehr Sicherheit bedürfe, so werde er sich einem
Verbannungsgesetz gegen Individuen, die antirepublikanische Manifeste erließen,
nicht widersetzen, er müsse aber darauf bestehen, daß solche Personen von den
gewöhnlichen Gerichten vorher verurteilt, nicht aber willkürlich ihrer Stellen
beraubt und aus dem Lande vertrieben würden. Der Senat könne nur dann
zu einem Wahrsprüche gegen die Prinzen aufgefordert werden, wenn er sich in
einen obersten Gerichtshof verwandelt habe, der nach dem üblichen Rechte Ver¬
fahren müsse. Die Sache habe übrigens nichts mit einem Vertrauensvotum
für das Kabinet zu schaffen. Es gebe dermalen kein solches, und einem zu¬
künftigen Ministerium, dessen Charakter man nicht kenne, unbeschränkte Gewalt
in der Angelegenheit zu übertragen, könne er sich durchaus nicht entschließen.
Schließlich verwarf die Fraktion das Gesetz mit 30 gegen 5 Stimmen. Die
Beratung der Rechten dauerte mir wenige Minuten. Man erklärte sich eben¬
falls gegen das Gesetz, beschloß aber, sich sowohl bei der Debatte im Ausschusse
als bei der im Plenum möglichst im Hintergründe zu halten und die Opposition
gegen die Anstreibungsmaßregeln den gemäßigten Republikanern zu überlassen,
damit unnötige Verbitterung vermieden werde.
Was hiernach vorauszusehen war, geschah, indem zunächst ein Ausschuß
gewählt wurde, der sich gegen die von der Regierung mit der zweiten Kammer
vereinbarten Maßregeln erklärte, und in den parlamentarischen Kreisen von Paris
herrschte schon am Donnerstag die Meinung vor, das Plenum des Senats
werde dieselben ohne weiteres ablehnen. Andrerseits blieb auch die Negierung
sest und war entschlossen, sich aus keinen Kompromiß einzulassen. Der Melon-ü,
ein Blatt der gemäßigten Republikaner, berichtete nach einem Ministerrate, der
am Dienstag unter Vorsitz Grcvys stattgefunden hatte: „Wie auch die Ab¬
stimmung im Senat ausfallen möge, der Kriegsminister wird dem Präsidenten
der Republik ein Dekret zur Unterzeichnung vorlegen, welches diejenigen der
Prinzen des Hauses Orleans, welche Posten im Heere bekleiden, in Dispvnibilität
versetzt." Ist das richtig, und das Blatt pflegt gut unterrichtet zu sein, so
wird das Kabinet FaWres die Taktik wiederholen, welche von der Regierung
befolgt wurde, als sie der Verwerfung des obenerwähnten Artikels 7 durch den
Senat eiligst die Märzdekrete gegen die Jesuiten folgen ließ. Ein solcher
Schritt aber würde ganz entschieden eine arge Unbilligkeit sein. Es liegt Kar
auf der Hand, daß, während die Verbannuugsklauscln des in Rede stehenden
Gesetzentwurfes der Regierung die Macht verleihen sollen, den Prinzen Na¬
poleon zu beseitigen, falls die Gerichte ihm nichts anhaben können, die andre
Klausel, welche die Mitglieder der frühern französischen Herrscherfamilien von:
Dienst im Heere ausschließt, vorzüglich gegen die orleanistischen Prinzen ge¬
richtet ist, und diese kann man, da sie nicht gegen das dermcilige Regime ge¬
arbeitet haben, anständigerweisc nicht in die Verbannung schicken, und so umgeht
man das, indem man eine Maßregel gegen sie in Vorschlag bringt, welche aller
Wahrscheinlichkeit zufolge dieselbe Wirkung haben würde, indem die Prinzen
nach ihrer Entlassung aus der Armee freiwillig das Land räumen würden.
Daß man von einer solchen Maßregel üble Folgen fürchtet, zeigt eine Notiz
in der ^nstios, in welcher augedeutet wird, nächstens würde eine Anzahl von
Generalen und Obersten der Pariser Besatzung durch andre Offiziere ersetzt
werden — ein sehr ungewöhnliches Verfahren, das nur in Zeiten heftiger
Krisen eingeschlagen zu werden Pflegt.
Inzwischen wurde es mit jedem Tage augenscheinlicher, daß das Kabinet
Fallieres nur einen provisorischen Charakter trug, und die Annahme, daß es
lediglich die bevorstehende Debatte des Senats über die Proskriptionsgcsetze ab¬
warten werde, um bei Präsident Grevy seine Entlassung zu erbitten, ver¬
breitete sich in immer weitern Kreisen. Es ist der Lage der Dinge offenbar
nicht gewachsen, und daneben fällt der eigentümliche Umstand ins Gewicht, daß
bei der Ernennung der neuen Minister mehrere auffällige Mißgriffe begangen
worden sind. So wurde das Dekret, welches den Vorsitzenden des Ministerrates
ernannte, gegen alles Herkommen nicht von Duelerc, sondern vom Justizminister
Deves unterzeichnet, und so wurde ferner die Wicderanstellung der Mitglieder
des Kabinets, welche ihre Entlassung gegeben hatten, niemals offiziell bekannt
gemacht. Die Abgeordneten von den Fraktionen der Rechten waren daher sehr
wohl berechtigt zu dem kühlen und kritischen Empfange, der ihrerseits dem neuen
Kabinet zu Teil wurde, als es zum erstenmal vor die Kammer trat; denn das
bei der Ersetzung Duclercs beobachtete Verfahre» stand weder im Einklange mit
den Regeln der parlamentarischen Regierung, noch war es der Form nach kor¬
rekt. Die republikanische Mehrheit geriet über diese Haltung der Rechten in
sittliche Entrüstung, aber man weiß jetzt, daß Grevy selbst die Lage nicht ohne
Bedenken ansieht und lebhaft wünscht, ohne weitern Aufschub ein endgiltiges
Kabinet zustande bringen zu können. Es würde in der That sonderbar sein,
wenn er, der sich sonst mit fast übertriebener Strenge an den Buchstaben der
Verfassung hält, ein solches Versehen begangen hätte; indeß mag sich das daraus
erklären, daß die Minister ihre Portefeuilles uur so lange behalten sollten, bis
die Frage wegen der Proskription der Prinzen gelöst wäre.
Das verlängerte Interregnum am Quai d'Orsay ist ein sehr charakteristisches
Zeichen für die Lage der Dinge, besonders wenn Jules Ferrh, der allgemein
als zukünftiger Premier betrachtet wird, sich, wie vermutet wird, energisch den
auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs widmen sollte. Drei der Mitglieder
des ehemaligen Ministeriums Gambetta, Rousseau-Waldeck, Raynal und General
Campenou, haben sich Ferry angeschlossen und würden wahrscheinlich in ein von
ihm gebildetes Kabinet eintreten. Er ist bereits mehrmals zum Präsidenten
berufen worden, und jeden Tag kann man erwarten, daß eine neue Minister¬
liste veröffentlicht wird.
Mittlerweile hatte der Senator Testelin, das einzige Mitglied des vom
französischen Oberhause zur Prüfung des Proskriptionsgesetzes gewählten Aus¬
schusses, welches der Maßregel günstig gestimmt ist, eine Unterredung mit Fäl¬
liges und dem Justizminister, in deren Verlauf er sich erkundigte, ob die Re¬
gierung bereit sein werde, auf eine Verständigung einzugehen, die einer seiner
Kollegen von der republikanischen Union vorschlagen wolle. Es scheint noch
immer, als ob darauf nicht zu rechnen sei, doch begab sich der Justizminister
nach dieser Besprechung ins Elysee zu Grevy, um ihm über den Stand der
Dinge nochmals Bericht zu erstatten.
Die Pariser Presse fuhr währenddessen fort, über das fragliche Gesetz sehr
verschiedener Meinung zu sein. Dies gilt auch von den republikanischen Blät¬
tern, und selbst die, welche früher für gambettistisch galten, stimmen in der Sache
keineswegs überein, wie denn die RöMvliauö I^'M«M8ö das Gesetz mit großer
Wärme lobt und empfiehlt, während?g.ris es aufs heftigste angreift und ver¬
urteilt. In einem teilweise recht interessanten Artikel des VoltMö versucht
Alfred Naquet den Beweis zu führen, daß die Verwerfung des Proskriptivns-
gesetzes von feiten der Senatoren leine schädlichen Folgen für die Republik
haben werde, selbst wenn das Ergebnis eine Kammeranflösung und eine Neu¬
wahl sein sollte. Alle Deputirten, welche gegen die Maßregel gestimmt hätten,
würden von den Wählern als Orlecmisten betrachtet werden, die meisten von
ihnen würden ihre Mandate verlieren, und die Fraktionen der republikanischen
Union und der äußersten Linken würden an Kopfzahl zunehmen. „Aber gerade
aus diesem Grunde, so fährt der Verfasser des Artikels fort, werden weder
Grevy noch der Senat eine Auflösung wagen. Sie werden sich nicht nach Art
des Marschalls Mac Mahon und des Senats von 1877 in den Abgrund stürzen.
. Sie werden sich gezwungen sehen, den Beschluß der Kammer im Palais Luxem-
bourg gutzuheißen, oder, wenn die Gutheißung nicht erfolgen sollte, dem Lande
in Gestalt von Dekreten die Sicherheit und Beruhigung zu verschaffen, welche
die Senatoren ihm verweigert haben." Naquet legt Gewicht auf den Umstand,
daß Grevy, als er sich für oder gegen das Prvskriptionsgesetz zu entscheiden
hatte, sich auf die Seite derjenigen Mitglieder des Kabinets Duelerc stellte,
welche der Maßregel günstig gestimmt waren, und prophezeit zuversichtlich, es
werde weder zu einer Kammeranflösung noch zu einem Konflikte zwischen den
beiden Häusern des Parlaments kommen. Wir sind der Meinung, daß er sich hierin
täuscht. Als Freund des in Rede stehenden Gesetzes ist er selbstverständlich
geneigt, die verwickelte Lage, die es hervorgerufen hat, günstig aufzufassen, und
wenn etwas wahres in seiner Meinung liegt, die Gegner desselben würden von
der großen Masse der Wähler als mehr oder weniger mit der orleanistischcn
Partei shmpathisircud betrachtet werden, so gilt das wohl nur von den Haupt¬
orten des Landes; denn der Orleanismus wird von den Bauer» der Provinz
schwerlich begriffen, ja die meisten werden von ihm nicht einmal wissen, daß er
existirt.
Edouard Lockrvy, ein Radikaler, der in der Kammer den Verbessern ngs-
autrag auf sofortige Streichung der vrlcauistischen Prinzen aus den Listen der
Armee und der Kriegsflotte unterzeichnete, bemerkt in einem sehr massiven Artikel
im KgWizI, daß das Proskriptionsgesctz jetzt nicht mehr in erster Linie stehe,
das große Problem des Tages liege vielmehr in dem voraussichtlichen Konflikte
zwischen den beiden Kammern der Gesetzgebung. Angesichts eines solchen vermag
er nur einen Ausgang zu erkennen, die Beseitigung des Senates. Wir können ihm
darin nicht Recht geben, da der Senat fast der einzige Repräsentant der kon¬
servativen und maßvollen Republik ist, die Thiers allein für lebensfähig erklärte,
und da nach seinem Wegfall alsbald die Radikalen zur Herrschaft gelangen und
dann der reinen Anarchie die Wege ebnen würden. Aber lassen wir ihn sich
expektoriren. Er schreibt: „Der Streit zwischen dem beschränkten und dem all¬
gemeinen Stimmrechte ist in Begriff, sich zu erneuern. Man erhebt die Frage,
ob Revision oder Auflösung. Gesetzt den Fall, der Senat lehnte das Gesetz
in einem monarchischen Fieber- oder Wahnsiunsanfalle ab, glaubt man, daß die
Deputirtenkammer, herausgefordert und verwundet, ruhig die Arme übereiuander-
schlagen und die Ohrfeige von feiten der Senatoren einstecken würde? Die
Kammer würde von der Regierung energisches Handeln fordern. Die Verwerfung
von Artikel 7 hatte die Verjagung der Jesuiten zur Folge. Die Verwerfung
dieses Gesetzes würde mit der Austreibung der Prinzen endigen. Und die Kammer
würde Recht haben. Die Prinzen intriguirten, sie waren freilich keine unmittel¬
bar drohende Gefahr, aber sie werden es werden, wen» der Senat sich rücksichts¬
los und leidenschaftlich ihrer Sache annimmt. Barthelemy Se. Hilaire würde
sie zu Prätendenten weihen. Er würde sie mit einer Partei versehen, ihnen
Macht verschaffen und ihre Freunde in der Armee ermutigen, er würde zu Un¬
gehorsam und Meuterei aufreize«. Die Regierung würde gezwungen sein, zu¬
zuschlagen. Wenn die Regierung etwa zögern sollte, den Schlag zu thun, so
würde sie umgestürzt werden und ihre Nachfolger desgleichen, wenn sie denselben
Weg beschütten. Dann würde eine Auflösung unvermeidlich werden. Aber unter
was für Bedingungen? Die Parteigänger des Senats und der Prinzen auf
der einen Seite, die Republikaner auf der andern. Wenn andernfalls die Re¬
gierung der Kammer gehorchen sollte, was bestimmt zu erwarten ist, so würde
wieder um eine Revision des Oberhauses nicht herumzukommen sein; denn wie
könnten wir mit einem Senate existiren, der sich stets dem Willen der Nation
widersetzt? sWille der Nation ist immer das Streben und Verlangen der libe¬
ralen und radikalen Parteien, die Konservativen gehören nicht zur Nation, die
politisch Gleichgiltigeu natürlich anch nicht, ganz wie bei uns.^ Die Väter des
Senats mögen sich in Acht nehme». Die republikanische Sache ist kein Kinder¬
spiel. Wir leben in einer ernsten Krisis, und angesichts der gegenwärtigen Ver¬
wicklungen dürfen die Deputirtenkammer und Frankreich sich nicht schwächlich
zeigen."
Verstündiger spricht sich der lölLgraxliv, das Organ des zukünftigen Kabinets,
aus. Er sagt, wenn der Senat das Proskriptiousgesetz verwerfe, so werde die
Regierung sich in die dadurch geschaffne Lage fügen müssen. Sie könne die
Prinzen nicht durch besondres Dekret ihres Wahlrechts berauben und sie nur
wegen Unfähigkeit oder groben Mißverhältnis aus der Armee entfernen. Kein
Dekret könne somit die erste Klausel des Gesetzes ersetzen. Was aber die Aus-
weisuugstlaul angehe, so könne die Regierung nach deren Verwerfung durch den
Senat die Mitglieder der alten regierenden Häuser keinesfalls aus dem Lande
treiben. Sie habe selbst erklärt, daß keine Gefahr vorhanden sei. Wenn daher
die Vvrbeuguugsmaßregel, welche sie das Parlament zu beschließen ersticht hat,
vom Oberhause abgelehnt würde, welchen Weg hätte sie dann einzuschlagen?
Sollte sie vor die Deputirtenkammer treten und von ihr einen Jndemnitäts-
beschluß erbitten, den die Senatoren verweigern würden, so wäre das eine lächer¬
liche Parodie des repräsentativen Regierungssystems. Das hieße Abschaffung
des Parlamentarismus und Ersetzung desselben dnrch einen allmächtigen Konvent.
„Die Regierung, so schließt der lelögrcPbö, kann nur die Mittel anwenden,
die ihr zur Verfügung stehen, sie kann selbst mit Unterstützung der Mehrheit
im Palais Bourbon keine neuen Mittel schaffen. Nichts kann an die Stelle
des Gesetzes treten, und das Gesetz muß von beiden Kammern beschlossen werden.
Eine Resolution, bloß in dem einen oder dem andern Hause durchgegangen,
kann es nicht ersetzen."
Wir können dem nur beistimmen, und wir glauben, daß der Senat keinerlei
Ursache hat, sich vor entschiedenem Auftreten zu fürchten, und daß er sich dessen
bewußt ist. Der zur Prüfung des Proskriptionsgesetzes von ihm niedergesetzte
Ausschuß legte am Donnerstag durch den Senator Akkon einen Bericht vor,
der sich ganz entschieden gegen dasselbe erklärte, ein Votum für die Dringlichkeit
der Sache wurde beantragt, und man beschloß, dieselbe am Sonnabend im Plenum
zu erledigen. Es scheint daher sicher, daß der Fabresche Gesetzentwurf, mit dem
sich Regierung und Deputirtenkammer einverstanden erklärt haben, vom Senate
abgelehnt werde» wird. Die Vertreter der Regierung sprachen im Senatsaus¬
schusse nicht mit der Entschiedenheit, welche eine ernste Krisis einflößt, sie wußten
nichts von einer Gefahr für den Staat, die in einer Verwerfung des Gesetzes
liegen würde. Alle im Amte gewesenen Staatsmänner erklärten sich energisch für
Mäßigung und gesunden Menschenverstand. Drei oder vier Botschafter der Republik
haben ihr Abschiedsgesuch eingesandt, und andre scheinen desgleichen zu beab¬
sichtigen. Das alles muß notwendig auf die öffentliche Meinung wirken, und
so hat der Senat, wenn er sich gegen das Gesetz erklärt, eine starke Unterstützung
hinter sich, und sein Schritt wird sicher von gutem Erfolge sein. Akkon sagte
ausdrücklich, daß der Ausschuß sich von einem staatsmünnischen Verfahren weder
dnrch Gerüchte über einen drohenden Konflikt noch durch die Furcht vor einer
Auflösung habe abhalten lassen, und zu gleicher Zeit betont er, daß von einer
Hinneigung zu monarchischen Bestrebungen bei einer Körperschaft, die stolz darauf
sei, durch und durch republikanisch zu sein ^etwas zu viel behauptet^, nicht die
Rede sein könne.
Diese Äußerungen entsprachen vollständig denen des ehemaligen Ministers
Waddingtou. Er bemerkte, er und seine Freunde wären noch heute wie vor
zehn Jahren fest entschlossen, die Republik ebenso gegen Prätendenten wie gegen
Revolutionäre zu verteidigen. Ihre Pflicht wäre aber auch, sie gegen ihre
eignen Fehler zu schützen. Er wies darauf hin, daß die Negierung die Existenz
irgendwelcher Verschwörungen oder Gefahren für die Republik entschieden in
Abrede gestellt habe, und behauptete, daß an den Anklagen gegen die Prinzen
auch kein Schatten von Wahrheit sei. Wenn man Geburt und Vermögen,
wenn man nicht Handlungen, sondern bloße Existenzbedingungen als Grund zu
Mißtrauen ansehen wolle, so sei das der erste Schritt zur Revolution. Die
einzige Antwort hierauf von feiten der Gegner sei, daß die Prinzen nicht in
die Kategorie der gewöhnlichen Staatsbürger eingereiht werden könnten, daß
alle andern Nationen und alle frühern französischen Regierungen sich geweigert
hätten, Prätendenten im Lande zu dulden, und daß diese Leute sich niemals
der Republik unterworfen hätten. Gegen ihre Ränke sei der Staat nicht ge¬
nügend gerüstet, und er müsse wenigstens mit gesetzlicher Befugnis ausgestattet
werden, sie zu bestrafen oder zu verbannen. Diese Gründe würden stärker ins
Gewicht fallen, wenn der Kammer nicht der Vorschlag gemacht und von ihr
gutgeheißen worden wäre, für das Vergehen eines Prinzen alle, mich die un-
schuldigen, zu bestrafen.
Es liegt in der That in dem ersten Artikel des Fabreschen Gesctzvorschlags
etwas, was gegen die allergewöhnlichsten Begriffe von Billigkeit grob verstößt,
und so haben die Senatoren, wenn sie das Interdikt nicht wollen, das über
alle Bürger königlichen Geblüts verhängt werden soll, das öffentliche Gewissen
auf ihrer Seite. Sie werden der Republik einen unschätzbaren Dienst er¬
weisen, wenn sie dieselbe vor einer Überstürzung bewahren, welche die Erinnerung
an 1793 wachruft. Das Verfahren der Deputirtenkammer erscheint aber umso
unbegreiflicher und ungerechter, wenn man es mit deren Haltung in der Amnestie¬
frage vergleicht. Die von den Kommnnarden verübten Verbrechen waren un¬
geheuerlicher Art. Kaum war ein schrecklicher Krieg zu Ende gegangen, so
erhob sich, während der Feind noch eine Anzahl von den Pariser Forts besetzt
hielt, die Hauptstadt gegen die Nation und verband sich zu deren Bekämpfung
mit Mördern und Brandstiftern. Für diese Unthaten wurden viele streng be-
straft, einige mit dem Tode, andre mit Verbannung. Aber die, welche letztre
überlebten, wurden nach wenigen Jahren begnadigt, sie kehrten in die Heimat
zurück, und jetzt predigen sie nicht nur Lehren des Umsturzes krassester Art,
sondern haben zum Teil sogar Sitz und Stimme in der Volksvertretung. Wenn
der Republik Gefahr droht, so lauert dieselbe in den Reihen der Parteien, die
mit der Kommune zusammenfielet?, im Lager der Radikalen, und nicht in den
Kreisen der Monarchisten.
Jetzt, wo es gewiß ist, daß der Senat das Poskriptionsgesetz verwerfen
wird, ohne sich ans Erörterung seiner Einzelheiten einzulassen, fragt es sich,
welche Wirkung diese Entscheidung auf die Deputirtenkammer und das Land
ausüben wird. Ein Ergebnis haben wir schon oben erwähnt: das gegenwärtige
fragmentarische Kabinet wird seinen Abschied nehmen. Die Herren traten auf
eine Weise, die gegen alles Herkommen verstieß, ihr Amt an und haben für
zwei wichtige Departements keine Kollegen zu gewinnen vermocht. Obwohl sie
in der Deputirtenkammer die Mehrheit sür sich haben, finden sie in der öffent¬
lichen Meinung keine Stütze, und nach dem Votum vom vorigen Sonnabend muß
ein neuer Versuch unternommen werden, eine Regierung auf dem ordentlichen
Wege zu bilden. Die anomale Lage des Ministeriums Fallieres zeigt deutlich
den ganzen Charakter der durch Prinz Napoleons Manifest herbeigeführten Krisis
und die Gefahren, welche immer die Folge sind, wenn schwache leitende Poli¬
tiker die Zügel locker lassen und gestatten, daß die Radikalen mit ihnen durch¬
gehen. Überrascht, verlor das Kabinet Duclere die Geistesgegenwart, vergaß, daß
die Initiative ergreifen schon die halbe Schlacht gewinnen heißt, und gab, statt
dem Floqnetschen Antrage Widerstand zu leisten und ihm einen bestimmten Gegen¬
antrag gegenüberzustellen, schwachmütig dem Sturme der Linken nach. Der
erste falsche Schritt hatte eine Reihe ähnlicher zur Folge, und Fälliges, der
mit guten Vorsätzen begann, wurde hastig zu Maßregeln gedrängt, die nicht im
Einklange mit den verständigen Ansichten standen, die er ausgesprochen hatte.
Sein Ministerium blieb ein Torso, erst ohne Kriegsminister, dann ohne einen
Leiter der auswärtigen Angelegenheiten und ohne einen obersten Chef der
Marine.
Wenn der bonapartistische Prätendent mit seinein Manifest den Zweck ver¬
folgte, Verwirrung anzurichten und zu zeigen, wie leicht sich der Gleichmut der
Deputirtenkammer stören läßt, so kann er sich des vollständigsten Erfolges rühmen.
Gegenwärtig giebt es in Frankreich nur zwei solid regierende Mächte: den
Präsidenten und den Senat; nur deren Aktion kann in die Leitung der öffent¬
lichen Angelegenheiten wieder Ordnung und Takt bringen. Auf die Ver¬
werfung des Proskriptionsgesetzes wird der Rücktritt der jetzigen Minister folgen,
und dann wird sich mit dem Erscheinen des neuen Premiers und der An¬
kündigung seiner Politik das Temperament der Kammer zeigen. Wer er sein
wird, ist noch unbekannt, wahrscheinlich Ferry, vielleicht Brisson. Im franzö-
fischen Unterhause herrscht eben kein Überfluß an bedeutenden Staatsmännern.
Ein Mangel der gegenwärtige» Einrichtungen ist, daß sie die begabtesten Po¬
litiker bewegen, sich im Senat eine ruhige und würdige Stelle zu suchen, ein Be¬
streben, welches die Deputirten ihrer am meisten zu Führern geeigneten Mitglieder
beraubt. Alle Exminister flüchten sich in das Oberhaus wie in einen Ruhehafen.
Nähme diese Körperschaft im Staate eine Stellung ein wie der Senat in den
Vereinigten Staaten, so würde das gut sür das Land sein. Wie die Dinge
stehen, ist die Eigenschaft des Senats, auf Männer von Fähigkeiten starke An¬
ziehungskraft auszuüben, el» Nachteil für die Deputirtenkammer, der umso ge¬
fährlicher ist, je größerer Macht sich diese Körperschaft erfreut. Wir werden
jetzt einen Konflikt der beiden Kammern erleben, und das neue Ministerium
wird die nicht beneidenswerte Aufgabe haben, sich eine Politik auszusinnen,
die auf eine Versöhnung hinzuwirken geeignet ist.
MWas zweite Kaiserreich galt als der Höhepunkt politischer und wirt¬
schaftlicher Reaktion^ es ist von den Koryphäen des heutigen
Regiments oft genug so bezeichnet worden. Dennoch hat die dritte
Republik den Cäsnrismus auch in dieser Beziehung in den
Schatten gestellt.
Es erschien freilich als ein Triumph ohne gleichen, daß die Regierung
eines geschlagenen Landes binnen zwei Jahren Anleihen im Betrage von sechs
Milliarden Franks ohne formelle Schwierigkeiten mit einem beispiellosen Über¬
angebot von Kapital zustande brachte, während das siegreiche Nachbarland vor
dem Ausbruche des Krieges von den Börsen des eignen Landes im Stiche ge¬
lassen worden war und sich an die englische Börse hatte wenden müssen. Selbst
diese Börsen, die damals dem eignen Lande versagt hatten, waren jetzt eilig,
den Segen des Kapitals über Frankreich auszuschütten. Allein dieser merk¬
würdige Eifer für das „Beste" Frankreichs hat eine starke Schattenseite in der
Thatsache, daß die direkten Bankiersprovisionen, um welche der Ertrag der allein
in den Jahren 1871 bis 1878 gemachten französischen Anleihen dem Staate
gekürzt wurde, den Betrag von 300 Millionen Franks erheblich übersteigen —
ganz abgesehen von den Zwischenposten der schwebenden Anleihen, deren Betrag
man gegenwärtig aus 2 Milliarden beziffert und an denen die „Bankiers" direkt
ebenfalls mehr als 300 Millionen Franks „verdient" haben. Hierzu kommt der
indirekte Gewinn, der sich aus der Agiotage ergiebt und dessen Betrag sich nach
Milliarden beziffert, da der erste Emissionskurs der fünfprozentigen Rente wenig
über 80 war und der letzte unter 90 blieb. Man kann aber ohne weiteres
behaupten, daß von den ersten Zeichnungen sämtlicher Anleihen nur ein ver¬
schwindender Betrag in die Hände des Publikums direkt gelangt ist, da die
Zeichnungen fast sämtlich durch die Hunde von Kommissionären liefen und von
diesen nach Belieben behandelt wurden. Dabei realisirte der Staat aus den
Anleihen von 1871 und 1872 allein 1140000000 Franks weniger, als er nach
dem Nominalbetrage hätte realisiren sollen. Später gestaltete es sich allerdings
günstiger; jedoch war auch dann der Hauptvorteil von der Börse bereits vorweg¬
genommen worden. Hierzu hatten die Anleihen des Staates bei der Bank in
erster Linie beigetragen. Denn diese Anleihen wurden zum unerhörtesten Staats-
geschenk an die HÄutö-tmanos gestaltet, indem man der Bank gestattete, den
vollen Betrag der bei ihr aufgenommenen verzinslichen Darlehen ihrerseits durch
Ausgabe unverzinslicher Noten auf das Publikum abzuwälzen.
Selbstverständlich wußte die Kg,nec-üimlio<z ihre Pfeifen daraus sofort zu
schneiden. Die Bankaktien, die größtenteils in ihrem Besitz waren, und zwar
von ihr vielfach billig gekauft im Laufe des Krieges, wo die kleinen Kapita¬
listen entmutigt waren und vielfach selbst Geld brauchten, wurden nun zu
einem Agivtagepapier ersten Ranges. Die großen Dividenden, die sie selbstver¬
ständlich verteilen konnte, wo sonst jedermann darbte, da ihr ja die Zinse» von
zwei Milliarden aus der Staatskasse zuflössen, während sie dafür keinen realen
Wert, sondern nur unverzinsliche Scheine ausgegeben hatte, mußten die Bank¬
aktien zum preiswertesten Papiere machen, was die Börscnpresse selbstverständ¬
lich in das beste Licht setzte. Und zu Kursen, welche an den Lawschen Schwindel
erinnerten, verkaufte Rothschild und Genossen die billig gekauften Aktien, um
sie dann, als normalere Verhältnisse zurückgekehrt waren, infolge deren die
Bankdividenden entsprechend zurückgingen, zu den niedrigern Kursen leicht wieder
an sich zu bringen. Ebensowenig wie die Hautö-tmknoö skrupulös war, als es
galt, auf dem Wege der gewöhnlichen Agiotage aus dem durch den Krieg ver¬
ursachten Unheil Nutzen zu ziehen, ebensowenig war sie jemals, wie wir schon
oben gesehen haben, skrupulös, wenn es galt, ihre bösartigsten Gründungen
dnrch den Staat „saniren" zu lassen. In der freundschaftlichsten Weise über¬
nahm denn auch der französische Staat einen Haufen echter Gründerbahncn, die
kaum die Betriebskosten deckten, und zahlte den Gründern, was sie dafür zu
fordern für gut fanden!
Thiers, den ehedem Rothschild befehdet und, wenigstens nach den Behaup¬
tungen der Finanzreklame jener Zeit, vom Ministerposten gestürzt hatte, war
längst der Mann Rothschilds geworden. Er war ja immer nur „Oppor¬
tunist," also einer jener Politiker, die nicht lenken, sondern sich lenken lassen.
' Es genügt ihnen, sich das Ansehen zu geben, Prinzipien zu besitzen, aber sie
Hüten sich wohl, solche thatsächlich zu entwickeln. Als er dann an die Spitze
der neuen französischen Republik trat, war er selbst großer Aktionär ge¬
worden und repräsentirte eine kleine Geldmacht, welche wenigstens befähigt, die
Interessen der großen Geldmächte zu begreifen und sich einzubilden, daß sie mit
den seinigen identisch seien. Auch als Politiker war er lediglich Kapitalist.
Ihm genügte es, den alten Ruhm Frankreichs als eine Aufspeicherung — bei
der er doch auch einigermaßen mitgewirkt — zu betrachte», und er war über¬
zeugt, daß sich mit diesem aufgespeicherten Ruhmeskapital die »eueren Nieder¬
lagen gar wohl bezahlen ließen. Von ihm ist das geflügelte Wort: In Frank¬
reich soll der Reichtum nicht als Verbreche» bestraft werden. Aber dieses so
oft zitirte Wort ist das furchtbarste, allerdings negative Urteil, das über die
Politik Thiers' selbst ausgesprochen werden konnte. Es ist nicht mehr und nicht
weniger als eine vage und unmotivirte Entschuldigung der Politik, die darauf
hinauslaufen mußte, die Finanzkoterien zur unumschränkten Herrschaft in Frank¬
reich zu bringen, und das Wort beweist, daß Thiers nicht unbewußt und
vielleicht auch nicht ohne Gewissensskrupel seinen Weg ging.
Wenn Thiers, der ehrgeizig genug war, um selbst thätig zu sein und selbst
einzugreifen, uoch mit einer gewissen Selbständigkeit die Geschäfte der Börse
und des Herrn von Rothschild im französischen Staatswesen besorgte und diri-
, girte, so bedeutet die Stellung, welche der jetzige Präsident einnimmt, für die Börse
einen entschiednen Fortschritt. Mac Mahon wollte die Politik Thiers' fortsetzen,
ohne sie zu begreifen. Er meinte, dieser habe thatsächlich eine neue politische Kon¬
solidation des Staates im Auge gehabt, wie er dies so oft in seinen öffentlichen
Kundgebungen ausgedrückt hatte. Und Mac Mahon wollte nun ins soldatische
übersetze», was er in Thiers diplvmatisirend verkörpert gesehen hatte. Da aber
geriet er bald genug in Konflikt mit der HÄuts-tmimos, die freilich vorsichtig
genug war, ihn nicht gewaltsam zu reizen, sondern vorzog, ihn, nachdem sie ihre
Täuschung erkannt hatte, von seinem Posten hinwcgzunörgeln.
Grevy ist der Mann, den die Hg-nee-lmWos nach Thiers braucht. Sie
hat nicht mehr eine Brücke nötig, um zur Staatsgewalt hinaufzusteigen, und
eine jüngere selbständige Kraft würde oft genug allzu eigenwillig verfahren
wollen. Dies hatte man sogar noch an Thiers zu tadeln, und es war der
Grund, weshalb ihn schließlich doch die Hg.ues-lini»lo6, die anch die politischen
Parteimänner jeder Richtung in Frankreich genügend beherrscht, um in der
Kammer Konstellationen nach Belieben hervorzurufen, fallen ließ. Und über
Mißgriffe in den Personen setzt sich die Rimw-lluMvs mit der größten Ele¬
ganz hinweg, was Gambetta, der sich wirklich einbildete, ein Geschöpf seiner
selbst zu sein, sehr gut erfahren hat.
War vorher, unter Thiers, unter Mac Mahon und selbst während der
ersten Zeit der Präsidentschaft Grevys, der finanzielle Charakter der gegenwärtigen
Herrschaft in Frankreich noch verhüllt, seit dem Ministerium Gambetta ist der¬
selbe zu voller Klarheit herausgetreten. Seitdem kann auch das blödeste Auge
nicht mehr verkennen, wie von der Börse aus die französischen Minister gelenkt
werden wie die Marionetten. Das Spiel Perlicke-Perlucke auf den Kasperle-
Theatern ist hochpolitisch geworden, es bestimmt nicht nur allein die wirtschaft¬
lichen Aktionen, man braucht es auch politisch, ganz von s-mors.
Es hieße Vontoux eine Bedeutung weit über Verdienst und Wert zumesse»,
wollte man von ihm sagen, daß die Frivolität der großen Faiseurs ihn ver-
anlaßt habe, denselben entgegenzutreten. Boutoux trat lediglich aus gegen
Rothschild, wie mehrere ehemalige Rothschildsche Beamte konknrrirend gegen
ihn aufgetreten sind: in Paris Pereire, in Frankfurt Erlanger. Aber es ist
charakteristisch, daß er unter seiner Firma, der „Christianisirung des Kapitals,"
die trotz allen Widerspruchs von interessirter Seite vorhanden war, so großen
Anklang fand. Im Publikum zeigte sich unbewußt ein Zug, der offenbar
ausging von der Empfindung, daß eine gewissermaßen fremde Macht seine
wirtschaftlichen Verhältnisse okkupirt habe und beherrsche. Und der verhältnis¬
mäßig sehr starke Zudrang, den Bontonx von Seiten der kleinern Kapitalisten
hatte, läßt erkennen, daß diese Empfindung sehr in die Breite ging und weite Kreise
erfaßt hatte. Ist doch selbst die offne Unterstützung, welche Vontoux in Wien
bei der Regierung fand, wesentlich auf jene Empfindung zurückzuführen. Ohne
sich darüber recht klar zu sein, fühlte man in Frankreich den finanziellen Druck, den
eine verhältnismäßig kleine Koterie auf den mobilen Besitz und seinen Bestand
ausübt, unerträglich werden; während die österreichische Regierung andrerseits
sich über ihre ausschließliche Abhängigkeit von dieser Finanzkoterie ebenfalls
keine Illusionen machen konnte. Nur waren beide Teile irre darin, daß sie
meinten, der empfundene Druck lasse sich durch ein ebenfalls rein finanzielles
Gegengewichts beseitigen; beide mußten daher schwer enttäuscht werden und nach
Fehlschlagen des Experiments umso tiefer in die ärgste Abhängigkeit von den
alleinherrschendenNinanzmächten zurückfallen.
Übrigens waren sich die letztern bald genug über die Tendenz, welche
Bontonx verfolgte, klar.^- Sie sahen in letzterem lediglich den kecken Revolutionär,
der nicht sowohl neues schaffen, als einfach die alten Herrscher, wenn nicht be¬
seitigen, so doch Herabdrücken und sich an ihre Stelle setzen wollte. Wenigstens
wollte er mit ihnen teilen. Anfänglich behandelte Herr von Rothschild den
kleinen neuen Konkurrenten sehr von oben herab. Die Union. Mu^rail in
Paris, die überdies Bontonx nicht einmal gegründet, in die er sich nur hinein¬
gesetzt hatte, konnte nicht sonderlich gefährlich werden. Dergleichen Konkurrenten
gab es in Paris genug, und sie dienten sämtlich mit oder ohne Willen dem
Rothschildschen Interesse. Auf dem Boden der Rente, welcher in Paris und
an den übrigen französischen Börsen immer der beherrschende bleiben wird,
kann überhaupt noch lange nicht daran gedacht werden, dem Rothschildschen
Einflüsse irgend etwas anzuhaben. Und daß etwa die französische Regierung
einen finanziellen Konkurrenten irgendwie begünstigen könne, daran ist nicht zu
denken. Die Abhängigkeit dieser Regierung und auch die des französischen
Parlaments von der Börse ist besiegelt.
Im cisleithanischen Österreich aber hatte die Regierung thatsächlich revo¬
lutionäre Gedanken, und deshalb war Bontoux in Wien keineswegs so leicht
zu nehmen wie in Paris. Seit der Gründung der Läuderbank, von der
aus sofort die bedeutendsten Finanzgeschäfte, welche insbesondre die entstehenden
orientalischen Verhältnisse in die Hände Bontoux' bringen sollten, war an der
Donau Gefahr für die Rothschildgruppe und deren Hanptaktionsinstrnment, die
Österreichische Kreditanstalt, entstanden. Bontoux beabsichtigte, indem er sich
zunächst in Serbien festsetzte, nichts geringeres, als von hier aus das ganze
türkische Eisenbahnwesen und das Monopolwesen dort wenigstens nach Thunlich-
keit in seine Gewalt zu bringen. Und wäre ihm dies gelungen, so hätte aller¬
dings der Nothschildsche Einfluß an der Donau den schwersten Schlag er¬
litten. Die Rückwirkung des angebahnten serbischen Erfolges auf Ungarn war
schon bemerklich, und in Osterreich ging Bontoux der Rothschildscheu Position
bereits ohne alle Rücksicht zu Leibe durch verschiedne Gründungen, welche gewisse
Nothschildsche Monopole direkt angriffen. So durch die Alpine Montangesellschaft,
welche bestimmt war, den noch nicht in Nothschildsche Abhängigkeit geratenen
Hüttenwerken Österreichs einen Zentralpnnkt für eine gegen Rothschild zu er¬
öffnende Konkurrenz zu bieten.
In der That, so viele kleine Konkurrenten im Laufe der Zeit auch Roth¬
schild gegeuübergetreten waren, so stark und mit so geschickter Benutzung
schwacher Punkte war noch keiner aufgetreten. Und zugleich war nach dem
Stande der Verhältnisse auch garnicht daran zu denken, diesen Gegner aus dem
Boden, wo er so stark auftrat, anzugreifen und zu stürzen. Man mußte ihn
daher in Paris, wo er an sich wenig gefährlich war, wo er aber seine Reserven
hatte, zu fassen suchen. Daher wurde denn auch der Nothschildsche Angriff
gegen Bontoux dort mit größter Schärfe geführt. Es entwickelte sich eine so
mächtige Kontremine gegen die Bontoux-Werte, insbesondre die Aktien der Union
AMLi'iüg, daß der Sturz Bontoux' schon im November 1881 unvermeidlich
schien. Indeß schlug er den Angriff glänzend ab, die Gegner vermochten am
Liquidationstage die Stücke, welche sie zu jedem Preise verkauft hatten, nicht
zu liefern, da dieselben von Bontoux und seineu Freunden festgehalten wurden.
Bontoux diktirte nun den Liquidationskurs, der fast sechsmal den nomineller
Wert der Titel überstieg, und es kam im Hause Rothschild zu jener geheimnis¬
vollen blutigen Katastrophe, die man vergeblich durch die sonderbarsten Mittel
zu verheimlichen gesucht hat.
Bvntonx stürzte aber doch wenige Monate später, allerdings weniger durch
das Geschick seiner Gegner, als durch seine eigne unbegreifliche Unvorsichtigkeit
und Unüberlegtheit. Die Stärke der Position Bontoux' dem ersten Angriffe
Rothschilds gegenüber hatte wesentlich beruht auf der Rcgistrirung der Aktien
der Union ^ensralv. Die Aktien lauteten nicht auf Inhaber, sondern auf
Namen, und diese Ware» in den Büchern der Bank registrirt, Bontoux kannte
also die Aktienbesitzer, und es war ihm leicht, auf diese so einzuwirken, daß sie
dieselben auch unter den stärksten Einflüssen der Gegenpartei nicht abgaben,
sondern festhielten, indem er darauf hinwies, daß am Lieferuugstage die
Kontreminc weder zu den von ihr limitirten niedrigen Kursen, noch über¬
haupt zu liefern imstande sein würde, und daß dann notwendig die Diffe¬
renz, die alsbald zwischen den niedrigen Kursen und dem effektiven Preise,
den nun die wirklichen Inhaber der Aktien nach Belieben feststellen konnten,
als reiner Gewinn ihnen in die Tasche fallen mußte, Bontoux riet also
seinen Klienten, von dem Angebot der Kontremine, das ja lediglich ein fiktives
war und berechnet, mir zu drücken, den möglichsten Vorteil zu ziehen und zu
laufen, was angeboten werde. So war um Liqnidationstage ein ungeheures
Dekouvert vorhanden. Die Verkäufer, welche liefern sollten, besaßen nichts und
konnten nichts erlangen. Die Käufer, denen geliefert werden mußte, hatten
bereits alles Material und gaben nichts ab. So ergab sich denn mit Not¬
wendigkeit das obenbezeichnete Resultat.
In dieser Weise hatte Herr von Rothschild oft genug gehandelt — nicht
nur gegen seine unmittelbaren und ausgesprochenen Gegner, sondern weit mehr
noch gegen das Publikum, das durch die Vorspiegelungen der kleinen Helfers¬
helfer der Börse, der Makler, der Kommissionäre und Agenten, veranlaßt
worden war, in Blanko zu kaufen öder zu verkaufen, und das dann am Li¬
quidationstage unbarmherzig „abgeschlachtet" wurde. Der Tag des November
im Jahre 1882, wo die Nemesis ein erstesmal auch gegen diese Herren ihr
Haupt erhob, scheint indeß nicht furchtbar genug gewesen zu sein, um ihrem
Treiben Einhalt zu gebieten.
Die Unvorsichtigkeit Bontonx' nach seinem Siege über die Rothschildgruppc
ging aber nach drei Seiten hin; und sie ist so unbegreiflich, daß man versucht
wird anzunehmen, es sei seinen Feinden geglückt, einen irreführender Ein¬
fluß auf ihn zu gewinnen. Zunächst vergaß er, welchem Umstände er eigentlich
seinen Sieg verdankte. Er ließ in der Generalversammlung der Union MneMg be¬
schließen, die Namenaktien in Inhaberaktien umzuwandeln, wodurch er alle Kontrole
über die Besitzer verlor, welche Kontrole doch, wie wir gesehen haben, ihm den
Sieg über seine Gegner in die Hand gegeben hatte. Nunmehr konnte sich eine
Kontremine gegen ihn mit Erfolg etabliren, dieselbe konnte unter der Hand sich
der nötigen Stücke zur Lieferung versichern und damit am Tage einer neuen
Liquidation eine Hausseposition, die damit sofort luftig wurde, über den Haufen
blasen wie ein Kartenhaus. Hierzu kam, daß Bontoux unterließ, sich nach
Möglichkeit neu zu stärken, obgleich er der stärksten Kapitalmacht gegenüber-
stand und diese auf das ärgste gereizt hatte. Anstatt die günstige Stimmung
der Aktieninhaber nach einem ungeheuern Gewinne, den sie gemacht hatten und
der mehr als einer Verzehnfachung des von ihnen angelegten Kapitals gleichkam
zu benutzen und das ganze Kapital der nur teilweise eingezahlten Aktien ein¬
zuziehen, zugleich aber auch eine bedeutende Reserve zurückzulegen, vergaß dies
Bontoux völlig; er ließ vielmehr die eingezahlten Aktien für vollbezahlt durch
die gemachten Gewinne — die doch zum großen Teile noch in der Schwebe
waren — erklären und nützte zwar dadurch zunächst einigermaßen dem Börsen¬
stande der Papiere, aber die innere Stärke seiner Position wurde dadurch un-
gemein geschwächt. Endlich ließ er die Emission junger Aktien beschließen. Auch
hierdurch schuf er sich nur scheinbar eine Verstärkung seiner Position, umso-
mehr, als die neuen Aktien nicht sofort zu liefern waren, sondern erst später
zur Ausgabe gelangen sollten. Hierdurch kreirte Bontoux zunächst nur eine»
neuen Agiotagetitel, der anfänglich zu seinen Gunsten getrieben schien, bald aber
gerade seinen Feinden zum schärfsten Mittel diente, ihn zu stürzen. Offenbar
kam es ihm bei Kreirung der neuen Titel nicht nur darauf an, die Hilfsmittel
seiner Agiotage zu erweitern, sondern zugleich neue Nesourcen zu gewinnen und
eine zahlreichere Klientel an sich zu fesseln. Allein dann war der Fehler, der
in der Umwandlung der Namenaktien in Inhaberaktien und in der ver¬
späteten Ausgabe der neuen Aktien lag, umso schlimmer.
Wirklich genügten denn auch aus der Basis dieser Fehler seinen Gegnern
wenige Monate, um die Stellung des ehemaligen Rothschildschen Direktors der
österreichischen Südbahn vollständig zu zertrümmern. Der Name Lebaudy ist
bei dieser Gelegenheit zu einer gewissen Berühmtheit gelangt? man hat sogar
von einem „System Lebaudy" gesprochen. Indeß war Lebaudy nur der formelle
Führer der Baisseposition, die sich ans der neuen Basis der Bontonx-Werte gegen
dieselben in leichtester Weise entwickeln konnte. Das „System Lebaudy" war
dabei aber so wenig neu wie die Sache selbst. Lebaudy und das durch ihn ge¬
leitete Konsortium verkaufte einfach zu successive sinkenden Kursen aus Lieferung,
während er zugleich psr eomviAnt eine genügende Menge Stücke an sich brachte,
um, wenn er dieselben mit einem Schlage an die Börse warf, notwendig eine
Panik zu erregen. Selbstverständlich erlitt das Konsortium an den per oomMnt
teuer gekauften und billig an die Börse geworfenen Titeln erheblichen Verlust.
Allein zunächst wurde dieser Verlust gemindert dadurch, daß das Konsortinm
geteilt spielte, indem es auf der einen Seite wilde Verkäufer, auf der andern
zurückhaltende Käufer aufstellte, was schon nötig war, um zunächst die Panik
in vollen Sturz zu bringen. Der Gewinn aber, den sie machten, ergab sich
daraus, daß sie die Aktien der Union MnsMg zwar zu sinkenden, aber immer
noch zu hohen Kursen Z, tsrms verkauft hatten. Durch die Panik aber kamen sie
in die Lage, diese Aktien nun selbst wieder zu einen, Spottpreise per vomMnt
einzukaufen, während die Terminkäufer — und zwar gehörte dazu in erster Linie
die Union gonvr^Is selbst — genötigt waren, die Stücke zu den hohen Kursen
abzunehmen oder die ungeheure Differenz zu zahlen.
Bontvux wäre tot gewesen auch ohne das Dazwischentreten der Staatsprv-
kuratur, welche der an der Börse geübten Gesetzesverletzung, wie dies ganz tra¬
ditionell geworden ist, ruhig zusieht, bis die Müller so genetzt haben, daß nichts
mehr im großen Mehlfaß ist, dann aber, wenn einmal ein Faiseur, der nach
Lage der Dinge Herrn von Rothschild gegenüber stets ein kleiner sein wird, in
seiner Keckheit nud Unvorsichtigkeit gestürzt ist, dem „See ein Opfer" zu
bringen sich beeilt. Bontoux wurde verhaftet; man machte ihm den Prozeß.
Er war zu seinem Unglück nicht — Deputirter, wohl aber der Gegner Roth¬
schilds; sein Vergehen war ein Majestätsverbrechen gegen diesen. Wäre er
Deputirter gewesen, so hätte man ihm so wenig den Prozeß gemacht wie
Herrn de Savary, dem Präsidenten der Zaiuzue as I^on se as ig. I^oire, der frei¬
lich, indem er sein Institut ruinirte, zu Ehren des Herrn von Rothschild han¬
delte und dabei den Stnrmbock gegen Bontoux abgab. Er mußte sich dazu her¬
geben, das unreife und lächerliche Projekt einer Maritimen Bank in Osterreich zu
laneiren, um entweder in die Phalanx Bontvuxscher Unternehmungen, durch welche
dieser den Rothschildschen Einfluß in jenem Lande zu brechen gedachte, einen Keil
zu treiben oder eine Krisis herbeizuführen, wobei man im Rothschildschen Lager
glaubte, daß es der Rothschildgruppe leicht sein werde, eine durch Savarys Ver¬
fahren hervorgerufene Krisis — die, wie wir schon bemerkt haben, ohnedies
unausbleiblich war — rasch zu hemmen oder so zu leiten, daß sie lediglich auf
den berechneten Punkt konzentrirt bliebe. Die Panik wurde denn auch hervor¬
gerufen dadurch, daß Savary alsbald, nachdem er bei der österreichischen Re¬
gierung die Konzessionirung der Maritimen Bank nachgesucht hatte, eine
ungeheuerliche Agiotage in den Anteilscheinen jener Bank begann. Dies war
leicht bei der Mitwirkung der Finanzpresfe und bei dem Spielfieber, das be¬
sonders in Lyon herrschte und den Leuten alle Besinnung derart geraubt
hatte, daß dortige Fabrikanten selbst ihr notwendigstes Betriebskapital in den
Schwindel steckten, was nach dem Krach Zustände der ärgsten Art herbeiführte,
sodaß in der Kammer konstatirt wurde, man könne kaum uoch die Arbeitslöhne be¬
zahlen. Als nun die Maritime Bank nicht kouzessionirt wurde, was aus deu
angedeuteten Gründen mehr im Interesse Rothschilds als Bontoux', des schein¬
baren Konkurrenten, lag, brach der ganze Schwindel in maritimen Anteilscheinen
an der Lyoner Börse zusammen und riß wegen der ungeheuern Engagements,
die sich meist in äußerst schwachen Händen befanden, alles mit sich, insbesondre
aber auch die Boutoux-Werte, in denen die Positionen noch weit umfangreicher,
aber nicht stärker und dabei meist unmittelbar mit denen der Besitzer der
Savary-Werte verquickt waren.
So sehr sich nun auch die Union Avnorg.l6 bemüht hatte, die Hausseposition
ihrer Aktien zu halten, indem sie selbst zu den höchsten Kursen kaufte, was in
diesen Aktien zum Angebot kam — wobei nur dus Unglück war, daß sie nicht
ptii- vomxtÄnt kaufen konnte, sondern ö, tsrms kaufe» mußte, was dann
ihren Sturz herbeiführte als der Krach eintrat —, verlor sie alle Fäden. In
solchen Augenblicken spielen, wie auch sonst im wirtschaftlichen Leben, die Exe¬
kutionen eine verhängnisvolle Rolle. Sobald am Tage des Liquidativnsschlusses
die Differenzen nicht gezahlt werden, sind die Bankiers und Kommissionäre ver¬
pflichtet, die Deckung ihrer Klienten zu jedem Preis exekutivisch an der Börse
verkaufe» zu lasse», »ut dieser Umstand macht jede Panik beim Bestehen um¬
fangreicher, aber schwach fundirter Engagements so gefahrvoll. Durch die ge¬
wöhnliche „Kulanz" der Bankiers und Börsenkommissionäre wird das Publikum
nur zu leicht verlockt, bei Börsencngagements weit über seine Kraft hinauszugehen,
und selbst große Vermögen können dadurch mit einem Schlage verloren gehen.
In schwindelhafter Zeiten wird diese „Kulanz" durch das rapide Steigen der
Kurse überaus begünstigt. Diese „Bankiers," denen man Rührigkeit und größte
Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse ihrer „Geschäftsfreunde" im weitesten Um¬
fange zugestehen muß, hören nie auf, die letztern auf die „günstige" Konstellation
der Börse aufmerksam zu machen, und ihre „Dienste" sind stets bereit. Wo
man ein volles Komptcmtgeschäft machen, d. h. lediglich vorhandenes Baar-
kapital anlegen will, heben sie mit beflissener Zudringlichkeit hervor, wie man
sein Vermögen leicht verdoppeln und vervielfachen könne, wen» man von phi¬
listerhafter Ängstlichkeit abgebe. Der Kommissionär erbietet sich zu „bester" Be¬
sorgung. Man kauft den fünf- oder zehnfachen Betrag des verfügbaren Kapitals.
Der Bankier schießt gern den Rest billig vor gegen Depot. Hat man noch
ältere Papiere, die man nicht gern verkauft, fo giebt man auch diese in Depot
und hat dann doch alle Chancen der neu eröffnete» Gewinnpartei. Daß man
gewinnen wird, daran ist ja gar kein Zweifel, man wird die rechte Zeit zum
Verkauf schon treffen.
Die Erfahrung lehrt die furchtbare Wirksamkeit solcher Beeinflussung. Nicht
selten setze» wohlhabende und reiche Leute ihr ganzes Vermögen auf dieses Spiel.
Vermögen von einer halben Million und mehr wurden auf diese Weise in we¬
nigen Augenblicken verloren. Es ist klar, daß bei einer Panik, in der speku¬
lative Titel ost in wenigen Minuten um zehn, um fünfzig, ja selbst um Hun¬
derte von Prozenten geworfen werden, wie dies beim Bontoux-Krach vorkam,
derartige Depots sofort verschwunden sind; sie haben wie mit einem Zauber¬
schlage ihre Eigentümer gewechselt, und bei Klagbarkeit von Differenzgeschäften
ist der bisherige Depotbesitzer sogar noch zum Schuldner des Bankiers ge¬
worden ! Ist aber schon die Einzelwirkung derartiger Geschäfte eine erschreckende,
so wird die Gesamtwirkung umso ärger, je zahlreicher dieselben sind. Denn
wenn z. B. an einem großen Platze wie Paris nur tausend Differenzen an einem
Tage nicht mehr durch die Depots gedeckt bleiben und diese Depots zum exe¬
kutiven Verkaufe kommen, so macht dies schon den Krach fertig und zieht noch viel-
leicht die zehnfache Zahl von Exekutionen nach sich. Kommen dann noch, wie
dies meist geschieht, Gerüchte von weitern Zusammenbrachen oder von sonstigen
Gefährlichkeiten, so verliert das ehedem so vertrauensselige Publikum den Kopf
vollständig. Gelegentlich des Bontoux-Krachs, der eigentlich Savarh - Krach
heißen sollte, kamen die Gerüchte vom Verschwinden von Depositen, was hin¬
sichtlich der Lanaus as I^on se als 1a I,vir6 auch niemals widerlegt worden
ist. Diese Gerüchte setzten sich fort und trafen auch die Union »'önoralo, die
in dieser Beziehung intakt war und dies auch stets behauptete, die aber gleich¬
wohl bei dem allgemeinen Mißtrauen dadurch aufs härteste getroffen wurde;
wie denn auch durch diese Gerüchte die Verhaftung Bontoux' und Feders zu¬
nächst begründet wurde. Diese Verhaftung war denn auch, wie man es ganz un¬
verhüllt eingestand, der treffende Schlag gegen einen Empörer, der sich vermessen
hatte, der erd gesessenen UMts-tiimnes entgegenzutreten.
Durch den Bontvux-Krach und seine Folgen ist die unumschränkte Macht
Rothschilds in Frankreich bestätigt worden; dieser Krach bedeutet zugleich einen
politischen und einen Nechtskrach ohne gleichen; der letztere freilich schien, wo
man schon oft sonderbare Erfahrungen gemacht hatte, kaum noch von sonder¬
licher Bedeutung, Die Versuche, die Richter zu bloßen Werkzeugen der poli¬
tischen und finanziellen Macht zu machen, sind in Frankreich keineswegs neu;
wie denn auch die Postulate der Absetzbarkeit und Wählbarkeit der Richter, die
dort seit lange als politische gelten, lediglich den Fortschritt auf dem Wege
der Korruption zeigen. Der politische Krach dagegen zeigte sich sofort in seiner
vollen Bedeutung.
Allerdings hatte Gambetta weder politisch noch ökonomisch mit Bontonx
etwas zu thun. Aber er verdankte ebenso wie Bontoux der ^llumoo israöliw
sein Emporkommen. Die finanzielle ^Ikaros isrg-tuts war es, die Gambetta,
als es noch nicht Zeit schien, ihn formell an die Spitze Frankreichs zu stellen,
zum „Dauphin" der Republik machte. Auf ihn waren in der That die höchsten
Erwartungen des Herrn von Rothschild gestellt. Er schwamm selbst im Börsen¬
strudel, und zwar, so viel ihm gegönnt war, obenauf. Seine Heißspornigkeit
mußte, wenn sie erst geklärt war, den Rothschildschen Plänen von höchstem
Vorteil sein; jedoch geklärt werden mußte sie allerdings; sie mußte sich insbe¬
sondre nach der politischen Seite hin abschleifen, auch mußte ihr Träger erst lernen,
das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Unter dieser Voraussetzung
setzte also Herr von Rothschild und die gesamte internationale Hautö-Kinnes
auf Gambetta die stärksten Hoffnungen.
Nun aber, wo Gambetta die von ihm erstrebte Vorstufe seines politischen
Ehrgeizes erreicht hatte, indem er Minister geworden war, sahen sich die Herren
von Frankreich aufs bitterste durch ihn getäuscht. Gambetta bildete sich unver¬
kennbar ein, er verdanke seine politischen Erfolge seit dein Frieden seinen eignen
Verdiensten, und er konnte wirklich glaube», sein Einfluß auf die Kammer sei so
stark persönlicher Art, daß er eine eigne Staats- und Wirtschaftspolitik führen
dürfe. Er wollte sich dadurch sogar neue Verdienste erwerben und damit sein
„Prestige" auf den Höhepunkt heben. So aber hatte Herr von Rothschild es
nicht gemeint.
Unter diesen Umständen handelte es sich also nicht mehr und fast erst in
zweiter Linie um Bontvux, als Rothschild seinen Streich vom 17, Januar führte;
aber Bontvux war allerdings vor der Öffentlichkeit der sehr willkommene Sünden-
bock. Und noch mehr: der Staub, den der Sturm auf Bontvux verursachte,
verhüllte eine andre Bewegung, die von weit größerer Tragweite sein muß als
jene Explosion, deren Spuren eines Tages durch neue Trümmer überschüttet
sein werden. Gambetta befand sich rascher, als jemand je hätte vermuten können,
in der Lage des Generals Dumouriez. Er war zwar mit einer Armee ausge¬
zogen, und zwar mit einer Armee, die er sich blind ergeben glaubte; allein die
Probe traf nicht zu.
Fragte man im Jahre 1841 in Paris: Wer würde in Frankreich ohne
Rothschild eine Anleihe machen? so müßte man heute fragen: Wer würde
ohne Rothschilds Protektion in Frankreich Minister sein können? Der
Sturz > Gambettas bestätigte die Berechtigung dieser Frage. Und wenn die
Politiker der dreißiger und vierziger Jahre das Verhältnis Frankreichs zu
Rothschild als ein unwürdiges geißelten, was sollen die heutigen thun? Die
frühern ließen es wahrhaftig nicht an der schärfsten Charakteristik fehlen,*)
und auch heutzutage mag im Gespräch und im Gerücht von Mund zu Mund
noch mancherlei gesprochen werden. Aber die französische Presse schweigt, und die
Deputirten folgen dem Stern Rothschilds, wie einst die Armee Dumouriez'
dem Stern der Republik gefolgt war, wenn auch aus erheblich andern Gründen.
War nun der Sturz Boutoux' zugleich der Sturz Gambettas, so war er
die Besiegelung der Abhängigkeit der französischen Stantswirtschaft von Roth¬
schild und der Hs-nel-ünMos. Lediglich aus politischen Motiven hatte Gambetta
die Konversion der fünfprozentigen Rente und die Verstaatlichung des Eisen¬
bahnnetzes ins Auge gefaßt. Die im Jahre 1878 von den Gesellschaften
übernommenen Bahnen des sekundären Netzes sind lediglich eine Last für den
Staat; sie sind selbstverständlich mit Kapital überlastet. Dieselben werden zu¬
dem wirtschaftlich stets die Aschenbrödel der sie umgarnenden großen Bahn¬
gesellschaften bleiben. Jeder vernünftige Politiker, als den wir Gambetta trotz
seines Chauvinismus doch immerhin betrachten müssen, muß aber, wenn er an
die Spitze eines Staatswesens wie Frankreich tritt, erkennen, daß eine so voll¬
kommene Umgarnung der Staatsinteressen, wie sie infolge der Beherrschung der
französischen Rente und der Eisenbahnen durch Rothschild stattfindet, zur Er¬
stickung führen muß; und wenn er dies noch nicht erkennt, so muß er jedenfalls
diesen Druck unerträglich finden. Indeß hatte Gambetta viel zu lange und viel
zu sehr unter demselben Zeichen wie Rothschild an der Zerrüttung der staat¬
lichen Selbständigkeit gearbeitet, um nicht den erlittenen Sturz zu verdienen,
was indeß nichts ändert an der Schrecklichkeit der Verrottung, welche dieser
Sturz zum schamlosen Ausdruck bringt.
Seitdem ist die Geschichte der Börse die Geschichte Frankreichs. Die
ägyptische Politik der Nachfolger Gambettas war die Politik Rothschilds, die
man leicht verstehen wird, wenn man weiß, daß die finanziellen Interessen des
letztern am Nil größer sind als die aller andern Finanzgruppen, und daß die¬
selben während der Panik, welcher die ägyptischen Werte zur Zeit der Kata¬
strophe unterlagen, noch ungeheuer vermehrt wurden. Rothschild wollte daher
auch lediglich den stÄwg quo in Ägypten wieder hergestellt wissen und
fürchtete, daß eine kombinirte Aktion zwischen England und Frankreich leicht
zu einem Konflikt führen könne, welcher dann natürlich den Dingen notwendig
einen andern Charakter geben mußte. Die UnVerständlichkeit der jüngsten
französischen Politik im Mittelmeer, die hier und da erstaunlich gewesen ist,
wird sich aufklären, wenn man dies im Auge behält. Denn Rothschild führt
das französische Ministerium am Schnürchen. Allein Rothschild täuschte sich in
Gladstone so sehr, wie er sich kurz zuvor in Gambetta getäuscht hatte; wobei der
für jenen bedauerliche Umstand, daß die Macht Rothschilds in England eine wesent¬
lich geringere ist als in Frankreich und daß die Börse in London noch nicht den
gefährlichen Einfluß hat gewinnen können wie in Paris, sehr ins Gewicht fiel.
Gladstone zog aus dem Zurückbleiben Frankreichs von der Aktion ganz andre
Konsequenzen, als dies Rothschild lieb war; und die Franzosen, die an Tunis
noch genug zu verdauen haben, zugleich aber auch an Madagaskar und an den
Senegal denken, waren anscheinend nicht abgeneigt, einen ovatus vivsiM auf
der Basis der englischen Absichten einzugehen, wodurch Rothschild seinen wirk¬
samsten Hebel zum Emportreiben seiner Interessen verlieren mußte.
Unter dem frivolen Spiel, das sich die Hauts-nimm06 zur Durchführung
ihrer ausbeuterischen Interessen an der Pariser Börse erlaubt, und mit dem
es die Privatinteressen des Volkes ebensowenig schont als die öffentlichen Inter¬
essen des Staates, ist die Nachwirkung des Boutoux-Krachs zu einer tiefen,
schleichenden wirtschaftlichen Krankheit geworden. Gerade wie nach dem Wiener
Krach trotz der Erkrankung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Österreich und
in Deutschland die Lauts-tmAiros unausgesetzt fortfuhr, die aufgerissenen Be¬
ziehungen durch alle möglichen Künste von der Heilung fernzuhalten, bis der
Nachkrach von 1875 die letzten Ähren hereinbrachte, ebenso, aber in weit
höherem Grade, verfuhr jene in Frankreich, von wo aus sie das Ziel der voll¬
ständigen wirtschaftlichen Unterwerfung aller Völker und Staaten des europä¬
ischen Wirtschaftsgebietes, die vou der politischen untrennbar ist, zu vollenden strebt.
Alle gesetzgeberischen Maßnahmen in Frankreich, die sich auf die Wirtschaft¬
lichkeit beziehen, wurden ohne Anstand im Sinne der Börse gelenkt. Die Un-
klagbarkeit der Differenzgeschäfte ist der erste Fall. Ein neues Gesetz soll das alte,
welches verbot, industrielle Aktien unter 500 Franks auszugeben, aufheben und
Aktien von 50 Mark gestatten. Es soll eben kein Ersparnis, selbst das kleinste
nicht, vor den Klanen der Börse sich verbergen können. Die Börse war schon
längst neidisch auf die Ansammlungen in den Sparkassen. Diese sollen nur vor¬
arbeite» für jene, die sich nun die Resultate der Sparsamkeit möglichst bald
sichern will. Umso sicherer ist denn auch die Einwirkung der Börse auf alle
Kreise der Bevölkerung. Die famosen Zeiten der Fronde, wo man nach Be¬
lieben einen Auflauf der Rentiers haben konnte, sind wieder im Anzüge; und
dann hat man nicht nur Rentiers, sondern auch noch Aktionäre, und diese sind
aus guten Gründen noch weit reizbarer als jene.
Unter diesen Aussichten und mit Mitteln, welche sie virtuos zu gebrauchen
versteht, arbeitet die Lauts-tmiwos weiter über den zweiten Pariser Krach hin-
weg. Man hat ihn kaum gemerkt, diesen Krach, so leise war er; es war eigent¬
lich nur ein scharfer Knick des schon Gebrochenen; aber der Knick ging tief.
Das Ministerium Duclerc, obgleich von Kautschuk, es ließ sich noch nicht ballen,
wie Herr von Rothschild wünschte, um es sofort den Engländern, die in Ägypten
ihren eignen Weg gingen, an den Kopf zu werfen. Schwerlich hätte auch
der Wurf sonderlichen Effekt gemacht. Das wagte das Ministerium Duelerc
zu bemerken; das war genug, um es erfahren zu lasse», daß es zu thun
hätte, was Herr von Rothschild befiehlt. Nachdem wenigstens die Rente
während der letzten Zeit wieder einen etwas festern Halt gehabt hatte, ob¬
gleich die wirtschaftliche Krankheit immer weiter um sich fraß und nur durch
die Freycinetschen Staatsbauteu einigermaßen gemildert wurde, begannen die
„wissenschaftlichen" Gallopins Rothschilds auf „volkswirtschaftlichen" Gebiete, die
Herren Leon Sah und Leroy-Beaulieu, von der Reklame als „groß" gestempelt,
in der Presse die Arbeit der Börse, indem sie die Finanzlage Frankreichs, die
sie kaum noch in das rosigste Licht gesetzt hatten, in den schwärzesten Farben
ausmalten. Und diese fortgesetzte Malerei wurde mit allen den Mitteln, welche
der Geldmacht mehr zu Gebote stehen als jeder andern, überall, wo es für
das Börseninteresse gut schien, zum Nushang gebracht. Es sollte uns nicht
wundern, wenn die Gemeindediener in den 37000 Gemeinden Frankreichs auf¬
geschellt hätten, was der große Leroy-Beaulieu und der noch größere Leon Sah
— schon einmal Minister von Rothschilds Gnaden — über die Gefahren der
Rente sagten. Ohnehin hatte sich die zunehmende wirtschaftliche Erkrankung in
Frankreich schon seit längerer Zeit an verschiednen Symptomen erkennen lassen.
Solche Brandartikel, wie sie Leroy-Beaulieu und Leon Say veröffentlichten,
mußten eine umso tiefere Wirkung ausüben, als sie in dem schroffsten Gegen¬
satze standen zu den bisherigen Darstellungen und Schilderungen von Frankreichs
wirtschaftlicher Lage. Bisher und selbst noch nach dem Januarkrach von 1882
schwelgten diese Darstellungen ohne alle Ausnahme in Rohigkeit; die „unerschöpf¬
lichen Hilfsquellen" spielten da noch eine ganz andre Rolle, als die, welche sie eine
Weile selbst in Österreich gespielt hatten; und der Trumpf, der insbesondre auch
in Deutschland von den Börsenblättern so oft aufgeworfen worden war, daß
bereits die gesamte Kriegsentschädigung ans Deutschland nach Frankreich zurück¬
geflossen sei,*) erfüllte alle Köpfe in Frankreich mit Selbstgefühl und Stolz.
Selbst nach dem Krach war man immer noch der festen Meinung, daß von
einer tiefern Einwirkung nicht die Rede sei, und daß bald eine neue Ära des
wirtschaftlichen Glanzes, der sich selbstverständlich im Schiller hoher Börsenkurse
zeigen müsse, anbrechen werde. Auch als man nach und uach, ganz wie bei
uns nach dem Gründerkrach, immer tiefere Einwirkungen auf die wirtschaftlichen
Verhältnisse uach allen Seiten hin wahrnahm, als man mehr und mehr bis in die
kleinsten Verhältnisse hinein fühlte, welche Veränderung in den Lebensbedingungen
sich vollziehe, als es den einzelnen in wachsender Zahl immer schwerer wurde,
ihre Engagements aufrecht zu erhalten und ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen,
glaubten sie noch an die Scheinmalerei der inspirirter Presse und belogen sich
mit dieser über ihre schwersten Angelegenheiten.
Umso heftiger mußte nun ein so scharfer Umschwung, wie er durch die
Veröffentlichungen der beiden obengenannten Publizisten angedeutet wurde, wirke».
Diese beiden, Sah und Leroy-Beaulieu, waren la, wie bemerkt, lange genug als die
ersten Kapazitäten Frankreichs auf demi Finanzgebiete gerühmt worden, also mußte
man ihnen wohl glauben, was sie sagten, obgleich die Regierung diesmal selbst
den Angriffen der Börsenfaiseurs, die sich gegen den Staatskredit Frankreichs
unmittelbar richteten, entgegentrat.
Allerdings, .wie wäre noch unter Napoleon III. ein derartiges Gebahren
der Börse möglich gewesen! Erst die Republik mit ihrer Herrschaft von Börsen¬
männern hat es möglich gemacht, daß Herr von Rothschild, wenn die Staats¬
regierung nicht verfährt, wie er will, ihr „den Bettel vor die Füße wirft-" Die
Rente gilt nun einmal als stärkste Stütze des Staates, weil sie angeblich das
Interesse der Menge der Rentiers aufs engste mit dem Staatsinteresse verknüpft.
Nun ist es auch kein Wunder, wenn Simsons Rütteln an dieser einzigen Säule
des Tempels der Republik sofort alles zu begraben droht.
Zwei Fragen waren es, wie wir schon angedeutet, welche Rothschild ver¬
anlaßten, die Haltung des französischen Ministeriums uicht „patriotisch" genug
zu finden. Die ägyptische und die Eisenbahnfrage. Die erstere haben wir be¬
reits eingehend charakterisirt. Hinsichtlich der letzter» haben wir nur wenig zu
bemerken.
An sich hat die Häute-llimuoL gegen den Bau der französischen Staats¬
bahnen nichts. Man weiß ja, daß dieselben, eingezwängt zwischen die großen
Privatbahnen, nur das Aschenbrödel dieser letzter» sein werden. Allein der Grund¬
gedanke Freycinets, vielleicht des einzige» französische» Staatsmannes der Gegen-
wart von einiger Unabhängigkeit, bei Entwerfung seines „Arbeitsplanes" war,
von den neuen Staatsbahnen aus die Verstaatlichung auch der großen Privat-
bahnen anzustreben. Dieser Gedanke setzte sich offenbar unmittelbar wider das Börsen¬
interesse, Wesentlich diesem Gegensatz verdankte Freycinet seinen Sturz, Aber
auch die Nachfolger wollten wenigstens nicht in aller Form jenen Gedanken der
Hardt-latines opfern; sie wollten dieser nicht von vornherein schon „im Prinzip"
die neuen Staatsbahuen für die Zukunft (natürlich „nur billig") preisgeben.
Allein dies verlangte Herr von Rothschild jetzt entschieden, ebenso wie das Ein¬
schreiten zu seinen Gunsten in Ägypten; und als das Ministerium dennoch
zögerte, erfolgte der Novemberschlag, welcher vollendete, was der Januarkrach
begonnen hatte.
Dieser Novemberschlag machte freilich nicht jenes donnernde Geräusch
wie der Januarkrach, Allein, daß damit die wirtschaftliche Krankheit Frank¬
reichs nach allen Seiten hin intensiv geworden ist, das zeigte sich sofort. Selbst
die gewerbsmäßige Agiotage zeigte sich auf Wochen laug erstarrt. Aber dieser
Erstarrung voran gingen Szenen an den Börsen zu Paris und Lyon, welche
die Erinnerung an die Spielhöllen der Bäder aufs lebendigste wieder vor Augen
führen. Nur der Vorsicht der Hautö-liiiMvö, welche der Kulisse nicht entbehren
kann, und welche schon ihren Zweck erreicht sah mit „Abschlachtnng" des ein¬
gefangenen äußern Publikums, ist es zuzuschreiben, daß nicht auch noch der
Knalleffekt zum Gehör kam. Den Kulissenhäusern und aktiven Kulissenspeku-
lautcu wurde bereitwilligst „prolvugirt." Umsomehr müssen sie tanzen, wie
ihnen gepfiffen wird.
Die Presse aber meldete, daß zwischen Herrn von Rothschild und dem
französischen Ministerium die „Versöhnung" stattgefunden habe, und daß Unter¬
handlungen zum „Ausgleich der beiderseitigen Differenzen" stattfanden. Über
den Ausgang dieser Unterhandlungen ist kein Zweifel. Das Verhalten in der
ägyptischen Frage und die Wendung in der innern Finanzpolitik reden deutlich
genng. Das „Prinzip der Eiscnbahnverstaatlichuug" ist beseitigt. Ein Versuch,
das mobile Kapital zu höherer Besteuerung heranzuziehen, wurde zurückgewiesen,
denn mau darf die Börse nicht verstimmen, sagte der Repräsentant der Regierung
in der Kammer. Die Hauto-lin-mes aber hat ihre Mittel wieder um einige
hundert Millionen Franks vermehrt. Das „Angenehme" ist aufs beste mit dem
„Nützlichen" verbunden worden. Warum sollte also der Herr von Ferriöres nicht
„Republikaner" sein und sich amüsiren? I» der That feierte er seineu neuesten
Triumph durch el» glänzendes Fest, zu dem die Gäste im Extrazug nach
Ferneres abgeholt und im Morgengrauen nach Paris zurückgebracht wurden.
Der Zug verbrannte nicht, wie der verhängnisvolle Zug von 1842. Noch
konnten auch die Gäste von Ferriöres auf der Heimfahrt sich trösten, wie einst
die von Marly, Klein-Trianon, Versailles und Trianon sich wiegte» in dem
famosen Gedanken: ^.prös nous 1s Mu^s.
Denn auch die nächsten Folgen des famosen Manifestes des sonderbaren
unbestrittenen Hauptes der napoleoniden, das seitdem plötzlich die politische
Seite der Dinge in ein noch grelleres Licht setzte, als es der Tod Gcnnbettas
gethan, werden zunächst nur in noch höheren Triumphen der Börse erkennbar
werden.
ekanntlich hat das Gesetz vom 23. Mai 1881 bestimmt, daß die
Mitglieder des Landesausschusses von Elsaß-Lothringen von der
nächsten Session an sich der deutschen Geschäftssprache zu be¬
dienen haben, und daß ihre Verhandlungen öffentlich zu führen
sind. Ohne eine praktische Probe abzuwarten über den Erfolg
dieser Bestimmung, ward bereits in der dann folgenden ersten Session jenes
Laudesausschusses der Antrag gestellt, daß diejenigen Mitglieder sich des
Französischen bedienen dürften, von denen der Präsident des Laudesausschusses
anerkennt, daß sie des Deutschen unkundig find. Die elsaß-lothringische Re¬
gierung erklärte sich natürlich sofort gegen diesen Antrag. Er ward darauf
beim Beginn des gegenwärtigen Reichstages von zwei elsaß-lothringischen
Abgeordneten wieder vorgebracht, und in der letzten Sitzung vor der Vertagung,
am 16. Juni 1882, wurde er nach einer summarischen Verhandlung in erster
und zweiter Lesung angenommen, indem dafür stimmten das Zentrum mit seinen
welfischen Hospitanten, die Fortschrittspartei und ein Teil der Sezessionisten,
während dagegen stimmten die übrigen Sezessionisten, die Nationalliberalen und
die Fraktionen der Konservativen.
Im Grunde kann dies kaum überraschen, denn das Zentrum und die
Welsen lassen keine Gelegenheit vorübergehen, um das deutsche Reich zu
schwächen, und die Fortschrittler unter der Führung ihres Eugen Richter
stimmen von vornherein gegen alles, was von der Regierung ausgeht. Von
den einzelnen Sezessionisten aber darf man annehmen, daß ihr gutmütiges Herz
den Sieg über ihren politischen Verstand davongetragen habe. Der letztere
aber mußte ihnen sagen, daß es vor allen Dingen darauf ankommt, daß die
Elsaß-Lothringer die definitive Zusammengehörigkeit ihres Landes zum deutschen
Reiche anerkennen müssen, wesentlich auch in ihrem eignen Interesse. Es handelt
sich um die wichtige politische Frage, ob eine kleine Klasse der Bevölkerung,
welche fortwährend die Hoffnung auf Wiederherstellung der französischen
Herrschaft lebendig erhält, unterstützt und gekräftigt werden soll oder nicht.
Diese Klasse des höher gebildeten Bürgertums, in steter Wechselbeziehung mit
den verschiedenen elsaß-lothringischen Vereinen in Paris und mit der exaltirten
Pariser Presse, unterläßt nichts, um demonstrativ gegen die Annäherung an
Deutschland zu agitiren. Bei den Lebenden eine Änderung und allmähliche
Aussöhnung mit dem bestehenden eintreten zu sehen, ist nicht zu erwarten;
diese Generation muß erst aussterben, bevor hier eine Besserung in Aussicht zu
nehmen ist. Die meisten dieser Herren können deutsch sprechen, wenn sie wollen
oder müssen, und dies geschieht in ihrem Verkehr mit den nur deutsch¬
sprechenden Volksklassen; im Landesausschuß aber wollen sie nicht deutsch
sprechen, dürfen es auch vielleicht nicht ans Furcht vor den Verketzerungen
der Pariser Presse. Wer zwingt sie denn, eine Wahl anzunehmen, wenn der¬
gleichen Erwägungen bei ihnen maßgebend sind? Was würde die Pariser
Presse sagen, welch einen Triumphgesang würde sie anstimmen, wenn sogar
der deutsche Reichstag die Maßregel des Deutschsprecheus mißbilligte! Hier
liegt dann doch die Schlußfolgerung sehr nahe, daß der Reichstag anerkannt
habe, Elsaß-Lothringen sei ein französisches Land!
Die dritte Lesung hat den erwähnten Antrag glücklicherweise abgelehnt.
Wie anders verstanden es die Franzosen, sich mit solchen Angelegenheiten
abzufinden! Im Ryswicker Frieden 1697 war bekanntlich die Souveränität
Frankreichs über das Elsaß anerkannt worden, doch blieben die reichsständischen
Besitzungen darin in den frühern Händen, z. B. Würtembergs, Badens, Darm-
stadts, Zweibrückens u. s. w. In Straßburg ward die französische Sprache als
Landessprache eingeführt, sie verbreitete sich aber von dort aus nur sehr langsam,
selbst nach dem Frieden von Lüneville (9. Februar 1801), der den Rhein als
Grenze feststellte und u. a. die Entschädigung der vorhin erwähnten Reichsstände
dem deutschen Reiche aufbürdete. Der französische Nationalkonvent hatte jedoch
nicht so lange gewartet, um mit der Sprachverwirrung aufzuräumen: er erklärte
bereits 1789 alles linksrheinische Land als zu Frankreich gehörig und führte
im November desselben Jahres die neue Einteilung in Departements ein, wobei
auch die äöxm't.grQMt« ein H-me-Min se an Las-Min ihre Stelle fanden. Das
eomits ein «gine. xuvlie trat dann am 29. Januar 1794 mit einem Gesetzes¬
vorschlag auf, der die Verbreitung der französischen Sprache auf dem flachen
Lande unterstützen und sichern sollte.
Im Auftrag des Komitees sprach dessen Präsident Bertrand Barrere, Baron
de Vieuzae. Als Advokat in Toulouse hatte er sich schon in jüngern Jahren
durch seine bedeutende Rednergabe bekannt gemacht; 1789 ward er zum Abge¬
ordneten der Reichsstände gewählt, und 1792 zum Präsidenten des Konvents.
Als solcher stimmte er für den Tod des Königs. Er gehörte zu den eifrigsten
Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses und betrat fast täglich die Rednerbühne,
.auf welcher er in den schönsten Phrasen alle Greuel der Schreckensperiode zu
beschönigen wußte, sodaß man ihn 1'^ng.orson av 1z Auillotins nannte. Der
9. Thermidor (27. Juli 1794) und der Fall Robespierres veranlaßten ihn, sich
der siegenden Partei anzuschließen, doch war er ein Jahr später genötigt, sich
der über ihn verhängten Deportation durch die Flucht zu entziehen. Unter
Napoleon I. gehörte er zu den eifrigsten Verteidigern seiner Regierung, ward
jedoch vom Kaiser nicht beachtet. Nach der Julirevolution 1830 wurde er Mitglied
des Departements der Oberpyrenäen und starb später unbeachtet.
Von diesem Barrere rührt nun ein Gesetzesentwurf her, den er in der Sitzung
des Nationalkonvents vom 29. Januar 1794 mit folgender Rede einführte:
„Bürger! Die alliirten Tyrannen haben gesagt: Die Unwissenheit war immer
unsre mächtigste Hilfe; wir müssen die Unwissenheit beibehalten, sie macht Fanatiker,
sie vermehrt die Gegenrevolutionäre. Machen wir, daß die Franzosen zur Bar¬
barei zurückschreiten; benutzen wir die schlecht unterrichteten Völker und die¬
jenigen, welche eine Sprache reden, die von der des öffentlichen Unterrichts ver¬
schieden ist. Das Komitee hat von diesem Komplotte der Unwissenheit und des
Despotismus Kenntnis genommen. Ich richte heute Ihre Aufmerksamkeit auf
die schönste Sprache Europas, auf diejenige, welche zuerst freimütig die Rechte
des Menschen und des Bürgers geweiht hat, diejenige, welche beauftragt ist, der
Welt die erhabensten Gedanken der Freiheit und die größten Spekulationen der
Politik zu überliefern. Lange Zeit war diese Sprache Sklavin; sie schmeichelte
den Königen, verdarb die Höfe, knechtete die Völker.... Endlich gereinigt und
gemildert durch einige Dichter und Redner, erlangte sie ihre Energie wieder,
schien aber nur einigen Klassen der Gesellschaft anzugehören.... Man hätte
sagen können, daß es mehrere Nationen in einer einzigen gab. Diese Unter¬
schiede sind verschwunden, seitdem die aus allen Teilen der Republik versammelten
Bürger in der Nationalversammlung ihre Wünsche für die Freiheit und ihre
Gedanken für die gemeinschaftliche Gesetzgebung ausgedrückt haben. Der kräftige
Ton der Freiheit und Gleichheit ist derselbe, komme er aus dem Munde eines
Bewohners der Vogesen, der Pyrenäen oder des Ccmtals, des Montblanc oder
des Montterrible, der Seeküsten oder der Grenzen. Vier Punkte des Territoriums
der Republik ziehen besonders die Aufmerksamkeit des revolutionären Gesetzgebers
auf sich, in Betreff der Sprachen, welche die der Verbreitung des öffentlichen
Geistes am meisten entgegengesetzten sind und Schwierigkeiten darbieten gegen
die Kenntnis der Gesetze der Republik. Wir haben bemerkt, daß die Mundart
genannt LÄ8-brston, die baskische, die deutsche und die italienische Sprache das
Reich des Fanatismus und des Aberglaubens fortgesetzt haben."
Nun kommen zuerst die Niederbretagner in fünf Departements zur Sprache;
dann aber heißt es: „Wer hat denn in die Departements des Ober- und des
Niederrheins im Einverständnis mit den Verrätern den Preußen und den Öster¬
reichern in unsre überfallenen Grenzen gerufen? Der Bewohner der Land-
schaften, der dieselbe Sprache wie unsre Feinde redet, und der sich mehr für
den Bruder und Mitbürger von jenen hält, als für den Mitbürger der Fran¬
zosen, die eine andre Sprache reden und andre Gewohnheiten haben. Die
Macht der Gleichheit der Sprache war so groß, daß bei dem Rückzüge der
Deutschen mehr als 25000 Landleute aus dem Niederrhein ausgewandert sind.
Die Macht der Sprache und des Einverständnisses, welche zwischen unsern deut¬
schen Feinden und unsern Mitbürgern des Departements vom Niederrhein
herrschte, ist so unbestreitbar, daß die letztern von ihren Auswanderungen nicht
zurückgehalten wurden durch alles, was dem Menschen das teuerste ist, durch
den Boden, der sie zur Welt kommen sah, durch ihre Penaten und die Felder,
die sie fruchtbar gemacht hatten. Die Verschiedenheit der Stände, der Stolz
hat die erste Auswanderung hervorgerufen; die Verschiedenheit der Sprache, der
Mangel an Erziehung, die Unwissenheit hat die zweite Auswanderung zustande
gebracht, welche fast ein ganzes Departement ohne Bebauer zurückläßt. So
setzt sich die Gegenrevolution fest auf einigen Grenzen."
Der Redner geht dann über auf die Basken und auf die Korsen. „Wir
sind dem Volke die Erziehung schuldig, die es in den Stand setzt, die Stimme
des Gesetzgebers zu vernehmen. Welche Widersprüche stellen aber dem ent¬
gegen die Departements des Ober- und Niederrheins, an NordinM, an ?iiüs-
tsrrs, ä'Ils se Vilnius, as I^oirs iutsriöui's, ass Oötss, an Mrä, ass Ls-ssss-
I^rsusss se as Lorss! — Bürger! Die Sprache eines freien Volkes muß
eine und dieselbe für alle sein! Wir müssen den Stolz haben, den die über¬
ragende Vorzüglichkeit der französischen Sprache einflößen muß, seitdem sie eine
republikanische Sprache ist; wir müssen eine Pflicht erfüllen. Wir können die deutsche
Sprache, die für fremde Völker gar nicht paßt, ihrem Schicksal überlassen, bis
die feudale und militärische Regierung, deren würdiges Organ sie ist, vernichtet
sein wird."
Hierauf erhalten die spanische und die englische Sprache ähnliche Abfer¬
tigungen. „Es gebührt nur einer Sprache, die ihre Laute der Freiheit und
Gleichheit geliehen, einer Sprache, die eine gesetzgebende Tribüne und 2000
Volkstribunen besitzt, die große Kreise hat, um ungeheure Versammlungen zu
erschüttern, und Theater, um den Patriotismus zu verherrlichen, es gebührt
nur der Sprache, die seit vier Jahren von allen Völkern gelesen wird, die ganz
Europa die Tapferkeit von 14 Armeen empfinden läßt, die als Werkzeug des
Ruhmes dient bei der Einnahme von Toulon, von Landau, vom Fort Vaubcm
und bei der Vernichtung der königlichen Armeen — nur ihr gebührt es, die
universelle Sprache zu werden!"
An diese Rede schließt sich dann der Vorschlag, ein Dekret zu erlassen,
wonach in den genannten Departements in jeder Gemeinde ein institutsur as
iMßus trÄnsaiss angestellt werden soll, der die französische Sprache allen jungen
vno^Ws männlichen und weiblichen Geschlechts zu lehren hat; die Eltern und
Vormünder sind verpflichtet, die Ihrigen in diesen Unterricht zu senden. Kein
Lehrer darf aus den Priestern irgend eines Kultus gewählt werden, noch aus
den früher privilegirten Kasten; sie werden von den Volksvertretern ernannt
auf den Vorschlag der Volksvereine. Jeder mstiwtkur erhält aus dem öffent¬
lichen Schatze eine jährliche Besoldung von 1500 Franks, monatlich zahlbar.
Sie sind verpflichtet, an den Dekadentagen dem Volke eine Vorlesung zu halten
und dabei die Gesetze der Republik wörtlich zu übersetze». Dieses Dekret wird
in derselben Sitzung ohne alle Diskussion adoptirt und publizirt.
Sehen wir ab von der theatralischen Rhetorik, die nun einmal den
Franzosen angeboren ist, so bleiben immerhin noch einige Punkte bemerkenswert.
Einmal die im Grunde sehr komische Behauptung, daß die französische Sprache
die vorzüglichste sei, seitdem sie eine republikanische Sprache geworden — ein
sonderbares Epitheton für eine Sprache —, dann die überraschende Mit¬
teilung, daß aus dem Departement des Niederrheins mehr als 26000 Land¬
leute ausgewandert seien, und endlich die Maßregel der Anstellung von Sprach¬
lehrern, deren Unterricht für die Eltern und Vormünder der Kinder obligatorisch
gemacht wird. Der Zwang zur Erlernung der französischen Sprache wird also
bis in die Familie hinein ausgeführt. Was würde wohl der Nationalkonvent
gesagt haben, wenn Deputirte ans den Departements des Ober- und Nieder¬
rheins einen Antrag gestellt hätten, der geradeso für den Gebrauch der deutscheu
Sprache sich verwendet hätte, wie der jetzige im deutschen Reichstag für den
Gebrauch der französischen? Als vor einigen Jahren ein Deputirter aus Nizza
die Äußerung that, er und seine Landsleute seien im Grunde doch nur halbe
Franzosen, erhob sich in der Nationalversammlung ein solcher übertäubender
Lärm, daß der Redner die Tribüne verlassen mußte.
Hier ist ein Punkt, an dem wir Deutschen von den Franzosen viel zu lernen
haben. Wir wollen hoffen, daß die Enkel gescheiter und patriotischer sein
werden als ihre Väter!
ur Bekämpfung des in unserm Vaterlande immer mehr überhand¬
nehmenden Lcmdstreichertums*) ist schon viel Tinte und Papier
verschrieben worden. Während die einen die Heilung dieses
sozialen Gebrechens im Massenaufgebot von Gendarmen, in
Arbeitshäusern mit obligater Prügel- und Fastenstrase zu finden
geglaubt habe», empfehlen andre Arbeits- und Heimatsstätten mit liebevollen Haus¬
vätern, mit warmen Suppen und reinigenden Bädern, Beide Parteien scheinen uns
die Sache am unrechten Ende anzufassen. Zur Beseitigung dieses gesellschaftlichen
Übels dient nicht allein die Bekämpfung des schon bestehenden Landstreichertums,
sondern vor allem die Verhütung seines Entstehens und seiner Vermehrung.
Um ein Unkraut mit Erfolg auszurotten, muß man seine Wurzel aufsuchen und
vertilgen, mit ihr fällt auch das von ihr ausgehende Unkraut,
Die Hauptursache des wuchernden Landstreichertums ist in den seit etwa
fünfzehn oder zwanzig Jahren unsicher gewordnen Erwcrbsverhältnissen zu suchen,
welche nicht allein die Arbeiter im engern Sinne betroffen, sondern auch alle
diejenigen Klassen der Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen haben, deren
Einnahmen nur der Lohn für körperliche oder geistige Leistungen sind, ohne
dnrch regelmäßige Gehaltsbezüge oder gut fundirte Renten gesichert zu sein.
Von den Arbeitern im engern Sinne sind nicht am wenigsten die land¬
wirtschaftlichen durch diese Unsicherheit des Erwerbes betroffen worden, sie sind
von der heimatlichen Scholle vertrieben und gezwungen worden, zigeunerartig
einem ungewissen Verdienst in der Ferne und Fremde nachzugehen. Durch die
Entwertung des Geldes in den letzten Jahrzehnten sind die Preise des Grund¬
besitzes in ganz ungeheuern, zu ihren Erträgen in keinem Verhältnisse stehenden
Progressionen gestiegen, und sowohl der hohe Preis der Güter als auch der
Wunsch, das in dem fluktuirenden industriellen und kaufmännischen Erwerb oder
durch Börsengewinn schnell erhaschte Vermögen in dem stabil erscheinenden
Grundbesitz sicher anzulegen, hat einen schnellen Wechsel im Besitzerstande unsrer
Güter veranlaßt. Teilweise kamen dieselben in Hände von Besitzern, welche
trotz ihrer guten Absichten für ihren neuen Beruf nicht die blasse Ahnung von
der Landwirtschaft hatten, teilweise wurden sie für junge Herren erworben,
welche wohl die Annehmlichkeiten des Landlebens zu genießen verstanden, aber
für die schweren Ausgaben, die dieser Beruf in sich schließt, wenn er für sie,
für ihre Leute und für das Allgemeine von Vorteil sein soll, kein Verständnis
hatten. Diese Herren überzeugten sich bald, daß der Ertrag ihrer Liegenschaften
weit hinter der erhofften, dem Anlagekapital entsprechenden Verzinsung blieb.
Aber auch viele der alten, in ihrem Besitze verbliebenen Landwirte sind nicht
imstande gewesen, sich gegen den Zeitgeist zu stemmen, sondern haben sich dem
Tanze um das goldne Kalb angeschlossen, haben teils sich am „Gründen"
beteiligt, teils in Papieren gehandelt, dabei die von den Väter» überlieferten
patriarchalischen Sitten der Einfachkeit, der Sparsamkeit und des Fleißes
aufgegeben und mit allem diesem recht viel Geld verloren. Alle Landwirte
machten die Entdeckung, daß sie „viel zu teuer wirtschafteten." Statt nun
durch intensive Arbeit und durch Einschränkung ihrer Genüsse ihr Budget
wieder ins Gleichgewicht zu bringen, suchten sie Ersparnisse an Arbeitern
und Löhnen zu machen und verkürzten ihrem Dienstmann und Knecht alle
die Natnrallöhne und Deputate, welche dem ländlichen Arbeiter ein men¬
schenwürdiges Dasein allein ermöglichen. Die fntterfrcie Kuh wurde ihm ans
dem herrschaftlichen Stalle getrieben und ihm dafür ein tägliches Quantum
vou zwei bis drei Lidern abgerahmter Milch gegeben; es wurde ihm die Auf¬
zucht eines Schweines verboten, welche allein ihm das Mittel an die Hand
gab, durch fleißige Benutzung aller wirtschaftlichen, ihm sonst wertlosen Abfülle
sich für das ganze Jahr nahrhafte Kost zu schaffen; statt des kleinen Kartoffel¬
feldes, welches ihn auch an den Erntesvrgen und -Freuden seines Herrn stets
Anteil nehmen ließ, erhielt er je nach der Größe seiner Familie ein wöchent¬
liches Quantum Kartoffeln, das Flachsbeet wurde ihm ohne Ersatz gestrichen,
und die winterliche Arbeit des Dreschens, welche ihn nach dem alten Lohnsystem
des „sechzehnten Scheffels" mit Brotkvrn versorgte, wurde ihm durch die
Massenleistung der Dreschmaschine ganz entzogen, er selbst dadurch während des
Winters zum Faullenzen verurteilt. Der landwirtschaftliche Arbeiter, der in
seinen frühern Kontraktverhältnissen ein reges Interesse an seiner kleinen Vieh¬
zucht, seinem kleinen Feld- und Gartenbau hatte, der durch den ausnutzenden
Besitz seiner Kuh, durch die Einheimsung seiner Ernte zu einen kleinen Wohl¬
stande gelangen konnte, dessen Weib durch Wartung des Stalles und Bearbei¬
tung ihres Gartens eine sorgsame Hausfrau wurde, der durch den Besitz alles
dessen um die Scholle seines Herrn gebunden und um Erhaltung dieses Be¬
sitzes zu einer ordentlichen und fleißigen Lebensführung gezwungen war, wurde
durch die Entziehung dieser Wohlthaten und ihre teilweise Umänderung in Geld¬
lohn in einen reinen Tagelöhner umgewandelt und in das besitzlose Proletarier-
tum hineingestoßen. Er war von jetzt an stets bereit und auch darauf gefaßt, den
Hof zu verlassen, an dessen Besitzer ihn weder das Gefühl der Dankbarkeit noch
das Band irgend eines andern Interesses als das der gewährten Arbeit knüpfte,
und Arbeit für bloßes Geld glaubte er im Gefühl seiner Kraft überall zu finden.
An die Stelle der häuslichen Arbeit im Stall und in der Kammer, der Be¬
stellung des Gartens und des Kartoffelackers mit den Vorarbeiten für die Be¬
dürfnisse des Winters trat das Wirtshausleben. Das schnell und war ver¬
diente Geld reizte zur schnellen Ausgabe beim Krüger und Dorfjuden. Wo
früher Herr und Gesinde in mehreren aufeinanderfolgenden Generationen in
patriarchalischen Verhältnissen Mühe und Lust. Freud und Leid geteilt hatten,
stellten sich jetzt Widersetzlichkeiten und Krawatte, Klagen auf beiden Seiten,
Arbeitsnot und Arbeitermangel ein, das ländliche Proletariat war geschaffen.
Es suchte, begünstigt durch die Freizügigkeit, Abhilfe seiner Not in den
Städten, um von diesen mit getäuschten Hoffnungen arbeitsuchend auf die Land¬
straße zu kommen.
In den Verhältnissen der landwirtschaftlichen Arbeitern, welche dem Land-
streichertum das größte Kontingent stellen — freilich soll nicht unerwähnt bleiben,
daß auch ein Teil der geschilderten Besitzer, sowie gewesene Börsianer und
Schornsteinbarone sich mit ihren frühern „Leuten" kameradschaftlich auf der
Landstraße bewegen und nur insofern gegen diese im Nachteil sind, als sie den
Unbilden des modernen Zigeunertums weniger Widerstandsfähigkeit entgegen¬
bringen — in diesen Verhältnissen muß vou seiten der Arbeitgeber eine durch¬
greifende Abhilfe geschaffen werden. Es muß wieder ein stabiler landwirtschaft¬
licher Arbeiterstand hergestellt werden, der mit den schweren Lasten seines Berufs
auch die Wohlthaten genießt, welche das selbsterworbene am heimischen Herde
und auf ihn« bestimmter Scholle gewährt, welche erzeugt werden durch den
Fleiß, den er mit den Seinigen neben der Thätigkeit für den Brodherrn auf
eigne kleine Wirtschaft verwendet. Soweit dieses nicht durch Wiedereinführung
der alten Kontraktverhältnisse von seiten der größer» Grundbesitzer geschaffen
werden sollte — noch vor zwanzig Jahren nahmen wir diejenigen Leute am
liebsten in Dienst, welche ini Besitze einer Kuh und mit voller Wagenladung
Kartoffeln und Kohl anzogen, denn dieser Besitz zeugte am besten für ihre
Tüchtigkeit —, wird die Parzellirung von Domänen und Gütern und die Grün¬
dung kleiner Kolouistenstellen in Erwägung zu ziehen sein. Die Wirkung des
Großkapitals auf den kleinen Handwerker und den Fabrikarbeiter zeigt sich auch
beim Großgrundbesitze in den Händen engherziger Eigentümer gegenüber dem
ländlichen Arbeiter: er absorbirt feine ganze Arbeitskraft und stößt ihn in das
Proletariat.
An zweiter Stelle trägt der moderne „Gerichtsvollzieher" große Schuld
an der gänzlichen Verlumpung vieler bis dahin unbescholtenen und fleißigen
Leute. Der in Vermögensverfall geratene Handwerker und Gewerbetreibende wird
durch die infolge der neuen Gerichtsordnung jetzt gestattete Auspfändung,
welche ihm alles nimmt, worauf seine bürgerliche Existenz beruht, an den Bettel¬
stab gebracht, ohne daß er dadurch seine Gläubiger loswürde. Der durch den
Zwangsverkaus erzielte Erlös seiner Habseligkeiten deckt in den meisten Fällen
nicht einmal die Kosten des Verfahrens. Der Mann, der zu Hause eine aus¬
gepfändete Wohnung findet, und bei dem jeder nen verdiente Thaler von rechts-
wegen seinem Gläubiger gehört, verliert die sittliche Haltung, den Mut und die
Lust zu fernerm Schaffen, er läuft in die Kneipe, um Sorgen und Schande
im Rausch zu ertränken, und endet als heimatloser Vagabund auf der Land¬
straße, seine Familie zunächst dem Armenhause, später dem gleichen Schicksale
überlassend.
Eine Einschränkung des Auspfändungsrechtes ist dringend geboten. In
den nordamerikanischen Freistaaten schützt das Gesetz jede» Schuldner vor der
gänzlichen Auspfändung, indem es ihm den Besitz von Hausrat bis zum Wert
von 300 Dollars 1200 Mark) läßt. Sollte eine ähnliche Maßregel nicht
mich bei uns eingeführt werden können? Die Wirkung einer solchen Verordnung
würde auch i» moralischer Hinsicht nicht zu unterschätzen sein, denn der Über¬
schuldete würde dann nicht mehr veranlaßt sein, den zur Erhaltung seiner
bürgerlichen Existenz ihm notwendigen Hausrat durch Scheinverkäufe an Freunde
und Verwandte zu retten, mit diesen das harte Gesetz zu umgehen und bei
laxer Moral diese Scheinkäufe durch Meineid zu erhärten. Die Verwaltungs¬
behörden beschweren sich, daß ihre Bemühungen gegen die Landstreicherei und
Bettelei durch zu milde Praxis mancher Gerichte gehemmt werden; wir klagen
darüber, daß durch die Strenge des Vollstreckungsgesetzes die Gerichte tausende
bis dahin strebsamer Leute auf die Landstraße jagen und dem Landstreichertum
überliefern.
Auch in der Durchführung der neuen Wirtfchafts- und Zollpolitik unsrer
Regierung erblicken wir eine» starken Schild zur Verhütung des Landstreichertums.
Das Arbeiterversicherungsgesetz wird den durch Alter oder Unfall invalid ge¬
wordenen Arbeiter vor dem Loose des Bummelns und Bettelns bewahren, sowie
durch die neuen Zölle so mancher fleißige Arbeiter, der bis jetzt schutzlos der
Invasion der durch ausländische Konkurrenz ins Land geschleuderten Waaren
gegenüberstand, die unterbrochene gewohnte Arbeit wieder aufnehmen und ein
nützliches schaffendes Mitglied der Gesellschaft entweder bleiben oder wieder
werden wird. Eine Besserung der industrielle» »ut wirtschaftlichen Verhältnisse,
wie sie sich in der letzten Zeit trotz alles Leugnens der Manchesterleute schon
vielfach vollzogen hat, bringt auch eine Erhöhung der Löhne. Verbindet sich
die durch die Besserung des Marktes bedingte Lohnerhöhung noch mit dem
guten Willen der Arbeitgeber, sodaß diese Herren ihren Arbeitern an dem
Vorteil der durch die neuen Zölle gehobenen Geschäftslage auch über das Maß
der eiserne» Notwendigkeit teilnehmen lassen, so werden wir eine Besserung der
sozialen Arbeiterverhältnisse ohne direktes Eingreife» der staatlichen Behörde haben.
Ferner würde auch eine in nicht zu enge Grenzen gesteckte Kolonialpolitik
und eine mit dem Besitz von Kolonien znsammenhä»ge»de auf dem Werbesystem
beruhende Kolonialarmee imstande sein, einen großen Teil derer vor dem Land-
streichertnm zu retten, die in keinen bürgerlichen Rahmen mehr passend, diesem
und dein Verbrechen unrettbar verfallen zu sein scheinen. Mit einer auf die
allgemeine Wehrkraft des Volkes basirenden Armee läßt sich eine Kolonialpolitik
nicht durchführe». Das aus dem ganzen Volke hervorgehende, aus allen seinen
Ständen gebildete Heer ist wohl ein schneidiges Instrument zum Schutze des
Vaterlandes, aber nicht geeignet, weil zu kostbar, um in fernen Tropen im
Kampfe wider Miasmen, wider Wilde und Halbwilde verwendet zu werden.
Andrerseits ist jedoch eine gesunde Kolonialpolitik für unsern Handel und unsre
Industrie wünschenswert. Zu ihrer Ausführung gehören aber Menschen, welche
bereit sind, gegen entsprechenden Lohn Gesundheit und Leben zu opfern. Daß
es solche Leute giebt, beweisen Holland und Frankreich mit ihren Kolvnial-
truppen und Fremdenlegionen, in denen schon laufende von Deutschen zum
besten eines fremden Landes gekämpft haben. Diese Elemente, an denen es
im Lande nie fehlen wird, könnten durch eignen Kolonialbesitz doppelt zum
Nutzen des Vaterlandes verwendet werden, indem sie dem Schmarotzertum der
Landstraße entzogen und unter die Fahne der deutschen Kvlonialtruppe gestellt
würden. Hier würden sie, die ehedem Parias der Gesellschaft waren, dem
Vaterlande neue Wege zu Wohlstand und Ruhm bahnen, sie selbst aber würden
in der Lage sein, sich unter dem Schutze der heimischen Gesetze, im Verbände
mit dem Vaterland bleibend, eine neue und ehrenvolle Existenz zu gründen.
Endlich kann schon in der Erziehung der Jugend dem Hange zum Land-
streichcrtum entgegengearbeitet werden. Schon das Kind muß begreifen lernen,
daß nur Arbeit und Fleiß den Menschen selbständig macht, und daß nur auf
dem Besitz des selbsterworbenen ein dauernder Segen ruht. Das Kind des
Armen sollte am meisten auf die Wahrheit des Sprichwortes hingewiesen werden,
nach welchem jeder seines eignen Glückes Schmied ist. Das Bestreben, sich durch
eigne Kraft emporzuarbeiten, führt den Menschen zur Sittlichkeit, das Sichver¬
lassen auf die Hilfe andrer demoralisirt ihn. Man hüte sich auch vor über¬
eilten, den Kindern erwiesenen Wohlthaten, welche das Selbstgefühl töten und
zur Bettelei führen. In der modernen Sucht der öffentlichen Weihnachtsbe-
fcherungen z. B, in denen arme Kinder eora-w, publico beschenkt werden, liegt
trotz der guten Absicht der Geber der Keim manches Übels. Die Kleinen merken
nur zu bald, daß sie bei dieser Art von Wohlthätigkeit als Staffage für ein
Vergnügen der Reichen dienen, und statt des Gefühls der Dankbarkeit wird
Bitterkeit gegen die Geber, Groll und Haß hervorgerufen, die Gaben werden
bekrittelt, oft beiseite geworfen und als ein ihnen vom Tisch der Reichen zustehendes
Almosen entgegengenommen. „Man unterstütze die Gemeindearmenpflege reich¬
lich und trete geräuschlos da ein, wo diese nicht hinreicht. Man unterstütze
namentlich die Selbsthilfe der Armen mit zweckmäßigen Mitteln, und ist man
genötigt, kräftig einzugreifen, wo der Arme zur Selbsthilfe unfähig ist, so ge¬
schieht dies am besten, wenn der Arme nicht erfährt, woher ihm die Hilfe ge¬
kommen."
och sind keine zwei Monate seit dem Erscheinen einer Broschüre
des Malers Carl Hoff, welche den obigen Titel trägt,*) ver¬
flossen, und schon droht das entsetzliche Wort „Kunstschreiber,"
welches aufs ärgste gegen den heiligen Geist der deutschen Sprache
sündigt, aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wie Honig¬
seim über die Lippen der Herren Ritter vom Pinsel und von der Palette geht,
überall einzureihen, wo man malt, meißelt, zeichnet, baut und modellirt. Welch
eine Fülle der Verachtung liegt in diesem einzigen Worte! Bisher hatte man
nur Stadtschreiber, Gerichtsschreiber, Gutsschreiber, Amtsschreiber; nun hat man
auch einen „Kunstschreiber" erfunden, gegen welchen sich der Künstler mit ebenso
großem Aplomb in die Brust wirst wie der Haudegen gegen den Federfuchser.
Aber die alten Haudegen, solche vom Schlage des alten Blücher, griffen nicht
selbst zur Feder, um sich die leise tretenden und alles verderbenden Diplomaten
vom Halse zu schaffen, sondern sie langten ihr Schwert heraus und schlugen
wild um sich, daß die Wenpapiere in alle Winde flogen. Wenn sich doch auch
die Künstler, die jetzt soviel Druckpapier verschwenden, um ihre Privilegien zu
wahren, an diesem alten Haudegen ein Beispiel nehmen und statt der Feder zum
Pinsel greifen wollten, um der Welt einmal zu zeigen, daß die schöpferische
Kraft, der Genius eine ganz andre und bessere Existenzberechtigung hat und
ganz anders zu reden und zu überzeugen weiß als die Kritik, welche, durch Lob
und Tadel vermittelnd, sich zwischen Künstler und Publikum drängt und, selber
unproduktiv, von den Thaten andrer ihr Dasein fristet.
Aber Worte, Worte, nichts als Worte und keine Thaten! Und gerade
Carl Hoff, der jetzige Professor an der Karlsruher Kunstschule, hat mehr als
mancher andre, der sich in kluges Schweigen hüllt, gegründete Ursache, durch
neue Thaten wieder daran zu erinnern, daß er der Maler der „Taufe des
nachgebornen" in der Berliner Nationalgalerie ist. Seit 1875, in welchem
Jahre dieses Bild vollendet worden ist, bewegt sich seine künstlerische Biographie
in absteigender Linie. Seine Produktivität hat sich in dem Maße verringert,
als seine Lehrthätigkeit zugenommen hat, und über die wenigen Bilder, die er
in den letzten sieben magern Jahren zustande gebracht hat, hat er mehr
Schlimmes als Gutes hören müssen. Es ist daher sehr begreiflich, daß sich
in seinem Herzen viel Galle angesammelt und daß er die Gelegenheit mit
Freuden ergriffen hat, sich die Leber recht frei zu reden. So eine Broschüre
wiegt unter Umstünden eine Badekur in Karlsbad auf, und wir wünschen von
Herzen, daß der Maler, nachdem er sein Herz ausgeschüttet, von seiner Schwarz-
sehcrei, welche auch auf seinen Gemälden bedenklich um sich greift, wieder geheilt
zu seinen Farbentöpfen zurückkehren und sich nicht mehr aus Ärger über die
bösen Kunstschreiber kopfüber in Asphalt und Beinschwarz stürzen möge.
Wenn Herr Hoff nur so aufrichtig gewesen wäre, die Wahrheit zu sage»!
„Ihr habt mich geärgert und chikanirt Jahre lang, jetzt ist die Reihe an mir,
und ich will euch alles, was ihr mir gethan, mit Zinsen heimzahlen!" Aber
das thut er nicht, sondern er drapirt sich mit dem Mantel des Demosthenes,
der gegen die Macedonier zu den Waffen ruft, und spielt sich pathetisch als
Mandatar der gesamten deutschen Künstlerschaft auf!
Man könnte sich hier bereits von dem Schriftsteller Herrn Hoff verab¬
schieden. Denn sobald sich jemand lächerlich macht, hört eine ernsthafte Wider¬
legung auf, und nur noch Mitleid mit dem Ärmsten darf Platz greifen. Indessen
hat seine Schrift in den Bierstuben Münchens viel Staub aufgewirbelt, der
neue Münchener Moniteur, die „Allgemeine Zeitung," hat, da die Schrift
durchaus nicht über München hinaus beachtet werden wollte, seine Spalten
einem noch kräftiger darein schimpfenden Adjutanten Hofes, dem Münchener
Maler Karl Rcmpp, geöffnet, und schließlich hat auch der Nestor Ernst Förster,
welcher Künstler und „Kunstschreiber" zugleich ist, in demselben Organe das Wort
ergriffen, um zum Frieden zu mahnen. Was noch schwerer in die Wagschale
fällt — die Münchener Künstler glauben aus dem allseitigen Schweigen, welches
man bisher außerhalb Münchens über die Hoffsche Broschüre beobachtet hat,
schließen zu dürfen, daß die „Kunstschreiber" durch die Donnerworte Carls Hoffs
einen heillosen Schrecken bekommen haben und bestürzt ins Mauseloch gekrochen sind.
Schon um diese Vermutung nicht aufkommen zu lassen, muß einer von
der verhaßten „Zunft" das Wort nehmen, wie sauer es ihm auch werden mag.
Denn es ist keine Kleinigkeit, sich durch den Wust des Hoffschen Stils, durch
seine verworrenen Perioden, durch seine Begriffserörterungcu, welche von Unklar¬
heit, Widersinn und stilistischen Schnitzern strotzen, hindurchzuarbeiten, um schlie߬
lich zu dem Resultate zu kommen, daß der mutige Paladin der Maler ans fünfzig
Seiten nur leeres Stroh gedroschen hat, aus welchem nicht ein einziges Weizen¬
korn herausgekommen ist. Wochenlang hat diese Broschüre vor mir gelegen, ohne
daß es mir gelingen wollte, sie bis zum Ende zu lesen. Erst die wiederholte Bitte
der Redaktion dieser Zeitschrift hat mich dazu bewogen, dieses Opfer zu bringen.
Ich habe schon früher zu meinem Schmerze erfahren, daß Herr Carl Hoff
nicht bloß schlechte Bilder, sondern anch schlechte Verse macht. Daß er auch
eine überaus schlechte Prosa schreibt, macht das Maß des Unheils voll. Wie
soll mau sich mit einem also dreifach Geschlagenen auseinandersetzen? Soll
man Böses mit Gutem vergelten und einem Manne, der sich herausnimmt,
ästhetisch-philosophische Definitionen aufzustellen, die notwendigen Aufklärungen
über die einfachsten Regeln des Satzbaues und die Gesetze der Logik geben?
Aber wer weiß, ob solche Lehre» der Weisheit auf fruchtbare» Vode» falle»,
zumal da sich Herr Carl Hoff auf seine Schriftstellers nicht wenig zu Gute
thut. Er hat den streitbare» Theologen und Schulmänner» des vorigen Jahr¬
hunderts, die auch heute noch im „Literarische» Zentralblatt" und in der „Deut¬
schen Literaturzeitung" ihre Auferstehung feiern, ihre Fechtmethode abgeguckt.
Wenn er einen Satz des Gegners zitirt, schaltet er »ach jedem dritte» Worte
ein sie! el». Das sieht «»geheuer gelehrt aus und iniponirt namentlich den
Künstlern, die auch hinterher nicht lange Gesichter mache», wie andre unan¬
genehme Mensche», wenn das ewige sie! nicht weiter begründet wird, Herr
Hoff scheint auch erstaunlich viel gelesen zu haben, den» er spickt seine Broschüre
mit gelehrten Zitaten. Er zitirt den Guido von Arezzo u»d den französischen
Philosophen Helvetius, deren Werke doch nicht in jedermanns Händen zu sein
Pflegen, mit einer staunencrregeiide» Geläufigkeit, Man ist schon drauf und
dran, über dieser Gelehrsamkeit, die selbst von einem Künstler geachtet sein will,
die Unbeholfenheit des Stils und die Verworrenheit der Begriffe zu vergessen.
Da fällt das Auge beim Hin- und Zurückblätteru auf S, 13 auf folgenden
Satz: „Die bekannte Redensart, Rafael wäre der größte Künstler gewesen, auch
we»n er ohne Arme geboren worden, mag in der Selekta einer hohem Töchter¬
schule ihre Wirkung nicht verfehle»." El el, Herr Hoff, dieser Satz wirft auf
Ihre Belesenheit el» schlechtes Licht! Es scheint Ihnen unbekannt zu sein, daß
diese „bekannte, auf höhere Töchterschulen berechnete Redensart" auch el» klas¬
sisches Zitat ist, ein geistreiches Paradoxon, das wir keinem geringern als Lessing
verdanken. Schlagen Sie einmal in der „Emilia Galotti" den vierten Auftritt
des ersten Aufzuges nach. Da werden Sie finden, daß der Maler Conti,
nachdem er bemerkt hat, daß er, denk seinem Auge, „wirklich ein großer Maler,
daß es aber seine Hand nur nicht immer sei," an den Prinzen die Frage
richtet: „Oder meinen Sie, Prinz, daß Rafael nicht das größte malerische Genie
gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?"
Und da ich einmal Herrn Hoff auf Lessing, als auf deu Urquell seiner „Redensart
für Sclektanerinnen" gewiesen habe, mag er sich gleich auch noch das Seiten¬
stück zu diesem Zitat aus dem letzten Stück der „Hamburgischen Dramaturgie"
zu Herzen nehmen, welches also lautet: „Nicht jeder, der den Pinsel in die
Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler."
Nachdem so die Provenienz jenes tiefsinnigen Wortes festgestellt ist, will
ich mir die grausame Genugthuung nicht versagen, wörtlich folge» zu lasse»,
was Herr Hoff über jene „bekannte Redensart" sagt, deren Urheber er wahrscheinlich
uuter den „modernen Kunstschreibern" sticht, „Wir habe» hierauf zu erwidern,"
sagt er in dem feierlichen Plural der Majestät, zu welchem er sich durch sein
Mandat, im Namen der gesamten deutscheu Künstlerschaft zu sprechen, berechtigt
glaubt, „wir haben hierauf zu erwidern, daß, wenn Rafael ohne Arme gehöre»
wäre, er weder der große Künstler Rafael, noch überhaupt ein Künstler gewesen
wäre, sondern ein elender beweinenswerter Krüppel, dem die Natur wohl die
Fähigkeit und den Trieb künstlerischer Reproduktion, aber nicht die Möglichkeit
der Bethätigung derselben gegeben Hütte, Das wäre allerdings die grausamste
»Entmannung des Genies.« Für ein solches Wesen wäre der Tod das einzig
wünschenswerte gewesen. Aber wer eines der herrlichsten und ebenmäßigsten
Menschenbilder, welches die Natur hervorzubringen vermochte, im Ernste sich
derart verstümmelt vorstellen kann, um etwa aus der Kleinheit seines eigenen
Könnens eine um desto größere innerliche Künstlerschaft zu konstruiren, solchen
Rafnels im Geist erwidern wir: Ihr seid ja keine Krüppel, ihr habt ja Arme,
also heran an die Tafel,") und gezeigt, wie es mit der Klarheit der Bilder in
eurem Kopfe bestellt ist."
Es ist hart, daß sich der „Kunstschreiber" Lessing auf seine alten Tage
solche Dinge von Herrn Carl Hoff aus Karlsruhe sagen lassen muß, von Herrn
Carl Hoff, dessen Berechtigung, überhaupt die Feder zu ergreifen und seine
Stimme öffentlich zu erheben, obendrein so überaus zweifelhaft ist. Was soll
man dazu sage», wenn ein Mann, der sich herausnimmt, einen hervorragenden
Kunstgelehrten vou gründlichsten Wissen wie Bruno Bucher in Wien wie einen
Schulknaben zu meistern, zweimal hintereinander von dem „Saale Las Cases"
im Louvre spricht? Wie verworren muß es in einem Kopfe aussehe», welcher
den großen Philanthropen Las Casas und den Pariser Kunstsammler La Caze,
welcher seine schönen Gemälde dem Louvre vermacht hat, in einen Topf wirft
und daraus ein Wesen unter dem Namen „Las Cases" hervorgehen läßt? Und
dieser Mann, der Schnitzer auf Schnitzer macht, der über die einfachsten Stil-
rcgeln im unklaren ist, spielt sich als Vertreter der gesamten deutsche» Künstler
auf und verkündet der Welt die große Botschaft, daß »ur ein Künstler berechtigt
sei, über Kunstwerke ein richtiges Urteil zu haben und auszusprechen!
Ein wenige Seiten langer, für ein breites Publikum bestimmter Aufsatz
von Alfred von Wurzbach über die Naturalisten der Gegenwart in der Zeitschrift
„Vom Fels zum Meer" hat Herrn Hoff die unmittelbare Veranlassung zu seiner
langatmigen und langweiligen Dissertation gegeben. Satz für Satz zerrt er an
jenem harmlosen Essay umher, ohne daß es ihm gelingt, irgend einen der Wurz-
bachschen Sätze sachlich zu widerlegen, schon weil der sich überstürzende Strom
seiner Zungenfertigkeit ihn zu keinen: ruhigen Gedanken kommen läßt. Alfred
von Wurzbach gilt in den engern Kreisen der Kunstgelehrten für einen scharf¬
sinnigen Kritiker, aber für keinen besonders ausgezeichneten Stilisten. Die Sätze
aber, welche Herr Hoff aus Wurzbachs Aufsatze herausgreift und mit dem Stein¬
geröll seiner Phrasen überschüttet, nehmen sich neben den Hoffschen aus wie
echte Perlen, die in Blech gefaßt sind. „Es ist schlimm genug," so läßt sich
Herr Hoff im Anfang seiner Broschüre vernehme», „daß es allmählich so weit
gekommen ist, daß in einer einflußreichen Zeitung oder weitverbreiteten Zeitschrift
ein Irgendwer das Recht zu haben glaubt, die Künstlerschaft in der Art be¬
handeln zu dürfen, wie es seinerzeit in der Kölnischen Zeitung durch Herr»
Dr. Eisenmann in Kassel, durch Herrn Bruno Bücher in der Wiener Presse,
auf welche Aufsätze (!) ich ebenfalls zurückkommen werde, und nun durch Herr»
von Wurzbach geschieht; uns in dem heiligen Respekt, der uns für die
Kunst erfüllt, glaubt ungestraft kränken zu dürfen, ohne vielleicht nicht einmal
die Ahnung zu haben, daß man uns damit in dem innersten Lebensnerv unseres
Wesens verletzt. Und alles dies auf Grund einer sogenannten Gelehrsamkeit
und eines Kunstverständnisses, deren Öde durch die klägliche Fadenscheinigkeit (!)
der Aussprüche derselben (?) um so sichtbarer durchschimmert, je mehr sie sich
in das feierliche Gewand der Sprache der Weltweisheit und des angeschwollenen
Selbstgefühls hüllen. Wir haben es mit dem in solchem Auftreten erscheinenden
Prinzip und nicht mit den Personen zu thun."
Dieser letzte Satz, welcher sich in seiner calorischem Großmut wunderbar
schön aufnimmt, ist leider nur eine hohle Phrase. Denn die Hoffsche Broschüre
trügt auf jeder Seite den Charakter eines Pasquills, welches sich in den ge¬
hässigsten persönlichen Augriffen ergeht, ohne irgendetwas sachliches vorzu¬
bringen, dem man sachliches entgegenstellen könnte. Ein Fechterstreich ist immer
unglücklicher als der andre. So glaubt Herr Hoff z. B. Alfred von Wurzbach
seine Verachtung nicht besser ausdrücken zu können, als indem er die Frage
aufwirft: „Wer ist Herr Alfred von Wurzbach? Ich habe mir die Frage bis
jetzt vergeblich gestellt, auch andre konnten mir keine Auskunft geben, niemand
wußte von einem Herrn von Wurzbach dieses Vornamens." In einer Note
setzt er dann hinzu, er habe „seither erfahren, daß Herr Alfred von Wurzbach
der Bruder Konstantin von Wnrzbach und der Verfasser verschiedener Bio¬
graphien von Dichtern und Musikern sei, und sich neuerdings auch als Kunst¬
schriftsteller aufgethan habe." Mit demselben Rechte, mit welchem Herr Hoff diese
Frage aufstellt, konnte man den Spieß umkehren und fragen: Wer ist denn
eigentlich Herr Carl Hoff? Worauf gründet sich seine Berechtigung, so gewaltig
ins Horn zu stoßen? Man könnte weit in deutschen Landen herumfragen, ehe
man auf diese Frage eine Antwort erhielte. Und im günstigsten Falle würde
sie dann lauten: „Herr Hoff ist ein Genremaler, der mit wenig Witz, aber mit
großem Aufwand von Kleiderpomp mehr oder minder larmohante Novellen er¬
zählt." Wurzbach steht unter den Kunstschriftstellern mindestens ans derselben
Stufe, die Herr Hoff unter deu Malern einnimmt. Dadurch, daß der letztre
davon nichts weiß oder nichts zu wissen vorgiebt, enthüllt er nur eine neue
Blöße seiner Bildung.
Abgesehen von diesen Kunststücken sucht er deu Gallimathias seiner Pero-
rationen noch durch Anekdoten und skandalöser zu würzen. Er erzählt Ge-
schichten von der Bestechlichkeit der Kritiker, hütet sich aber wohlweislich, Namen
zu nennen. Nur einmal verlaßt ihn diese katzenartige Vorsicht, und er sällt in
die Grube hinein, die er einem andern gegraben zu haben glaubt. Auf S, 15
macht er nämlich folgende Bemerkung: „Jüngere Kollegen, welche geneigt sind,
dem Lob oder Tadel der Tageskritik für ihr materielles Wohl allzuviel Wert
beizumessen, widme ich das Wort meines vortrefflichen Freundes, des leider zu
früh verstorbenen Kunsthändlers Levke in Berlin, der mir vor längeren Jahren
bezüglich einer, wie mir schien ungerechten Kritik des seligen (!) Max Schafter,
mild erwiederte: »Da müssen Sie sich nichts daraus machen, meine Kunden
geben auf so etwas nichts. Wenn es Ihnen aber Freude macht, so werde ich
Ihnen einmal etwas recht gutes besorgen.«"
Herr Hoff hat geglaubt, daß er diese Bosheit ungestraft aussprechen konnte,
weil er den Träger des Namens, den er mit derselben in Verbindung bringt,
bereits für verstorben hält. Die Leser der „Grenzboten" wissen, daß dem nicht
so ist. Herr or. Max Schafter weilt noch unter den Lebenden, und es ist
daher seine Sache, sich mit dem Schreiber des Pasquills auseinanderzusetzen.
Auch ich will hier sein Sündenregister schließen, da ich mich bei einer weitern
Fortführung desselben gerade wie er im Kreise bewegen würde. Was er in
seinem eignen und im Namen einiger schwarzgalligen Künstler in Düsseldorf und
München — denn daß er ein Mandat von der deutschen Künstlerschaft zu haben
sich brüstet, ist eine lächerliche Anmaßung — in die Welt gesendet hat, wird
an dieser Welt ebenso schnell vorübergehe» wie die Mehrzahl seiner Bilder.
Den Kern seiner Argumente hat Ernst Förster bereits in seiner ruhigen, milden
Weise als morsch nachgewiesen. Gesetzt, daß der Maler wirklich in erster Linie
befähigt und berufen wäre, über Gemälde zu urteile», würde er es auch in
gleichem Maße den Werken der Plastik und der Architektur gegenüber sein?
Würde hier nicht vielmehr der Bildhauer und der Architekt der berufenere sei»?
Und woher soll der Maler die Zeit nehmen, um Ausstellunge» zu besuchen und
darüber Berichte für die Zeitungen zu schreiben? Woher soll er die Zeit nehmen,
um sich durch ein gründliches Studium der Kunstgeschichte für seine kritische
Aufgabe vorzubereiten? Legt nicht die banausische Schrift des Herrn Hoff, des
eifrigste» Vorkämpfers für die „Kunstschreiberei" der Künstler, auf jeder Seite
Zeugnis davon ab, wie kläglich es um die Bildung der meisten unsrer Künstler
bestellt ist? Ich sage, der meiste». Denn ich habe das Glück gehabt, eine
stattliche Reihe von ehrenwerten und rühmlichen Ansiiahmen kennen zu lernen,
bedeutende Männer, welche dein Berufe des Kunstschriftstcllers volles Verständnis
und volle Hochachtung entgegenbringe» und eine umfassende Bildung mit feinem
Urteile verbinden. Leute vom Schlage des Herrn Hoff sind freilich nicht darunter.
Sie lassen nichts drucken, obwohl sie leine Stilfehler »lachen und nicht gegen
die Gesetze der Logik verstoße», sondern sie malen, meißel» und bauen, und
lassen, was nicht ihres Amtes ist.
Mag doch Herr Hoff einmal mit sich selber die Probe »lache». Mag er
den Pinsel beiseite werfe» — viel würde die Welt nicht dabei verliere» — und
sich, wie er von Herrn von Wurzbach sagt, „als Kunstschriftsteller" aufthun.
Das wäre die Probe zu seinem Exempel. „Heraus mit eurem Flederwisch!"
Denn
er junge Graf warf, als er sein Zimmer verlassen hatte, einen
spähenden Blick über den Korridor hin, ob er nicht etwa Ge¬
fahr liefe, seiner Mutter zu begegnen, und bemerkte, daß die
Thür zu dem Gemach, welches dem der Gräfin zunächst lag,
offen stand. Er sah im Vorübergehen hinein, da er vermutete, daß
dies der Aufenthaltsort der Neuangekommenen sein würde, fand aber das junge
Mädchen nicht darin, und blieb stehen, um sich bei dem dienenden Wesen, welches
in dem Zimmer beschäftigt war, nach Fräulein Glock zu erkundigen.
Er hörte, sie sei in den Garten gegangen, und lenkte deshalb seine Schritte
ebenfalls dorthin.
In der That fand er dort Fräulein Glock. Sie saß in einer der Lauben
an der umfassenden Hecke und hatte eine Handarbeit im Schoße,
Als sie Dietrichs Schritt hörte, blickte sie empor, legte ihre Arbeit in das
Wrbchen auf dem Tische und stand auf, indem sie errötete. Gras Dietrich
trat mit einem freundschaftlichen Gruße auf sie zu, blieb aber überrascht stehen,
als er sie ins Auge faßte.
Ich hätte Sie kaum wiedererkannt, Fräulein Anna, sagte er. El der
Tausend, wie groß sind Sie geworden — und wie schön! fügte er bewun¬
dernd hinzu.
Das junge Mädchen blickte vor sich nieder und errötete noch tiefer als bei
seinem ersten Anblick.
Sie war eine anmutvolle Gestalt, Eine liebenswürdige Bescheidenheit und
Freundlichkeit, ein echt weiblicher Zug der Sanftmut lag nicht nur auf ihrem
hübschen Gesicht, sondern in ihrer ganzen Haltung ausgeprägt, Ihr Heller Anzug
Von einfachem Stoff und kleidsamen Schnitt, die Art, wie ihr aschblondes Haar
aufgesteckt war, der zierliche Stiefel, der unter dem Saum des blauen Kleides
hervorblickte, alles das zeigte Geschmack und verriet gleich ihrem heitern, lieb¬
lichen Gesicht eine fein angelegte Natur, Sie schien das Veilchen unter ihren
Blumenschwestern zu sein.
Ich bekomme doch wieder eine Hand wie ehemals? fragte Graf Dietrich,
ihr seine Rechte entgegenstreckend.
Das junge Mädchen erhob die tiefblauen Augen mit einem freundlichen
und schelmischen Blick und legte die zarten weißen Finger in des jungen
Grafen Hand.
Nun wahrhaftig, mein liebes Kind, sagte er, indem er sie fortgesetzt prüfend be¬
trachtete, diese beiden Jahre haben Wunder an Ihnen bewirkt. Leipzig hat
Ihnen gut gethan. Wie Mama mir sagt, sind Sie eine große Künstlerin ge¬
worden, und wie ich sehe, auch eine große Schönheit.
Das junge Mädchen schüttelte lachend den Kopf. Ich sehe, Herr Graf,
die Komplimente sitzen Ihnen noch eben so locker wie ehemals, sagte sie.
Sie müssen mir erzählen, wie es Ihnen ergangen ist, Fräulein Anna, sagte
Graf Dietrich, sich ihr gegenüber auf die Bank setzend. Dann werde ich Ihnen
berichten, wie die Sachen hier stehen. Sie werden wohl schon bemerkt haben,
daß wir hier gerade nicht im Paradiese leben.
Ich habe mich schon sehr über die schöne Aussicht gefreut, erwiederte Anna,
mit einem Kopfnicken nach der See hin winkend, die man durch einen Ausschnitt
der Laube sah.
O ja, See lind See, Wasser und Wasser, das ist für den ersten Tag recht
gut, auch für den zweiten, aber wenn man länger hier ist, wird es langweilig.
Deshalb freue ich mich ungeheuer, daß Sie gekommen sind. Da werden wir
uns doch etwas cunüsiren. Sie müssen mir etwas vorspielen. Wir haben el»
gutes Pianino dort im Musikzimmer. Ich dürste nach Tönen. Früher spielten
Sie schon so reizend die Straußfeder Walzer uno die Beethovenschen Sonaten
und sangen mir Lieder von Franz und von Schubert. Wissen Sie noch?
Gewiß ist das alles jetzt uoch viel herrlicher geworden. Aber was haben Sie
denn da? Er ergriff mit diesen Worten ein kleines Buch, das im Arbeitskorbe
des jungen Mädchens lag und mit einer Ecke unter der Stickerei hervorsah.
Das sind Gedichte — bitte, lassen Sie sie liegen, Herr Graf, sagte sie,
von neuem errötend. Aber nein, bitte, das ist recht indiskret von Ihnen.
Gedichte? sagte er, unbekümmert um ihren Einspruch den Band öffnend.
Also immer noch die poetische Neigung!
Doch indem er das Buch aufschlug und so sprach, zitterte seine Hand vor
freudiger Erregung, und sein Blick verklärte sich. Er hatte schon an der kleinen
Ecke, welche aus dem Arbeitskörbchen hervorsah, einen ihm wohlbekannten Ein¬
band entdeckt und sah nun mit Entzücken, daß es seine eignen Gedichte waren.
Anonyme Gedichte! fuhr er fort. Gewiß solch eine leichte Waare, deren sich
der Autor schämt,
O nein, Herr Graf, sagte das Mädchen eifrig. Es sind sehr schöne, ganz
reizende Gedichte.
Ja, weil Sie sie in ihrem Körbchen mit sich schleppen, darum loben Sie
sie natürlich. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Fräulein Anna, das ist keine
Lektüre für junge Mädchen, und ich, als Ihr älterer Freund, warne Sie. Diese
Gedichte erhitzen das Vink und trüben die Phantasie. Ich kenne diese Poesien.
Sie taugen nichts vom moralischen Standpunkte aus. Der Autor ist einer jener
Poetaster, welche die Trivialität ihres Empfindens unter einer schimmernden
Außenseite zu verstecken suchen und den Eros herabziehen in die Bahn der All¬
täglichkeit, indem sie seine Pfeile zu Zwecken der Sinnlichkeit mißbrauchen.
Herr Graf, das geht zu weit! sagte das junge Mädchen, indem ihr Busen
vor Erregung wogte und ihre Auge» vor Entrüstung blitzten. Sie beleidigen
mich. Dieser Autor ist mein Liebling. Er ist voll Hoheit des Empfindens und
Grazie des Ausdrucks. Kein unreiner Gedanke findet sich in seinen reizenden
Liedern, und ich kann es nicht ruhig mit anhören, daß er verunglimpft wird,
selbst nicht von Ihnen.
In seinem ganzen Leben hatte der junge Graf kein so angenehmes Gefühl
empfunden als in diesem Augenblick. Sein Herz wollte vor Freude zerspringen.
Er sah das zornige junge Mädchen mit der Überzeugung an, daß es das klügste,
edelste, reizendste Geschöpf auf der ganzen weiten Erde sei, und war so von
Seligkeit erfüllt, daß er keine Worte finden konnte.
Sie war verwundert über den Ausdruck in seinem Gesicht, konnte sich ihn
aber nicht erklären und war so in Eifer gekommen über den Gegenstand des
Gesprächs, daß sie so bald nicht wieder von ihrem Thema ablassen konnte.
So manche einsame Stunde haben mir diese lieben Gedichte verschönt!
sagte sie, ihr Taschentuch an die Augen drückend. Und nie hat mir jemand
etwas so hartes gesagt. Glauben Sie denn, Herr Graf, daß ich ein schlechtes
Buch lesen würde? Aber ich sehe deutlich, daß Sie die Gedichte garnicht kennen,
sonst würden Sie nicht so sprechen. Lesen Sie sie nur, ich will Ihnen das
Buch leihen, und dann werden Sie selbst sagen, daß es herrliche, himmlische
Gedichte sind.
Fräulein Anna, sagte Graf Dietrich, merken Sie denn nur gar nichts?
Haben Sie denn nur gar nichts bekanntes in den Gedichten gefunden?
Sie sah ihn an und erstaunte über sein lächelndes, glückliches Gesicht.
, Ich bin ja der Dichter, sagte er, ihre beiden Hände ergreifend, ich habe ja
diese Gedichte selbst geschrieben. Aber es soll ein Geheimnis bleiben.
Das junge Mädchen konnte vor Verwunderung kein Wort hervorbringen,
blickte ihn ganz verwirrt an und wechselte in ihrer Farbe von tiefem Rot zu
fahler Blässe.
Ah, sagte sie endlich, tief aufatmend und indem sie ihre Hände losmachte,
Sie sind der Dichter! Das ist etwas ganz andres!
Es war ein eigentümlicher Klang in ihrer Stimme, und dann wurden sie
beide still und vermochten Minuten lang kein Wort mit einander zu reden.
Sie sah in den Schoß nieder, und Graf Dietrich betrachtete sinnend die roten
schwellenden Lippen und das Grübchen im Kinn und fühlte sich sonderbar be¬
wegt. Endlich brach er das Schweigen.
Wollen Sie mir etwas Vorspielen? fragte er. Das Musikzimmer ist jetzt
nicht besetzt.
Gern, entgegnete sie sanft, erhob sich, legte den Band wieder in ihr Körbchen
und ging mit ihm in das Haus.
Es befand sich im Musikzimmer eine große Auswahl von Noten in den
Fächern des Notenpultes aufgehäuft, die Herr Schmidt, dem verschiedenartigen
Geschmack seiner Patienten entgegenkommend, angeschafft hatte. Aber Fräulein
Glock bedürfte keiner Unterstützung durch Note» bei ihren musikalischen Vor¬
trägen. Sie schien eine unerschöpfliche Quelle von Melodien in ihrem Innern
zu bergen, sie glich einer menschgcwordnen Nachtigall. Ihre geschmeidigen
Finger entlockten dem Instrumente in größter Mannichfaltigkeit eine Flut von
Tönen, die bald als dem Genius Mozarts, bald als der unergründliche» Tiefe des
alten Bach, bald als dem perlenden Reichtum Rossinis entstiegen sich kenn¬
zeichneten. Dazwischen glitten Lieder, von ihrer weichen, zum Herzen gehenden
Stimme vorgetragen. Es war kein Zaudern, kein Besinnen, es waren keine
Pausen in ihrem Spiel. Ein Tonstück schloß sich an das andre an, wie die
eine Welle des Ozeans der andern folgt, und immer quoll es aus dem vollen.
Sie schien die Absicht der Meister in jeder einzelnen Melodie mit ihnen geteilt
zu haben, so willig und leicht, mit so freudiger Kraft strömten die Töne dahin.
Sie kannte die Leidenschaft des jungen Grafen, sich willenlos einem Strome
von Musik hinzugeben, ohne durch Fragen nach seinen Wünschen aus der Be¬
rauschung gerissen zu werden, und sie fühlte sich glücklich in dem Bewußtsein,
daß sie seine Seele in ihrer Gewalt hatte, während er hinter ihr im Winkel
des Sophas lehnte und dichterisch träumte.
So war es in früheren Jahren oft gewesen. Als ein armes Kind von
fünfzehn Jahren war sie nach dem Tode ihrer Eltern in der Gräfin Haus ge¬
kommen, um als Gesellschafterin deren Launen dienstbar zu sein, den Shawl und
die Fußbank zu tragen, lange Stunden hindurch tropfenweise den Kaffee-Extrakt
zu filtriren, Abends vorzulesen, während die Gräfin an etwas andres dachte,
und in den Gesellschaften leise schwebend den Gästen an die Hand zu gehen. .In
jenen früheren Jahren schon hatte sich ihr Talent bewährt, den unruhigen,
schwärmenden Geist des jungen Grafen zu bannen, indem sie, als Sirene einer
sanften Gattung, ohne die verräterischen Krallen und die berückende Meerestiefe,
durch ihr.Spiel und ihren Gesang fesselnden Einfluß ans ihn ausübte und ihn
manchen Abend davon abhielt, sich in das verwirrende und gefährliche Treiben
der übermütigen Jngendgeiwssen zu stürzen.
Jetzt waren ihre Kunst und ihre Macht noch erheblich gewachsen. Sie
fühlte in seiner Gegenwart so recht, wie sehr sie in den beiden Jahren ihres
Studiums Fortschritte gemacht und jene gewaltigen Hebel ihrer Stimme und
ihrer zierlichen Hände zu lenken gelernt hatte.
Er lauschte ihr in hoher Entzückung. Die angenehmen Worte, welche er
über seine Dichtungen vernommen hatte, klangen in ihm fort und gaben seinem
Empfinden eine begeisteruugsvolle Feinheit, die ihn die Musik mit erhöhtem
Genuß aufnehmen ließ. Während er den Klängen lauschte, wiederholte er sich
selbst alle jene schönen Stellen seiner Gedichte, von denen er dachte, daß sie
imstande gewesen wären, das Herz des liebenswürdigen Mädchens zu rühren,
und er kam sich selbst vor, als sei er der kunstgebictende Gott Apollo.
Endlich machte sie eine Pause und blickte über die Schulter zurück mit ihren
sprechenden Augen zu ihm herüber.
Wundervoll, wundervoll, mein liebes Kind! sagte er. Sie sind ein voll¬
kommener Engel geworden, und ich begreife nicht, wie der Chor der Seraphim,
die vor dein Throne des Höchsten tonzertiren, Sie entbehren kann. Aber wie
kommt es, daß Sie nichts von Richard Wagner spielen? Mich dünkt, Sie Hütten
ehedem den Traum Elsas mit Vorliebe vorgetragen, und heute habe ich ihn
nicht gehört.
Wenn Sie wünschen, sollen Sie ihn sogleich hören, aber ich habe auf dem
Konservatorium Wagner ganz vernachlässigt. Das Konservatorium ignorirt ihn.
Und doch ist er so beliebt, und sein Ruhm breitet sich immer mehr aus.
Er ist mir immer interessant gewesen, weil er so viel Beifall und Widerspruch
findet. Lieben Sie ihn nicht?
Ich habe früher für einzelne seiner Sachen geschwärmt, sagte das junge
Mädchen. Aber seitdem ich tiefer in Beethoven und Bach eingedrungen bin,
liebe ich ihn nicht mehr, und ich kann seine neuen Werte, die Meistersinger, die
Nibelungen, nicht hören, ohne mich elend zu fühlen. Auch feigen meine Lehrer,
er sei nicht auf dein rechten Wege.
Aber er selbst verachtet nicht nnr die Leute, die das sagen, sondern, wie
ich gehört habe, sogar seiue eignen Schöpfnnge» früherer Zeit, den Tannhäuser,
Lohengrin, fliegenden Holländer und Rienzi, weil sie noch im Banne der alten
Musik lägen. Ich muß nun gestehen, daß es mir ebenso geht wie Ihnen. Im
Tannhäuser und Lohengrin sind Melodien, die mich entzücken, aber seine neuen
Opern langweilen mich oder machen mich verwirrt und heiß. Und auch im
Lohengrin selbst, den ich am meisten liebe, kommen mir die schönen Stellen wie
Oasen in einer Wüste vor.
Das junge Mädchen nickte mit dem Kopfe. Es kommt mir so vor, als
müßte er sich sehr quälen, um eine Oper zustande zu bringen, sagte sie. Bei
Mozart habe ich das Gefühl, als sei ihm alles nur so zugeströmt, aber bei
Wagner spüre ich die Arbeit,
Ja, sagte der junge Graf Auch ich denke so. Es ist Verstandesarbeit
bei Wagner, und das Genie schafft doch instinktiv! Er ist ein bedeutender Kopf,
Er ist so bedeutend, daß er sogar wagen darf, Dinge zu thun, die nicht in seinen
natürlichen Fähigkeiten liegen, indem er sich selbst Gewalt anthut. Denn es ist
wenig Musik in ihm, und doch produzirt er Musik, So ist es auch mit seineu
Dichtungen. Er dichtet, ohne ein Dichter zu sein. So etwas fühlt sich. Er
konstruirt mit großem Scharfsinn poetisch aussehende Sachen, aber es ist in
ihnen keine Poesie. Deshalb hat er auch eine natürliche Feindschaft gegen die
Musiker und Dichter, und in dem Bestreben, sein Selbst vor sich selbst zu retten,
greift er die Männer an, die.voll Genie sind. Und in welchem Stile greift er
sie an! Er schreibt, wie er komponirt und wie er dichtet: einzelne wenige vor¬
treffliche Gedanken voll Kraft des Ausdruckes tauchen hervor aus einer Wüste
unverständlichen Wortkrams. Ich aber sehe den Geist eines Mannes am deut¬
lichsten gekennzeichnet in seinem Stil. Schreibt er nicht klar, so sind auch seine
Gedanken nicht klar. Sind aber Wagners Gedanken nicht klar, wie könnte er
wohl Musik machen?
Glauben Sie wirklich, Herr Graf, fragte das junge Mädchen nachdenklich,
daß derjenige, der nicht klar schreiben kann, auch nicht imstande sei, Musik zu
schaffen?
Es wäre möglich, erwiederte er, daß jemand ein großer Komponist wäre,
ohne schreiben zu können. Aber dann wird er wohl im richtigen Gefühle seiner
Begabung nur komponiren und das Schreiben lassen. Schreibt er aber und
schreibt er konfus, so muß notwendig auch sein Komponiren konfus sein. Denn
es kann der Geist nicht gleichzeitig klar und dunkel sein. Was ist die Musik?
Ich denke, mein liebes Kind, es ist nichts andres als eine Vermittlung für
unsre Sinne, die ihnen die gesetzmüßigen Bewegungen der Welt offenbart. Der
Komponist empfindet in seiner Seele jene harmonischen Schwingungen, die
andern Meuschen verborgen bleiben, und er besitzt die Kunst, sie durch Hilfe
von Instrumenten ihnen verständlich zu machen. Die Abbilder jener göttlichen
Gesetze der Bewegung sind aber Melodien. Die Melodie allein ist es, aus
welcher die allbesiegende Macht der Leidenschaft hervorquillt, und darum geht
von der Melodie allein die Macht der Musik über die Seele aus. Die ge¬
lehrteste und durchdachteste Aufeinanderfolge von Akkorden ohne die Beimischung
der Melodie kann daher nicht anders als langweilig sein. Die Harmonie allein
kann nicht zum Herzen sprechen.
Aber Wagner behauptet, er hätte die unendliche Melodie, warf das junge
Mädchen ein.
Die unendliche Melodie, sagte der junge Graf lächelnd, ist wohl nur eine
Umschreibung des Eingeständnisses, daß gar keine Melodie da ist, denn für den
menschlichen Geist ist das unendliche nicht greifbar. Da er wenig Melodien be¬
sitzt und nur eine nianierirte Poesie, so kann er fast keine andre Wirkung er¬
denken als die der Harmonie und solcher Stimmen, welche die Töne nicht
melodiöser, sondern lärmender machen. Ja er ist so unglücklich in seinem Vor¬
haben, daß ihm diese Harmonie selbst unter den Händen entschlüpft. Da er
sie erzwingen will, greift er ohne Wahl zu und mißkennt das, was Wirkung
thut. Er verdirbt sein eignes Ohr, und ich denke, für ihn ist wohl die Stimme
die schönste geworden, welche am lautesten tönt. Aber ich glaube, wir sehen
dies Eingeständnis der Musiklosigkeit auch in der Lehre Wagners vom Musik¬
drama. Er ruft die Handlung auf der Bühne zur Hilfe für seine Musik
auf, ja er will die Handlung durch die Musik erklären. Setzt er damit nicht
die Bedeutung der Musik herab, ja verkennt durchaus ihr Wesen? Nicht die
begrenzte und anschauliche menschliche Handlung erklärt die Musik, sondern die
Schwingungen der Seele, welche die Gesetze der Gottheit fühlt. Und indem
er so die Musik herabwürdigt, ist er genötigt, zu allerhand äußerlichen Tand
seine Zuflucht zu nehmen, welcher sein Musikdrama verschönern soll. Er läßt
Götter, Riesen und Zwerge, Schwäne und Drachen auf der Bühne erscheinen,
er spielt mit elektrischem Licht und bengalischen Feuer. Aber ein viel schöneres
Licht und Feuer und viel herrlichere Gestalten erblickt meine Seele, wenn ich
geschlossenen Anges den Melodien Mozarts lausche oder den Ideen Beethovens
und Bachs, die Ihre wunderbaren Finger, liebe Anna, aus diesen schwarzen und
Weißen Tasten hervorströmen lassen.
Graf Dietrich fühlte sich sehr glücklich. Ein inniges Wohlbehagen er¬
wärmte ihn und regte ihn zu freiem Aussprechen seiner heiligsten Gedanken an.
Er war bis jetzt recht unzufrieden in der Heilanstalt gewesen, aber nun begann
er zu denken, es sei ein angenehmer Ort. Denn erst jetzt kam es ihm so vor,
als sei er zu Hause, erst jetzt fand er einen Platz, von dem aus er die um¬
gebende Welt mit Befriedigung ansehen konnte. Die Möbel im Musikzimmer
erschienen ihm hübsch und wohnlich, an den Blick aus den Fenstern knüpften
sich ihm liebliche Bilder, die Sonne und das Meer warteten draußen auf ihn,
um ihn mit Jubel zu empfangen.
Er bat Fräulein Glock, ihm noch mehr vorzusingen und vorzuspielen und
wie bisher dabei ganz ihrer Hingebung zu folgen, da alles, was sie gern spiele,
von ihm auch gern gehört werde. Und als sie gehorchte, streckte er sich be¬
haglich auf dem Sopha aus, zog den französischen Brief noch einmal hervor
und las ihn nun mit Ruhe durch.
Er mußte lächeln, indem er die wiederholten Versicherungen der Liebe
Odettens las, in so exzentrischen Ausdrücken abgefaßt, von jener niedlichen Hand
geschrieben, die ihm mit ihren rosigen Fingernägeln lebhaft vor dem Gedächtnis
stand. Er mußte lächeln, wenn er bedachte, wie sehr die kokette Französin ihn
liebe und welch ein bezaubernder Mann er sei. Als er an eine Stelle kam,
wo sie schrieb, daß sie sterben müsse, wenn er nicht binnen kurzem zurückkehre,
konnte er tuum ein lautes Lachen unterdrücken. Mit einem Seufzer über die
eigne Schlechtigkeit verbarg er den Brief wieder und betrachtete Früuleiu Glvcks
krauses Nackeuhanr, die sauste Wölbung ihres Rückens und die anmutige Be¬
wegung ihrer Arme.
Es war ein sehr guter Gedanke von Mama, sagte er sich, den Adjutanten
kommen zu lassen. Sie hat den Ort durchaus verändert, es liegt ein Zauber
der Zufriedenheit in dem Mädchen, womit sie ihre Umgebung still und glücklich
macht. Nur sie zu sehen, stillt die Wogen meines Herzens und regt mich zum
Dichten an.
Ich freue mich ganz unendlich, daß Sie gekommen sind, liebe Anna, sagte
er nach einer Pause. Sie machen wieder gut, was Ihr Bruder an mir ver¬
brochen hat.
Hat er wirklich um Ihnen etwas verbrochen? fragte sie, sich um¬
wendend.
O gar sehr, antwortete er. Von ihm ist ursprünglich die Idee des Algen¬
saftes ausgegangen. Er denkt immer noch mein Lehrer zu sein. Nun, ich bin
ihm dankbar für sein Interesse selbst, wenn es sich mich einmal wieder zur Zucht¬
rute gestaltet. Er hat an Mama geschrieben, dieser Doktor Schmidt sei ein
großer Held in Nervenkrankheiten. Haben Sie ihn auf der Herreise nicht
besucht?
Ja, ich war bei ihm.
Da muß er es Ihnen doch erzählt haben.
Er hat nichts davon erwähnt. Er steckte tief in Geschäften mit seiner
Zeitung.
Ich kann mir nicht denken, daß er gut zum Redakteur taugt, sagte Graf
Dietrich nachdenklich. Er ist zu gut. Er hat etwas von Ihrem lieben sanften
Herzen, Fräulein Anna, lind er ist nicht dazu geschaffen, Pfeile um Pfeile mit
dem Gegner auszutauschen. Aber wahrhaftig, Fräulein Anna, so prosaisch
es klingt, ich muß gestehen, ich bin entsetzlich hungrig. Dieser Morgen brachte
verschiedene Aufregungen für mich, traurige und freudige, und ich fühle mich
ganz erschöpft. Vielleicht war es zuletzt die Szene aus dem Don Juan, wo
der gottlose Herr soupirt, die meinen Magen angestachelt hat — ich sehne mich
nach einer Stärkung. Wenn ich nur wüßte, woher ich sie bekommen könnte!
Fräulein Glock zog eine kleine silberne Uhr hervor.
In einer Stunde wird das Diner beginnen, sagte sie.
Das Diner! rief Dietrich. O, bestes Kind, täuschen Sie sich nicht über
die Bedeutung dieses Mahles. Man steht hungriger auf, als man sich hingesetzt
hat. Dieser Hnlluuke von Algenarzt hat das Prinzip, seine Patienten auszu¬
hungern, um reich zu werden. Seitdem ich hier bin, hungere ich, mein Magen
ist schon ganz zusammengeschrumpft. Es giebt unbeschreibliche Gerichte bei
diesem sogenannten Diner, große Schüsseln nüchternen Reis, Gemüse in Wasser
gekocht und solches Zeug, Niemand ißt davon.
Und doch würde Ihnen solch ein Diner so gut bekommen! sagte Anna mit
listigen Lächeln.
Gut bekomme»? Gütiger Himmel, ich bin doch kein Wiederkäuer!
Da würde ich fortgehen! Wer wird sich so etwas gefallen lassen?
Ja, das sagen Sie wohl. Aber meine Mutter ist im Einverständnis mit
dem Tyrannen. Er hat sie so beschwatzt, daß sie fest an ihn glaubt. Und sie
selbst — ich weiß nicht, wie sie es fertig bringt — lebt dieses asketische Leben
nicht mir, sondern thut so, als ob sie es wonnig funde. Sie ißt mir diese
entsetzlichen Gerichte vor und sieht mich strafend an, bis ich auch eine Rübe
oder einen Kohlstrunk verschlinge. Der Tyrann hat ihr vorgeschwatzt, nur
solches Zeug vertrüge sich mit dem Algensaft.
Es ist hier in der Nähe ein gutes Hotel, das Hotel Felix, sagte Fräulein
Glock schalkhaft. Warum gehen Sie nicht zuweilen hinüber?
Ach, bestes Kind, Sie kennen das Terrain nicht. Der Doktor Schmidt
überwacht uns wie ein Gefangenwärter. Wenn jemand heimlich anderswo ißt,
so erfährt er es sicher und schickt den Unbotmäßigen fort.
Nun, da wäre Ihnen ja geholfen.
Ja, wenn meine Mutter nicht wäre! Nein, mein Herz, ich darf mich gar¬
nicht entfernen, fo lächerlich es klingt. Und doch möchte ich ein gutes Beefsteak
und eine halbe Flasche Madeira, wenn ich das bekommen könnte, mit Gold
nnfwiegen.
Fräulein Glock erhob sich, nahm ihr Körbchen, leerte es und gab den In¬
halt dem jungen Grafen. Stecken Sie das in die Tasche, sagte sie mit einem
schlauen Blick, und gehen Sie dort in die versteckte Grotte ganz hinten im Garten.
Ich werde Ihnen verschaffen, wonach Ihr Herz sich sehnt.
Graf Dietrich ergriff'ihre Hand und küßte sie. O Engel vom Himmel!
sagte er lachend, o Weiberlist!
Das ist ein göttliches Geschöpf! setzte er hinzu, als das junge Mädchen
mit eiligem Schritt sich entfernt hatte. Sie ist mir wahrhaftig vom Himmel
gesandt!
Er ging, die Stickerei und das Buch mit den Gedichten in den Taschen
seines Jackets, in den Garten hinaus zu der versteckten Grotte und begann in
feinen eignen Liedern zu blättern. Er beobachtete, an welche» Stellen das kleine
Buch sich am leichtesten aufschlagen ließe, und versuchte hieraus zu schließen,
welches die Lieblingsstellen Annas wären. Er sah mit Lächeln hier und dort
eine» mit der Stricknadel gemachten Strich am Rande und las die so bezeichneten
Verse mit besonderm Vergnügen.
Aber die Anstrengungen des Morgens hatten ihn wirklich ermüdet. Ein
träumerisches Behage» umfing seine Sinne. Der Platz, wo er saß, war still und
schattig. In der Mitte der Grotte erhob sich der Stamm einer Traueresche,
und ihre Zweige hinge» gleich einem Zeltdach in dichten grünen Streifen ans
die steinerne Umfassung herab. Das Summen der Käfer und Bienen im Sonnen-
schein schläferte ihn ein, er stützte den Kopf auf die Hand, nickte ein. fuhr empor,
lehnte sich rückwärts an das Moos, welches den Tuffstein überzog, und schlief ein.
Dann ließ ihn das Geräusch leichter Schritte wieder die Augen öffnen.
Er erwachte mit einer veränderten Stimmung, zärtlich blickte er das junge
Mädchen an, vergaß über ihren Anblick seinen Appetit und dachte nur, wie gut
und hingebend sie sei. Sie war die alte und doch ganz neu geworden. Sie
erschien ihm in einem andern Lichte als vor Jahren, wo er sie als ein gutes,
doch der Beachtung unwertes Geschöpf betrachtet hatte.
Liebe Anna! sagte er gefühlvoll und reichte ihr die Hand.
Ihre Wangen waren erhitzt vom eiligen Gange, und ihre Augen blitzten,
vor Vergnügen über den kleinen Dienst, den sie ihm leisten konnte.
Hier ist der Madeira, sagte sie, ein Fläschchen auf den Tisch stellend, und
hier ist auch ein Glas. Ein Beefsteak konnte ich leider nicht bringen, der Platz
im Korbe ist zu klein, aber ich habe etwas andres gebracht, wovon ich weiß,
daß Sie es gern essen. Sie öffnete mit diesen Worten ein weißes Papier,
worin einige Schnitte kalten Rehbratcns eingewickelt waren, und legte ihm ein
Brötchen dazu.
Er zog sie an der Hand zu sich, und seine Wangen glühten von einer
sehnsuchtsvollen Dankbarkeit.
Liebe Anna, sagte er, Sie sind zu gut!
Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber ihr Sträuben war nur schwach.
Sie lehnte ihren Kopf zurück, aber in ihren tiefblauen Augen schimmerte die
Liebe. Er umfaßte ihren Leib und zog sie an seine Brust, ihre Lippen fanden
sich in einem langen, seligen Kuß.
Eberhardt hatte seine Zusage, den Bewohnern des Schlosses einen Blick
in seine Skizzenmappe zu gestatten, ausgeführt, und es waren bei dieser Ge¬
legenheit einige kleine Landschaften zu Tage gekommen, die hinsichtlich ihrer Aus¬
führung wie ihrer Auffassung der schönen Dorothea bewuudernswert erschienen.
Der alte Andrew hatte die Mappe hinübergetragen, und es war ein eigentüm¬
licher Blick, mit dem der Neger von Eberhardt zu Dorothea hinübersah.
Der Baron hatte die Absicht, eins oder ein paar dieser Bilder zu kaufen.
Aber es war sonderbar: er brachte es nicht fertig, Eberhardt gegenüber von
einem Handel zu sprechen. Dieser junge Mann sah, als er die Bilder zeigte, keinen
Augenblick so aus, daß jemand hätte Lust verspüren können, ihn zu fragen, wie
viel Geld er verlange. Der Baron nahm sich vor, bei einer andern Gelegenheit
davon zu reden, und die Bilder wurden wieder fortgetragen.
Der Baron schien eine besondre Zuneigung zu dem fremden Maler gefaßt
zu haben. Er erwies ihm bei seinem zweiten Besuche die Gunst, ihm seinen
Stall zu zeigen. Ja er ließ einen hellbraunen Wallach, den er vor kurzem
gekauft hatte, herausführen, um des Gastes Meinung über das Tier zu ver¬
nehmen. Der Gaul zeigte sich sehr unbändig, so daß der Baron in Zweifel
war, ob er bei seinem Alter ihn werde reiten können. Eberhardt ließ ihm den
Sattel auflegen und ritt ihn in allen Gangarten auf dem Hofe, wo sich
eine kleine Reitbahn im Maßstabe eines Zirkus befand. Der Baron und seine
Tochter sahen zu, und sie waren beide erfüllt von Anerkennung der trefflichen
Haltung und geschickten Zügelführung des Reiters.
Er war Leutnant bei den Dragonern während des Feldzuges, weißt du, sagte
der Baron zu Dorothea, als suche er ihr eine Erklärung des auffallenden Um-
standes zu geben, daß ein Maler so gut im Sattel sitze.
Dorothea nickte. Sie hatte nichts andres erwartet, als daß dieser Mann
von so ritterlichem Aussehen in allen ritterlichen Künsten Meister sei. Sie
verfolgte mit nachdenklichen Blicke die Schritte des Pferdes im Kreise der
Bahn, und ihre Wangen röteten sich, indem sie die stolze Haltung und das
Heller als sonst blitzende Ange Eberhardts beobachtete. Was mochte es für
ein Geheimnis sein, das hinter dem äußern Auftreten dieses ungewöhnlichen
Malers verborgen lag?
Der Baron schien den Fremden förmlich in sein Herz zu schließen, seitdem
er ihn hatte reiten sehen. Sonst war er zugeknöpft und kalt gegen neue Be¬
kanntschaften, selbst mit der Nachbarschaft der Gutsbesitzer hielt er nur ein
kühles, eben der Höflichkeit gerecht werdendes Verhältnis aufrecht. Aber gegen
Eberhardt war er offen, gesprächig, Eberhardt behandelte er als seinesgleichen.
Er hatte einen Anfall von Podagra in jenen Tagen, der ihn nötigte, im
Zimmer zu bleiben, und eines Abends, als der Graf versäumte, ihn zu be¬
suchen, schickte er einen Boten mit einem Wagen zum frischen Hering hinaus,
um Eberhardt zu einer Partie Schach einzuladen.
Es ist ein sehr anständiger Kerl, sagte er zu seiner Tochter, wie um ihr
gegenüber diesen Schritt zu entschuldigen. Man kann ein vernünftiges Wort
mit ihm reden, und er hat von demagogischen Ansichten so wenig, wie man es
von einem seiner Herkunft nur erwarten kann.
In Wahrheit bestand das vernünftige Gespräch zwischen beiden darin, daß
der Baron auf die neuen Zeiten schalt und Eberhardt nichts darauf erwiederte.
Eberhardt hatte, wenn er im Schlosse war, besseres zu thun, als über Politik
zu streiten. Das Schloß übte auf ihn eine mächtige Anziehungskraft aus, seine
Mauern umgaben ihn wie die Wände einer lange vermißten Heimat. Wenn er
in der Ecke der hohen Halle saß und seinen Blick über die Porträts und Trophäen
spazieren führte, wenn er Dorotheeus graziöse Gestalt sich hin und her bewegen
sah und sie beobachtete, während sie mit dem silbernen Kessel auf dem Theetisch
hantirte, so ließ er sich von träumerischem Wohlbehagen forttreiben, und der
Schatten auf seiner Stirn wich einem glücklichen Lächeln, Als der Podagm-
cmfall anhielt und den Baron verhinderte, die gewohnten Spazierritte mit seiner
Tochter zu machen, bot er Eberhardt den hellbraunen Wallach an und forderte
ihn auf, Dorothea zu begleiten.
Ich vermute, sagte er zu sich selber, daß es ihr mehr Vergnügen macht,
mit diesem jungen Menschen zu reiten, als mit einem alten Brummbär,, wie ich
bin. Sie kann ein Wort über Kunst mit ihm reden, was sie liebt, und wozu
ich doch beim besten Willen nicht imstande bin.
Lebhafter als sonst fühlte der alte Herr während seiner schmerzensvollcn
Einsamkeit Gewissensbisse wegen seines Benehmens gegen seine Tochter.
Sie kann nichts dafür, daß sie kein Junge ist, sagte er sich, und doch hat
sie schwer darunter zu leiden gehabt. Sie erinnert mich oft an ihre Mutter.
Dies ruhige Wesen, mit dem sie meine Launen erträgt, hat sie von ihrer Mutter
geerbt, und es ist mir ein Vorwurf. Ich habe beiden nicht viel Freude im
Leben bereitet. (Fortsetzung folgt.)
Der Verfasser dieses interessanten Vortrages ist einer der wenigen altstraß-
burgcr Professoren, welche an die neue deutsche Universität übergetreten sind. Er
stimmte, was man leider von verschwindend wenigen Elsässern sagen kann, der
Neuordnung der Dinge rückhaltslos zu, weil seine ganze Bildung im deutschen
Geistesleben wurzelt. Zwar hat er seine Hauptwerke in französischer Sprache ge¬
schrieben, aber er konnte dadurch umso eher als Vermittler und Interpret deutscher
Gedanken bei den Franzosen wirken. Das vorliegende Schriftchen ist ein neuer
Beweis seiner intensiven Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Zeit- und Streit¬
fragen in Deutschland. Es enthält eine seiner Vorlesungen über die Philosophie
der Gegenwart und zeigt ihn auch als anregenden Lehrer.
Der Verfasser giebt zunächst eine knappe, aber lichtvolle Darstellung der
Hartmcmnschen Philosophie und schließt daran eine scharfe Kritik derselben. Er
findet den Hauptirrtum Hartmanns in der falschen Verbindung von Pessimismus und
Willensmetaphysik. Daß Schopenhauer und Hartmann den Willen „als den innersten
Kern unsers Wesens und aller Wesen" annehmen, billigt Weber, denn „sie thun
dies in Übereinstimmung mit den besten unter den neuern Philosophen"; aber
dieser metaphysische Grundwille geht in letzter Linie nicht auf das Leben als höchsten
Zweck — bei dieser Annahme kann man dem Pessimismus nicht entrinnen —, sondern
das Ziel jenes Willens ist das Gute, dem das Leben nnr als Mittel dient.
Schopenhauer oder Fichte — so lautet für Weber die Alternative. Er stellt sich
auf Fichtes Seite, betrachtet mit ihm die „Welt als das Material unserer Pflicht,"
das Absolute nicht als den blinden und dummen Trieb zum Leben als solchem,
sondern als den Willen zum Guten, der sich im Leben verwirklicht. Um dieser
Verwirklichung des Guten willen muß das von dem Dasein untrennbare Übel
„gleichsam mit in den Kauf genommen werden." Der Grundgedanke des anregenden
Vortrages, auf den wir hiermit die Aufmerksamkeit unsrer Leser lenken möchten,
ist in dem Motto ausgesprochen: I^o volont-Msmo ost vrai, mais it l'-me, Jo -lö-
xsssimiser.
Johann Sebastian Bach in Frankreich — das erste französische Buch über
den größten Meister der deutschen protestantischen Kirchenmusik! In der That,
ein literarisches Ereignis, das für das Musikleben Frankreichs vielleicht nicht ohne
Folgen bleiben wird.
Wenn irgend etwas in Erstaunen setzen kann — mit diesen Worten beginnt
der Verfasser der vorliegenden Bachbiographie seine Einleitung —, so ist es das,
daß in unsrer so wißbegierigen und spüreifrigen (vliorc-luzuso) Zeit, in der das
Forschnugsgebict der Geschichte überhaupt und das der Musikgeschichte insbesondre
nach allen Richtungen hin durchwühlt ist, noch niemand in Frankreich daran ge¬
dacht hat, das Leben des geistvollsten, vielleicht des außerordentlichsten Musikers
zu schreiben, der jemals gelebt hat: Johann Sebastian Bachs. Fast alle großen
Geister, welche die Tonkunst verherrlicht haben, Händel, Gluck, Haydn, Mozart,
Beethoven, Rossini und viele andre haben bei uns ihre Biographen gefunden, nur
Bach nicht; denn die wenigen Seiten, die Felis diesem gewaltigen Genius in seiner
MoAi'Äpb.in! univgi'seits als« musicisns gewidmet hat, wird man ebensowenig für eine
Biographie ansehen, wie eine französische Übersetzung der Schrift Forkels über Bach.
Diese Thatsache, die unbegreiflich erscheint, wenn mau sich vergegenwärtigt,
daß der berühmte Kantor eine der hervorragendsten Persönlichkeiten der Musik¬
geschichte gewesen ist, wird jedoch nach einiger Überlegung erklärlich. Bach hat
weder Opern, noch Symphonien, noch auch Kammermusik geschrieben, wenigstens in
dem Sinne, den wir heute mit diesem Ausdruck verbinden; seine Kompositionen sind
infolge ihres verwickelten Baues so schwierig auszuführen, daß man sie, um ihre
unzähligen Schönheiten zu würdigen, studiren, ja beinahe untersuchen (vxAuiuor)
muß. Für einen gewöhnlichen Musiker ist das nicht möglich, noch weniger
für die große Masse. Kein Wunder also, daß diese Werke wenig bekannt siud
und sich uoch keine Volkstümlichkeit errungen haben. Ba'es ist in Frankreich fast
gänzlich unbekannt. Man weiß vom Hörensagen, daß er unermeßlich viel geschaffen
hat, aber was man nicht weiß, ist das, daß er die Kenner in das höchste Er¬
staunen versetzt, und daß er seiner Zeit um mehr als ein Jahrhundert voraus
war. Abgesehen von einigen auserlesenen Künstlern, abgesehen von einer be¬
schränkten Anzahl ernster und gebildeter Liebhaber — welcher französische Kunst¬
freund wäre imstande eine begründete Meinung zu äußern über Bachs Kirchen¬
konzerte, Oratorien, Messen, Motetten, in denen eine beinahe überströmende
Inspiration dahinfließt? Ein wenig vertrauter ist man mit seinen Klavier- und
Orgelkvmpositionen, aber die Schwierigkeit ihrer Ausführung gestattet nicht dem
ersten beste», sie zu bewältigen und beschränkt infolge dessen die Zahl seiner Be¬
wundrer. In der That, abgesehen von seinem „Wohltemperirten Clavier," seinen
Klaviersniten und einigen Konzerts kennt das musikalische Publikum Frankreichs
nichts vou alledem, was Bach geschrieben hat, und doch, wie unendlich groß ist
die Menge seiner Konipositionen!
Nach diesen Ausbrüchen der Klage und der Bewunderung berichtet der Ver¬
fasser über die Versuche, die man (1874) gemacht hat, in Paris die Matthäus-
Passion zur Aufführung zu bringe», vergleicht mit diesen dürftigen und vereinzelt ge¬
bliebenen Anfängen die Erfolge der englischen K-ren-8oeioty und wendet sich endlich zu
der in Deutschland herrschenden Bachvcrehrung, den Verdiensten der deutschen
Bachgesellschaft und der umfänglichen deutschen Literatur über Bach, die er von dem
Nekrolog in Mizlers Musikalischer Bibliothek vom Jahre 1754 an bis auf Spittäh
epochemachendes und abschließendes Werk den Lesern vorführt. Bei Bitter braucht
er die etwas boshafte Wendung, er verbinde „mit seiner Eigenschaft als Mnsik-
schriftstellcr noch die des preußischen Finanzministers/' findet auch sein Buch er¬
müdend und trocken MigÄiits se ariclg).
Über des Verfassers eigne Arbeit können wir uns kurz fassen. Herr David
hat — und hierin sind uns die Franzosen entschieden überlegen — ein geschicktes
und lesbares Buch von mäßigem Umfang zusammengeschrieben, wohl in der Haupt¬
sache im Anschluß an Spittäh Werk, das er als „wahrhaft würdig des großen
Künstlers, dem es gewidmet ist," bezeichnet. Dabei wimmelt es aber natürlich,
sobald deutsche oder gar lateinische Worte begegnen, von den lächerlichsten Schnitzern,
die zum Teil gewiß dem Setzer und dem Korrektor zur Last fallen, zum guten
Teil aber doch auch auf das Konto des Verfassers kommen. Wir gehören wahr¬
haftig nicht zu denen, die sich stets vor Vergnügen die Hände reiben, so oft in
einer französischen Zeitung ein Verstoß gegen die deutsche Sprache oder eine auf¬
fallende Unkenntnis der Geschichte oder Geographie Deutschlands entdeckt wird,
denn ähnliches Passirt auch in der deutschen Tagespresse und in deutschen Büchern
oft genug. Aber anch hierin siud uns die Herren Franzosen entschieden überlegen.
Was in dem vorliegenden Buche in diesem Pnnkte geleistet worden ist, ist
geradezu eine Schmach und Schande. Sollte das Buch eine zweite Auflage er¬
leben, so raten wir dem Verleger dringend, sich in Leipzig von einem tüchtigen
Fachmanne eine Druckrcvision lesen zu lassen. Die Verlagshandlung von Breitkopf
und Härtel würde dergleichen gewiß bereitwillig vermitteln.
Vor zehn Jahren sprach A. v. Zahn in Lützows Zeitschrift die Wahrnehmung
aus, daß die bildende Kunst des 18. Jahrhunderts, nachdem sie lange vernachlässigt
und als eine Kunst des Verfalls mit den flüchtigsten, verwerfendsten Urteilen ab¬
gefertigt worden sei, gegenwärtig von Künstlern und Knustforschern wieder mit
größerer Aufmerksamkeit betrachtet werde, und er knüpfte daran die Voraussage,
daß diese Bewegung zur „Rettung" jener Kunstepoche in der nächsten Zeit noch
wesentlich an Stärke gewinnen werde.
Diese Prophezeiung ist durchaus wahr geworden, und man darf sich dessen
freuen, weil das erwachte Interesse für die Kunst der Barockzeit keineswegs, wie
es nicht selten in der Wissenschaft geschieht, ein bloßes Verlegeuheitsinteresse ist,
dergestalt, daß man sich etwa unbedeutenderen Erscheinungen zuwendet, weil die be¬
deutenden bis zum Überdruß behandelt und besprochen sind, sondern weil die Kunst
der Barockzeit trotz manches Ausgearteten und Verschrobene» doch soviel geniale
Schöpferkraft, soviel Glanz, Wärme und Poesie in ihren Schöpfungen offenbart,
daß nur der bedauerliche Maugel einer genaueren Kenntnis derselben die früher
ihnen gegenüber an den Tag gelegte Verachtung begreiflich machen kann.
Auch die prachtvolle Publikation, deren erste Lieferung uns hier vorliegt, ist
ganz dazu angethan, die wachsende Zuneigung zu den Schöpfungen der Barock-
nrchitektnr zu bestärkn. Das Werk soll in etwa acht Lieferungen von je fünf Tafeln
die bedeutendsten Profanbauten des Wiener Barockstils — Werke der Fischer von
Erlach, Hildebrnnd, Martinelli u, a, — in Plänen, Aufrissen, Durchschnitten und
malerischen Ansichten vorführen. Während für die nächsten Lieferungen die Paläste
der Fürsten KinsK) und Liechtenstein, die Hofburg, die Hofbibliothek, das Belvedere,
das Finanzministerium u, a, in Aussicht genommen sind, bringt die erste Lieferung
ans fünf Tafeln starken Büttenpapiers (im Format von 48 zu 62 Centimetern) einen
Grundriß, einen Querschnitt und drei Außenansichten von dem Gartenpalnst des
Fürsten Schwarzenberg.
Die Tafeln unterscheiden sich von den meisten ähnlichen Prachtwerken, die wir
gesehen, anch von andern neuerdings vou Wien ausgegangenen, dadurch, daß sie
nicht in Kupferstich, sondern zunächst in Federzeichnungen hergestellt sind, die dann
durch Heliogravüre vervielfältigt sind. Durch diese Herstellungsart, welche ganz
von selbst eine gewisse diskret malerische Behandlung nahelegt, die denn anch in
der kräftigen Zeichnung, in der feinabgelvognen Verteilung von Licht und Schatten,
im Gewölk und in der hübschen, von Maltas Hand zugesetzten Staffage hervortritt,
haben namentlich die Außeuausichten einen ungewöhnlichen Reiz gewonnen. Statt
bloßer architektonischen Prospekte erhalten wir hier Darstellungen von nahezu bild¬
mäßiger Wirkung.
Ein baugeschichtlicher Text scheint zu den einzelnen Lieferungen aus ver-
schiednen Federn beigegeben werden zu sollen. Zur ersten Lieferung hat ihn der
Fürstlich Schwarzenbergsche Archivdirektor A. Berger geschrieben — ohne Zweifel
eine fleißige Forscherarbeit, aber sowohl in der Gruppirung des Stoffes wie in
der sprachlichen Darstellung weit von unserm Geschmack sich entfernend. Die
spätern Lieferungen werden hoffentlich gewandteren Federn anvertraut werden.
Die einnndsechzigste Auslage des Stielerschen Schulatlas bietet sich als ein
vollständig nengestciltetes Werk dar, das seine Vorgänger an Bequemlichkeit und
Genauigkeit weit übertrifft. Alle europäischen Länder mit Ausnahme von Nußland
sind auf denselben Maßstab (1: 5 000 000) gebracht, eine Einrichtung, deren Vor¬
teile besonders für die Schule nicht hoch genug anzuschlagen sind. Für die übrigen
Länder ist gleichfalls ein möglichst einheitlicher Maßstab geschaffen worden: für
Rußland, Vorderasien und Westindien ist er dreimal, für alle andern Länder fünf-
vder neunmal kleiner. Den letztern ist dabei stets Deutschland oder England in
einer in demselben Maßstabe ausgeführten Nebenkarte zur Vergleichung beigegeben.
Für die wichtigsten Städte und Verkehrspunkte siud etwa vierzig Spezialkarten
vorhanden. Auch die Übersichtlichkeit und Lesbarkeit der Kartenblätter hat wesent¬
lich gewonnen.
Bei all diesen Vorzügen sind nun aber leider auch eine Anzahl Versehen in
dem Atlas stehen geblieben. Im großen Publikum bedient man sich bei gewissen
geographischen Namen häufig einer schwankenden Orthographie, man verlangt
aber mit Recht wenigstens vom Atlas wie vom Lexikon Genauigkeit, damit man
bei ihnen sich Rats erholen könne. Darin läßt nun Stieler-Berghaus viel zu
wünschen übrig. So steht, um nur Europa herauszugreifen, K. 12, 18 und 19
Baiern für Bayern, das sich auf K. 14 findet. K. 20 steht Württemberg, K. 10,
13 und 13 Würtemberg. K. 13 findet sich Asberg statt Asperg, K. 13 H. Zöller,
K. 18 gar Hohen Zöller, während das Schloß doch, da die deutschen Ortsnamen
bekanntlich alle Dativform haben, Hohen Zollern heißt. Derselbe Fehler findet
sich übrigens auch im Handatlas; in diesem ist sogar, offenbar in der Meinung
eine Verbesserung anzubringen, die Vaterstadt Keplers, Weil der Stadt, die ihren
Namen im Gegensah zu Weil im Dorf hat, in Weil die Stadt umgewandelt.
Im gewöhnlichen Leben heißt die Hauptstadt des russischen Reiches wohl
schlechtweg Petersburg, offiziell aber heißt sie Se. Petersburg (eigentlich Se. Peter-
burg), das richtige findet sich K, 0; die falsche Form K. 21, sogar auf der Spezial-
knrte. Die Stadt, bei der einst der Karthager Hasdrubal seinen Tod fand, hieß
im Altertum Seuagallia, jetzt heißt sie Sinignglia, aber nicht, wie K. 9 in Ver-
mischung beider Formen steht, Scnigallia. Ebenso schreibt man entweder deutsch
Gothenburg, oder schwedisch Göteborg, aber nicht Götheborg, wie sich ans dein
Übersichtsplan zu K. 11 findet; c>» zwei andern Stellen ist die korrekte Form zu
lesen, wozu das schwanke»? K. 11 heißt Pommerns Universitätsstadt Greifs¬
walde, K, 13 und 15 Greifswald; in Pommern wird nur die letzte Nameusform
gesprochen. K. 20 finden sich Neuchatel und Lac Lemar, während doch NeuchÄel
und Lac Lomau zu schreiben ist. K. 3 steht Nimes statt Nimes u. s. w. Von
Lothbiugen K. 14 wollen wir schweigen, aber wozu K. 21 Rissa und Schumna,
dagegen K. 22 Risch und Schumla? Wozu K. (i Rewel, K. 21 Reval? K. 3
Ägypten, K. 25 die französische Form Egypten?
Aber das ist »och nicht alles. K. 6 sind die Grenzen Rumäniens unrichtig
angegeben, es ist »«> den ganzen Süden der Dobrndscha gekürzt. Die Republik
Andorra wie das Fürstentum Monaco sind ohne weiteres mit Spanien und Frank¬
reich vereinigt, während doch der Maßstab für die Karten beider Länder groß
genug ist, um jedem zu seinem Rechte zu verhelfen. Hat doch auch S. Marino
Platz gefunden, K. 22 wird Serbien noch als Fürstentum bezeichnet, K. 21 hat
Serbien noch die alte» Grenzen, die es vor dem letzten russisch-türkischen Kriege
besaß, und Rnmäiiien die provisorische Grenze, die bis zum Austrage der Arab-
Tabia-Frage die »leisten Karten einzuzeichnen pflegten, richtig dagegen findet sich
alles K. 22. K. 11 nud 15 ist das längst geschleifte Stralsund als Festung be¬
zeichnet, dagegen Kopenhagen und Düppel nicht; K 13 sind die Festungswerke
Malmös angegeben, K. 11 nicht. Ans K. 19 (Österreich-Ungarn) ist mit keiner
Farbe und keiner Bemerkung angedeutet, daß Bosnien in politischer Verbindung
mit Österreich steht, ebensowenig auf K. 22 (Balkanhalbinsel), während doch Cyper»,
das in ganz ähnlichem Verhältnis zu Groß-Britannien steht, stets richtig be¬
handelt ist.
Versehen dieser Art könnten noch genng vorgebracht werden, besonders auf
dem Gebiete des Verkehrswesens, Was an vergessenen Eisenbahnen gesündigt ist,
ist garnicht aufzuzählen; ist doch nicht einmal die Spezialkarte Thüringens, der
Heimat des Atlas, von diesem Mangel frei. Die größten, wichtigsten Bahnen
fehlen ebenso wie die kleine» und neuerbauten.
Hoffentlich werden diese und ähnliche Mängel in der nächsten Auflage ver¬
bessert werden. Wir haben die Fehler zur Sprache gebracht, nicht um den Atlas
zu tadeln, sondern um z» einer immer größern Vollkommenheit desselben beizu¬
tragen. Denn daß der „kleine Stieler" trotz der genannte» Schwächen weitaus
der beste unter den vorhandenen Schnlcitlanten ist, braucht ja niemandem erst gesagt
zu werden.
IN dem Eingeständnis eines Irrtums auszuweichen, dichten sich,
wie man sagt, die meisten Menschen lieber einen Charakterfehler
an. In der Politik scheint sogar ein unverzeihliches Verbrechen
zu begehen, wer seine Meinungen durch die Erfahrung berichtige»
läßt: die einmal ausgesprochene Ansicht wird aufrecht erhalten,
die Thatsachen haben Unrecht, und doppelt Unrecht hat, wer ihnen Einfluß
gewährt. Villigerweise muß auch zugegeben werden, daß es viel größere Selbst¬
überwindung erfordert, einen Irrtum zu bekennen als ein Verbrechen. Denn
im ersteren Falle heißt das — gewöhnlich — zugleich einem andern Recht
geben, seinen überlegenen Scharfsinn anerkennen, und zwar gerade demjenigen,
den man als befangen, urteilslos bekämpft hat. Das ist beschämend. Das be¬
schämendste aber wohl ist, sich sagen zu müssen, daß man naiver Weise ein
Spiel sür Ernst genommen und sich, wie der Landjunker in der Residenz, gegen
Bösewichter ereifert habe, welche unter der abscheuerregenden Maske höchst mo¬
ralische Absichten verbergen.
In solcher Lage befindet sich der Schreiber dieser Zeilen, aber zum Glück
auch in zahlreicher und angesehener Gesellschaft. Und eben dieser Umstand macht
es ihm zur Pflicht, offenes, rückhaltloses Geständnis abzulegen, seine Jrrtums-
genossen aufMüren und denen Abbitte zu leiste», die er so — lächerlich ver¬
kannt hat. Zur Sache deun!
Wir fühlten uns tief niedergeschlagen dnrch den Gang der parlamentarischen
Verhandlungen im deutschen Reiche. staatsmännische Weisheit scheint auch in
andern Ländern nicht wild am Wege zu wachsen; aber wie viel Entschuldigungs-
gründe ergeben sich, wo Republik und drei Dynastien gleichberechtigte Ansprüche
erheben, oder wo verschiedne Nationalitäten einander bis miss Messer bekriegen!
Doch woraus soll man die Leidenschaftlichkeit der liberalen Opposition in
Deutschland erklären? Die Ultramontanen lieben das protestantische Kaisertum
nicht und noch weniger eine Staatsregierung, welche sich nicht übertölpeln lassen
will — das ist begreiflich. Und trotzdem, und obgleich die Fraktion uuter einem
Befehl steht, dem sie blindlings gehorchen muß, bekundet sie doch, wo der kon-
fessionelle Standpunkt nicht ins Spiel kommt, einen viel klareren Blick für die
Bedürfnisse des Volkes und die Bedingungen des Gedeihens eines Staatswesens
als die Fortschrittspartei. Das Entsprechende läßt sich von einem Teil der
Sozialdemokraten sagen: natürlich nicht von jenen Herren „Arbeitern," die im
Schweiße ihres Angesichts ihr Agitatorbrvt essen und im Schutze der Immu¬
nität ihre renommistischen Brandreden halten, damit leider oft erreichend, daß
die vernünftigeren Elemente sich mit ihrer wahren Meinung nicht hervorwagen,
weil sie sonst von den Entschiedener in Acht und Bann gethan werden würden.
Die Fortschrittspartei hingegen will, wie sie ja laut erklärt, keine Republik, keine
Herrschaft des vierten Standes, keine Kommune, keine römische Botmäßigkeit.
Sie hat eine andre Vorstellung als wir von dem Anteil der Volksvertretung
an der Leitung der öffentlichen Dinge. Aber ist das ein Grund, systematisch
jedem Reformgedanken entgegenzutreten, wenn er von der Regierung ausge¬
gangen ist, jedes Bemühen um Hebung von Mißständen zu verdächtigen, deren
Vorhandensein sie doch nicht leugnen kann und für die sie selbst keinen Rat
weiß? Gnädig giebt sie zu, daß der Kanzler als Minister des Auswärtigen
seine Sache wirklich sehr gut mache, beinahe so gut, als wenn Professor Virchow
in der Wilhelmstraße residiren würde; daneben aber strengt sie sich aufs hef¬
tigste an, ihm seine Aktionen zu erschweren und den guten Freunden im Aus¬
lande die Überzeugung beizubringen, Bismarck habe das deutsche Volk nicht
hinter sich- Der Mann besitzt freilich eine recht lästige Angewohnheit: er be¬
hält am Ende immer Recht; können ihm hieraus diejenigen einen Vorwurf
machen, die selbst immer Recht behalten — wollen?
Der schlichte Menschenverstand hat uns zur Lösung dieses Rätsels ver-
holfen und damit eine Last von unsrer Brust genommen. Ein Gewerbsmann
führte bittere Klage über die Oberflächlichkeit, mit welcher die Angelegenheiten,
welche ihn zunächst berühren, in den Parlamenten behandelt werden, und setzte
hinzu: „Es ist, als ob die Herren sich verschworen hätten, uns das ganze parla¬
mentarische Wesen zu verleiden."
Das Wort traf wie eine plötzliche Erleuchtung. Ja, so muß es sein, es
kann nicht anders sein! Daß „Methode" in dem Treiben sei, hatten wir längst
erkannt, aber der Hamlet spielte seine Rolle so gut, daß wir uns völlig der
Illusion Hingaben. Fortschritt und Genossen haben die Beobachtung gemacht,
daß das liberale Philistertum sich in einen Aberglauben verrannt hat und jeder
Belehrung unzugänglich bleibt. Es hat sich von einem Wundertrank erzählen
lassen, der alle Schmerzen heilt, einem ausländischen Gebräu natürlich, mit der
Etikette „Parlamentarismus." Was darunter zu verstehen sei, weiß es aller¬
dings nicht, aber zu einem richtigen Geheimmittel gehört ja ein unverständ¬
licher Name. Genug, die Mixtur soll irgendwo ganz erstaunliche Wirkungen
hervorgebracht, alle Kranken gesund und alle Gesunden — reich, also glücklich
gemacht haben. Und wenn wir sämtlich gesund und reich und folglich glücklich
wären: eine Flasche Parlamentarismus müßten wir dennoch im Hause haben.
Das ist einmal so gebräuchlich, und wir dürfen nicht hinter der Zeit zurück¬
bleiben. Die Welt müßte ja glauben, wir kennten nicht den guten Ton. Daß
ein so bescheidner Wunsch unerfüllt bleibt, daran ist die Reaktion schuld, dieser
Inbegriff aller Bosheit, dieser Sammael, dessen Dichten und Trachten früh und
spät ist, das Thun der Lichtengel zu durchkreuzen und den ruhigen Bürger und
Steuerzahler zu peinigen. Wie ist solchem Aberglauben beizukommen? fragten
sich die Volksfreunde. Wenn der Arzt das kurpfuschende alte Weib entlarven
will, so bezichtigen ihn die Gläubigen des Brotneides; wenn die Polizei an¬
gerufen wird, macht man die Wohlthäterin der Armen noch zur Märtyrerin;
zeigt man einen, der durch die Kur zum Krüppel geworden ist, so heißt es, er
habe gewiß gegen die Weisungen der Wunderfrau gehandelt. Am eignen Leibe
muß jeder erfahren, was es mit den Geheimmitteln und Zaubersprüchen auf sich
hat. Dann freilich ist meistens keine Hilfe mehr möglich. Doch der Belesene
weiß, daß schon mancher durch ein Traumbild von seinem Wahne geheilt, zur
Umkehr bewogen worden ist. Wir kennen die Neujahrsnacht eines Unglücklichen,
Traum ein Leben u. s. w. Lassen wir unserm Volke im Traume seinen Willen,
damit es erwachend sein Glück begreifen und schätzen lerne.
Wie anders stellt sich alles dar, wenn wirs in diesem Lichte betrachten,
wie fügt und schickt sich alles, was unfaßbar und beklagenswert erschien, in ein
vom Patriotismus umsichtig aufgestelltes System!
Die Auflehnung gegen gerechtere Verteilung der Lasten, gegen den Schutz
der heimischen Produktion, gegen staatliche Fürsorge für diejenigen, welche sich
nicht selbst zu helfen vermögen, gegen die Sicherung der überseeischen Handels¬
verbindungen, die Schwärmerei für die Freiheit des Landstreichers, die Freiheit
der amerikanischen Trichine, die Hausirfreiheit, die zärtliche Sorge für den unga¬
rischen Getreidespekulanten, den russischen und amerikanischen Holzhändler, den
englischen Cottonfabrikcmten, die Begünstigung jedes Zwischenhändlers, ob er
Schweineschmalz, Cigarren oder Schnittwaaren führt, und die Taubheit gegen
die Beschwerden des Landwirtes und des Gewerbtreibenden, die Entrüstung, so
oft die Absicht auftaucht, das Hazardspiel an der Börse einzuschränken — lauter
grobe, aber unstreitig wirksame Mittel der Komödie. Gewiß, die Schauspieler
verdienen alle Anerkennung für die Hingebung, mit welcher sie ihre anstrengenden
Rollen durchführen und sich nie verleiten lassen, dem Publikum, nach Art Zet¬
tels des Webers und andrer schlechten Komödianten, anzudeuten, sie seien nicht
so gefährlich, wie sie sich anstellen müssen. Daher haben wir auch Bedenken
getragen, ihnen das Spiel zu verderben. Allein es ist doch wohl an der Zeit,
der Sache ein Ende zu machen, und zwar aus verschiednen Gründen.
Vor allem darf eine Vorstellung nicht zu lange wahren, weil sie sonst den
Zuschauer ermüdet und er endlich für die Entgegennahme der Moral am Schlusse
nicht mehr in der rechten Stimmung sein könnte. Die Künstler rechnen ohne
Zweifel nicht auf Dank, sie finden den Lohn im eignen Bewußtsein, aber sie
dürften entschieden Undank ernten, wenn sie gar zu spät die Masken herunter¬
nehmen. Das ist freilich ihre Sache. Dagegen leidet das Allgemeine Schaden,
weil nach dem Plan des Stückes so Nützliches und Notwendiges unterbleiben
muß, und in solchen Dingen ja der Zeitverlust nicht immer der einzige Verlust ist.
Außerdem mußte das Beispiel des Marquis Posel, der doch sicherlich das
Ideal jener Herren ist, ihnen sagen, wie leicht Intrigenspiele, die so kühn an¬
gelegt sind, von irgend einem nicht vorher zu berechnenden Zwischenfalle durch¬
kreuzt werden und ein böses Ende nehmen können. Soviel ist unverkennbar,
daß schon jetzt weit über das Ziel hinausgeschossen wird, und daß namentlich
der erste Held der Gesellschaft sich häufig von seinem Feuer (für die gute Sache)
zu Extempores hinreißen läßt, welche den Zweck der ganzen Aufführung ge¬
fährden. Er kopirt den brutalen Ton des hohlen Demagogentums mit einer
Treue, welche den Hörer empört. Seine pathetischen Beteuerungen, er werde
sich durch nichts abhalten lassen, über alles zu reden (mit Vorliebe natürlich über
das, was er nicht versteht), ist allerdings eine blutige Verhöhnung der Berufs-
rednerei, und der Einfall, sich in praktische Militärfragen mit Redensarten zu
mischen, wie sie seit 1848 nicht vernommen worden sind, darf geistreich genannt
werden. Aber er sollte nicht vergessen, daß viele, ja die meisten seine Sarkasmen
ganz falsch auffassen. Es ist so natürlich, daß auch der liberale Bürger, der
nicht mit im Geheimnis ist, fragt: Sehen wir denn auf unglückliche Feldzüge
zurück? Haben sich die Heereseinrichtungcn nicht bewährt? Sind unsre Offi¬
ziere von Adel vor dem Feinde davongelaufen oder haben sie unsre Festungen
verräterisch übergeben? Besteht heutzutage noch eine Kluft zwischen Adel und
Bürgertum wie vor achtzig Jahren? Zudem hatte er garnicht nötig, die Feinde
des stehenden Heeres so unbarmherzig zu karikiren, das besorgen ja die Herren
von der „Volkspartei" mit ihrer Miliz zur Genüge. Und vollends die vom
Zaun gebrochene Episode mit dem Grafen Moltke! Auch die Satire soll nicht
zu arg übertreiben. Wenn der greise Feldherr sich herausgenommen hätte, Herrn
Richter belehren zu wollen, wie man für den Geschmack der Politisch-Unmün¬
digen zu reden und zu schreiben habe, so würde die Antwort; „Das verstehen
Sie nicht, da bin ich Fachmann," sachlich berechtigt gewesen sein und sich dennoch
wegen ihrer Dreistigkeit allgemeinen Tadel zugezogen haben. So aber hat er
in dem Grafen Moltke das ganze Heer, die ganze Nation > alle Angehörigen
derselben, auf welchem Fleck der Erde sie auch wohnen mögen, aufs tiefste be¬
leidigt; und das stand wohl kaum in seiner Rolle.
Daß andre es ihm nachzumachen suchen, ist begreiflich; und erreicht ihn
auch keiner in grotesken Wendungen und in jenen Kraftleistungen, welche im
Theaterjargou „Kulissenreißerei" genannt werden, so stören sie doch das übrigens
so löbliche „Ensemble." Maßhalten, ihr Herren! Dieses Lächerlichmachen eines
Großenhainer Gastwirts, auf dessen Kosten mit dem Feldmarschall angebunden
wurde, dies Forschen nach persönlichen Interessen, so oft eine gemeinnützige
Maßregel vorgeschlagen wird, dies Geschrei: „Ihr treibt Wahlpolitik!" womit
doch zugegeben wird, daß die Wähler die angefeindeten Ansichten teilen — alles
das geht über den Spaß, verdirbt euer eignes Konzept. Denn die Menge
unterscheidet nicht. Sie sagt nicht: „Fort mit den sogenannten Volksvertretern,
welche sich geberden, als sei das Volk um ihretwillen dn!" sondern: „Wozu der
ganze Vertretungslnxus? Damit die Staatsmaschine in ihrem geregelten Gange
gehemmt, damit sonndsoviele Ries Papier vollgeredet werden? Das ist uns die
Mühe des Wählers und die Kosten nicht wert. Fort damit!"
Drum sagen wir, es ist an der Zeit, die Masken zu lüften. Der Zweck,
den Parlamentarismus unpopulär zu machen, ist vollauf erreicht. Wird das
Tendenzschanspiel noch länger fortgesetzt, so könnte es einen die wohlwollenden
Spieler selbst höchlichst überraschenden Ausgang nehmen.
s gab eine Zeit, wo der deutsche Kaufmann in dem Getriebe des
Welthandels an erster Stelle stand. Die Handelsbeziehungen des
in seiner Blütezeit mehr als siebzig Städte umfassenden Städte¬
bundes der Hanse waren weit verzweigt, und die zahlreichen Ver¬
kehrslinien deutscher Geschäftigkeit reichten vom äußersten Norden
bis nach Italien, vom Atlantischen Ozean bis weit nach dem Innern Rußlands
hinein und umspannten in gleicher Weise die bekannten Meere. Mit dem weit¬
schauenden Blicke des großen Handelsherrn verbanden die Hanseaten auch ein
hohes Maß kriegerischer Tüchtigkeit. Da keine Staatsflagge ihren Handel schützte,
so verwandelten sich die mit reichen Gütern beladenen Kauffahrer häufig genug
zu eignem Schutze in wohlbewehrte Kriegsschiffe, welche mit Energie und Ge¬
schick dem Feinde zu trotzen verstanden; ja in seiner Gemeinschaft fühlte der
Hansebund sich wiederholt stark genug, selbst Königen mit Erfolg die Spitze
zu bieten.
Aber bereits gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts begann diese
Glanzperiode deutschen Handels, deutschen Gewerbfleißes und deutscher See-
Herrschaft zu erbleichen. Die Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ost¬
indien führten wesentlich andre Verkehrsbedingungen, eine völlige Umwandlung
von Handel und Verkehr herbei, ohne daß der Hansebuud es verstanden hätte,
den neuen Verhältnissen durch veränderte Organisation Rechnung zu tragen.
Dazu traten Streitigkeiten innerhalb des Bundes, welche in stets wachsendem
Maße die Sonderinteressen einzelner Städte in den Vordergrund zu drängen
bemüht waren, und die blutigen Greuel des dreißigjährigen Krieges führten den
gänzlichen Verfall nicht allein der Hanse, sondern des deutschen Handels über¬
haupt herbei. Es war dies lebhaft zu beklagen, da die langgestreckt deutsche
Nordküste den Seehandel von vornherein durchaus begünstigte, da dieser Handel
durch die Ausfuhr der Erzeugnisse heimischen Gewerbefleißes auf die Hebung
des Nationalwohlstandes von bedeutendem Einflüsse und die seemännische Be¬
völkerung der deutschen Küstenländer ein ausreichendes und besonders tüch¬
tiges Material an Seeleuten zu stellen imstande war, wie denn deutsche Matrosen
auf den Flotten andrer Völker stets des besten Rufs genossen haben.
Mit dem überseeischen Handel eines Landes steht aber das Vorhandensein
einer starken Kriegsflotte, welche ihn wirksam zu schützen imstande ist, in di¬
rekter Wechselbeziehung. An einer solchen gebrach es in dem ohnmächtigen, zu
vielen Duodezstaaten zerstückelten Deutschland gleichfalls. Somit trat weder der
Gedanke oder der Versuch, sich am Welthandel lebhaft im großen zu beteiligen,
noch die Notwendigkeit oder auch nur die Möglichkeit zur Schaffung einer deut¬
schen Kriegsflotte an die Oberfläche. Dennoch haben sich beide Gesichtspunkte
in dem innern Bewußtsein des Volkes jahrhundertelang in einer Weise lebendig
erhalten, um in dem Stürmen und Drängen des Jahres 1848 den lauten
Ruf nach einer deutschen Flotte mächtig erklingen zu lassen. Von dem Wieder¬
hall, welchen diese Forderung im gesamten Vaterlande sand, legten die zahl¬
reichen, aus allen Teilen und Staaten des Reiches eingehenden Spenden das
beredteste Zeugnis ab. Leider barg das mit so vieler Aufopferung begonnene
Unternehmen schon den Todeskeim in sich selbst in der fieberhaften Überstürzung,
mit welcher die Organisation betrieben wurde, wie in der Enttäuschung der po¬
litischen Schwärmer jener Tage, welche gehofft hatten, mit einem Schlage eine
fertige, stolze und wenigstens der dänischen ebenbürtige Flotte zu erhalten.
Tief beschämend für jeden Patrioten bleibt das Ende der damaligen deut¬
schen Flotte, aber der gesunde, urkräftige Sinn des Volkes hat auch diesen
Schlag überwunden und wendet in seiner Gesamtheit der Entwicklung der Kriegs¬
flotte, welche das neue geeinte Reich im verflossenen Jahrzehnt endlich hat zu
einer kräftigen Organisation heranreifen lassen, die regste Teilnahme zu. Die
deutsche Flotte, oder die „kaiserliche Marine," wie der offizielle Ausdruck für
diesen Teil der deutschen Kriegsmacht lautet, ist in der That ein Schoßkind
der Nation, und die Vorliebe für sie macht sich nicht allein geltend im Paria.
neue und in der Tagespresse, sie wird auch bekundet durch den Umstand, daß
jährlich eine erhebliche Zahl junger Männer auch aus den innern Teilen des
Reiches, dem alten deutschen Wandertriebe folgend, freiwillig in die Reihen der
Matrosen und Seesoldaten eintritt. Vielleicht, und wir haben den festen Glauben,
daß dem so sei, hat die Bezeichnung der Marine als „kaiserliche" einen wesent¬
lichen Anteil an diesen Gefühlen der Zuneigung für unsre Flotte, denn das
kurze Beiwort, welches den Patrioten an die Herrlichkeit alter deutscher Kaiser
gemahnt, bringt es auch äußerlich zur Erscheinung und zum Ausdruck, daß die
Marine eines der wenigen, eigentlich das einzige Gebiet des öffentlichen Lebens
umschließt, wo eine völlige Einigung deutscher Interessen Platz gegriffen hat.
Wie sie nach Artikel 53 der Reichsverfassung völlig einheitlich gegliedert und
den Befehlen des Kaisers in Krieg und Frieden direkt unterstellt ist, so genügt
auch die seemännische Bevölkerung aller deutschen Uferstaaten ihrer militärischen
Dienstpflicht gesetzmäßig in der Marine. Der Eintritt in dieselbe steht sämt¬
lichen deutschen Landeskindern offen, und Kosten und Lasten derselben werden
von allen deutschen Staaten gemeinsam getragen; selbst Baiern beansprucht auf
diesem Gebiete keine Reservatrechte.
Wenn wir aber oben angedeutet haben, daß es nach dem Verfall der Hanse
sowohl an Thatkraft und Entschlossenheit zur Wiedergewinnung der Verlornen
Stellung innerhalb des Welthandels, wie an einer Kriegsflotte zum Schutze des
Handels gefehlt habe, so müssen wir doch auch kurz auf einige Versuche hin¬
weisen, welche in beiden Richtungen fördernd zu wirken bestrebt waren. Aus
der langen Reihe tüchtiger Herrscher des Hohenzollerngeschlechts treten uns na¬
mentlich die imposanten Gestalten zweier Fürsten entgegen, welche, ihrer Zeit
weit voraus, nicht nur hohen kriegerischen Ruhm einzuheimsen verstanden, son¬
dern auch der innern Weiterentwicklung ihres Landes und Volkes größte Sorg¬
falt zuwendeten, welche aufs eifrigste bestrebt waren, Kunst und Wissenschaft,
Handel, Industrie und Gewerbe zu heben und deshalb fast auf allen Gebieten
grundlegend gewirkt haben. Mit weitem Blicke erkannte Kurfürst Friedrich
Wilhelm die Wichtigkeit überseeischen Handels für das materielle und geistige
Wohl seines Landes und die Notwendigkeit eines Kolonialbesitzes wie einer
Kriegsflotte zum Schutze beider und plante schon 1647 die Bildung einer ost¬
indischen Handelsgesellschaft. Doch stellten sich neben der Zaghaftigkeit und
Indolenz der deutschen Kaufleute noch manche andre Schwierigkeiten der Aus¬
führung dieses Unternehmens entgegen, und es darf wohl lediglich oder doch
vorzugsweise als ein Erfolg der persönlichen Thatkraft des großen Kurfürsten
angesehen werden, wenn fast vierzig Jahre später, 1682, die Bildung einer
brandenburgisch-afrikanischen Handelsgesellschaft auf eine bestimmt begrenzte Zeit¬
dauer gelang. Wie holländischer Unternehmungsgeist hierzu die ersten Kapita¬
lien lieferte, so bediente sich der Kurfürst auch eines Holländers, des Schöffen
Benjamin Raute von Middelburg auf Seeland, zur Bildung einer Kriegsflotte.
Die Schiffe wurden auf Zeit gemietet, und den eifrigen Bemühungen des thä¬
tigen Generaldirektors der Marine, welcher mit voller Seele die Absichten seines
fürstlichen Herrn erfaßte, gelang es, ans kleinen Anfängen in kürzester Frist
eine verhältnismäßig nicht unbedeutende Organisation ins Leben zu rufen.
Sieben brandenburgische Schiffe mit insgesamt 107 Geschützen nahmen 1677
Rügen in Besitz, und 1683 wurde die Flagge mit dem roten Aar auf dem
Berge Mamfro bei Akoda am Kap der drei Spitzen an der Westküste Afrikas
aufgepflanzt und das somit in Beschlag genommene Territorium als Stützpunkt
für den Handel befestigt. Aber schon begannen Frankreich und England mit
Eifersucht auf die wachsende Bedeutung zu blicken, die das kleine Brandenburg
zur See beanspruchte, und wenn auch gegen die vollzogene Thatsache der Be¬
sitznahme jenes Fleckchens Erde im schwarzen Weltteil mit Erfolg nichts unter¬
nommen werden konnte, so stieß die weitere Anlage einer westindischen Kolonie,
wie der Kurfürst sie beabsichtigte, doch aus unüberwindliche politische Schwierig¬
keiten. Auch erlahmte bald die treibende Kraft, welche diesen Unternehmungen
das Gedeihen gesichert hatte. Dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm, welcher 1688
starb, folgte Benjamin Raute bereits 1767 in das Grab nach, und mit dem
Tode dieser beiden ging der mit so günstigem Erfolge unternommene Versuch
zur Teilnahme am Welthandel und zur Schaffung einer Kriegsmarine mit
raschen Schritten seinem gänzlichen Untergange entgegen. Die Schiffe verfaulten
in deu Häfen, die Offiziere verließen den Dienst, um zu ihrem bürgerlichen Ge¬
werbe zurückzukehren, und wie damit die Flotte sich thatsächlich auflöste, so
unterzeichnete König Friedrich Wilhelm I. schon 1720 die Urkunde, in welcher
er für sich und seine Nachkommen ausdrücklich auf alle Besitzungen und Rechte
der Handelsgesellschaft verzichtete.
Zum zweitenmale war es König Friedrich II., welcher die Anfänge einer
Marine, vorzugsweise zum Schutze der langgestreckten Ostseeküste, ins Leben rief.
Als seine Schiffe aber 1759 durch die Schweden völlig geschlagen und ver¬
nichtet wurden, konnte er im Kampfe um die Existenz der Monarchie weder
genügende Geldmittel flüssig machen, noch Zeit und Muße finden, um diesen
Teil seiner Streitmacht von neuem und kräftiger zu organisiren. Finanzielle
Rücksichten waren es denn auch wohl vorzugsweise, welche den großen König
nötigten, in den folgenden Friedensjahren seine Sorgfalt lediglich dem Auf¬
schwünge von Landwirtschaft, Handel und Industrie in dem arg mitgenommenen
Lande und der Kräftigung des Landheeres zuzuwenden.
Dennoch behielt die preußische Politik fortwährend die Schaffung einer
Flotte im Auge, und als nach dem Druck der napoleonischen Kriegsjahre Handel
und Wandel wieder aufzubinden begannen und die Notwendigkeit einer ent¬
sprechenden Seemacht sich in Norddeutschland immer fühlbarer machte, unter¬
nahm das arme Preußen, dessen Mittel durch deu Unterhalt einer starken Armee
schon über Verhältnis in Anspruch genommen waren, wiederholt den Versuch
zur Gründung einer solchen in Gemeinschaft mit den Staaten des Zollvereins,
ohne jedoch den zähen Widerstand kleinstaatlicher Sonderpolitik in dieser Rich¬
tung überwinden zu können.
Politische Motive und Zweckmäßigkeitsgründe veranlaßten neben seiner
Vaterlandsliebe und der Begeisterung sür die gute Sache wohl hauptsächlich den
Prinzen Adalbert von Preußen, die Leitung der 1848 geschaffenen deutschen
Flotte in die Hand zu nehmen. Zwar konnte er sie nicht vor dem Hammer
des Auktionators bewahren, doch sollte er berufen sein, an andrer Stelle auf
gleichem Gebiet seinem Könige und dem Vaterlande ersprießliche Dienste zu
leisten. Denn Preußen hielt den Augenblick für gekommen, seinerseits selbständig
den Gedanken der Kriegsmarine zur That werden zu lassen. Mit der nüchtern
praktischen Entschlossenheit, welche alle Unternehmungen Preußens kennzeichnet,
ging man aus Werk und konnte schon mit dem Ablauf des Malmöer Waffen¬
stillstandes, im August 1849, eine kleine Flotte, bestehend aus der Segelkorvette
Amazone, den beiden Raddampfern Adler und Elisabeth, 21 Rudertanonscha-
luppcn und 6 Ruderkanonjollen, mit im ganzen 67 Geschützen und einer Be¬
mannung von 1S21 Köpfen, unter den Befehlen des Kommodore Schroeder
vereinigen.
Nach dem Frieden erhielt Prinz Adalbert das Oberkommando über die
preußischen Schiffe und hat bis zu seinem am 6. Juni 1873 erfolgten Tode
seine ganze Kraft der Entwicklung der jungen Marine gewidmet. Obgleich nicht
Seemann von Beruf und Erziehung, wohl aber nach Neigung und ernstem
maritimen Studium, ist der genannte Prinz recht eigentlich als der Gründer
der deutschen Flotte anzusehen, und wenn es ihm auch nicht vergönnt gewesen
ist, an der Spitze eines mächtigen Panzergcschwaders Seesiege von welterschttt-
terndcr Bedeutung über die Feinde seines Vaterlandes zu erringen, so ist dafür
die gedeihliche Fortentwicklung der Flotte in ihren Hauptzügen ganz wesentlich
seiner unermüdlichen hingebenden Arbeit zu verdanken, und nicht nur der deutsche
Seemann, sondern jeder Patriot wird beim Anblick des im Jahre 1882 dem
prinzlichen Herrn in Bremerhaven gesetzten Denkmals mit Stolz und Freude
des ersten preußischen Admirals gedenken.
Die Bewohner der preußischen Küstenstriche lieferten ein vortreffliches
Material zur Bemannung der Flotte, das Hauptaugenmerk aber mußte der
kommandirende Offizier auf die Gewinnung und Heranbildung tüchtiger See¬
offiziere richten. Zu diesem Zwecke wurden junge Leute als Offiziersaspiranten
eingestellt, und Offiziere fremder Kriegsflotten wie aus der Handelsmarine heran¬
gezogen. Armeeoffiziere widmeten sich dem neuen Berufe und wurden zu weiterer
Fachausbildung auf die englische, amerikanische und holländische Flotte komman-
dirt. Der Erfolg des ernsten Strebens blieb nicht aus: auch das homogene,
an innerer Tüchtigkeit und kmneradschaftlicher Zusammengehörigkeit dem tradi-
tionellen festen Gefüge des Offizierkorps der Armee ebenbürtige junge deutsche
Seeoffizierkorps verehrt in dem verstorbenen Prinzen Adalbert seinen Schöpfer.
Als grundlegend für die weitere Entwicklung der Flotte kann das Jahr 1853
angesehen werden, in welchem die Angelegenheiten der Marine vom Kriegs¬
ministerium abgelöst und der nunmehr selbständigen Admiralität übertragen
wurden. In diesem Jahre wurde außerdem dasjenige oldcnburgische Terrain
käuflich erworben, auf welchem der wegen der schweren Zugänglichkeit der Ostsee
so wichtige Kriegshafen Wilhelmshaven erbaut worden ist.
Mit der Heranbildung von Offizieren und Matrosen hielt aber auch die
Vermehrung und Verbesserung der Schiffe, des schwimmenden Materials,
gleichen Schritt. Im Jahre 1860 bestand dieses letztere außer der oben er¬
wähnten Ruderflottille bereits aus 26 Dampfern mit insgesamt 212 Geschützen
und 9 Segelschiffen mit 12S Kanonen. Während des deutsch-dänischen Krieges
1864 erhielt die junge Marine unter dem Kommando des Admirals Jachmann
die Feuertaufe; bei Ausbruch des französischen Krieges, sechs Jahre später, hatte
sie die Stärke von 3 Panzerschiffen, 2 Panzerfahrzeugen, ö gedeckten hölzernen
und 4 Glattdeckskorvetten, 8 Dampfkorvetten erster Klasse, 14 Dampfkorvetten
zweiter Klasse, 3 Segelfregattcn und 4 Briggs erreicht, wozu noch die Ruder¬
flottille trat. Natürlich reichte diese Macht nicht aus, dem weit überlegnen
Feinde auf offener See in rangirter Schlacht die Spitze zu bieten; trotzdem
hat es dem französischen Admiral nicht glücken wollen, die mit Aufwand be¬
deutender Kräfte in Szene gesetzte und mit großem Eklat angekündigte Landung
auf deutschem Boden auszuführen, und das Ausfallgefecht der Nymphe bei
Danzig, wie der Kampf des Meteor mit dem französischen Aviso Bouvet in den
westindischen Gewässern legten Zeugnis ab von der deutschen seemännischen
Tüchtigkeit und waren ganz geeignet, auch dem stärkern Feinde Achtung vor der
jungen Flagge einzuflößen.
Mit der Aufrichtung des neuen deutschen Reiches ging die preußische Ma¬
rine in die deutsche Flotte über. Die Art des weitern Ausbaues, zu welchem
der Segen oder Unsegen der französischen Milliarden die Mittel in reichem
Maße gewährte, mußte zumeist davon abhängen, ob Deutschland sich ent¬
schließen wollte und konnte, mit einem Schlage unter die großen Seemächte
einzutreten, oder ob es zweckdienlicher schien, die deutsche Seemacht lediglich in
genügender Stärke zu formiren, um den Schutz der heimischen Küsten und über¬
seeischen vaterländischen Interessen mit Nachdruck wahrnehmen zu können.
Jedenfalls mußte die Flotte immer zahlreich genug sein, um in kriegerischer
Verwicklung mit Seemächten ersten Ranges durch fortwährende Ausfälle aus
den befestigten Häfen eine dauernde Blokade unsrer Küsten zu verhindern.
Bei der Entscheidung dieser Fragen handelt es sich einerseits um die
Lebensinteressen des deutschen Handels und der deutschen Wehrhaftigkeit, andrer¬
seits um eine riesenhafte Organisation und um die Aufwendung ganz bedeutender
Kapitalien. Um dies ganz zu würdigen, muß man sich vergegenwärtigen, daß
beispielsweise die russische Flotte in fünf verschiednen Geschwadern 373 Schiffe
umfaßt, und daß der Etat des russischen Marineministeriums für 1882 die
Summe von 27 ^ Millionen Rubel übersteigt. Frankreich besitzt 356 Kriegs¬
fahrzeuge, und die Ausgaben für die Marincverwaltung betragen nach dem
Voranschlag für 1883 fast 205 Millionen Franks. Dabei ist die Republik
fortwährend bemüht, ihre Streitmacht zur See zu erhöhen, und eine große
Zahl von Schiffen, darunter allein 10 Panzerfahrzeuge verschiedner Größe,
geht ihrer Vollendung auf den Werften entgegen. England endlich hat
nach dem Rechnungsabschluß für das Finanzjahr 1881/82 nicht weniger
als 10 756 453 Pfund Sterling auf seine Flotte verwendet und besaß im
Jahre 1882 74 Panzerschiffe, etwa 360 Dampfer und 120 Segelschiffe. Man
kann rin Recht einwenden, daß es dem Inselreiche unmöglich sein würde, in
einem Kriege, namentlich mit Deutschland, dessen Söhne vielfach Dienste auf der
großbritannischen Flotte suchen, diese Masse von Schiffen aller Art zu bemannen
und ins Feld zu führen, dagegen bleibt es aber doch Thatsache, daß schon während
des Friedens durchschnittlich 250 dieser Schiffe, darunter 31 Panzer, also eine
den Gesamtbestand der deutschen Flotte erheblich übersteigende Zahl, fortwährend
in Dienst gestellt, wenn auch über den ganzen Erdball zerstreut ist.
Wenn Deutschland nun wohl auch über das genügende Material von
Menschen, vielleicht auch aus den Beständen der französische» Kriegskontribution
über die nötigen Geldmittel zur Schaffung einer ähnlich mächtigen Flotte hätte
verfügen können, fo ist es doch gewiß angesichts der gefährdeten geographischen
Lage im Herzen Europas als ein Akt weiser Selbstbeschränkung zu be¬
trachten, daß man von so hochfliegenden Plänen Abstand genommen hat, den
besten Schutz des Reiches nach wie vor in einem starken und schlagfertigen Heere
erkennt, und die Organisation der Marine hauptsächlich vom defensiven Stand¬
punkte aus ins Werk gesetzt, sie jedoch dabei immer noch zahlreich genug geplant
hat, um den Flotten von Seemächten zweiten Ranges, wie etwa Österreich,
Schweden und Norwegen, oder gar Dänemark, auch angriffsweise gegenüber¬
treten zu können.
Von solchen und ähnlichen Gesichtspunkten geht der Flottengründungsplan
aus, welcher 1873 zwischen den verschiednen Faktoren der Gesetzgebung verein¬
bart wurde. An Geldmitteln wirft derselbe für 1873 die Summe von 218437 500
Mark aus und bemißt den jährlichen Etat in steter Steigerung von 16290000
Mark ster 1874 bis zu 31368000 Mark im Jahre 1882, bis zu welchem Zeit¬
punkte die Organisation der Flotte ihren Abschluß erreicht haben sollte. Das
Marinebudget für 1882/83 beträgt 36294656 Mark an fortdauernden und
einmaligen Ausgaben, für 1883/84 und 1884/85 beziffern die betreffenden Vor¬
anschläge die Etats der Marineverwaltung auf 27 787067 und auf 28420988
Mark.
Wie aber selbstverständlich die auf Jahre vorher bestimmten Etatssätze
manchen Schwankungen im Laufe der Zeit unterworfen gewesen sind, so hat
auch die ganze Ausführung des Flottengründungsplanes vielfache Änderungen
erfahren müssen. Zunächst war es nicht in allen Fällen möglich, die erforder¬
lichen Bauten an Schiffen und an Marineetablissements in dem in Aussicht ge¬
nommenen Tempo zu fördern, sodaß die einmaligen Ausgaben in den einzelnen
Finanzjahren erheblich hinter der Vorherbestimmung zurückblieben, wenn auch
die laufenden Ausgaben sich in ziemlicher Übereinstimmung mit derselben stei¬
gern mochten. Keine Zeit ist ferner reicher an Erfindungen mannichfachster Art
in Bezug auf die Tragweite der Geschütze, die Durchschlagskraft der Geschosse
und die schützende Panzerung gewesen als das verflossene Jahrzehnt, und das
Bestreben, die Entwicklung der kaiserlichen Marine stets auf der Höhe der
neuesten Forschungen und Erfindungen zu halten, mußte natürlich einen ent¬
scheidenden Einfluß auf den Bau wie auf die Bewaffnung der Schiffe ausüben.
Und während der „Kampf zwischen Panzer und Geschütz" noch immer nicht
beendigt ist, hat die Entwicklung des Torpedowescns solche Fortschritte gemacht,
daß anscheinend diese tückische Waffe zu einem hauptsächlichen Kampfmittel im
Seekriege geworden ist. Namentlich für die Küstenverteidigung erscheinen die
Torpedos von hoher Wichtigkeit, was auch von selten der Admiralität in einer
Weise anerkannt worden ist, daß die letzte offizielle Schiffsliste der kaiserlichen
Marine bereits 15 Torpedoboote und Minenleger aufzählt, während nach der¬
selben Liste vom Jahre 1880 erst zwei eigentliche Torpedoboote neben einer
Anzahl von Minenlegern und Minenprahmen vorhanden waren. Ein vollstän¬
diger Abschluß der Flottenorganisation ist also aus diesen und einigen andern
ähnlichen Gründen nicht erreicht worden, und die stetig im Fortschreiten begriffene
Technik wird einen solchen wohl auch stets verbieten; dagegen ist im allgemeinen
der Flottengründungsplan sachlich der Vollendung entgegengeführt, und nament¬
lich wird die von vornherein beabsichtigte Beschränkung desselben nicht an¬
getastet.
Wie es unserm Kaiser im Laufe seiner vielbewegten Regierung so häufig
gelungen ist, für besondre Aufgaben die richtige Persönlichkeit zu finden, so hat
auch der auf den schwierigen Posten eines Chefs der Admiralität berufene Ge¬
neral in mehr als zwölfjähriger angestrengter Thätigkeit bedeutendes zu schaffen
verstanden. Zwar ist General von Stosch sowenig wie vor ihm Prinz Adalbert
ein fachmännisch gebildeter Seemann, sondern aus dem Landheere zu seiner
jetzigen Stellung berufen, und dieser Umstand mag ihm von vornherein manche,
bis auf den heutigen Tag noch nicht überwundene Gegnerschaft zugezogen haben.
Mit großer Arbeitskraft aber und eiserner Energie verbindet der Chef der Ad¬
miralität ein ausgesprochenes Organisationstalent, und vermöge dieser Eigen¬
schaften hat er die mannichfachen entgegenstehenden Schwierigkeiten seines hohen
Amtes siegreich überwunden, und von künstigen Erfolgen der deutschen Flotte
wird der Name des Generals von Stosch stets unzertrennlich bleiben. Ein
nationales Verdienst aber hat sich die Admiralität erworben, indem sie in ihren
Lieferungen für die Flotte sich vom Auslande frei gemacht und der heimischen
Industrie Gelegenheit zur Entwicklung frischer Thätigkeit gegeben hat. Trotz
der verhältnismäßig geringen Zahl deutscher Kriegsschiffe ist diese Thatsache in
nationalökonomischer Hinsicht nicht zu unterschätzen. Die Summen, die auf
diese Weise im Lande bleiben, sind sehr bedeutend, wie denn beispielsweise im
Laufe des Jahres 1881 auf den drei Werften Danzig, Kiel und Wilhelmshaven
zusammen 2447 Zivilarbeitcr beschäftigt worden sind und einen Arbeitslohn von
2139279 Mark haben erwerben können, während im Marinectat des Finanz¬
jahres 1882/83 für den Werftbetrieb überhaupt eine Summe von 11006558
Mark eingestellt ist. Der Vaterlandsfreund muß dieses Vorgehen der Admira¬
lität im nationalen Sinne umso freudiger begrüßen, als leider der deutsche
Privatunternehmer sich noch nicht durchgängig zu solchem Standpunkte aufge¬
schwungen hat. So soll der norddeutsche Lloyd bedauerlicherweise neuerdings
wieder eine Zahl größerer Seeschiffe bei einer englischen Werft in Auftrag ge¬
geben haben, und nicht wenige unsrer Leser nehmen mit uns Anstoß daran, daß
sie in einzelnen Städten unsers Vaterlandes an den Pferdebahnwagen noch
immer der Bezeichnung Irg-ava^ oonixg-n^ limitvä begegnen, welche uns fort
und fort hohnvoll daran erinnert, wie wir mit unserm guten Gelde fremder
Spekulation den Säckel füllen.
Dem Ausschusse des Bundesrates für das Seewesen steht eine beratende
Stimme zu. Als oberste Kommando- und Verwaltungsbehörde der kaiserlichen
Marine fungirt dagegen die Admiralität, deren Geschäftskreis alle Angelegen¬
heiten umfaßt, welche sich auf die Einrichtung, Erhaltung, Entwicklung und
Verwendung der Flotte beziehen. Der Chef der Admiralität führt den Ober¬
befehl nach den Anordnungen des Kaisers und leitet die Verwaltung unter der
Verantwortlichkeit des Reichskanzlers. Ihm steht in den Offizieren und Be¬
amten der Admiralität ein zahlreicher Apparat zur Seite, und in den verschieden
Abteilungen und Dezernaten dieser Behörde laufen die Fäden der militärischen
wie der eigentlichen Marineangelegenheitcn, die gesamte Bauverwaltung, das
Sarnath- und das Kassenwesen, kurz sämtliche Dienstzweige zusammen.
Der Admiralität unterstellt ist auch die deutsche Scewarte in Hamburg,
welche 1868 als Zentralstelle für maritime Meteorologie gegründet und später
zur Reichsanstalt erhoben worden ist. Dem großen Publikum ist sie infolge
der durch tägliche telegraphische Verbindung mit andern ähnlichen Anstalten er¬
möglichten Wetterberichte und Wetterprognosen bekannt; es ist aber wohl über¬
flüssig, besonders hervorzuheben, daß die Thätigkeit der deutschen Seewarte ein
weit ausgebreiteteres Feld umfaßt.
Die Marine ist vollständig als intcgrirender Teil in das Wehrsystem des
deutschen Reiches eingeführt. Ihr Mannschaftsstand ergänzt sich, mit Einschluß
des Maschinenpersonals und der Schiffsbauhcmdwcrker, aus der seemännischen
Bevölkerung des gesamten Reiches, welche dafür von Dienste im Heere befreit
bleibt. Der Wehrpflicht genügen diese Männer durch dreijährigen aktiven Dienst
auf der Flotte, trete» dann auf fernere vier Jahre zur Marinereserve und end¬
lich für fünf Jahre zur Seewehr erster Klasse über, sodaß die Gesamtdienstzeit
zwölf Jahre beträgt. Die Seewehr zweiter Klasse soll nur bei ausbrechendem
Kriege zur Ergänzung einberufen werden. Sie umfaßt sämtliche Wehrpflichtigen,
welche nicht zum aktiven Dienste herangezogen sind, bis zu ihrem vollendeten
31. Lebensjahre. Den besondern Lebens- und Erwerbsverhältnissen der Küsten-
bevölkcrung entsprechend finden manche Erleichterungen für den Diensteintritt
der auf See befindlichen Wehrpflichtigen statt, auch ist der einjährig-freiwillige
Dienst gestattet. Das Jahreskontingent an Rekruten beträgt 2600 Mann;
außerdem wird aus konfirmirten Knaben, welche sich freiwillig zu einer zwölf¬
jährigen Dienstzeit verpflichten, eine Schiffsjungenabtcilung gebildet, um Unter¬
offiziere und sonstiges Aufsichtspersonal zu gewinnen. Nach dem Etat von
1882/83 umfaßte die Marine an Deckoffizieren, einer eigentümlichen Mittelstufe
zwischen Offizier und Unteroffizier, Unteroffizieren und Mannschaften, mit Ein¬
schluß von 100 Kadetten, 9361 Köpfe an seemännischen, Maschinen- und Hand¬
werkerpersonal und in der Schiffsjungenabteilung 411 Mann. Daneben besteht
ein Secbataillon von 1047 Mann, dessen Leute die vollständige Ausbildung
des Jnfanteristen erhalten. Sie werden nur auf ganz großen Schiffen, zu deren
Besatzung Seesoldaten gehören, eingeschifft.
Das Offizierkorps der Marine ergänzt sich aus eintretenden Kadetten oder
aus Matrosen, welche unter besondern Verhältnissen zur Beförderung zugelassen
werden. Die große Selbständigkeit und die weit reichende Verantwortlichkeit
des Marineoffiziers schon in den niedern Graden erfordert dessen besonders
sorgfältige Vorbildung in wissenschaftlicher Hinsicht wie in Bezug auf die
praktische» Dienstverrichtungen. Die deutschen Seekadetten rücken deshalb erst
nach zweimaligem Besuche der Marineschule in Kiel und nach Ablegung von vier
wissenschaftlichen Prüfungen sowie nach dreijähriger praktischer Seedienstzeit,
während welcher sie ihre Kenntnisse und ihre Erfahrung auf einer größern
Reise mit dem Schulschiffe in außereuropäische Gewässer bereichern, zum Offizier
auf. Der weitern sachlichen Fortbildung von Seeoffizieren dient die Marine¬
akademie in Kiel in ähnlicher Weise, wie die Kriegsakademie strebsame Offiziere
der Armee in militärwisscnschaftlicher Hinsicht fördert. Gleichfalls nach dem
Etat von 1882/83 zählte die Flotte 463 Seeoffiziere, 69 Ärzte, 41 Maschinen-
Ingenieure und 42 Zahlmeister. Unter erstern befanden sich 1 Vizeadmiral,
4 Kontreadmirale, 27 Kapitäne zur See, 53 Korvettenkapitäne, 95 Kapitän¬
leutnants, 155 Leutnants zur See und 128 Unterleutnants zur See.
Um sich einen Überblick der fortschreitenden Vermehrung und Ergänzung
des schwimmenden Materials zu verschaffen, muß man sich die verschiedenen
Gesichtspunkte vergegenwärtigen, welche bei dem Bau jedes einzelnen Schiffes
oder Fahrzeuges maßgebend sind.
Zunächst bedarf jede Flotte einer Anzahl Schlachtschiffe, welche bestimmt
sind, den Feind auf hoher See aufzusuchen und anzugreifen. Sie sind nach
jetzigen Anschauungen sämtlich gepanzert, besitzen genügende Seetüchtigkeit, um
auf längere Zeit den Hafen verlassen zu können, sollen aus demselben Grunde
Raum genug bieten zu Vorräten aller Art, namentlich auch an Kohlen, und
führen eine volle Takelung, um der Kohlenersparniß wegen und im Falle der
Not die Segel aufhissen zu können. Für den Gebrauch im Kriege verlangt
indeß die Panzerflotte bei dem bedeutenden Kohlenverbrauch nach Art des
Trains bei der Landarmee eine begleitende Transportflotte, deren Schiffszahl
etwa der Stärke des Panzergeschwaders entsprechen muß. Die deutsche Flotte
besitzt solcher gepanzerten Schlachtschiffe zwölf, zu denen demnächst noch ein im
Bau befindliches hinzutreten wird. Für die Zwecke dieser Darstellung ist es dabei
gleichgiltig, welche von diesen Schiffen als Vreitseitenschiffe ihre Geschütze unter
Deck in den Breitseitenbatterien führen, bei welchen die geringere Zahl der dafür
desto schwereren Geschütze ihren Platz innerhalb eines stark gepanzerten Reduits
Platz findet, die sogenannten Kasemattschiffe, oder welche als Thurmschiffe die
Kanonen in zwei drehbaren Thürmen bergen. Ebenso liegt die Beschreibung der
verschiedenen Arten schwerer Geschütze, wie sie unter veränderten Verhältnissen
zur Anwendung kommen, außerhalb des Rahmens dieser Skizze. Dagegen darf
nicht unerwähnt bleiben, daß die unter die Schlachtschiffe zählenden Panzerkorvetten
Sachsen, Baiern, Württemberg und Baden als sogenannte Ausfallskorvetten
lediglich in den heimischen Gewässern, namentlich in der Ostsee, Verwendung
finden sollen, deshalb im Gegensatze zu den für den Typus der Schlachtschiffe
allgemein giltigen Regeln nur genügen Tiefgang haben, aber sehr starke Panzerung
führen und mit Ausnahme eines Signalmastes vollständig ohne Takelage sind.
Neben den Panzern führt jede Flotte noch eine Anzahl ungepanzerter Schiffe
welche im Kriege zum Kundschafter- und Vorpostendienste, zu Friedenszeiten im
gewöhnlichen auswärtigen Dienste Verwendung finden. Die Zahl solcher Kreuzer
beläuft sich in vier, als gedeckte Korvetten, Glattdeckskorvetten, Kanonenboote
der Albatroßklafse und Kanonenboote erster Klasse bezeichneten Uiüerabteilungen,
auf 27, wird sich aber nach Vollendung von vier noch im Bau befindlichen auf
31 erhöhen.
Dem speziellen Zwecke der Küstenverteidigung dienen Fahrzeuge, die nur
geringen Tiefgang beanspruchen und den Hafen anch nicht auf längere Zeit
verlassen. Ihre Seetüchtigkeit kommt deshalb erst in zweiter Linie in Frage,
und die durch den Wegfall voller Takelung und die Beschränkung der anzu¬
führenden Vorräte erzielte Gewichtsersparnis wird bei ihnen zur Verstärkung
des Panzers benutzt. In diese Kategorie fallen deshalb nicht die größten Schiffe,
aber die schwersten Panzerungen. Deutschland hat außer dem Panzerfahrzeug
Arminius in dieser Klasse über 11 Panzerkanonenboote, 1 weiteres im Bau,
1 Kanonenboot zweiter Klasse und die 15 Torpedoboote, welche sämtlich vor¬
zugsweise zur Verteidigung der Eid-, Weser- und Jahdemünduugen bestimmt sind.
Für den Nachrichten- und Rekognoszirungsdienst besitzt die Marine 8 Avisos,
darunter die kaiserliche Jacht Hohenzollern, ferner zwei Transportfahrzeuge,
12 Schulschiffe der verschiedensten Art, 11 Schleppdampfer zum Hafendienst und
eine Anzahl von Lotsenfahrzeugen und Feuerschiffen. Im ganzen verfügt die
Admiralität einschließlich der im Bau befindlichen über 116 verschiedne Schiffe
und Fahrzeuge mit 590 Geschützen. Die fertigen Schiffe führen 528 Geschütze.
Unter der Admiralität gliedert sich die Marine in die beiden Stationen
der Ostsee und der Nordsee, an deren Spitze je ein Admiral als Stationschef
mit dem Sitze in Kiel und Wilhelmshaven gestellt ist. Sämtliche Schiffe und
auch die Mannschaften sind auf diese beiden Stationen verteilt. Letztere werden
auf jeder zu einer Matrosen- und einer Werftdivision vereinigt, welche die Aus¬
bildung des seemännischen und andrerseits des Maschinen- und Handwerker¬
personals leiten und dasselbe uach Bedarf auf die Schiffe stellen. Die Schiffe
stehen uuter den Befehlen des Stationschefs, solange sie sich im Hasen oder den
heimischen Gewässern befinden. Verlassen sie diese zu längerer Reise, so er¬
halten sie ihre Befehle direkt von der Admiralität. In gleicher Weise führen
die Stationschefs als Inspizienten die obere Aufsicht über den sonst unter den
direkten Befehl andrer hohen Offiziere gestellten vielgegliederten Betrieb der drei
Werften.
Eine gedeihliche Fortentwicklung der kriegerischen Macht zur See ist nicht
möglich ohne gegen Wind und Wetter und gegen feindliche Angriffe geschützte
Kriegshafen, wo der Neubau und die Ausbesserung feeuntüchtig gewor¬
dener Schiffe ungestört vor sich gehen kann, wo Material aller Art gefahrlos
aufgestapelt liegt, wo die Artilleriedepots die Munition fertigen und die Torpedo¬
depots ihre verderbenbringenden Geschosse aufbewahren. Die deutsche Marine
besitzt zwei solche „warme Nester," wie Feldmarschall Moltke sie gelegentlich in
einer Tischrede genannt hat. Unter ihnen bildet die seit 1864 als Kriegshafen
dem Gebrauch überwiesen Kieler Föhrde eiuen vortreffliche», natürlichen, ge¬
räumigen und sichern Ankerplatz; er bietet den dort befindlichen maritimen
Etablissements und den Schiffen, welche sich in diese Deckung zurückziehen, umso
sicherern Schutz, als die zu beiden Seiten der schmalen Einfahrt bei Friedrichs¬
ort gelegenen Verteidigungswerke in Verbindung mit der vorhandenen Wasser¬
sperre den Hafen von der Seeseite fast uneinnehmbar machen und ebenso einem
etwa in der Bucht vou Eckernförde gekanteten Feinde den Zugang nach der
Stadt verlegen. Bassins, Trockendocks und alle Bedingungen zur Ausrüstung
einer Flotte sind vorhanden, und neuerdings scheint sogar der Plan seiner Aus¬
führung entgegenzureifen, nach welchem Kiel mit einem Gürtel detachirter Forts
umzogen werden und damit zu einer gewaltigen Festung im Sinne der heutigen
Kriegskunst, zu einem befestigten Wasserplatze umgeschaffen werden soll, hinter
dessen schützenden Wällen eine große Armee Platz und Unterhalt finden kann.
In der Nordsee bildet Wilhelmshaven den seit dem Herbste 1870 benutzten
zweiten Zufluchtsort der deutschen Flotte. Auch dies ist jetzt ein Kriegshafen
erster Klasse, im Gegensatze zu Kiel aber hatte man bei seiner Anlage mit den
größten elementaren Schwierigkeiten zu kämpfen, da nicht allein das ganze Ge¬
biet uuter der Hochwasserlinie liegt, sondern auch der eigentliche Ankerplatz künst¬
lich hergestellt und gesichert werden mußte. Der energischen Förderung der
notwendigen Arbeiten ist es indeß gelungen, sämtliche Befestigungsarbeiten zu
vollenden. Es bleibt nur noch ein zweites Dock und eine zweite Hafeneinfahrt
zu schaffen, damit bei etwaiger Beschädigung der ersten und bisher einzigen
Schleuse keine Verkehrsstockung eintritt.
Die Anlage von Wilhelmshaven war eine Notwendigkeit, um auch diesem
Teile der deutschen Küste direkten Schutz zu gewähren. Zu kriegerischer Wechsel¬
wirkung aber der in der Ostsee und der Nordsee stationirten Schiffe, wie um
Kriegsdampfer und Kauffahrer unabhängig von den Unbilden der Witterung
in den engen skandinavischen Gewässern und dem guten Willen der nordischen
Mächte zu machen, erweist sich die endliche Verwirklichung des seit langem
bestehenden Planes eines Kanals zur direkten Verbindung von Nordsee und
Ostsee, dessen Mündung dann wohl von den Kanonen Kiels beherrscht werden
würde, als eine immer fühlbarer werdende Notwendigkeit, umsomehr, als dadurch
auch der Handelsweg zu und von den deutschen Ostseehäfen um ein bedeutendes
gekürzt werdeu würde.
Unähnlich der Armee, deren Friedensthätigkeit sich im großen und ganzen
vorzugsweise als eine stete Schulung für den Ernst des Krieges darstellt, hat
die Marine schon während des Friedens eine Anzahl an sie herantretender Auf¬
gaben und Pflichten zu erfüllen. Dahin gehört die Sicherung des Seehandels
und der Schifffahrt gegen Seeraub und jede ungerechte Vergewaltigung, die Ver¬
tretung der vaterländischen Interessen und der Schutz deutscher Unterthanen im
Auslande, die Anknüpfung neuer Handelsverbindungen und politischer Beziehungen
mit den jetzt noch wenig erschlossenen Ländern, wissenschaftliche Beobachtungen
und Expeditionen, Vermessungen ans den Meeren und an den Küsten, Anfertigung
von Seekarten wie die Repräsentation der Macht und des Ansehens des Staates
in allen Erdteilen. Zu solchen und ähnlichen Zwecken, neben deren Erreichung
natürlich die notwendigen Übungen nicht vernachlässigt werden dürfen, ist denn
auch fortwährend ein starker Bruchteil der deutschen Schiffe in Dienst gestellt.
Zur Wahrnehmung deutscher Interessen befinden sich beständig auf der ost¬
asiatischen Station unter dem Befehle eines Geschwaderchefs eine Korvette und
zwei Kanonenboote, in den australischen Gewässern eine Korvette und ein Ka¬
nonenboot, ans der ostamerikanischen Station eine Korvette und ein Kanonen¬
boot, ini Westen desselben Erdteils eine Korvette. Im Mittelmeere hatte am
1. Oktober der Kommodore Freiherr von der Goltz die Korvetten Gneisenau
und Nymphe und die Avisos Zieten und Loreley unter seinen Befehlen ver¬
einigt. Für gewöhnlich versieht dort nur ein Schiff regelmäßig den Dienst, aus
Anlaß der ägyptischen Verwicklungen aber war eine größere Machtentfaltung
auf diesem Meere befohlen worden, und es befand sich mit dieser Vermehrung
der in Dienst gestellten Schiffe fast die Hälfte der deutschen Kriegsschiffe auf
See, ohne daß es nötig geworden wäre, auch nur einen Mann der Reserve
einzuberufen. Diese Thatsache legt beredtes Zeugniß ab von dem planmäßig
durchdachten Organismus der deutschen Flotte; andrerseits verdient es Bewun¬
derung, wie schnell die betreffenden Schiffe nach den bestehenden Mobilisirungs-
vorschriften in Dienst gestellt werden konnten.
Alljährlich im Herbste treten eine Korvette mit Kadetten eine zweijährige,
eine andre mit ältern Schiffsjungen eine einjährige Reise an, während welcher
das Kadettenschiff regelmäßig die ostasiatische und polynesische, die Schiffsjungen¬
korvette die westindische Station anläuft. Das Artillerieschiff Mars bleibt mit
kurzen Unterbrechungen fortwährend auf der Jahde in Dienst, zwei bis drei
Kanonenboote benutzen die günstige Jahreszeit zu Seemessungen an den deutschen
Küsten und dienen gleichzeitig zum Schutze der Nordseefischerei und zu Trans-
pvrtzwecken. Zur Erprobung der Schiffe endlich wie zur Ausbildung von
Offizieren und Mannschaften sticht jeden Sommer ein Übungsgeschwader von
vier Panzern und einem Aviso in See. Die Übungen haben vor einigen Jahren
im Mittelmeere stattgefunden. In letzter Zeit sind dieselben wohl aus see¬
männischen Gründen wieder in die heimischen Gewässer verlegt worden. So
kommen die mannigfachen, nicht unbedeutenden Bedürfnisse dieser Flottille der
heimischen Industrie zugute, und die deutschen Seeoffiziere lernen jedes Riff,
jede Untiefe und sonstige Eigentümlichkeit des schwierigen Fahrwassers bis in
das geringste Detail kennen und zu kriegerischen Zwecken verwerten.
Wie der deutsche Patriot mit freudigem Stolze auf die junge dreifarbige
Flagge blickt, welche in der obern Ecke das Zeichen des eisernen Kreuzes trägt,
so ist diese auch auf allen Meeren gekannt und geachtet. Glücklicherweise liegen
die Zeiten hinter uns, wo ein englischer Minister ungestraft erklären durfte, er
kenne keine deutsche Flagge und werde Schiffe, die unter einer solchen auf offener
See sich zeigen sollten, als Piraten aufbringen lassen. Vielmehr hat die kaiser¬
liche Marine sich bereits einen ehrenvollen Platz unter den Flotten aller Nationen
erworben, und kriegerische Komplikationen würden nur dazu beitragen, ihre
Tüchtigkeit zu erproben und ihre achtunggebietende Stellung noch mehr zu
festigen.
In Preußen ist man von Alters her gewohnt gewesen, daß fast sämtliche
königlichen Prinzen in ernster Hingebung dem Waffenhandwerk sich widmeten.
Dem Beispiele seines verewigten Großoheims folgend, hat jetzt auch Prinz
Heinrich von Preußen den Dienst auf der Flotte sich zur Lebensaufgabe ge-
Wählt und stählt in ernster Schulung seine Kräfte zu späterer Wirksamkeit, und
wie unter den ersten deutschen Kriegshelden die Feldmarschälle Kronprinz
Friedrich Wilhelm und Prinz Friedrich Karl für alle Zeiten einen hervor¬
ragenden Platz einnehmen werden, so wird ein etwaiger künftiger Krieg hoffent¬
lich auch einen Sprößling aus dem Heldengeschlechte der Hohenzollern unter
den glücklichen und siegreichen Führern zur See zu verzeichnen haben.
n Nummer 2 des laufenden Jahrgangs der „Grenzboten" ist das
Projekt einer „Kohlensteuer," richtiger einer Kohlenverbrauchs¬
steuer, erörtert worden.
So sehr ich nun mit dem Verfasser jenes Artikels dahin überein¬
stimme, daß das deutsche Reich in Zukunft mehr als bisher auf
sich selbst gestellt werden müsse, so dürfte dies doch schwerlich durch die vor¬
geschlagene Kohlenverbrauchssteuer erreicht werden, die uns entweder der Polizei¬
herrschaft entgegentreiben oder aber, auf breitester Grundlage gedacht, beträcht¬
lich den Idealen der Sozialdemokratie näher bringen würde. Ich nehme dabei
an, daß der Artikel nicht etwa zur Empfehlung der Receiver-Compound-Dampf-
maschinen geschrieben worden ist.
Der Verfasser geht von dem Gedanken aus, daß die heutige Art und Weise
der VerHeizung unsrer Kohlen eine kolossale Verschwendung einschließe, der ein
Ende gemacht werden müsse, um zu verhüten, daß die heute in der Muttererde
aufgespeicherten Kohlenvorräte vorzeitig aufgezehrt werden, und um dem deut¬
schen Reiche zeitweilig vermehrte Einnahmen durch Besteuerung der Kohlenver¬
schwendung zu schaffen, während diese Einnahmen bei vernünftiger Ausnutzung
der Kohlenheizwerte sich zwar verringern, jedoch zum Vorteil des Nationalver¬
mögens verringern würden. Theoretisch ein prachtvoller Vorschlag! Es ist
nur zu bedauern, daß sich derselbe nie in die Praxis übertragen lassen wird.
Ich bin durchaus mit dem Verfasser darin einverstanden, daß die Kohlen¬
ablagerungen ein höchst wertvolles Nationalvermögen, wahrscheinlich das
größte Nationalvermögen des deutschen Vaterlandes, bilden. Dennoch muß ich
vor allem der Gruseligmachungsmanier, von der auch der Verfasser angekränkelt
erscheint, entgegentreten. Die wirkliche Aufzehrung der Kohlenablagerungen
dürfte für Deutschland erst in heute noch gar nicht absehbarer Zeit eintreten
(haben wir doch in Deutschland Kohlengerechtsame, deren nachgewiesene Kohlen¬
ablagerungen noch einige Jahrtausende ausreichen), abgesehen von denjenigen
Kohlenfeldern, die heute noch nicht gemuthet (aufgefunden) wurden, und von den
ungeahnten Kohlenablagerungen Amerikas, Asiens und Afrikas.
Ist nun bereits durch verbesserte Maschinen, Kessel in den letzten
zwanzig Jahren sehr viel geschehen, um die Heizwirkung der Kohlen möglichst
auszunutzen, so ist es unzweifelhaft, daß die Konsumenten in ihrem eignen Vor¬
teil sich selbst möglichst billig Dampf schaffen und die verbesserten Einrichtungen
zur Erzeugung von Dampf und Wärme sich zu Nutze machen werden, und
zwar auf viel angenehmere und zweckmäßigere Art, als wenn der Staat bei
jedem Dampf- oder Wärmeerzeuger einen Steuerschutzmann postiren wollte.
Die Art und Weise der von dem Einsender des Kohlensteuerprojekts gedachten
Kontrole würde so wenig durchführbar als gerecht sein, sie würde keine un¬
parteiische Kontrole für Steuerzahlung bilden, ganz davon zu schweigen, daß
die Kontrole selbst pekuniär zu dem erhofften Nutzen zu teuer sein und daher
in gar keinem Verhältnis zu ihm stehen würde.
Sind schon die Kohlen der verschiednen Ablagerungen hinsichtlich ihres
Heizwertes sehr verschieden, so sind andrerseits auch die Kohlen ein und der¬
selben Ablagerungsstelle je nach den verschiednen Flötzen nicht gleichwertig, ja
ein und dasselbe Flötz liefert nicht gleichmäßig gute Kohle. Wer soll hier und
ans welche Art und Weise den durchschnittlichen Heizwert der Kohle feststellen?
Derselbe müßte, streng genommen, von jeder Ladung Kohle besonders ermittelt
werden. Wie hat sich der Einsender die Kontrole des Verbrauchs gedacht?
Nehmen wir beispielsweise an, ein Konsument liege mit seiner Kohlenver¬
brauchsstelle entfernt von der Kohlenproduktionsstelle und erhalte durch die
Steuerbehörde vorgeschrieben, wieviel Dampf oder Wärme er ohne Steuer
unter Zugrundelegung des Kostenwertes der Kohle franko Verbrennungsstelle
mit der bis dato konsumirten Kohle verbrauchen dürfe. Wenn nun die ihm
bisher liefernde Grube sich einmal außer stände sieht, weiterzuliefern, oder der
Konsument von einer andern Grube seinen Bedarf beziehen will, oder von zwei
und mehr Gruben, und zwar von der einen Grube bald mehr, bald weniger,
oder wenn der Konsument erleichterten und billigeren Transport durch Sekundär¬
bahnen, Kanäle u s. w. erhält, auf welche Art und Weise sollen diese fast täglich
eintretenden Schwankungen korrekt geprüft und unparteiisch festgestellt werden?
Berücksichtigen wir ferner die lokale Lage der Verbrauchsstellen, widrige
Luftströmungen, atmosphärische Niederschlüge, eintretende Beengung der Ver¬
brauchsstellen durch Bedauem benachbarter Grundstücke, durch Aufforsten an¬
grenzender Flächen u. f. w., woraus sich ohne Schuld und Eingriff des Kon¬
sumenten erhebliche Verschlechterungen im Vrennprozeß seiner Feueranlage ergeben,
wer soll dann eine unparteiische Steuerkontrole darüber üben, ob der Konsument
ein öffentlicher Verschwender von Nationalvermögen sei?
Schon hierdurch dürfte der Beweis geliefert sein, daß die Durchführung
der Idee einer Kohlenverbrauchssteuer unmöglich ist, auch wen» jeder Konsument
seine freie Selbstbestimmung hinsichtlich seines Kohlenkonsums opfern und sich der
vorsorglicher Polizeikontrole unterwerfen wollte.
Wollte jedoch der Verfasser konsequent sein, so müßte er ja seinen Vor¬
schlag zur Besteuerung der Verschwendung verallgemeinern, auf alle Bedarfs¬
artikel der Menschen ausdehnen und jede Verschwendung, sei es in Bekleidung,
Nahrung, Genußartikeln u, s> w., koutroliren und besteuern lassen. Wir würden
bei der Durchführung solcher Ideen schließlich dahin kommen, daß jedem Ein¬
wohner durch Schätzung vorgeschrieben würde, was er von rechtswegen für
Kleidung, Wäsche, Nahrung, Genußmittel, Kunstgenüsse ausgeben dürfe, während
das Mehr dem Staate zu versteuern bliebe. Hiermit wären wir dem sozial¬
demokratischen Ideal gerade nahe genug gekommen, um dem Vorschlage der all¬
gemeinen Teilung des Fundus und der Zuteilung der Bedürfnisse an jeden ein¬
zelnen von Staatswegen zustimmen zu müssen!
Halten wir den Grundsatz fest, daß die Kohlenablagerungen Deutschlands
ein Nationalvermögen des deutschen Volkes bilden und daß jeder Deutsche die
Pflicht hat, der vorzeitigen Aufzehrung dieses seines Nationalvermögens entgegen¬
zutreten, so giebt es andre Mittel und Wege, der Verschleuderung solcher Na¬
tionalwerte den Weg zu verlegen.
Die deutsche Kohlenindustrie, heute die gewaltigste des deutschen Reiches,
muß notgedrungen sehr billig produziren, um der Konkurrenz der zollfrei ein¬
laufenden ausländischen Kohle einigermaßen begegnen zu können. Hierdurch
ist der deutsche Kohlenbergbau gezwungen, mir die mächtigsten Kohlenablagerungen
abzuhauen, die mit Rücksicht auf die gedrückten Kohlenpreise eine billige Pro¬
duktion ermöglichen, während weniger mächtige Kohlcnflötze nicht gebaut werden
können, weil sie eine zu teure Produktiv» ergeben. Diese schwachen, oftmals
zwischen mächtigeren Flötzen liegenden Ablagerungen werden min durch den Abbau
der mächtigen Flötze einfach zu Bruch gebaut und gehen für immer verloren.
Ja ich darf dem Verfasser der Kohlenverbrauchssteuer verraten, daß in sehr
mächtigen Flötzen der Brnunkohlenablagerungen einzelne Gruben, nur um billig
zu produziren, in solchen Flötzen sogenannten Raubbau treiben, um die Kosten des
teureren Etagenabbaues zu sparen, und daß solche Raubbaue bis zu 70 Prozent
der Kohlenlagernngen als sogenannten Abbauverlnst zu registriren haben; mit
andern Worten: von dem betreffenden Kohlenlager werden nur 30 Prozent benutzt,
während 70 Prozent Nationalvermögen verwüstet werden, denn diese 70 Prozent
können auch für spätere Zeit nie wieder erworben, nie wieder nutzbringend ge¬
macht werden.
Was will gegen eine solche, leider vielfach durch ungesunde Verhältnisse
hervorgerufene grandiose Verschleuderung und Verwüstung des Nationalver¬
mögens die Thatsache bedeuten, daß dieser oder jener Kohlenkonsument infolge
schlechter Dampferzeuger, schlechter Maschinen, schlechter Öfen etwas mehr Kohle
verbraucht, als er nach heutigen guten Systemen eigentlich verbrauchen dürfte?
Einer solchen Verwüstung des Nationalvermögens müßte allerdings mit
allen Mitteln entgegengetreten werden, aber nicht durch eine Kohlenkonsumsteuer,
sondern dadurch, daß das deutsche Reich die gesamten Kohlengruben verstaat¬
lichte und dann die Kohlenablagerungen rationell abbaute. Hierdurch würde
einer vorzeitigen Verwüstung der Kohle thatsächlich Halt geboten, das Aus¬
reichen dieses Nationalvermögens für doppelte und dreifache Zeitdauer garantirt
werden, während andrerseits dadurch das deutsche Reich mit einem Schlage auf
eigene, und zwar recht feste Füße gestellt werden würde und dem Reiche große
Einnahmen erwachsen würden, die manche andre Steuer überflüssig machen
dürften. Freilich würde dann, infolge rationellen Abbaues der Kohlenflötze,
auch der weniger mächtigen, der Wert der Kohle ein größerer werden. Hierdurch
würden aber die Konsumenten am ehesten veranlaßt werden, die Kohle sparsam
zu verheizen, während heute bei dem fast wertlosen Produkt „Kohle" so mancher
Konsument verschwenderisch damit umgeht.
Wenn aber der Vorschlag der Verstaatlichung der deutschen Kohlengruben
den beabsichtigten Zweck des Verfassers der Kohlenverbrauchssteuer durchaus er¬
reichen würd», so würde auch schon dann eine wesentlich bessere Verwertung der
deutschen Kohlenablagcrungen eintreten, wenn die Kohlenwerke in die Lage kämen
ihre Flötze sorgsamer abhauen zu können, und nicht notgedrungen darauf ange¬
wiesen wären, uur möglichst billig Kohlen zu Produziren, um der Konkurrenz
der zollfrei einlaufenden Kohle thunlichst begegnen zu können. Würde durch
einen Kohlenzoll der Eintritt der ausländischen Kohle in das deutsche Reich er¬
schwert oder ganz verhindert, so würde schon durch die vermehrte Produktion
der deutschen Kohlengrube» die Lage derselben wesentlich gebessert werden, und
ich glaube, daß hierdurch allein, und ohne daß eine Verteuerung der Kohle sür
die Konsumenten einzutreten brauchte, eine sorgfältigere Ausnutzung der deut¬
schen Kohlenlagerstätten und eine bessere Verwertung dieses großen deutschen
Nationalvermögens eintreten würde.
Auch hierdurch würde das deutsche Reich direkten Vorteil, teils aus den direkt
zu erhebenden Kohlenzöllen, teils durch Vermehrung der Bergwerkssteuern haben,
während überdies vielleicht 50000 Menschen aus Proletariern zu erwerbenden
Bergarbeiter» umgewandelt werden würden. Aus nachfolgenden Zahlen wolle
sich der Leser die dermaligen Zustände vergegenwärtigen: Im Jahre 1880 pro-
duzirte Deutschland mit über 200000 Bergarbeitern
Eingeführt wurden in demselben Jahre:
wofür annäherungsweise 40 000 000 Mark deutsches Geld ins Ausland gingen.
aß keine Literatur der Welt so reich an Übertragungen — guten
und schlechten Übertragungen — sei als die deutsche, ist nach¬
gerade zum Gemeinplatz geworden. Abgesehen von der wissen¬
schaftlichen Literatur und von jener „leichten" Unterhaltungslite-
ratur, die früher viel massenhafter übersetzt und oft genug in
Weber Zettels Sinn übersetzt wurde, und auf deren Abnahme die literarischen
Verträge unverkennbar günstig gewirkt haben, ist Deutschland besonders reich
an gelungenen Versuchen, das Beste und Tiefste fremder Poesie sich zu eigen
zu machen. Emanuel Geibel singt:
Zu Teil ward uns die echoreiche Brust
Vor allen Völkern. Hell, wohin wir schritten,
Klang's in uns nachl Des Griechen Schönhcitslnst,
Des Römers Hochsinn, der Humor des Britten,
Des Spaniers Andachtsglut und Ehrcnblust,
Des Franzmanns Witz und leichtgescill'ge Sitten,
Das Hirtenglück aus fernen Morgenländer,
Wer hat's, wie wir, ergriffen und verstanden?
Um die Namen aller der Völker und Literaturen aufzuführen, deren poetisches
Leben wir seitdem in das unsre geschlossen oder zu schließen versucht haben,
hätte der Dichter noch mehr als eine Ottave der angeführten hinzufügen dürfen.
Freilich ist zwischen diesem Reichtum und dem, was Allgemeingut größerer Kreise
geworden ist, ein gewaltiger Abstand, das allermeiste von dem, was neuerdings
übertragen worden ist, hat nicht einmal die begrenzte Verbreitung gefunden,
welche seinerzeit Gries' Calderon oder Tasso, Böttgers Byron und andre ge¬
funden haben. Die ohnedies zerstreute und lässige Teilnahme selbst der Em¬
pfänglichen hat durch die Vielteilung, die ihr zugemutet wird, eine bedeutende
Minderung erfahren, und der Erfolg der sich mehrenden Übertragungen aus
dem Russischen und Polnischen, serbischen und Böhmischen, Schwedischen und
Norwegischen, aus dem Rumänischen und der Himmel weiß aus welchen Sprachen
sonst noch, ist meist der, daß die Übersetzer der Liebe Müh umsonst aufgewendet
haben, und daß selbst vortreffliche, in mehr als einem Betracht interessante Über¬
tragungen kein Publikum finden. Wir fürchten, daß dies in der literarischen
Überproduktion der letzten Jahrzehnte begründet ist, und daß im ganzen daran
wenig zu ändern sein wird, wenn schon im einzelnen eine Ausnahme wünschens¬
wert wäre.
Zu der großen Zahl poetischer Übertragungen namentlich aus der neueren
und neuesten Literatur hat sich vor kurzem die deutsche Bearbeitung des be¬
rühmtesten erzählenden Gedichts der polnischen Dichtung: Herr Thaddäus
oder der letzte Einritt in Litthauen von Adam Mickiewiez gesellt,
welche Siegfried Lipiner (Leipzig, Breitkopf und Härtel), übrigens nur als
ersten Teil einer beabsichtigten deutschen Übersetzung der sämtlichen Dichtungen
des polnischen Romantikers uns bietet.
Es ist gut, daß das gegenständlichste und frischeste Gedicht vorangeht und
somit Gelegenheit geboten wird, die von einer Literaturgeschichte zur andern
weitergegebenen Lobsprüche einmal mit dem Werke selbst zu vergleichen. Die
polnische Literatur liegt uns mit ihren Grundempfindungen, ihren Tendenzen
und ihren Stoffen fern genug, indessen ein starker menschlicher Gehalt hilft alles
Fremdartige überwinden, und gelegentlich mag auch etwas von dem Interesse,
das man billigerweise an fremden Landschafts- und Sittenbildern nimmt, in
ästhetischen Dingen mitsprechen. Ist dies der Fall, so wird jeder den Eindruck
haben, daß „Herr Thaddäus" mehr als manche andre erzählende Dichtung des
Auslandes verdient, auf deutschem Boden eingebürgert zu werden, daß es aber
eine Thorheit wäre, zu behaupten, unsre Literatur würde ohne Mickiewiez und
seinen „Thaddäus" eine Lücke aufweisen.
„Herr Thaddäus" ist ein Roman in Versen, welcher ein Stück litthauisch-
polnischen Lebens auf dem großen historischen Hintergrunde des Jahres 1812,
des Jahres der berauschenden thöricht-glückseligen patriotischen Hoffnungen der
Polen schildert. Der Höhepunkt des Gedichts liegt in der Darstellung des Ein¬
marsches der Heerhaufen unter dem Weißen Adler in Litthauen. Jener einzige
hoffnungsreiche Lenz , welcher dem trostlosen Winter von 1812 folgte, ist von
Mickiewiez in vortrefflicher Weise zur Abschluß seines Gedichts verwendet worden,
„Herr Thaddäus" endet mit einem glänzenden Verlobungsfeste zwischen dem
Helden und seiner geliebten Soschja und mit einem üppigen, rauschenden Feste
nach altpolnischer Sitte. Aber in der glühenden Abendwolke, die im Westen
steht und langsam ins Grau verschwimmt, deutet der Dichter darauf hin, daß
die Hoffnungen der Tapfern, die in einer Schlußpolonaise schreiten, nicht alle
in Erfüllung gehen sollen, ihnen aber die Enttäuschung der Zukunft verhüllt ist.
Um die eigentümliche Stoffwahl zu verstehen, muß man sich erinnern, daß
Mickiewiez das Gedicht bald nach der gescheiterten polnischen Revolution von
1831 begann und 1834 vollendete. Die Dichtung, welche in lebendigen Zügen
ein Befreiungsfest schildert, an dem der Dieser selbst als Knabe teilgenommen
und dessen sich tausende der Leser erinnern mußten, sollte einfach daran gemahnen,
daß das, was einmal gewesen sei, wiederkehren und jedes polnische Herz sich ein
zweitesmal an einem Tage laben könne, wie dem von Mariä Verkündigung, der über
Soplicowo und den Helden der Dichtung aufgegangen ist. Man fühlt, wie der
Hauch eines großen, Hoffnung und Enttäuschung im Schoße tragenden Erlebnisses
durch die Erfindung des Gedichts hindurchweht. Beinahe nur einmal unter¬
bricht der Dichter seine Erzählung mit einer lyrischen Aufwallung, aber sie gilt
jener Erinnerung und schließt jenen Grundgedanken in sich, der die Geschichte
vom „Herrn Thaddäus" geistig belebt:
O Frühling! wer dich bei uns gesehn in jener Zeit!
Denkwürdiger Frühling des Krieges, Frühling der Fruchtbarkeit!
O Frühling, wer dich gesehen voll üppiger Blüten hangend,
Voll Garben und Grün und hell von Menschcnscharen prangend,
Reich an Begebenheiten, voll Hoffnungen im Schoß!
Du stehst vor mir noch heut, du Traumbild, schön und groß!
In Knechtschaft geboren, als Säugling schon in Ketten gebannt,
Hab ich im Leben nur einen solchen Frühling gekannt!
Aber so bestimmt die patriotisch-polnische Tendenz des Gedichts und so un¬
zweifelhaft dasselbe zur Ermutigung eines niedergebeugten, in sich zerbröckelnder
Volkes bestimmt war, kann man es doch nicht rhetorisch und unwirklich schelten.
Es würde ein volles Stück Leben auch für denjenigen bleiben, der von dem
geheimsten Lebensnerv der Dichtung nichts wüßte und von ihrer Tendenz gar¬
nicht berührt würde.
Die Erzählung selbst ist in ihrem Verlauf nicht allzu einfach, aber über¬
sichtlich und in ihrem Episodenreichtum und mit aller häufigen Anwendung der
epischen Rückschau doch immer anziehend. Offenbar dienen ganze Reihen der
kleinen Begebenheiten vor allem der Schilderung der altlitthauischen und alt¬
polnischen Sitten, auf welcher der Hauptreiz des Gedichts beruht. Die
Schilderungsgabe des Dichters ist außerordentlich, die Heimatliebe vergoldet
mit ihrem sonnigsten Strahl die Genrebilder, welche sich am Faden der Schick¬
sale des jungen Pein Thaddäus aneinanderreihen. Herr Thaddäus kehrt im
Beginn des Gedichts (im Sommer 1811) von der Hochschule in die ländliche
Heimat zurück, wo ihn der Onkel, der würdige Richter, zu verheiraten denkt.
Obschon ein wohlgearteter und bis hierher wohlbehüteter Jüngling, fängt
Thaddäus als echter Edelmann von polnischem Blute doch leicht Feuer und
verliebt sich im Handumdrehen in eine ältere, welterfahrene, aber noch schöne Dame,
Frau Telimene, die im Jagen besser als junge Jäger Bescheid weiß. Mitten
in den harmlosen Schmauß- und Jagdszenen, in den kleinen Abenteuern landes¬
üblicher Galanterie tauchen neue Gestalten empor, welche auf den ernsten Hinter¬
grund des ländlichen Bildes hindeuten, der Mönch Robak, ein kriegerisch drein¬
schauender Bernhardiner, welcher den politischen Agenten kaum verleugnet und
Votschaften aus dem Herzogtum Warschau empfängt. Dies kann umso besser
geschehen, als der Vertreter der russischen Zwingherrschaft in dem geschilderten
Kreise der brave Hauptmann Rykow ist, der es ganz begreiflich findet, daß die
Polen an ihr Vaterland denken, aber, bis es zum Raufen kommt, sich in
polnischer Gesellschaft vorzugsweise gefällt. „Jetzt nicht raufen, jetzt ist ja
Waffenstillstand, drum brüderlich essen, saufen," Dies Idyll droht aber teils
an den Intriguen, welche Frau Telimene spinnt, um den jungen, frischen
Thaddäus an sich zu fesseln, teils durch die altbeliebte heißblutige polnische
Zanksucht, die diesmal um den Besitz des alten Schlosses der ausgestorbenen
Wojewodenfamilie der Horeszko entbrennt, teils durch das Hereinspielcn
der weltgeschichtlichen Ereignisse rasch genug zu enden. In den ländlichen
Kreisen Litthauens werfen die kommenden Dinge ihren Schatten voraus, mit
der Kunde vom wahrscheinlichen Kriege des großen Siegers Napoleon gegen
den Zaren erwacht in den polnischen Edelhöfen unter der ganzen Schlacht«
und ihrem Anhang der streitfrohe Zorn wider Moskau. Aber der große Komet
von 1811, der auch über Soplicowo steht, bedeutet zunächst dem friedlichen
litthauischen Landsitz und Dorf Unheil, eine lokale Fehde gegen die Sopliea,
denen man den Besitz des Herrenschlosses der Horeszko nicht gönnt, soll mit der
aus der herrliche» altpolnischen Wirtschaft stammenden Sitte eines Einritts,
der gewaltsamen Besitzergreifung eines streitigen Eigentums, beendet werden. Man
überfällt die Soplica glücklich, aber da der Gewalthaufe, der sich mit dem
Grasen Dobrzynsli im Schlosse einnistet, viele der Patrioten in sich faßt, die
den Russen schon längere Zeit verdächtig sind, da das siegreiche Lager, in welchem
tapfer gegessen und noch tapferer getrunken worden ist, alle Vorsichtsmaßregeln
versäumt hat, so werden die Sieger vom vorhergehenden Abend am andern
Morgen von russischen Truppen überfallen und gefangen genommen. Vergeblich
protestirt der wackre Richter Soplica für die Einbrecher und erklärt, daß hier
nur „Nachbarhändel, wie sie sich häufig begeben," vorgefallen seien. Major
Plut, „ein Schuft vom Wirbel bis zur Sohle, wie immer ein beim Zaren ver-
moskowiteter Pole," gedenkt den bösen Handel möglichst auszunutzen und
für jeden der Gefangenen tausend Rubel Lösegeld zu erpressen. Da Litthauen
bereits unter dem Kriegsrecht des „gelben Buches" steht, so könnte der Handel
für die Helden dieses Einritts übel genug enden, wenn sich nicht das Gefühl
der Landsmannschaft in den noch freien Polen regte, welche eigentlich den
Soplicas zu Hilfe geeilt sind und diesen über Wunsch und Gebühr von den
Russen geholfen finden. Denn so zänkisch, so erpicht auf Händel und Rauferei
die polnische Schlachta ist, rachsüchtig ist sie nicht, und die Landsleute kann man
unmöglich in den Händen der Russen lassen. Wie die Moskowiter nach oliven
Gelag von den polnischen Damen einen Tanz begehren und Major Plut auf
seine Manier brutal galant wird, kommt das polnische Blut in Wallung, der
junge Thaddäus eröffnet den Kampf, indem er den Moskowiter ohrfeigt, und
der Bernhardiner Robak zieht aus dem Kuttenärmel ein Terzerol, um Thaddäus
zu bewaffnen. Die Schüsse krachen, die Messer blitzen, die gefangnen Polen
werden befreit und kämpfen, mit ihren Landsleuten verbunden, gegen die rus¬
sischen Jäger, im malerischen Handgemenge schlägt Stahl an Stahl, die Russen
können nicht mehr feuern, um nicht die Ihrigen zu treffen, Hauptmann
Rykow, der tapfer kämpft, wird mit seinen Jägern gefangen. Aber die Sieger
in diesem Kampfe stehen nicht wenig betroffen, als sie zur Besinnung kommen,
sie müssen versuchen, sich mit den Besiegten zu einigen. Denn noch sind die
Franzosen und die polnischen Krieger des Herzogtums Warschau weit entfernt,
der vorzeitige Aufruhr kann alle seine Teilnehmer verderben. Es ist eine der
Prachtszenen des farbenreichen Gedichts, wie der Richter, der Bernhardiner,
Herr Thaddüus und alle polnischen Führer mit dem braven Rykow verhandeln,
wie es zu Tage kommt, daß der alte Gervasius den Major Plut inzwischen
mit seinem „Federmesser" stumm gemacht hat und der Mönch ihn absolvirt, weil
die That pro xuolioa saints geschehen sei. Die sämtlichen Helden des vorzeitigen
Kampfes und Sieges müssen über den Riemen entfliehen und einstweilen im
Herzogtum Warschau Zuflucht suchen, man hofft, ja man weiß, daß sie im
kommenden Lenz unter den polnischen Fahnen wiederkehren werden. In dieser
Zuversicht verspricht sich Thaddäus, dessen Liebe sich inzwischen von der reifern
Schönheit Telimenes zur Jugendblüte der kleinen Soschja gewendet hat, mit
diesem lieblichen Mädchen. Der elfte und zwölfte Gesang erzählen dann, wie
oben erwähnt, den Einmarsch der polnischen Armee unter Dombrowski, das Fest,
das der Rückkehr aller Tapfern gefeiert wird, und die glänzende Verlobungs¬
feier, bei der die letzte altpolnische Mahlzeit aufgetragen wird und Herr Thad¬
däus die Güter übernimmt.
Farbenreich und charakteristisch ist die Dichtung des polnischen Poeten gewiß.
Ja man mochte sagen, daß ein gewisses Schwelgen im Kolorit, eine übermäßige
Freude an den kleinen charakteristischen Zügen, an der Einbeziehung aller er¬
denklichen Einzelheiten polnischen und altlitthauischen Lebens sich darin geltend
mache. Einen Deutschen muß es wundersam berühren, daß die Unarten der
Handlungslosen beschreibenden Dichtung, welche in unsrer eignen Literatur seit
Lessings „Laokoon" wenigstens in den Hintergrund gedrängt worden sind, sich
bei einem fremden Dichter hohen Ranges, wie es Mickiewicz unzweifelhaft ist,
so unbefangen geltend machen. Gewisse Stellen in dem Gedichte gemahnen
geradezu an jene Hallerschen Blumenmalereien und Stillleben, an denen Lessing
seinerzeit die Unmöglichkeit für den Dichter nachgewiesen hat, mit dem bildenden
Künstler zu wetteifern:
In Reihen aufgestellt
Beschatten die Fruchtbäume die Beete im weißen Feld.
Sieh, wie der Kohl da sitzt, den würdgcn Kahlkopf senkt
Und des Gemüses irdisch Schicksal überdenkt;
Die schlanke Bohne dort betrachtet der Rübe Köpfchen
Mit tausend Augen und flicht die Schoten ihr ins Zöpfchen;
Hier hebt der türkische Weizen den goldnen Busch empor,
Stellenweis streckt den Bauch ein dicker Kürbis vor,
Der sich von seinem Stengel gekollert hat ins Weite,
Ein Gast der roten Rüben ganz auf der andern Seite.
Oder gar die zur Trivialität herabsinkende Beschreibung der verschiednen
Schwämme, welche der Erzählung vom Pilzesuchen der ganzen in Soplicowo
vereinigten Gesellschaft einverleibt ist:
Als Auswurf wird verachtet ein andres Pilzengeschlccht,
Teils ist es nämlich schädlich, teils auch schmeckts nicht recht,
Doch ists nicht ohne Nutzrn; es füttert manches Tier
Und ist ein Nest der Insekten und der Haine Zier,
Der Wiesen grünes Tischtuch, weithin ausgespannt,
Bedeckt's wie Reihen Gesäße; hier mit rundem Rand
Die Blätterschwiimmc silbern, gelb und rot, wie kleine
Pokiilchcn, angefüllt mit mannichfachen Weine;
Der Löchcrschwcnnm, ein Bcchcrlein, aber umgedreht,
Die Bodenwölbung nach oben; dort, schlank erhoben, steht
Der Trichtcrpilz, vergleichbar einem Champagncrpokale;
Und wie eine milchgesüllte runde Meißnerschale
Sitzt hier der Moosschwamm, breit und platt und weiß; dort fällt
Der Bofist auf: die Kugel, die schwärzlichen Staub enthält
Gleich einer Pfefferbüchse; wie andre sind genannt,
Ist nur in der Sprache der Hasen oder Wölfe bekannt.
Hier fühlt man sich mit einem Schlage zum seligen Hamburger Ratsherrn
Barthold Heinrich Brockes und seinem „Irdischen Vergnügen in Gott" zurück¬
versetzt. Gleichwohl entbehrt diese wunderliche Erscheinung eines tiefern Grundes
nicht. In der französischen wie in jeder andern Dichtung, welche bis in unser
Jahrhundert unter der Herrschaft des akademischen Klassizismus und der Boi-
leauschen Regelmäßigkeit gestanden hatte, brach schließlich die Freude an der
stimmunggebenden poetischen Farbe, am Reize der langverschmähten Äußerlichkeit
mit einer gewissen Gewaltsamkeit hervor. Der richtige Satz, daß die Innerlichkeit
in der Poesie wichtiger sei als die sichtbare Welt, daß es sich in erster Linie
um die Darstellung von Handlung und Leidenschaft, um Geist und Empfindung
handle, hatte in seiner letzten Konsequenz zu einer uncharakteristischen Rhetorik
geführt, man hatte sich des „Zufälligen" so sehr entschlagen, daß man darüber
aus dem Konkreter in die völlige Abstraktion geraten war, und daß nicht bloß
der Hintergrund zu den dargestellten Handlungen konventionell erschien, sondern
auch die Menschendarstellung der Wärme, des Reizes der Unmittelbarkeit ent¬
behrte, welche mit jener Art der Charakteristik verbunden sind, die die Menschen
von ihren Zuständen nicht löst. Überall daher, wo die „Romantik" den französischen
Akademismus zu verdrängen und abzulösen hatte, macht sich ein starker Über¬
schuß an Schilderung der Äußerlichkeiten geltend, eine Häufung in der Wieder¬
gabe des Zuständlichen, die nicht immer gleich glücklich sein kann. Gerechterweise
muß man anerkennen, daß sie im „Herrn Thaddäus" großenteils glücklich ist.
Die Handlung wird durch die Äußerlichkeiten eben nur gelegentlich aufgehalten,
gewinnt aber in den Hauptmomenten durch sie einen besondern Reiz, dem sich
auch der deutsche Leser nicht entziehen kann.
Das Verhältnis der Übertragung Lipiners zum polnischen Original ver¬
mögen wir nicht zu beurteilen. Jedenfalls zeugt sie von poetischer Kunst und
energischer Sprachbeherrschung. Der Übersetzer versichert, daß er sich bemüht
habe, allen Nuancen des Originals nachzugehen und sich nur in ganz gering¬
fügigen Einzelheiten Abweichungen erlaubt habe. Das Prosodische Prinzip des
Originals ist das der Silbcnzählung. In der Übertragung sind die Hebungen
gezählt und schon um der Eintönigkeit des regelmäßigen Alexandriners zu ent¬
rinnen bald durch eine, bald durch zwei Senkungen getrennt.
or kurzer Zeit machte ein Wort des Fürsten Bismarck die Runde
durch die Tagesblätter, nach welchem derselbe seiner Befriedigung
darüber Ausdruck gegeben hätte, daß er jetzt konfliktsfreie Luft
atmen könne. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.
Die Debatten des Reichstages über den Etat der Heeresverwal¬
tung haben ganz unerwarteterweise in den letzten Tagen einen tiefen innern
Zwiespalt zwischen Parlament und Regierung zu Tage gefördert. Vorläufig
ist zwar der nächste Stein des Anstoßes aus dem Wege geräumt, indem die
Novelle zum Militärpensionsgesetze an die Kommission zurückverwiese» worden
ist, doch bleibt es mehr als fraglich, ob damit der Weg gefunden ist, um die
weitgehenden Meinungsverschiedenheiten in allen oder doch den wesentlichsten
Punkten auszugleichen.
Erstaunt fragt der Vaterlandsfreund, welcher den Vorgängen hinter den
Kulissen des parlamentarischen Lebens fernsteht, nach der Ursache, welche diesen
Blitzschlag aus sonnenhellen Himmel hervorgelockt hat, und findet keine andre
Erklärung, als daß Herr Richter aus irgend welchem Fraktionsinteresse einen
kleinen Konflikt heraufzubeschwören für gut befunden hat. Daher die steten
Nörgeleien mit täglich mehr feindlich zugespitzter Tendenz, durch welche sogar
der Kriegsminister, welcher doch in mehr als zehnjähriger Übung die nötige
Erfahrung und einen gewissen Gleichmut erlangt hat, sich zu einer scharfen Er¬
wiederung hat hinreißen lassen, um dann, wie es scheint, den Kaiser um seine
Entlassung zu bitten. Mit Recht konnte indeß ein konservatives Blatt darauf
hinweisen, daß es in Preußen und Deutschland nicht Sitte sei, den Kampfplatz
während des Kampfes zu verlassen, und so wird der Kriegsminister vorläufig
wohl noch auf seinem Posten ausharren. Fast die gesamte Presse widmet aus
diesem Anlaß dem hochverdienten General mehr oder weniger warme Worte der
Anerkennung, die bestimmt sind, ihn zu weiteren Bleiben zu bestimmen. Von
besonderm Interesse erscheint es dabei, wie von verschiednen liberalen Zeitungen
die Verdienste des Kriegsministers neben der landesüblichen Redensart vom
„tapfern Haudegen" und dergleichen in seiner Redegewandtheit und in dem kon¬
zilianten Wesen gegen die Volksvertretung gefunden werden, mit dem er jedem
Konflikt aus dem Wege gegangen sei. Kein Wort davon, daß der Kriegs¬
minister ein vortrefflicher Organisator, ein hervorragender Verwaltungsbeamter,
eine militärische Kapazität ist. Wahrlich, es ist weit mit dem deutschen öffent¬
lichen Leben bergab gegangen, wenn die Brauchbarkeit eines preußischen Kriegs¬
ministers ganz offen darnach beurteilt wird, ob er nachgiebig genug gegen parla¬
mentarische Anmaßung und Nörgelei sei. Nach solcher Erfahrung wird General
von Kamele gewiß selbst mit manchem seiner warmen Anhänger sich die Frage
vorlegen, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er schon früher manchmal we¬
niger „konstitutionell konziliant" aufgetreten, sondern, seiner innern Natur fol¬
gend, mehr „militärisch schneidig" dreingefahren wäre.
Wir Wollen hier davon absehen, in eine weitere Auseinandersetzung darüber
einzutreten, ob es nötig oder auch nur nützlich und angemessen war, mit der
Debatte über die Novelle zum Militärpensionsgesetz die Forderung wegen
Heranziehung der aktiven Offiziere zu der Kommunalbesteuerung derartig zu
vermengen, daß es den Anschein gewinnt, als sollte eins von dem andern ab¬
hängig gemacht werden. Wir weisen in Bezug auf diese Materie nur darauf
hin, daß man den zahlreichen Mitgliedern eines verbreiteten Berufsstandes eine
teilweise nicht unerhebliche finanzielle Last aufbürdet, wenn man sie ohne weiteres
jetzt zu deu Kommnnalabgaben heranzieht, und daß es in diesem Falle doch nur
in der Billigkeit läge, für den Ausfall von dem bisherigen Einkommen durch
Erhöhung des Gehalts einen Ausgleich zu gewähren.
Ebenso fern liegt uns die eingehende Erörterung der zu einer „Frage"
angeschwollenen Art und Weise, nach welcher die Pensionirung der Offiziere
in der Armee gehandhabt wird. Gewiß kann kein Zweifel darüber bestehen,
daß die hohe Ziffer, welche die zu Pensionen für Offiziere ausgeworfene Summe
jährlich erreicht, allseitig als eine schwere Belastung des staatlichen Ausgabe¬
budgets empfunden wird. Die Ermahnungen des Herrn Windthorst, mit der
Pensionirung von Offizieren vorsichtig vorzugehen, sind deshalb sehr geeignet,
im Lande Wiederhall zu finden, und würden an maßgebender Stelle auch gewiß
beachtet werden, wenn sie nicht eben völlig überflüssig wären. Die Männer,
welche zu den höhern Kvmmandostellnngen in der Armee aufrücken, müssen
nicht allein mit völliger körperlicher und geistiger Frische ein gewisses Maß
Positiver allgemeiner und Fachkenntnisse verbinden, sondern auch, und darauf kann
unsers Erachtens nicht oft und nicht eindringlich genug hingewiesen werden, zur
Ergänzung und Erziehung des Offizierkorps, zur Ausbildung der Truppe im
Frieden und zur Führung derselben im Kriege eine Reihe von moralischen und
Charaktereigenschaften besitzen, deren Maß sich in geradem Verhältnisse zu der
Höhe und Verantwortlichkeit ihrer Stellung steigert. Eine sorgsame Auswahl
ist deshalb nicht nur aus militärischen Gründen geboten, sondern wird sich im
Lause der Zeit auch „billiger" erweisen, als wenn unfähige Generale im Frieden
mit durchgeschleppt werden, um in der Stunde der Gefahr durch körperliche
Schwäche, durch Unentschlossenheit wie durch Mangel an Initiative und Ver¬
ständnis die Armee und das Vaterland an den Rand des Unglücks zu bringen.
Wer nur einigermaßen mit den Verhältnissen innerhalb der Armee vertraut
ist, weiß aber, mit welcher Sorgfalt eine derartige Auswahl getroffen wird,
und wie neben den selbstverständlich in erster Reihe maßgebenden dienstlichen
Anforderungen das persönliche Wohlwollen für jeden einzelnen Offizier bei der
Entscheidung über sein weiteres Aufrücken die Hauptrolle spielt. Wer dagegen
behauptet, daß Nepotismus und Parteilichkeit dabei im Spiele sein, oder daß
gar der bürgerliche oder adliche Name ausschlaggebend mitwirke, der begeht
einen — Irrtum. Beinahe wäre uns in der Entrüstung einer jener wenig
parlamentarischen Ausdrücke entschlüpft, welche leider jetzt mehr und mehr den
Kampf der Meinungen auf das persönliche Gebiet hinüberspielen. Wir haben
ihn aber noch rechtzeitig unterdrückt, denn wir schreiben ja nicht — über einen
Minister. Gegen derartige höchste und hohe Beamte scheint es in letzter Zeit
nicht nur gestattet, mit Schmähungen aller Art um sich zu werfen, sondern der
betreffende Abgeordnete kann sich in Ausnutzung seiner Redefreiheit noch oben¬
drein mit dem Mantel hehrer Uneigennützigkeit drapiren, und seine Anhänger
besingen dann seinen „freien Mannesmut," während es als erimW 1^683.6
geahndet werden möchte, wenn nur der leiseste Zweifel an der unfehlbaren
Tugend und Allwissenheit eines Abgeordneten der Opposition auftaucht.
Die weitere Forderung der Fortschrittspartei zur Entlastung des Peusions-
fonds gesteht zwar indirekt die Notwendigkeit einer Auswahl für die höhern
Stellungen in der Armee zu, verlangt aber, daß der langjährigen Tradition
entgegen die im Avancement übergangenen Offiziere weiter dienen sollen. Ganz
abgesehen davon, daß dem Dienste als solchen daraus gewiß kein Vorteil er¬
wachsen würde und daß sich diese Ersparnis auch gelegentlich als sehr „teuer"
erweisen dürfte, müßte ein großer Teil des Offizierkorps, wie das ein Regierungs-
kommisfar in den Verhandlungen schon treffend hervorgehoben hat, damit zu
einer Klasse von Troupiers herabsinken. Andre Staaten sind gerade bestrebt, das
Offizierkorps ihrer Armee, den festen Kern, um die das lose Gefüge eines großen,
in kurzer Dienstzeit geschulten Heeres erst feste Gestalt gewinnt, einheitlicher zu
gestalten und auf eine höhere sachliche und gesellige Stufe zu erheben, dasselbe
dem deutschen ebenbürtig zu machen. Über diesen Punkt ist ja kein Wort zu
verlieren; wir sind gewiß, daß weder der Kaiser noch auch das Offizierkorps
der Armee selbst je darein willigen wird, den feststehenden Grundsatz aufzugeben,
nach welchem ein Offizier, weicher nicht weiter avanciren kann, das Heer verläßt.
Während jenseits der Vogesen der nun verstorbene Gambetta, ein Mann, der
doch in schwerer Zeit seinem Vaterlande thatsächliche Dienste geleistet, etwas
handgreifliches geschaffen hatte, denjenigen Abgeordneten mit dem Brandmal des
Vaterlandsverräters zeichnen konnte, der die ungeheuern Forderungen für das
Heer nicht ohne weiteres bewilligen würde, betont Herr Richter, dem selbst seine
besten Freunde nicht vorwerfen können, daß er es bisher über eine konsequente
und systematische Negation hinaus gebracht habe, zwar mit großer Emphase stets
seine Liebe zum deutschen Heere und seine Bewunderung für dasselbe, ergreift
aber dabei jede passende und unpassende Gelegenheit, um die Kriegsverwaltung
wie die gesamten Zustände der Armee herabzusetzen und als einer tiefgreifenden
Veränderung bedürftig darzustellen.
Das auffallendste aber ist, daß ein Volksvertreter, der bestenfalls
einen verschwindenden Bruchteil des Volks hinter sich hat, der gelegentlich in
einem Anfalle wohlwollender Stimmung dem Feldmarschall Moltke die Be¬
zeichnung eines „tüchtige» Fachmannes" nicht abspricht, wenn der Chef des
Generalstabes in den Debatten des Reichstages auch nicht immer „ganz erfaßt,"
worauf es nach Herrn Richter ankommt, daß ein solcher Volksvertreter seit
Jahren sich den Anschein giebt, als wenn er in väterlicher Fürsorge der
Mandatar der Armee oder eines Teiles derselben und berufen sei, bestehende
Schäden zu ihrer Heilung bloßzulegen.
Wir sind weit davon entfernt, zu behaupten, daß die deutschen Heeres¬
einrichtungen ohne Ausnahme musterhaft seien, oder daß nicht hie und da Aus¬
schreitungen und Menschlichkeiten zu Tage treten, wie sie von jeder weitver¬
zweigten Organisation unzertrennlich sind. Im allgemeinen aber kann man
doch mit den Gefühlen des Stolzes und der Befriedigung den mächtigen Aufbau
der deutschen Heereskraft betrachten, umsomehr als fast sämtliche europäischen
Staaten ihrer Armee ähnliche Grundlagen gegeben haben.
Die Kriegsverwaltung arbeitet geregelt und sparsam. Wir kennen keine
Korruption, keine Bereicherung des Einzelnen aus dem Staatssäckel auf Kosten
der Allgemeinheit. Klar und durchsichtig erscheint der Etat, Verschleuderung
öffentlicher Gelder oder Mißbrauch derselben ist unerhört. Gewiß kommen
Unregelmäßigkeiten verschiedener Art vor, aber wo sie an die Oberfläche treten,
werden sie rücksichtslos nach den bestehenden Gesetzen und Vorschriften bestraft
und ausgemerzt. Die gesamte Organisation arbeitet, wie dies von menschlichen
Einrichtungen ja überhaupt undenkbar ist, nicht absolut vollkommen, erscheint
indeß selbst manchem übelwollenden Beurteiler immer noch als die relativ beste
der Welt.
Was hat aber Herr Richter alles daran auszusetzen! Er bemängelt, daß
einzelne Mannschaften des aktiven Dienststandes neben der Ausbildung mit der
Waffe zum Signalblasen und in der Regimcntsmusik Verwendung finden, und
da er bedauerlicherweise neben der klaren Auseinandersetzung der bezüglichen
Vorschriften nicht die ebenso bündige Antwort erhält, daß ihn das nichts an¬
gehe, denn er ist ja ein Tribun, der alle Ausschreitungen und versteckten Bös¬
willigkeiten einer schlechten Verwaltung an das Tageslicht ziehen mich, so versteht
er mit dialektischer Gewandtheit, daraus ein sogenanntes Beweismittel — andre
würden es eine bloße Behauptung nennen — für die zweijährige Dienstzeit
abzuleiten.
Mit geschmackvollen Ausfällen gegen Garde und Garde du Corps ver¬
bindet Herr Richter dann Auseinandersetzungen über die Abschaffung der
Kürassiere, das Verhältnis der Kavallerie zu den andern Waffengattungen und
dergleichen und beruft sich dabei auf das Urteil eines Generals und eines
Obersten. Wahrscheinlich könnte er zwanzig und mehr höhere Offiziere finden,
die in diesem Punkte seiner Ansicht sind; alle diese Dinge sind eben offene
militärische Fragen, welche in den Kreisen der Armee erwogen werden. Dabei
sind wir im Gegensatze zu der im Parlamente wiederholt zu Tage getretenen
Anschauung nicht der Ansicht, daß man zur Teilnahme an der Diskussion über
militärische Fragen durchaus früher einmal des Königs Rock getragen haben
müsse. Jeder intelligente Mann ist imstande, sich sein Urteil zu bilden, wenn
er sich die Mühe nimmt, die grundlegenden Gedanken zu studiren. Hätte Herr
Richter das gethan, so würde er in seinem Freimute wahrscheinlich der
Preußischen Kriegsverwaltung ein hohes Lob dafür spenden, daß sie nach alter
Tradition nicht ohne weiteres die zahlreichen vorgeschlagenen Änderungen ein¬
führt, sondern neu auftauchende Fragen jahrelang besprechen und erproben läßt,
bis sich der brauchbare Niederschlag in einer Verbesserung der bestehenden Ein¬
richtungen krystallisirt. Denn man darf nicht vergessen, daß es sich bei
Neuerungen nicht immer, wie bei Aufhebung der Kürassier- oder von Kavallerie¬
regimenter überhaupt, um Abschaffungen und also um direkte Ersparnis handelt,
sondern ebenso häufig um großartige Anschaffungen, wie Repetirgewehre für
die Infanterie oder verbesserte Geschütze für die Artillerie. Als aber der Kriegs¬
minister erklärte, daß eine Vermehrung dieser letztern Waffe nicht beabsichtigt
würde, hat niemand Generale zitirt, die etwa andrer Ansicht sein könnten,
und doch wird es auch solche geben.
In dieses Kapitel gehören auch die kleinen Auszeichnungen und Farben¬
verschiedenheiten an der Uniform der einzelnen Regimenter und Waffengattungen.
Ohne auf die militärische Seite der Frage, auf den Korpsgeist, der zu der Uni¬
form so nahe Beziehungen hat, und die Thaten, zu denen er begeistert, ohne
auf diese und eine Menge andre Punkte einzugehen, wollen wir nur darauf
hinweisen, daß allerdings mit diesen Äußerlichkeiten ein geringer Mehraufwand
gegen eine ganz gleichmäßig einfache Uniformirung der Armee stattfindet, daß
aber der Übergang zu dieser letztern sehr erhebliche Kosten mit sich bringen
würde.
Ferner sind der Militärverwaltung, allerdings nicht von Herrn Richter,
die vielen Stiefel zum Vorwurf gemacht worden, die sie auf den Kammern ver¬
schimmeln ließe. Nun wissen aber alle Wähler, die je der Armee angehört
haben, auch diejenigen, in deren Herzen Herr Richter so fest wurzelt, weil er
außerhalb des militärischen Kastengeistes steht, daß kein Stück der angehäuften
Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke verkommt, sondern daß jedes mit großer
Sorgfalt und in mühsamer, oft für die betreffenden recht unangenehmer Arbeit
frisch und brauchbar erhalten wird. Solche Vorräte sind nötig, um im Falle
der Mobilmachung alle Mannschaften ohne Zeitverlust gehörig einkleiden zu
können, ohne von der Zuverlässigkeit teurer Lieferanten abhängig zu sein. Also
neben den notwendigen militärischen Rücksichten abermals weise Sparsamkeit.
So könnten wir noch eine Fülle weiterer ungerechtfertigter Angriffe hervor¬
heben. Wir wollen aber lediglich noch bei der Behauptung einen Augenblick ver¬
weilen, daß die Mehrzahl der zahlreichen Selbstmorde in der Armee auf erlittene
Mißhandlung von feiten der Vorgesetzten zurückzuführen sei. Abgesehen davon,
daß die Selbstmorde junger Männer innerhalb der Armee nicht häufiger sind
als in der Bevölkerung überhaupt, und ohne uns auf die Darlegungen andrer
Abgeordneten zu berufen, die ja den gewichtigen Behauptungen eines Volks¬
tribunen von dem Ansehen des Herrn Richter gegenüber kaum Erwähnung,
geschweige denn Beachtung verdienen, möchten wir dem Herrn doch anheim geben,
eine seiner zahlreichen Forschungsreisen auch bis auf die Landsitze seiner Partei¬
genossen, etwa in Ostpreußen, auszudehnen, um sich zu vergewissern, ob dort
die Behandlung von Gesinde und Landvolk lediglich nach dem Buchstaben des
Gesetzes stattfinde. Wir geben bereitwillig zu, daß das nichts mit der Be¬
handlung der Soldaten zu thun hat, und wir beklagen es mit dem Abge¬
ordneten Richter aufs lebhafteste, daß noch immer Fälle von Mißhandlungen
Untergebener vorkommen. Diese werden indeß dort, wo sie bekannt werden, nach
Recht und Gesetz und ohne Ansehen der Person bestraft, und wenn Herr Richter
ehrlich sein will, so muß er anerkennen, daß der Soldat im allgemeinen während
seiner Dienstzeit besser lebt und bessere Behandlung genießt, als er dies in seinen
bürgerlichen Verhältnissen gewohnt ist, daß er das Gefühl gehobener Mannes¬
würde und selbstbewußtes, festes Auftreten mit in die Heimat zurücknimmt und
mit freudigem Stolze seines Truppenteils und der im bunten Rocke verlebten
Zeit gedenkt.
Dem Scharfsinn des Herrn Richter können alle diese Punkte schwerlich
entgangen sein, er zeigt aber in der Verfolgung seiner destruktiven politischen
Tendenzen mit voller Absichtlichkeit stets auf die Kehrseite der Medaille, um
die Armee in den Augen Dritter herabzusetzen und um Mißtrauen in ihren eignen
Reihen zu säen. Dazu hält er es für gut, einen gewissen Gegensatz zu kon-
struiren zwischen dem Offizierkorps als geschlossenem Ganzen und der Armee
im Großen, einen Gegensatz, der schlechterdings nicht besteht. Das Offizierkorps
als der Träger alter Tradition von Ehre, Mut, Tapferkeit, von wissenschaft¬
lichem Fortschritt, von Treue und Gehorsam gegen den König und echter Vater¬
landsliebe weiß sich völlig eins in seinem Streben mit den breiten Schichten der
Bevölkerung, welche zu den Fahnen strömen, um der schwersten aber auch der
höchsten Ehrenpflicht des Bürgers Geniige zu leisten. Von den erziehlichen
Resultaten des Offizierkorps legt nicht nur die große Zahl der in ihrer Dienst¬
zeit sittlich wie körperlich und geistig gehobenen jungen Männer Zeugnis ab,
sie ist erkennbar auch in den zahlreichen Kriegerverbändcn und Regimentsver¬
einen, in denen die frühern Soldaten sich in kameradschaftlicher Treue zusammen¬
finden, um sich gegenseitig zu fördern und zu stützen. Das gerade Gegenteil
einer abgesonderten Stellung aber tritt ganz augenscheinlich zu Tage in der
Anhänglichkeit, mit welcher fast alle frühern Soldaten ihrer Offiziere gedenken.
Es kann die Armee, oder im Sinne des Herrn Richter gesprochen, das
Offizierkorps ziemlich gleichgiltig lassen, ob außerhalb ihrer Reihen das Ver¬
trauen in sie durch die fortschrittliche Agitation erschüttert werde, so lange sie sich
fest und sicher auf ihre eigne innere Tüchtigkeit verlassen kann. Im höchsten
Grade beklagenswert aber würde es sein, wenn die Behauptung des Herrn
Richter, nach welcher ihm täglich Hunderte von zustimmenden brieflichen Mit¬
teilungen aus den Kreisen der Armee zugehen, über die Bedeutung einer
durchschlagenden Redewendung hinaufginge. Dann hätte das fortschrittliche
Gift schon gewirkt, und auch das Gebäude der deutschen Heeresorganisation,
welches bisher fast allein von der nivellirenden Zeitrichtung verschont geblieben
war, wäre in seinen Grundlagen bereits angefochten.
Das ganze Offizierkorps, die gesamte Armee erhebt einmütiger, lebhaften
Widerspruch gegen solche beleidigende Zumutung, das wissen wir bestimmt als
begeisterter Anhänger und Bewundrer derselben, ohne eines ausdrücklichen
Maubads zu bedürfen, und wir würden es mit Freuden begrüßen, wenn diese
Zeilen imstande wären, auf die großen Gefahren aufmerksam zumachen, welche
das Verfahren der Herren Richter und Genossen für die unantastbare Zuver¬
lässigkeit der Armee, in weiterer Folge aber für den Bestand des deutschen
Reichs notwendigerweise im Gefolge haben muß.
Die Grafen von Altenschwerdt.
M^U
M>aron Sextus hatte heimlich ein Schreiben nach Fischbeck ab¬
gehen lassen, worin er der Gräfin Altenschwerdt mitteilte, daß
er erkrankt sei und deshalb bitte, die Zusammenkunft noch zu
verschieben. Sobald er wiederhergestellt wäre, wollte er es
! anzeigen.
Dieses Schreiben kam der Gräfin sehr erwünscht. Sie war mit dem Aus¬
sehen ihres Sohnes nicht zufrieden und gedachte den Erfolg der Kur noch
einige Wochen abzuwarten, bevor sie nach Eichhausen führe. So überhob der
Brief des Barons sie der Verlegenheit, unhöflich zu erscheinen, indem sie ihren
Besuch hinausschob. Sie ließ ihren Sohn Algensaft einnehmen, den dieser nur
auf ihre Autorität hin verschluckte, und harrte ihrerseits auf rote Wangen bei
Dietrich, wie der Baron auf die Möglichkeit rüstigen Umhergehens wartete,
bevor die diplomatisch vorbereitete Zusammenkunft stattfände.
Dieser junge Mann hat eine sehr praktische Ansicht von der Bewegung
geschlossener Kavallerieabteilungen, sagte der Baron zum General, der ihm
einen Krankenbesuch abstattete. Es ist schade, daß er nicht aktiv ist. Er ver¬
steht mehr von der taktischen Verwendung der Reiterwaffe als mancher Schwa¬
dronsführer.
Der Baron hatte den Abend vorher dazu benutzt, Eberhardt eine Vorlesung
über Kavallerictaktik zu halten, und dieser hatte so angenehm zugehört, daß der
alte Herr eine vortreffliche Meinung von seiner militärischen Befähigung bekam.
Es lag ihm das Interesse der Kavallerie immer mehr am Herzen, je länger
er nicht mehr thätig in ihr war, und jetzt, wo sein linker Fuß in Baumwolle
verpackt war, verspürte er das Bedürfnis, seinen Lieblingsgegenstand zu be¬
handeln, mit doppelter Stärke. Er sah in einem guten Zuhörer nicht nur ein
Geschenk der Vorsehung im allgemeinen, sondern auch einen tiefen Kenner des
Von ihm behandelten Themas im besondern.
Das Wort Einheitskavallerie birgt einen unerhörten Unsinn in sich, wie die
meisten Schlagwörter der Neuzeit, sagte er nachdrücklich. Weswegen, frage ich,
weswegen wäre diese künstliche und kostspielige Vereinigung des Mannes mit einem
seiner Natur nach unbändigen Tiere erdacht und seit den grauesten Zeiten des
Altertums durchgeführt worden, wenn es nicht geschehen wäre, um Vorteile zu
erringen, die ein Mann zu Fuß nicht erreichen kann? Es liegt auf der Hand, daß
diese Vorteile in der Natur des Pferdes liegen, insofern man dasselbe mit dem
Menschen vergleicht. Dann findet man zwei Punkte: erstens, daß ein Pferd rascher
ist als ein Mensch, und zweitens, daß es mehr Gewicht und folglich mehr
Kraft hat, den Feind niederzurennen. Was folgt daraus? Es ist sonnenklar: Man
benutzt auf der einen Seite die Schnelligkeit, nämlich zum Einziehen von Nach¬
richten, zum Ausspähen des Landes, zu Umgehungen der Flanken des Feindes und
zum Verfolgen der Flüchtigen. Das heißt, man organisirt eine leichte Kavallerie.
Und ferner. Man benutzt auf der andern Seite das Gewicht des Pferdes,
nämlich zum Überrennen der feindlichen Kavallerie, zum Niederwerfen der In¬
fanterie, sobald sie sich in geschlossenen Massen in geeignetem Terrain auf
passende Distanz zeigt, und zum Zusammentreiben der zerstreuten Abteilungen
in dichte Massen, auf welche die Artillerie wirken kann. Mit andern Worten:
Man organisirt eine schwere Kavallerie. Wollte man aber beide Zwecke mit¬
einander vereinigen, so würde man beide verfehlen. Denn die leichten Pferde
haben nicht die nötige Wucht, nicht das Ungestüm und die Kraft, die ich zur
Attacke gebrauche, und die schweren Pferde haben nicht die Schnelligkeit der
Bewegung, die ich zu überraschenden Evolutionen und zum Vorpostendienst ver¬
lange. Was würde das Ergebnis der Einheitskavallerie sein? Sie würde
weder schnell noch ungestüm sein, sie würde zur Attacke zu leicht, zur Umgehung
zu schwer sein. Wenn ich aber eine Kavallerie haben soll, die weder schnell
genug noch schwer genug ist, so will ich lieber gar keine Kavallerie haben.
Es ist nur die Frage, entgegnete der General, ob wirklich auf das Un¬
gestüm, auf die Wucht der Attacke, namentlich gegenüber der Infanterie, noch
ein entscheidendes Gewicht gelegt werden darf. Ich denke, jeder Reiterführer
müßte sich angesichts der kürzlich bei Wörth und Sedan gemachten Erfahrungen
in jedem Falle ernstlich besinnen, ob er gut daran thue, seine Schwadronen
gegen intakte Infanterie loszulassen. Und wenn man in Betracht zieht, wie
sehr das zerstreute Fechten bei den Fußtruppen die Überhand gewonnen hat,
gewinnt man neue Gesichtspunkte für die Verwendung der Reiter, indem man
ihre Wichtigkeit für schnelle Bewegung in durchschnittenem Terrain, zum Auf¬
rollen von Schützenlinien, zum Zersprengen kleiner, geschlossener Abteilungen
und zu überraschendem Durchbrechen und Umgehen langer, dünner Jnfanterie-
linien beachtet. Ohne also eine Entscheidung für Einheitskavallcrie damit aus¬
sprechen zu wollen, möchte ich die Ausbildung einer jeden Kavallerie im
Campagnereiten als vorzüglich wichtig hinstellen.
Ja, wem, das Campagnereitcn in den Schwadronen so verstanden würde,
wie Eure Exzellenz es meinen, dann hätte ich nichts dagegen, versetzte der
Baron. Das würde ebensowohl der schweren wie der leichten Kavallerie zum
Nutzen sein. Aber wie fassen die Herren das Campagnereiten in der Regel
auf? Sie wollen bummeln. Sie haben, wenn das Campagnereiten als Ziel
hingestellt wird, keine Lust mehr, einen Reiter von Grund aus zu dressiren.
Dann kommen wir dahin, daß es heißt: Nur tüchtiger Mut, die Zügel auf den
Hals und ein Paar Sporen hinterher. Dann werden wir es erleben, daß die
Pferde durchgehen, wenn sie laufen sollen, daß sie sich drehen, wenn sie stehen
sollen, daß sie kleben bleiben, wenn sie an einem andern Pferde vorbeigehen
sollen, mit einen, Worte, daß der Reiter nicht mehr geübt ist, sein Tier voll¬
ständig in seiner Gewalt zu haben. Nein, ich verlange vor allem, daß die
schwere Kavallerie eine geschlossene Attacke sauber fertig bringt und daß die
leichte Kavallerie schnell ist, aber doch ihre Pferde auch immer gesammelt hat.
Der Baron unterbrach hier seinen Vortrag, weil in diesem Augenblicke
Dorotheens Schimmel und der für Eberhardt bestimmte Braune draußen vor¬
geführt wurden, und er vom Fenster aus beobachten wollte, wie die jungen
Leute fortritten.
Dieser Herr Eschenburg hat sich Ihre Gunst rasch erworben, sagte der
General, als der Baron ihm mitteilte, daß seine Tochter von dem Maler be¬
gleitet werden würde.
Es kam dem Baron so vor, als legte der General einen besondern Aus¬
druck in seine Worte. Es schien ihm, als sei derselbe verwundert über die Ehre,
die dem Fremden wiederfahre, und als mißbillige er vielleicht das Vertrauen,
welches er, Baron Sextus, in den bürgerlichen Maler setze.
Diese Wahrnehmung bestärkte ihn in seiner Vorliebe für Eberhardt. Er
hatte von der Natur eine gewisse Festigkeit im Beharren ans seiner Meinung
erhalten, und es gab kein Mittel, welches besser geeignet gewesen wäre, Eber¬
hardt in seiner Gunst zu befestigen, als die von jemand anders ausgesprochene
Vermutung, er sei nicht vorsichtig genug in der Wahl dieses Umgangs gewesen.
Ich habe mir in meinem langen Leben ein scharfes Auge für Menschen
erworben, erwiederte er, und bin dahin gekommen, auf den ersten Blick ent¬
scheiden zu können, ob ich einen Gentleman vor mir habe. Dieser junge Mann
ist nicht von Familie, aber er ist ein Gentleman. Das ist auch so eine von
den beliebten Lügen des Liberalismus, mit denen sie uns als Junker stigmati-
stren, wir Edelleute wären adelstolz. Auf ehrenhaftes und höfliches Benehmen
sind wir stolz, und weil das im Adel mehr gefunden wird als unter den
Bürgerlichen, so sind wir allerdings am liebsten unter uns. Aber wo wir
einen Bürgerlichen treffen, der sich durch ein solches Benehmen auszeichnet, da
gilt er uns so viel wie ein Adlicher, das war zu unsrer Väter Zeit so und ist
es jetzt noch.
Während er so sprach, trat Dorothea, von Eberhardt begleitet, in das
Zimmer. Sie trug die Schleppe ihres Reitkleides über dem Arm, die Peitsche
in der Hand und sah unter ihrem schwarzen Kastorhut sehr gut aus. Es lag
Charakter in ihrem Gesicht. Ihre Züge waren in festen, obwohl zarten Linien
gezeichnet, und aus ihrem Blick sprach Energie. Ein freudiger Ausdruck er¬
hellte ihre Miene und färbte ihre Wangen mit lebhafterem Rot als sonst.
Der Baron dachte, als er sie so eintreten sah und indem er ihren raschen
Schritt und ihre geschmeidige Gestalt betrachtete, es sei doch unendlich schade,
daß sie nicht ein Sohn sei. Welch ein Kavallerist müßte ihr Bruder sein!
dachte er sehnsüchtig. Er hielt die Freude, die sich in dem Wesen der Tochter
ausprägte, für die angenehme Empfindung, die ihn selbst beseelte, wenn er vor
der Thür den Gaul scharren hörte, den er besteigen wollte, und er nickte ihr
freundlich zu, als sie ihm Lebewohl sagte.
Welchen Weg wollt Ihr nehmen? fragte er.
Ich denke, wir reiten durch das Westerholz und um den Erlenbruch, ant¬
wortete sie.
Da kommen Sie in die Nähe meines Hauses, sagte der General und fügte
hinzu, indem er sich an Eberhardt wandte: Sollte Ihr Weg Sie gelegentlich
wieder in jene Richtung führen, so würde es mich freuen, Sie begrüßen zu können.
Eberhardt verbeugte sich und versicherte, daß er nicht versäumen werde,
von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch zu machen.
Der General warf dem Baron einen Blick zu, welcher die Frage enthielt,
ob nicht er, der General, ebensogut wie irgend sonst jemand höflich gegen
Bürgerliche sein könne.
Dorotheens Schimmel war ein wunderhübsches Tier. Dorothea streichelte
ihm den feingeschnittenen Kopf, der sich der schmeichelnden Hand entgegenbog,
und strich den glänzenden Haarbusch, der über das blaue, seidene Stirnband
herabfiel. Das Tier spielte mit dem silberhellen Gebiß und schnupperte mit
den sammtweicher Nüstern an ihrem rehfarbener Handschuh.
Er ist sehr gut geritten, sagte Dorothea. Man könnte ihn auf einer Tisch¬
platte die hohe Schule durchmachen lassen, behauptet Papa.
Dann schwang sie sich in den Sattel, Eberhardt bestieg ebenfalls sein Pferd,
und mit einem Gruß nach dem Fenster hin, von wo die alten Herren herab¬
sahen, ritten sie fort. Der Reitknecht folgte in diskreter Entfernung.
Es war ein sehr angenehmer Tag zum Reiten. Der Himmel war mit
einem leichten, grauen Schleier hochgehender Wolken bedeckt, durch welchen die
Sonne nur in einzelnen Augenblicken hindurchzublicken vermochte, und auch dann
nur mit so gedämpftem Licht, daß man die runde, strahlenlose Scheibe ungestraft
betrachten konnte. Die Landschaft lag still und gleichsam träumerisch da, kein
Lüftchen bewegte die Blätter der Bäume, die Stämme der Buchen zur Rechten
des Weges ragten wie hellgraue Säulen empor, und im Hintergrunde des
Waldes schwebte ein zarter Nebel über dem Dunkel des Dickichts. Die Hufe
der Pferde berührten mit mattem Ton den elastischen Boden am Waldessaum
und strichen von den vereinzelt stehenden Grasbüscheln den Thau ab.
stillschweigend ritt das Paar dahin, und Nachdenken lagerte auf Doro-
theens Gesicht, bis der Weg zu dem stillen Wasser mit den hohen Lindenbäumen
und zerstreut liegenden Steinblöcken geführt hatte. Hier zog Dorothea die Zügel
an, und Eberhardt ließ sein Pferd neben ihr halten. Er sah in dem schwarzen
Spiegel die Figur des Schimmels und seiner Reiterin wie seine eigne Silhouette
ihr zur Seite mit überraschender Deutlichkeit gezeichnet. Die weiße Gestalt mit
dem nickenden Haarbusch sah von unten hervor, und damit vereint gaben die
Konturen der jungen Dame mit dem wallenden Reitkleid und dem schwarzen Kastor-
hut ein graziöses, ihm höchst anziehend entgegenblickendes Bild. Oft nachher
dachte er mit einem sehnsüchtigen Schmerze an dieses Bild zurück, an die aus
tiefem Grunde hervorscheinende Mädchengestalt auf dem weißen Pferde, leicht
niedergebeugt und mit träumerisch gesenktem Haupte ihm im schwarzen Wasser
ins Auge sehend. Von diesem Spiegelbild blickte er über den dunkeln Teich
hin nach dem Schlosse hinüber, das stolzer als je emporzuragen und schwerer
als je die Erde zu belasten schien. Um die Kuppclthürmchen und Zinnen des
hohen, viereckigen Thurmes flatterten die schwarzen Vögel, und hinter den
Schießscharten der schweren, alten Mauern malte sich des Beschauers Phantasie
kriegerische Gestalten aus.
Man sagt, daß dieses kleine Gewässer unergründlich tief sei, bemerkte
Dorothea. Viele Märchen werden von den weisen Frauen unsrer Gegend über
die Erlebnisse dieses Teiches erzählt. Ich weiß nicht, ob man sie alle glauben
kann, ohne sich in Streit mit der gesunden Vernunft zu verwickeln, aber das
weiß ich, daß dieser Teich eine wunderliche Anziehungskraft auf mich ausübt.
Selten komme ich an dieser Stelle vorbei, ohne einen Augenblick anzuhalten
und da hineinzublicken.
Vielleicht haben Ihre Vorfahren hier gekämpft und geblutet, und deren
Seelen umschweben das dunkle Wasser, entgegnete Eberhardt.
Ja, oder mein eignes Schicksal ist von unerforschlichen Mächten in irgend
eine Beziehung zu diesem Teiche gebracht, sagte Dorothea, ihr Pferd wieder in
Bewegung setzend.
Es lag ein halb scherzender, halb ahnungsvoller Zug um ihre Lippen, und
Eberhardt beobachtete mit Entzücken ihr Antlitz, als sie jetzt in schnellerer Gang¬
art weiter ritten. Die klaren, reinen Züge, die großen, dunkeln Augen mit der
zarten Umrahmung der langen Wimpern und den kühn gezeichneten Brauen sprachen
von einer edeln und mutigen Seele, und wie die schlanke Figur vornübergeneigt
den Bewegungen des Pferdes folgte und die kühle Morgenluft zerteilte, daß
das krause Löckchen an der Schläfe vom Winde emporgetrieben ward, schien sie
in kecker Lebenslust dem Geschick entgegenzueilen und seine Gefahren, froh der
eignen Kraft, herauszufordern.
Ich habe einen großen Plan, sagte sie nach einer Weile, indem sie ihm
das von der Lust und der Anstrengung des Rittes leicht gerodete Gesicht voll zu¬
wandte. Und zugleich ließ sie ihr Pferd wieder im Schritt gehe». Ihnen will
ich diesen Plan mitteilen, in der Hoffnung, daß Sie mich nicht damit auslachen
werden. Papa soll erst dann davon hören, wenn die Sache zu größerer Reife
gediehen sein wird.
Seien Sie meines verschwiegenen Interesses versichert, mein gnädiges
Fräulein.
Wir sind soviel auf der Reise, fuhr sie fort, dnß wir uns, wie ich fürchte,
nicht genug der armen Leute annehmen können, die für uns arbeiten. Wenn
ich daheim bin, sehe ich oft mit Schrecken, wie traurig es um die armen Tage¬
löhner mit ihren Weibern und Kindern bestellt ist. Ich sehe die Kinder in
Lumpen dnrch die Dorfgasse einherlaufen und die Weiber oft schon mit vierzig
Jahren oder jünger als hexenähnliche Erscheinungen, verbittert und krumm ge¬
bogen von der Arbeit, dahinschleichen. Ich kann ihre runzligen Gesichter nicht
sehen, ohne einen Vorwurf daraus zu lesen. Inspektor Schmidt, mit dem ich
darüber sprach, zuckt beharrlich die Achseln und meint, das niedere Volk sei es
nicht anders gewohnt, würde auch das Geld, das man ihm etwa zuwenden
wollte, einfach vertrinken. Ich glaube aber nicht, daß er Recht hat. Es kommt
mir darauf an, in welcher Weise man dem armen Volke hilft. Geld ist nicht
alles, sondern es ist nötig, sich mit den Bedürfnissen der Leute bekannt zu
machen und ihre Lebensweise zu beeinflussen. Ich habe diesen Gegenstand mit
dem Prediger in Scholldorf besprochen. Dort wohnen viele von unsern Tage¬
löhnern, und er kennt ihr Elend. Ich weiß nicht, ob Sie mit dem Prediger
bekannt geworden sind, Herr Eschenburg. Er ist ein sehr unterrichteter Mann.
Ich habe nicht die Ehre, ihn zu kennen, entgegnete Eberharde.
Sie werden ihn heute kennen lernen. Ich habe mir ein Rendezvous mit
ihm am Erlcnbruch gegeben. Das hängt nämlich mit meinem Plane zusammen.
Prediger Seugstack stimmt mir in meiner Meinung zu, daß das wichtigste ist,
den armen Leuten eine gesunde, billige Wohnung, womöglich mit einigem eignen
Lande vereinigt, zu verschaffen. Denn in den verschiednen Dörfern, wo sie jetzt
zerstreut sitzen, müssen sie sich mit den elendesten Behausungen begnügen, werden
durch die Wirtshäuser verführt und haben keine Aussicht, jemals Eigentum zu
erwerben. Der Erlenbruch, den wir jetzt besuchen wollen, ist zum kleinern Teil
recht guter Boden, der mit leichter Mühe in Ackerland zu verwandeln wäre.
Auf diesem Teile beabsichtige ich eine Kolonie anzulegen. Es sollen Grundstücke
von gleicher Größe abgeteilt und auf jedem Stück soll ein kleines, einstöckiges
Haus erbaut werden für je eine Familie. Dann sollen die Leute allmählich
durch ihre Arbeit zu Eigentümern werden können. Ja ich habe die Idee, auf
diese Weise mit der Zeit den ganzen, großen Erlenbrnch, welcher jetzt eine kleine
Wüste inmitten unsrer Besitzungen darstellt, zu kultiviren, indem den strebsamen
Leuten, sobald sie Eigentümer des kleinen Grundstücks geworden sind, die an¬
grenzende unkultivirte Fläche unter der Bedingung der Urbarmachung als Eigen¬
tum zugeteilt wird.
Eberhardt konnte sich nicht enthalten, während Dorothea ihm diesen Plan
entwickelte, an die Erzählung von dem guten Mädchen zu denken, das mit einem
Milchgefäß zu Markte ging, und dessen frohe Hoffnungen auf den Erlös durch
einen fröhlichen Sprung, bei dem die Milch verschüttet ward, erbarmungslos
zerstört wurden. Doch brachte er es nicht übers Herz, als er jetzt in das freude¬
strahlende Gesicht der jungen Dame blickte, irgend eine aus der grauen Erfah¬
rung geschöpfte Einwendung zu machen.
Ein herrlicher Plan, sagte er. Und ist der Herr Prediger Scngstack auch
der Meinung, daß er sich ausführen läßt?
Vollkommen! entgegnete Dorothea triumphirend. Der Prediger nimmt
großes Interesse an dieser Sache, sodaß ich schon um seinetwegen froh bin, auf
diese Idee gekommen zu sein. Er ist, wie ich glaube, in einer etwas traurigen
Lage in Scholldorf, wie wohl vielfach die Geistlichen es in den kleinen, abge¬
legenen Ortschaften sind. Es muß für einen gebildeten Geist, der die Schön¬
heit der Kunst und der Wissenschaft geschmeckt hat, eine sehr schwere Aufgabe
sein, mit einem Schlage gleichsam auf eine ferne Insel versetzt zu werden. Denn
anders kann man wohl kaum den Aufenthalt zwischen lauter ungebildeten Bauern
bezeichnen. Prediger Sengstack, der noch ein jüngerer Manu und unverheiratet
ist, macht mir durchaus einen solchen Eindruck, und es kam mir so vor, als
wäre mein Plan, den ich ihm vor einiger Zeit vortrug, eine wahre Wohlthat
für seinen Gemütszustand gewesen. Sehen Sie, fuhr Dorothea fort, ein Blatt
Papier aus der Satteltasche ziehend, hier ist eine flüchtige Skizze des Muster¬
hauses. Hier sehen Sie die Thür, die nach dem Garten führt, hier sind die vier
Feuster der Front, welche zehn Meter Länge haben soll, und der kleine Anbau
hier ist für ein Schwein berechnet, welches jede Familie jährlich aufziehen soll.
Sehr gut, sehr hübsch. Dieses Mustergebäude erinnert mich an die kleinen
Häuser der Farmer bei uns dort drüben, und ich sehe im Geiste die Ansied-
lungen unsrer Shaker am Hudson vor mir stehen.
So sprach Eberhardt, aber seine Worte kamen mehr ans jenein zweiten
Bewußtsein heraus, welches wir gewissermaßen äußerlich für den Umgang mit
der Welt zu besitze» scheinen, als aus seinem innerlichen Denken. Denn dieses
war auf die zierliche Zeichnung gerichtet, insofern sie ein Erzeugnis dieser
schlanken Hand und ein Beweis für das edle Herz dieser königlichen jungen
Dame war.
In fortgesetztem Gespräch über die geplante Kolonie und die dabei zu be¬
folgenden Grundsätze setzten sie ihren Weg fort und erreichten nach einer halben
Stunde ein weites, freies Termin, welches um manchen Stellen von kleinen
Flächen moorigen Wassers bedeckt war und mir einzelne Bäume von knorrigen
Aussehen trug.
Dorothea hielt ihr Pferd an. Dies ist der Erlenbruch, sagte sie mit strah¬
lendem Gesicht. Sehen Sie den vielen Platz, Herr Eschenburg, sehen Sie dies
große Feld der Thätigkeit. Dort drüben, wo der hellgrüne Weideplatz sich an
den Wald anschließt, dort ist die Stelle, wo die Gebäude stehen sollen. Dort
ist ein guter, schwerer Boden, welcher leicht ertragfähig gemacht werden kann.
Und dort sehe ich auch an der Waldecke den Wagen unsers guten Pfarrers
halten. Er ist pünktlich gewesen.
Die kleine Kavalkade nahm die Richtung auf jenen Wagen hin, und bald
erkannte Eberhardt im Näherkommen einen schwarzgekleideten Herrn, der in
eiligem Schritt auf dem Waldwege daherkam. Dorothea stieg ab und reichte
dem Herrn ihre Hand entgegen, welche dieser unter ehrfurchtsvollem Gruß und
tief errötend ergriff. Eberhardt erblickte in ihm einen lang gewachsenen Mann,
dessen Züge die Spuren des Studierzimmers trugen und auffallend blaß er¬
schienen, sobald die erste Röte der Verlegenheit von ihnen verschwunden war.
Seine Augen hinter den Brillengläsern hatten das matte Aussehen, welches die
Folge von anhaltender Beschäftigung mit dem hellen Papier und den dunkeln
Buchstaben der Bücher und Schriften zu sein pflegt, und sein Wesen hatte etwas
Befangenes und Zerstreutes. Doch war der Ausdruck geistigen Lebens in diesem
Manne nicht zu verkennen, und Eberhardt dachte, daß Dorotheens Bemerkung
über die Vereinsamung eines gebildeten Geistlichen ganz besonders auf den
Pfarrer von Scholldorf passe. Er dachte bei sich, daß Dorothea wohl als
Gehilfen bei ihrem schwierigen Werke einen besser geeigneten Mann hätte finden
können, einen Mann, dem der Staub des Feldes vertrauter sei als der Staub
der Folianten, aber er konnte nicht ohne Rührung den Eifer sehen, mit dem
der Pfarrer den Ideen der jungen Dame entgegenkam, und sich in deren Ge¬
danken gleichsam berauschte.
Während Dorothea mit freundlicher und sichrer Haltung zu ihm über die
Verteilung des Bodens und die Lage der abzugrenzenden Grundstücke sprach
und ganz allein den Gegenstand des Gesprächs im Auge hatte, schien bei dem
Pfarrer das Wohlgefallen Dorotheens die Hauptsache zu sein. Er breitete auf
einem riesigen flachen Fettstein, der sich tischähnlich darbot, eine sauber aus¬
geführte Karte aus, welche die zukünftige Kolonie zur Anschauung bringen sollte,
und auf welcher er mit verschiednen Farben die Häuser, die Gärten, die Äcker
kenntlich gemacht hatte. Ein mädchenhaftes Erröten flog wieder über sein
Gesicht, als Dorothea die Karte mit Entzücken betrachtete und für höchst Praktisch
erklärte.
Eberhardt sah mit einer wunderlichen Mischung von Empfindungen dem
Gespräch zwischen den beiden zu, und die Ratschläge, mit denen er selbst an dem
Plane teilnahm, spielten mir eine geringe Rolle neben dem Anteil, den er als
Beobachter der Szene nahm. Dorothea beugte sich über die Zeichnung und
stützte den Arm auf den grauen Block, der vor langer, langer Zeit einmal auf
rätselhafte Weise sein gewaltiges Gewicht hier niedergelassen hatte. Dann blickte
sie wieder auf und berglich die Karte mit der von der Natur gegebenen Lage
des Landstrichs. Ihr jugeudfrischcs Gesicht war ganz Leben und Energie, und
ihre blitzenden Augen streiften beherrschend über den weiten Bruch hin, der öde
und unwirklich seine Fläche weithin bis zu den dunkeln Waldungen im Hinter¬
grunde erstreckte. Auf diesem Gebiete, das bis jetzt wohl nur die übermächtige
Kraft der Naturereignisse kennen gelernt hatte und unter dem nebligen Himmel
trotzig und düster dalag, stand das junge Mädchen in Eberhardts Augen wie
ein wohlthätiger, Heller Geist, der den Kampf mit den erdgebornen Titanen
aufnehmen will, stand sie wie die Repräsentantin der Kultur, die den Elementen
die Bedingungen menschlichen Daseins abringe. Er begriff die Verehrung, mit
der der blasse Geistliche in dies schöne Gesicht sah, und er glaubte seine eignen
Empfindungen in dem Benehmen dieses schüchternen und eckigen Mannes wieder-
gespiegelt zu sehen. Wenn er beobachtete, wie dem jungen Prediger jedes Wort
und jeder Blick Dorotheens ein Gegenstand herzlicher Beachtung, wie ihm die
Bewegung ihres Fingers auf der Zeichnung gleichsam der Wink des Schicksals
war und wie ihm die ganze Kolonie samt allen armen Tagelöhnern, samt dem
großen weiten Bruch mit seinen Wasserpfützen und knorrigen Eichen und samt
dem weiten Himmelsbogen, der sich silbergrau darüber spannte, den höchsten
Wert offenbar nur durch ihr Interesse daran hatte, so glaubte er darin ein
blasses Abbild der eignen Gefühle zu erblicken, welche sich im Wachen wie im
Traume auf eine einzige angebetete Persönlichkeit richteten und allen andern
Anforderungen der Welt zum Trotz immer wieder zu diesem Brennpunkt seines
Denkens zurückkehrten. Schmerzlich und doch wonnig zog es durch seine Brust.
Er hätte den Prediger umarmen mögen für sein liebevolles Eingehen in
Dorotheens Ideen, und konnte doch nicht ganz ohne Eifersucht bemerken, daß
beider Gedanken sich auf ein und dasselbe Ziel richteten. ' Er wünschte,
der einzige Vertraute Dorotheens in deren edelsinnige» Plänen zu sein,
und konnte doch hier im Hauche der Waldluft und angesichts der freien Natur,
gegenüber dem offenen Antlitz des jungen Mädchens, das so ganz von reinster
Menschenliebe und Thatkraft glühte, keiner andern Idee folgen als der eines
Wirkens für den guten Zweck.
Wir werden etwas Diplomatie gebrauchen, um der Einwilligung meines
Vaters sicherer zu sein, sagte Dorothea lächelnd auf Eberhard: blickend. Wir
wollen den Grafen von Franeker für unsern Plan gewinnen. Er soll dem
Vater zuerst von den Vorteilen dieser Kolonie sprechen und selbst dabei interessirt
erscheinen. Das wird umso leichter sein, als seine Besitzung nicht weit von
hier liegt. Lassen Sie mir diese Karte gütigst, Herr Pfarrer. Ich will sie
dem Grafen zeigen. Sobald unser Projekt einen Fortschritt gemacht haben
wird, sollen Sie es wissen.
Sie reichte dem Pfarrer zum Abschied wieder die Hand und bestieg mit
leichtem Schwunge den Schimmel, den der Reitknecht ihr auf ihre» Wink
herbeiführte.
Der Graf von Franeker, sagte sie beim Fortreiten zu Eberhardt, hat Sie
heute zu einem Besuch aufgefordert. Ich schlage vor, wir reiten morgen gleich
zu ihm hinüber. Da Sie in das Projekt eingeweiht sind, werden Sie mir eine
wertvolle Unterstützung sein. Mein Papa ist gegen mich die Güte selbst, aber
ich glaube nicht, daß er in meine nationalökonomischen Kenntnisse und in meine
Talente für Kolonisation großes Vertrauen setzt. Könnten wir den Grafen so
für den Plan begeistern wie unsern guten Pfarrer, so wäre viel gewonnen,
denn er hat großen Einfluß auf Papa.
(Fortsetzung folgt.)
In diesem bereits in einem zweiten Abdruck vorliegenden trefflichen Buche
wird mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und doch dabei in einer für das größere
Publikum verständlichen und anziehenden Form das Aufkommen, die Blüte und
der Verfall des deutschen Landskucchtswcscns behandelt. Ausführlich macht uns der
Verfasser mit der Werbung und Musterung, mit dem Gerichtswesen, der Bewaffnung
und Kampfweise, den, Führern und Ordnungen und dem Lagerleben der Lands¬
knechte bekannt, zeigt uns die Landsknechte in Bild, Sang und Schwank, und
schildert getreu nach den Quellen die rühmlichen Thaten der Landsknechte auf
den italienischen Schlachtfeldern, vor allem in der Schlacht bei Pavia, wie auch
die Lebensläufe ihrer bedeutendsten Führer, der beiden Frnndsbergc, Konrads von
Boyncburg und Franz' von Sickingen. So ist das gut ausgestattete, mit zahl¬
reichen, sauber ausgeführten Illustrationen nach Jost Amman und andern versehene
Werk als ein lehrreiches Kulturbild allen Freunden der Kulturgeschichte, insbesondre
anch der reifern Jugend, warm zu empfehlen.
In einem größern vor zwei Jahren erschienenen Werke, betitelt „Österreich
und das Reich im Kampfe mit der französischen Revolution," hat Langwerth von
Simmern im Anschlusse an die Arbeiten Vivenvts und Hüffcrs und gegen Shbel
den Nachweis zu führen gesucht, daß die Schuld an dem Zusammenbruche des
deutschen Reiches im Kampfe, gegen die französische Republik lediglich den preußischen
Staatsmännern und Feldherren zugeschoben werden müsse, während Österreich hoch¬
herzig für den Bestand des Reiches eingetreten sei und keine Souderinteressen ver¬
folgt habe. Aus diesem Buche hat der Verfasser in der vorliegenden Schrift einen
Auszug veröffentlicht, um den Kern von dem, was er sagen wollte, einem größern
Publikum zugänglich zu machen. Wir finden denn auch hier dieselben Gedanken
im wesentlichen wieder, die schon beim Lesen des größern Werkes unsre Ver¬
wunderung erregten. Darnach war das deutsche Reich, wie es aus dem schmach¬
vollen Vertrag von Münster und Osnabrück hervorgegangen war, gut und trefflich
eingerichtet und einer heilsamen Weiterentwicklung fähig. An seinem geheiligten
Bestand zu rühren, war ein, Unrecht. Friedrich der Große that es freilich und
raubte den Österreichern Schlesien, während er doch mit einem Teile Schlesiens
oder Sachsens sich hätte abfinden lassen und die Dinge im Reiche in Eintracht
mit dem mächtigen ErzHause hätte in die Hand nehmen sollen. Über das Wie
macht sich Langwerth von Simmern keine Gedanken mehr. Er behandelt von
diesem Gesichtspunkte aus den unglückliche» ersten Koalitiouskrieg, der ihm ganz
besonders geeignet erscheint, Österreichs Verdienste zu rühmen und Preußens eigen¬
nützige Politik an den Pranger zu stellen. Warum der Verfasser alle die schon
oft gehörten und zum Teil mit recht guten Gründen widerlegten Anklagen gegen
den preußischen Staat von 1793 von neuem erhebt, legt er uns durch die Worte am
Ende noch einmal ausdrücklich dar. „Es ist, heißt es dort, die Überzeugung des
Schreibers, daß jene Periode ein Spiegelbild für diejenigen Dinge ist, deren Zeugen
wir seit 1859 gewesen find. Und es ist seine fernere Überzeugung, daß Preußen
dabei die Hauptschuld trifft, und daß es schon deshalb den cmnektirten Ländern
nicht erlaubt sein kann, die moralische Erbschaft dieses Preußens anzutreten."
Die eigentümliche Logik dieses Schlußsatzes läßt die Tendenz des Verfassers
deutlich erkennen, macht aber auch jedes nähere Eingehen auf das unfruchtbare
Buch überflüssig,
Ein Führer durch die französische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts
wird manchem willkommen sein; größere Werke wie Vapereaus vietionnalrö clss
doutsinM'Vils, die Liog'NPbie- universell« sind nicht nur schwer zugänglich, sie
können auch eine zusammenhängende und übersichtliche Darstellung des literarischen
Lebens dieser Periode natürlich nicht entbehrlich machen. Eine deutsche Verlags¬
handlung bietet in Antoines Apercus ein solches in französischer Sprache abge¬
faßtes knappes Büchlein, das wir nur empfehlen können. Lehnt es sich auch be¬
greiflicherweise an bekannte Hilfsmittel (eben Vapercan u, a,) mehrfach sogar
wörtlich an, so weiß es doch den Stoff nach den verschiedenen literarischen Gattungen
übersichtlich zu gruppiren, ohne darum das Bild einer vielseitige literarischen In¬
dividualität, wie etwa Victor Hugos, zu zerstückeln, zeugt dabei von eigner Belesen-
heit und selbständigem Urteil des Verfassers und ist uns in den Einzelheiten im
ganzen zuverlässig erschienen. Seinen Ausgangspunkt bei Frau von Staöl und
Chateaubriand nehmend, berücksichtigt es in aller Kürze anch Gebiete wie Pamphlet,
literarische Kritik, Beredtsamkeit, Journalistik, Philosophie und Gelehrsamkeit,
während es der Lyrik, der Geschichte, dem Drama und dem Roman breitern Raum
gewährt und die beiden erster» nebst der literarischen Kritik als die glänzendsten
Seiten der »enesten französischen Literatur hinstellt. Gleichsam zur Illustration hat
der Verfasser einen Anhang beigefügt, welcher eine geschickte Auswahl der schönsten
Gedichte des angegebnen Zeitraums enthält und in welchem auch manche bei uns
minder bekannten Namen vertreten sind. Aber auch auf andern Gebieten kann das
Büchlein zu eigner Lektüre anregend und anleitend wirken.
Gottfried Kinkels letzte, erst nach seinem Tode hervortretende poetische Gabe
ist ein kleines erzählendes Gedicht, das sich um seine beiden bekannten Erzählungen
in Versen „Otto der Schütz" und „Der Grobschmied von Antwerpen" glücklich
anreiht. Eine von jeher starke Neigung des Dichters zur Beschreibung tritt in
der Künstlergeschichte, welche die Entstehung einer hellenischen „Gewerbekunst" sinnig
und glücklich darstellt und verherrlicht, noch entschiedncr in den Vordergrund. Aber
die Bezeichnung Idyll mag es rechtfertigen, daß wir dem aus dem Kriege heim¬
kehrenden Bildner Praxias erst übers Meer, über die Berge und dnrch halb
Böotien folgen müssen, ehe ihn der Dichter in Tanagra wieder einziehen und sein
verlassenes Heim neu in Besitz nehmen läßt. Das kleine Abenteuer, das sich daran
schließt, und das Praxias in Helena gleich die Malerin finden läßt, die seineu
kleinen Genrebildern in Thon und Ghps buntes Leben verleihen kann, ist ebenso
wie die Wanderung des Heimkehrenden und der erste Eintritt in Tanagra in wohl¬
lautenden, leichtfließenden Versen erzählt. Einen tieferen Gehalt hat das Gedicht
nicht, aber im Vortrag der schlichten Erfindung zeigt sich lebendige Anschauung,
viel Anmut und namentlich sehr stiinmnngsvolle Verbindung der Landschafts¬
schilderung mit deu hnlbschlummcrnden, halb wachen Gefühlen des Bildhauers
Praxias. Die gewählte Form entspricht dem Inhalt und der wesentlich schildernden
Haltung des Idylls vortrefflich, der leichte Fluß, welcher die frühern poetischen
Erzählungen Kinkels auszeichnete, ist auch in „Tanagra" vorhanden. Alles in
allem darf diese letzte Gabe des vor kurzem heimgegangnen Dichters als ein seiner
würdiges Denkmal betrachtet werden. Es soll nie gering angeschlagen werden,
wenn ein Dichter sich auf der Höhe, die er in seinen besten Tagen erreicht hat,
auch im Alter behauptet.
Wunderlich berührt gegenüber diesem Idyll, welches die poetische Eigenart
Kinkels rein und deutlich darstellt und welches verrät, wie wenig das poetische
Naturell und die politische Richtung des verstorbnen Dichters miteinander gemein
hatten, das hochtrabende und unreife Pathos, welches jüngst in einer Reihe von Ge¬
dächtnisreden auf Kinkel zu Tage gefördert worden ist. Die Episode in seinem
Leben, in welcher der Freischärler, der Politische Agitator und Märtyrer momentan
den Poeten in den Hintergrund gedrängt hatte, eine Episode, die er selbst als ein
Stück Mannesschicksal in bewegter Zeit ansah, wird zur Hauptsache gemacht, und
man sollte denken, daß Kinkels Poesie an sie geknüpft sei. Enthielten schon seine
beiden Sammlungen „Gedichte" eine Widerlegung dieses Geredes, so erweist „Ta¬
nagra" vollends, wie weit in diesem Falle die innere Entwicklung des Mannes von
einer revolutionären Poesie ablag.
Von Herrn Dr. Schafter in Meiningen ist uns folgendes Schreiben zu¬
gegangen:
In der letzten Nummer der „Grenzboten" zitirt Herr Dr. A, Rosenberg
in seinem gegen die Broschüre von Carl Hoff „Künstler und Kunstschreiber" ge¬
richteten Artikel auch eine in derselben enthaltene mich betreffende Stelle. In
meiner dem öffentlichen Kunsttrciben schon seit Jahren fernliegenden Zurückgezogenheit
hatte ich von der Existenz der Hoffschen Schrift nur zufällig durch einen Aufsatz
des Redakteurs der in München erscheinenden „Wartburg" sowie durch einige Ar¬
tikel in der „Allgemeinen Zeitung" Kenntnis erhalten; der nähere Inhalt derselben
war mir aber, da er für mich nicht das geringste Interesse darbot, unbekannt ge¬
blieben. Wenn man, wie ich, sich dem Greisenalter nähert, dann verlieren alle
solche kleinlichen, meist auf persönliche Motive zurückzuführenden Streitereien
gegenüber dem substanziellen und Allgemeinen alle Bedeutung; ja man wappnet
sich selbst gegen die im Dunkeln schleichende Verleumdung zuletzt mit einer gewissen
Resignation, in der Hoffnung, daß schließlich die Wahrheit doch den Sieg erringen
werde, wenn man mich die Früchte desselben nicht mehr zu genießen vermag.
Daß ich trotzdem mich veranlaßt sehe, auf das Zitat des Herrn Dr. Rosen-
berg einiges zu erwiedern, hat seinen Grund lediglich darin, ein Mißverständnis
zu beseitigen, welches durch die von Herrn Dr. Rosenberg hinzugesetzten Worte,
er überlasse es mir, „mich mit Herrn Hoff auseinanderzusetzen," erregt werden
muß, das Mißverständnis nämlich, als ob Herr Hoff mit den Worten, die er dem
verstorbenen Leyte in den Mund legt: „Wenn es Ihnen Freude macht, so werde
ich Ihnen einmal etwas recht gutes (an tobender Kritik nämlich) besorgen," ge¬
rade mich gemeint hätte. An sich geht dies — obgleich die Worte an eine an¬
geblich „ungerechte Kritik" von mir anknüpfen — aus dem Zitat nicht hervor,
und es ist mir, trotz mancherlei bitterer Erfahrungen in dieser Hinsicht, denn doch
unmöglich, Herrn Hoff einer solchen, ihn entehrenden Gemeinheit ohne weiteres
für fähig zu halten. Er mag ein mittelmäßiger Maler und ein noch mittelmäßigerer
Schriftsteller sein; aber ihn für einen Verleumder solchen Kalibers zu halten, dazu
habe ich in der That keine Veranlassung. Worte eines nicht mehr Lebenden,
auf dessen Zeugnis also nicht reknrrirt werden kann, als Beweis für die Bestech¬
lichkeit eines ebenfalls nicht mehr Lebenden — denn Herr Hoff erweist mir
die bis jetzt unverdiente Ehre, mich als den „seligen Dr. Schafter" zu bezeichnen —
öffentlich auszusprechen (angenommen, jene Worte wären wirklich gesprochen worden
und keine Erfindung des Herrn Hoff), das geht denn doch soweit über die üblichen
Grenzen der moralischen Meuchelmörder« hinaus, daß ich mich, wie gesagt, nicht
dazu entschließen kann, dem Zitat jenen Sinn unterzulegen, welchen Herr Dr.
Rosenberg darin gefunden zu haben scheint.
Indem ich Ihnen anheimstelle, von dem Inhalt dieses Schreibens den
Ihnen geeignet scheinenden Gebrauch zu machen, zeichne ich mit vollkommenster
Hochachtung
le durch das Manifest des Prinzen Napoleon hervorgerufene
Parlaments- und Ministerkrisis ist zwar insofern beendigt, als
man ein neues Kabinet hat, aber noch läßt sich nicht mit Be¬
stimmtheit sagen, wie der Konflikt zwischen Senat und Deputirten-
kammer zu schlichten sein wird. Einen Augenblick konnte man
eine Verständigung hoffen. Es war, als die Kommission der Kammer, die zur
Vorberatung der Gesetzentwürfe in Betreff der Prätendenten gewählt worden
war, den vom Senat angenommenen Entwurf Waddingtons und Leon Says
einstimmig und ohne Diskussion abgelehnt, dann mit geringer Mehrheit auch
den Antrag Barbeys verworfen und schließlich den ersten Vorschlag Floquets
angenommen hatte, die Ausschüsse der drei Fraktionen aber, in welche die Linke
des Hauses zerfällt, der radikalen Linken, der demokratischen Union und der
republikanischen Union, unter Verwerfung des Floquetschen Antrags den Barbey-
schen gutgeheißen hatten, sodaß die Mehrheit der Deputirten mit der Mehrheit der
genannten Kommisston nicht übereinstimmte, sondern sich einem Vorschlage zuneigte,
der einen Kompromiß zwischen den beiden Kammern der französischen Gesetz¬
gebung zu ermöglichen schien. Das Plenum der Kammer beschloß demgemäß.
Es war dabei an den sehr natürlichen Wunsch des Abgeordnetenhauses zu denken,
die mehr oder minder strenge Fassung des in Rede stehenden Gesetzes nicht zu
einer Frage seiner eignen Existenz werden zu lassen; denn daß eine Auflösung
der Kammer für den Fall der NichtVerständigung mit dem Senate bevorstand,
schien kaum fraglich, und eine solche Maßregel würde die Schwierigkeiten der
Lage, die sich in den letzten Wochen entwickelt hat, wesentlich erhöht haben.
Eine Verständigung zwischen den beiden Körperschaften würde natürlich einem
für den Stolz und — die Börsen der Herren Volksboden so verdrießlichen Er-
gebnisse den Weg verlegt haben, und es war andrerseits unwahrscheinlich,
daß der Senat jetzt, wo er sein Ziel erreicht hatte, durch Nachgeben, soweit er
nach seinen Grundsätzen vermag, einen Vergleich zu erleichtern geneigt sein würde.
Vermutlich werden sich die streitenden Parteien, so sagte man sich, zuletzt
auf Grund des Barbeyschen Vorschlags einigen, gegen den nur eine Mehrheit
von sechzehn Senatoren gestimmt hatte. Dieser Plan, der nnr eine geringe
Veränderung des vom Kabinet entworfenen Gesetzes bedeutet, will die Verbannung
von Prätendenten kraft eines im Ministerrate zu beschließenden Dekrets, also
Verleihung von diskretionärer Befugnis an die Regierung, wogegen der Wad-
dington-Saysche Plan auf regelmüßiger gerichtlicher Verurteilung besteht, die der
Ausweisung eines gegen die Gesetze verstoßenden Prinzen vorausgehen müsse.
Hier einen Mittelweg zu finden, schien nicht leicht, aber auch nicht unmöglich
M sein. Bis jetzt ist er indeß nicht gefunden. Der Senat hat den Barbeyschen
Plan mit geringer Majorität abgelehnt.
Betrachten wir den Gang, den die Dinge in der letzten Woche in Paris
genommen haben, etwas näher. Der Senat nahm nach Ablehnung des Proskrip¬
tionsgesetzes, welches die Regierung mit der Deputirtenkcnnmer vereinbart hatte,
den Waddington-Sayschen Gesetzentwurf an. Derselbe vermied die Befugnis der
Regierung, nach Belieben durch Dekret zu verbannen, er schloß die Bestrafung
der orleanistischen Prinzen für Verbrechen, die von Häuptern der Bonapartisten
begangen worden, aus, was gegen das sittliche Gefühl vieler gemäßigten Re¬
publikaner verstieß, und er schlug vor, gesetzlich zu bestimmen, „daß jedes Glied
einer Familie, die über Frankreich regiert hat, wenn es öffentlich als Prätendent
auftritt oder sich einer Kundgebung schuldig macht, die geeignet ist, die Sicher¬
heit des Staates zu gefährden, durch Verbannung bestraft werden soll. Die
gedachte Person soll vor die Assisen oder vor den Senat, der sich zu dem Zwecke
in einen Gerichtshof zu verwandeln hat, zur Aburteilung gebracht werden."
So sollte die Schuld eiues Prätendenten nicht durch seine Gegner und Ver¬
folger, sondern durch ordentliche und unparteiische Untersuchung vor einem
Tribunal festgestellt werden, und das Fallenlassen der Anklage gegen den
Prinzen Napoleon sowie dessen Freigebung aus der Haft hat bewiesen, daß es
in Frankreich noch Richter giebt, die sich von politischer Leidenschaft nicht be¬
irren lassen und Gerechtigkeit üben, selbst wenn es sich dabei um einen Prinzen
handelt, der sehr unbeliebt und wenig geachtet ist. Es ist äußerst zweifelhaft,
ob selbst nach dem jetzt vorgeschlagenen Gesetze das Anschlagen oder die sonstige
Bekanntmachung eines Manifestes, wie das des Prinzen Jerome war, als
„Handlung eines Prätendenten" aufgefaßt werden könnte, während es eine geradezu
lächerliche Behauptung sein würde, zu sagen, es sei „eine Kundgebung, geeignet,
die Sicherheit des Staates zu gefährden." Das ärgste, was man davon sagen
könnte, wäre, es sei eine Schmähung der Republik, unterzeichnet von jemand,
der sich enthalten habe, seinen Familiennamen hinzuzufügen. Dann aber wäre
es doch kein Verstoß gegen das französische Gesetz, unter ein Dokument nur
seinen Taufnamen zu setzen, wie man dies bei Briefen an Verwandte und Freunde
zu thun pflegt. Die bloße Unterschrift „Napoleon" schließt so wenig das Ver¬
brechen des Hochverrats in sich, als die unter einen Brief gesetzten Namen
„Adolphe" oder „Leon" bewiese» haben würden, daß Thiers oder Gambetta
sich mit der Hoffnung getragen hätten, einmal den Thron Frankreichs zu
besteigen.
Wir sind der Meinung, daß es eine noblere Politik gewesen wäre, wen»
die gemäßigten Republikaner dem Hindrängen der Radikalen auf persönliche
Proskription nicht nachgegeben hätten. Indeß mag es vom politischen Stand¬
punkt aus betrachtet klüger erscheinen, der äußersten Linken nicht zu gestatten,
das; sie sich ein Aktionsgebict wählt, das ihr große Vorteile darbietet. Die fort-
geschrittnen Politiker in Frankreich nehmen den Standpunkt nicht ein, auf dem
unsre meisten Liberalen der persönlichen Freiheit, der politischen Gerechtigkeit
und der gesetzlichen Gleichheit gegenüberstehen. In mehereren Sprachen
kommt das Sprichwort vor: In Liebessachen und Krieg sind alle Mittel recht,
die Franzosen aber fügen hinzu: auch in der Politik, und darnach Verfahren sie.
Wenn eine Dynastie untergraben, ein Ministerium angegriffen, eine Partei dis-
treditirt, eine hervorragende Persönlichkeit verhaßt gemacht werden soll, halten
sie vor keiner Verleumdung still, greifen sie nach jedem Geschoß und nehmen
sie Verbündete aller Art an — beiläufig wie unsre Fortschrittsleute von der
Sorte Richters. Die Führer des linken Zentrums wollen zwar für ihre Person
nichts von den Verfolgungsthcorien der Radikalen wissen, müssen aber an die
Mehrzahl in ihrer Wühlerschaft denken, wo man die Prinzen des Hanfes Or¬
leans mit Übelwollen und Mißtrauen betrachtet. Ihr Reichtum erweckt Neid,
ihre stille und wenig anspruchsvolle Lebensweise giebt dem Demagogentum An¬
stoß, und ihre allen abenteuerlichen Unternehmungen fremde Vergangenheit flößt
eine Art von Geringschätzung ein. Sie haben weder große Tugenden noch
Laster, sie erfüllen weder mit Bewunderung noch mit Begeisterung, mir mit
kalter Abneigung. Seit ihrer Rückkehr nach Frankreich haben sie sich wachsam
und rührig bemüht, den Wind mit ihren Segeln zu fangen, aber ihre politische
Navigationsknnst hat nur den Erfolg gehabt, den historischen Eindruck, den
Ludwig Philipp hinterließ, zu vertiefen. Niemals waren sie aufrichtige Roya-
listen, niemals ehrliche Republikaner. Als die »ach dem Kriege gewählte Na¬
tionalversammlung eine monarchisch gesinnte Mehrheit zeigte, verschafften sich
die Prinzen im Widersprüche mit Thiers vermittelst eines Handelsgeschäfts ein
Votum, das ihnen ihre Güter und ihren militärischen Rang zurückgab. Der
Preis dafür war der Besuch des Grafen von Paris in Frohsdorf, wo er prak¬
tisch für den „Hochverrat" seines Großvaters Buße that und der dreifarbigen
Fahne entsagte. Aber ein Glied der interessanten Familie, der Herzog von
Anmale, that nicht mit, er weigerte sich, die Wallfahrt zum „Roy" anzutreten
und bezeugte öffentlich seine Achtung vor den nationalen Farbe». Es war wie
mit gewissen liberalen Kronprinzen, welche mit der liberalen Opposition gegen
die Regierung des konservativen Königs liebäugeln: alle Parteien sollen durch
die Dynastie beachtet, befriedigt und gewonnen werden. Seit jener Zeit haben
die Prinzen sich zuwartend verhalten. Faßte die Republik feste Wurzel und
blieb sie konservativ, so konnten sie hohe Stellen in Anspruch nehmen; kam das
Königtum wieder empor, so konnte man ihnen ihren Platz am Hofe nicht be¬
stricken. Das war vielleicht recht politisch gedacht, und eine kluge und starke
Regierung würde diese vorsichtigen, uach allen Möglichkeiten hinschielenden Herren
mit Lächeln betrachten können, aber abgesehen von einem kleinen Kreise alter
Bekannten fühlte es niemand sehr, als sie jetzt mit Absetzung und Ausweisung
bedroht wurden. Man war allgemein überzeugt, daß sie sich recht wohl selbst
zu helfen wissen, und selbst die Gegner der neuen Verbannung traten in ihren
Reden nur platonisch auf. Wenn sie daher das linke Zentrum mit seinem
Schilde hätte decken wollen, so würde das von ernstlichem Nachteile für die
konservative Republik sein. Unter den unwissenden Radikalen der großen Städte
und ebenso in einigen demokratisirten Landkreisen würden selbst Männer, die
der Republik so eifrig ergeben sind wie Clemenceau, als Genossen einer Ver¬
schwörung zur Wiederherstellung des Königtums gebrandmarkt worden sein,
wenn sie sich der orlcanistischen Prinzen angenommen hätten, und selbst Poli¬
tiker, die an eine so abgeschmackte Beschuldigung nicht geglaubt hätten, würden
sie aus Parteigründeu weitergctragen haben. Jeder kaltgestellte gemäßigte Re¬
publikaner hat eben für einen fortgeschritteneren Platz gemacht und ihm Aus¬
sicht auf ein Amt wenigstens für ein paar Wochen eröffnet. Das ist das Ziel
des Ehrgeizes bei der großen Mehrzahl der Deputirten. In der Politik wie
im Kriege wird ein guter General die Schlacht womöglich so lange vermeiden,
bis er ein günstiges Terrain dazu findet. Die Verteidigung der Prinzen wäre,
obwohl sie zugleich die Verteidigung des Prinzips strenger Gerechtigkeit und
gleichen Rechts für alle gewesen wäre, ohne Zweifel das ungeeignetste Terrain
gewesen, das die gemäßigten Republikaner hätten wühlen können. Wenn die
jetzige Verwirrung vorüber sein wird, werden sich andre Gelegenheiten finden.
Eines Tages werden die Radikalen, nachdem sie Blut geschmeckt haben, mit dem
Senat Streit über irgend einen Vorschlag anfangen, der auf Wiederbelebung
des Jakobinertums von 1793 hinausläuft. Dann kann ein Ministerium von
gemäßigten Männern gelassen zu Frankreich sagen: Wähle zwischen uns und
der äußersten Linken. Entscheide dich für eine Republik stark und sicher, weil
klug und kaltblütig, oder eine Republik, welche den alten Kampf gegen Religion,
Eigentum und persönliche Sicherheit wieder entzündet, der Frankreich sechs Jahre
hindurch verwüstete und schwächte, der mit der Schreckensherrschaft begann und
unausbleiblich mit dem 18. Brumaire endigen mußte. Ein so befragtes Frank¬
reich wird frei wählen können und keinen Sprung ins Dunkle und Bodenlose
hinein thun, und der Ausgang der Sache wird nicht in Verwirrung gebracht
werden durch die Verbindung ehrlicher und maßvoller Republikaner mit Prinzen,
die wenig Freunde zählen.
Kommt es jetzt noch zu einer Verständigung der Mehrheit in der Deputirten-
kammer mit derjenigen im Senate, so wird das als ein hoffnungsvolles Zeichen
für die nächste Zukunft Frankreichs zu betrachten sein. Es würde aussehen, als
ob sich die Hinneigung zu Kompromissen, die das leitende Prinzip bei aller
praktischen Politik ist und die bei den Franzosen der Gegenwart schon mehrmals
hervortrat, weiter entwickelt hätte. Nachdem man vor einiger Zeit beschlossen
hatte, die Richterstcllen dnrch Volkswahl zu besetzen, zog die Kammer diesen
Beschluß noch einmal in Betracht und verwarf ihn daraufhin. Die zwangs¬
weise Abschaffung aller Eide vor Gerichtshöfen wäre ebenfalls einmal beinahe
durchgegangen, aber zuletzt trat eine Reaktion des gesunden Menschenverstandes
gegen die Maßregel ein, nud mau beschloß, daß die Anrufung des Namens
Gottes von feiten eines Zeugen von den Weltkindern, die das Land regieren,
weiter geduldet werden könne. Auch die jetzige Krisis hat mehrere Vermittler
und verschiedene Mittelwege von dem Fabreschen Antrage, der ein Kompromiß
zwischen den Vorschlägen der Regierung und Floqnets war, bis zudem Waddington-
Sayschcn und dem Barbeyschen hervortreten lassen.
Und nunmehr ein paar Worte über die jetzt beendigte Ministerkrisis und
das neue Kabinet. Seit Duclerc, General Billot und Admiral Jaureguiberry
zurückgetreten sind, bestand das Kabinet nur als Torso fort, denn die wichtigsten
Glieder fehlten. Böswillige Kritiker sollen gemeint haben, daß Frankreich ohne
alle Minister ungefähr so gut verkommen könne als mit Ministern. Das ist
indeß nicht ganz richtig; denn obwohl der bisherige Stand der Dinge den
Vorteil hatte, daß ein Departement, das ohne Minister war, sich vor den Mi߬
griffen gesichert sah, die sonst begangen werden konnten, so war es doch bis¬
weilen verdrießlich für einen hohen Beamten, zum Exempel für einen Gesandten
oder Botschafter, im Auswärtigen Amte niemand als den Portier oder den
Botenmeister anzutreffen. Ernsthaft gesprochen aber machte es, als Fallieres am
Morgen des 13. Februar den Rücktritt des Kabinets verkündigte, nur wenig
Eindruck. Niemand war überrascht oder betroffen von der Neuigkeit. Nur
darüber konnte man sich einigermaßen wundern, daß der scheidende Premier es
für notwendig hielt, sein Abschiedsgesuch doppelt zu begründen, mit der Ver¬
werfung der Regierungsvorlage im Senat und mit dem üblen Stande seiner
Gesundheit. Jeder von beiden Gründen würde genügt haben, aber der zweite
schwächte offenbar die Kraft des ersten ab. Natürlich ersuchte der Präsident Grevh
die Minister, einstweilen die Geschäfte fortzuführen, bis er Ersatz für sie gefunden
habe. Jetzt ist das geschehen, indem Ferry ein neues Kabinet gebildet hat.
Das Vorleben des neuen Premierministers bezeichnet ihn als den Mann,
den sich die radikalen Republikaner für die jetzige Lage der Dinge wünschen.
Nachdem sie Ausnahmegesetze gegen die Prinzen nicht durchzusetzen vermocht
haben, wolle» sie durch Dekrete der Regierung zum Ziele gelangen, wie vor
drei Jahren, wo Jules Ferry das Werkzeug war, mit dem die Ausweisung
der „nicht autorisirten" religiösen Gesellschaften durchgeführt wurde. Da sich
unter diesen harmlose und sehr nützliche Leute befanden, so verwarf der Senat
die Klausel des betreffenden Gesetzentwurfes, den Artikel 7. Darauf entschloß
sich das Ministerium zu sofortiger Austreibung der sehr unbeliebten Jesuiten.
Aber Freycinet, damals an der Spitze des Kabinets, dachte an eine Ver¬
ständigung mit dem Papste wegen der übrigen Orden und Kongregationen, und
dies versetzte die von Gambettn am Drahte gelenkten Radikalen in Zorn.
Freycinet fiel, und Ferrh wurde sein Nachfolger. Unter seiner Leitung begann
der bekannte Krieg gegen die Ordenshänser und die religiösen Embleme in den
Schulen, der zu sehr widerwärtigen Auftritten führte, in dem es wiederholt
vorkam, daß während der Schulstunden Arbeiter mit Leitern, Äxten und Hämmern
in die Klassenzimmer drangen und die dort angebrachten Kruzifixe wegrissen
und entfernten. Durch dieses Verfahren erwarb sich Ferry bei der äußersten
Linken eine gewisse Beliebtheit. Er erfand ferner die Krumirs, zwang dem
Bei von Tunis den Bardvvcrtrag auf und vollzog die praktische Einverleibung
des Landes. In der innern Politik versuchte er, als Gambetta das Listeu-
skrutiuinm in der Kammer durchsetzte, eiuen Mittelweg einzuschlagen. Er war
bereit, als jenes im Senate durchfiel, sich darein zu fügen und sich der „Re¬
vision" der Verfassung zu widersetzen, die damals das Kriegsgeschrei der Ra¬
dikalen war und Abschaffung des Senates bedeutete. Indeß hoben die neuen
Wahlen Gambetta auf die höchste Stufe seiner Macht, und Ferry trat zurück,
um dem Exdiktator am Staatsruder Platz zu machen. Man wird hieraus er¬
sehen, daß Jules Ferry eine aggressive Politik sowohl zu Hause als auswärts
vertritt; er ist ebenso bereit, die Jesuiten zu bekämpfen als die Krumirs.
Erfüllt das neue Kabinet den Wunsch der Radikalen durch Ausweisung
des Prinzen Napoleon und Entfernung der vrleanistischen Prinzen aus der
Armee, so wird es sich für einige Zeit die Unterstützung einer Kammermehrheit
sichern, die ans Gambettistcn und der Linken besteht. Die Deputirtenkammer
zählt 532 Mitglieder, von denen indeß selten mehr als 600 anwesend sind.
Den beiden linken Flügeln mögen zusammen etwa hundert und den beiden rechten
etwa ebensoviel Abgeordnete angehören, sodaß circa 300 auf das Zentrum
kommen. Jahrelang ist es der Traum der konservativen Republikaner gewesen,
die beiden Zentren zu verschmelzen und so den Anarchisten auf der einen und
den Monarchisten auf der andern Seite in wohlverschanzter Stellung Trotz zu
bieten. Das hat sich indeß bisher als unmöglich erwiesen. Gambetta konnte
sich nie entschließen, mit den Republikanern vom Typus Jules Simons gemein¬
schaftliche Sache zu machen, und ebenso zögerte er, mit der Partei Clemencecm
auf deren Bedingungen hin ein Bündnis zu schließen. Er wollte sich zwischen
zwei Stühle setzen und fiel darüber natürlich zu Boden. Das Kabinet Ferry
ist augenscheinlich eine Rekonstruktion des Ministeriums Gambetta, jedoch mit
einiger Zuthat von der Linken. Es nähert sich den Ideen Clemenceaus der¬
maßen, daß eine Umbildung, welche diesen und Flvquet einschlösse, keineswegs
unmöglich ist.
Zum Schlüsse noch einen kurzen Blick auf den Urheber der ganzen uner¬
freulichen Krisis. Begleitet von seinem jungem Sohne, hat der Prinz Napoleon
Paris bald nach seiner Freigebung verlassen, um nach England abzureisen und
der Kaiserin Eugenie einen demonstrativen Bestich abzustatten. Das LussrgZö
IInivorsÄ, ein Organ der Imperialisten, bringt die Nachricht, der Prinz gedenke
binnen kurzem seinen Wohnsitz nach Brüssel zu verlegen, wo jeden Sonntag
nnter seinem Vorsitz ein großer Rat, zusammengesetzt aus bonapartistischen
Senatoren, Deputaten und andern Politikern, sich versammeln und die Interessen
der Partei erörtern solle. Rouher wird sich der Reorganisation der Partei
in Paris persönlich widmen. In der Hauptstadt werden mehrere neue Blätter
gegründet werden, und in den Provinzen wird man eine Anzahl bonapartistischer
Komitees einrichten. Diese erneute Rührigkeit ist das natürliche Ergebnis des
groben Mißgriffes, den das Kabinet Duelere mit der Verhaftung des Prinzen
Napoleon beging, welcher in dieser Angelegenheit nicht ohne Geschick und Mut
handelte.
ehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, seitdem nach beispiellosen
Siegen über einen äußern Feind Kaiser Wilhelm dnrch die Wahl
der deutscheu Fürsten, die sich seiner Größe willig fügten, an die
Spitze des deutschen Volkes trat und die Gegenwart desselben
durch diesen bedeutungsvollen Akt wiederum mit seiner großen
Vergangenheit verband, in welcher „Kaiser und Reich" in der Welt die erste
Stelle einnahmen. Kaiser und Reich! Wer dächte, wenn er diese Worte hört,
nicht zurück an die Glanzzeit der mittelalterlichen Geschichte, an die Zeit des
erhabenen Geschlechts der Hohenstaufen! Wer dächte aber auch nicht daran, daß
dieses edle Geschlecht, dessen erste Glieder nahe daran waren, eine Erbmonarchie
zu gründen und dem Jammer der Königswahlen ein Ende zu machen, also schon
damals zu erreichen, was nun mit unserm Kaiser eingetreten ist, im Kampfe
mit dem Papsttum zu Grunde gegangen ist! Bis zum Jahre 1198 leuchtete
sein Stern in ungetrübtem Glänze, und des Reiches Macht und Ansehen hob
sich wie nie zuvor. Aber mit diesem Jahre begann der Niedergang. Zwei
Ereignisse sind es. welche den Wandel bewirkten, der Tod Heinrichs VI. in
der Blüte seiner Jahre und die Besteigung des päpstlichen Stuhles durch Inno-
cenz III. Das letztere, folgenschwere Ereignis hat nicht bloß seine Bedeutung
für den Niedergang des Geschlechtes der Hohenstaufen, sondern auch für den
des Reiches. Innocenz III. verstand es, die Macht des Papsttums hoch empor
zu heben über die weltliche Macht, indem er alle Momente, die erstere zu fördern
imstande waren, rücksichtslos benutzte. Heute hören wir wiederum viel von
Verhandlungen des Papstes mit dem wiedererstandenen deutschen Reiche, welche
den Streitigkeiten, die zugleich mit der Gründung des Reiches eintraten, ein
Ende machen sollen. Es möchte daher nicht unangemessen sein, den genannten
Papst in seinem Verhältnisse zum deutschen Reiche etwas näher zu betrachten.
Innocenz III., vor seiner Erhebung Kardinal Lothar genannt, war noch
sehr jung, als er im Anfang des Jahres 1198 etwa drei Monate nach dem Tode
Heinrichs VI., dem Sohne Barbarossas, den das Schicksal in seinem blühendsten
Alter mitten aus seinen große» Entwürfen hinwegraffte, zum Papste erhoben
wurde; er stand in dem für einen Papst beispiellos jugendlichen Alter von
siebenunddreißig Jahren, sodaß er vielen zu jung schien, um die Angelegenheiten
der Christenheit zu lenken. Trotz seiner Jugend war er aber ein Mann von
sehr ernster, man könnte sagen trauriger und hoffnungsloser Lebensansicht. .„Der
Mensch, sagt er, ist elend von Mutterleibe an. Er möchte gern seinen Geist
erheben, aber er wird niedergedrückt und beschränkt durch den Körper, und
seine anmaßliche Weisheit hat ihn nicht einmal dahingebracht, seine Unwissenheit
einzusehen. Die Menschen Plagen sich, Schätze zu gewinnen, Ehren zu erjagen,
Macht zu erhöhen, und doch ist dies nur eitle Mühe und tötende Betrübnis."
Und an einer andern Stelle: „Daß die Bösen leiden, scheint gerecht und natürlich,
aber geht es den Guten und Heiligen besser? Hier ist ihr Gefängnis, nicht
ihre Heimat und ihr Glück. Alles steht sich feindlich entgegen: der Geist und
das Fleisch, der Teufel und die Reinen, die Menschen und die Tiere, die Ele¬
mente, die Reiche, die Völker! Zeigt sich auch einmal Friede und Freude, so
ist beides nur kurz und durch innere Mängel oder äußeren Neid und Gewalt
getrübt. Desto häufiger, unerwarteter, dauernder tritt der Schmerz hervor,
und der überall nahe Tod umgiebt das ganze Geschlecht. Denkst du im Schlafe
Ruhe zu finden, so schrecken dich die finstern Träume, oder die heitern täuschen
dich schmerzhaft beim Erwachen. Durch alle Verhältnisse, durch alle Rich¬
tungen menschlicher Thätigkeit, durch alle Begierden, Leidenschaften, Irrtümer
und Laster hindurch ist nichts als Elend bis zum Tode, ja darüber Hittaus, im
Fegefeuer, in der Hölle, bis zum jüngste» Gericht" Ist es nicht, als spräche
sich i» diese» Zeilen der modernste Pessimismus aus? Sollten wir nicht den
Schluß erwarte», daß es besser wäre, überhaupt »icht geboren zu sein? Für
uns wäre dieser Gedanke gewiß der nächste, jener Zeit war ein andrer angemessen.
„Da der Jammer so groß ist — folgert Innocenz weiter —, so muß alles
seine Zuflucht zum Papste nehmen. Er ist der Statthalter Gottes auf Erden
und vermag Trost und Erleichterung zu verschaffen. Dieser eine Beruf ist hoch
und erhaben. Die weltlichen Könige können sich mit ihm garnicht vergleichen.
Sie sind die Planeten, welche von der Sonne des Papsttums Licht und Wärme
erhalten."
Mit dieser hohen Meinung von seiner Stellung bestieg Innocenz den Papst¬
lichen Stuhl. Er war in sich zu voller Klarheit gekommen und hatte den
Willen und die Kraft, nach seinen nach reiflicher Überlegung gefaßten Grund¬
sätzen zu handeln. Hätte er noch Heinrich VI. in der Fülle seiner Macht auf
dem Kaiserthrone vorgefunden, vielleicht hätte er sich nicht so rücksichtslos über
die päpstliche Allgewalt ausgesprochen, vielleicht hätte er sich auch nicht so hoch
gestellt. Aber die Umstände, welche dem päpstlichen Stuhle so oft günstig ge¬
wesen sind — man denke an Gregor VII., dessen rücksichtslose Kühnheit durch
die unseligen Verhältnisse unterstützt wurde, in welche der Wankelmut Hein¬
richs IV. und das unpatriotische Gebahren der Fürsten das Reich gebracht
hatten —, kamen Innocenz auf wunderbare Weise zu Hilfe. Als der sterbenden
Hand Heinrichs VI. die bis dahin straff angezogenen Zügel der Regierung ent¬
glitten waren, war dessen Söhnlein Friedrich, der ans Betrieb seines Vaters
gewählte König, drei Jahre alt. Die Fürsten und Herren hatten ihn gewählt,
weil sie Heinrich nicht zu widerstreben wagten, obwohl sie sich vor der Erb¬
monarchie wie vor einem Gespenst fürchteten. Jetzt, nach Heinrichs Tode, at¬
meten sie auf und wollten nun von ihrem gewählten Könige, einem Kinde, und
einer vormundschaftlichen Regierung nichts wissen. Des Kindes Oheim Philipp,
der jüngste Sohn Barbarossas, nahm die Krone für sich in Anspruch, da er
sie dem Neffen nicht erhalten konnte. Er brachte es aber nicht zu einer all¬
gemeinen Wahl. Ihm entgegen wurde der Welfe Otto, der jüngste Sohn Hein¬
richs des Löwen, zum Könige gewählt, sodaß es nun gleichzeitig drei gewählte
deutsche Könige gab. Da jedoch von Friedrich, der unterdessen nach dem Tode seiner
Mutter Constanze unter des Papstes Vormundschaft gekommen war, zunächst
nicht mehr die Rede war, so standen sich Philipp und Otto gegenüber und
riefen nun die Entscheidung des Papstes an.
Man vergegenwärtige sich den Verlauf der Ereignisse zu der Zeit, als Inno¬
cenz zum Papste gewählt wurde. Am 8. Januar 1198 gab es eigentlich keinen
König. Philipp wurde am 5. März, am 1. Mai Otto gewählt. Innocenz
hatte gewissermaßen die herrenlose Krone an sich genommen und trat fast un¬
bestritten als die höchste geistliche und weltliche Autorität auf. Diese erkannten
die beiden Könige auch an, indem jeder von ihnen des Papstes Entscheidung
in seine Wagschale zu legen versuchte. Wie mußte er sich in seiner päpstlichen
Allgewalt fühlen! Aus Abneigung und Besorgnis vor der Macht und Ge¬
sinnung der Hohenstaufen neigte er mehr zu Otto, entschied sich aber zunächst für
keinen. Wie er sich zu den beiden Königen und der weltlichen Macht überhaupt
stellte, sehen wir am besten aus der Antwort, die er den Gesandten Philipps
gab. „Im ersten Buche Mose lesen wir, daß Melchisedek König war und Priester;
König jedoch nur einer Stadt, Priester dagegen der Gottheit. Die Priester
nahmen den Zehnten und gaben ihn nicht; sie weihten, wurden aber nicht ge¬
weiht; sie halbem, wurden aber nicht gesalbt: darum stehen sie höher als die,
welche den Zehnten geben, welche gesalbt und geweiht werde». Noch deutlicher
erklärt sich das Evangelium: auf Petrus, diesen Felsen, hat Christus seine
Kirche gegründet, ihm das Recht gegeben, auf Erde» zu lösen und zu binden.
Mithin haben die Fürsten nur Gewalt auf Erden, die Priester auch im Himmel,
jene mir über den Leib, diese auch über die Seele, jene über einzelne Land¬
schaften und Reiche, der Papst, als Stellvertreter Christi, über den Erdkreis."
Was speziell die Doppelwahl angeht, so sagt er: „Zur Abstellung so großer
Übel hätte man sich schon längst an den apostolischen Stuhl wenden sollen,
vor den diese Angelegenheit bekanntlich zuerst und zuletzt gehört: zuerst, weil
der Papst das Kaisertum vom Morgenland auf das Abendland übertrug; zu¬
letzt, weil er durch Bewilligung der Kaiserkrone allem erst Schluß und Haltung
giebt." Diese Antwort wurde im Jahre 1199 gegeben.
In Deutschland gewann in den folgenden Jahren die hohenstaufische Partei
die Oberhand. Trotz der offenbaren Unterstützung des Papstes der nicht bloß aus
allgemeiner Vorliebe für die Welsen handelte, sondern auch durch größere Fügsam¬
keit Ottos gewonnen wurde, verlor dieser immer mehr an Ansehen und würde sicher¬
lich der stetig wachsenden Macht des Gegners unterlegen sein, wenn nicht Philipp
im Juni des Jahres 1208 von Otto von Wittelsbach ermordet worden wäre.
Durch diesen für die hohenstaufische Partei unersetzlichen Verlust bekam mit
einemmale Otto die Oberhand in Deutschland. Der Papst war über die
„Fügung Gottes," die seinen Günstling so augenscheinlich hob, in hohem Maße
erfreut und stellte sich mit seinem ganzen Gewicht auf dessen Seite, versprach
ihm auch die Kaiserkrone, indem er sich freilich auch Versprechungen dagegen
machen ließ, die sich sehr wenig mit der kaiserlichen Würde vertrugen. Im
Jahre 1209 wurde denn auch Otto zum Kaiser gekrönt, da das gute Einver¬
nehmen bis dahin unausgesetzt bestanden hatte. Merkwürdig aber war es,
welche Veränderung mit Otto vorging, als er das Ziel seiner Wünsche erreicht
hatte. Er, der einzig und allein im Interesse der Kirche seine kaiserliche Macht
gebrauchen zu wollen schien, schlug vollständig ins Gegenteil um. Dem Kaiser¬
tum« zurückzugewinnen, was ihm verloren gegangen, das wurde das Ziel seines
Strebens, und da die Kirche das meiste an sich gezogen hatte, so trat er gegen
diese feindselig auf. Der Papst sah sich gröblich getäuscht und erklärte den
Kaiser einfach für wortbrüchig, was er ja auch war; aber der Papst hatte sich
beschwören lassen, was ein Kaiser nicht halten konnte. Es zeigte sich einmal
wieder, daß der Zwang der Verhältnisse mehr wirkt als eidliche Versprechungen,
welche der Natur der Dinge entgegenlaufen. Auf die Vorwürfe des Papstes
erklärte der Kaiser, er habe auch geschworen, die Würde des Reiches zu wahren,
worauf ihm der Papst, seinen Grundsätzen getreu, schrieb: „Die Kirche hat dich
erhaben! Vergiß, der geistlichen Macht widerstrebend, des Dankes, vergiß aber
Nebnkadnezars nicht, der seiner weltlichen Macht übermütig vertraute, dafür
aber ans einem Menschen in einen Ochsen verwandelt ward und Hen fraß wie
ein Tier,"
Otto, dem seine kaiserliche Würde seine Handlungsweise vorschrieb und der
von deu Erfolge» seiner Politik in Italien gehoben wurde, konnte nicht wieder
in die Unterwürfigkeit des Papstes zurückgeschoben werden. Der Papst mußte
den schweren Schritt, vielleicht den schwersten seines Lebens thun, das ungefügige
Werkzeug, das er sich mit vieler Mühe bereitet hatte, zu verwerfen und zu ver¬
nichten. Er bannte den Kaiser und entband seine Unterthanen von dem Eide
der Treue, Noch mehr, er, der an Gottes Stelle die Welt zu beherrschen
meinte, mußte sich in seiner Not — Ironie des Schicksals! — an das Ge¬
schlecht der Hohenstaufen anklammern, dessen Übermacht und dessen der Kirche
so feindselige Grundsätze er bis dahin bekämpfen zu müssen geglaubt hatte.
Als sich infolge des Bannes die Widersacher in Deutschland regten, ging der
junge Friedrich, von dem Papste überredet und unterstützt, aus seinen Erb¬
länder Neapel und Sizilien nach Deutschland, wo er nur mit wenigen Be¬
gleitern ankam — sechzig sollen es gewesen sein, mit denen er von der Höhe
der Alpen nach Deutschland hinunterzog —, aber ihre Zahl wuchs lawinenartig,
sodaß ihm im Dezember 1212 in Mainz und im Januar 1213 in Frankfurt
von aller Welt gehuldigt wurde. Otto mußte erfahren, daß einer nicht un¬
gestraft die Leiter zurückstößt, an welcher er die Höhe erklommen hat. Er
mußte sich in seine Erdtaube zurückziehe». Hier hätte er noch lange seinem
Gegner, den Ottos Anhänger „Pfaffenkönig" schalten, furchtbar bleiben können,
Wenn er nicht in einen Krieg mit Frankreich verwickelt worden wäre. Bei
Vvvincs besiegt, brachte er seine kaiserliche Majestät gänzlich in Mißkredit. Er
war politisch tot, als Friedrich am 25. Juli 1215 in Aachen feierlich ge¬
krönt wurde.
Der neue König versprach, wen» er die Kaiserkrone erhielte, seine Erd¬
taube Neapel »»d Sizilie» an seinen ältesten Sohn abzutreten und im übrigen
dem päpstliche» Stuhle, der ihn erhoben, gefällig und gehorsam zu sein, anch
Innocenz' Lieblingswunsch auszuführen und einen Kreuzzug zu unternehmen.
Innocenz aber vermochte es nicht mehr, seinem Schützling die Kaiserkrone auf
das jugendliche Haupt zu setzen. Es blieb ihm erspart, auch an diesem Schütz¬
ling die Erfahrung zu machen, daß es einem Kaiser unmöglich war, die Wege
des Papstes zu wandeln. Ein plötzlicher Tod ereilte ihn und riß ihn hinweg
von dem Höhepunkte seiner Macht, milde» aus seinen Entwürfen. Er starb im
Jahre 1216 im 55. Jahre seines thatenreichen Lebens.
Überschauen wir die politische Thätigkeit dieses Papstes, so bemerken wir
ein außerordentliches Mißverhältnis zwischen der durchaus idealen, großartigen
Auffassung seines Berufes und zwischen den sehr realen Mitteln, die er aller¬
orten anwendete und anwenden mußte. Er klammerte sich kiihn an den Himmel
an, bereitete sich aber auf der Erde die Stützen, die ihn am Herabfallen ver¬
hindern sollten. Die so sehr verachtete weltliche Macht mußte diese Stützen
bilden. Er bediente sich ihrer zur Wahrung seiner päpstlichen Allgewalt. Die
weltliche Macht war freilich auch nicht so beschaffen, daß sie ganz auf eignen
Füßen stehen konnte — die priesterliche, welche damals fast ausschließlich die
Intelligenz vertrat, leitete sie überall —, aber trotzdem mußte Innocenz erfahren,
daß sie sich immer wieder neben ihm emporrcmg und über ihn hinausstreben.
Sie beanspruchte nach altem Recht die Erde und verwies die päpstliche auf den
Himmel. Und doch hatte auch diese ihren Wirkungskreis ans der Erde, wo sie
ohne die weltliche nichts ausrichten konnte. Selbst der Bann, das von Gott
selbst verliehene Mittel der päpstlichen Allgewalt, war auf dieser Erde wirkungslos
ohne die weltliche Macht. In dieser hatten Papst und Kaiser ihre Stütze, in
ihr berührten sich Himmel und Erde.
Wie es in Deutschland damals aussah, in Deutschland, das eigentlich nichts
weiter war als der Tummelplatz päpstlicher Intriguen, das beweist uns der all¬
gemeine Glaube jener Zeit, daß der Weltuntergang nahe sei. „Der Sohn er¬
hebt sich gegen den Vater, der Bruder gegen den Bruder, die Geistlichen sind
voll von Lug und Trug." So klagt Walther von der Bogelweide, und an
einer andern Stelle:
Untriu^of ist in äsr SW«,
Hoviüt port ut äsr sti-ZM,
?M umso i-sein 8int sol-s wiuit.
Heute gehöre» wir nicht mehr dem Papste an; wie unser Kaiser so schön es aus¬
gesprochen: vor mehr als dreihundert Jahren sind wir frei geworden, aber diese
Freiheit müsse» wir für die Zukunft behaupten. Kann auch die päpstliche Gewalt
keine Wogen mehr erregen, die das deutsche Volk überfluten, so haben wir doch
allen Grund, vorsichtig zu sein. Ist das deutsche Reich durch siegreiche Kraft
wie durch weise Besonnenheit gegründet worden, ist es unter den Völkern wieder
zu der Ehre und Macht gelangt, die ihm gebührt, so wird es wohl auch
glücklich durch die Klippen und Untiefen hindurchsteuern, welche den Weg, der zum
kirchlichen Frieden führt, allerorten umgeben. nachgerade muß auch die geistliche
Negierung sich die Frage vorlegen, ob sie bei dem jetzigen Zustande des Reiches,
das denn doch ans festerer Grundlage ruht, als sie offenbar geglaubt hat, nicht
besser thäte, den: Kaiser zuzuerkennen, was des Kaisers ist, und damit dem
Reiche den Frieden zu geben, der ihm zu seiner ungehemmten innern Entwick¬
lung noch fehlt.
eis sind wir Deutschen doch für el» beneidenswertes Volk! Da
haben wir nun glücklich den dritten Kommentar zu Goethes Ge¬
dichten, und der Goethcfrennd, der in seinen Mußestunden die
alten Lieblinge wieder in seiner Seele auffrischen will, wird von nun
an mit vier Büchern zu Hantiren daheim in die Mitte vor sich hin
wird er den Text legen — da es eine wahrhaft schöne, Herz und Augen er¬
freuende Ausgabe nicht giebt, in der am wenigsten armseligen, die er besitzt—;
an die linke Seite wird der betreffende Band des Viehvffschen, obenhin
der zugehörige Band des Dnntzerschen Kommentars zu liegen kommen; die
rechte Seite aber wird von nun an der neue Locpersche Kommentar einnehmen,
dessen erster Teil in Form von „Anmerkungen" zum ersten Bande einer nen
begonnenen Goetheausgabe vor wenigen Wochen erschienen ist."') Dann wird
der Goethcfreund zunächst seinen Text aufschlagen und wird sich überzeugen, ob
er auch z. B. von „Wanderers Nachtlied"
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch
noch jede Zeile fest im Gedächtnis habe und nicht etwa Gefahr laufe, in die
gemeinen Verballhornungen des großen Hansens „Unter allen Wipfeln" oder
„balde ruhest auch du" u. s. w. zu verfallen. Hierauf wird er zuerst Viehoffs
Erläuterungen zur Hand nehmen und sich daraus belehren, wie folgt:
Goethe dichtete diese Verse am 7. September 1783 auf dem Gickelhahn,
einem Berge bei Ilmenau, wo er sie mit Bleistift auf die hölzernen Fenster-
Pfosten des dortigen herzoglichen Sommerhäuschens schrieb. Sie entstände» (wie
auch das schöne Gedicht „Ilmenau" vom 3. September 1783) auf der ersten Ruhe-
stelle einer Erholungsreise, die ihn weiter nach der Roßtrappe, der Baumannshöhle,
auf den Brocken, nach Göttingen und Kassel führte. Die Buchstaben des Gedichts
sind später noch einmal mit Bleistift überzogen, und Goethe hat mit eigner Hand
darunter geschrieben: „Reu. (isnov^um) 29. Aug. 1813." Im Jahre 1831, am
Bombend seines letzten Geburtstages, las er wieder die Zeilen, und konnte, während
das zwischen Damals und Jetzt liegende volle und reiche Leben flüchtig an seinein
Geiste vorüberging, eine tiefe Rührung nicht mehr bewältigen. Er sprach die
seelenvollen Worte lant vor sich hin, und trocknete sich die reichlich hervorquellenden
Thränen, mit Nachdruck die ahnungsvollen Schlußworte wiederholend: „Ja, warte
nur, hatte ruhest du auch!"
Der Sinn, den Goethe 1831 in die Worte legte, lag nicht ursprünglich
darin. Als er sie schrieb, dachte er nicht an Grabesruhe; er fühlte um jene Zeit,
daß sein gährendes Dichtergemüt sich zu beruhigen und zu klären begann, und die
nächsten Jahre haben seine Ahnung glänzend gerechtfertigt.
Was aber macht das kleine Lied, diese wenigen schlichten Worte, selbst für
den, der ihre spezielle Beziehung auf den Entwickelungsgang des Dichters nicht
kennt, so wirkungsvoll? Zum großen Teil ist die Wirkung der glücklichen metrischen
Form zuzuschreiben, und zwar zuerst dem Wechsel des trochäischen, ländischen und
dakthlischcu Rhythmus, Der trochäische Versinnlicht die Nachtruhe („Über allen
Gipfeln"), der iambische und daktylische die damit kontrastirendc Gefühlsaufreguug,
deren Wellen aber schon leiser und sanfter zu finden beginnen. Dann sind anch
die kurzen Verse sehr ausdrucksvoll („Ist Ruh"), und endlich unterstützen die Reime
(„Ruh, du, Hauch, auch, Walde, hatte) durch ihre spezifische Lautfarbe die Wirkung
des Ganzen. Kühn spricht in der Germanin (Bd. V, 1843) die Vermutung aus,
daß in den Versen el» weitverbreitetes, vou Hoffmann in seinen schlesischen Volks¬
liedern (Ur. 274) mitgeteiltes Wiegenlied anklinge:
Schlaf, Kindlein, balde!
Die Vögelein fliegn im Walde;
Sie fließen den Wald wohl auf und uiedev,
Und bringen dem Kindlein die Ruh bald wieder.
Schlaf, Kindlein, schlaf I
Dann wird unser Goethefreund die Erläuterungen Düntzers befragen, und diese
werden ihm folgendes erzählen:
Diese Verse schrieb Goethe in der Nacht des 2. Septembers 1783, welche
er in dem Bretterhäuschen auf dem Gickelhahu, dem höchsten Punkte des Jlmcuauer
Forstes, zubrachte, mit Bleistift an dessen südliche Wand. Erst 1814 nahm er
das Lied an dieser Stelle der Lieder und mit der jetzigen Überschrift auf. Die
ursprüngliche Überschrift lautete buchstäblich: „Am 2, Sept, 1783 ^^edtlisä,"
Als Goethe am 26. August 1831 zu mehrtägigem Besuche nach Ilmenau kam,
fuhr er gleich den folgenden Tag, in Begleitung des Berginspektvrs Mähr zu
Kammerbcrg, auf deu Gickelhahu, wo er sogleich nach dem kleinen Waldhaus aus
Zimmerholz und Bretterbeschlag ging und rüstig die steile Treppe nach dem obern
Stock heraufstieg. Er habe, bemerkte er, damals einen kleinen Vers angeschrieben,
den er nochmals sehen und den Tag desselben sich auszeichnen möchte, wenn der¬
selbe darunter stehen sollte. Mähr zeigte ihm diesen am südlichen Fenster. Goethe
scheint damals, wie man nach Mähr annehmen muß, statt des 2. den 7. gelesen
zu haben, obgleich Mahrs Angabe des angeschriebenen Liedes ganz ungenau ist.
„Goethe überlas diese wenigen Verse, berichtet Mähr im Jahre 1855, und Thränen
flössen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch
aus seinem dunkelbraunen Rock, trocknete sich die Thränen und sprach in sanftem,
wehmütigen Ton: „Ja warte nur, hatte ruhest du auch!" schwieg eine halbe
Minute, sah nochmals durch das Fenster in den dunkeln Fichtenwald, und wendete
sich dann zu mir mit den Worten: „Nun wollen wir wieder gehen," Auf den
Wunsch Goethes überzog der Oberforstmeister von Fritsch die Bleistiftzüge noch
einmcil und schrieb darunter" „üvuov. den 29, Aug. 1831," Ein Vortrug von
Dr. Woldemar Masing in Dorpcit „Über ein Goetheschcs Gedicht" (Leipzig, 1872)
hat sonderbar unser Gedicht gewählt, „um alle wesentlichen Gesetze des Liederkunst¬
werks und damit des einfach Schönen überhaupt zur Anschauung zu bringen," Da
ihm meine Erläuterungen unbekannt geblieben, hat er in Bezug auf das That¬
sächliche manches Irrige. So setzt er die ursprüngliche Fassung des Liedes in das
Jahr 1779, läßt „die jetzt allgemein bekannte jüngere Fassung zuerst im Jahre 1733
auftauchen" und bezeichnet als ursprünglich die falsche Anführung von Falk, deren
Irrigkeit schon der fehlende Schlußreim ergiebt. Was Masiug auf den zwei Bogen
über unser Gedicht bemerkt hat, ist überspanntes Gerede, das die einfache Würdigung
des Gedichtes nur verzerrt.
Zunächst wird die Ruhe des hier sonst meist sehr empfindlichen Windes be¬
zeichnet: alle Gipfel des weiten Berges sind in Ruh, in den Wipfeln der hohen
Bäume regt sich kaum ein Hauch. Dann geht das Lied auf deu nahen Fichten¬
wald über, dessen Vögel alle schweigen. Diese allgemeine Ruhe ruft auch seine
Sehnsucht nach dem Schlafe ans, die bald befriedigt sein wird. Bei dem Ruhen
schwebt dem Dichter wohl nichts weiter als der ersehnte Schlaf nach einem ange¬
strengten Tage vor, nicht die innere leidenschaftliche Unruhe, die sonst nicht un-
angedeutet hätte bleiben können. Das Lied ist in kleinen iambisch-anapästischeu
Versen geschrieben; denn auch der Schluß ist keineswegs daktylisch. Der zweite
Vers besteht aus einem Jambus, der dritte ist el» Anapäst, der fünfte ein doppelter
Jambus, dann aber erweitert sich der Vers zu 3'/z Jamben, worauf die beiden
letzten allmählich abnehmen. Die Reimform, daß auf zwei Reimpaare vier Verse
folgen, in welchen die ungeraden und geraden reimen, obgleich der siebente Vers
einen Fuß kürzer als der sechste ist, hat Goethe auch sonst. Die Reime sind alle
höchst bezeichnend, und ruhen, mit Ausnahme von Vers 4, auf den Hauptbegriffen.
Daß nacheinander i, u, an und a die Reinivokale sind, giebt dem Gedichte besondern
Wohllaut. In den Versen selbst wirken anmutig das zu Hauch stimmende kaum
und el in den erst später hineingekommenen, wohl etwas zu spielenden Bögelein,
das an el in schweigen anklingt. In der Prosodie hat Goethe sich bei der Messung
von spürest als zwei Kürzen, warte und ruhest als zwei Jamben eine ihm und
den Dichtern der Zeit geläufige Freiheit erlaubt. Der Wechsel der langen und
kurzen, gerade in der Mitte anschwellenden Verse ist glücklich verwandt, Kuh»
hat damit folgendes in der Mark und in Schlesien gangbare Volkslied verglichen:
Schlaf, Kindlmi, lenkte! ^u. s. in. wie oben.j
Dasselbe dürfte aber eher mit Benutzung eines bekannten Kinderliedes sSimrvck
Ur. 201 f.) nach Goethes Lied gemacht sein, wie mau auch den Anfang von
Goethes „Schäfer" zu einem Volksliede mit einem ganz andern Schlüsse verwandt
hat (Simrock Ur. 242). Das beginnende: „Schlaf, Kindlein, balde!" mit ab¬
weichenden Schluß scheint nicht volkstümlich. Die ursprüngliche Bezeichnung als
„Nachtlied" war treffender und von Goethe wohl mit Erinnerung an „Wanderers
Nachtlied" von 1776 beigefügt. Zelter nannte es „Ruhelied."
Endlich wird der Gvethefrcund noch zu Loepers Kommentar greifen, lind hier
wird ihm folgende Aufklärung zu Teil werden:
I» der Fassung des Drucks (nur V, 6 Vögel) hat Goethe das Lied in der
Nacht vom 6. ans den 7. September 1730 an die Jnnenwand des herzoglichen
Jagdhünschcns auf dem Gickelhahn, dem höchsten Waldbergc bei Ilmenau, mit Blei¬
stift geschrieben. Bon dort richtete er abends an Frau von Stein die Worte: „Es
ist ein ganz reiner Himmel, und ich gehe, des Sonnenuntergangs mich zu freuen.
Die Aussicht ist groß und einfach. — Die Sonne ist nnter. Jetzt ist die Gegend
so rein und ruhig und so uninteressant als eine große schöne Seele, wenn sie sich
am wohlsten befindet. Wenn nicht noch hie und da einige Vapeurs von den Mei¬
lern aufstiegen, wär' die ganze Szene unbeweglich." Wenn der englische Natur¬
forscher Tyndall von V. 5 sagt, er zeige „eine ruhige Atmosphäre, die den leichten
Rauchsäulen ans den Hütten des Waldes gestattet, sich langsam in die Lüfte zu
erheben," so beweist der Schluß obigen Briefes die Richtigkeit seiner Anschauung;
nur muß mau statt der Hütten sich Kohlenmeiler denken. Knebel las „Goethens
Verse," wie er notirt, schon vier Wochen nach ihrer Abfassung, in der Nacht vom
6. auf den 7. Oktober 1780, die er mit dem Herzog in dem Bretterhäuschen zu-
brachte, von der Holzwand ab. Herder konnte seine Kopie im folgenden Jahre
von der Strophe nehmen. Nach 33 Jahren erneuerte Goethe die Inschrift mit:
um. 29. August 1813 (s. Ein Tag aus dein Leben des Herzogs Karl August,
Frankfurter Didaskalia 1875, Ur. 233), und ebenso recognoscirte er sie nach 51
Jahren im Angust 1831 (An Zelter, Ur. 813). Da das Häuschen am 11. August
1870 gänzlich niederbrannte und die früher von der Inschrift genommenen Ab¬
drücke (Gartenlaube, Oktober 1372, S. 657, und Berichte des Fr. D. Hochstifts
1880/31, S. 80) das Datum nicht deutlich hervortreten lassen — auch ich ver¬
mochte zu Ende September 1847 die Jahreszahl an Ort und Stelle nicht mehr
zu entziffern —, Goethe selbst aber in dem Schreiben an Zelter vom 4. September
1831 den 7. September 1783 angegeben hatte, so entstanden Zweifel über das
wahre Entstehuugsjahr. Die Kritik ließ sich jedoch nicht irre machen, insbesondre
wiesen Gvedcke (Ares. f. Litt.-Gesch.. VIII. 104 fig.) und Sintenis (Neue Dörpter
Zeit. 1873, Ur. 278) das oben angegebene Datum als das richtige nach, während
Masing das Jahr 1779 und Düntzcr mit E. Lichtenberger (S. 193) das Jahr
1783 vertritt.
Fr. Bischer bemerkt, das Lied — ein profanes Seitenstück zu Paul Gerhards
„Nun ruhen alle Wälder" — „lasse uns bedeutungsvoll in Ungewißheit, ob ruhen
(V. 8) heiße schlafen, oder betrachtend in sich versinken, oder sterben." Mit der
dritten Beziehung schloß der Dichter in denselben Tagen die Ode an die Phan¬
tasie: „O, daß die erst mit dem Lichte des Lebens sich von mir wende!" und bald
darauf, 3. November 1780, einen Brief an Lavater: „die Zeit kommt doch bald,
wo wir zerstreut werden, in die Elemente zurückkehren, aus denen wir genommen
sind." In demselben Sinne las er, ein halbes Jahr vor seiner ewigen Ruhe, die
Worte unter Thränen: „Ja, warte nur, balde ruhest dn auch" (Bericht des Berg¬
inspektors Mähr, 1855).
Umfassend ist die Literatur des kleinem Liedes. Hoffmann von Fallersleben
und E. Richter (1842, Ur. 274 der Schlesischen Volkslieder) brachten die Nach¬
bildung:
Schlaf, Kindchen, balde!
Die Vögel singen im Walde u. s. w.;
gegen A. Kuh», der die Priorität dieses Liedes annahm, erklärten sich 1343 von
der Hagen (Germania V, Ur. 20 und X, S. 270 fig.) und später H. Wenzel
(AisMllMM vostbiMg.. 1880, Ur. 3). Wenzel vergleicht treffend das Lied mit
einem Fragment des griechischen Lyrikers Alkman (bei Berge, III, 352), anfangend:
LÄou-zi xcipuP«i ?e x«i rf«p«-s-se?. Auch das Schlummerlied der Sappho:
„Schlummer liegt auf Bergeshöhn" trägt in Mählys Übertragung der griechischen
Lyriker die Überschrift: Über allen Gipfeln ist Ruhe. Die ersten Verse bringen
diese Ruhe der Gipfel, die letzten die der Vögelein; aber die Beziehung auf den
Menschen fehlt. Eine Nachdichtung von I. Fakel findet sich als Ur. 860 der
„Volkstümlichen Lieder" von Hoffmann vou Fallersleben. Vergl. Masing, Über
ein deutsches Lied, 1872, O. Blumenthal, Deutsche Dichterhallc, März 1874, S. 183,
wo zwei Fassungen zusammengestellt sind, Hein, Ares. f. Lie.-Gesch., VI. 513 und
B. Marx, Kompositionslehre, III, 358 und 417.
Zahlreich sind die Komponisten des Liedes, Zelter (Neue Lieders. 1821.
S. 20 „Ruhe"), Fr. Schubert ox. 96, Kuhlau, Fr. Liszt, Rob. Radeke (ox. 27
Terzett). A. Rubinstein (Duett).
Freilich, freilich — es ist ein mühseliges Geschäft heutzutage, ein Goethifches
Gedichtchen von acht Zeilen zu lesen und zu verstehen. Wie schmeckt aber auch
der „Braten," nachdem man drei solche „anatomische Vorlesungen" darüber
genossen!
Die Zusammenstellung der obigen drei Kommentare ist lehrreich. Sie zeigt,
wen» auch an einem kleinen Beispiel, ziemlich deutlich die Eigentümlichkeiten
jedes einzelnen. Viehoff will das Nötigste und Wesentlichste zur Geschichte des
Gedichts mitteilen, giebt in wenigen Zeilen die richtige Auffassung desselben an
die Hand und deutet an, auf welchen formalen Eigenschaften seine besondre
Wirkung beruhe. Düntzer entfaltet in seinen geschichtliche!, Nachrichten jene
rührende Genauigkeit, die sich bis auf Goethes „schneeweißes Taschentuch"
erstreckt, ergötzt uns dann durch eine seiner unnachahmlichen prosaischen Um¬
schreibungen, in der er Zeile für Zeile noch einmal mit etwas andern Worten sagt,
was schon der Dichter gesagt hat, und malt endlich das Äußere des Gedichts
mit jener steckbriefartigen Genauigkeit ab, die ihm auch so leicht niemand nach¬
machen wird. Loeper endlich — ja was thut Loeper? Er stellt zunächst mit
einer überwältigenden, fast niederschmetternder Gelehrsamkeit, gegen die selbst
Düntzers Wissen einen wackligen Eindruck macht, die Entstehungsgeschichte des
Gedichtes fest, bombenfest, daß nicht daran zu rütteln ist, bringt dann ein
Paar Zitate, die zu dem Sinne der Verse in Beziehung stehen oder auch nicht
in Beziehung stehen, und schüttet endlich einen ganzen Sack voll mehr oder
weniger interessanter Notizen vor uns aus, die zwar zum Verständnis des Ge¬
dichtes nichts weiter beitragen, aus denen sich aber doch der eine dies, der
andre jenes als Merkwürdigkeit auslesen kann.
Aber bei dem einzelnen Beispiel kann ja der Zufall walten. Betrachten wir
uns also den neuen Kommentar etwas genauer, um zu sehen, wie er sich von
seine» Vorgängern unterscheidet, und ob und wo er über jene hinausgeht.
Der vorliegende Band eröffnet, wie schon angedeutet, eine neue Ausgabe der
in den Jahren 1867 bis 1879 im Hempelschcn Verlage in Berlin in 36 Bänden
erschienenen Goethischen Werke. Jene erste Ausgabe hatte, so dankbar auch jeder
Goethefreund für sie sein mußte, doch die schwache Seite aller wissenschaftlichen
Arbeiten, deren Ausführung verschiednen Händen anvertraut ist und eine längere
Reihe von Jahren in Anspruch nimmt: die Ungleichmäßigkeit. Nicht nur daß die
Mitarbeiter über das Maß und die Beschaffenheit der beizufügenden Einleitungen
und Erläuterungen verschiedner Ansicht waren, es änderten sich auch die Ansichten
des einzelnen während der Arbeit selbst. So kam es, daß, als die Ausgabe
1879 endlich abgeschlossen vorlag, die einzelnen Bände ein sehr verschiednes Ge¬
sicht zeigten. Während die einen, z. B. die vier, welche „Dichtung und Wahrheit"
enthalten (20 — 23), mit einem sehr reichhaltigen und ausführlichen Kommentar
hinter dem Texte versehen sind, haben andre, wie die ersten drei Bände der
Gedichte (1—3), alle Dramenbände (6 — 12), sich mit gelegentlichen Anmerkungen
unter dem Texte begnügen müssen. Der Wunsch lag nahe, daß bei einer
etwa nötig werdenden neuen Ausgabe in dieser Beziehung Gleichmäßigkeit her¬
gestellt und dabei natürlich nicht die dürftiger, sondern die reichlicher bedachten
Bände zum Muster genommen werden möchten. Der vorliegende Band zeigt,
wie die neue Ausgabe eingerichtet werden soll: beinahe die Hälfte des Bandes,
S. 266 — 484, wird durch die Anmerkungen des Herausgebers ausgefüllt.
Über die Zwecke, die der neue Herausgeber — G. v. Loeper, der hier auch
bei den Gedichten an die Stelle Strehlkes getreten ist und diesmal eine größere
Anzahl von Bänden besorgen zu wollen scheint, als bei der ersten Ausgabe —
bei seinem Kommentar verfolgt hat, spricht er sich in der Einleitung aus. Er giebt
dort zunächst Rechenschaft über die Anordnung der Gedichte, die er eingehalten
habe — eine Frage, der nach unsrer Meinung gewöhnlich zu viel Wichtigkeit
beigelegt wird. Solange es nicht möglich ist, das, was Hirzel in seinem „Jungen
Goethe" für die Jahre bis 1776 versucht hat, auf das ganze Leben Goethes
auszudehnen, d. h. seine sämtlichen Dichtungen chronologisch zu ordnen — eine
Aufgabe, die nie ohne Rest zu lösen sein wird —, so lange ist es ziemlich gleich-
giltig, unter welcher Rubrik dieses oder jenes Gedicht schließlich untergebracht ist.
Die Hauptsache ist, daß immer für ein vollständiges, nach den Gedichtanfüngen
alphabetisch geordnetes Verzeichnis gesorgt wird, wie es ja die drei erste»
Bände der Strehlkeschen Ausgabe und die Viehvffschen Erläuterungen that¬
sächlich bereits haben. Wer ein einzelnes Gedicht sucht, wird sicher in zehn
Fällen neunmal die Anfangsworte im Gedächtnis haben. Daher sind wir jenen
alphabetischen Verzeichnissen im stillen immer ganz besonders dankbar gewesen;
könnten wir die Zeit zusammenrechnen, die sie uns schon erspart haben, es kämen
gewiß ganze Tage heraus.
Viel wichtiger als die Bemerkungen Loepers über die von ihm befolgte
Ordnung der Gedichte sind die wenigen Zeilen seiner Einleitung, in denen er
sich über die Absichten seines Kommentars ausspricht. „Die Anmerkungen — sagt
er — wollen ihrer Natur nach nur Notizen über Zeit der Entstehung und
äußere Anlässe geben, daneben auch über Handschriften, Drucke, Lesarten, Lite¬
ratur und Musik der Gedichte. Wird auch gelegentlich einzelnes Sprachliche
erörtert, werden auch Parallelstellen im Sinne einer vergleichenden Poetik cm-
gefiihrt, so ist doch von der Erörterung ästhetischer, sowie poetisch-technischer und
namentlich metrischer Fragen ganz abgesehen. Die Anmerkungen machen daher
wohl die Ermittlungen der vorzüglichen, ausführlich erklärenden Kommentare
von Viehvsf und Düutzer für unsre Textausgabe nutzbar (soll wohl heißen: sich
zu nutze, denn „nutzbar" sind jene Ermittlungen doch auch ohne die Loeperschc
Ausgabe), keineswegs aber jene selbst entbehrlich, insbesondre nicht in den zuletzt
erwähnten Beziehungen." Hiermit verbinden wir gleich noch einige Stellen ans
dem etwas wunderlich stilisirten Elaborat, welches die Verlagshandlung ans dem
Umschlage des Ersten Bandes veröffentlicht hat. Sie sagt dort, daß in den An¬
merkungen „die bisherigen Resultate der Goethe-Forschungen, mit welchen sich
seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe die großen Geister (!) des In- und Aus¬
landes eingehend beschäftigt haben, zu einem zusammenfassenden Abschluß ge¬
bracht werden" sollen, hebt aber zugleich — mit fettgedruckter Schrift — hervor,
daß die Ausgabe „für deu allgemeinen Gebrauch" bestimmt sei, und empfiehlt
sie daher „dem großen gebildeten deutschen Publikum."
Äußerlich hat Loeper seinen Kommentar so eingerichtet, daß die Anmerkungen
zu jedem einzelnen Gedicht in der Regel in vier, durch verschiedene Schrift¬
gattungen deutlich von einander unterschiedene Abschnitte zerfallen. Er berichtet
zunächst über das etwa benutzte handschriftliche Material, verzeichnet dann die
ersten Drucke, führt sämtliche Varianten auf und giebt endlich die. erklärenden
„Notizen," die er für nötig hält. Diese Anordnung ist sehr praktisch und über¬
sichtlich. Blicken wir aber in die einzelnen Abschnitte hinein, so gewahren wir
sofort, daß der Kommentar doch nicht leicht zu benutzen ist. Wir wollen nicht
davon reden, daß der Herausgeber elf verschiedne Ausgaben Goethischer Schriften
— von der Himburgschen Sammlung an bis zur vierzigbändigen Cottaschen
Ausgabe — durch bloße Ziffern bezeichnet; er macht von dieser Abkürzung
namentlich in der Rubrik „Erste Drucke" Gebrauch, und diese wird wohl von
den wenigsten Lesern studirt werden. Schlimmer ist es schon, daß auch in den
Anmerkungen selbst, die doch nach der Bersichernng der Verlngshandlung „für
den allgemeinen, Gebrauch" des „großen gebildeten deutschen Publikums" be¬
stimmt sind, ein Streben nach Kürze und Raumersparnis hervortritt, das ent¬
schieden zu weit geht.
Es ist etwas ganz andres, ob man erläuternde Anmerkungen unterm Text
oder ob man sie nach Jacob Grimms Ausdruck „auf einem modernen Beiwagen"
hintern: Text giebt. Im vorliegenden Falle würden wir die Abtrennung der
Anmerkungen vollständig billigen, wenn sichs um eine besonders schön ausge¬
stattete Liebhaberausgabe handelte. In einer Ausgabe, deren Lektüre nicht bloß,
nein deren bloßer Anblick schon ein Genuß sein soll, wäre es ja unerträglich,
wenn die Kolumnen durch Fußnoten veranstaltet würde». Von einer solchen
Liebhabcransgabe ist aber doch die vorliegende, wenn sie mich besser ausgestattet
ist als die erste „Hempclausgabe," die ja, was Armseligkeit des Äußern betraf,
gleich hinter der Neclamschen stand, noch weit entfernt. Es ist eine gewöhnliche
gute Ausgabe zum Studium, in der die Anmerkungen recht gut hätten unterm
Texte bleiben können. Jedenfalls ist das fortwährende Vor- und Zurückschlagen
eine Erschwernis beim Studium, die durch die übersichtlichste typographische Ein¬
richtung der Anmerkungen selbst wieder ausgeglichen werden müßte. Für eine
solche ist aber hier nicht im geringsten gesorgt. Vor allen Dingen sind die
Anmerkungen zu verschiednen Versen immer in der Zeile fortgedruckt. Nie ist
durch einen Gedankenstrich oder gar durch eine neue Zeile die eine Anmerkung
von der andern getrennt. Wer also z. V. den Kommentar zur sechsten „Römischen
Elegie" aufschlägt, wird dort in folgender Weise belehrt: „V. 126 u. 127 die
Falconieri und Albcmi nur nach Römischen Familiennamen, ohne persönliche
Beziehungen. Ostia V. 128 außerhalb, die aus-dro toiriAn« innerhalb Roms am
Quirinal. Der Rotstrumpf V. 130 vom Kardinal, der Violetstrumpf vou den
nächstfolgenden geistlichen Würdenträgern, den päpstlichen Prälaten. Die hier
V. 118 und V. 139 eingestreuten individuellen Züge nur zur Belebung der Dar¬
stellung, wie vorher V. 41 und später V. 174, 305, 308 und 353. Das Bild
V. 144 wie in Ovids Herolden (Lx. XVII): Nomina roosus xs-ron. sM-zg.
rMöäit Ma, und Goethes »Flamme der Wahrheit durch Schulasche zugedeckt«
(Bd. XXXVI, 342, 1. Ausg.). Einige Stellen der 6, Elegie hatte Schiller als
erklärungsbedürftig bezeichnet (Goethe an ihn den 17. Mai 1795)." Zu „Alexis
und Dom" sehen die Erläuterungen so aus: „V. 3 die Delphine, die Tümmler
des Theokrit, auch im ersten Absatz der Reise der Söhne des Megaprazon, aus
eigner Anschauung (Ital. Reise vom 1. April u. 15. Mai 1787). V. 31 Amor
ohne Binde, wie im Besuch (Thl. II). V. 48 in »Trost in Thränen«: die
Sterne, die begehrt man nicht. V. 52 vergl. »Terpsichore« von Hermann und
Dorothea: »die Wand war gefallen, die unsere Höfe geschieden.« V. 77 Aus
Torbole schreibt Goethe den 12. Sept. 1786: »Hier traf ich die Weißen kleinen
Feigen als gemeine Frucht.« V. 96 des Zeus Donner zum Zeugnis nach
V. 110-112; dazu V. 150. In V. 102, einige der »Sachen, die noch gar
nicht seien von einem Sterblichen ausgesprochen worden« (nach Schillers Brief
Ur. 183)" u. s. w.
Unwillkürlich wird sich der Leser an den Kopf greifen und sagen: Das ist
ja ein wahrer Fitz, wer soll sich da hineinfinden? So sehen aber alle Loeperschen
Anmerkungen aus, eine wie die andre, und es ist in der That eine Qual, sich
da etwas herauszusuchen.
Einigermaßen erträglich würde diese Art der Anordnung geworden sein,
wenn sich Loeper wenigstens der typographischen Hilfsmittelchen des gesperrten
Druckes und der Anführungszeichen bedient hätte. Wir lieben im allgemeinen
diese Hilfsmittelchen nicht,*) weil wir glauben, daß das, was dnrch das Sperren
erreicht werden soll, sehr gut auch dnrch richtige Wortstellung erreicht werden
könne, und daß Zeichen, die für das Ohr beim Sprechen absolut nicht vorhanden
sind, wie die sogenannten Gänsefüßchen, auch für das Auge beim Lesen »»nötig
seien. In den vorliegenden Anmerkungen aber hätten unbedingt die aus den
Gedichten herausgegriffenen Worte stets durch gesperrten Druck, alle zitirten Ge¬
dichte, Bücher, Schriften dnrch Anführungszeichen kenntlich gemacht werden müssen.
Lveper läßt z. B. drücken: V. 1 kommen von den Jahres- und Tageszeiten —
V. 12 Vertraue uach Goethes Handschrift — V. 31 Amor ohne Binde wie
im Besuch — Schrecklicher V. 150 Anrede an Zeus. An allen solchen Stellen
bleibt man beim ersten Lesen hängen. Wer deutlich sein will, läßt drucken:
V. 1 kommen, von den Jahres- und Tageszeiten — V. 12 Vertraue, nach
Goethes Handschrift — V. 31 Amor ohne Binde wie im „Besuch" — Schreck¬
licher, V. 150, Anrede an Zeus. Ganz vereinzelt, vielleicht in hundert Fällen
einmal, hat Loeper ein Wort durch den Druck sperren lassen; warum gerade
dieses, wird er wahrscheinlich selbst nicht sagen können. Ebenso führt er bis¬
weilen die Überschriften von Gedichten mit Gänsefüßchen an, ebenso oft aber
auch nicht. Es herrscht nicht die geringste Konsequenz in diesen Dingen.
Nun könnte man freilich einwenden, daß die Kommentare Viehoffs
und Düntzers im allgemeinen in derselben Weise gedruckt seien. Warum soll
gerade hier zur Undeutlichkeit führen, was dort keinerlei Störung bereitet?
Der Grund ist einfach der: Viehoff und Düntzer schreiben in Sätzen, der erstere
meist in sehr guten, klaren und wohllautenden Sätzen, der letztere zwar oft in
unförmigen, schleppenden Satzgebildcn, deren Glieder bahnzugartig aneinander
gehängt sind, aber doch immerhin in Sätzen, Loeper aber schreibt, wie die oben
mitgeteilten Beispiele zeige», fast nur in Satzbrvcken. In der Regel fehlt das, was den
Satz erst zum Satze macht, das Verbum. Vor lauter Streben nach Kürze hat
sich Loeper ein stammelndes Notendeutsch zurechtgemacht, eine Art von Steno-
logie, die man förmlich auflösen lernen muß, um sie überall zu verstehen. Wenn
Loeper z. B. schreibt „V. 147," so kann man zunächst nie wissen, ob das heißen
soll „der 147. Vers" oder „den 147. Vers" oder „im 147. Vers." Wenn
das Verbum ganz fehlt, so läuft das Verständnis einer Note thatsächlich auf
eine Art Rätselraten hinaus. Man muß probiren, welche Auflösung paßt.
Noten, wie wir sie in den Schulaufgaben griechischer und römischer Klassiker
finden, ja sogar die Erläuterungen, die Loeper selbst in seinem Kommentar zu
„Dichtung und Wahrheit" gegeben, tragen eine gewisse sprachliche Abnndanz
zur Schau gegen die Wortknanserei der vorliegenden Anmerkungen.
Nicht selten hat nnn auch diese affektirte Kürze zur Undeutlichkeit geführt.
Was soll z.B. S, 267 heißen: Ersteres Diary? ?i'1u8 eiw'inen? Oder xrioris
äiMiuin? (Ebenso häßlich S, 275: Letzteres Komm.) — Was heißt S. 297:
diese Liebe ist durch unsre ersten Tonsetzer, außer Reichardt, redlich vergolten?
Soll es heißen: durch unsre ersten Tonsetzer und Ausnahme Reichardts? Kaum,
denn Reichardt war kein „erster" Tonsetzer — um diese schöne moderne An¬
wendung der Ordinalzahl dem Herausgeber uachzubrauchcn. Oder soll es heißen:
durch unsre ersten Tonsetzer, abgesehen von Reichardt? Das kann man nicht
durch „außer" ausdrücken. — S. 312 steht folgende wunderbare Stelle: Im
Volksliede trauert die, bei Goethe der Liebende. Nur dessen erste sechs Verse
ruhen auf Volksüberlieferung. Dieses „die" lind „der," beidemal mit „Liebende"
verbunden, ist geradezu klassisch; es erinnert an algebraische Formeln wie a (do).
Wer ist aber ^dessen"? Der Liebende? Oder Goethe? Oder das Volkslied? -
Was heißt ferner S. 384: V. 117 u. 118 gehören dem Dichter an, unmittelbar
folgend V. 113 u. 114? Es soll heißen: Die Verse 117 und 118 spricht der
Dichter, ebenso wie die Verse 113 und 114, an welche sie sich anschließen. Wer
soll das aber aus dem Satze herauslesen? Abgesehen davon, daß „angehören"
hier in ungewöhnlichem Sinne angewendet ist. Eine Stelle „gehört dem Dichter
an," das heißt doch: sie ist seine Erfindung, sein geistiges Eigentum. — In >
einen neuerdings leider Mode werdenden Sprachfehler verfällt der Herausgeber
wiederholt, indem er demi Perfektum im Passiv (auch aus Ersparnis?) das
„worden" wegläßt. Es ist das in jedem Falle ein grober grammatischer Fehler;
er wird aber geradezu zum Unsinn, wenn zu dem Präsens, welches auf diese
Weise entsteht, eine Zeitbestimmung der Vergangenheit tritt, wie S. 386: die
Erzählung mag ihm in der Mitte der achtziger Jahre vermittelt sein — S. 427
als Psychopompos ist Hermes vielfach auf Grabmälern dargestellt, zur Zeit der
Dichtung auf dem des Grafen v. d. Mark. — Ist es endlich deutsch, zu sagen,
wie S. 392: aus 1785? Ist es deutsch, zu schreiben, wie S. 415: der Apoll
von Belvedere scheint nicht zu verkennen? Was scheint er denn nicht zu ver¬
kennen? War endlich der Platz gar so kostbar, daß der Herausgeber S. 429
ein Lied von Hölty zitiren mußte: Ihr Freunde, hängt? Welche Zumutung an
Freunde!*)
Mit dem letzten Beispiel berühren wir noch einen der wundesten Punkte
des Loeperschen Kommentars, seine oberflächliche Art zu zitiren. Nicht nur,
daß er Parallelstellen bringt, wie „Klopstocks der Haine Nacht und Bürgers
Nacht der Tannen," ohne die Gedichte zu nennen, wo diese Stellen sich finden,
er führt auch eine große Anzahl von Büchern und Schriften in so ungenügender
Weise an, daß sicherlich die wenigsten Leser seine Zitate werden benutzen können.
Was soll das „große gebildete deutsche Publikum" mit Zitaten anfangen, wie
A, F. D. A. VIII. 238-271 — Vgl, Lichtenberger, S, 27 - Nachweis von
D. Jacoby - Fr, Schubert (ox, 3, in der Liedform s. Z.) — Goethes alter
Gegner (!) in seinem „seynem kleynen Almanach," 2, Jahrgang — Dorothea
Schlegel (I. 298) - Lyon (S, 128) - M, Ehrlich, 1.190 und ähnlichen? Selbst
wenn, was nicht der Fall ist, die Schriften, um die sichs hier handelt, vorher
gelegentlich schon einmal vollständiger und deutlicher zitirt wären, würden solche
Zitate nicht sehr rücksichtsvoll sein, da doch niemand zu seinem Privatvergnügen
den Loeperschen Kommentar durchlesen, sondern sicherlich jeder ihn nur zum
gelegentlichen Nachschlagen benutzen wird.
In den Kreisen der deutschen Philologie, insbesondre unter jenen Einge¬
weihten, welche die Goetheforschung gepachtet zu haben glauben, herrscht eine
gewisse Vornehmthuerei: die Manier, immer nur in Andeutungen zu rede», als
ob die Herren bei einander am Tische säßen und ihre Weisheit einander zuraunten.
In dieser Weise auf drei oder vier Leute in Deutschland berechnet klingt so
manche der Loeperschen Anmerkungen. Viele davon hatten aber wohl nicht einmal
diese Bestimmung, Man kann sich nämlich des Gedankens nicht erwehren, daß
der Loepersche Kommentar überhaupt nicht zur Mitteilung an andre bestimmt
war, sondern in der Hauptsache aus den Zetteln und Randnoten zusammen¬
gedruckt ist, die der Herausgeber für seineu Privatgebrauch gesammelt hat. Unter
solchen Umstünden sollte nur die Verlagsbuchhandlung nicht davon fabeln, daß
es sich hier um ein Werk „für den allgemeinen Gebrauch" handle. In Deutsch¬
land sind keine hundert Menschen, die jede Zeile dieses Kommentars verstehen.
Wenn es wirklich die Absicht des Herausgebers war, deu Kreisen der ern¬
steren Goethefreunde einen Dienst mit seiner Ausgabe zu erweisen, so hätte er
seine Notizzettel gehörig überarbeiten, etwas weniger mit den Worten geizen,
kurz seine Belehrung ein klein wenig anmutender gestalten müssen. Wenn alle
unverständlichen Satzrudera in Sätze verwandelt, alle unverständlichen Abkür¬
zungen ausgeschrieben worden wären, so würde sein Kommentar dadurch viel¬
leicht um einen Bogen stärker geworden sein. Konnte es darauf ankommen?
Aber lassen wir endlich die Form, und wenden wir uns zum Inhalte des
Loeperschen Kommentars. Der Herausgeber zählt — hierüber ist gar kein Wort
zu verlieren — zu den genauesten Kennern der Goetheliteratur. Nur ihrer
vier oder fünf in Deutschland lassen sich in dieser Beziehung mit ihm ver¬
gleichen. Wer, wie Loeper, in der glücklichen Lage gewesen ist, vierzig
Jahre lang in seinen Mußestunden ein und derselben wissenschaftlichen Lieblings¬
neigung folgen, für ein und denselben Zweck sammeln zu können, wer, wie er,
schon eine lange Reihe von Jahren sich derart des Rufes einer Autorität auf
diesem Gebiete erfreut, daß jeder, der deu geringste« Beitrag zur Goetheforschung
veröffentlicht hat, es sich zur Ehre rechnet, Loeper ein Exemplar davon einzu¬
senden, der kann seine Sammelmappen und Sammelkapseln gut voll haben. Und
hierauf kommt es ja in erster Linie an. Was man so im gewöhnlichen Leben
als „Gelehrsamkeit," als „Reichtum an Kenntnissen" preist, läuft ja zum gute»
Teil auf Reichtum an Kvllektaneen hinaus. Wer am längsten, unverdrossensten
und konsequentesten auf seinem Gebiete gesammelt hat, der ist die größte Autorität.
Auf dem Gebiete der Goetheforschung steht in diesem Sinne Loeper un¬
zweifelhaft mit obenan. Kein Wunder, daß uns sein Kommentar eine
Fülle von Material bietet, das man bisher nirgends in solcher Weise bei¬
sammen gehabt hat. Es fragt sich nur, in wie weit dieses Material über die
Kommentare von Viehoff und Düntzer hinaus einen wirklichen Fortschritt in
der Erklärung Goethes bedeutet.
Unzweifelhaft ist dies der Fall in allem, was mit der Entstehungsgeschichte
der Goethischen Gedichte zusammenhängt. Diese Partien allein, in denen eine
Unmasse von Notizen aufgespeichert ist, welche die Goetheforschung im Laufe
der letzten Jahrzehnte zu Tage gefördert hat, werden den Loeperschen Kom¬
mentar hinfort neben den beiden andern ganz unentbehrlich mache».
Wesentlich anders verhält es sich mit dem, was Loepers Arbeit sonst noch
bietet. Der Herausgeber deutet selbst in seiner Einleitung an, daß er die
Kommentare von Viehoff und Düntzer nicht habe entbehrlich machen wollen.
Man kann aber noch weiter gehen und sagen: Loeper ist sichtlich bemüht ge¬
wesen, seinen beiden Vorgängern ans dem Wege zu gehen, sich möglichst wenig
mit ihnen zu berühren und nur solche Dinge mitzuteilen, die jene beiden nicht
haben. Da nun aber die Kommentare Viehoffs und Düntzers alles irgend
Wesentliche zum sachlichen Verständnis und zur ästhetischen Würdigung der
Goethischen Gedichte enthalten, so würde Loeper auf eine dürftige Nachlese au¬
gewiesen geblieben sein, wenn er nicht gewisse Rubriken planmäßig kultivirt
hätte, die vou seinen Vorgängern nur gelegentlich gestreift worden sind, nämlich
die sprachliche Erklärung, die Literatur der Gedichte und vor allem die so¬
genannten Parallelstellen. Alle nur entfernt ans Goethe bezüglichen Lesefrüchte,
welche die Goethephilologie im Laufe der Zeit veröffentlicht hat, alle Kuriosa,
welche sie ausgegraben hat, findet man hier auf einen Haufen zusammengetragen.
So kommt es nun, daß die bedeutendsten und oft erklärungsbedürftigsten Ge¬
dichte Goethes — man schlage z. B. das zweite Buch der Elegien auf —
sich mit den dürftigsten Anmerkungen haben begnügen müssen, nur damit der
Herausgeber ja nicht etwas sage, was man in den andern beiden Kommentaren
anch findet. Lieber giebt er die eignen Schale», als daß er ein Stückchen von
dem Ker» der Arbeit der beiden andern entlehnte, und so besteht denn die reich¬
liche Hälfte aller seiner erläuternden Anmerkungen thatsächlich aus Spreu,
Ballast, Notizenkram, der zum Verständnis Goethes nicht das mindeste bei¬
trägt. Mit einem „Beiwagen" vergleicht Loeper seinen Kommentar. Schade
mir, daß man bei diesem Wagen nicht die Vorstellung einer behaglichen Rcisc-
kutschc gewinnt, sondern viel eher an jene zweirädrigen Karren denkt, wie sie
an gewissen Wochentagen durch unsre großen Städte fahren.
Wir müssen unser hartes Urteil durch ein paar Proben belegen. Was
soll bei der „Zueignung" der Exkurs über die allegorischen Figuren, beim
„Gvldschmiedsgesell" die Bemerkung über das Gvldschmiedehandwerk in der
Poesie? Was trägt es zum Verständnis des Epigramms über die „Sakuntala"
bei, wenn man erfährt, daß Franz Schubert 1820 an einer Oper „Sakuntala"
nach einem Text eines gewissen Joseph Philipp Neumann gearbeitet habe?
Wer sucht und erwartet in den Erläuterungen zum „Todtentanz" die Etymo¬
logie von äM8ö waoabrö? Bedarf es wirklich der Parallelengelehrsamkeit, wenn
im „Wahren Genuß" die Liebende des Liebsten Füße zum Schemel ihrer Füße
macht, oder wenn in dem Gedicht „Gegenwart" die Geliebte als Sonne an¬
geredet wird? Welchen Zweck hat es, zu dem Sprüchlein „Sehe jeder, wie
er's treibe" die Inschrift des Rathaussaales von Perugia Hui sol, MeÄ,,
us vaäat herbeizuziehen, mit dem Liedanfang „Herz, mein Herz, was soll das
"geben" ähnliche Liederanfänge von Eichendorff und Heine zu vergleichen? Wird
die Zeile an Lili „Fund' ich hier und fand' ich dort mein Glück?" deut¬
licher durch die Gegenüberstellung der beiden Gesangbuchsliedzeile»: „Daß uns
beid' hier und doree sei Gilt' (Glück?) und Heil bescheert"? Was hat man
davon, wenn man weiß, daß das Bild von dem Vogel, der den Faden bricht
und noch ein Stückchen des Fadens, „des Gefängnisses Schmach," nachschleppt,
auch in einem französischen Sprichwort vorkommt? Bedurfte es in dem Ge¬
dicht „Rastlose Liebe" bei der Form „länderwärts," die doch jeder sofort nach
Analogie von heimwärts, rückwärts, auswärts und ähnlichen versteht, der
Parallelen vaterlandswärts, liebwärts, landwärts? Oder in der „Euphrosyne"
zu dem einfachen Bilde „Nacht verhüllt das Thal" dreier Parallelstellen aus
Klopstock, Wieland und Goethe selbst? War es nötig zu bemerken, daß in der
Zeile „Zwischen Weizen und Korn" das letzte Wort nicht Korn überhaupt, sondern
Roggen bedeute, daß in der 15. römischen Elegie das „geschäftige Volk süd¬
licher Flöhe" nicht die Italiener, sondern die Flöhe selbst, das „Flohvolk"
bezeichne? Wen kann es beim Lesen Gvethischer Gedichte interessiren, zu hören,
daß auch Wieland einmal „blinde Kuh" in zwei Worten geschrieben hat, daß
die Form „füßle" für „süßeste" sich auch bei Paul Gerhard findet, daß der
Reim „Gefühle — Gewühle" auch bei Platen einmal vorkommt? Was trägt
zum Genuß eines Goethischen Gedichtes die Mitteilung bei, daß der oder jener
es einmal ins Französische und Englische, ins Italienische und Neugriechische
oder gar ins Lateinische und Altgrichische übersetzt, nachgeahmt, parodirt,
glossirt, zitirt oder auf sich angewendet habe? Wieviele solcher unnützen Bc-
merkungen hätte Loeper unterdrücken, was für einen prachtvollen Kommentar
hätte er schaffen können, wenn er nicht den Eigensinn gehabt hätte, überall
etwas neues und etwas andres bieten zu wollen, als seine beiden Vorgänger!
Doppelt überflüssig werden solche Notizen, wenn sie nicht einmal zutreffend
sind, sondern den Leser womöglich irreführen. Bei dem Gedichte „Liebhaber in
allen Gestalten" vergleicht der Herausgeber mit den Worten: Willst du bessre
besitzen, so laß dir sie schnitzen! die Verse aus Wielands „Clelia und Sinibald":
Er ist aus keinem bessern Holz geschnitzt als andre Knaben. Das paßt doch
wie die Faust aufs Auge. In der spöttischen Redensart: „Laß dir einen
schnitzen" oder „Laß dir einen malen" ist doch an wirkliches malen und schnitzen
gedacht, während in der Wielandstelle schnitzen nur bildlich gemeint ist, etwa
wie in „Wallensteins Tod" (II, 2): Mich schuf aus gröberen Stoffe die Natur. —
Im „Neuen Pausias" macht Loeper zu dem „rohen Timanth." der sich an dem
Blumenmädchen vergreift, die Bemerkung: „Timanthes V. 65 gleichfalls Name
eines griechischen Malers, dessen Bild »Opferung der Iphigenie« Lessing im
Laokoon erwähnt, (sa. Blümner, S. 161 und 506.) Der Name bedeutet:
Blumenfreund." Wozu in aller Welt hier diese Weisheit? Soll der Leser
glauben, daß Goethe, als er dem rohen Nebenbuhler des Pausias den Namen
Timanth gab, an den großen griechischen Maler gedacht habe? Armer Ti¬
manthes, wir wissen wenig von dir, aber so stellen wir uns dich doch nicht vor
wie den Burschen, den das „kreisend geschwungne Metall" des Pausias an den
Schädel trifft!
Manche seiner Parallelen und Notizen wird der Herausgeber mit dem
Schilde der „vergleichenden Poetik" decken wollen, von der er in der Einleitung
spricht. Wenn man nur wüßte, was man sich unter dieser Wissenschaft vor¬
stellen soll, und welche Aufgabe sie hat. Wir keimen eine vergleichende Sprach¬
wissenschaft, eine vergleichende Mythologie, sogar eine vergleichende Metrik. Alle
diese Wissenschaften haben deu Zweck, ebeu durch Vergleichen die Urform zu
finden, aus der die verglichenen Formen sich entwickelt und abgezweigt haben.
Was will aber eine vergleichende Poetik, wie sie hier geübt wird, herausbringen?
Anklänge zusammenzustellen, die ganz sicher nur der Zufall geschaffen, das hat
doch keinen andern Wert, als wenn man etwa in der Sprachwissenschaft, so
wie es im vorigen Jahrhundert geschah, den und Feuer oder «ä^ und Auge
oder vuIZus und Volk mit einander vergleichen wollte.
Besondre Sorgfalt hat Loeper derjenigen Rubrik seiner Anmerkungen
gewidmet, in der er die musikalischen Kompositionen Goethischcr Dichtungen ver¬
zeichnet. Mit einer eleganten Abwechslung, die bei seiner sonstigen Gleichgiltig-
keit gegen stilistische Reize doppelt auffällt, hat er bei den meisten Gedichten am
Schlusse seiner Anmerkungen aufgezählt, wer alles sie in Musik gesetzt, für Musik
gesetzt, komponirt, für eine Singstimme gesetzt, für Gesang gesetzt, für Gesang
komponirt oder Musik dazu geschrieben hat. Ans Vollständigkeit machen diese
Notizen wohl keinen Anspruch. Goethe ist so massenhaft komponirt worden,
daß es sich bei einer Berücksichtigung auch dieser Seite der Goethelitcratnr doch
immer nur um eine Auswahl des Bemerkenswertesten handeln kann. Als be¬
merkenswert aber erscheinen vor allem die frühesten Kompositionen, die entweder
gleichzeitig mit dem Texte oder doch sehr bald nach Veröffentlichung desselben
ins Publikum gedrungen sind und dadurch zur Verbreitung Goethes beigetragen
habe», und außerdem die schönsten von den neueren, die seit der Entstehung
des modernen musikalischen Liedes, also seit Franz Schubert, geschaffen worden
sind. Die Loeperscheu Verzeichnisse mache» etwas den Eindruck des zufällig
aufgerafften. Wir wissen nicht, ob Loeper Musikus ist und über musikalische
Kompositionen ein eignes Urteil hat. Es scheint so, da er gelegentlich einmal
ein Urteil ausspricht, wie über die Komposition des „Gvldschmiedsgescllen" von
L. Schlottmann, die er als „sehr gelungen" bezeichnet. Es scheint aber auch
wieder nicht so, denn er nennt eine Menge unbedeutendes Zeug, während
einzelnes Schöne und Charakteristische fehlt.
Was die ältern Kompositionen betrifft, so wäre es gut gewesen, wenn
unter den Liedern aus dem „Leipziger Liederbuche" jedesmal bemerkt worden
wäre: komponirt von Breitkopf (1769). Es steht zwar stets in der Rubrik
„Erste Drucke" bemerkt, daß diese Lieder zuerst im „Leipziger Liederbuche" ver¬
öffentlicht worden seien, aber der Leser, der wegen des einzelnen Liedes nach¬
schlägt, denkt doch dabei nicht immer an die Komposition. Und doch sind
unter den Breitkopfschen Liedern einzelne, die Mozarts würdig wären, so frisch
und natürlich fließt ihre Melodie. Ähnlich verhält es sich mit den Nummern aus
den Licderheften Seckendorffs, wiewohl »ach diesen heute aus musikalischen In¬
teresse niemand mehr zu fragen braucht; es sind langweilige, gespreizte Sachen,
„monoton mit großer Inbrunst" gesungen, ganz so wie Goethe in dem Gedichte
„Ilmenau" den Gesang Seckendorffs schildert. Vom „Veilchen" sind uns fünf
Kompositionen aus den Jahren 1775—1781 bekannt, die also vor der Mozartschen
(1785) entstanden sind; Loeper nennt nur eine, die von Seckendorff. Beim
„Neue» Amadis" vermissen wir die Kompositionen von Johann Philipp Schön¬
feld (1778) und von Corona Schröter (1786). Schönfeld gab 1778 ein Heft
„Lieder aus der Iris" heraus. Darin findet sich auch eine Komposition des
Liedes „An Belinden," also die zweite dieses Liedes; die erste, die von Kayser
herrührt, ist bei Loeper verzeichnet; sie erschien aber nicht erst 1777, sondern
steht bereits 1775 im Märzhefte der „Iris." Offenbar ist die Kaysersche
Komposition diejenige, in der Lili das Lied sang, als Goethe vor seinem Weg¬
gange »ach Weimar zum letztenmale des Abends vor Lilis Fenster vorbeiging.
Beiläufig: Die schöne, rührende Melodie Kaysers zu dem Liedchen aus „Erwin
und Elmire": „Ihr verblühet, süße Rosen," die sich an eine Opernarie Gretrys
anlehnt, stammt in der That, wie Loeper in seinen Anmerkungen zu „Dichtung
und Wahrheit" vermutet, aus „Zcmire und Azor," aber nicht ans einer der
beiden dort von ihm angeführten Nummern, sondern aus der Arie loi Asmirs
<ius s'aäoro. Von „Jägers Nachtlied" führt Loepcr ebenfalls eine Komposition
Kaysers ans dein Jahre 1777 an. Wo ist diese gedruckt? In dem bei Steiner
in Winterthur 1777 erschienenen Liederhefte findet sie sich nicht. Die früheste
Komposition des Liedes, die wir nachzuweisen imstande sind, ist die von I. I. Wälder
(1780). Entgangen zu sein scheinen dem Herausgeber die 1793 von Andreas
Romberg veröffentlichten Lieder, in denen sich das „Haidenröslcin," der „Fischer,"
der „Erlkönig" und das Lied „An den Mond" finden. Einen „Erlkönig" von
Romberg erwähnt zwar Loeper auch, als aus „op. 7" stammend. Das Lieder-
Heft vou 1793 trägt aber keine Opuszahl. Vom „Herbstgefühl" (Fetter grüne,
du Laub) giebt es eine Komposition von Bettina in einem Liederheftc, das sie
Spontini widmete, ein dilettantisches Machwerk, das aber doch um seiner
Schöpferin willen bemerkenswert ist.
Auch unter den neuern Kompositionen vermißt man mancherlei, wie Robert
Schumanns „Wandelnde Glocke," Moritz Hauptmanns „Maillet" (Zwischen
Weizen und Korn) u. ni. Einige sehr anmutige Nummern enthalten die 25 Lieder
„für große und kleine Kinder" von dem Göttinger Universitätsmusikdirektor
Eduard Hille. Das Heftchen verdiente in jedem Hause zu sein, wo musizirt
wird. Eigentümlich ist es Loeper mit Otto Scherzer gegangen- Er nennt ihn
einmal Scherzer „den vergessenen" und führt ihn zwischen Reichardt und Romberg
auf, also wie einen dunkeln Ehrenmann aus dem Ende des vorigen Jahr¬
hunderts. Scherzer erfreut sich aber in Stuttgart des besten Wohlseins und
hat erst vor kurzem noch ein paar Liederhefte veröffentlicht. Seine Kompo¬
sition des Liedes „An den Mond" ist vielleicht die schönste, die es von diesem
Liede überhaupt giebt. Ungenau ist auch die Angabe, daß Rubinstein „Wandrers
Nachtlied" (Über allen Gipfeln) komponirt habe; Rubinstein hat eine russische
Übersetzung des Liedes von Lermontvff — eine russische Übersetzung! welche
Merkwürdigkeit! und sie fehlt bei Loeper! — komponirt, die dann wieder, um
zur Melodie zu Passen, frei ins Deutsche zurückübersetzt worden ist mit den An-
fangsworten: Aller Berge Gipfel ruhn in dunkler Nacht.
Ärgerlich ist es, daß Loeper auch in seinem Verzeichniß der musikalischen
Kompositionen so ungleichmäßig und zum Teil so oberflächlich zitirt. Bald
nennt er nur den Namen des Komponisten, bald fügt er eine Jahreszahl hinzu,
bald eine Opuszahl, bald die Nummer des Liedes in dem betreffenden Hefte,
bald giebt er an, ob das Lied einstimmig oder mehrstimmig sei, bald wieder
nicht. Wenn man nur irgendwelche Ratio in dieser Verschiedenheit entdecken
könnte! Aber das einemal werden die bekanntesten Lieder, die jedes junge Mädchen
singt, mit umstündlicher Genauigkeit zitirt, während man sich ein andermal wieder
bei den unbekanntesten Sachen mit dem bloßen Namen begnügen muß. Beim
„Fischer" heißt es: „M. Hauptmann (ox. 31)." Wer soll ahnen, daß diese
Komposition — für Mezzosopran mit Klavierbegleitung und obligater Violine —
eine der herrlichsten Tonschöpfungen ist, die es auf der Welt giebt, von höchstem
Adel und absolutester Formvollendung? Das Lied ist gänzlich unbekannt,
Beethovens und Schnberts sämtliche Lieder sind in der Edition Peters jetzt
für ein Paar Mark zu habe» — was bedarf es da noch bei dem einzelnen Liede
der Opus- oder der Jahreszahl? Aradus' sämmtliche Lieder kosten vielleicht
hundert Mark, und abschreiben lassen darf mau sie sich ja nicht, wenn man nicht
von Herr» Simrock in Berlin — wie er auf dem Umschlage jedes Brahmsscheu
LiedcrhcfteS grimmig androht — durch die Staatsanwaltschaft verfolgt werde»
will. Wie freundlich wäre es da gewesen, wenn Locper immer hübsch die Opns-
ziffer angegeben hätte!
Doch genug der Wünsche und Ausstellungen. Wir haben selten ein Buch
mit so freudigen Erwartungen zur Hand genommen wie diesen ersten Band einer
neuen Goethcausgabc. Die rundeste und süßeste Frucht der Goetheforschung
hoffte» wir in dem Loepcrschcu Kommentar zu Goethes Gedichten zu finden.
Aber mit wachsender Enttäuschung habe» wir das Buch studirt, trotz mancher
interessanten Einzelheiten, durch die es uns erfreut hat. Wenn die Kreise der
Goethegemcinde, anstatt sich zu erweitern, infolge dieser Ausgabe sich zusammen¬
zogen, ein Wunder wäre es nicht: die Loeperschc Arbeit ist nach Inhalt und
Form viel eher geeignet zu entfernen als anzulocken.
ur Henri Regnault ist der leidenschaftliche Patriotismus seiner
Landsleute so thätig gewesen, daß der Geschichtschreiber Mühe
hat, aus dem Gewirr der enthusiastischen Lobeserhebungen das
Bleibende herauszufinden und den Maler vou dein Patrioten zu
trennen. Da Regnault in einem der letzten Kämpfe des deutsch-
fmuzösischeu Krieges einen frühen Tod gefunden hat, so erscheint er in den
Augen der Franzosen fortan in der doppelten Gloriole des großen Künstlers
und des todesmutigen Märtyrers, welcher sein Blut auf dem Altare des
Vaterlandes verspritzt hat. Diesem durch die Tollkühnheit des Malers hervor¬
gerufenen Zufalle ist es wohl in erster Linie zu danken, daß sich bereits um
den Toten eine umfangreiche Literatur gebildet, daß man seine Briefe heraus¬
gegeben und ihm ein Denkmal in der lüools ass beaux-g-res gesetzt hat, sowohl
um ihn zu ehren, als um die künstlerische Jugend Frankreichs zur Nacheiferung
anzuspornen. Die Erinnerung an ihn weckt den schlummernden Chauvinismus
zu immer neuen Drohungen und Schmähungen gegen die „Mörder." Jules
Claretin, der fanatische Publizist, steht nicht vereinzelt da, indem er den Tod
Rcgnanlts un meurtrg swpiäg nannte, nud er sprach gewiß ans dem Herzen der
meisten seiner Landsleute, indem er eine Besprechung der Publikation von Reguaults
Briefe» mit der emphatischen Apostrophe schloß: „Wir selbst haben früher,
ebenso großmütig wie naiv, deu Hingang eines Theodor Körner, des deutsche»
Tyrtcius, welcher im Kampfe gegen uns den Tod fand, eifrig gefeiert. Es ist
hoch an der Zeit, in gleicher Weise diesen Künstler zu feiern, welcher für unser
Vaterland und von der Hand der Brüder Körners starb!" Hat doch selbst das
Generalkvmmissariat der Pariser Weltausstellung in der elegischen Vorrede zum
offiziellen Kataloge, welche den Tod so vieler ausgezeichneten Künstler beklagt,
der „jungen Leute, die in der Blüte ihrer Jugend auf den Schlachtfeldern ge¬
fallen sind wie Henri Regnault" gedacht, ohne daß in Wirklichkeit außer ihm
Verluste von Künstlern zu betrauern sind, von welchen die französische Kunst
großes zu erwarten hatte. Auch Regnault wäre, wenn er sich auf der von
ihm betretenen Bahn weiter fortbewegt hätte, für die fernere Entwicklung
der französischen Kunst eher schädlich als förderlich gewesen. Wenn man seine
Werke mit Augen betrachtet, welche nicht durch das leidenschaftliche Feuer des
Patriotismus getrübt sind, kommt man notwendig zu dem Schlüsse, daß es
diesem durch und durch auf den äußeren Effekt, uns das Blendwerk eines kom-
plizirten koloristischen Apparates angelegten Talente vollkommen an jener mäch¬
tigen Innerlichkeit der schöpferischen Seele fehlte, welche allein die Bürgschaft
großer Thaten ist, welche das Genie von der Routine, welche Delacroix
von Delaroche trennt. Charles Blane ist der einzige von den französischen Kri¬
tikern gewesen, welcher sich in Betreff Negnaults die Nüchternheit des Urteils
bewahrt hat. „Wäre Regnault ein großer Maler geworden?" fragt er in seiner
Charakteristik des Künstlers. „Man darf es wohl glauben. Indessen hätten seine
entschiedenen Neigungen für den Realismus und deu Kolorismus ihn vom
rechten Wege abwendig machen oder ihn wenigstens daran hindern können, den
höchsten Gipfel zu erreichen. Regnault war, wie man zugeben muß, der rechte
Sohn seiner Zeit. Er gehörte zu jeuer Künstlergencrativn, welche, bis zur
Sinnlosigkeit eingenommen für die Außenseiten der Natur, an der menschlichen
Kleidung, an den Trachten der verschiedenen Völker, an der Fassade der Paläste,
an dem ersten Anblick der Dinge hängen bleibt. Als ob die menschliche Seele
nichts mehr hätte, was unsre Kunst zu interessiren würdig wäre, zieht mau es
vor, die prächtige Hülle eines Arabers oder die grellfarbigen Lumpen eines
Spaniers wiederzugeben als irgend einen Gefühlsausdruck. Ach, so haben es
die großen Meister nicht verstanden, ich meine die größten. Was sehen wir
bei ihnen? Eine stolze Zeichnung, eine ruhige Wirkung, eine einfache Technik.
Die Formen, das Gepräge des beabsichtigten Charakters sind auserlesen in ihrer
Modellirung und in ihrer Bewegung, Das Kolorit, mit welchem diese Formen
bekleidet sind, dient mir dazu, um sie besser hervortreten zu lassen. Ganz im
Gegenteil verherrlichte die Schule, von welcher sich Regnault treiben ließ und
deren glänzendes und gefeiertes Haupt er werden sollte, eine Kunst, welche den
Literaturen in Zeiten des Verfalles gleicht, in welchen die Würde des Inhalts
unter dem Flitter des Stils verschwindet," Diese für die ganze moderne Historien¬
malerei Frankreichs zutreffende Kritik aus der Feder eiues Franzosen ist umso wert¬
voller, als die meisten Franzosen gar kein Auge, gar kein Verständnis für die schiefe
Ebene haben, auf welcher sich ihre Historienmalerei abwärts bewegt, gar kein
Gefühl für die widerwärtige Blut- und Leichenmalerei, welcher Regnault und
alle übrigen mit leidenschaftlicher Hingabe huldigten und huldigen, Charles
Biene nennt selbst Paul de Saint-Victor einen Kritiker mit scharfem Blicke, weil
er darauf hingewiesen hat, daß Henri Regnault, ein junger Mann von liebe¬
vollem Charakter und von hingebender Güte für seine Freunde, eine sonderbare
Vorliebe für Szenen des Mordes hatte. Mit einem bis zu dem feinsten Raf¬
finement zarten Pinsel liebte er es, blutige Dramen zu malen, den Blitz schnei¬
diger Schwerter und das Grausen abgeschlagener Köpfe. Mit einem Kolorit,
welches heiter und festlich, herb und köstlich zugleich war, stellt er mit Vorliebe
den maurischen Henker dar, welcher nach einer Hinrichtung seinen Säbel ab¬
wischt, und die Tänzerin Salome, welche mit lüsternem Lächeln auf die Ent¬
hauptung Johannes des Täufers wartet.
Neguaults kurze Lebensgeschichte, vor allem aber seine brieflichen Auf¬
zeichnungen lehren uns, daß er trotz großer Gemütstiefe als Künstler der spe¬
zifisch malerischen Anschauung folgte, welche nur die Oberfläche der Dinge streift.
Seine Leidenschaft war nur Strohfeuer, sie kam meist aus dem Grunde eines
Feuergeistes herauf^ nicht die verzehrende, aber immer sich erneuende Flamme
des Genies war sein Leitstern, sondern die Caprice lind Nervosität, welche sein
Auge unersättlich machten und ihn in ungemessene Formen trieben. Geboren
am 30. Oktober 1843 in Paris als der Sohn eines hervorragenden Chemikers,
der später Direktor der Porzcllanmamifaktur in Sevres wurde, gab er schon
frühzeitig Beweise eines ungewöhnlichen Talentes, indem er, wie Gerieault, mit
welchem er auch in seinem kurzen, meteorartigen Lebenslaufe und in der Kühnheit
seiner realistischen Bestrebungen Ähnlichkeiten hat, Tiere, besonders Pferde zeichnete.
Seine Schulstudieu wurden jedoch durch den leidenschaftlichen Trieb zum Zeichnen
nicht vernachlässigt. Als er sie beendet hatte, trat er in das Atelier von Lamothe,
eines Schülers von Ingres. Hier erwarteten ihn nur Enttäuschungen, da die
stilisirende Methode seines Lehrers den auf eigene Hand in den zoologischen
Gärten und Tierställen gewonnenen Naturstudien entgegenlief. Sein Auge
sehnte sich nach der Farbe, und er hielt sich deshalb mehr an die Koloristen
des Louvre, Rubens, Tizian und Veronese, als an das freudlose und frostige
Rezept seines Lehrers. Solange er sich aus Respekt an die Unterweisungen des
letzter» hielt, gelang es ihm nicht, den römischen Preis zu erringen. Erst nach¬
dem er zu Cabanel gegangen war, welcher den Individualitäten seiner Schüler
freien Spielraum ließ, drang er durch und erhielt den Preis für eine Kom-
position „Thetis bringt die Waffen des Achilles/' Im Frühjahr 1867 begab
er sich nach Rom; aber die ewige Stadt entsprach seinen Erwartungen bei
weitem nicht. Hätte sein erster Besuch Venedig gegolten, so wäre sein uner¬
sättlicher Durst nach Farbe und Licht vorübergehend gestillt worden. Aber Rom
mit seiner ernsten Schönheit, deren architektonisch-plastischer Charakter auch in der
Landschaft und in den Menschen wiederklingt, vermochte ihn nicht lange zu fesseln,
obwohl er sich alle Mühe gab, wenigstens dem römischen Volksleben einige
malerische oder doch für sein Bestreben nach Charakteristik dankbare Seiten ab¬
zugewinnen. Immerhin ließ er sich von dem klassischen Hauche der Villa Medici,
welche damals unter Hcberts Leitung stand, eine Zeit lang tragen. Ein Besuch,
welchen er in Gemeinschaft mit Kollegen im Januar 1868 Neapel abstattete,
um daselbst Zeuge eines Vesuvausbruches zu sein, scheint einen nachhaltigen
Eindruck auf ihn geübt zu haben. Wie Fromentin verstand er es, ebenso
glühend und leidenschaftlich wie mit dem Pinsel auch mit der Feder zu malen
und seine Vesuvbesteigung mit brennenden Farben zu schildern. „Zum Lohn
für unsre Anstrengungen befanden wir uns vor einem wahrhaft höllischen Schau¬
spiel. Die Lava stieg kochend aus einer Art von Tunnel empor und floß wie
ein Strom geschmolzenen Metalls dahin, welches nur weißliche Glut ausstrahlte.
Auf Augenblicke hemmte sie ihren Lauf, hob sich dann zu wiederholten malen
empor wie die Brust eines schwer atmenden Riesen, und jedesmal ließ sie wie
tiefe Seufzer Schwefeldämpfe emporsteigen, welche der Wind weit von uns fort¬
trieb. Über unsern Köpfen dehnte sich, einem großen Federbusche vergleichbar,
die von dem roten Wiederschein der Lava beleuchtete Dampfwolke aus. Alle
zehn oder fünfzehn Sekunden spie der Krater eine pechschwarze Wolke aus,
welche wie ein kolossaler Baum emporstieg und als Aschenregen wieder herab¬
fiel. Mitten aus dieser schwarzen Fontaine sprangen glühende Steine bis zu
einer ziemlich beträchtlichen Höhe heraus, fielen wieder herab und rollten von
den Abhängen des kleinen Kegels herunter. Es war ein Feuerwerksbomuiet
in großem Stil, welches mit einem seinem Umfange entsprechenden Geprassel
abgebrannt wurde."
Seine Sehnsucht ging nun über das Meer hinaus, nach Spanien, nach
Afrika, nach Marokko. In Briefen gab er seinen Wünschen und Träume» Ge¬
stalt. „Ich will die ersten Mauren wieder erstehen lasse», reich und groß,
schrecklich und wollüstig zugleich, wie man sie nur noch in der Vergangenheit
sieht. Dann Tunis, dann Ägypten, dann Indien. Ich werde von Begeisterung
zu Begeisterung steigen, ich werde mich mit Wunder» berauschen, bis ich, voll¬
komne» trunken und mit Visionen erfüllt, i» »»sie düstere und alltägliche Welt
zurückfallen kann, ohne zu befürchte», daß meine Augen das glänzende Licht
verlieren, welches sie zwei oder drei Jahre lang sehen sollen." Regnault trug
sich also bereits mit Plänen, welche nachmals der abenteuerliche Russe Wereschagin
verwirklichte. Wenn Regnaults Laufbahn nicht ein so frühzeitiges Ende ge¬
funden Hütte, wäre er nach diesem Programm im günstigsten Falle ein Ethno¬
graph mit dem Pinsel oder, wie sich Claretin treffend ausdrückt, „ein Universal¬
lexikon der Farbe" geworden. Da er sich durch einen Sturz vom Pferde und
durch das römische Klima eine Erschütterung seiner Konstitution zugezogen hatte,
welche ihm gefährlich zu werden drohte, wurde die Erfüllung seiner Wünsche
erleichtert. Im September 1868 begab er sich nach Spanien. Anfangs machte
ihm die Roheit der Stierkämpfe einen peinlichen Eindruck. Aber zu gleicher
Zeit wurde sein Auge durch die farbige Pracht der Kostüme, welche die Pica-
dores trugen, versöhnt, und er gewöhnte sich so schnell an diese grausamen
Schauspiele, daß er den Plan faßte, eine Judith mit dem Haupte des Holo-
fernes zu malen. Er suchte in Madrid mit Vorliebe die Lokale auf, in welchen
sich das niedrige Volk, Droschkenkutscher, Portiers und Obsthändler, vergnügten.
„Schreckliche Physiognomien" bekam er da zu sehen, aber auch eine Volkssängerin
Doloris, deren Altstimme, deren Mund und Lippen, deren Haare „geringelt
wie Schlangen und von prächtigstem Schwarz" ihn derartig begeisterten, daß
er sie als Modell für seine Judith benutzen wollte. Goyas charaktervolle
Typen aus dem Volksleben haben ihn in erster Linie dazu veranlaßt, sich mit
den Gewohnheiten des Volkes vertraut zu machen. Daneben war er auch ein
gern gesehener Gast in den Salons der vornehmen Gesellschaft, in welcher er
einflußreiche Gönner fand, die auch seine Bekanntschaft mit dem General Prim
vermittelten. Im Salon von 1868 hatte er bereits durch ein weibliches Porträt
die Hoffnungen, welche man auf ihn gesetzt hatte, gerechtfertigt. Der Salon von
1869 führte ihn durch sein Nciterporträt des Generals Prim mit einem
Schlage in die Reihe der gefeiertsten Maler Frankreichs.
Regnault war während der Revolution in Madrid geblieben und hatte mit
Spannung die Ereignisse verfolgt, aus deren Mitte die Heldengestalt Juan
Prius hervortrat, dessen romantisches Leben die leicht entzündliche Phantasie
des jungen Malers in Flammen setzte. Er nannte in einem Briefe die Em¬
pörung der Spanier gegen die bourbonische Königin „eine Musterrevolution,
die erste kluge und vernünftige Revolution, welche es gegeben hat." Alles war
glatt und ruhig abgelaufen; nicht ein Tropfen Blut war geflossen. Aber
darum war der Jubel nicht minder laut und eifrig, welcher den siegreichen
Führer am 8. Oktober 1863 bei seinem Einzuge in Madrid empfing. Diesen
Moment des größten Enthusiasmus griff Regnault auf, nachdem er die Er¬
laubnis erhalten hatte, den General zu Porträtiren. Prim war ein Mann
von nur mittelgroßer Gestalt und von blasser Gesichtsfarbe, und deshalb be¬
diente sich Regnault eines schon von den antiken Künstlern, von den großen
Bildhauern der Renaissance, von Domtello und Verrocchio, auch von dem
großen Maler des Landes, von Velasquez, mit Erfolg angewendeten Kunst¬
griffs. Er setzte die schmächtige Gestalt unbedeckten Hauptes auf einen mäch¬
tigen andalusischen Hengst von schwarzer Farbe und verlieh so dem Reiter den
heroischen Charakter, welchen die Natur seinem Äußern versagt hatte. Die
prächtigsten Pferde der königlichen Marseille waren dem Maler, der ohnehin
mit der Natur des edeln Tieres aufs innigste vertraut war, zur Verfügung
gestellt worden. Er schlug sein Atelier in einer Wagenremise auf, in deren
Nähe sich eine Reitbahn befand, in welcher ihm Stallknechte die Pferde vor¬
ritten, damit er ihre Bewegungen studiren konnte. Der Marschall hält auf
einer Anhöhe, über welche ein leichter Wind streicht, der mit seinen Haaren
und der Mähne des Pferdes spielt. Er hat mit kräftigem Ruck die Zügel
angezogen, sein Körper neigt sich etwas nach rückwärts, und das ungeduldige
Roß senkt, dem Drucke der Zügel wenn auch widerwillig gehorchend, sein
stolzes Haupt. Die dunkelgrüne Uniform ist bestaubt. Aber kräftig und mit
plastischer Ruhe heben sich Roß und Reiter von dem blauen Himmel und den
farbigen, bewegten Gruppen des Hintergrundes ab. Von der Anhöhe herab
bewegen sich nämlich die Soldaten der Revolutionsarmee der Ebene zu, wilde,
abenteuerliche Gestalten, die einen in Uniformen, die andern in malerischen
Lumpen, wie sie der Zufall zusammengewürfelt hatte, und über ihnen flattern
die bunten Fahnen in der Luft. Sie jauchzen ihrem Führer zu, welcher den
Ruhepunkt, den sichern Felsen in dieser bewegten Menge bildet. So gewann
dieses Bildnis zugleich einen historischen Charakter.
Aber der General selbst hatte für die großen Absichten des Malers kein Ver¬
ständnis und verweigerte ziemlich brüsk die Annahme des Porträts. Die Gründe,
weshalb er es ablehnte, sind nicht ganz bekannt. Der Hauptgrund war jedenfalls
der, daß der Marschall an der Soldateska im Hintergrunde Anstoß nahm, unter
welcher sich auch katalonische Bauern mit Dreschflegeln befanden. Er, der feine
Aristokrat, wollte nicht gern an den revolutionären Ursprung seiner Macht erinnert
sein. Auch fühlte sich seine Vorliebe für militärische Akkuratesse und Sauberkeit
durch die nachlässige Tracht und Haltung, welche Regnault als durch die Situation
begründet angenommen hatte, etwas verletzt. Er bestand auf einigen Änderungen,
und da sich Regnault nicht dazu verstehen wollte, behielt der Maler sein Bild.
Man darf wohl sagen, zum Glück, da das Meisterwerk des jungen Künstlers,
welches er durch seine spätern Arbeiten nicht wieder übertroffen hat, in eine
öffentliche Sammlung, erst in den Luxembourg, dann in das Louvre gekommen
ist und zugleich den Namen des Künstlers durch die Weltausstellungen von
Wien und Paris allgemein bekannt gemacht hat. Es ist eine jener Schöpfungen
vom Schlage des „Flosses der Medusa" und der „Barke des Dante," vor denen
man fühlt, daß in ihnen ein neuer Gedanke Gestalt gewonnen, daß in ihnen
el» reformatorischer Geist sein erstes Wort gesprochen hat. Aber Regnaults
fernere Laufbahn hat gezeigt, daß er mit jenen schöpferischen Genies nicht zu
Vergleichen ist, daß er ein Vulkan war, der wohl einmal eine Flammensäule
emporstoßen konnte, der aber damit seine Kraft erschöpft hatte. Von Rom
hatte er ein halbvvlleudetes Gemälde „Judith und Holofernes" mitgebracht,
welches ihn unablässig beschäftigte, und daneben tauchte bereits der Gedanke an
eine „Salome" auf.
Als Inhaber des römischen Preises hatte er die Verpflichtung, nicht nur
alljährlich Probe» von dem Fortgange seiner Studien, sondern auch eine Kopie
nach dem Gemälde eines klassischen Meisters abzusenden. Für diesen letztern
Zweck wählte er das unter dem Namen I^s liiMWs (Die Lanzen) bekannte
Bild des Vclasquez im Museo del Prado in Madrid, welches, die Übergabe
von Breda darstellend, jenen Namen von den in die Höhe gerichteten Lanzen
der Leibgarde Spinolas erhalten hat. Die Wahl dieses Gemäldes, welches
einen historischen Vorgang einfach und schlicht erzählt, beweist, daß er sich
damals noch in der gleichsam epischen Stimmung befand, welche die Beschäf¬
tigung mit dem Bildnisse Prius in ihm, wenn auch nur vorübergehend, erzeugt
hatte. Eine Kopie von diplomatischer Treue vermochte er freilich nicht zu
liefern. Er nahm: an, daß die Zeit dem ursprünglichen Glänze der Farben
Abbruch gethan hätte, und malte das Bild so, wie er glaubte, daß es zu den
Zeiten des Velasquez ausgesehen haben würde. Es steckte in ihm ein gutes
Stück vou dem leidenschaftlichen Eifer jener politischen Parteien, die man, je
nach ihrem Vaterlande, Exaltados oder Progressionisten nannte. „In Spanien,"
sagt Charles Blanc treffend, „ist er ebensosehr und vielleicht noch mehr Spanier
als es Ribera und Zurbaran waren, was die outrirteu Aquarellen und die
furios hingeworfenen Gemälde beweisen, welche rohe Arragonier, Maultiertreiber
vou La Manea, schwarzbraune Andalusier, Bewohnerinnen von Madrid und
Basta darstellen. In Marokko ist er noch afrikanischer, noch mehr Araber,
Beduine, Maure als Delacroix." Im Frühling ging er wieder nach Rom
zurück, um seine zurückgebliebenen Sachen für den Transport nach Spanien zu
ordnen. Während dieser Zeit begann er seine „Salome," welche der erste
Schritt auf dem Wege war, den Regnault für den richtigen hielt. Es kam ihm
garnicht darauf an, den Vorgang nach der biblischen Überlieferung zu schildern.
Er ließ deshalb auch das Haupt Johannes des Täufers weg, das sich sonst
die Maler, welche an dieser Szene Gefallen fanden, niemals haben entgehen
lassen, und konzentrirte das Interesse allein auf die Gestalt der Salome, in welcher
er den Dänion der blutdürstigen Wollust mit einem infernalischen Raffinement
Personifizirte. Diese Absicht des Künstlers trat mit der Zeit so sehr in den Vorder¬
grund, daß er das ursprüngliche Motiv ganz vergaß. „Salome ist ein Name,"
schrieb er, „der nicht bizarr genug ist; ich möchte einen Namen haben, den niemand
aussprechen kann." Im Anfang des August ging er zum zweitenmal? nach Spanien
und zwar zunächst nach Alicante, wo er sich mit seinem Freunde Clairin eine Zeit
lang aufhielt. Dann begaben sich beide nach Granada, und hier, im Angesichte der
schimmernden Pracht der Alhambra, enthüllte sich seinen Augen die Welt, die
er sich erträumt hatte. Damals stieg der erste Gedanke an die „Hinrichtung"
in seiner Phantasie auf. Die Briefe, welche er unter dem Eindruck der mau¬
rischen Paläste schrieb, atmen eine orientalische Glut. Die Einsamkeit der Al¬
hambra bezauberte ihn, und Tage lang hielt er sich in ihren Hallen auf, um
seine Studien zu machen.*) Während eines Ausfluges nach Gibraltar hatte er
jedoch einen Blick auf die afrikanische Küste geworfen, und fortan klammerte
sich seine Sehnsucht, die ihn nirgends lange rasten ließ, an dieses Land der
ewigen Sonne. Der Gedanke an den Winter in Granada verursachte dem
Künstler, der sein Leben lang fröstelte, Unbehagen, und sein ganzes Streben
war darauf gerichtet, die künstlerischen Entwürfe, die er begonnen, in Afrika
auszuführen. „Ich gestehe," schrieb er noch während seines Aufenthalts in
Spanien, „daß mir Italien im Vergleich zu Spanien trübe, zu sehr bekannt
und verbraucht erschienen ist. Die Italiener, Männer sowohl wie Frauen, sind
mir zum Überdruß; ihre Trachten kommen mir schwarz, langweilig, unharmonisch
blendend vor. Welch ein Unterschied gegen Spanien, welches gleichwohl nnr
ein Übergangsstadium, eine Zwischenstation ist! Der Osten ist es, der mir über
alles geht, den ich ersehne, den ich haben will. Ich glaube, daß ich dort allein
zum Vollgefühl meiner Kraft gelangen werde."
Im Dezember 1869 ging er nach Tanger, wo er sich in einem maurischen
Hause niederließ und auf einem mit Glas gedeckten Hofe sein Atelier aufschlug.
Hier vollendete er zunächst seine „Salome," welche bereits einen Käufer gefunden
hatte, und schickte sie dann nach Paris, wo sie im Salon von 1870 zur Aus¬
stellung gelangte. „Das Bildnis Prius ist ganz Spanien, die Salome der
ganze Orient," schrieb Theophil Gautier in seiner Begeisterung; aber das moderne
hätte er hinzufügen können. Die Tochter der Herodias sitzt auf einem mit Elfen¬
bein inkrustirteu kastenartigen Möbel, wie man es heutzutage im Orient, in
Ägypten und in der Türkei überall findet. Sie hat die Rechte nachlässig in
die Seite gestemmt und umspannt mit der Linken einen Jatagan mit elfenbeinernen
Griff, der in einem kupfernen, zur Aufnahme des Hauptes bestimmten Gefäß
liegt Um dieses auf den Knien zu halten, hat sie die nackten, in kleinen Pan-
töffelchen steckenden Füße etwas emporgezogen. Das Gewand von durchsichtigem
Goldstoff, welches von der rechten Schulter herabgesunken ist, läßt auch die
Formen und die Fleischfarbe der Beine durchscheinen. Während hier alles auf
sinnlichen Reiz berechnet ist, spiegelt das keineswegs schöne, von einer Flut
schwarzer Locke» umrahmte Antlitz die Blutgier einer Tigerin, welche auf ihre
Beute wartet, und die Lippen umspielt ein gedankenloses Lächeln, welches die
abgestumpfte Dienerin der Wollust charakterisirt. „Obgleich sie auf ihren Knien
die Werkzeuge des Todes hält," sagt Paul Mantz, „obgleich ihre Hand zerstreut
mit dem Handschar spielte, denkt sie sich nichts, wie ein Tier voll milder Grazie,
welches gar nicht weiß, daß es reizend und fürchterlich zugleich ist." Und
Charles Blanc macht dazu die treffende, anch für die gesamte Kunstanschauung
Regnaults giltige Bemerkung, daß er „aus der menschlichen Gestalt ein prächtiges
Objekt, eine liebenswürdige und glänzende Pflanze, ein Kleinod wie jedes andre
in dem allgemeine» Juweleukasten" machte. Er behandelte das menschliche Wesen
als gleichwertig mit dem Tigerfell, ans welches Scilome ihre Füße gestellt hat,
und mit dem gelben Stoffe des Hintergrundes, von welcher sich der Kopf gerade
so abhebt wie das bunte Gewand und der mit großer Sorgsamkeit gemalte
Sitz. „Regnault malte mit gleicher Liebe ein lebendes Geschöpf oder ein Stück
Zeug, ein weibliches Modell oder eine asiatische Fayence."
Daß Regnault, indem er diesen Weg einschlug, nicht etwa einem Instinkt
folgte, sondern mit bewußter Absicht vorging, beweist das letzte Gemälde, welches
ihm zu vollenden beschicken war, die „Hinrichtung ohne Urteilsspruch unter den
maurischen Königen in Granada." Der Gedanke an ein solches Bild, in welchem
er seine ganzen Alhambrastudien zusammenfassen wollte, hatte ihn schon während
der letzten Monate des Jahres 1869 beschäftigt. Jetzt ging er, Ende März,
noch ein drittes mal nach Spanien, nach Sevilla und nach Granada, um seine
Erinnerungen aufzufrischen und neue Studien zu machen. Ende Mai war er
wieder in Tanger, voll Ungeduld, endlich sein Werk zu beginnen, welches die
letzte seiner Sendungen als Stipendiat war und welches in der Ausstellung der
Lvols as« b6g,ux-art>8 figuriren sollte. Er muß es in kurzer Zeit vollendet
haben; es traf im Sommer in Paris ein, zu einer Zeit freilich, als niemand
an die Kunst und noch weniger an die Arbeiten der Kunstschüler dachte. Die
Kriegserklärung an Preußen war eben erfolgt, und die Wogen der öffentlichen
Aufregung überfluteten alle Interessen, die sich nicht unmittelbar an die Frage
des Tages knüpften. Erst die nach dem Tode Regnanlts im Jahre 1872 ver¬
anstaltete Ausstellung seines künstlerischen Nachlasses, seine Aquarelle, Studien
und Zeichnungen, lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf das letzte Werk des
Künstlers, der inzwischen zum nationalen Heros gestempelt worden war. Auf
der obersten Stufe einer Treppe, die in das Innere eines Palastes im Stile
der Alhambra führt, steht ein langer Maure. Sein brauner Kopf, von welchem
sich eine weiße Binde in schneidendem Kontraste lostrennt, sieht wie aus Bronze
gegossen aus. Sein Gewand hat, in merkwürdigem Widerspruch zu seinem
blutigen Geschäfte, die zahme Farbe blasser Rosen. Mit dem Ausdruck voll¬
kommener Gleichgiltigkeit wischt er an seinem Gewände ein paar Blutstropfen
von der Klinge seines Säbels ab, mit welchem er soeben das Haupt von dem
Rumpfe einer prächtig in grüner Seide gekleideten Persönlichkeit abgeschlagen
hat, die zu seinen Füßen zusammengestürzt ist. Der Kopf mit den schrecklich
verdrehten Augen ist ein paar Stufen herabgerollt und hat auf dem weißen
Marmor Lachen schwärzlich-roten Blutes zurückgelassen, die, etwas frühzeitig,
bereits geronnen sind. Auch der eben abgeschlagene Kopf antizipirt nach der
Gewohnheit der französischen Maler in seinem graugrünen Leichenton bereits
die Schrecken der Verwesung. Und zu diesem entsetzlichen Schauspiel, das durch
die grellsten Farben für die Sinneswahrnehmung des Beschauers noch empfind¬
licher, verletzender und verstimmender gestaltet wird, der von Gold glitzerte
Hintergrund mit seinen unruhig flimmernden Arabesken! Es ist ein Triumph
malerischen Raffinements, wie ihn die moderne französische Schule nicht zum
zweitenmal davongetragen hat, aber ein Triumph auf Kosten der Schönheit und
der Sittlichkeit, welche durch die nackte Darstellung menschlicher Brutalität aufs
ärgste gefährdet wird. Selbst Claretin vermochte sich mit dieser „flimmernden
Malerei" nicht zu befreunden, und Paul Mautz faßt sein Urteil über dieses
Bild dahin zusammen: „Dies Gemälde war in den Werken Negnaults ein neuer
Beweis nach so vielen andern, daß er die Dinge nur von ihrer malerischen
Seite sah und sehen wollte, und daß er nicht bis in die Tiefe der Seele drang.
Unzweifelhaft zeigt sich die Spur einer Idee in dem Porträt Prius; aber er
giebt nichts mehr der Art in seiner Judith; in der Salome ist sie unfaßbar;
sehr wenig ist davon in der »Hinrichtung ohne Urteilsspruch« zu finden. Das
Dramatische war nicht die Domäne Regnaults, und obgleich die gütige Fee ihn
verschwenderisch ausgestattet, hatte sie unter ihren Geschenken die Gabe der
Thränen vergessen."
Neben diesem Gemälde und der „Salome" entstanden während Regnaults
Aufenthalt in Tanger noch mehrere Skizzen, von denen der „Auszug der Paschas
von Tanger" und der „Aufbruch zur Fantasia" die bedeutendsten sind, und
verschiedne Aquarelle, deren Farbenglanz mit der Wirkung des Ölgemäldes wett¬
eifert. Am reinsten aber entfaltet sich die ungewöhnliche technische Meisterschaft,
die Regnault schon frühzeitig erworben hatte, in den gezeichneten Porträts.
Die mit Bleistift und schwarzer Kreide gezeichneten Bildnisse des Orientmalcrs
Bida, der Porträtmalerin Mlle Jacquemart und seiner Braut, der Tochter des
Genremalers Breton, deren Liebe er noch kurz vor seinem Tode gewonnen hatte,
schienen das Urteil Blaues zu bestätigen, welcher meint, daß der Zeichner
Regnault den Sieg über den Maler davontrug.
Als die Kunde von der Niederlage der französischen Armeen nach Tanger
drang, litt es den heißblütigen Maler nicht mehr in seinem schönen, von Sonnen¬
glut erfüllten Atelier. Er eilte in die Heimat und kam wenige Tage vor der
Katastrophe von Sedan in Paris an. Nach der Proklamation der Republik
ließ er sich in eine Franetireurkompagnie aufnehmen, welche er sich ausgewählt
hatte, weil der Kapitän einen malerischen Kopf besaß. Bald widerte ihn aber
die Roheit seiner ihm an Bildung ungleichen Umgebung an, und als er eines
Tages von einem seiner Waffengefährten eine brutale Äußerung über den Leichnam
eines eben gefallenen Kameraden hörte, trennte er sich von den Fmnctireurs.
Es ist charakteristisch, daß der Maler der „Hinrichtung ohne Urteilsspruch,"
dessen Phantasie die schrecklichsten Greuelthaten der Vergangenheit wieder auf¬
leben ließ, im wirklichen Leben durch jede Roheit aufs peinlichste berührt, aufs
schwerste verletzt wurde. Mit Baudry, Vvulanger und einigen andern Künst¬
lern trat Regnault nun in die neugebildeten Marschkompagnien ein und that
als Soldat heroisch seine Pflicht. Der empfindliche Maler, der immer nach
der Sonne des Südens strebte, hatte durch die Kälte des ungewöhnlich harten
Winters schwer zu leiden. Aber kein Wort der Klage kam über seine Lippen.
Sein leidenschaftlicher Patriotismus hatte ihn zum Philosophen gemacht, dessen
Grundsätze auf einem Blatte, das man bei seiner Leiche fand, also formulirt
waren: „Heute befiehlt uns die Republik, ein reines, ehrenhaftes und recht¬
schaffenes Leben zu führen, und wir sind verpflichtet, dem Vaterlande und über
das Vaterland hinaus der freien Humanität den Tribut unsers Körpers und
unsrer Seele darzubringen. Was diese beiden zusammen schaffen können, sind
wir jener schuldig. Alle unsre Kräfte müssen wir zum Heile der großen Fa¬
milie beitragen, indem wir selbst die Gefühle der Ehre und die Liebe zur Ar¬
beit bethätigen und sie bei den andern zu erwecken suchen." Für die Wahrheit
dieser seiner Überzeugung setzte er sein Blut ein. Am 19. Januar 1871, als
die Franzosen den letzten Ausfall gegen Versailles unternahmen, fiel er, von
einer preußischen Kugel in die linke Schläfe getroffen, als ein Opfer seiner
eignen Tollkühnheit. Nachdem schon zum Rückzüge geblasen worden war und
man ihn aufgefordert hatte, dem Signal Folge zu leisten, gab er zur Ant¬
wort, er wolle nur noch seine letzten Patronen abfeuern. Er schoß über eine
Mauer des Parkes von Buzenval hinweg, und als sein Kopf oberhalb der
Mauer auftauchte, empfing er die todbringende Kugel. An demselben Tage, als
Jules Favre als Unterhändler im deutschen Hauptquartier in Versailles erschien,
wurde Henri Regnault mit zweihundert Kameraden auf dem Pere Lachaise
bestattet.
s waren Tage, die für Eberhard! in einem zauberischen Gefühl der
Spannung und des Glücks verflossen. Er weilte wohl körper¬
lich in dem kleinen Wirtshause am Seegestade, sein Geist aber
entfernte sich kaum noch von dem alten Schlosse. An dem Morgen,
welcher dem Rendezvous auf dem Erlenbruch folgte, befand er
sich wiederum auf dem Rücken des wackern Hellbraunen in Dorotheeus be¬
seligender Nähe, und sie waren auf dem Wege zu der Wohnung des Generals.
Ich trage einige Bedenken, ob es nicht etwas formlos ist, wenn ich meinen
ersten Besuch bei dem alten Herrn im Sattel mache, sagte Eberhardt.
Im Gegenteil, erwiederte sie, ich habe Gründe, es in diesem Falle für
richtig zu halten und schlug es Ihnen deshalb vor. Der Graf lebt in einer
ziemlich ungewöhnlichen Weise für einen Herrn seines Namens und seiner
Stellung, und er sieht es am liebsten, wenn die Begegnungen mit ihm den Cha¬
rakter des Improvisieren haben. Es sind besondre Familienverhältnisse und
besondre Neigungen, welche ihn gewissermaßen zum Eremiten gemacht haben.
Wundern Sie sich nicht über sein Heim, denn wenn er auch nicht gerade in
einer Felsenhöhle mit einem Kruzifix und einer Hirschkuh haust und von wilden
Beeren lebt, so ist sein Dasein doch romantisch genug angehaucht.
Als sie miteinander auf dem Waldpfade dahinritten, der vom Schlosse aus
in nördlicher Richtung hinführte und unweit des Erlenbruchs in das freie Feld
mündete, sahen sie in dem leichten, silberglänzenden Nebel dieses Morgens einen
rüstigen Fußgänger vor sich auftauchen, der mit weitausgreifenden Schritt unter
den tiefhcingeuden Ästen der dunkeln Bäume einherging und ein fröhliches Lied
sang, womit er erst aufhörte, als der Hufschlag ihn aufmerksam machte, daß
er nicht allein mit seiner heitern Stimmung im Walde sei. Er blickte über die
Schulter zurück und schritt rüstig weiter.
Ich müßte mich sehr irren, wenn das nicht Degenhard wäre, der schon
in der Frühe ein wichtiges Geschäft im Schlosse zu bestellen gehabt haben wird,
sagte Dorothea lächelnd.
Eberhard blickte sie fragend an.
In Eichhausen giebt es einen starken Magnet für diesen jungen Mann,
sagte sie, nämlich die hellen Augen meiner lieben Millicent.
Es flog eine leichte Röte bei diesen Worten über Dorotheens Züge, welche
Eberhardt nicht entging, obwohl er sie sich nicht erklären konnte. Dorothea
dachte an einige Worte ihrer muntern Freundin zurück, die diese am ver¬
gangenen Abend gesprochen hatte und die immer wieder in ihr emportauchten,
obwohl sie sich Mühe gab sie zu vergessen, vielleicht auch gerade weil sie sie
vergessen wollte. Als Millicent ihr behilflich gewesen war, Nachttoilette zu
machen, hatte sie geseufzt und dabei ein Gesicht gemacht, als wollte sie nach
dem Grunde ihres Kummers gefragt sein. Dorothea hatte ihr den Gefallen gethan.
Ach, du verstehst mich doch nicht, hatte sie dann gesagt. Ich sehne mich
nach einer so recht romantischen Liebe, wie Romeo sie für Julia empfand.
Das müßte himmlisch sein. Dorothea hatte ihr erwiedert, sie sei ein ganz
abscheuliches Mädchen, da sie ja den guten Degenhard habe, der gerade so
gut sei wie ein Romeo. Aber Millicent hatte mit dem Kopfe geschüttelt und
gesagt: Es ist nicht genug Poesie dabei. Ich wäre gern eine große Dame, die
von einem armen edelsinnigen Manne angebetet würde. Wenn ich das so zu¬
weilen mit ansehen muß, wie ein gewisser Herr seine wunderschönen Augen sich
fast aus dem Kopfe herausschmachtet und welche tiefglühende Seele ans seinem
edeln Antlitz spricht, wie er gleich einem Fürsten einherschreitet und wie er so
gern sein Fürstentum einer gewissen Dame zu Füßen legen würde, wenn er
nur ein andres als ein gemaltes sein nennen könnte, da geht es mir durch
und durch, und ich stelle es mir entzückend vor, der Gegenstand solcher hohen
Verehrung zu sein. Das bleibt doch für immer eine himmlische Erinnerung im
spätern Leben, wenn man ehrbar mit einem standesgemäßen und langweiligen
Eheherrn zusammenhockt.
Dorothea hatte eine kurze tadelnde Bemerkung über so leichtsinnige Redereien
geäußert, aber Millicents Worte waren ihr beim Erwachen heute Morgen sogleich
wieder eingefallen und standen lebhaft vor ihr, als sie jetzt mit Eberhardt dahinritt.
Als sie den Fußgänger eingeholt hatten, zog dieser mit freundlichem Gruß
seinen Hut, und ein verschmitztes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
Schon so früh zurück, Herr Degenhard? fragte Dorothea.
Der junge Mann gab eine Erklärung über die Ursache ab, die ihn dieses
Weges geführt habe, und Eberhardt vernahm, daß es sich um ein Wild handle,
das im Schlosse notwendig sei. Es war ein hochgewachsener Mann mit offenen
Gesichtszügen, dem der spitze Hut keck auf dem bräunlichen Haar saß. Er
trug einen grünen Jagdkittel und am Gurt ein Waidmesser.
Daß doch so viel falsche Klugheit in der Welt ist und die Leute einander
so unnütz quälen! sagte Dorothea, als sie den Fußgänger hinter sich zurück¬
gelassen hatten. Da haben nun Millicent und dieser brave junge Mann, die wie
sür einander geschaffen sind, die größten Widerwärtigkeiten zu bekämpfen, weil
ihre Verwandten sichs in den Kopf gesetzt haben, das Mädchen solle eine
gute Partie machen. Giebt es denn nur eine bessere Partie, als eine Heirat
zwischen jungen Leuten, die einander herzlich zugethan sind? Ich sollte meinen,
daß selbst kleine und bedrängte äußere Verhältnisse sich angenehm und leicht ge¬
stalten müßten, wenn Mann und Frau mit frischer Lebenslust zugreifen. So¬
weit ich meinen Einfluß geltend machen kann, bin ich daher auch bestrebt, den
Weg sür Millicent und diesen jungen Mann zu ebnen.
Eberhardt dachte, daß diese herzliche Teilnahme am Geschick des Nächsten
ein edler Zug im Charakter des großherzigen Mädchens sei. Er erwiederte in
einer Weise, die seiner Sympathie mit ihren Anschauungen entsprach, und unter
einem Gespräche, welches nicht ohne einen geheimen und unausgesprochenen, aber
tiefinteressirendcn Hintergrund war, setzten sie ihren Weg fort, bis sie zu der Be¬
sitzung des Grafen kamen.
Sehen Sie dort die zackige Spitze auf der Höhe? sagte Dorothea, mit
der Reitpeitsche nach dem fernen Horizont zeigend. Jetzt eben weht der See¬
wind den Nebel fort — da, jetzt ist sie schon wieder verschwunden. Das ist
die Stelle, wo der Graf sein Nest erbaut hat. Es ist ein trauriges Geschick,
das ihn dort in die Einsamkeit geführt hat, wohin wohl kaum je ein Fremder
kommt, abgelegen von den Straßen des Verkehrs. Wir selbst leben ein bischen
klösterlich, aber doch im Vergleich zum Grafen noch gesellig. Er sieht niemanden als
das Geschlecht der Degenhard, Großvater, Vater und den Sohn, den wir vorhin
im Walde begrüßten. Er besucht keinen Menschen außer uns, und wenn wir
auf Reisen sind, lebt er ganz einsam. Und doch hat er ein weiches Herz, ja,
ich möchte sagen, ein Herz, das zu weich ist für die harte Welt. Das
wissen diejenigen am besten, die in Not sind. Wie konnte es nur ein
Weib geben, das ihn betrügen, das die Liebe eines solchen Mannes verraten
konnte!
Diese Einsamkeit ist verführerisch für einen Mann von reichern Gefühl,
entgegnete Eberhardt. Ist nicht die Natur hier von einer erhabenen Größe?
Ich höre schon ganz leise das Rauschen des Meeres, und gewiß hat man bei
Heller Luft von jener Höhe einen weiten Blick über das Wasser hin. Ich muß
gestehen, daß ich mich wohl in die Lage eines Mannes hineindenken kann, der
die Menschen meidet, ohne sie zu hasse«, der die Menschheit im ganzen liebt,
aber sich doch scheut, mit ihr im einzelnen zu Verkehren und den Umgang mit
der wahrhaftigen Natur vorzieht.
Sie näherten sich jetzt einer Hügelkette, welche gleich einem Damme das
tiefliegende Land vor der in der Ferne brausenden See beschützte, und erblickten,
indem sie eine Biegung um die zunächst gelegene bewaldete Erhöhung machten,
die Ruine vor sich, deren obern zerrissenen Rand sie vorhin schon hatten empor¬
ragen sehen. Vor alten Zeiten mochte ein fester Platz, zur Verteidigung
gegen räuberische Anwohner der Küsten von Schweden und Norwegen geeignet,
hier gelegen haben, jetzt stand nur noch ein zerfallenes Gerippe von geringer
Ausdehnung dort, die Überbleibsel eines runden Thurmes, der mit einigen leeren
Fensterhöhlen in die See hinausschaute, während der übrige Bau wohl lange
schon seine einzelnen Bestandteile zur Errichtung der wenigen unscheinbaren Ge¬
bäude in der Nähe abgegeben oder dieselben im Zerfallen auf dem Hügel umher¬
gestreut hatte.
Es war ein Treiben und Wehen der Nebelmassen am Strande, ein Kampf
zwischen Wind und feuchter Luft, welcher noch nicht erkennen ließ, auf welche
Seite der Sieg sich neigen werde. Bald verdünnte sich das graue, wogende
Wolkenmeer und schien in die Höhe steigen zu wollen, bald senkte es sich wieder
herab und verhüllte den blitzenden Spiegel der See und die Umrisse der ent¬
legeneren Hügel.
Unmittelbar an die Ruine auf der Höhe lehnte sich ein einstöckiges Hans,
dessen Front nach dem Meere zu gerichtet war, und von diesem Hause aus zog
sich ein Garten, dessen einzelne Partien terrassenförmig über einander lagen, die
Hügelseite herab ins Thal. Doch nicht nach dem Meere hin und vor der Vorder¬
seite des Hauses lag der Garten, sondern der Besitzer hatte klüglich die Schatten¬
seite und den kalten Seewind vermieden und seine Anlagen landeinwärts gemacht,
sodaß die Sonne den Tag über darauf scheinen konnte. In dem Thale unten, dem
sich die kleine Kavalkade jetzt näherte, lagen noch mehrere Gebäude, von Garten
und Feld umgeben, verstreut, von denen einige offenbar Ställe und sonstige der
Wirtschaft dienende Baulichkeiten waren. Ein Streifen Wald schloß sich an diese
bebauten Landstücke an und führte von hier aus in weitem Bogen, zu immer
größerer Breite anwachsend, in das innere Land zurück. Gleich einem vorge¬
schobenen Posten der Kultur lag die Besitzung des Grafen von Franeker an der
Meeresküste, und als das Brausen der See nun aus der Nähe zum Ohre der
Herankommenden scholl und der Salzgeruch des Wassers deutlich ward, während
von lebenden Wesen nur ein Mövenpaar, mit weißen Flügeln über die Hügel
dahinscgelnd, sichtbar war, hatten sie das lebhafte Gefühl einer Einsamkeit voll
großartiger Eindrücke der Natur.
Auf Dorotheens Anweisung wollten sie zu dem ersten der im Thale liegenden
Häuser reiten, um dort ihre Pferde dem Schutze des alten Degenhard anzuver¬
trauen, aber indem sie an der Rotdornhecke vorüberritten, die den Garten
begrenzte, erblickten sie jenseits derselben den Grafen selbst, der auf den Spaten
gestützt in seiner ländlichen Arbeit innehielt und sie begrüßte. Eberhardt schwang
sich vom Pferde, war Dorothea beim Absteigen behilflich, und beide traten,
nachdem sie die Zügel dem Reitknecht übergeben hatten, in den Garten ein.
Zwei riesige, langhaarige graue Hunde kamen vom Hause auf sie zugelaufen und
schmiegten sich, Dorothea erkennend, an ihre Knie.
Vor dem niedrigen Hause oben auf der Spitze des Hügels befand sich ein
Vorbau, der von zwei hölzernen Säulen getragen wurde, und der Graf setzte
sich mit seinem Besuche ans einer der Bänke nieder, die rund um die Säulen
angebracht waren. Von hier aus konnte man weithin die umliegende Land¬
schaft und das in tiefen Buchten laudcinwärtsdringende Meer überschauen, und
hier konnte man verstehen, was den alten General hatte bewegen können, diesen
Platz zum Ruhepunkte für sein verwundetes Herz zu wählen. Wie er so dasaß
in der groben Kleidung des Gärtners, mit dem blauen Kittel angethan, auf
dem weißen Haar den breitkrämpigen Strohhut, der ein so vornehmes Gesicht
beschattete, und wie seine klaren, milden Augen glänzten, indem er den jungen
Leuten die bemerkenswerten Punkte innerhalb des weiten Gesichtskreises wies,
bot er ein anschauliches Beispiel des edeln Mannes, der, vom Treiben der
Welt enttäuscht, zu den einfachen und untrüglichen Freuden der Natur zurückkehrt.
Dieser Eindruck ergänzte sich durch Betrachtung des innern Hauses, dessen
größeren Teil ein geräumiges Gemach mit drei Fenstern bildete, in welchem
die Bibliothek des alten Herrn sich befand. Er teilte seine stille Wohnung am
unermeßlichen, tröstlich rauschenden Meere mit den besten Geistern der Ver¬
gangenheit. Büchergestelle und Karten bedeckten die Wände, ein Globus und
physikalische Instrumente standen auf dem großen runden Tische in der Mitte
des Zimmers. Über dem Bureau an einer der schmaleren Wände hing ein
Bild, welches mit einem schwarzen Schleier verhüllt war.
In diesem Gemach führte der Graf Dorothea zu einem Lehnstuhl am
Fenster, während Eberhardt unter Leitung des ältern Degenhard, des Haushof¬
meisters und Wirtschaftsdirektors der kleinen Niederlassung, es unternahm, die
Ruine bis zu ihrem höchsten Punkte zu erklettern.
Die steinerne gewundene Treppe, welche in dem Thurme hinaufführte, hatte
so hohe Stufen und sah in ihrem verfallenen Zustande so bedenklich aus, daß
er einen zweifelnden Blick auf den alten Mann warf, der sich anschickte, ihm
voranzugehen, und denselben anhielt, indem er ihm die Hand auf die Schulter
legte.
Sie sind Großvater, mein Freund, sagte er, und Ihr Enkel ist schon ein
rüstiger Jäger. Wollen Sie die Last so hoher Jahre diesen bröckligen Steinen
anvertrauen?
Der Alte reckte sich stramm in die Höhe, so daß seine magere Gestalt,
die einem Skelett ähnlich in dem fadenscheinigen, haushofmeisterlichen schwarzen
Anzüge steckte, länger ward und an Eberhardts Statur hinanreichte. Er
schüttelte den Kopf und meinte stolz, daß seine Beine noch fest genug seien,
um den gnädigen Herrn überall hin zu führen, wohin dieser selbst zu gehen sich
getraue, Und bei diesen Worten blickten die grauen Augen in dem gelbbraunen,
von tausend Runzeln gefalteten Gesicht so hell und sicher, daß man darüber
wohl das schneeweiße Haar vergessen konnte. Er ging richtig voran, schnell
genug und vielleicht schneller als nötig die zahlreichen Stufen hinan, und wenn
auch droben seine Knie zitterten und sein Atem sich nur mühsam wieder ein¬
stellte, war er doch in höflicher Positur und zeigte sich bereit, Auskunft über
die Punkte zu geben, die von hier aus zu erblicken waren.
Gewiß habe ich die Ehre, von einem alten Soldaten geführt zu werden,
sagte Eberhard: lächelnd.
Der Haushofmeister versuchte sich noch gerader aufzurichten, und seiue
Augen blitzten, indem er erwiederte: Wachtmeister Dcgenhard von der ersten
Kompagnie des königlichen Regiments Gendarmes.
Regiment Gendarmes! rief Eberhard: verwundert. Das war ein altes
vornehmes Regiment.
Es hatte den zweiten Rang in der Armee und formirte im Felde mit der
Garde du Corps eine Brigade.
Das ist sehr lange her, mein Freund, sagte Eberhardt, und es werden
nicht viele Kameraden mehr ihre Knochen selbständig rühre«? können, die in der
Uniform der Gendarmes geritten sind.
Wohl keiner mehr außer mir, sagte der Alte, schwermütig den Kopf
schüttelnd. Schon im Jahre achtzehnhundertundsechs, als wir die verdammten
Windhunde von Franzosen im Lande hatten, gingen gar viele unter die Erde.
Das war eine schlimme Zeit, und damals bekam auch der selige Herr Vater
Seiner Exzellenz des Herrn Grafen seine Wunde, an der er nachmals sterben
mußte, weil ihm der Gram ins Innere schlug. Wenn doch der selige Herr
das noch hätte erleben können, daß die Geschichte so gekommen ist und die
Kerls, die uns damals wie die Heuschrecken im Lande saßen, so klein werden
sollten!
- Er schüttelte seine dürre Faust mit triumphirender Gebärde, indem die vor
mehr als sechzig Jahren erlittene Unbill wieder lebhaft vor ihm aufstieg.
Eberhardt nickte und trat an den Rand des Thurmes vor, wo er über die
steinerne Brüstung hinweg auf die Besitzung des Grafen hinabsah. Unwillkür¬
lich wandte sich sein Blick hinab auf das Haus, in welchem er Dorothea an¬
wesend wußte, und es schien ihm, als sei dies einfache Gebäude mit einem
wunderbaren und unbeschreiblichen Reiz ausgestattet, sodaß es den wichtigsten
und sehenswertesten Punkt des ganzen Landes, ja ein Stück Zauberpalast, von
dem aus Himmel und Erde ihr Licht erhielten.
Der alte Haushofmeister war indessen dnrch die Erinnerungen der alten
Zeit warm geworden, und Eberhardts freundliche Art und Weise ermutigte ihn
zu fernerem Gespräch.
Sehen Sie, gnädiger Herr, sagte er, ich behaupte immer, es ist nichts als
Lug und Trug gewesen mit den Franzosen, und wir waren ihnen immer über.
Ich Streite mich darüber oft mit meinem Sohne, der behauptet, wir wären
dazumal richtig besiegt worden. Aber es ist nicht wahr. Wo unsre preußischen
Truppen mit dem Feinde zusammenkamen, haben sie immer gesiegt.
Eberhardt hörte nur mit geteilter Aufmerksamkeit zu und sagte dann, den
ehrwürdige» Patrioten und Krieger zerstreut ansehend: Aber, mein Freund, die
Niederlage von Jena läßt sich doch nicht wegleugne».
Der Alte geriet in einige Verlegenheit und bemühte sich, seine Gedanken
in solche Worte zu bringen, wie sie dem schwierigen Falle angemessen
wären.
Ich meine, sagte er eifrig, was die Bataille selbst anbetrifft, das, meine
ich, war es, worin wir ihnen über waren. Denn was Hinterlist und irrtümliche
Ordres und solches Mißgeschick betrifft, so steht das in Gottes Hand, und kein
General kann so etwas vermeiden, wenn es Gottes Wille ist. Aber was das
Kämpfen anbetrifft, da ist es eine große Lüge von den Leuten, die behaupten
wollen, unsre Armee wäre jemals geschlagen worden, und ich will hier auf der Stelle
mitsamt dem alten Thurme in den Boden versinken, wenn wir nicht auch bei
Jena diese Springinsfelde in kleine Krautstücke zerhackt hätten, wenn man uns
nur richtig hätte drauf losgehen lassen. Das sagte mir auch oft der selige
Herr Graf, und auch damals, als ich ihn nach Sömmerda in einem Bauernwagen
hineinfuhr, wo er im blutigen Stroh lag. Da hatten sich Henckel-Kürassiere,
Geldleute-Husaren und Bila-Husaren und noch einige Regimenter sächsischer
Chevauxlegers zusammengefunden, und Seine Durchlaucht der Fürst Hohenlohe
kam dicht an unserm Wagen vorbei. Degenhard, sagte der Herr Graf zu mir
und hob sein blasses Gesicht in die Höhe. Er soll den Wagen hier stehen
lassen und sich ein Pferd verschaffen. Die Armee ist nicht besiegt.
Es kam über Eberhardt, während er der Unterhaltung des Alten mit
halbem Ohre lauschte und dabei den Blick über die Umgebung des Thurmes
schweifen ließ, eine sehnsüchtige Stimmung, der er sich nachdenklich überließ.
War es die Erzählung von längst vergangenen Geschehnissen, an Trauer und
Freude des Heimatlandes und seiner vornehmen Geschlechter mahnend, die seine
Vaterlandsliebe aufregte und ihm Wünsche besondrer Art einflößte, denen doch
große Bedenken entgegenstanden? Er suchte mit innerm Auge den Schleier der
Zukunft zu durchdringen, wie äußerlich den wallenden Nebel. Aber hier in
der Natur bot sich nur der schweigende Kampf der Elemente des Wassers und
der Luft, ohne daß bis jetzt die Sonne durchzudringen vermochte, und auch in
seiner Brust wogten wonnige Sehnsucht und schmerzliche Sorge, ohne daß es
zur Klarheit kam. Nur wollte das hoffende Element die Oberhand behalten,
Und immer mehr nahmen die jugendlich energischen Gedanken eine deutliche Gestalt
an, gleichwie es um die Buchten auf der Grenze zwischen Land und Meer
allmählich Heller ward und die weißen Kämme der heranspülenden Wogen sich
immer deutlicher und glänzender zeigten.
Die Sonne will durchbrechen, und dann haben wir einen schönen Buch
sagte der Alte.
Während Eberhardt so in Gesellschaft des ehrwürdigen Haushofmeisters in
dem alten Gemäuer umherkletterte und von der Spitze des Thurmes aus die
geheimen Seufzer seines Herzens dem großen Luftmeer anvertraute, hatte der
Graf sich seinem jugendlichen und schönen Besuche gegenübergesetzt. Er betrachtete
mit teilnehmenden Blick Dorotheens liebliches, frohes Gesicht; ein Zug mit¬
leidiger Sympathie erschien in seinen Augen.
Mein liebes Kind, sagte er, werden Sie meinem väterlichen Interesse an
Ihnen und unsrer langen Freundschaft wohl eine kleine Ermahnung zu gute
halte», die ich an Sie richten möchte?
Sie wandte ihre Augen von dem hellen Spiegel des Meeres weg und sah
den Grafen erwartungsvoll an, während ein ahnungsvolles Gefühl ihre Wangen
mit einer leichten Blässe bedeckte.
Meine Ermahnung betrifft Ihren Herrn Begleiter, sagte der alte General,
jeden Umweg verschmähend. Wir geben in jungen Jahren, und auch wohl in
ältern, gern einem Gefühle nach, das uns diese oder jene Person anziehend
erscheinen läßt, ohne daß wir mit kaltem Verstände erwägen, ob die Lebens¬
bedingungen, die uns nun einmal gegeben sind, sich mit unsrer sympathischen
Neigung vertragen. Die Erfahrung hat mir oft, sowohl an mir selbst als auch
an andern, gezeigt, wie schmerzlich es ist, einem süßen Gifte zu entsagen, an
das wir uns gewöhnt haben, und ich möchte Sie vor der Gewöhnung bei Zeiten
warnen.
Auf Dorotheeus Wangen loderte, eine brennende Röte auf. Die Worte
des alten Generals rissen gleichsam eine» Schleier weg, mit dem sie ihre eignen
Empfindungen vor sich selbst verhüllt hatte, und bereiteten ihre eine Über¬
raschung, indem sie ihr etwas neues, ungekanntes ihrer tiefsten Seele plötzlich
in das helle Tageslicht stellten. Im ersten Augenblick fühlte sie sich beleidigt,
und es schwebte ihr eine kühle Abweisung auf der Zunge, doch erinnerte sie sich
der bewährten Freundlichkeit des alten Herrn, und der Anblick seines gütigen
Gesichts überzeugte sie, daß er nicht leichthin oder aus Lust zu unberufener
Einmischung gesprochen haben könne. Sie sah ihn daher nur fragend an und
forderte in verständlicher Weise, obwohl stillschweigend, eine nähere Erklärung.
Sie können sich wohl denken, mein liebes Kind, fuhr er in leichterem Tone
fort, daß ich damit nicht sagen will, ich hätte das mindeste Zeichen wahrgenommen,
es sei das stolze Herz meiner Freundin Dorothea durch die Erscheinung des
fremden Malers, so gut er aussehen und so liebenswürdig er sich benehmen
mag, in Flammen geraten. So leicht brennbar ist dieser Stoff wohl nicht.
Aber es kommt mir so vor, als hätte sich der Ausdruck des Herrn Eschenburg
selber verändert, seitdem ich ihn zuerst gesehen. Er zeigte eine melancholische Miene,
und jetzt hat sich all seine Schwärze in Sonnenschein verwandelt. Wenn ich
die Gesetze der Physik unsrer schwachen menschlichen Natur recht verstehe, so ist
das nicht ohne Gefahr für die Zukunft, und —
Er hielt inne, als er die Bewegung seiner ZuHörerin wahrnahm, und
lenkte, in der Überzeugung, daß er genug gesagt und daß Dorothea seine
Meinung verstanden habe, auf einen andern Gegenstand über. Dorothea hatte
ihm von ihrem Plane der Kolonie am Erlenbruch gesprochen, und er begann
hierüber seine Ansicht zu entwickeln.
Aber er mußte die Bemerkung machen, daß Dorothea mit geringer Auf¬
merksamkeit zuhörte. Ihre Gedanken schienen sich nicht auf dem Erlenbruch
festhalten zu lassen, und ein träumerisches Abschweifen derselben nach unsicht¬
baren Gegenständen war in ihrem Blick zu erkennen. Der alte General fragte
sich, ob er klug gethan habe, jenen zarten Punkt zu erwähnen, oder ob nicht
etwa seine Neigung. Gutes zu thun, ihn eine Unbesonnenheit habe begehen lassen,
indem er eine flüchtige Gestalt, ein bloßes Phantom durch sein Aussprechen
schon mit einem greifbaren Leibe bekleidet und dadurch erst in die Wirklichkeit
gebannt habe. Er wiederholte sich selbst die Gründe, welche ihn bewogen hatten,
Dorothea zu warnen: die drohende Nähe der von ihrem Vater beschlossenen
Verbindung und die Blindheit eben dieses Vaters, der nicht einsah, wie bedenk¬
lich der Umgang seiner Tochter mit dem schönen Fremden sei, aber doch begann
er zu fürchten, daß seine Sorge um das ihm liebe junge Mädchen ihn zu weit
getrieben haben könnte.
Er hätte gewünscht, daß sie etwas erwiedert hätte, daß sie böse geworden,
oder daß sie scherzend ausgewichen wäre. Der jähe Wechsel in ihrer Farbe
aber und die Veränderung in ihrem Wesen deuteten auf eine tiefe Empfindung.
Ich war von je ein schlechter Diplomat, sagte sich der alte General vorwurfsvoll,
und ich fürchte, die Gesellschaft der Familie Degenhcird und der Seemöven hat
mich in dieser Hinsicht nicht verfeinert.
In dieser Verlegenheit über den Erfolg seiner wohlgemeinten Ermahnung
blickte der Graf zum Fenster hinaus und betrachtete, über die labyrinthische Ge¬
staltung weiblicher Gemüter sinnend, die Lichteffekte auf dem Meeresspiegel.
Der Himmel war heute den ganzen Morgen hindurch eben so grau gewesen
wie am vorigen Tage, aber zur Stunde ging eine Veränderung an ihm vor.
Im Süden zerriß der Nebelschleier unter dem kräftigen Hauche des Windes in
den obern Regionen, oder vielleicht unter der aufsaugenden Kraft der Wärme,
und aus dem jeden Augenblick breiter werdenden Spalt blickte die Sonne herab
und ließ die graue See auf einer langen, glänzenden Bahn hin in hellgrünem
Lichte aufblitzen. Zugleich fühlte er seine Hand von weichen Fingern berührt
und sah, als er Dorothea anblickte, ihr Gesicht jetzt ebenso hell und freudig
wie unten den Sonnenblick auf der Wasserfläche.
Dorothea hatte sich von dem ersten Schrecken erholt, und indem sie über
die Entdeckung des alten Herrn nachdachte, fand sie in seinen Worten einen
Punkt, der sie sehr angenehm berührte. Hatte wirklich Eberhardts melancho¬
lische Miene sich verwandelt? Hatte wirklich ihr Wesen eine solche Macht ans
den vom Schicksal verfolgten Mann ausgeübt, daß er sich glücklicher fühlte?
Liebte Eberhardt sie wirklich? Die Wahrscheinlichkeit, daß der Graf recht gesehen
habe, erschien ihr als durchaus bezaubernd. Die arme Dorothea hatte in ihrem
Leben noch wenig Liebe erfahren, und wenn sie heiter und lebensfrisch in die
Welt hineinsah, so verdankte sie das der eignen Seelenkraft, nicht der Gunst
andrer Menschen, nicht dem beglückenden Einfluß zärtlicher Eltern und liebevoller
Freundinnen. Millicent allein hatte sich inniger an ihr Herz geschlossen, im
übrigen hatte sie von je mehr Liebe gegeben als empfangen, die flüchtigen Be¬
kanntschaften auf der Reise hatten niemals eine ernste Bedeutung sür ihr Em¬
pfinden gehabt, und es war ihr ein fast ganz neues Gefühl, daß sie geliebt
werden tönen- Des Grafen Worte, so sehr sie anfangs dnrch sie überrascht und
verletzt worden war, hatten bei näherer Betrachtung eine sehr liebliche Färbung.
Mein lieber alter Freund, sagte sie heiter zum Grafen, denken Sie nicht,
daß Sie Gespenster sehe»? Ich muß Ihnen gestehen, daß ich noch nicht das
geringste gefährliche bemerkt habe, und daß ich fürchte, Herr Eschenburg wird,
wenn er die malerischen Seiten dieser Küste erschöpft zu haben glaubt, mit voller
Skizzenmappe und leerem Herzen fröhlich abziehen, während das Winken meines
Taschentuches auch meinerseits die letzte Phase unsrer Freundschaft bildet. Ich
bin das so gewohnt von Italien her und von der Schweiz und von Norwegen,
wie Sie wissen. Es ist so mancher liebenswürdige Herr neben meinem Maul¬
tier geritten, daß ich nicht einsehe, warum es bedenklich sein sollte, daß auch
einmal jemand neben meinem Schimmel reitet.
Der alte General blickte sie zweifelnd an, und ein Lächeln zuckte um seinen
weißen Schnurrbart.
Aber noch eins will ich gestehen, fuhr Dorothea fort, während ihre Augen
Heller blitzten und ihre feinen Züge von inneren Feuer durchglüht erschienen:
Sollte ich jemals das Glück haben, daß ein Mann, den ich seiner edeln Ge¬
sinnung wegen schätzen müßte, mir seine Neigung zuwendete, so wüßte ich nichts
auf der Welt, was mich abhalten könnte, mein Loos an das seinige zu knüpfen.
Sie sehen mich bestürzt an, als hätte ich etwas ungeheuerliches ausgesprochen.
Ich habe durch die Gewohnheit des Umhertreibens unter vielerlei Leuten ver¬
schiedenartiger Sitte verlernt, in der artigen Manier der Kinderstubentöchter
meine Gedanken und Wünsche zu verstecken, aber dafür habe ich auch etwas
gelernt. Ich habe eingesehen, daß es nur ein Glück giebt, und daß die Rück¬
sichten auf das, was Sie Lebensbedingungen nennen, mit diesem Glücke nichts
zu thun haben. Ich habe so viel äußerliche Form und so viel innere Häßlichkeit,
so viel äußern Glanz und inneres Elend überall in der Gesellschaft gefunden,
die Stand und Rang und Reichtum als ihre Götzen verehrt, daß ich fest ent¬
schlossen bin, mich selbst niemals zum Opfer auf einem jener falschen Altäre
darbringen zu lassen. Das, mein teurer, väterlicher Freund, ist mein Be¬
kenntnis Ihnen gegenüber, Ihnen allein, und wenn Sie dermaleinst Ihr
Beichtkind werden einsam umhergehen sehen, beschäftigt mit der Leitung von
Kolonien undankbarer Tagelöhner, eine alte Jungfer, mit Zuckerdüten in der
Tasche für zerlumpte Dorfkinder, so werden Sie mich wenigstens für glücklicher
halten dürfen, als wenn Sie mich an der Seite eines Mannes sähen, dem ich
mich schmachvoll seiner Stellung wegen verkauft hätte. Und ich habe den Trost,
daß niemand meines Vermögens wegen mir Liebe heucheln und mich so betrügen
wird, denn nicht ich bin die Erbin des großen Besitzes meines Vaters, sondern
die Herrschaft Eichhausen fällt dereinst an eine Nebenlinie, und ich werde, dem
Hausgesetz gemäß, mit einer kleinen Apanage abgefunden.
Dem alten General machten diese Worte seiner jungen Freundin ganz
gegen seinen Wunsch ein großes Vergnügen. Die Energie, mit welcher Dorothea
gesprochen hatte, der Ausdruck ihres Blicks im Verein mit dem hellen, klaren
Klang ihrer Stimme berührten eine verwandte Saite in seinem Innern, und er
konnte sich nicht enthalten mit dem Kopfe zu nicken und vor sich hin zu murmeln:
Sehr gut, sehr gut!
Doch siel ihm sogleich wieder ein, was der Baron über seine Pläne ihm
mitgeteilt hatte, und indem er dessen hartnäckigen Charakter bedachte, konnte er
sich großer Besorgnisse für die Zukunft nicht entschlagen. Ja ja, mein liebes
Kind, sagte er, das klingt vortrefflich, aber ich weiß, es ist ein so großer Unter¬
schied zwischen den Bildern, die eine jugendfrische Seele sich malt, und der höchst
komplizirten Wirklichkeit, daß man nicht gar zu fest an seine eignen Ideen
glauben soll.
Das haben Sie nicht im Ernst gesprochen, und ich muß Sie schelten, er¬
wiederte Dorothea schnell. Sind Sie nicht selbst ein Beispiel dafür, daß ein
fester Geist, der die Quellen seiner Befriedigung in sich selber findet, ungehindert
durch die trüben Schicksale der komplizirten Wirklichkeit, die Sie mir so furchtbar
darstellen wollen, seinen eignen Weg siegreich verfolgt? Ich kann mir nur
eitles als wirklich zu fürchten vorstellen, das ist die Vernichtung der Ideale, die
wir in unsrer Brust tragen, dnrch unsre eigne Feigheit.
Der Graf hörte ihr mit freudig bewegtem Gesicht zu, und ein Gefühl
inniger Sympathie mit dieser mutigen und groß denkenden Seele verjagte bei
ihm alle Neigung, Dorothea gegenüber für die ihm insgeheim anvertraute
Absicht seines Freundes Sextus noch irgend ein begünstigendes Wort zu äußern.
Im Gegenteil entschloß er sich, diesem bei Zeiten in dem Falle, daß sich eine
günstige Gelegenheit darbieten sollte, vorzustellen, daß es bei einer solchen
Tochter nicht wohlgethan sei, den beliebten Weg der Konvenienzheirat einzu¬
schlagen.
In Dorothea aber hatte das Gespräch, welches sie mit dem Grafen führte,
eine Flut von Gedanken aufgeregt, welche sich nicht in Worten erschöpfen ließen,
und welche ihr selbst auch nicht in ihrer ganzen Bedeutung und Folge klar
wurden. Sie bemerkte mir, daß eine Veränderung in ihr vorging, und daß
eine ihr bis jetzt unbekannt gebliebene Macht in ihrem Innern erstanden war,
deren Zuge ihre Nerve» gehorsam folgten, sodaß ihre Stimmung eine andre
war als auf dem Ritte hierher.
Als Eberhardt von seiner Besteigung der Ruine zurückkehrte und von der
schönen Rundsicht erzählte, die sich dort oben bei dem plötzlichen Durchdringen
der Sonne ergeben habe, hörte sie wohl den Klang seiner angenehmen, tiefen
Stimme, aber vernahm nicht ganz deutlich die Beschreibung selbst und war ver¬
tieft in ein Studium, ob wirklich, wie der Graf behauptet hatte, der Ausdruck
seiner Züge ein heiterer geworden sei. Als sie dabei in seine dunkelblauen,
tiefen und sanften Augen sah, fühlte sie ein eigenartiges Flammen von diesen
Sternen in ihr eignes Ich herüberleuchten, als ginge ein elektrischer Strom hier
von Seele zu Seele.
Sie war ungewöhnlich schweigsam auf dem Heimwege. Es war, als hätte
sie viel in der umgebenden Natur zu beobachten, was ihr früher entgangen
wäre. Die Tiefen des Waldes, wo sich die zitternden Lichtstrahlen verloren,
schienen besondre Geheimnisse zu enthalten, und die Stille des Mittags mit dem
Summen der Millionen Insekten in den blütenschweren Lindenzweigen schienen
Träume zu erwecken. In langsamem Schritt ging der Schimmel und nötigte
auch den Hellbraunen, sein Tempo zu mäßigen. Ja er hatte fo viel Freiheit,
daß er den Kopf zur Seite wandte, wie zu einer freundschaftlichen Begrüßung
des Gefährten.
Da zog Dorothea den Zügel straffer an. Haben die Waldungen am Hudson
auch den friedlichen und anmutigen Charakter unsrer norddeutschen Tiefebne?
fragte sie, oder sind sie wild und finster?
Die Waldungen am Hudson, entgegnete Eberhard:, haben viel Hickory- und
Ahornbäume, die ihnen manche Unterschiede von den deutschen Wäldern geben.
Was ihren besondern Charakter betrifft, so wird es mir in der That schwer,
mir irgend eine Landschaft zu denken, sowohl am Hudson als auch sonst in der
Welt, die mir so anziehend vorkäme wie dieser Küstenstrich. Ich sehe daher
meiner Abreise von hier nicht mit Vergnügen entgegen.
Ihrer Abreise? fragte Dorothea ruhig. Sie konnte ruhig fragen, obwohl
dies Wort bei ihrer jetzigen Stimmung einen so schärfen und schneidenden Ton
für sie hatte, daß sie einen Schmerz in der Brust davon zu verspüren glaubte.
Eberhard: hatte diesem Augenblicke seit gestern mit Beklemmung entgegen¬
gesehen. Seit gestern war er entschlossen, seinen Aufenthalt in den Gärten der
Armida nicht länger fortzusetzen. Seit Wochen schon war er zweifelhaft gewesen,
ob er klug daran handle, sich der Anziehungskraft des alten Schlosses hinzu-
geben, und hatte beinahe täglich dem stillschweigenden Wunsche des treuen Andrew
nachgeben und ihn, den Austrag geben wollen, die Koffer zu packen. Nun sollte
die Vernunft siegen. Er wollte nicht länger mit der Gefahr scherzen, denn gestern
hatte er erkannt, daß es eine Gefahr gab. Männlich entschlossen wollte er den
Zauberkreis durchbrechen, wollte den Atlantischen Ozean zwischen sich und ein
bestrickendes, unerreichbares Bild höchster Seligkeit bringen.
Ja, mein gnädiges Fräulein, sagte er mit fester Stimme, ich denke morgen
aufzubrechen. Die Zeit, welche ich mir vorgesetzt hatte, ist verstrichen, und ich
kann mit leidlich gutem Gewissen hinsichtlich der benutzten malerischen Punkte
dieses Gestades abziehen. Daheim, das heißt am Hudson, werde ich meine
Staffelei in dem verlassenen Hause meiner lieben seligen Mutter aufstellen und
werde versuchen, nach den Motiven, die ich mir aus Italien und von hier ge¬
holt habe, einiges auszuführen. Wenn die Herren und Damen der fünften
Avenue nur halb so viel Geschmack an der Abbildung Ihres Schlosses finden
wie ich an dem Original, so kann ich mein Glück machen.
Eberhard: wunderte sich selbst, indem er so sprach, über deu eigentümlichen
Ton seiner Worte. Sie klangen fremdartig modulirt. Und er hatte ein schmerz¬
haftes Gefühl, indem er so die Entscheidung herbeiführte und vor sich eine
Zukunft ohne lebhaftes Interesse, ohne Hoffnung vor sich auftauchen sah, gleich
der grauen Unermeßlichkeit von Meer und Himmel, die er vorhin auf dem
Thurme des gräflichen Einsiedlers vor sich gesehen hatte, ehe der Wind den
Nebel zerriß.
Er hatte, während er sprach, den Blick liber den Kopf des Pferdes hinweg
auf den Weg vor sich gerichtet und seine Begleiterin nicht angesehen. Als sie
aber nichts erwiederte und die Tiere wieder hundert Schritte nebeneinander
gegangen waren, ohne daß ein andres Geräusch zu hören war als der matte
Hufschlag und das leise Knirschen von Zaumzeug und Gebiß, da blickte er seitwärts
zu Dorothea hin, und seine Augen begegneten den ihren.
Es lag ein so besondrer Ausdruck darin, daß es ihn durchschauerte. Ihrer
lebenskräftigen Natur war das Verstecken der tiefsten und heiligsten Empfindungen
fremd, und als sie jetzt mit innigem und glühendem Mitgefühl an den freudlosen
und vom Geschick verfolgte« Künstler dachte, dessen Gedanken sie aus der Art,
wie er sprach, noch mehr als aus seiner Rede selbst herauslas, da erkannte
Eberhard: mit der Sicherheit des verwandten Geistes die Bedeutung ihres
Schweigens und verstand die Sprache ihrer Augen.
Eine unbesiegliche Macht löste seine Selbstbeherrschung in ein seliges Gefühl
auf, und leise tönte von seinen Lippen das Wort: Dorothea!
Gräfin Sibylle von Altenschwerdt fand nach einigen Wochen Aufenthalt
bei den: ausgezeichneten Hcilkiinstler in Fischbeck. daß das Aussehen ihres Sohnes
sich wesentlich gebessert habe. Sein Wesen war munter und wenig reizbar,
während seine Farbe mehr Braun und Rot zeigte als bei seiner Ankunft von
Paris, Zwar entdeckte sie mehrfach zu ihrem Mißfallen das Aroma feinen
türkischen Tabaks in seinem Zimmer, und es war ihr einigermaßen rätselhaft,
daß Dietrich beim Diner sehr wenig aß und die Gemüse-, Reis- und Kartoffcl-
schüsseln meistens an sich vorübergehen ließ, ohne doch, wie zu Anfang, über
das Essen zu lamentiren. Aber da er trotzdem gedieh, schloß sie hierüber ihre
Augen, in der Meinung, daß es nicht gut sei, den Bogen allzu straff anzu¬
ziehen, und daß der größte Scharfblick einer guten Regierung sich oft im Nicht-
sehen offenbare. Dietrich zeigte sich gut gelaunt und liebenswürdig, er konnte
stundenlang mit Fräulein Glock im Musikzimmer oder im Garten sitzen, und
Gräfin Sibylle pries ihren Einfall, das junge Mädchen zu sich berufen zu
haben. Mehr als die Hälfte der Schwierigkeit, den lebhaften, unruhigen und
leicht mißmutigen und unzufriedenen jungen Mann an dem langweiligen Ge-
snndheitsorte festzuhalten, war von ihren eignen Schultern auf die der sanften
Anna abgewälzt worden.
Finden Sie nicht auch, Herr Doktor, fragte sie am Ende der dritten Woche
Herrn Schmidt, daß mein Sohn gut aussieht? Es scheint, daß der Algensaft
gerade für seine Konstitution vorzüglich geeignet ist.
Der Algensaft, meine gnädige Gräfin, sagte Herr Schmidt, indem er sich
in seinem Konsultationsfautcuil zurückkehrte und die Augen zur Hälfte schloß, der
Algensaft zeigt sich überall da von besonders pathologischer Wirkung, wo die
Irritabilität des Nervensystems der Alkalisation ein günstiges Feld bietet, und
es ist die reiche Sättigung mit Jod und Brom bei dieser merkwürdigen Meercs-
pflanze von entscheidender Influenz auf die der stärksten Infiltration bedürftigen
weißen Stränge, die von den Zentren der cerebralen Aktion zu den peripherischen
Motoren leiten.
Die Gräfin verstand diese Erklärung nicht ganz, war aber umsomehr über¬
zeugt von deren Richtigkeit und von der wissenschaftlichen Bedeutung des Herrn
Schmidt. Sie hielt streng darauf, daß Dietrich seine Tropfen regelmäßig nahm,
war aber zugleich darauf bedacht, ihn möglichst viel in die freie Luft zu bringen,
da sie auch von dem Einfluß der Seeluft eine günstige Meinung hatte. So
pflegte sie Nachmittags in der Regel eine Spazierfahrt mit Dietrich zu machen,
wobei sie häufig Fräulein Glock mitnahm. Es zeigte sich, daß Dietrich besserer
Stimmung war, wenn noch eine dritte Person an der Unterhaltung teilnahm,
und auch Gräfin Sibylle sah es nicht ungern, wenn sie in natürlicher Weise
die fernere Erwägung jenes ernsten Gegenstandes vermeiden konnte, den sie
einmal ihrem Sohne gegenüber zur Sprache gebracht und der diesen so sehr
aufgeregt hatte. Sie wünschte vorläufig alles zu thun, um Wind und Wetter
klar und rein und einer guten Kur günstig zu halten.
So fuhr sie denn auch eines Nachmittags zu Anfang der vierten Woche
mit ihrem Sohne spazieren, und mau hatte den Weg nach Scholldorf gewählt,
der die Bucht umkreiste. Jenseits Scholldorf wollten sie eine Strecke durch den
Wald fahre» und von Süden her nach Fischbcck zurückkehren. Gräfin Sibylle
saß mit Dietrich im Fond des Landauers und Fräulein Glock auf dein Rücksitz.
So hatte die Gräfin es gebieterisch gleich bei der ersten Ausfahrt zu Dreien
angeordnet, als Dietrich höflich das junge Mädchen auf den bessern Platz nötigen
wollte. Sie hielt streng auf Rangordnung.
Es war sehr schweigsam im Wagen. Fräulein Glock hielt die Augen auf
die im Sonnenschein blinkende See geheftet, Dietrich blickte träumerisch vor sich
hin, und Gräfin Sibylle war ebenfalls lebhaft mit den eignen Gedanken be¬
schäftigt, indem sie ein Billet des Barons von Sextus überlegte, das sie diesen
Morgen erhalten hatte und worin er ihr mitteilte, daß sein Gichtanfall glücklich
vorübergegangen und er wieder imstande sei, umherzugehen.
So rollte der Wagen längs der Küste dahin und lenkte dann in das kleine
Scholldorf ein, das, halb unter seinen Weidenbäumen und Buchen versteckt,
leblos in der Sonne brütete. Der Schall des Pferdegctmppels und das Rollen
der Räder lockten hie und da eine Fischersfrau an die Thür und ließen die
spielenden Kinder mit Jubelgeheul in einer Staubwolke zur Seite stieben, der
Geruch von getrockneten Fischen, durch den der untere Teil des Dorfes sich hervor¬
that, erfüllte die Luft, und die Gäule peitschten heftiger als am Gestade mit den
Schweifen nach den lästigen Fliegen. Es war sehr heiß, und umsomehr erschien
es auffallend, daß vor dem Gasthause zum frischen Hering, gerade auf der
mit schwarzen: Schiefer beschlagenen Westseite, wo eine wahre Backofenglut
herrschen mußte, ein Mann behaglich auf der Bank saß. Allerdings sah Dietrich,
indem der Wagen vorüberrollte, daß dieser Mann, ein Neger war. Die Sonnen¬
strahlen spiegelten sich in einem Gesicht, welches wie polirter schwarzer Marmor
glänzte. Der Mann hatte den Hut zurückgeschoben und hielt eine kurze Tabaks¬
pfeife zwischen den Zähnen.
Sieh doch, Mama, sagte Dietrich, wie dieser schwarze Kerl sich seinen
äquatorialen Gefühlen hingiebt.
Die Gräfin antwortete nicht, und Dietrich blickte, ohne sehr auf eine
Antwort gespannt zu sein, wieder vor sich hin, als er nach etwa einer halben
Minute bemerkte, daß Fräulein Glock eilfertig ein Riechfläschchen aus ihrem
Necessaire zog und damit der Gräfin unter die Nase fuhr. Er sah erschreckt
in seiner Mutter Gesicht und fand, daß es sehr blaß war und daß ihre Augen
einen leeren Ausdruck zeigten, als ob eine Ohnmacht nahe sei. Er konnte sich
der Beobachtung nicht enthalten, daß die Wangen der Gräfin ihr sanftes Rot
behielten, obwohl die Haut im übrigen eine graue Färbung angenommen hatte,
aber es überwog seine Besorgnis, und er unterstützte Fräulein Glocks Be¬
mühungen, indem er sein Taschentuch mit dem Inhalt des Flüschchens benetzte
und der Gräfin die Schläfen rieb. Sie erholte sich rasch wieder und drü ngte
die dienstbeflissenen Hände zurück, doch hatte ihr Blick etwas verstörtes.
Es ist zu heiß, liebe Mama, sagte Dietrich. Wollen wir nicht einen
schattigen Garten suchen und die Rückfahrt verschieben?
Warum? fragte die Gräfin in scharfem Tone.
Es schien mir so, als ob dir die Hitze zu viel würde, erwiederte ihr Sohn
betroffen.
Unsinn, entgegnete sie. Die Wärme thut mir immer wohl. Bin ich ein
Kind, daß Ihr mir ungebeten das Gesicht abreibt?
Nun, man weiß wirklich oft nicht, womit man es recht oder unrecht trifft,
sagte Dietrich pikirt.
Die Fahrt ward schweigend bis an den Ausgang des Dorfes fortgesetzt,
und dann ließ die Gräfin plötzlich halten.
Ich habe vergessen, daß ich mit dem Pfarrer etwas besprechen wollte, sagte
sie, indem sie aufstand. Setze den Weg ohne mich fort, Dietrich, kehre dann
nach einer Viertelstunde um und erwarte mich hier außerhalb des Ortes auf
der Straße.
Du willst zu Fuß umkehren? fragte er erstaunt.
Ja, sagte sie.
Sie drückte sich mit solcher Entschiedenheit aus, daß Dietrich keine Entgeg¬
nung wagte, obwohl er sich den Kopf zerbrach, was seiner Mutter eingefallen
sein möchte. Fräulein Glock aber erhob sich ebenfalls von ihrem Sitz, öffnete
die Wagenthür, sprang hinab, half der Gräfin aussteigen und schickte sich an,
sie zu begleiten.
Steigen Sie wieder ein, sagte die Gräfin ungeduldig.
Die Umgebung der Gräfin war an Gehorsam gewöhnt. Fräulein Glock
stieg wieder ein. Dietrichs Verwunderung ward durch eine angenehme Em¬
pfindung bei der Aussicht auf eine ungestörte halbe Stunde mit dem jungen
Mädchen beeinträchtigt, er warf einen verstohlenen Blick voll Glut zu ihr hinüber,
und dann fuhr der Wagen weiter, während Gräfin Sibylle zurück in das
Dorf schritt.
(Fortschuna folgt.)
Gefährliche Leute, Ein sozialer Roman von Kristian Elster. Ans dein Norwegischen
übersetzt von I, C, Poestion, Mit einer Einleitung von Georg Brandes, Berlin,
A. B, Auerbach, 1882.
Dem Einzug Ibsens und Björnsons, der hervorragendsten norwegischen Dichter,
in unsre Literatur ist der der jüngeren Schriftsteller Norwegens gefolgt. Kristian
Elster, der Verfasser des Romans „Gefährliche Leute," welcher außer diesem Buche
einen Roman „Tora Trondal" und mehrere Novellen geschrieben hat, war uach
dem kurzen Bericht, den der Herausgeber Georg Brandes giebt, Förster im Dront-
heimschen und ist im Jahre 1881 im vierzigsten Lebensjahre gestorben. Der
Roman „Gefährliche Leute" enthält einige vorzügliche Episoden und im ganzen
so sichere Charakterzeichnungen und so lebendige Anschauungen, daß man mit
Brandes sagen darf, die norwegisch-dänische Literatur besitze wenig solche Bücher.
Der Gesamteindruck freilich, den diese Geschichte aus eiuer kleinen norwegischen Stadt
hinterläßt, ist ein sehr trübseliger. Ob das norwegische Leben in seiner Totalität
so vergiftet vom politischen Parteikämpfe ist, daß alles Menschliche und Persönliche
davon abhängig wird, vermögen wir in der Entfernung nicht zu beurteilen. Sieht
und schildert Kristian Elster richtig, so erfüllt der politische Kampf im nördlichsten
Reiche Europas die ganze Atmosphäre des Landes mit schlimmen Dünsten, in denen
sich kaum frei atmen läßt. Die norwegischen Konservativen bringen, wo sie die
Macht haben, eine förmliche Achtung aller anders Gestimmten und Gesinnten zu¬
stande und untergraben die persönliche Existenz derjenigen, die nur um eine
Schnttirung von ihnen abweichen. Über allen: liegt zudem der Druck eines
wundersam gearteten Pietismus, der nichts mehr von der Seeleninnigkeit und dem
stillen innerlichen Glück seines deutschen Ursprungs bewahrt zu haben scheint. Was
jedoch gegen die ganze Schilderung Elsters mißtrauisch macht, ist die Thatsache,
daß in seiner Charakteristik alles Licht auf die Partei fällt, welcher die beiden
Holls, Peter Ström und durch ihre Liebe zu Knut Holt auch Cornelia Vit an¬
gehören. Über der Erzählung selbst schwebt der Hauch eines trostlosen Pessimismus.
Glück und Liebe des Helden und der Heldin gehen an einem frühen Irrtum des
erstem in armseligster Weise unter. Knut Holt hat, als er ziellos und zwecklos
in der Welt umherstreifte, in den Pampas von Buenos-Ayres eine Liebschaft mit
einem halbwilden Mädchen begonnen. Diese, die er nie wirklich geliebt hat, die
ihn aber auf ihre Weise liebt, reist ihm nach und erscheint in der kleinen nor¬
wegischen Küstenstadt in demselben Augenblicke, wo der junge Handelsherr auf ein
echtes Leben und ein wirkliches Glück an der Seite Cornelias hoffen darf. Die
Liebenden entsagen, Knut Holt heiratet die ungeliebte Fremde und siedelt sich mit
ihr in Lissabon an, die in Norwegen zurückbleibenden sterben und verkümmern, die
kleine Stadt lebt ihr gedrücktes Dasein weiter. In dem allen ist ein Stück wirk¬
lichen Lebens, echter poetischer Mitempfindung, aber auch genug des häßlichen
Naturalismus, der mit Vorliebe das Widerwärtige, namentlich das Widerwärtige
der äußern Dinge wiedergiebt. Ein unbedeutendes Buch sind die „Gefährlichen
Leute" nicht, aber ein erquickliches ebensowenig.
as neue Kabinet in Paris hat seine Thätigkeit mit einer Ma߬
regel begonnen, die wir weder für staatsklug noch für billig halten
können, sonst aber hat es bis jetzt mehr Glück und Erfolg gehabt
als viele seiner zahlreichen Vorgänger, Die angedeutete Ma߬
regel war die Entfernung der orleanistischen Prinzen von den
Stellen, die sie in der Armee bekleideten. Durch Dekrete, die vom Kriegsminister
General Thibaudin entworfen und von ihm und dem Präsidenten Grevy unter¬
zeichnet waren, wurde der militärischen Laufbahn des Herzogs d'Aumale, der
als Divisionsgeneral diente, des Herzogs de Chartres, Obersten des zwölften
Regiments reitender Jäger, und des Herzogs d'Alm?on, Hauptmanns im zwölften
Artillerieregiment, plötzlich ein gewaltsames Ende gemacht. Die Dekrete wurden
durch einen kurzen Bericht des Kriegsministers begründet, in welchem es hieß:
„Die öffentliche Meinung ist durch die Mißstände erregt worden, die aus
dem Verbleiben von Offizieren aus Familien, welche in Frankreich regiert haben,
in der Armee entspringen. Es ist in der That richtig, daß die großen Grund¬
sätze militärischer Unterordnung und gleichförmiger Disziplin durch die Truppen,
welche von Offizieren befehligt werden, deren Geburt sie in eine Ausnahme¬
stellung versetzt, geschädigt werden könnten. Ich bin daher der Meinung, Herr
Präsident, daß Grund vorhanden sei, auf die Offiziere, deren Namen ich folgen
lasse, die Gesetze von 1834 und 1875 anzuwenden und sie durch Zurücknahme
ihrer Patente in Ruhestand zu versetzen."
Man erinnert sich hierbei zunächst an die Erfahrung, daß es bei willkür¬
lichen Maßregeln gewöhnlich nicht schwer ist, ein bereits existirendes Gesetz zu
entdecken, das auf den Fall zu passen scheint, mögen die Opfer nun Prinzen
oder Priester oder sonst etwas bei den Gewalthabern mißliebiges sein. Aber
hier verdient doch bemerkt zu werden, daß auf das Gesetz von 1834 rasch ein
ministerielles Rundschreiben folgte, welches erklärte, die Klausel, die sich auf die
Miss su mal-aetivitg p^r rstrait Ä'ömxloi bezog, solle nur auf solche Offiziere
Anwendung finden, welche sich Ungehörigsten oder Vernachlässigung der Di¬
sziplin zu schulden komme» lassen oder sich unfähig erwiesen hätten, ihre dienst¬
lichen Obliegenheiten zu erfüllen, und nichts von alledem ist den genannten
Prinzen vorzuwerfen. Zu der hierin liegenden Unbilligkeit kommt aber noch das
entschieden Unlogische, das in der Maßregel liegt. Weil der Prinz Napoleon
eine Proklamation erlassen hat, in welcher er eine Republik anklagt und ver¬
urteilt, die eingestandenermaßen nach dem Vorbilde einer konstitutionellen Mon¬
archie geschaffen worden ist, treibt die Regierung des Präsidenten Grevy die
Prinzen des Hauses Orleans, welche als Vertreter der konstitutionellen Freiheit
in Frankreich gelten können, aus den Reihen der französischen Armee. Dazu
tritt endlich noch ein drittes. Dem jüngsten Staatsmann, dem unerfahrensten
Sachwalter sollte klar sein, daß ein Verschwörer, dessen Treiben von seinen offi¬
ziellen Vorgesetzten und Untergebenen überwacht werden kann, weit weniger ge¬
fährlich sein wird, als derselbe Mann, wenn er als Privatmann im Lande lebt.
Die königlichen Prinzen, denen man ihre Posten entzogen hat, mögen sich unter
ihren Kameraden Freunde erworben haben (namentlich der Herzog de Chartres
scheint bei seinem Regimente beliebt gewesen zu sein), dennoch werden sie in
einer demokratischen Gesellschaft mindestens ebensoviel Neider und Gegner ge¬
habt haben, und es werden in ihrer unmittelbaren Umgebung zahlreiche Auf¬
passer gewesen sein, die bereit gewesen wären, jede verdächtige Bewegung der
Herren bei der Behörde anzuzeigen. Aber in der ganzen unerfreulichen Ange¬
legenheit hat man die Stimme der Vernunft niemals zu ihrem Rechte kommen
sehen, sondern immer nur den Ruf der Beängstigung — ein schlimmes Zeugnis
für die Überzeugung der herrschenden Partei von der Festigkeit ihrer Republik!
Blicken wir zurück. Prinz Napoleon erläßt sein Manifest. Floquet schlägt
Alarm darüber, und die erschrockene Mehrheit der Deputirten folgt ihm wie eine
Herde. Der einzige, welcher von der Wirkung des Geschreis: „Der Wolf!
Der Wolf!" profitirt, ist der Prinz Napoleon. Er greift die Republik an, und
das Ministerium fällt über den Haufen. Mehrere Wochen bleibt Frankreich
ohne Regierung, und die erste Amtshandlung des neuen Kabinets besteht darin,
daß es die von der imperialistischen Partei am bittersten gehaßten Persönlich¬
keiten ihr aus dem Wege räumt und sich die Freunde der letztern durch einen
Willkürakt entfremdet. In der That, das Kabinet Ferry konnte für den Prinzen
Plon-Plon kaum viel mehr thun.
Wie die Monarchisten darüber denken, ersehen wir aus dem ^iZg-ro, der
in jeder Nummer eine Fülle von Spott über den Präsidenten der Republik
ausgießt. In einem Artikel der letzten Woche heißt es u. a. von ihm: „Er
wartete auf keine Anklage vom Brigadegeneral, auf kein Dokument, keinen Be-
richt vom Korpskommaudanten. Thibaudius Ehrenwort seine schlimme Anspie¬
lung auf dessen Verhalten als Kriegsgefangener der Deutschen > genügte ihm,
und er unterzeichnete. Hat er sich denn aber jemals geweigert, zu unterzeichnen?
Mau legte ihm deu Artikel 7 vor, und er unterschrieb ihn. Die Dekrete zur
Vertreibung der religiösen Genossenschaften, das Atheistengesetz, die Amnestie,
die uns Mörder und Brandstifter ins Land zurückbrachte — er unter¬
schrieb sie alle. Die ungesetzliche Absetzung der Prinzen wurde bei ihm beau>
tragt, und wieder setzte er seineu Namen darunter. Er, ein alter Rechtsanwalt,
gestattete, daß die Richterbank nnter seiner Regierung in Stücke zerbach. Er,
ein geiziger Gutsbesitzer, erlaubte, daß Grundeigentum der geheiligtsten Art be¬
stritten wurde, ohne daß er bedacht hätte, daß die Dekrete einmal sich gegen
ihn selbst wenden könnten. Und wie verfuhr er jetzt? Mit jakobinischer Bru¬
talität. Für Thibandin und seine Genossen sind die Prinzen nichts als die
Herren von Orleans, man verfolgt sie einzig und allein, weil sie Prinzen sind,
und in Zukunft wird mir noch Raum für Leute sein, die ihr Ehrenwort ge¬
brochen haben. . . Die Republik erweitert, indem sie die Bürger eines Landes,
wo Gleichheit herrschen soll, in Kategorien teilt, jeden Tag den Kreis der In¬
teressen, welche verletzt werden können. Richter, öffentliche Beamte, Sachwalter,
Priester, Bischöfe, Rentenbesitzer, Aktionäre, alle empfinden, daß sie auf unsichern
Füßen stehen, und zu diesen Klassen treten jetzt die dreißigtausend Offiziere der
französischen Armee, die fortan den tyrannischen Launen eines Thibaudin preis¬
gegeben sein werden. Nach diesem letzten Streiche werden diese Leute alles
wagen. Ein hervorragender Politiker sagte neulich: Nicht, was geschieht, über¬
rascht mich, sondern, das was nicht geschieht."
Es ist die übertreibende Art des Parteigeistes, die hier spricht, aber dnrch
die Übertreibung leuchtet doch ein gutes Teil Wahrheit hindurch. Die ganze
Politik des Präsidenten Grevy und seiner Räte war in dieser Frage eine Politik
der Mißgriffe, die an das englische Sprichwort erinnert: Er schießt nach der
Taube, und herunter kommt die Krähe. „Prinz Napoleon," sagt der og-it^
lölsAraxd, „war die Taube, welche die französische Regierung gern geschossen
Hütte, aber das Wild war so unbedeutend und ungefährlich, daß das ornitho-
logische Bild in diesem Falle ein wenig anders gewendet werden könnte. Wir
könnten mit dem Präsidenten Andrew Johnson fragen, der, zum Vorgehen
gegen einen politischen Gegner aufgefordert, zur Antwort gab: „Nutze es denn
etwas, auf tote Enten zu schießen?" Der Prinz Jerome Napoleon ist schon
seit mehreren Jahren politisch tot. Er leidet unter dem dreifachen Mißgeschick,
der Sohn eines Vaters zu sein, der allgemein für den Taugenichts unter den
Söhnen der Letitia Rcmolini galt, von seinem Vetter Napoleon III. stets mit
Mißtrauen betrachtet und häufig wegen seiner politischen Verirrungen getadelt
worden zu sein und als Prätendent die unbehagliche Stellung eines Mannes
einzunehmen, an dessen politisches Bekenntnis keine Partei recht zu glauben
vermag. Selbst in den glänzenden Tagen, wo er das Palais Royal bewohnte,
war er in Frankreich nicht beliebt. Das italienische Volk verhielt sich gleich-
giltig gegen ihn, obwohl er der Schwiegersohn eines der beliebtesten Monarchen
auf dem Festlande war, und ehe er die Pariser durch einen Staatsstreich mit
Druckerschwärze und Kleister überraschte und amüsirte, war es ihm gelungen,
sich so ziemlich in Vergessenheit zu bringen. Indem ihm die französische Ne¬
gierung in die Conciergerie steckte und wegen eines abgeschmackten Manifestes
einen Prozeß gegen ihn anstrengte, der mißglücken mußte, verschaffte sie ihm
genau, was er sich wünschte, ein bischen wohlfeile Reklame, die sich aber bald
wieder in nichts verflüchtigte. Die dem Prinzen zugedachte Schrotladung ver¬
fehlte ihn, die Taube flog davon, mit beschmutzten Gefieder zwar, aber mit
heiler Haut. Indeß hat jede Kugel ihr Ziel, und so ist auch der republikanische
Schrotschuß nicht ganz und gar vergeblich verpufft worden: statt der bona-
partistischen Taube hat man die orleanistische Krähe erlegt. Die wütenden Ver-
bannungscdikte, welche die radikale Linke der Deputirtenkammer im Ange hatte,
wurden von dem Gerechtigkeitssinn und dem gesunden Menschenverstande des
Senats verworfen, aber ein Ziel, das dem Herzen der extremen Republikaner
Frankreichs teuer war, ist doch erreicht worden: man hat den orleanistischen
Prinzen die Möglichkeit benommen, fürderhin französische Soldaten zu befehligen."
So sehen wir denn in der Angelegenheit einen Prinzen, der sich selbst als
Prätendenten hinstellt, vollkommen straflos bleiben und in eine Lage kommen,
wo er sich, falls er Genossen von Einfluß findet, weiter Verschwörungen be¬
treiben kann, während andrerseits ein vollkommen unverdienter militärischer
Ostracismus über drei Prinzen verhängt worden ist, die sich, so viel man weiß,
niemals auf Verschwörungen eingelassen haben, und die ihre Lage moralisch
außer Stand setzt, als Prätendenten aufzutreten. Das Haupt der Familie
Orleans ist der Graf von Paris, der aber den höhern Rechtsanspruch der ältern
Linie der Bourbonen auf den französischen Thron deutlich und rückhaltlos an¬
erkannt hat, sodaß bis zum Tode des Grafen Chambord der älteste Sohn
Ludwig Philipps nicht daran denken kann, als Erbe der Krone aufzutreten,
vorausgesetzt, daß die Monarchie in Frankreich sich von den Toten erwecken
läßt. Diese Voraussetzung aber hat die französischen Republikaner offenbar er¬
füllt und wie ein Spuk, wie eine furchtbare Vision geängstigt. Sie sahen da
im Geiste, wie ein Jägeroberst und ein Artilleriehauptmmm die unter ihrem
Befehl stehenden Truppen so bearbeiteten, daß daraus ein Militäraufstand nach
Art der spanischen Pronunciamientos sich entwickelte, infolge dessen der Herzog
d'Aumale zum Generalleutnant oder Verweser des Königreichs gewählt wurde,
was wieder nur der erste Schritt zur Thronbesteigung König Heinrich des
Fünften war, von dem dann der Graf von Paris die Krone erbte.
Im Herbst 1814 und im Frühjahr 1815 verfuhren die zum Sturze der
Bourbonen verschworenen Imperialisten anders. Damals war jeder auf Halb-
hold gesetzte Offizier, ja mit Ausnahme der Garde jeder Korporal des aktiven
Heeres als Agent für die Wiedereinsetzung Napoleons thätig. In den Trommeln
der Regimenter hielt man dreifarbige Kokarden versteckt, Massen entlassener
Soldaten bearbeiteten die untern Volksklassen, allenthalben zirknlirte das Veilchen,
die Lieblingsblume der Bonapartes, und man hörte die baldige Rückkehr Non-
siknr Violst« in allen Schenken und Kaffeehäusern prophezeien, bis sie endlich
in Wirklichkeit erfolgte. Auch nach dem Tage von Waterloo und der zweiten
Restauration der Bourbonen gab es in der französischen Armee noch zahlreiche
Verschwörungen für die Tricolore und gegen die weiße Fahne der Legitimität,
und als 1848 die Dynastie der Orleans siel, nahm der Prinz Ludwig Na¬
poleon den inzwischen sehr verwirrten, aber doch nicht ganz zerrissenen Faden
mit geschickter Hand wieder auf und zwar mit großem Erfolg, denn infolge der
unklugen Politik Ludwig Philipps war die napoleonische Legende nicht mir nicht
verschwunden, sondern zu kräftigerem Leben gelangt.
Der sonst recht schlaue König schmeichelte sich, wirklich zu sein, was seine
Höflinge ihm einredeten, der „Napoleon des Friedens," und bildete sich ein,
seine Unterthanen würden ihn in seiner friedliche» Praxis unterstützen, während
er sie ermutigte, in der Theorie die Idee des kriegerischen Napoleon zu be¬
wundern. Die Überführung der Gebeine des großen Friedensstörers von
Se. Helena nach Frankreich, deren feierliche Beisetzung im Dome der Invaliden,
die Duldung bonapartistischer Schriften, Bilder und Dramen, alles erhielt die
Legende des Siegers von Marengo und Austerlitz am Leben, und so kann man
behaupten, daß Ludwig Philipp, indem er die still glimmende Flamme des
Cäsarismus nährte, praktisch ein schlimmerer Verschwörer gegen sich selbst war
als die parlamentarische Opposition, deren Hauptziele die Entfernung Guizots
aus dem Amte und eine Reform des Wahlgesetzes waren, die aber im Streben
nach diesen Zielen den Dämon der französischen Demokratie weckte, und vou
der Beredsamkeit Lamartines, Aragos und Ledru-Nollins bis zum Wahnsinn
aufgestachelt, zuletzt nicht nur den verhaßten Minister, sondern auch die Juli-
mouarchie zum Scheitern brachte. Vorher war der Sohn Philippe Egalites
vielen als ein sehr glücklicher Fürst erschienen. Er hatte den Kopf auf den
Schultern behalten, als sein Vater den seinen verlor, er hatte, nachdem er in
der Verbannung sich als Lehrer der Mathematik an einer Schule in der Schweiz
notdürftig das Leben gefristet, als gekrönter Börsenspekulant großen Reichtum
erworben, er hatte den legitimen König von Frankreich vom Throne gestoßen
und dann an dessen Stelle im ganzen mit Mäßigung und Klugheit regiert,
sodaß Frankreich unter ihm glücklich und dem Anschein uach zufrieden war. Er
war endlich der Vater einer zahlreichen Familie, deren männliche Mitglieder sich
im Felde wie in den Künsten des Friedens auszeichneten, und es war ihm ge¬
lungen, den Herzögen von Orleans, Nemours, Aumale und Joinville eine
glänzende Laufbahn zu eröffnen, ohne sich in Verwicklungen mit den europäischen
Großmächten zu stürze». In der Thronrede vom 29. Dezember 1847 konnte
er noch sagen: „Lassen Sie uns nach den Grundsätzen der Charte alle öffent¬
liche» Freiheiten aufrecht erhalten und weiter entwickeln. Damit werden Wir
auf die uns folgenden Geschlechter das Vertrauen «vertragen, das Aus zu Teil
geworden ist, und sie werden Uns segnen, daß Wir das Gebäude gründete» und
verteidigten, unter dessen Dache sie frei und glücklich lebe» werden." Fürwahr,
ein glücklicher König und ein beglücktes Volk! Aber sieben Wochen nach dieser
Ansprache lagen alle diese schönen Dinge, diese stolze» Hoffnungen im Staube.
Das Gebäude, unter dessen Dache zukünftige Generationen frei und glücklich
leben sollten, war wie ein Kartenhaus zusammengefallen, der „Napoleon des
Friedens" unter dem Pseudonym „Mr. Smith" nach England entflohen und
Frankreich eine Republik geworden.
Auch die Kinder Ludwig Philipps siud vom Unglück verfolgt worden.
Geld und Gut zwar besitzen sie in Fülle, auch ist ihnen eine gewisse kühle
Achtung nicht versagt worden. Sie sind ehrenwerte Soldaten, Gelehrte und
Künstler. Aber politisch scheine» sie immer vom Neide der Götter verfolgt, und
der letzte Schlag, der sie in diesen Tagen traf, ist eine düstere Erinnerung an
das erste Unglück, welches die Laufbahn des Gründers der Dynastie verdunkelte.
Wäre nicht ein gewisser Unfall mit einem über die Champs Elysees fahrende»
Wagen passiert, so würde der Gang der konstitutionellen Monarchie in Frankreich
höchst wahrscheinlich keinen Augenblick unterbothen worden sein, und der Herzog
von Orleans, der tapfere, begabte und allgemein beliebte Sohn Ludwig Philipps,
wäre jetzt König der Franzosen. Aber das Unglück, ein Verwandter der Nemesis,
wollte es anders.
Aber kehren wir nach dieser Abschweifung zu dem Ministerium Ferry zurück.
Dasselbe hat — beiläufig wie viele seiner Vorgänger — seine Amtsführung
unter glücklichen Sternen begonnen. Die Auseinandersetzung der Politik, die es
zu befolgen gedenkt, ist von der großen Mehrzahl der Zeitungen günstig be¬
urteilt worden. Die Journale namentlich, welche Gambettas Meinung ver¬
traten, erteilten ihr einstimmig große Lobsprüche, und kaum weniger Anerkennung
spendeten ihr die Blätter der gemäßigten republikanischen Partei. Nur die der
äußersten Linken fanden sie „zu autoritativ," und die der äußersten Rechten hatten
sowohl an ihrem Stil als an ihrem Inhalte z» mäkeln. So z. B. der orlea-
nistische I'iM^is, welcher sagt: „Casimir Perier sprach in einem andern Tone,
und Guizot und Thiers schrieben einen bessern Stil." Dagegen prophezeit
das ?N'lÄM6rak, ein Organ des linken Zentrums, von der ministeriellen Er¬
klärung: „Sie wird vom Laude günstig aufgenommen werden," das Liöolo
meint: „Das Kabinet vom 22. Februar tritt sein Amt unter vielverheißenden
Auspizien an," und die Rsxubliouö ^rW^iss bemerkt: „Die Erklärung ist
ganz, was sie sein soll, nämlich fest, klar, bündig, ohne Ehrgeiz, sondern sehr
praktisch."
Auch in der Deputirtenkammer hatte sich das neue Kabinet guter Erfolge
zu erfreuen, indem es an einem Tage viermal eine starke Mehrheit von Stimmen
für sich hatte. Die republikanischen Gruppen stimmten geschlossen für das
Ministerium und gaben ihm damit ihr Vertrauen zu erkennen; während die
Gegner über nicht viel mehr als hundert Stimmen verfügten, erklärten sich 395
für die Regierung. Somit steht es sest, daß die Kammer in ihrer gegenwärtigen
Gemütsverfassung entschlossen ist, die Politiker zu unterstützen, die an das Staats¬
ruder Frankreichs getreten sind. Der Akt der Exekutivgewalt, der die Prinzen
des Hauses Orleans von ihren Posten im Staatsdienste entfernt, wird von
einer großen Majorität in der Landesvertretung durchaus gutgeheißen, und
dieselbe Majorität sieht den weitern Schritten der Regierung sür jetzt mit vollem
Vertrauen entgegen. Kurz, die Minister haben ihr Werk mit einem Triumph
über ihre Gegner begonnen, aber es ist abzuwarten, wie sie die dornigen innern
und auswärtigen Fragen, die der Lösung entgegensehen, behandeln werden.
Was die innern Fragen anlangt, so wird das Kabinet Ferry die von
den Radikalen und den Gambettisten gewünschte Revision der Verfassung aller
Wahrscheinlichkeit zufolge nicht so bald auf die Tagesordnung setzen. Die
Mehrheit der Minister ist einer gewissen Umbildung der Konstitution allerdings
keineswegs grundsätzlich abgeneigt, wohl aber meinen die betreffenden Herren,
daß der Augenblick sich zur Beschäftigung mit einer Frage von so hoher Wichtig¬
keit nicht eigne. Wie die Dinge gegenwärtig liegen, würde von ihr der Senat
am unmittelbarsten berührt werden, und es leidet kaum einen Zweifel, daß der¬
selbe jeden Vorschlag, der auf Beschränkung und Untergrabung seines Einflusses
gerichtet wäre, sofort mit großer Mehrheit zurückweisen würde. Unter diesen
Umständen kann mau nicht wohl annehmen, daß ein Kabinet, dessen Hauptauf¬
gabe darin besteht, Ordnung in eine fast chaotische Lage zu bringen, sich leichten
Herzens auf irgendwelche Unternehmungen einlassen wird, welche unausbleiblich
einen Konflikt herbeiführen würden, dessen Vermeidung im Interesse aller Wohl¬
gesinnten und Verständigen liegt. Andrerseits deuten Blätter, welche dem Mi¬
nisterium wohlwollen und ihm ein langes Leben wünschen, an, daß es nicht
abgeneigt sein werde, noch vor dem Jahre 1885, wo die gegenwärtige Kammer
eines natürlichen Todes sterben wird, eine ruhige und maßvolle Besprechung
der Revisionsfrage zu veranlassen.
In Betreff der auswärtigen Fragen sagt die ministerielle Erklärung, die
auswärtige Politik der Regierung könne, wie seit zwölf Jahren, mir eine fried¬
liche sein. Der Staat bedürfe in erster Linie Frieden, und auf dasselbe Ziel
richte sich das ernste Streben der Demokratie. Indeß sei eine friedfertige Po¬
litik noch keineswegs eine Politik der Unthätigkeit. „Überall, so heißt es weiter,
wo unsre Interessen und unsre Ehre engagirt sind, wollen und müssen wir für
Frankreich den Rang behaupten, welcher ihm gebührt. Gerade um unserm
Vaterlande moralisches Ansehen und Vertrauen unter den Völkern zu verschaffen,
ist es von großer Wichtigkeit, Europa das Schauspiel einer Regierung zu geben,
die auch über den nächsten Tag hinaus gesichert ist, das Schauspiel einer starken
Verwaltung, die Achtung genießt, das Schauspiel einer parlamentarischen Re¬
publik, die sich auf jene drei Dinge stützt, welche wesentliche Eigenschaften des
französischen Volkes sind: auf gesunden Menschenverstand, Arbeitslust und Liebe
zum Fortschritt."
Man kann aus diesen Sätzen nicht viel schließen. Aber der Ton ist in
der That friedlich, und wenn die englische Presse den neuen Minister des Aus¬
wärtigen abenteuerlustig genannt und angedeutet hat, er könne auf kriegerische Unter¬
nehmungen von Bedeutung sinnen, so teilt man in den Kreisen der deutsche»
Regierung diese Meinung nicht. Herr Challemel-Lacour mag für seine Person
recht geneigt sein, da oder dort einen Streit zu beginnen, aber die persönliche
Auffassung und Absicht eines Ministers giebt im heutigen Frankreich nicht den
Grundton für das an, was in der Praxis geschieht. Die Politik Frankreichs
ist gegenwärtig notwendig eine friedliche und wird allem Anscheine nach noch
lange eine solche bleiben. Wollte der Minister des Auswärtigen andre Wege
einschlagen, so würde er die große Mehrheit seiner Kollegen und den Präsidenten
gegen sich haben und zu Falle komme». Es würde bei einem Versuche bleiben,
die französische Politik in andre Bahnen zu lenken; denn hinter der Mehrheit
der Minister und Herrn Grevy stünde in solchem Falle nicht bloß die Mehrheit
der gesetzgebenden Gewalten, sondern die bei weitem größere Hälfte des ganzen
französischen Volkes. Das hat Gambetta erfahren, der sich doch eines bedeuten¬
deren Ansehens und Einflusses erfreute, als seine jetzt ans Ruder gelangten
Epigone». Daß Grevy durchaus friedfertig gesinnt ist, steht fest. Erst vor
wenigen Tagen äußerte der Präsident der Republik gegenüber „dem Vertreter
einer fremden Macht" (wir glauben, es war der Botschafter Österreich-Ungarns)
sich sehr entschieden dahin, zwar drängten Notwendigkeiten der innern Lage die
Regierung zu Maßregeln, welche, soweit es sich dabei um Personen handle,
ihn selbst schmerzlich berührten, aber solange er den Prüsidentenstuhl innehabe,
werde kein Ministerium, gleichviel welchen Namen es trage und wie es zusammen¬
gesetzt sei, an der auswärtigen Politik rütteln dürfen, die er als Grundlage der
Haltung Frankreichs ehrlich angenommen habe und zu jeder Zeit ehrlich zur Gel¬
tung zu bringen entschlossen sei.
So der Präsident, und wir glauben ihm und sind überzeugt, daß er auch
die Macht besitzen würde, etwaige kriegerische Velleitäten des einen oder des
andern seiner Räte schon im Anfang ihrer Verwirklichung zu vereiteln. Wir
sind aber zugleich ziemlich sicher, daß solche Velleitäten bei keinem der neuen
französischen Minister existiren, also auch bei Herrn Challemel-Lacour nicht.
Dies wird namentlich in Betreff Englands mich durch Thaisachen ausgeschlossen.
Ein Londoner Blatt hatte die Nachricht gebracht, Challemel-Lacour habe Tissot,
dem französischen Gesandten in England, Weisungen zukommen lassen, welche
mit denen, die Duclerc ihm erteilt, im Widerspruche stünden. Der ^cups stellt
das in Abrede, indem er hinzufügt, seit dem Abbrüche der Unterhandlungen,
die zwischen Frankreich und England in Betreff der ägyptischen Angelegenheit
stattgefunden, und seit der Erklärung Duclercs, daß Frankreich die Freiheit
seiner Aktion wieder aufnehme, sei zwischen Tissot und Lord Granville keinerlei
Erörterung in Betreff Ägyptens wieder vorgekommen. Ferner gehört hierher
die Nachricht, daß Gladstone in der Unterredung, die er am 27. vorigen Monats
bei seiner Durchreise durch Paris mit Grevy und Challemel-Lacour hatte,
den Wunsch an den Tag legte, der gegenwärtigen Spannung zwischen England
und Frankreich ein Ende zu machen. Man glaubt, daß der Beginn neuer
Unterhandlungen betreffs der ägyptischen Frage nahe bevorsteht, und zwar
würden sich dieselben nicht, wie bisher, auf der Grundlage eines Kondominiums
bewegen, sondern sich um ein neues Arrangement drehen, welches Frankreich
eine günstigere Stellung als bisher einräumen solle.
Die friedfertige Gesinnung des, neuen französischen Ministeriums dürfte
eine kräftige Verfolgung der Kolonialpolitik, die wir neulich besprachen, nicht
ausschließen. Zunächst wird man die Congofrage zu lösen versuchen. Im
französischen Parlament ist ein Gesetzentwurf eingebracht worden, der Herrn
de Brazza mit einem recht stattlichen Arsenal von Waffen zu seiner Expedition
im Congothale versehen soll. Geht die Maßregel, für welche die Dringlichkeit
beansprucht wurde, durch, so wird derselbe mit 108 000 Perkussionsgewehren,
20 000 Säbeln, 2000 Zentnern Schießpulver, 10 Millionen Zündhütchen,
200 Zelten und 1000 Äxten ausgestattet werden und über eine ganze Kom¬
pagnie algerischer Scharfschützen verfügen. Ein englisches Blatt bemerkt dazu:
„Es liegt auf der Hand, daß die französische Regierung sich entschlossen hat,
dem sogenannten »Vertrage,« den König Makoto und Brazza unterzeichnet haben,
um jeden Preis Achtung zu verschaffen. Hat die Regierung wohl die wahr¬
scheinlichen Folgen einer militärischen Invasion reiflich erwogen, die mit einer
Katastrophe enden kann und unausbleiblich den Fortschritt der Zivilisation und
des Handels in dem erst kürzlich dem europäischen Einfluß eröffneten Lande
verzögern wird?" Wir können die sittliche Entrüstung, die sich hierin aus¬
spricht, nicht teilen. Oder ist England etwa allein befugt, seiner Industrie und
seinem Handel neue Absatzquellen zu erobern? Und steht ihm etwa die Ver¬
breitung von Zivilisation in Afrika oder irgendwo sonst in erster Linie? Wer
wollte das behaupten?
le in den letzten Jahren zu Tage getretene fieberhafte Steigerung
der europäischen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten
Nordamerikas hat mit Recht die Aufmerksamkeit nicht bloß der
Nationalökonomen und Statistiker, sondern auch der Staatsmänner
erregt: die k. ungarische Regierung hat angesichts der Auswan-
derungsbeweguug im eignen Lande das Washingtoner Kabinet um genaue Be¬
richte über die Auswanderung ersucht.
Nach der ungewöhnlich hohen Auswanderungsziffer des Jahres 1881 war
man natürlich in hohem Grade gespannt auf das Auswanderungsergebnis des
letzten Jahres. Dies Ergebnis liegt jetzt vor, früher als in den Vorjahren,
da das schatzamtliche statistische Bureau in Washington diesmal den kurzen Be¬
richt, den es auf einem kleinen Blatte alljährlich zu veröffentlicht pflegt, sobald
das Fazit der Auswanderung aus dem gesammelten Ziffernmaterial sich irgend
rin Sicherheit ziehen läßt, ungemein beschleunigt hat. Zugleich hat das stati¬
stische Bureau, ohne Zweisel in freundschaftlichem Entgegenkommen gegen den
Wunsch der ungarischen Regierung, das Auswanderungsergebnis bezüglich Öster¬
reichs und Ungarns seit Anbeginn der Auswanderung jedes dieser Länder in
getrennter Folge und zugleich eine Tabelle der Auswanderung aller euro¬
päischen Länder bis zum Jahre 1820 zurück in seinem ordentlichen Vierteljahrs¬
heft veröffentlicht, worin auch das Fazit der Auswanderung bezüglich Schwe¬
dens und Norwegens, Rußlands, Finnlands und Polens, sowie Italiens vor
1870 und aller, auch der kleinsten europäischen Gebiete gezogen ist, während
Schweden und Norwegen bis 1870 nur kombinirt als Skandinavien, Rußland,
Finnland und Polen bis in die neueste Zeit nur unter dem gemeinsamen Namen
Rußland und Italien vor demi Jahre 1870, die kleinern Länder aber überhaupt
nicht in den bisherigen Sammlungen Berücksichtigung gefunden hatten. Damit
liegt ein vollständiger und genauer Überblick des gesamten statistischen Materials
bis zum Jahre 1820 vor. Wir bringen unter Benutzung dieser Hilfsquelle»
auf der gegenüberstehenden Seite in tabellarischer Form ein Bild der Auswan¬
derung des Jahres 1882 mit Beifügung weiter zurückreichender Ziffern.
Aus dieser Tabelle ist zunächst ersichtlich, daß die beiden Auswanderungs¬
jahre 1881 und 1882 große Ähnlichkeit miteinander haben. Die Gesamtaus¬
wanderung des letzten Jahres ist nur um 7500 Köpfe oder 1 Prozent geringer
als die des Jahres 1881, wovon 6000 oder 1 Prozent auf die europäische
und 1500 oder abermals 1 Prozent auf die uichtcuropäischc Auswanderung
kommen. Auch im einzelnen gleichen sich beide Jahre; die Minderauswanderung
einzelner Länder wird dnrch Mehrauswandernng andrer ersetzt, und umgekehrt.
Großbritannien und Irland, Norwegen und Schweden haben sich bis auf un¬
bedeutende Nüancen in ihrer Höhe erhalten, Österreichs Auswanderung ist um
etwa 9000 Köpfe herabgegangen, dafür ist die Italiens in demselben Umfange
gewachsen; der erhebliche Abgang von 18 000 Köpfen bei Deutschland wird auf¬
gewogen durch deu gleichen Zuwachs bei den übrigen europäischen Länder» vou
die Inseln des
Mittelmeeres10.6.18.9.
13 000 Köpfen. Was daran fehlt, ist eben im ganzen und großen die Minus¬
differenz. Ähnlich verhält sichs bei den außereuropäischen Ländern, indem die
Abnahme aus Canada (um 12000 Köpfe) fast ersetzt wird durch die Mehrein¬
wanderung aus China (8000 Köpfe), die Mehreinwanderung aus andern Ländern
(beinahe 3000 Köpfe), und nur ein Rest von 1500 Köpfen ungedeckt bleibt.
Die britischen Inseln sind schon zu Anfang der zwanziger Jahre Auswan¬
derungsstaat; Deutschland erscheint als solcher nach unbedeutenden Vorläufern
erst mit Beginn der dreißiger Jahre, Skandinavien seit Anfang der sechziger
Jahre. Seitdem liefern diese drei Länder Jahr für Jahr unter fünf Aus¬
wanderern mehr als vier. Eine eigentümliche Stellung nimmt Frankreich ein,
welches mit Deutschland zugleich als Auswanderungsstaat auftrat, aber in so
mäßigen Ziffern, daß sich die jährliche Auswanderung selten höher als auf
6000 belief. Der Franzose ist geborner Politiker, daher spielt bei ihm, wie in
keinem andern Lande, die Politik bei der Auswanderung eine bedeutende Rolle.
Die Franzosen verlassen ihr Vaterland in Menge, wenn es ihnen aus poli¬
tischen Gründen zu eng oder wenn ihnen das Verbleiben in der Heimat poli¬
tisch unmöglich wird. Nur dreimal kann man daher Auswanderungen in grö¬
ßerer Menge konstatiren: im Jahre 1847, sodann nach dem Rückgange der
achtundvierziger Republik und nach dem Staatsstreiche Louis Napoleons, endlich
zum drittenmale nach dem deutsch-französischen Kriege. Seitdem setzt sich mit
einer gewissen Monotonie die Auswanderung wieder in Ziffern von 4000 bis
5000 Köpfen fort. In ganz ähnlicher Lage befindet sich Belgien, welches schon
in den dreißiger Jahren eine Auswanderung hatte, die aber spärlich und unter¬
brochen war, bis sie in den vierziger Jahren regelmäßiger wurde, aber auch
kaum jemals die Höhe von 2000 Köpfen erreichte. Auch Spanien und Por¬
tugal, diese alten Länder der transozeanischen Eroberungen und Kolonien, haben
zwar schon zu Anfang der zwanziger Jahre eine Auswanderung gehabt, aber
in so bescheidenem Umfange, daß sie bei Portugal kaum jährlich über 100 stieg,
Spanien sich etwa um ein halbes Tausend bewegte. Hierbei ist es bis in die
neueste Zeit geblieben, und seit Mitte der siebziger Jahre fängt selbst diese
mäßige Auswanderung an zurückzugehen. Jedenfalls ist die Auswanderung aus
diesen Ländern nach Zentral- und Südamerika allezeit und auch in den letzten
Jahren eine viel bedeutendere gewesen.
Bei Österreich und Ungarn gehört die Auswanderung zu den durchaus
neuen Erscheinungen. Bis zum Jahre 1860 ist keine einzige Person ausge¬
wandert ^. Erst vom Jahre 1861 an zeigen sich die ersten unerheblichen Spuren.
In dem ganzen Jahrzehnt bis 1870 kommen aber auf Österreich durchschnitt¬
lich jährlich nicht mehr als 940, auf Ungarn sogar nur 49 Köpfe. Das be¬
deutendste Auswauderungsjahr für Ungarn war das Jahr 186S mit 322 Aus¬
wanderern, das bedeutendste für Österreich 1870 mit etwa 5300 Köpfen. Das
ganze zweite Jahrzehnt hindurch hielt sich Österreich auf der Höhe von 5000,
Ungarn auf der von 680 Köpfen jährlich, bis in beiden Ländern plötzlich 1880
ein überaus lebhaftes Tempo in die Auswanderung kam. In Österreich sprang
die Auswanderung 1880 auf 18252 und 1881 auf 21437 Köpfe, in Ungarn
auf 6668 und 6756. Das Jahr 1882 bezeichnet für Österreich wieder einen
Rückgang auf 12 301. Wie es mit Ungarn steht, ist noch nicht klar ersichtlich.
Dänemark, Italien, die Schweiz, Rußland, Russisch-Polen und die Nieder¬
lande haben schon seit 1820 eine Auswanderung gehabt, die bei allen, ramene-
lich bei Rußland und Italien, überaus niedrig war, bei deu Niederlanden und
der Schweiz dagegen schon seit Anfang der dreißiger Jahre sich in ansehnlichen
Verhältnissen, bei den Niederlanden bis zu 1000, bei der Schweiz bis zu 2000
Köpfen und darüber jährlich bewegte. Für Polen beginnen die ersten Aufzeich¬
nungen erst 1863, Seit Mitte der siebziger Jahre hat sich aber der Bevöl¬
kerungen aller dieser Länder ein wahres Auswandcrnngsficbcr bemächtigt. Von
1877 an hat die Auswanderung folgenden Fortschritt gemacht:
Dies Tempo ist ein so beschleunigtes, daß man glauben könnte, die Bevölke¬
rungen dieser Länder wollten sich beeilen, den alten Answanderuugslüuderu
Großbritannien mit Irland, Deutschland und Skandinavien nachzukommen.
Schließlich sei noch Finnlands, der Balkanhalbinsel, der südlichen Donau¬
länder und der Inseln des Mittelmeeres gedacht. Von dort ab ist die Aus¬
wanderung eine unterbrochene und ganz unbedeutende. Die Inseln erscheine»
erst 1871, Finnland erst 1872, Rumänien erst 1880. Die europäische Türkei
und Griechenland haben schon seit den dreißiger Jahren, aber immer nur einzelne
Auswanderer geliefert.
Von den nichteuropäischeu Länder» interessire» nnr Canada (das britische
Nordamerika) »ut China. Die Auswanderung aus den britischen Provinzen
Nordamerikas bewegte sich in den zwanziger Jahren nur in der Höhe von ein
paar hundert Köpfen jährlich, stieg in den dreißiger Jahren auf ein paar tausend,
in den vierziger Jahren erreichte sie 6000 bis 8000 und setzte sich dann in
wechselnden Beträgen bis zu einem halben Hunderttausend und darüber fort.
Aus China zeigten sich die ersten Spuren von Einwanderern im Jahre 1835.
In diesem Jahre langten sechs Chinesen an. Ihnen folgten von 1841 an in
jedem Jahre einzelne, bis 1853 auf einmal über vierzig erschienen. Es scheinen
dies die Quartiermacher gewesen zu sein, welche ernstlich das Terrain zu son-
diren beauftragt waren, denn im Jahre 1854 kamen auf einmal über 13 000,
und seitdem hat die chinesische Einwanderung in wechselnden, zum Teil hohen
Jahresziffern bis 20 000 und darüber fortgedauert.
Wir haben diese historischen, für uns diesseits des Ozeans durchaus neuen
Aufschlüsse, welche der Vierteljahrsbericht des statistischen Bureaus in Washington
uns bietet, unsern Lesern nicht vorenthalten wollen. Zum Teil sind sie not¬
wendig, um uns über die Verteilung der Summe von 74 377 Köpfen zu recht¬
fertigen, welche der Bericht unter der Bezeichnung giebt s,U <Mkr oouvtriö«,
nachdem für die drei alten Auswanderungsgebiete, für Italien und Österreich
die faktischen Auswanderungsziffern gegeben sind. Wir hielten uns nach obigen
Andeutungen für berechtigt, diese Summe von 74 377 auf die drei Gruppen:
1. Ungarn, Dänemark, Schweiz, Rußland, Polen, die Niederlande, 2. Frankreich
und Belgien, 3. alle übrige» europäische» Länder mit Z»gr»»delegu»g der Er-
fcchrlingen der drei letzten Jahre zu verleite». Wir können uns in den Spezial-
ziffcrn geirrt haben, in: ganze» und große» aber sicherlich »icht.
El» berechtigtes Interesse kiüipft sich a» die Frage, welche Richtung die
europäische Auswanderung gcuoimnen hat, und zwar »icht bloß in Bezug auf
die Häfen, in welche» die Auswanderer gelandet, sondern auch in Bezug auf
den Weg, welche» sie nach der Landung eingeschlagen haben. Wir stellen die
Auswanderung in erster Beziehung am besten in einer Tabelle dar. Es landeten:
Die eminente Bedeutung New-Yorks für die Einwanderung ist hieraus
sofort ersichtlich; die Tabelle zeigt, daß im Hafen von New-York im Durch¬
schnitt der letzte» zehn Jahre u»d 1882 vo» 100 Auswanderern nahezu 79
den neuen Kontinent bestiege». Die Südhäfen mußten nach dem Sezessions¬
kriege zuerst das Übergewicht der Nordstaate» fühlen, sie sind alle in ihrer Be¬
deutung fast auf Null gesunken. Aber mich die Mittelhäfen des Nordens werden
bald dies Schicksal teilen. Baltimore verlor gegen früher mehr als 10 000
Köpfe an seiner Frequenz und sank 1882 auf 36 678 Einwanderer herab, Phila¬
delphia, trotz seiner 1873 nenbegründeten Dampferlinien, verlor von 26 239 fast
3000. Nur Boston erhielt sich mit etwa 52 600 Köpfen auf der alten Höhe.
Was sind aber diese Zahlen gegen die New-Yorks, welches 1881 461131 und
1882 472 938 Einwanderer in Empfang nahm? Dorthin führen alte Tra¬
ditionen, der Zug der Zeit und die Einrichtungen, welche alle auf den Empfang
von Einwanderern zugeschnitten sind: Castle Garden, Warth Island, die
deutsche und die irische Gesellschaft, das deutsche Hospital, das deutsche Dis-
peusary, das deutsche Emigrantenhaus und der deutsche Rechtsschutzverein. Dorthin
führen auch die besten und sichersten Dampferlinicn.
Was die Ziele der gekanteten Einwanderer anlangt, so blieben von den
1881 in New-York gekanteten 461131 Einwanderern einstweilen 151 300 oder
fast 33 Prozent in New-York selbst. Von den übrigen 304 381 gingen:
Die übrigen 18 Prozent (81131 Einwanderer) zersplitterten sich auf die
38 andern Staaten und Territorien; auch nach Alces gingen 2323 Auswanderer.
Die Auswanderung nach Kalifornien hat nachgelassen.
ein Leipziger Professor Dr. Franz Hofmann ist es nach jahre¬
langen Forschungen und Versuchen gelungen, in dem von ihm
Patent-Fleischpulver oder Larus pura genannten Fleischmehl eine
Fleischkonserve herzustellen, welche anscheinend ganz dazu geeignet
ist, dem berechtigten Rufe nach billigem Fleische zu entsprechen
und auf dem Gebiete der Volksernährung einen eingreifenden, ja bahnbrechenden
Erfolg zu erzielen.
In dreierlei — Suppe, Fleisch und Gemüse — vereinigen sich die Bestand¬
teile eines guten bürgerlichen Tisches. Wie bei so mancher andern Gelegenheit
des täglichen Lebens deckt sich anch in diesem Falle die Gewohnheit des Em¬
pirikers mit den Forderungen der exakten Wissenschaft. Die Fleischbrühe bildet
ohne erheblichen Nährwert ein vorzügliches Genußmittel, wie solches neben an¬
gemessener Abwechslung der Ernährung des Menschen besonders förderlich ist,
während Gemüse und Fleisch in ihrer Verbindung und Vermengung dem mensch¬
lichen Organismus die eigentlichen Nährstoffe, Eiweiß, Kohlenhydrate und Fett,
zuführen und auch die für den Nervenreiz unentbehrlichen Salze und Gewürze
als Zuthaten dabei zur Verwendung gelangen. In diese kurzen Sätze läßt sich
das Ergebnis eingehender wissenschaftlicher Forschungen von namhaften Gelehrten
zusammenfassen. Vervollständigen läßt es sich noch dahin, daß der Mensch in
seinen Verdauungsorganen sich mehr dem Fleischfresser als dem pflanzenfressenden
Tiere nähert, daß ferner der menschliche Körper das im Fleische enthaltene
Eiweiß besser und vollständiger verarbeitet und in seinem Nährwerte besser aus¬
nutzt als das der vegetabilischen Nahrung, der Art, daß das im Fleische ent¬
haltene Eiweiß fast völlig verdaut wird und sich, ohne Ablagerung an einzelnen
Stellen des Körpers, gleichmäßig zu Muskeln und Sehnen umsetzt, während
das Eiweiß der vegetabilischen Nahrung zum großen Teile unverdaut bleibt und
in seinem Nährwerte dem Körper verloren geht. Dieser Verlust gestaltet sich
selbstverständlich bei den verschiednen Arten vegetabilischer Nahrung verschieden,
erreicht aber beispielsweise bei dem für besonders derb und nahrhaft gehaltenen
schwarzen Brote die Höhe von 42 Prozent des ganzen Eiweißgeh'altes. Ebenso
>venig ist der menschliche Körper imstande, durch größere Mengen vegetabilischer
Nahrungsmittel über ein bestimmtes Maß hinaus diesen Mangel auszugleichen,
so daß Personen, deren Hauptnahrung etwa aus Kartoffeln besteht, wohl ein
schwammiges, aufgedunsenes Aussehen bekommen, ohne doch die rechte markige
Kraft zu angestrengter Arbeit zu gewinnen. Hieraus folgt ohne weiteres, daß
unter normalen Verhältnissen das Fleisch innerhalb der wünschenswerten ge¬
mischten Kost einen erheblichen Bruchteil bilde» sollte.
Die wissenschaftliche Theorie verlangt für die rationelle Ernährung des
ausgewachsenen kräftige» Arbeiters eine tägliche Fleischportion von 250 Gramm,
wie der Fleischer die Waare mit Fett und Knochen liefert. Auf den ersten Blick
leuchtet el», wie weit im deutsche» Volksleben die Wirklichkeit hinter diesem
wünschenswerte» Ziele zurückbleibt.
Zwar ist der Fleischkonsum, auch in Deutschland, vo» Jahr zu Jahr ge¬
stiegen; er hat sich beispielsweise in Berlin während des Zeitraums von 1873
bis 1878 von 144 auf 180 Gramm täglich für die Person gehoben, was ein
erfreuliches Zeugnis von der» Wachstum des allgemeinen Wohlstandes ablegt.
Dennoch gelingt es bei aller Sorgfalt der Einteilung, bei größter Sparsamkeit,
bei Ankäufen im großen und manchen andern kleinen Ersparnissen nicht einmal
der Heeresverwaltung, den Mannschaften mit den vorhandenen Mitteln eine
tägliche Fleischportion von 250 Gramm zukomme» zu lassen, und es giebt wohl
keine einzige deutsche Arbeiterfamilie, welche durchschnittlich eine auch nur an¬
nähernd so bedeutende Menge von Fleisch erschwingen könnte. In manche»
Arbeiterküchen wird vielleicht nur am Sonntage ein kleines Stück Fleisch gekocht,
und vielfach mag auch das nicht einmal regelmäßig geschehen. Mit der starken
Zunahme der Bevölkerung hat die Abnahme des Schlachtviehbestandes im ganzen
westlichen Europa gleichen Schritt gehalten, und neben manchen andern Gründen
hat dieser Unistand die Fleischpreise derartig in die Höhe getrieben, daß es unter
den heutigen Lvhnverhältnissen dem Arbeiter unmöglich ist, das zu seiner aus¬
reichenden Ernährung so notwendige Fleisch regelmäßig zu beschaffen.
Unter solchen Umständen lag der Gedanke nahe, die großen Viehbestände
Anstraliens, der Vereinigten Staaten und Südamerikas denn Bedürfnisse des
enropäischen Kontinents nutzbar zu macheu. Es ist dies auch in einer Ausdehnung
geschehen, daß der internationale Fleisch- und Viehhandel, der vor zwanzig Jahren
kaum noch Beachtung verdiente, inzwischen einen mächtigen Aufschwung genommen
hat und sein Gesamtumsatz im Jahre 1877 bereits 1946 Millionen Mark betrug,
eine Summe, die in den folgenden Jahren noch beträchtlich überschritten worden
sein dürfte.
Zunächst begann man damit, das überseeische Fleisch in Form von Kon¬
serven verschiedenster Art und Zusammensetzung zu uns herüberzubringen. Am
bekanntesten und bewährtesten ist das nach seinem Erfinder benante Liebigsche
Fleischextrakt, das so allgemeine Verbreitung gefunden hat, daß 1876 in dein
der tihti^ Lxtrg,ot ok usee oompsn^ gehörigen Etablissement zu Fray Bentos
125 000 Stück Rindvieh geschlachtet worden sind. Leider ist das Fleischextrakt
zu teuer, um regelmäßig in der Küche des Arbeiters Verwendung finden zu
können; es vermag aber auch das Fleisch nicht zu ersetzen, da ihm bei der Zu¬
bereitung der eigentliche Nährwert, das Eiweiß, ganz entzogen wird. Das
Fleischextrakt ist ein schmackhaftes Genuß- und Würzmittel für die Tafel des
Wohlhabenden, Wenn trotzdem der jährliche Verbrauch in Europa den erheb¬
lichen Wert von 10 Millionen Mark erreicht, wovon 7 Millionen allein auf
das Liebigsche Fleischextrakt fallen, so kann in der Höhe dieser Summe nur
ein erneuter Beweis für die Notwendigkeit überseeischer Fleischzufuhren er¬
kannt werden.
Neben dem Fleischextrakt ist vielfach Büchsenfleisch, dessen Nährwert erheb¬
lich höher steht als der des Fleischextrakts, in den Handel gebracht worden.
Eine ausgedehnte Benutzung desselben für die Volksküche mußte indeß ebenfalls
an der Höhe des Preises, sowie an dem Umstände scheitern, daß die einmal ge¬
öffnete und angebrochene Büchse leicht dem Verderben ausgesetzt ist. Dennoch
hat die Einfuhr von zubereitetem (und frisch geschlachteten) Fleische nach dem
deutschen Reiche sich während des Zeitraums von 1869 bis 1879 von 41054
auf 850 000 Zentner, also um mehr als das zwanzigfache, gehoben.
In bedeutendem Umfange hat man neuerdings lebendes Schlachtvieh von
überseeischen Ländern nach Europa übergeführt, im Jahre 1879 nach England
und Frankreich allein 136 700 Rinder. Selbst bei größter Sorgsamkeit in der
Behandlung und Fütterung erhöht sich aber der Preis des Fleisches durch
einzelne gefallene Tiere und deren allgemeine Abmagerung unverhältnismäßig,
während zugleich infolge der anzuführenden Fourage der Schiffsraum nicht ge¬
hörig ausgenutzt werden kann und damit auch die Frachtkosten sich erheblich
steigern. Von bedeutendem Einflüsse auf die Verwertung überseeischen Fleisches
war es daher, daß es gelang, frisch geschlachtetes Fleisch in abgekühlten Schiffs¬
räumen von eigens zu diesem Zwecke konstruirten Dampfern nach Europa zu
bringen. Fünfundvierzig große Schiffe mit zweiundsiebzig Kühlkammern ver¬
mitteln diesen Handel, der 1879 mehr als 56 Millionen Pfund frisches Fleisch
nach Glasgow geführt hat. Aber schon in diesem Hafenplatze beträgt der Markt¬
preis der mittleren Qualität solchen Fleisches 1 Mark 50 Pfennig für das
Kilogramm, würde also unter Hinzurechnung der erhöhten Transportkosten, des
Zolles und eines Preiszuschlages durch und für die Zwischenhändler den deutschen
Marktdurchschnittspreis nicht unwesentlich übersteigen, sodaß Deutschland die
Ausnutzung dieser Art von Fleischzufuhr dem reicheren Jnsellcmde überlassen muß.
Ist somit der überseeische Fleischüberschuß unserm Vaterlande nur in sehr
geringem Umfange und für die eigentliche Volksernährung eigentlich garnicht
zu Gute gekommen, so soll nun das „patentirte Fleischmehl" nicht nur durch
billigen Preis eine allgemeine Benutzung auch in den einfachsten Haushaltungen
ermöglichen, sonder» mich infolge seines hohen Nährwertes die ganze Art der
Ernährung unsers deutschen Volkes auf einen höhern Standpunkt stellen.
Die aus frischem Rindfleisch gewonnene (Arms purs, enthält den Haupt-
nährstoff, das Eiweiß, in der außerordentlichen Menge von 73 Prozent, wäh¬
rend frisches Ochsenfleisch davon gewöhnlich nur 23—25 Prozent enthält. Zur
Darstellung von 1 Kilogramm Fleischpulver, dessen Preis 2 Mark 50 Pfennige
nicht überschreiten soll, sind 6—6 Kilogramm frisches Fleisch erforderlich,
sodaß nach Abzug von Fett und Knochen, wenn man den Durchschnittspreis
für 1 Kilogramm Fleisch mit 1 Mark 20 Pfennigen berechnet, der Preis des
Fleischmehles dem Nährwerte frischen Fleisches gegenüber sich um etwa 160
Prozent billiger stellen würde. Eingehende Versuche, welche über einen Zeit¬
raum von sechs Jahren ausgedehnt worden sind, haben die fast unbeschränkte
Haltbarkeit des Präparates erwiesen! dabei ist dasselbe leicht, nimmt wenig
Raum ein, ist in der einfachsten Umhüllung aufzubewahren und zu transpor-
tiren, läßt sich leicht in die kleinsten Portionen ableiten und verleiht, ganz wie
das Fleischextrakt, den Speisen einen kräftigen Wohlgeschmack, während es ihnen
zugleich den vollen Nährwert des Fleisches zuführt. Das Fleischmehl ist in
heißem Wasser leicht löslich und kann einfach in dieser Form den Speisen zu¬
gesetzt werden; doch werden auch in Form von Tafeln gemischte Konserven der
verschiedensten Art hergestellt.
Gelehrte und Volkswirte haben dem Fleischmehl in Bezug auf seine Güte
wie seine volkswirtschaftliche Bedeutung wohlwollende Beurteilung zu Teil werden
lassen, und in der That scheint dasselbe nach praktischen Versuchen allen An¬
forderungen zu entsprechen, die berechtigter Weise an eine Fleischkonserve gestellt
werden können. Im bürgerlichen Haushalte wird es zur Erhöhung des Wohl¬
geschmacks und Steigerung des Nährwertes bei vielen Speisen der sorgsamen
Hausfrau willkommen sein. Auch auf die Verbesserung der täglichen Mann¬
schaftskost in der Armee, auf die Festsetzung und Bereitstellung der sogenannten
eisernen Portion im Kriege, auf die Verproviantirung von Festungen und
Schiffen wird es möglicherweise großen Einfluß gewinnen. Vor allen Dingen
aber scheint das Fleischmehl berufen zu sein, eine vorläufig in ihrer Ausdeh¬
nung und ihren Folgen noch garnicht zu übersehende Veränderung und Ver¬
besserung der Ernährungsverhältnisse des deutschen Arbeiters, des ländlichen
wie des industriellen, zu bewirken. In dieser Beziehung hat der eine Woche
lang durchgeführte Versuch, das Fleischmehl in der Küche eines Arbeiters zu
benutzen, das erfreuliche Resultat geliefert, daß unter Verdoppelung und Ver¬
dreifachung des Nährwertcs neben erhöhter Abwechslung sich der Geschmack der
gebotenen Speisen wesentlich verbesserte, während der Preis der Portion sich
nur um zwei Pfennige erhöhte. Es erscheint überflüssig, dieser Thatsache
weitere Schlußfolgerungen anzureihen, sie ergebe« sich von selbst.
Professor Hofmann hat die Bedeutung seiner Erfindung, für die in Deutsch¬
land und verschiednen südamerikanischen Ländern Patente erworben worden sind,
in der Schrift dargelegt: Die Bedeutung von Fleischnahrung und Fleischkonserven
mit Bezug auf Preisverhältuissc (Leipzig, F. C. W. Vogel, 1880). Die praktische
Ausnutzung ist Herrn Dr. Meinert überlassen, welcher gleichfalls verschiedene
literarische Arbeiten über den Gegenstand veröffentlicht hat, darunter ein um¬
fassendes zweibändiges Werk: Armee- und Volks-Ernährung (Berlin, Mittler
und Sohn, 1880). Zu gleicher Zeit hat sich in Bremen eine Gesellschaft zur
Herstellung der Fleischmehlpräparate gebildet. An billigem Fleische jenseits des
Ozeans ist kein Mangel. Der ungeheure Viehstand in den weiten Ebenen
Brasiliens, am La Plata und in Rio Grande ist, ohne die Weideländercien zu
überlasten, auf Jahre hinaus einer derartigen Vermehrung fähig, daß eine
Wvchmansfuhr von 24 000 Zentnern Fleisch möglich ist. Andrerseits muß es
den Vaterlandsfreuud mit Befriedigung erfüllen, daß deutscher Unternehmungs¬
geist und deutsches Kapital in diesem Falle die Verwertung der Erfindung in
die Hand genommen haben, statt wie so oft und namentlich in dem naheliegenden
Liebigschen Falle die Früchte vaterländischer Geistesarbeit fremder Ausbeute zu
überlassen.
Der hohe Wert, welchen das patentirte Fleischmehl für die Ernährung des
Menschen besitzt, ist dnrch die wissenschaftlichen Untersuchungen unwiderleglich
erwiesen, und die bisher angestellten Probe» in Bezug auf seine Verwendbarkeit
für die Zwecke des täglichen Lebens haben günstige Resultate geliefert. Die
allgemeine Einführung desselben würde deshalb als ein Werk von nationaler
Bedeutung erscheinen, sobald die Brauchbarkeit des Präparates sich auch in
größerem Umfange bewährt, und wenn es namentlich gelingt, die Konserven fort¬
während in gleicher Güte herzustellen und in den Handel zu bringen. Jeder¬
mann, dem das Wohl des Volkes am Herzen liegt, sollte deshalb seine Auf¬
merksamkeit dieser Frage zuwenden. Alle Männer, welche Einfluß auf eine
größere oder geringere Zahl von Untergebenen und Abhängigen ausüben, Guts¬
herren und Fabrikbesitzer, Vorstände öffentlicher Anstalten, namentlich auch die
Leiter von Volksküchen und andern Vereinigungen, deren Zwecke in der Be¬
schaffung billiger und kräftiger Nahrung für die untern Schichten des Volkes
gipfeln, sollten die verschiednen Fleischmehlkonserven der eingehendsten Prüfung
unterziehen, und falls der Erfolg ihren Erwartungen entspricht, jeder an seiner
Stelle dazu beitragen, dem mißtrauischen und am Alten klebenden Manne durch
Beispiel, Rat und Überredung das gebotene Neue, Bessere mundgerecht zu machen
und für dessen weiteste Verbreitung Sorge zu tragen.
Erwägungen solcher Art sind es auch, denen der Schreiber der vorstehenden
Zeilen die Berechtigung entnehmen zu dürfen glaubte, sich an die Leser der
Grenzboten zu wenden, denen der Mehrzahl nach der Gegenstand ziemlich fern
liegen mag. Erweist sich im Laufe der Jahre die parus purg. nicht von solchem
Nährwerte, als man den wissenschaftlichen Ergebnissen zufolge erwarten darf,
oder läßt ihre Herstellung zu wünschen übrig, so wird sie von selbst bald der
verdienten Vergessenheit anheimfalle»; bewahrt sie sich aber nur auuciherud in
dem vorausgesetzten Umfange, so wird niemand bedauern, einen Bruchteil seiner
Zeit auf die Prüfung einer Frage von so hoher wirtschaftlicher Bedeutung ge¬
wendet zu haben.*)
is Heinrich Laube im Jahre 1876 eine Ausgabe seiner Ge¬
sammelten Schriften (Wien, Branmüller) veranstaltete, in der
er, da er seine „Dramatischen Werke" schon anderweit gesammelt,
die anerkanntesten und besten seiner erzählenden und schildernden
Schriften vereinigte, eröffnete er diese Ausgabe mit einer Auf¬
zeichnung seiner „Erinnerungen von 1810 bis 1840" und verhieß für den
Schluß die Fortsetzung dieser Erinnerungen für die Jahre 1841 bis 1881. Der
zweite Band dieser Laubeschen Autobiographie ist nun vor kurzem erschienen
und hat Leben und Thun des Autors in dem bezeichneten Menschenalter der
Lesewelt wieder einmal näher gerückt.
Heinrich Laube ist der letzte Überlebende aus der Schriftstellergruppe des
jungen Deutschlands; Heine und Börne, Mundt, Wienbarg und Gutzkow, von
den all rninorum Entmin zu schweigen, sind längst vom Schauplatze ihres
Wirkens abgetreten, der Verfasser dieser „Erinnerungen" aber ist noch literarisch
thätig, hat, seit er von seiner letzten Bühnenleitung ausruht, wieder zur Form
der Erzählung gegriffen und muß also, wie sehr er auch Veteran ist, als ein
noch lebendig wirkender Schriftsteller betrachtet werden. Daß er sich die unver¬
wüstliche Lebens- und Arbeitslust bewahrt hat, die ihm unter seinen literarischen
Genossen einen besondern Platz gegeben, verraten die letzten Seiten dieser
Erinnerungen. „Im fünfuudsiebzigsten Lebensjahre stehend, habe ich nicht mehr
lange zu leben und werde kaum noch bemerkenswertes erleben. Daß ich als
zweifelvoller Kandidat der Theologie ein öffentliches Leben angefangen habe und
als illusionsarmer Theaterdirektor in die Einsamkeit zurücktrete, das hat meine
Seelenruhe nicht gestört, sondern bereichert. Wir sind zum Arbeiten da und
sind dazu bestimmt, uns abzunutzen. Auch die Frage ist müssig, ob man mit
sich zufrieden ist? Wer könnte das sein! Jeder muß sich eingestehen, er hätte
seine Schuldigkeit besser thun können. Mancher muß wohl auch sagen, er hätte
seine Fähigkeit besser verwerten können. Nein, dies letztere sag' ich nicht. Ich
bin im Gegenteile immer erstaunt gewesen, so viel verschiedenartiges aus mir
herauspumpen zu können und Ziele zu erreichen, welche weit über mein Ver¬
dienst hinausreichten. — Ob ich wieder anfangen möchte, wenn mir fröhliche
Götter eine neue Jugend schenkten? — O ja."
Nun, es ist ein tapferes Wort, dies „o ja," und ein erfreulicher Gegensatz zu
dem düstern Pessimismus und der trostlosen Lebensmüdigkeit des Tages. Der
Schriftsteller verrät damit, daß, wie auch immer das kritische Endurteil über
sein Wollen und seine Leistungen ausfallen möge, er manche Genugthuung auf
seinem Wege gefunden hat. Er läßt denn auch rückwärts ein Helles Licht über
die Bestrebungen und Erlebnisse fallen, über welche diese „Erinnerungen" be¬
richten. Es sind einigermaßen willkürliche Aufzeichnungen, um die es sich hier
handelt, der Lebensfaden zieht sich manchmal kaum bemerkbar durch sie hindurch,
und sie lösen sich in behagliche Plaudereien über Menschen und Dinge auf, mit
denen Laube in Berührung gekommen. Man möchte glauben, daß eine Anzahl
früher geschriebener Feuilletons zu diesen Erinnerungen verwendet worden seien,
bei der Skizze über den Fürsten Pückler-Muskau, welche den zweiten Teil ein¬
leitet, ist dies ganz gewiß der Fall. Im übrigen teilt Laube aus seinen Leip¬
ziger Erinnerungen der ersten vierziger Jahre nur geringes mit, was nicht schon
allgemein bekannt wäre. Er gedenkt bei dieser Gelegenheit auch der Gründung
der Grenzboten, von denen er wahrheitsgemäß berichtet, daß sie, sorgfältig und
gut geleitet, ein Vorbild für neue Zeitschriftenform gewesen, und daß es ein
Fehler seinerseits gewesen, eine rein belletristische Zeitschrift, wie die „Zeitung
für die elegante Welt" war, in den erregten vierziger Jahren noch einmal zu
übernehmen. Er verrät, daß er sich der ganzen Richtung gegenüber, welche
man damals der Literatur gegeben, im höchsten Maße unbehaglich gefühlt habe.
„In Leipzig stieg die radikale Richtung von Jahr zu Jahr, und selbst der
Schillerverein, welcher damals dort entstand, wurde ein Tummelplatz für die¬
selbe. Die Teilnahme am großen Dichter überhaupt wurde bald mißtrauisch
angesehen, wenn der Volks- und Freiheitsdichter Schiller nicht ausschließlich in
den Vordergrund gestellt wurde. Ein unscheinbarer Mann, Kassier am Leip¬
ziger Theater, wurde Bibliothekar des jungen Vereins, betonte den politischen
Charakter des Vereins mit glaubenssichcrem Nachdruck und entwickelte sich
langsam als Robert Blum. Bei Festessen und Begräbnissen enthüllte sich mehr
und mehr sein eigentümliches Redetalent, welches in breitem, fast singendem
Tone alles auf Volk und Freiheit bezog, alles! Die Dichtung, wie der Tod,
das Lebe» in all seinen Äußerungen, das menschliche Trachten in all seinen
Richtungen, alles ward i» dieselbe Furche gezogen und als Samen der Freiheit
gepriesen oder als Samen der Knechtschaft verdammt..... Robert Heller,
ein geistreicher, lebensvoller Schriftsteller, der damals in Leipzig eine Wochen¬
schrift „Rosen" herausgab, machte sich gern über dies volkstümliche Pathos
lustig, welches ihm, dem klassisch gebildeten Manne, niedrig vorkam. Er ver¬
langte auch für seinen fröhlichen Lebenssinn eine Berechtigung und schüttelte
ungläubig deu Kopf, wenn ich ihm sagte: „Dies Pathos des Kleon wird der
Welt noch viel zu schaffen geben!"
Die Skizze ist lebensvoll und anschaulich genug und vergegenwärtigt in
der That die wunderlichen Erscheinungen zu Ausgang der vierziger Jahre.
Aber der Widerwille gegen die widerwärtige Mischung der Tagespolitik mit
allen reinen Bildungselementen und allen Kulturaufgabcn, welche damals be¬
liebt wurde, nimmt sich seltsam im Munde des jungdeutschen Schriftstellers
ans. Hatte denn nicht die ganze Aufgabe oder wenigstens ein großer Teil der
Aufgabe der neuen Schule zwischen 1830 und 1840 darin bestanden, die Literatur
und die Kunst, die Wissenschaft wie die Gesellschaft der Tagestendenz dienstbar
zu machen? Hatte man sich nicht beeifert, die nlteu Götter zu zerschlagen und
selbst der Muse Goethes thönerne Füße anzudichten? Hatte nicht die Schrift¬
stellergruppe, welcher Laube angehörte, den Anfang damit gemacht, allen Ta¬
lenten, welche das Gebiet der Literatur betraten, jeder poetischen Natur den
Paß des Liberalismus gröblich abzufordern? Es ist allerdings wahr, daß
Laube einer der ersten war, welche die ganze Gefahr, die in diesem Treiben
lag, begriffen, und daß er bereits 1836 bei der Übernahme einer Redaktion er¬
klärte, daß er unter junger Literatur und moderner Schreibweise ausschließlich
ästhetische und künstlerische Bestrebungen verstehe. Aber wahr ist doch anch das
andre, daß die in den ersten dreißiger Jahren so eifrig ausgestreuten Saaten
jetzt in die Halme schössen, und daß auch damals, das heißt Mitte der vierziger
Jahre, Laube den jungdeutschen Ursprung nicht verleugnete. Seine Dramen
vom „Struensee" bis zu deu „Karlsschülern" wollten freilich in erster Linie
Theaterstücke, Arbeiten von solider, praktischer Bühnentechnik, mit allen Kunst-
griffen und Hilfsmitteln derselben sein; doch des Gewürzes der Tagesphrase,
der halbtendenziösen Anspielung, der falschen Beziehungen auf die Bewegung,
deren Ausschreitungen Laube fo peinlich berührten, konnten und wollten sie nicht
entraten.
Die Berichte Laubes über seinen Pariser Aufenthalt im Jahre 1847 geben
einige interessante Einzelheiten. Auffällig ist es freilich, wie Laube auch bei einem
längern Aufenthalte die französischen Dinge nur an der Oberfläche betrachtet
hat. Im Frühling 1847 stand es um die Herrschaft des „Bürgerkönigs" doch
etwa so, wie in den Jahren 1868 und 1869 um das Kaisertum des dritten
Napoleon. Es gehörte nicht allzuviel Eindringen in die Grundstimmung der
Pariser Gesellschaft dazu, um das Ungewitter voraussehen zu könne». Laube
aber berichtet: „Mau mochte Hinsehen, wohin man wollte, man entdeckte im
Frühjahr 1847 nirgends in Paris Anzeichen für politische Änderung, am
wenigsten Anzeichen für eine mögliche Katastrophe. Das Regiment Louis
Philipp-Guizot hielt alles unter festem Banne, nud namentlich Guizot stand
in erstaunlichem Ansehen als überlegener Geist, welcher nicht mit sich handeln
ließe. Nur etwa Heine stimmte nicht ein in dies zuversichtliche Friedenskonzert.
Er meinte, die Franzosen ruhen nicht so lange. Fünfzehn Jahre haben sie den
alleinherrschenden Napoleon, fünfzehn Jahre die wiederkehrenden Bourbonen er¬
tragen, und jetzt schon siebzehn Jahre den vorsichtigen Orleans. Das wird un¬
natürlich, bald wird Feuer vom Himmel fallen, wenns auf der Pariser Erde
keines giebt! Aber das klang poetisch gemacht; jedermann schüttelte den Kopf
zu dieser ohnehin zerbrochenen Kassandra. Diese Kassandra aber schüttelte den
ihrigen zu den auswendigen Wahrsagern. Glaube ihnen nicht, sagte er, sie ver¬
stehen nicht einmal einen Titel zu macheu. I^hö elsve-s ac Otmrlös müssen deine
»Karlsschüler« heißen — in Frankreich, anders nicht. Für solche Details hatte
er noch immer Aufmerksamkeit wie sonst. Wie sonst! Wochenlang suchte er
stets nach einem Beiworte in einem neuen Gedicht, und die Übersetzung der
»Karlsschüler« wollte er damals noch zustande bringen, ehe das Feuer vom
Himmel fiele und allen poetischen Späßen ein Ende machen würde. Denn dies
Feuer vom Himmel verzehrt uns poetische Taugenichtse alle, alle. Gott sei
voraus gedankt, mich zuerst. So sagte Heine, aber niemand glaubte ihm."
Es ist hübsch von Laube, daß er ganz ruhig durchblicken läßt, was ihn
damals in Paris ernster beschäftigt hat als der Stand der Regierung König
Louis Philipps und die Aussichten der französischen Demokratie. Er plante
eine Aufführung seines erfolgreichsten und in gewissem Sinne auch besten Schau¬
spiels „Die Karlsschüler" in französischer Übersetzung. Bei dem eigentümlichen
Verhältnis, in welchem die Jungdeutschen und hier Laube den andern voran
zur französischen Literatur standen, wäre ihm ein Pariser Bühnenerfolg wert¬
voller als jeder andre gewesen. Die Politik bekümmerte ihn viel weniger als
das Theater, und nur die Narren, denen der ganze Mensch in Zeitungsleserei
und Vereinsberedtscunkeit aufgegangen ist, werden ihm daraus eine» Vorwurf
machen. Bedenklicher ist nur, wie der Schriftsteller dann doch in die politische
Bewegung von 1848 eintritt. Er tagt mit im Vorparlament zu Frankfurt,
er geht dazwischen nach Wien, um seine „Karlsschüler" in Szene zu setzen, und
knüpft die ersten Beziehungen an, aus denen zwei Jahre später seine Ernennung
zum artistischen Direktor des Wiener Hofburgtheaters erwuchs, er läßt sich nebenher
zum Abgeordneten von Mögen in Böhmen für das deutsche Parlament wählen,
in dem er dann vom Juli oder August 1848 bis zum Mai 1849 gesessen hat.
Seine heimliche Prätendentenschaft auf die Direktion des Burgtheaters durfte
er dabei nicht verraten. „Warum denn? Meine norddeutschen Genossen hätten
mich pflichtwidriger Parteilichkeit beschuldigt in den politischen Fragen. Sie
hatten ohnehin die schönste Neigung dazu, weil ich Österreich überhaupt günstiger
ansah als einer von ihnen. Ich wälzte die Erklärung auf Elbogen, welches
ich doch einigermaßen sachgemäß vertreten müsse. Sie lachten mich aus oder
bedauerten mich. Letzteres that ich selbst alle Tage drei Vierteljahre hindurch."
Die alte Gewohnheit, Poesie und Publizistik, Literatur und Politik zu mischen,
überall dabei zu sein und überall mitzureden, war eben i« jenen Tagen noch
übermächtig. Der politische Dilettantismus ist freilich durch das Entstehen eines
besondern Standes von „Parlamentariern" nicht beseitigt worden und Wahlen,
wie die Laubes in Elbogen, die er selbst in einem höchst ergötzlichen Genrebild
der „Erinnerungen" darstellt, mögen noch genug vorkommen. Aber als Annex
des „Berufsschriftstellers" wird wenigstens der „Berufspolitiker" nicht mehr an¬
gesehen.
„Die schwermütige Stimmung verließ mich nicht die neun Monate lang,
während welcher ich in jenem Parlamente saß und den Mund nur öffnete zu
Ja und Nein bei der Abstimmung. Es war mir nicht erreichbar, einen Moment
lang hoffnungsvoll aufzuatmen. Außer meiner Gefüngniszeit erinnere ich mich
keiner so langen Lebensepoche, in welcher ich so gleichmäßig gedrückt dahingelebt
Hütte. Es widerstrebte eben meiner Natur, ohne Aussicht auf Erfolg frisch zu
sein und ohne Erfolg hoffen zu können." Um so frischer fühlte sich unser Autor,
nachdem im Ausgang des Jahres 1849 seine Ernennung zum artistischen Leiter
des Hofburgtheaters nun endlich und wirklich erfolgt war. Von der wunder¬
lichen Art, mit der im damaligen Österreich wichtige Fragen erledigt und Ent-
scheidungen getroffen wurden, berichten Landes Erinnerungen S. 166 — 159 des
zweiten Teils höchst charakteristisches. Zum Schluß der Darstellung seiner Ver¬
handlungen mit dem Grafen Grünne und dem Fürsten Schwarzenberg bemerkt
allerdings Laube selbst: „Das Wort ssdrsur stellte sich bei mir ein und das
Wort Leichtfertigkeit, aber ich mußte zugestehen, daß dieser muntere Naturalismus
recht bestechend erscheine in verwirrter Zeit. Man konnte an das leichte Talent
in der Literatur denken neben weitausholender philosophischer Kritik. Die Parole
dieser aristokratischen Courage lautete: Links und rechts gerade aus und in der
Mitte — ebenfalls." Nach dem Rezept dieses muntern Naturalismus scheint
der Autor einen Teil seiner Bühnenleitung geführt zu haben. Freilich geben
die „Erinnerungen" darüber keinen vollen Aufschluß, Laube verweist für seine
gesamte Karriere als Theaterdirektor auf seine drei Bücher: „Das Wiener Hof-
burgthcater," „Das norddeutsche Theater," „Das Wiener Stadttheater," in
deren ersten beiden allerdings noch von einigen anderm, aber hauptsächlich doch
von seinen Direktionsmaßregeln und Engagements die Rede ist. Die Energie,
der Fleiß, die Geduld, die unermüdlich schaffende Lust am Neuen (im
Falle eines Theaterdirektors ist ja vieles alte neu), auf welche sich Laube in
seinen „Erinnerungen" beruft, wird wohl jeder zugestehen, welcher das letzte
Vierteljahrhundert literarischer und künstlerischer Entwicklung genauer kennt.
Auch gegen die Prinzipien, zu denen sich Laube noch jetzt beim Rückblick auf
seine gesamte dramaturgische Thätigkeit bekennt, läßt sich wenig einwenden.
„Mir war jedes Genre recht, nur ein Stück mußte es sein," sagt er mit Goethe.
Und „ich gestehe ganz offenherzig, daß ich lieber Geld ausgebe für einen guten
Schauspieler als für eine schöne Dekoration. Ich tadle mich ganz ehrlich selbst
darüber, daß ich zu unaufmerksam war und bin für den äußerlichen Schimmer
der Sonne. Unaufmerksam bis zur Fehlerhaftigkeit. Aber den prinzipiell ge¬
suchten szenischen Luxus und die Tapezier-Dramaturgie halte ich für eine Schä¬
digung des Dramas," fügt er hinzu. Wer möchte, wer wird widersprechen?
Aber die Frage ist die, ob Laubes Direktion thatsächlich den Intentionen ent¬
sprochen hat, welche die Erinnerungen hervorheben. Und hier kann es ohne
einige Randglossen nicht abgehen. Es ist wahr, daß die prinzipielle Ausschlie¬
ßung einer berechtigten Richtung und Kraft von der Hofburgbühue nicht nach¬
gewiesen werden kann. Es mag sein, daß die Alltagsmcmier, die theatralische Fa¬
brikation mit poetischem Anflug ä, 1» Mvsenthal mit derbprosaischen: Anstrich
Z, ig. Birchpfeiffer nicht entbehrt werden konnte. Es ist endlich möglich, daß
Laube bei seiner Auswahl der mit Vorliebe von ihn gepflegten französischen
Sittenkvmödien viel wählerischer zu Werke gegangen ist, als man annahm, ob-
schon ans seiner Rechtfertigung seines Verfahrens der Pferdefuß herausschaue.
„Das Zedern gegen französische Stücke geht zumeist von deutschen Schriftstellern
aus, deren Stücke nicht angenommen werden zur Aufführung, und von Kritikern,
welche in kleinen Städten leben. Diese letztern eifern auch nicht ohne Berech¬
tigung. Viele französische Stücke wirken auf das Publikum in kleinen Städten
anstößig, weil die Lebensanschauung dort enger ist. Der Kritiker empfindet den
Übelstand und verurteilt ehrlich das ganze Genre. Sähe er das Stück inmitten
des Publikums einer großen Stadt, welches viel mannichfaltiger ist und welches
schwierige moralische Vorgänge täglich neben sich erlebt und deshalb nicht fanatisch
den Stab über kritische Fragen bricht, dann würde auch sein Urteil anders
lauten." Wer hörte hier nicht den Wiener, der von Alters her gern einen
Pariser vorstellte, wer erinnerte sich nicht, daß die Ideale der jungdeutschen
Autoren im Grunde nie zwischen Rhein und Oder, sondern meist an der Seine ge¬
wachsen waren? Doch dies beiseite, so bleiben Hauptfragen, die auf die Autorität
dieser „Erinnerungen" hin nicht beantwortet werden können. Wenn alle Bestre¬
bungen der dramatischen Dichtung berücksichtigt worden sind — in welchem Geiste
ist dies geschehen, und hat der Wunsch obgewaltet, Darsteller und Publikum zu
deu reineren Höhen der Produktion zu erheben? Ist dafür gesorgt worden, daß die
Alltagskost, die theatralische Durchschnittswaare gegolten hat, was sie wert ist,
daß wenigstens das Bewußtsein des Edlem und schönern von ihr nicht er¬
drückt ward? Oder ists gegangen, wie anderwärts auch, daß Shakespeare zum
Aushängeschilde gebraucht wurde und jeder moderne Poet (dem freilich leicht zu
beweisen war, daß er kein Shakespeare sei) gelästert, lächerlich gemacht ward,
wenn er mehr sein wollte als Mosenthal und Virchpfeiffer? Ging ein Geist
von der Bühnenleitung aus, der den ehrenhaften, um der Sache der Kunst
willen schreibenden Kritikern Mut und Lust gab, sich dem Burgtheater anzu¬
schließen, und der die Schmachreklame, die inzwischen auch in Wien üppig ins
Kraut geschossen war, abschreckte, dem künstlerischen Institut ihre Dienste zu
weihen? Wie gesagt, es wäre im höchsten Maße Unrecht von einem Fernstehenden,
alle diese Fragen zu entscheiden, aber aufgeworfen müssen sie immerhin werden,
und zu wünschen bleibt es, daß die Laubeschen Erinnerungen etwas mehr Anhalt
zu ihrer Beantwortung bieten möchten.
Über seine letzten Erlebnisse als Direktor des Leipziger Stadttheaters und
als Leiter des neugegründeten Wiener Stadttheaters, welches sich als rechtes
Kind des großen Börsenschwindels der ersten siebziger Jahre erwies und mit
dem Krach selbst verkrachte, geht Laube rasch hinweg, er giebt nur ein paar
flüchtige Notizen. Daß er das Leipziger Theater vor allem deshalb aufgegeben,
weil er die französische Komödie nicht in der Weise zu Pflegen und zu bevorzugen
vermochte wie in Wien, gesteht Laube offen zu. In seiner betreffenden Aus¬
einandersetzung (S. 204 und 205 der „Erinnerungen") mischt sich Wahres nud
Falsches in bedenklicher Weise. Er hat Recht, daß er dem Stück aus der
gegenwärtigen Welt einen bedeutenden Anteil an dem Gedeihen und der lebendigen
Wirkung des Theaters zuspricht. Aber er übersieht, daß die französischen Ko¬
mödien für uns diese Wirkungen nur partiell haben können, weil sich die fran¬
zösische Gesellschaft, die französische Familie auf einer total andern Basis auf¬
bauen, als unsre Familie, unsre Gesellschaft. Die Sittlichkeitsfrage ganz bei¬
seite gesetzt — die bloßen Voraussetzungen der dramatischen Probleme und
Konflikte sind total andre.
Laubes „Erinnerungen" berühren die spätere literarische Thätigkeit des
Schriftstellers sehr nebenher und durchaus bescheiden. Es ist nur gerecht her¬
vorzuheben, daß er mitten in der drängenden und zerstreuenden Direktions-
thätigkeit Sammlung und Kraft gefunden hat, sein tüchtigstes und nach unserm
Urteil bleibendstes Buch, den historischen Roman „Der deutsche Krieg," zu ent¬
cum der Konversationslexikousschreiber von heute um biographische
Notizen über einen Lebenden in Verlegenheit ist, so schickt er seine
gedruckten Fragebogen aus, und in wenigen Tagen ist beiden ge¬
holfen, dein Frager und dein Gefragten. Ist der Gefragte eitel
genug, den Bogen auszufüllen und zurückzusenden, so kommt er
„ins Konversationslexikon" und wird ein „berühmter Mann"; wirft er den
Fragebogen in den Papierkorb, so bleibt sein Name eben aus dem Konversations¬
lexikon weg, und mit der Berühmtheit ist es nichts. Wenn du nicht willst, so
läßt du's bleiben, mir kann's recht sein — denkt der Lcxikonsmacher.
Weniger bequem ist das Verfahren, wenn sichs um Verstorbene handelt,
deren Berühmtheit nicht in dem Belieben des Lexikographen ruht. Was gäbe
man da manchmal — vorausgesetzt, daß man ein wissenschaftlich genauer Ar¬
beiter ist — für ein einziges sicheres Datum! In ältern gedruckten Quellen
finden sich wohl die oder jene Nachrichten, aber nicht eine einzige stimmt
vollständig mit der andern überein — welcher soll man glauben? Da gilt es,
Kirchenbücher zu befragen, Taus-, Trau- und Leichcnregister durchzusehen, Bürger¬
und Universitätsmatrikeln aufzuschlagen, Viws aus Schulprogrammen und Doktor¬
dissertationen oder gar vergilbte Magisterpanegyrici und Leichenpredigten zur
Stelle zu schaffen, und wie geringfügig ist dann oft das Ergebnis wochenlanger
mühevoller Forschungen!
Durch Zufall ist der Verfasser der nachfolgende» Mitteilungen noch auf
eine andre Quelle für biographische Nachrichten aufmerksam geworden: auf
schriftliche Bewerbungen um öffentliche Ämter, denen ja in der Regel in früherer
Zeit ausführliche Mitteilungen über den bisherigen Lebensgang des Bewerbers
beigefügt wurden. In Staats- und Stadtarchiven lagern gewiß Massen solcher
Anhalteschreiben aufgespeichert, denn wie Acte mögen sich oft zu einem Amte
gedrängt haben, das doch nur einer erhalten konnte! Von Zeit zu Zeit sind
wohl, um Platz zu gewinnen, ganze Konvolute oder „Kollekten" solcher Schreiben
in die Papiermühle gewandert, und manches interessante Schriftstück mag dabei
vernichtet worden sein in einer Zeit, wo das Makuliren in unsern Archiven noch
summarisch und von urteilsloscn Leuten besorgt wurde; wie manches Gold¬
körnchen mag aber auch hie und da noch in den erhaltenen Massen versteckt
liegen! Eine kleine Probe dieser Art ist uns vor kurzem bei Gelegenheit von
andern Studien durch die Hände gegangen.
Eines der umworbensten Ämter ist seit alter Zeit das Leipziger Thomas-
kantorat gewesen. Schon vor Johann Sebastian Bach haben tüchtige Meister auf
der Orgelbank der Leipziger Thomaskirche gesessen und haben den Taktstock über
dem altberühmten Knabenchor geschwungen; seit Bachs Zeiten vollends ist das
Amt trotz seines bescheidenen irdischen Lohnes von einem solchen Glanz des
Ruhmes und der Ehre umflossen gewesen, daß, so oft es erledigt war, die besten
Musiker es nicht verschmähten, sich um den schlichten Kantorpvsten zu bewerben.
Bekleidet haben das Amt seit Bach unter anderm Männer wie Hiller, Schicht,
Hauptmann. Wie viele aber haben vergebens die Hände darnach ausgestreckt!
Als Schicht am 16. Februar 1823 gestorben war, meldeten sich zehn Be¬
werber um das Thvmaskantorat: außer dem Breslauer Theaterkapellmeister,
einem Berliner Musikdirektor und zwei Kantoren aus Gera und Nordhausen der
Organist an der Domkirche in Bremen Friedrich Wilhelm Riem, der Musik¬
direktor am Leipziger Gewandhauskonzert Philipp Christian Schulz, der Chvr-
direktor des Weimarer Theaters August Ferdinand Hafer (Vgl. Pasque,
Goethes Theaterleitung in Weimar, II.), der gewesene Kantor der Krcuz-
schule in Dresden Christian Theodor Weinlig, der junge Reißiger, der später
Kapellmeister am Dresdner Hoftheater wurde, endlich der nachmals so berühmt
gewordene Balladenkomponist Löwe, Musikdirektor in Stettin.
Im folgenden teilen wir aus den Bewerbungsschreiben der sechs genannten
die Angaben mit, die sie selbst darin über ihren Lebens- und Bildungsgang
gemacht haben. Interessant ist es dabei zu sehen, wie die meiste» — sehr im
Gegensatz zu unsrer heutigen Künstlerbildnng — erst von der akademischen
Laufbahn hinweg sich zur Kunst gewandt hatten, merkwürdig, wie damals
Italien noch allgemein für die hohe Schule des musikalischen Studiums galt,
rührend, wie fast bei allen die Bewerbung zugleich ein Zurückstreben nach
der Stätte war, wo sie einst als Knaben den Grund zu ihrer musikalischen
Ausbildung gelegt hatten. Riem, der erste der genannten, schreibt:
Meine zu Cölleda lebenden Eltern starben in meiner frühesten Jugend, und
nur durch Unterstützung einiger edeldenkender Verwandten kam ich so weit, mich
zum Studiren vorbereiten zu können. Im Jahre 1795 ward mir das Glück zu
Theil, in die Thomasschule in Leipzig aufgenommen zu werden. Ohnerachtet ich
daselbst dem Studiren zur Zufriedenheit meiner Lehrer oblag, so trieb mich doch
meine Neigung eben so sehr zur Musik, und ich genoß in der letzten Zeit meines
dasigen Aufenthaltes der besondern Zuneigung des würdigen Hiller, welcher anch
privatim meine Bestrebungen leitete. Bei meiner Dürftigkeit mußte ich, während
ich späterhin auf der dortigen Universität die Rechtswissenschaft studirte, durch
Musik-Unterricht einen Theil meines Unterhaltes zu verdienen suchen; und da
mehrere Clcivier- und Gesang-Compositionen, welche ich zum Theil herausgab, nicht
ohne Beyfall aufgenommen wurden, die Aussichten zu meinem Fortkommen als
Jurist sich aber getrübt hatten, so entschloß ich mich, der Musik mich völlig zu
widmen, um meinen ganzen Eifer auf Ein Studium ungehindert richten zu können.
Ich suchte nun zwar mich auf dem Fortepiano möglichst zu vervollkommnen, und
trat späterhin in den Winterconcerts dort öfterer auf; allein mit besonderer Liebe
widmete ich mich dem Gesang, vorzüglich dem Kirchengesang; ich suchte besonders
unter meinen Schülerinnen den Geschniack dafür zu erhöhen, und bildete so im
Zeitlauf mehrerer Jahre einen Stamm zu dem Institut, welches ich mit Hülfe
mehrerer Freunde errichtete, und welches, mit einem später ebenfalls von dem
würdigen Schicht begonnenen gleichmäßigen Institute vereint, jetzt in der vollen
Blüthe steht, und bey manchen besonderen Gelegenheiten nicht nur nützlich geworden
ist, sondern auch der Stadt zu besonderer Ehre gereicht: nehmlich die Sing-
Academie, — Aufgeregt durch den Eifer, den ich bald bei den Theilnehmern an
jenem Institute fand, versuchte ich mich in größeren Kirchencompositivncn, und auch
deren günstige Aufnahme lohnte meine Bestrebungen, — Nur die Rücksicht auf
einen festen Posten ließ mich, wiewohl höchst ungern, ans dem schönen Zirkel meines
damaligen Wirkens und aus jener Stadt, dem Mittelpunkte der musikalischen Welt,
scheiden und einem Rufe als Organist an der hiesigen Domkirche folgen. Und
ohncrnchtct mein Streben, ein ziemlich unbebautes Feld zu bearbeiten, durch den
besten Erfolg gekrönt worden ist, indem anch hier unter meiner Leitung eine Sing-
Academie erschaffen wurde, welche bey öffentlichen Festen ebenfalls mit Beyfall auf¬
getreten ist; ohnerachtet man auch meine Bestrebungen mit der größten Aufmerk¬
samkeit, und durch wiederholte Beweise vou Zufriedenheit, ausgezeichnet: so kann
man mir doch den Wunsch, in den Kreiß meiner früheren Verbindungen zurück¬
zukehren, nicht verargen,
Schulz war hinreichend in Leipzig bekannt und konnte sich deshalb kurz
fassen. Er schreibt:
Auf derselben Laufbahn, die den verstorbenen Schicht zu einem so ausge¬
zeichneten Musiker und verdienstvollen Lehrer bildete, habe auch ich mich gebildet
und bin sein Nachfolger in den Ämtern eines Musikdirectors bei hiesiger Univer¬
sität sowie bei dem Concert auf dein Gewaudhause geworden, Ämter, die ich seit
eiuer Reihe von Jahren und — wie man mir oft versichert hat — mit dem Bei¬
fall der hiesigen Stadt verwaltet habe. Seit 1733 in Leipzig, habe ich fünf Jahre
den Unterricht auf der Thomasschule unter Hofmann, Thieme, Fischer und Hiller
genossen, bin seit 1787 im hiesigen Concert und Theater angestellt, war von 1795
an Musikdirector bei dem Theater des Herrn Franz Secvnda, und bin seit 18,10
Musikdirektor des hiesigen Concerts, Keine Behörde, sowie kein Privat-Verein
hat sich für meine weitere musikalische Ausbildung verwendet. , . Über meine
Leistungen in der Kunst entscheide das Urtheil der Kenner. Wenn man größere
musikalische Compositionen allerdings vermißt, so wird jeder, j>erZ mit meinen
Verhältnissen bekannt, billig erwägen, daß ein Mann, der seinen und seiner alten
Mutter Lebensunterhalt durch Gesang-Unterricht erwerben muß, seine Zeit im müh-
seeligen Abwarten der Lehrstunden versplittert sieht, und der Muße und Ruhe er¬
mangelt, die zu Hervorbringung größerer Werke unentbehrlich sind. Eine Erfahrung,
die auch der seelige Schicht gemacht hat.
Hafer hatte ein bescheidnes Anhalteschreiben von wenigen Zeilen eingesandt,
dem auf einem besondern Bogen eine kleine biographische Skizze beigegeben war,
so abgerundet und fertig, wie sie sich ein Lexikonschreiber jener Tage nur hätte
wünschen können, Sie lautet:
August Ferdinand Hafer, geboren in Leipzig 1779, war 3 Jahre als Alumnus
auf der Thomasschule daselbst, studirte dann Theologie, ging aber schon nach einem
Jahre Aufenthaltes auf der Universität, durch häusliche Verhältnisse genöthigt, als
Cantor und vierter Lehrer am Gymnasium nach Lemgo, wo er von 1800 bis 1806
zugleich den Unterricht in Mathematik in den beiden oberen Classen übernahm.
Im Jahre 1306 ging er mit seiner Schwester, der detailler Sängerinn Charlotte
Helfer, auf Reisen und beschäftigte sich von jener Zeit an fast ausschließend mit
Musik, vorzüglich mit wissenschaftlicher Kenntniß derselben im Allgemeinen, mit
Compositionen und dem studi»in des Gesanges. Vom Jahr 1306 bis 1813
»erlebte er 6 Jahre in Neapel, Rom, Siena, Florenz, Bologna, Mailand und
1 '/z Jahr in Wien, München n, a, O. Als sich 1813 seiue Schwester in Rom verhei-
rathete, ging er nach Lemgo zurück, wo er bis Anfang 1317 in seinen frühern Ver¬
hältnissen lebte, außerdem aber noch mit den Schülern der beiden obern Classen
einige italiänische Dichter und Prosaiker las. Anfang 1817 ward er nach Weimar
berufen, um ein neu zu errichtendes Theater-Chor zu bilden, angehenden Sängern
des Theaters in ihrem Studium behülflich zu sehn, bei den italiänischen Opern
zu wirken und den beiden Prinzessinnen Unterricht in Musik zu ertheilen,*) Diese
Geschäfte versieht er bis jetzt zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten und würde keine
Ursache haben, eine Veränderung seiner Lage zu wünschen, wenn ihn nicht besondere
Neigung zu der ernstem Gattung der Kirchenmusik hinzöge, für welche er aber
eben in seinen jetzigen Verhältnissen wenig thätig sehn kann, Uebrigens Hofe er
»och, daß es ihm gelingen werde, an einem großen Orte in einem größeren Wir¬
kungskreise nützlicher zu seyn.
Außer einigen mathematischen Abhandlungen früherer Zeit, mehren Aufsätzen
und Recensionen in der Leipziger Musikalischen Zeitung erschien von ihm Ostern
1822 „Versuch einer systematischen Uebersicht der Gesangslehre" aus der Mu¬
sikalischen Zeitung abgedruckt — und an Compositionen, deren aber sehr viel
mehre und bedeutendere noch im Manuscript liegen, folgendes:
Starke Hoffnungen auf die erledigte Stelle scheint sich Reißigcr gemacht
zu haben, wiewohl er damals erst 25 Jahre alt war. Er war, wie er selbst in
seinem Anhalteschreiben erwähnt, bis 1819 Schichts Schüler in Leipzig gewesen,
hatte auf dessen Verwendung von Leipziger Kunstfreunden auf drei Jahre je
600 Thaler Unterstützung zur Fortsetzung seiner Studien erhalten und war
dann nach Wien und München gegangen. In Wien hatte er sich namentlich
dem Klavierspiel, in München unter Winter der dramatischen Komposition und
dem Gesangunterricht zugewandt. Schließlich hatte Schicht während seiner letzten
Krankheit ihn aufgefordert, von München nach Leipzig zu kommen und seine Stelle
zu vertreten. „Seinem Gebote — schreibt er —, das er mir leider erst so
spät kommen ließ, sogleich folgend, langte ich dennoch erst wenige Tage vor
seinem Tode hier an, und hatte nur die Freude, ihm noch einmal mündlich
meinen heißen Dank für seine Lehren sagen zu können."
Eine eigentümliche Bewandtnis hatte es mit Löwes Bewerbung. Löwe
meldete sich nicht selbst, sondern sein Schwiegervater, der Staatsrat und Pro¬
fessor Dr. Ludwig Heinrich von Jakob in Halle, unternahm es, die Aufmerksam¬
keit des Leipziger Rates „auf ein Subjekt zu lenken, das bei näherer Prüfung
vielleicht der Beachtung nicht unwert gefunden werden dürfte." Bescheidenheit
halte Löwe ab, seine Wünsche unmittelbar auszusprechen; er werde jedoch seine
Bitte selbst vortragen, sobald er „seiner Berücksichtigung gewiß sein" könne.
Über den Lebensgang seines Schwiegersohnes teilte Jakob folgendes mit:
Derselbe ist jetzt gegen dreißig Jahre alt.*) Er fühlte von der frühesten
Jugend an einen Beruf zur Musik, zeichnete sich schon als Chorschüler in Halle
durch seinen Gesang und seine Anlagen zur Musik so aus, daß die Westfälische
Regierung ihn, auf Vorstellung des Oberpraefects, bei dem Musikdirector Türk in
Pension gab, damit seine Talente durch theoretischen und practischen Unterricht
ausgebildet werden sollten. Nachdem er Türks Unterricht einige Jahre genossen,
wurde die Unterstützung bei Auflösung der Westfälischen Regierung unterbrochen.
Auf dein Hallischen Waisenhause für die Universität vorbereitet, bezog er dieselbe
im Jahre 1815 und studirte Philologie und Theologie, um sich für eine Lehrer¬
oder Predigerstelle vorzubereiten, trieb aber die Musik daneben eifrig und galt für
einen guten Violinspieler und den beliebtesten und gesuchtesten Clavier- und Gesang¬
lehrer in Halle. Auch fanden schon damals einige Compositionen von ihm den
Beifall der Kenner. Er hatte daher kaum sein Trienmuin vollendet, als er auf
Empfehlung des Kanzler Niemeyer in Halle und des berühmten Directors der
Singacademie in. Berlin, Zelter, an das Stettiner Gymnasium als Cantor berufen
ward. Hier gelang es ihm sehr bald, einen ganz neuen Geist in das Gesang¬
wesen zu bringen, und sowohl seine Vorgesetzten als die Schüler für die Ver¬
besserung desselben zu intressireu. Das sogenannte Chor wurde aufgehoben, und
daher der religiöse Gesang zum Gegenstande des allgemeinen Unterrichts im Gym-
nasio erhoben. Dieser von Löwe organisirte Unterricht hatte einen so guten Er¬
folg, daß schon nach Jahresfrist ein Chor von fast hundert Sängern in der Schule
und in der Kirche auftraten, und unter seinem Direktorium nicht nnr Oratorien
aufführen, sondern auch dem gemeinen Kirchengesänge durch ihren Einfluß einen
solchen Charakter geben konnten, der die ganze Gemeinde ergriff. Diese glückliche
Veränderung zog selbst die Aufmerksamkeit der dortigen Königlichen Regierung so
sehr auf sich, daß sie in Vereinigung mit dem Magistrate und dem Schulrathe
den Entschluß faßten, nicht nur dieses Institut zu bevestigen, sondern es so zu
organisiren, daß dieser bessere Kirchengesang möglichst allgemein gemacht ^werden)
und sich sogar auf die Dorfgemeinden verbreiten mögte. Zu diesem Behuf ward
eine vom Ccmtorat abgesonderte Mnsikdirectorstelle für den ganzen Regierungs¬
bezirk errichtet, Löwe dazu ernannt, und ihm neben dem bisherigen Gesangsunterricht
im Gymnasio auch die Direction und Aufsicht derselben in den übrigen Schulen
des Regierungsbezirkes, sowie der Siugunterricht in dem Landschullehrer-Seminnrio
übertragen, um durch die Land-Cantoren den besseren Gesang in die Schulen und
durch diese in die Land-Kirchen zu bringe». Mit dieser Stelle wurde eine or¬
dentliche Lehrerstelle im Gymnasio, sowie das Amt eines Organisten in der Haupt
kirche verbunden, und ihm ein Fixum von acht hundert Thaler» nebst einigen
Accidenzien vmvilligt. In diesem Wirkungskreise befindet sich Löwe noch.
Zur Bestätigung seiner Angaben hatte Jakob ein Schulprogramm des
Stettiner Gymnasiums mit eingeschickt, in welchem sich Schulrat Koch anerkennend
über Löwe ausgesprochen hatte. Außerdem bezieht er sich auf Hofrat Rochlitz,
Hofrat Keil und Professor Arndt in Leipzig, dene» Löwe persönlich und auch
hinsichtlich seiner musikalischen Talente bekannt sei; in den Händen des letztern
befänden sich auch einige Kompositionen Löwes, namentlich einige Quartette und
ein Konzert. Zwei Kirchenstücke lagen dem Gesuch in Partitur bei.
Der glückliche Sieger im Wettlauf war Weinlig, der über seine» Lebens-
gang folgende Mitteilungen gemacht hatte:
Nachdem ich im Jahre 1300 von E. Hochlöbl. Juristenfaeultttt zu Leipzig
pro LÄiiäilwwrii examinirt, und mit der Censur pras estsris beehrt worden war,
auch dau» bis zum Jahre 1303 in meiner Vaterstadt Dresden ?raxin M'i<lie,g,in
ausgeübt hatte, bewog mich die vorwaltende Liebe zur Musik, die Jurisprudenz
mit der Kunst zu vertauschen, und sowohl zu Dresden, unter Leitung meines
Onkels, des verdienstvollen Musikdirektors Ehregott Weinlig, als zu LolvAW in
der Schule des bekannten Pater 8w.ni«of UMei, die Composition zu studiren.
'
Nach vollbrachten Studien erhielt ich von der ^Wclsmia, cle- Vilarmomoi zu
Bologna, das Diplom als Msstro, »»d besuchte dann die noch übrigen, für die
Musik wichtigen Städte Italiens, theils um in den melodischen Theil der Setzkunst
noch tiefere Einsichten zu gewinnen, theils aber und vorzüglich um mich in der
wahren Methode des italienischen Gesangs durch die besten Sänger zu unterrichten ;
in welcher letzteren Rücksicht auch die Namen eines Völlcctl, David, und laeelnuaräi
mir immer in dankbarer Erinnerung bleiben werden.
Bei meiner Rückkehr nach Dresden fand ich meinen geliebten Onkel und Lehrer,
den oben genannten Musikdirektor Weinlig, schon sehr kränklich; so daß ich bis zu
seinem Tode fast jedes Jahr bei der Aufführung des Charfreitags-Or->.torii für ihn
vikarirte. Uebrigens lebte ich, als privatisirender Musiker, meinen Compvsitivns-
arbeiten; vollendete ein, zur Zeit nur noch dem Privatunterrichte meiner Schüler
gewidmetes Manuscript über die gesammte Theorie der Setzkunst; und suchte
nebenbei, als Gesanglehrer, die in Italien erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten
nutzbar zu machen.
Im Jahre 1814 übertrug E. E. Magistrat zu Dresden, mit gänzlicher Ueber-
gehung der sonst gewöhnlichen Cantorprvbe, mir das Cautorat der Krenzschule selbst,
welches Amt ich auch bis zum Schluße des Jahres 1817 bekleidete, dann aber
es niederlegte, und wieder in den Stand eines privatisirender Künstlers zurück¬
trat. . ..
Als Privntlehrer der Composition, des Gesangs und des Pianoforts, blieb
mir, nach meinem Rücktritte vom Amte, nichts weiter von öffentlichen Leistungen
übrig, als die Direction der vom verstorbenen Hoforganist Dreißig gestifteten,
Dresdner Singacademie; die ich aber auch ohne zu erröthen nennen kann, da sich
solche, vorzüglich was den guten edlern Vortrag anlangt, wohl mit jedem andern-
Chöre zu messen vermag; wie dieß der H, Professor Zelter mir oft, zu meiner
nicht geringen Freude, versichert hat.
Eine besondre Auseinandersetzung widmet Weinlig dem Rücktritt von seinem
Dresdner Amte. Um falschen Deutungen zu begegnen, erklärt er, einzig und
allein der Umstand, daß ihm die Ausübung seiner ihm über alles heiligen Dienst
Pflicht zur Unmöglichkeit gemacht worden sei — wo seine Ehre als Mensch und
als Künstler auf dem Spiele gestanden habe —, sei der Grund seines von einem
Gatten und Vater gewiß nur notgedrungen gethanen Schrittes gewesen, bittet
aber verschweigen zu dürfen, wie jener Umstand herbeigeführt worden sei.
Daß Weinlig die Stelle Schichts erhielt, hatte er wohl namentlich zwei
Empfehlungen zu danken, von denen die eine von keinem geringern kam als von
Carl Maria von Weber. Nachdem nämlich Weinlig sein Gesuch bereits
eingereicht hatte, bat er nachträglich noch Weber um ein Zeugnis über seine
Leistungsfähigkeit. Weber erfüllte diese Bitte indirekt, indem er folgende Ant¬
wort an Weinlig schickte, die dieser sich beeilte seinem Anhaltschreibcn noch nach¬
zusenden:
haben mich gefälligst von Ihrer Bewerbung um die Stelle des hochverehrten sel.
Schicht, in Kenntniß gesezt, und glauben daß eine von mir ausgesprochene Aner¬
kennung Ihrer Talente, Ihnen dabei förderlich sein könnte.
So sehr Sie diese Bescheidenheit, und mich, Ihr Vertrauen ehrt, so wenig
glaube ich doch hoffen zu dürfen der Darlegung meiner Privatmeinung hinlängliche
Bedeutung geben zu können, da ich weder die Ansprüche jener Stelle genau zu be¬
urtheilen vermag, noch den ganzen Umfang Ew. Wohlgebohren Kunstkräfte kennen
zu lernen Gelegenheit hatte.
Wo aber die öffentliche Meinung schon so günstig entschieden hat, wie sie es
in Dresden für Ew. Wohlgebohren gethan, kaun der Einzelne nur gerne aussprechen,
daß er ihr vollkommen beipflichte. Ihre Leitung der SingMademie hat sich dnrch
den Erfolg selbst bewährt. Es ist anerkannt, daß Sie der Kunst mit Ernst in ihren
Tiefen folgen, und der gründlichsten Einsicht mächtig sind. Ueberdieß hat die Direk¬
tion der Kreuzschule Ihnen schon die nöthige Erfahrung in gleichem Geschäfts¬
kreise verschafft.
Ich glaube es der wirklichen Achtung die ich für Ew. Wohlgebohren hege,
schuldig zu sein, wenn ich das Aussprechen meiner wahren Ueberzeugung die sich
der allgemeinen Stimme anschließt, hier aus oben berührten Gründen begrcinze;
und sie nur schließlich bitte die Gesinnungen der vorzüglichen Anerkennung zu ge¬
nehmigen, mit welchen ich zu sein die Ehre habe
Dresden d. 14. März 1323.
Inzwischen scheint sich einer der Leipziger Ratsherren an Christinn
Gottfried Körner in Berlin (den Vater Theodor Körners) mit der Bitte
um Auskunft über Weinlig gewandt zu haben. Körner hatte bis 1815 in
Dresden gelebt, war ein eifriger Musikliebhaber, hatte sich selbst als Komponist
versucht, und so war von ihm über Weinlig nicht bloß als Menschen, sondern
auch als Künstler ein zuverlässiges Urteil zu erwarten. Die Auskunft, welche
Körner gab. lautete folgendermaßen:
haben mich durch einen schätzbaren Beweis Ihres Vertrauens erfreut, und ich eile
Ihre Frage nach meinem besten Wissen und so unbefangen und ausführlich, als
es die Wichtigkeit der Sache erfodert, zu beantworten. Daß Herr Weinlig als
Theoretiker sich auszeichnet, ist Ihnen schon bekannt. Von seinen Compositionen
für die Kirche wird er Wohl Proben eingereicht haben. Was ich von seinen
früheren Arbeiten kenne, war ernst und tüchtig, und durch einen zweyjährigen Auf¬
enthalt in Italien sind seine Formen gefälliger geworden. Von seinein Persönlichen
kann ich Folgendes bezeugen. Sein Vater wünschte ihn zum Juristen auszubilden,
er überwand seine Neigung zur Musik, studirte Rechtswissenschaft mit Fleiß lind
Erfolg, gestand aber dem Vater, der Hofrath in Dresden war, daß es ihm schwer
werde den frühern Trieb zur Kunst zu unterdrücken. Der Vater hoffte ihn noch
durch Schwierigkeiten abzuschrecken und trug seinem Bruder (dem Cantor in Dresden)
auf, dem jungen Weinlig den Unterricht nicht leicht zu machen. Dieß geschah, aber
der junge Mann harrte aus, und gieng so vorbereitet nach Italien, daß er in die
philharmonische Academie zu Bologna aufgenommen würde. Er ist eine ächt deutsche
Natur von stiller Kraft, die sich nicht glänzend und mit Geräusch ankündigt. In
seinen Verhältnissen gegen die andern Lehrer und gegen die Schüler wird er sich
männlich aber ruhig betragen. Daß er bey der Creuzschule seine Lage unerträg¬
lich fand, gereicht ihm bey den Umständen, die Ihnen schon bekannt sind, nicht
zum Vorwurf. Seit sieben Jahren habe ich ihn nicht gesehen, aber damals war
er körperlich gesund und kräftig, auch keineswegs mürrisch, sondern in heitrer Ge¬
sellschaft von gutem Humor. Er ist nicht ohne eignes Vermögen, und seine Stunden
werden ihm gut bezahlt, da er besouders als Gesanglehrer sich die italiänischen
Kunstvortheile zu Bildung des Organs zu eigen gemacht hat. Eine Schülerin
von ihm, die sich durch Wohlklang der Stimme, reine Intonation und schönen
Vortrag auszeichnete, habe ich selbst gekannt. Ein sicheres Einkommen mag aller¬
dings für den Familienvater anziehend seyn, auch reizt ihn Wohl die Aussicht,
einem brauchbaren Chöre vorzustehen, und zu eignen Arbeiten mehr Muße zu
haben. Kurz, nach meiner Überzeugung, würde ich keine Bedenken haben, ihn zu
einem Nachfolger Schichts zu empfehlen. Es fehlt ihm auch nicht an gelehrter und
geselliger Ausbildung um in jedem Zirkel zu seinein Vortheil erscheinen zu können. —
Die guten Nachrichten von dem Kunzischen Hause freuen mich sehr. Sagen
Sie beyden viel Herzliches von mir und den Meinigen. Daß Sie sich in Berlin
so selten machen ist nicht löblich. Bessern Sie sich und vergessen Sie unser
Haus nicht.
Berlin den 8. März 1323.
Weinlig zählt nicht zu den besonders hervortretenden Thomaskantoren Leip¬
zigs. Er soll ein stilles, zurückgezogenes, ganz seinem Amte und Berufe ge¬
widmetes Leben geführt haben. Daß er aber ein ausgezeichneter Lehrer ge¬
wesen, daran sind wir gerade in den letzten Tagen und Wochen vielfach erinnert
worden: ein Schüler von ihm war — Richard Wagner, der in der auto¬
biographischen Skizze, die er 1843 in der „Zeitung für die elegante Welt" ver¬
öffentlichte, ihm folgendes ehrenvolle Denkmal gesetzt hat: „Ich fühlte die
Notwendigkeit eines nen zu beginnenden, streng geregelten Studiums der Musik,
und die Vorsehung ließ mich den rechten Mann finden, der mir neue Liebe
zur Sache einflößen und sie durch den gründlichsten Unterricht läutern sollte.
Dieser Mann war Theodor Weinlig. Nachdem ich mich wohl schon zuvor
in der Fuge versucht hatte, begann ich jedoch erst bei ihm das gründliche Stu¬
dium des Kontrapunktes, welches er die glückliche Eigenschaft besaß den Schüler
spielend erlernen zu lassen.... Mein Studium bei Weinlig war in weniger
als einem halben Jahre beendet: er selbst entließ mich aus der Lehre, nachdem
er mich soweit gebracht, daß ich die schwierigsten Aufgaben des Kontrapunktes
mit Leichtigkeit zu lösen imstande war." Der Wagner, der dies vor vierzig
Jahren schrieb, war freilich ein andrer, als der, der jetzt aus der Welt ge¬
gangen.
is die Grenzboten vor einigen Monaten die vielbesprochene Mit¬
teilung über das Vertragsverhältnis zwischen Österreich und dem
deutschen Reiche gemacht hatten, wurde in allen nichtdeutschen
Idiomen dieses vielsprachigen Staatskörpers auf das allerleb-
hafteste gegen den Verdacht protestirt, daß irgendeine Nationalität
etwa dem Bündnisse mit Deutschland abgeneigt sei oder gar an dessen Lockerung
arbeite. Dieses Bündnis zählte plötzlich nur begeisterte Anhänger im Lande.
So wenig nun dieser einmütige Feuereifer mit hundert und aberhundert Kund¬
gebungen der letzten Jahre in Einklang zu bringen war, ließen wir uns den¬
selben doch gern gefallen. Bewies er nicht, daß man auf das Kannegießern
und Bramarbasiren in den Zeitungen und Vereinen keinen zu großen Wert legen
dürfe? Da geht viel über die Zunge und aus der Feder, wovon Kopf und
Herz eigentlich nichts wissen. Das Geschäft verlangt, daß man sich nicht
überbieten lasse, und der Zank erhitzt die Gemüter. Shakespeare hat wiederholt
in meisterhaften Zügen geschildert, wie Diener und Klienten der Parteihäupter
sich gegenseitig beschimpfen, dann raufen, und die Bürger glauben, einander
ebenfalls die Köpfe einschlagen zu müssen, weil — ja warum? Als etwas
andres sind auch die Feder- und Zungengefcchte in den Vorzimmern der politischen
Welt nicht anzusehen. Aber den Vorwand liefern doch immer die Herren; und
wenn sie mit verächtlichen Worten der Balgerei ein Ende machen wollen, sehen
sie sich plötzlich selbst mitten im Getümmel, und nicht nur Raufbolde wie Tybalt,
sondern auch die Mercutios können dabei ums Leben kommen. Da sich nun
im ernsten Moment die ruhige Erwägung stärker zu erweisen schien als die
Leidenschaft, da die unvernünftigen nationalen Bestrebungen, Antipathien und
Eifersüchteleien wenigstens bis zu einem gewisse» Grade öffentlich verleugnet
wurden, war es wohl keine Unbescheidenheit, zu erwarten, daß die „Herren,"
die Parteiführer, in Zukunft selbst etwas bedächtiger sein und ihr Gefolge und
Gesinde besser im Zaum halten würden.
Ente Hoffnung! Die feierlichen Beteuerungen waren kaum verhallt, als
sofort wieder der blödeste Deutschenhaß abermals zum Worte kam. Und da
Herr Rieger, das anerkannte Haupt der Tschechen, sich beeilte, seinen Lands-
leuten in Schlesien ihre deutschen Mitbürger als „Fremde" zu denunziren, da
der Direktor der Prager „höheren böhmischen Töchterschule" in einer Sitzung
des Abgeordnetenhauses die Deutschösterreicher beschuldigte, „im äußersten Not¬
falle mit Hilfe des mächtigen deutschen Reiches ihre nationale Herrschaft be¬
haupten zu wollen, selbst wenn darüber Österreichs Großmachtstellung und
endlich Österreich selbst zu Grunde gehen sollte," da der Primas von Ungarn,
Kardinal Simor, sich nach seiner Heimkehr aus Rom verpflichtet gefühlt hat,
den „Kulturkampf" in einem Hirtenbriefe von seinem Standpunkt aus zu be¬
leuchten, da das einflußreichste (bezeichnend genug in deutscher Sprache, wenn
auch frei von deutscher Gesinnung geschriebene) Blatt Ungarns, der Pester Lloyd,
sich die Schmach anthut, den Wortbruch des Generals Thibaudin auf eine Linie
zu stellen mit dem Übergang der sächsischen Regimenter bei Leipzig und — man
höre! — mit Aorks Konvention von Tauroggen: da solche Dinge wieder all¬
täglich geworden sind, so ist man leider gezwungen, die eingangs erwähnte
Episode ganz anders zu betrachten. Nicht der Patriotismus, nicht der politische
Verstand haben die sympathischen Äußerungen für Deutschland eingegeben; viel¬
mehr fanden die Herren sich in der Lage ertappter Schulbuben und benahmen
sich auch so. Sie hätten die Fenster eingeworfen? Beileibe, das thun ja so
wohlerzogene Knaben niemals, und am wenigsten bei einem guten Freund und
Nachbarn. Aber kaum glauben sie sich unbeobachtet, so werden die Steine wieder
aus der Tasche hervorgeholt. Wir können nicht untersuchen, wo in dem Ver¬
gleiche des Pester Lloyd die Frechheit aufhört und die Unzurechnungsfähigkeit
beginnt, unverkennbar ist nur, daß das edle Blatt bei seinen Lesern die ent¬
sprechenden Gesinnungen voraussetzt, wie sie jener Prager Mädchenschuldirektor
bekennt, wen» er uus schmunzelnd den Vernichtungskrieg der verbündeten Slawen
und Franzosen gegen das Deutschtum an die Wand malt.
Solcher Bosheit gegenüber muß auf die Deutschösterreicher das energische
Auftreten verschiedner Berliner Organe gegen die Deutschen in Siebenbürgen
und deren Freunde in Deutschland einen eignen Eindruck machen. Wir ver¬
kennen nicht im mindesten die politischen und die Anstandsrücksichten, welche dabei
im Spiele sind, und sagen uns außerdem, daß wir garnicht in der Lage sind,
alle Beweggründe der Haltung der deutschen Regierung in einer bestimmten
Frage zu erkennen. Aber wenn jedes ermutigende Wort seitens der Stammes¬
genossen schon als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden
Staates herb verwiesen wird, und wenn ein Pester Offiziosus sich in einem
— wie angenommen wird, der deutschen Regierung nahestehenden — Blatte so
weit versteigen darf, die siebenbürger Sachsen als Feinde des deutsch-öster¬
reichischen Bündnisses hinzustellen, weil sie auf dem bestehen, was ihnen bei der
Einverleibung in den 1867 neu konstituirten ungarischen Staat feierlich gewähr¬
leistet worden ist, dann muß das auf die hartbedrängten Deutschen im äußersten
Südosten und endlich auf alle Deutschen Österreichs eine sehr niederschlagende
Wirkung ausüben. Sie verlangen ja nichts von dem stammverwandten Nachbar,
es ist die elendeste Verleumdung, wenn die „Struppigen" (um mit Hebbel zu
reden) nicht ermüden, sie des Liebäugelns mit der Kornblume zu zeihen —
dieser, allerdings ein wenig geschmackvolleren Form bedienen sich jetzt die De¬
nunzianten, welche früher die „Preußcnseuche" erfunden hatten; es giebt be¬
sonnene Personen genug, welche das Treffende in dem geflügelten Worte von
den „Herbstzeitlosen" fühlten. Allein, mag die heutige Situation wesentlich durch
Verschuldungen der deutschen Liberalen geschaffen worden sein, der Kampf wird
gegenwärtig mit so ungleichen Waffen geführt, daß die Feinde aller Deutschen
nicht noch der moralischen Unterstützung der Deutschen außerhalb Österreichs
bedürfen. Unter allen Umständen haben an dem, was man den Cisleithaniern
vorwerfen kann, die Bewohner des Königsbodens keinen Anteil, und die äußerste
Perfidie ist es, den evangelischen Geistlichen Herrschgelüste unterzuschieben, für
welche die Verteidigung der Nationalität lediglich als Maske diene. Die Ge¬
rechtsame der Kirche sind eben das letzte Vollwerk der deutschen Schule und
damit des Deutschtums in Siebenbürgen.
In Wien hat soeben wieder eine Redeschlacht ausgetobt, die einen entsetz¬
lichen Eindruck macht. Die Linke verweigert das Budget und bringt zur Recht¬
fertigung alle ihre Beschwerden vor, die Rechte hat fast ebensoviel zu klagen,
unterstützt aber die Regierung in der Erwartung, daß diese sich in allem fügsam
zeigen werde, und in der Furcht, daß diesem Ministerium wieder ein zentrali-
stisches folgen könne. Dieses Schauspiel wiederholt sich nun Jahr für Jcchr>
aber mit jeder Wiederholung ist die Erbitterung größer, wird der Ton rücksichts¬
loser, wird man immer weniger wählerisch in gegenseitiger Schmähung und
Verdächtigung. Felouie, Korruption, Verschwendung des Staatsvermögeus,
Bedrückung, Reaktion schleudert man sich gegenseitig ins Gesicht, und das Fazit
ist, daß die Mehrheit mehr oder minder unumwunden ausspricht: Was ihr
früher gethan habt, als ihr die Macht besaßet, das thun wir jetzt, wo wir sie
haben, und wir werden das äußerste aufbieten, um euch nicht wieder zur
Macht gelange» zu lassen, den» wir wissen, das; ihr sie gebrauchen würdet wie
früher. Könnte man sie in dem letztern Punkt nur Lügner heißen! Aber die
Liberalen wollen in der That nichts lernen. Mit allen parlamentarischen und
publizistischen Mitteln haben sie vor vier Jahren das Zustandekommen eines
liberalen und deutschfeindlichen Ministeriums verhindert, dann den Grafen Taasfe
genötigt, sich auf die Rechte zu stützen, und so geraten sie heute wieder in die
blinde Wut gegen eine kleine Gruppe von Abgeordneten, welche vermitteln, eine
Ausgleichung der Gegensätze versuchen möchten. Und doch könnte durch diese
Fraktion allein die Linke aus der hoffnungslosen Lage errettet werden, da das
eine, was allerdings von rechtswegen geschehen sollte, vorderhand aus taktischen
Gründen unterbleiben wird: eine völlige Sonderstellung Galiziens.
Das jetzige Verhältnis dieses Landes zum Reiche ist wirklich ein so eigen--
tümliches, daß man nicht faßt, wie es Dauer haben solle. Nicht viel, nur die
äußere Form mangelt noch, und Galizien würde das dritte Glied einer Trias
sein; doch dieser Mangel wird durch Vorteile aufgewogen, auf welche die Polen
nicht werden verzichten wollen: die Überschüsse der deutschen Kronländer müssen
den Haushalt Galiziens bestreikn, dabei üben die Polen in allen gemeinsamen
Angelegenheiten einen maßgebenden Einfluß aus, setzen durch, was die Tschechen
und die Ultramontanen wünschen, und erwirken schließlich, daß die Gesetze,
welche sie den andern aufgezwungen haben, für Galizien keine Giltigkeit haben.
Weshalb sollten sie eine so beispiellos vorteilhafte Position freiwillig aufgeben,
und wie sollte» ihre Bundesgenossen in eine Änderung willigen, welche eine
Verschiebung der Machtverhältnisse zur Folge haben würde? Aber wohin soll alles
dies führen?
Vorläufig sehen wir eine deutliche Wirkung der polnischen Präponderanz
in Österreich: allen übrigen Polen schwillt der Kamm, und das mag unerfreulich
sein, begreiflich ist es gewiß.
obcild Sibylle den Wagen hinter sich hatte und nicht mehr der
Beobachtung ausgesetzt war, veränderte sich die gelassene und
stolze Haltung der Dame, und ihr Kopf senkte sich wie in Be¬
sorgnis herab. Eine finstere Miene verbreitete sich über ihr
Gesicht, während sie die Dorfgasse zurückging und dabei gerades¬
wegs das Gasthaus anstatt, wie sie gesagt hatte, das Pfarrhaus zum Ziele nahm.
Als sie es erreichte, bemerkte sie, daß der Schwarze nicht mehr draußen auf der
Bank saß, und sie ging in das Haus hinein und fragte nach ihm.
Die gesprächige Wirtin, sehr erfreut über so eleganten Besuch, knixte einmal
über das andre und führte ihn dann, voll Bewunderung über das Rauschen der
Seide auf ihrer engen Treppe und über den Wohlgeruch, der sich von diesem
staunenswerten Anzüge aus verbreitete, hinauf in Herrn Eschenburgs Kabine,
wo der grauhaarige Neger am Fenster in einer englischen Bibel las. Dann
blieb sie draußen vor der Thüre stehen, sich in Vermutungen erschöpfend, welche
Bedeutung ein solches Ereignis haben könne, und sehr begierig, eine Aufklärung
darüber durchs Schlüsselloch zu erlauschen.
Andrew erhob sich, als die Gräfin eintrat, führte sie höflich und als sei
er nicht im geringsten durch ihre Anwesenheit überrascht, zum Sopha und blieb
mit einem forschenden Ausdruck seines ehrlichen Gesichts in respektvoller Hal¬
tung vor ihr stehen.
Gräfin Sibylle blickte in dem kleinen Gemach umher, ehe sie ein Wort
sprach, als wollte sie vorsichtig Grund und Boden erforschen, auf dem sie sich
zu bewegen habe. Die Fensterläden, ähnlich den Luftklappen der Schiffe ein¬
gerichtet, waren zur Hälfte heruntergelassen, sodaß nur ein gedämpftes Licht
den Kontrast zwischen der modernen Kleidung der glänzenden Dame und dem
altfränkischen, überaus einfachen Mobiliar der braungetäfelten Stube beleuch¬
tete. Doch blitzte die Wasserfläche der sonnigen See von unten her durch den
breiten Spalt der Läden herein, und von dort her drang auch ein kühlender
Luftzug in die Schwüle des eingeschlossenen Raumes.
Ehe sie noch ein Wort äußerte, erhob sich die Gräfin wieder und ging in
der wohlbegründeten Vermutung, daß die Wirtin eine so günstige Gelegenheit
zur Befriedigung ihrer Wißbegierde nicht ungenützt vorübergehen lassen wolle,
zur Thür zurück und blickte hinaus. Erst als das eilfertige Getrappel der
fliehenden Frau sich in den untern Räumen verloren hatte, wandte sie sich zu
dem Schwarzen.
Sie sind also jetzt in Deutschland, Andrew, sagte sie mit einer Stimme,
die vor innerer Erregung heiser klang. Was führt Sie hierher?
Ich begleite meinen Herrn, den Grafen Eberhardt von Altenschwerdt, ent-
eutgeguete der Schwarze mit ruhigem, wohlbemesscnem und nachdrücklichem
Tone.
Die Gräfin schwieg eine Weile, und ihr Blick flammte in düsterem Feuer.
Ich könnte Ihnen antworten, Freund Andrew, sagte sie dann höhnisch, daß
der Graf Eberhardt von Altenschwerdt seit mehr als zwanzig Jahren tot ist.
Ihr Verstand ist spazieren gegangen und irrt in der Vergangenheit umher.
Besinnen Sie sich, wo Sie siud und mit wem Sie sprechen. Sie werden mir
nicht einreden wollen, daß ein Wunder geschehen sei und der selige Graf wieder
auf Erden wandle.
Und warum sollte nicht ein Wunder geschehen für die, welche das himm¬
lische Jerusalem suchen, wenn es Gottes Wille wäre, Frau Gräfin? fragte der
Schwarze. Wenn die Sünder taumeln und die irdische Gerechtigkeit schweigt,
dann tritt der Himmel selbst in die Reihe und macht die Reichen, die Klugen,
die Stolzen und die Weltlichen zu Thoren. Denn in den Händen Gottes sind
wir nur wie Töpferthon.
Der alte Neger sprach mit einer schwärmerischen Betonung, in der Weise
der vereinsamten Gemeinden, in denen er so lange gelebt hatte, und richtete mit
gefalteten Händen den Blick nach oben. Aber ein scharfes Lachen der Gräfin
antwortete ihm, und er blickte ihr entrüstet in die dunkeln, stechenden Angen.
Reden Sie wie ein vernünftiger Mensch, Andrew, sagte sie. Ich habe
solche unklare Beschwörungen schon einmal von Ihnen vernommen, als Sie da¬
mals in Paris versuchten, auf die Schwäche meines Gemahls einzuwirken.
Wenn Marie Eschenburgs Sohn das himmlische Jerusalem suchte, brauchte er
»icht die Reise hierher zu machen. Es würde eine interessante Bereicherung
meiner geographischen Kenntnisse sein, wenn ich erführe, daß es in der Provinz
Pommern läge. Für mich passen solche Phrasen nicht, und ich komme immer
mehr zu der Vermutung, daß Sie ein intriganter Bursche sind, der irgend
einen listigen Anschlag mit heuchlerischen Phrasen verschleiern will.
Wie hätte ich einen listigen Anschlag versucht? sagte der Schwarze vor¬
wurfsvoll. Bin ich denn zu Ihnen gekommen, Frau Gräfin? Ich habe ruhig
hier vor dem Hause gesessen, und Sie suchen mich auf.
Das sind Ausflüchte! sagte sie herb. Was haben Sie überhaupt hier zu
thu»? Wie kommen Sie dazu, vom Grafen Altenschwcrdt zu sprechen, den Sie
begleiteten? Stellen Sie sich doch nicht einfältiger, als Sie sind. Ich sehe doch
aus Ihrer Anwesenheit und Ihrem Benehmen, daß jener junge Mann die thö¬
richten Ansprüche seiner leichtsinnigen Mutter —
Die Dame, von der Sie sprechen, ist tot, sagte der Schwarze, sie unter¬
brechend, mit feierlichem Ausdruck.
Sie ist tot? rief Gräfin Sibylle nach einem tiefen Atemzuge. Nun, und wenn
sie tot ist, was suchen Sie dann, und was sucht ihr Sohn hier? Was für
eine Bedeutung kann Ihre Anwesenheit hier haben, wenn nicht die eines Ver¬
suchs gegen meine Sicherheit und Ehre? Haben Sie das nicht damit schon ein¬
gestanden, daß Sie dem Sohne der Marie Eschenburg einen usurpirter Namen
und Titel beilegen?
Es ist unnötig, Frau Gräfin, erwiederte der alte Diener, daß Sie so zornig
werden. Ihr Vermutungen und Ihr Argwohn sind nicht begründet. Mein
Herr denkt nicht daran, Ihre Ehre anzugreifen, und er ist nicht unter dem Titel
eines Grafen von Altenschwerdt hier. Wenn ich ihn so genannt habe, so habe
ich es nur in der Gewißheit gethan, daß ihm dieser Name und Titel gebührt,
obwohl er ihn nicht führt.
Also eine Unverschämtheit auf Ihre eigne Hand! rief die Gräfin erbittert.
Der Schwarze erwiederte nichts, kreuzte aber mit ruhigem Trotz die Arme
über der Brust und senkte seine Augen nicht vor dem zornsprühenden Blick der
Dame. Ich weiß wohl, daß Sie die Lebenden nicht fürchten, sagte er in einer
Prophetischen Weise, aber hüten Sie sich vor den Toten!
Sie fühlte einen Augenblick einen unheimlichen Eindruck und sah vor
sich nieder. Sie blieb schweigend sitzen und schien zu überlegen, was sie thun
wolle.
Wenn Sie klug wären, Andrew, fuhr sie dann mit sanfterer Stimme fort,
so rührten Sie keine Geschichten auf, die längst vergessen sind, und an die Ihr
Herr selbst, wie Sie sagen, nicht mehr denkt.
Nicht mehr denkt, Frau Gräfin? Ich hätte das gesagt?
Er beweist es durch die That, sagte sie. Er scheint ein stiller, vernünf¬
tiger Mensch zu sein, der den Ehrgeiz seiner Mutter nicht teilt.
Der alte Diener antwortete nicht.
Womit beschäftigt er sich denn? Was treibt er? fragte sie.
Er ist Maler.
Maler! Ah! Und weshalb ist er herübergekommen? Konnte er seine Bilder
nicht in Amerika verkaufen?
Der Schwarze zuckte, unwillig zu antworten, die Achseln.
Seien Sie nicht so verstockt, sagte die Gräfin. Sie scheinen sich einzu¬
bilden, ich wollte Sie ausforschen, ich nähme ein besondres Interesse an den
Schritten Ihres Herrn. Wenn ich ein Interesse an ihm nehme, so ist es freund¬
schaftlicher Art, denn ich kann nicht vergessen, wessen Sohn er ist, obwohl diese
Kenntnis für mich von zweifelhafter Annehmlichkeit ist. Ich konnte ihm viel¬
leicht förderlich in seinen Bestrebungen sein. Freilich, an Geld scheint es ihm
nicht zu mangeln, da er sich den Luxus gestattet, mit einem Diener zu reisen?
Ich habe keine Erlaubnis, irgend welche Mitteilungen über meines Herrn
Angelegenheiten zu machen.
Brav, mein alter Andrew, sagte die Gräfin freundlich, indem sie ihre Augen
suchend in dein kleinen Gemache umherschweifen ließ. Wenn ich Sie auch gerade
nicht liebenswürdig finde, so schätze ich doch die gute Eigenschaft der Diskretion.
Aber Sie irren sich über meine Absichten, mein Lieber. Wenn Sie wirklich ein
so warmes Gefühl der Anhänglichkeit an Ihren Herrn haben, thäten Sie klüger,
nicht so zugeknöpft zu sein. Ich will ihm wohl. Wie man mir sagte, war er
bei einem Rechtsanwalt in Berlin, um dort seiue Papiere zu deponiren. Das
läßt mich auf seine Absicht schließen, einen Prozeß anzufangen.
Sie irren sich, Frau Gräfin. Mein Herr ist nicht in Berlin gewesen.
Vielleicht wissen Sie es nicht. Mir ist bekannt, daß er Papiere zweifel¬
haften Wertes deponirt hat.
Papiere zweifelhaften Wertes? fragte der Schwarze unwillig. Sie wissen
so gut wie ich, Frau Gräfin, welchen Wert die Dokumente haben, auf welche
Sie zielen. Wenn mein Herr hier wäre und sie Ihnen zeigen wollte, so würden
Sie anders sprechen.
Wirklich? fragte sie. Ach, mein Lieber, Sie reden freilich, wie es einem
treuen, frommen Diener ansteht, der Sie immer waren. Aber ich bezweifle
doch, daß Ihre Kenntnis der Gesetze groß genug ist, um über diese Dokumente
ein vollgiltiges Urteil zu haben. Nicht wahr, sie liegen dort in der Kassette?
Sie zeigte bei diesen Worten auf den dunkeln, mit glänzendem Silber ein¬
gelegten Kasten, der seinen Platz auf der altertümlichen Kommode hatte und
auf dessen Beschlag sie ein ihr wohlbekanntes Wappen eingravirt entdeckte.
Der Schwarze machte eine unwillkürliche Bewegung, die der scharfen Be¬
obachtung der Gräfin nicht entging, aber faßte sich schnell wieder und sagte,
daß er es nicht wisse, und daß es ihn nichts angehe.
Die Gräfin erhob sich, ging auf die Kommode zu und betrachtete das er¬
innerungsvolle Erbstück. Indem sie überzeugt war, daß es jene Schriftstücke
verschlossen hielte, die für sie von der größten Wichtigkeit waren, zog es sie
mit magnetischer Gewalt an, und sie hätte gar zu gern Gewißheit gehabt.
Ach, Andrew, sagte sie mit einschmeichelnden, traurigem Tone, wenn Sie
wüßten, wie wenig Sie die wahre Natur meiner Gefühle gegen die unglückliche
Marie und ihren Sohn kennen! Dies beklagenswerte Mißtrauen, dem ich auf
dieser Seite immer begegnete, ist die eigentliche Schuld an der Entfremdung
zwischen Menschen, die sich nahe stehen sollten, Ihnen gegenüber mache ich gern
meinem Herzen Luft, denn ich weiß, daß Sie ein ehrlicher, wohlmeinender Mann
und der treueste Freund, wenn ich so sagen darf, jener bedauernswerten Dame
waren. Ich versichere Ihnen, Andrew, wenn es nur auf mich ankäme, so sollte
das herzlichste Einvernehmen zwischen mir und den Eschenburgs immer geherrscht
haben. Denn schließlich — was ist der Grund dieser Feindschaft? Nichts
als die Schuld eines Mannes, der lange schon nicht mehr unter den Lebenden
weilt und dem wir nichts mehr nachtragen dürfen. Ja ich gehe sogar soweit,
zu glauben, daß Ihre verstorbene Gebieterin, mein lieber Andrew, sich im Ernst
eingebildet hat, sie wäre mit dem Grafen Altenschwerdt verheiratet gewesen. Ist
es nicht so?
Der Schwarze hörte voll Argwohn diesen Worten zu. Gewiß, sagte er,
hat sich meine selige Lady das eingebildet. Aber sie hat es sich nicht nur ein¬
gebildet, sondern gewußt.
Die Gräfin zuckte die Achseln. Als ob ein so stolzer Mann, wie mein
Gemahl, jemals ein Bürgermädchen geheiratet haben würde! entgegnete sie.
Doch das verstehen Sie nicht, Andrew. Sie kennen die Verhältnisse der euro¬
päischen vornehmen Welt uicht. Es ist ganz unmöglich, sage ich Ihnen. Sie
meinten, wenn Ihr Herr hier wäre, würde er mir die Dokumente zeigen, auf
welche sich Mariens Glaube gründete. Da er nun nicht hier ist — wollen Sie
sie mir nicht zeigen? Gewiß ist ein so vertrauenswürdiger Mann wie Sie im
Besitz des Schlüssels zu dieser Schatulle.
Andrew schüttelte den Kopf. Ich bedaure, daß ich Ihre» Wünschen in
keiner Weise nachkommen kann, Frau Gräfin.
Es ist schade, sagte sie. Mit so leichter Mühe könnte diese MißHelligkeit
zwischen Ihrem Herrn und mir beigelegt werden. Und das würde nur zu seinem
Vorteile sein. Ich könnte ihn protegiren, mein lieber Andrew. Er ist ein un¬
bekannter, frcnndloser Manu in diesem Lande. Ich könnte ihn mit reichen und
vornehmen Leuten bekannt machen, die ihm seine Bilder abkauften.
Sie beobachtete sorgfältig die Miene des Schwarzen, ob nicht etwa doch
ein Eindruck ihrer Worte bei ihm zu entdecken sei, sie überlegte, ob es vielleicht
ratsam wäre, durch ein Anerbieten von Geld sich diesen Mann gefügig zu machen.
Aber sie konnte kein günstiges Zeichen in seinem Wesen wahrnehme,: und fürchtete,
durch den Versuch der Bestechung diesen erprobten langjährigen Diener völlig
argwöhnisch zu machen.
So entschloß sie sich denn, sich mit der Erfahrung zu begnügen, daß die
bedeutungsvollen Schriftstücke, welche sie zu sehen wünschte, sich in diesem Zimmer
und dieser Kassette befänden, und trat unter der Maske der Freundlichkeit
ihren Rückzug an.
Teilen Sie Ihrem Herrn mit, daß ich hier war, sagte sie, indem sie dem
Schwarzen ihre Hand herablassend entgegenreichte. Er wird sich vielleicht bewogen
finden, mich aufzusuchen. Ich wohne hier in der Nähe in der Heilanstalt zu
Fischbeck. Leben Sie Wohl, mein braver Alter! Ich gratulire Herrn Eschenburg
zu einem so vortrefflichen, zuverlässigen Diener.
Ihr Gesicht war ganz Güte und Leutseligkeit, als sie so sprach, aber der
Schwarze hatte die Empfindung, einer schönen Schlange gegenüberzustehen. Er
verneigte sich tief, aber er ergriff nicht die ihm gnädig gereichte Hand, auch ent¬
gegnen er nichts, sondern begleitete schweigend den vornehmen Besuch bis hinaus an
die Thür des Wirtshauses, von wo er der Dame mit sorgenvollem Blick nachsah,
so lange, bis die Biegung der Dorfgasse die schlanke Gestalt in dem eleganten
Anzüge aufnahm.
Gräfin Sibylle kehrte langsamen Schrittes und mit nachdenklich gesenktem
Kopfe zum Wagen zurück. Der Ausdruck von Freundlichkeit war völlig aus
ihrem Gesicht verschwunden.
Du hast eine lange Unterhaltung mit dem Pfarrer gehabt, sagte ihr Sohn
Dietrich, als sie zurückkam.
Sie sah ihn mit zerstreuter Miene an, ohne zu antworten, stieg ein und
ließ auf dem nächsten Wege zurückfahren. Sie war zu sehr mit ihren eignen
Gedanken beschäftigt, um ihre Begleitung zu beobachten, sonst würde sie vielleicht
in dem Aussehen des jungen Mädchens Anzeichen entdeckt haben, welche ihr
einigen Verdacht hinsichtlich der Beziehungen desselben zu ihrem Sohne eingeflößt
hätten. Die jungen Leute hatten einen Spaziergang unternommen, um im
Schatten des Waldes der glühenden Luft der Landstraße zu entgehen. Trotzdem
waren Fräulein Glocks Wangen sehr erhitzt.
Aber Gräfin Sibylle achtete nicht darauf. Ohne ein Wort zu reden legte
sie den Heimweg zurück. Sie schien sehr ermüdet, und ihre Nerven schienen in
fieberhafter Spannung zu sein. Mehrere male flog ein Zittern durch ihre
Gestalt, wie Dietrich mit Besorgnis bemerkte. Er wagte jedoch keine Frage an
sie zu richten, indem er sich der Übeln Aufnahme erinnerte, die seine Bemühung
mit dem Kölnischen Wasser gefunden hatte. Gräfin Sibylle blickte mit düsterm
Auge in die Landschaft hinein, ohne zu sehen, was die Außenwelt ihr in
wechselnden Bildern vorführte. Sie sah nur die Gestalten der Erinnerung in
ihrer eignen Seele. Sie blickte viele Jahre zurück und sah Dinge, welche sich
mit dem Staube der Vergessenheit verhüllt zu haben schienen, in frischer,
blendender Neuheit wieder vor sich auftauchen, den Wandgemälden im alten
Pompeji gleich, die aus Schutt und Ahabs hervor das Leben des lustigen
Badeorts nach zweitausend Jahren dem Blicke der Neuern vorführen. Sie sah
im Geiste ebenfalls eine lustige Zeit vor sich, Jahre der Frivolität, die plötzlich
wie durch den Ausbruch eines Vulkans mit Asche überschüttet wurden. Sie sah
einen Mann vor sich, unvergleichlich um Grazie, unvergleichlich an Kühnheit, dessen
Lächeln über alles, was Menschen heilig zu sein pflegt, noch jetzt so lebendig und auf¬
reizend vor ihr auftauchte, daß sie die Lippen zusammenpreßte und die Stirne faltete,
wie damals vor fünfundzwanzig Jahren, als dies Lächeln sie in den Abgrund stieß.
Wohin waren jene Jahre, wohin jene Glut der Empfindungen, die dem
Leben Wert gab, wohin jene Liebe, jener Haß? Es wäre besser gewesen,
damals zu sterben, als einer thörichten Klugheit zu folgen und ein Dasein fort¬
zusetzen, dessen Blüte verwelkt war, und eine Bürde sich aufzuladen, die der
Mühe des Tragens kaum wert war. Was hatte die Vermählung mit dem
ungeliebten Manne ihr gebracht, als eine unendliche Reihe jener grauen Tage,
die der Mühe sie zu beginnen und zu enden nicht lohnen, und als eine Kette
von Verpflichtungen und Sorgen und Eitelkeiten, die sich unzerreißbar immer
fester und dichter schlang und die doch nur ein Spinngewebe blieb, so stark
und schwer sie auch trügerischerweise aussah? Waren für die Gräfin Sibylle
ihre Stellung im Leben, ihr Rang, ihr Vermögen und ihre Pläne, war ihr
Sohn selbst wirklich eine ernsthafte Sache, so ernsthaft, daß sie von neuem
einen Kampf darum anfangen sollte?
Gräfin Sibylle biß die Zähne zusammen, und Pläne der verschiedensten
Art zuckten durch ihr Gehirn.
Konnte sie den Versicherungen des alten Negers Glauben schenken, daß der
Sohn jener Frau, die sie von jeher für ihre schlimmste Feindin gehalten hatte,
sich ohne jede Absicht der Rache nach Deutschland begeben habe? Es war ganz
undenkbar. Es war garnicht anzunehmen, daß er auf Ansprüche verzichten sollte,
die ihm einen so stolzen Namen in Aussicht stellten. Es war unmöglich zu
glauben, daß er hierher gekommen sei, wenn er nicht die Absicht hatte, sein
vermeintliches Recht geltend zu machen. Wenn er dies aber wollte - welche
unübersehbare Reihe von Unannehmlichkeiten, von Gefahren, von Schrecknissen
der drohendsten Natur stiegen vor ihr auf!
War es nicht beunruhigend, daß der Schwarze so stumm war? Lag nicht
der Ruhe, mit welcher sich die Leute in dein kleinen Gasthofe, Herr und Diener,
anscheinend verhielten, eine böse Absicht zu Grunde? Jene Frau war tot. und
ihr Sohn hielt sich in Deutschland auf, hier, ganz in ihrer Nähe, ohne daß sie,
die Gräfin, irgend etwas davon erfahren hatte — glich das nicht einer im
stillen schleichenden Verfolgung? Sie hatte eine Miene der Friedfertigkeit und
Versöhnlichkeit gezeigt. Nicht in wahrer Herzeusmeinung, sondern um den alten
Diener sicher zu machen und ihn auszuforschen. Aber war es nicht vielleicht
das klügste, diese Miene beizubehalten und eine Politik zu verfolgen, die dieser
Miene entsprach? Konnte sie nicht am besten aller Sorge und Gefahr entgehen,
indem sie jenem jungen Manne, der ihre Ruhe bedrohte, freundschaftlich ent¬
gegenkam? Vielleicht suchte er nur solche Vorteile zu erringen, welche er er¬
reichen konnte, ohne daß er die Gräfin und ihren^Sohn im Besitz ihres Namens,
Titels und Vermögens anzugreifen brauchte.
Aber nein! Wenn sie an eine Äußerung ihres verstorbenen Gemahls zurück¬
dachte, die dieser vor unendlicher Zeit einmal im Zorne gethan hatte, die ihr
aber unvergeßlich geblieben war, so konnte sie sich einer solchen Hoffnung nicht
hingeben, Sie sah jenen Augenblick noch lebhaft vor sich, wo sie in einer Szene
ehelichen Zwistes ihm sein Verhältnis zu Marie Eschenburg vorgeworfen und
in Hinsicht auf diese und deren Sohn Ausdrücke gebraucht hatte, die bestimmt
waren, ihren Gemahl zu kränken und jene zu beschimpfen. Wenn es wirklich
jemanden giebt, hatte er in äußerster Aufregung geäußert, auf den die Namen
passen, die du gebrauchst, so ist es niemand anders als du selbst und deine
Brut! Jener aber gebührt dein Titel und und unser Vermögen! Mancher
Tag und manche Nacht war seit jener Minute verflossen, aber diese Worte und
der Blick des Grafen waren noch so hörbar und so sichtbar für sie, als seien
sie erst gestern auf sie gefallen. Sie hatte sie niemals verziehen, und sie
konnte nie mehr ohne Furcht an jene beiden denken, die sie immer gehaßt
hatte. Nimmermehr wollte sie die Hand zur Versöhnung bieten.
Sie blickte seitwärts nach ihrem Sohne hin, der besonders im Profil mit
dem schwach entwickelten Kinn und den üppigen Lippen soviel Ähnlichkeit mit
seinem Vater hatte, und sie sah wieder jenen Verstorbenen vor sich, den sie
wohl oft zu beherrschen geglaubt hatte in seiner weiche» Nachgiebigkeit, der
aber immer wieder in unberechenbarem Aufflammen einer neuen Idee ihr Joch
abgeschüttelt und sich gefürchtet gemacht hatte. Jener sonderbare Charakter mit
seiner Liebe zum Schönen, seiner feinen Klugheit, seiner maßlosen Leidenschaft¬
lichkeit und seinem Mangel an Beharrlichkeit schien ihr nur zu sehr auf den
Sohn vererbt zu sein. Sie preßte die Lippe» verächtlich zusammen, wenn sie
bedachte, was dieser Sohn ihr jetzt sein könnte, wenn er so wäre wie sie selber,
entschlossen, zuverlässig und thatkräftig. Aber so, wie er war, konnte sie nicht
daran denken, ihn zum Genossen ihrer Gedanken zu machen. Sie mußte allem
denken und allein handeln, und ihre Liebe zu ihrem Sohne mußte, obwohl er
jetzt ein Mann war, noch immer jene beschützende Liebe sein, die sie dem Kinde
gewidmet hatte. Sie mußte deu bevorstehenden Kampf für ihn und für sich
selbst aufnehme».
Aber wie? Was sollte sie thu»? Sollte sie warte», bis sie angegriffen
wurde? Für Gräfin Sibyllenü nervöses Temperament paßte das Warten nicht.
Sie wollte dein Angriff zuvorkommen. Sie wollte in der sichern Erwartung,
daß sie einer Anfechtung ihrer Stellung n»d ihres Besitzes entgegengehe, die
erste auf dem Kampfplatze sein.
Sie war ungeduldig, wieder nach Hause zu kommen, als ob sie dort Rat
finden würde, was zu thun sei. Der Wagen schien ihr gleich einer Schnecke
vorwärts zu kriechen, und sie rief dein Kutscher nach langer Stille so plötzlich
ein antreibendes Wort zu, daß sowohl Dietrich wie Fräulein Glock, die sich in
stiller Zufriedenheit einander heimlich ansahen, überrascht und erschrocken zu¬
sammenführen.
Nach der Ankunft in Fischbeck ging sie eilends auf ihr Zimmer, schloß sich
ein und warf sich, die Stirn mit den Händen bedeckend, ratlos und grübelnd
ans das Sopha.
Gräfin Sibylle würde noch unruhiger gewesen sein, wenn sie hätte sehen
können, was sich an diesem selben Nachmittage nur wenige Stunden von ihr
entfernt zwischen Dorothea und dem jungen Manne zutrug, den sie einen Usur¬
pator nannte.
Baron Sextus hatte, von dem prachtvollen Wetter veranlaßt, ebenfalls
eine Ausfahrt unternommen und stattete in Begleitung seiner Tochter dem Grafen
einen Besuch ab. Der Gedanke, dies zu thun, war von Dorothea ausgegangen,
welche der Meinung war, daß die Höflichkeit gebiete, die vielfachen Besuche des
Grafen während des Barons Krankheit sobald als möglich zu erwiedern. Sie
saß während der Fahrt mit sehr glücklichem Gesicht neben ihrem Vater, und ihr
Blick eilte dem schnellen Gespann voraus. Es war derselbe Weg, den sie mit
Eberhardt zu Pferde von der Behausung des Grafen heimwärts gemacht hatte,
und es gab eine gewisse Stelle auf diesem Wege, unter dem Laubdach gewisser
Bäume, an welcher in dem Augenblick, wo der leichte Wagen vvrüberrollte, ein
Erröten und ein Lächeln über das von dem breitrandigen Strohhut beschattete
Mädchengesicht huschten.
Es ist doch ein bische» wärmer, als ich dachte, sagte der Baron, indem er
die von Dorvtheens zierlichen Fingern gehäkelte Decke von seinem leidenden
Fuße zurückschob.
Am Strande wird es kühler werden, entgegnete sie. Ich merke schon die
frischere Luft.
Der Graf hatte vou seinem Hause aus das Kommen des Wagens bemerkt
und ging dem Besuche bis um die Gartenthür entgegen. Es konnte nicht vor
dem Hause selbst vorgefahren werden, und er bot dem Baron den Arm, um
ihn durch den Garten hinauszuführen. Dorothea schüttelte er die Hand, und
ein Blick vertrauten Einverständnisses, der an die letzte Unterredung zwischen
beiden erinnerte, ward zwischen ihnen ausgetauscht.
Es ist eine verwettcrte Geschichte mit dem Podagra, sagte Baron Sextus,
links auf den Arm seines Freundes, rechts auf seineu Rohrstock gestützt, indem
er bergan stieg. Aber ich denke, die Geschichte ist nun wohl so ziemlich wieder
vorbei. Ich kann gar nicht beschreiben, wie ich mich darnach sehne, wieder zu
Pferde zu sitzen.
Wenn es Ihnen hier nicht zu windig ist, sagte der Graf, vor dem Hause
anhaltend, so setzen wir uns hier draußen. Was meinen Sie, Herr Nachbar?
Dem Baron gefiel der Platz, und er meinte, der Wind sei nur erfrischend.
So setzten sie sich denn unter dem Vorbau mit den hölzernen Säulen nieder,
und der Graf ließ Sherry und Sodawasser zur Erquickung auftragen.
Das Meer war heute hell und klar und still. Es spiegelte die strahlende
Blüue des Himmels wieder, und seine flimmernden Wellen wurden anmutig
vom Westwind geschaukelt und spülten mit leisem Rauschen zum Strande hin.
Dorothea verfolgte mit träumerischem Sinnen den Gang der silberglänzenden
Häupter, die sich in unermüdlicher Reihenfolge aus der leicht bewegte» Fläche
erhoben und allmählich anschwellend heranzogen, um in der Nähe des Landes
vornüberzubrcchen und eine flache Schicht des flüssigen Elements über den Sand
hinauszuschicken. Doch war der Fluß ihrer Gedanken nicht so ruhig wie die
Meerflut, in deren Anblick sie sich versenkte. Ein geheimes Fieber brannte
innerlich in ihr und verlieh den Träumen, die ihre Sinne umgaukelten, einen
phantastischen Zug. Es war dem Gefühl des Glückes, das sie erfüllte, ein ge¬
heimes Bangen beigemischt, und sie suchte in den spielenden Wogen eine Be¬
ruhigung ihrer ungleichmäßig bewegten Seele. Und immer wieder hob sich
ihr Blick von der Brandung zu ihren Füßen nach dem Horizont empor und
schweifte nach der Seite hiu, wo ein Fischerdorf lag, das wichtig für sie ge¬
worden war.
Bedeutungslos, fast wie das Rauschen des Wassers, klang die Unterhaltung
der beiden Herren für ihr Ohr. Wie gewöhnlich, hatte sich deren Gespräch nach
der ersten Erörterung des Podagraanfalls auf die Kavallerie gewandt, und
Baron Sextus gab seinem Mißfallen an der modernen Art der Zäumung rück¬
haltlos Ausdruck.
Ich habe mich seit fünfzig Jahren gründlich mit dieser Sache beschäftigt,
sagte er, und ich bilde mir deshalb ein, sie zu verstehen. Aber in der jetzigen
Zeit hat man in den Regimentern natürlich wichtigeres zu thun, als darauf
sein Studium zu richten. Wenn die Herren jetzt eine Kandare so legen können,
daß sie nicht durchfällt, so glauben sie das Alpha und Omega der Kunst zu
haben. Damit hat ihr Wissen ein Ende. Aber ich behaupte, die meisten ver¬
stehen auch das nicht einmal. Welche Verwandtschaft und Übereinstimmung
zwischen der Form der Kandare und dem Maule des Pferdes oder nun gar
dem Temperament des Tieres bestehen muß, davon hat heutzutage kein Mensch
mehr eine Ahnung. Wenn der- Gaul störrig ist oder steigt oder durchgeht, so
denken sie, es sei die Schuld des Tieres. Und es ist doch jedesmal die Schuld
des Reiters. Die sängt aber mit der falschen Zäumung an, wozu dann natürlich
noch eine unsinnige Behandlung kommt. Wenn Mensch und Pferd sich nicht
vertragen können, so liegt die Schuld immer am Menschen, denn das Pferd
handelt, wie die Natur ihm vorschreibt, und die irrt sich nicht. Ich darf wohl
behaupten, daß ich Erfahrung im Reiten habe, und Eure Exzellenz wissen, daß
meine Pferde immer die Bewunderung derer erregen, die sie reiten. Aber es
giebt nur zu viele, die zufrieden sind, wenn sie dahin kommen, wohin sie wollen,
einerlei, ob sie ein Pferd oder einen Hammel unterm Leibe haben.
Baron Sextus war in seiner Beurteilung der Reitkunst der Neuzeit im
Vergleich zu früheren Zeiten nicht milder geworden durch die Schmerzen, die
er in seinem Fuße verspürt hatte, und verteidigte seine Meinung gegenüber den
Einwürfen des Generals, der heute wie immer zu einer nachsichtigen Anschauung
neigte, mit vielen Gründen. Beide Herren waren so vertieft in ihr Gespräch,
daß sie darüber nicht bemerkten, was Dorothea mit klopfendem Herzen schon
lange wahrgenommen hatte, daß nämlich ein Segel am Horizont aufgetaucht
war, welches unter günstigem Winde mit großer Schnelligkeit herankam.
Erst als dasselbe ganz in der Nähe war und die Männer im Boote Miene
machten, anzulegen, fiel es dem Grafen auf, und er zeigte es seinem Freunde.
Es befand sich eine kleine Bucht ganz in der Nähe der Besitzung des
Grafen, welche tief eingeschnitten gleich einem Hafen war, und wo auch ein
Boot auf dein Sande lag, das von den beiden jüngern Degenhards zum Fisch¬
fang benutzt ward. Hier herein bog das kleine Fahrzeug, zog sein Segel ein
und stieß auf den Strand. Ein Mann mit Hellem Strohhut sprang heraus
und kam, mit einer Mappe unter dem Arm, herangeschritten.
Ich glaube wahrhaftig, das ist unser Freund Eschenburg, sagte der Baron
vergnügt. Der will Eurer Exzellenz Aussicht konfisziren. Ein fleißiger junger
Herr!
Der Graf warf einen prüfenden Blick auf Dorothea, konnte aber ihr Gesicht
nicht sehen, da sie, scheinbar unbekümmert um den Ankömmling, mit der Spitze
ihres Sonnenschirms auf dem Boden zeichnete und nach unten sah, sodaß sie
von ihrem Hute gegen Beobachtung von dieser Seite aus gedeckt war.
Allerdings scheint es der Maler zu sein, sagte der Graf bedächtig.
Die großen sibirischen Hunde, welche zu Füßen des Grafen geschlafen hatten,
richteten ihre Köpfe auf und rannten mit tiefem Gebell dem jungen Manne ent¬
gegen, der jetzt den Hügel heraufkam und bald mit höflichem Gruß vor der
kleinen Gesellschaft stand. Es ward ihm ein Platz aus der Bank und ein Glas
angeboten, und die Unterhaltung bewegte sich mit scheinbarer Ungezwungenheit
weiter. Doch sah der Graf wohl, daß Dorothea und Eberhardt es geflissentlich
vermieden, einander anzusehen, und er wunderte sich über seinen Freund, den
Baron, der völlig arglos und nur erfreut über die Gegenwart eines Mannes
war, welcher seine Ansicht über die Zaumkunst bestätigen sollte.
Was wird aus diesem Zustande der Dinge werden? fragte er sich besorgt.
Ich hatte die Absicht, von dem Thurme aus mit Eurer Exzellenz gütiger
Erlaubnis eine Skizze des Blicks nach Nordwesten aufzunehmen, sagte Eberhardt
nach einer Weile. Aber ich sehe, daß das Meer zu hell ist. Es blendet.
Es wäre wohl für Ihre Absicht rätlicher, am Morgen den Thurm zu
besteigen, sagte der Graf mit einem besondern Blick, bei dem Eberhardt sich in
die Lippe biß. Deal dann würden Sie die Sonne im Rücken haben, während
sie Ihnen nachmittags auf dem linken Auge liegt.
Es ist wahr, entgegnete Eberhardt. Ich will es für heute aufgeben.
Wie lange sind Sie von Scholldorf unterwegs gewesen? fragte der
Baron.
Etwa zwei Stunden, wir hatten sehr guten Wind.
Der wird Ihnen aber auf dem Rückwege konträr sein.
Ich habe daran gedacht, und beabsichtige, zu Fuß zurückzukehren.
Eberhardt war einsilbig. Er dachte über den Blick des Grafen nach, und
es regten sich in ihm widerstreitende Gefühle. Handelte er recht, indem er sich
dem mächtigen, süßen Zuge seiner Empfindung überließ? Er hatte auf der Fahrt
hierher mit Entzücken an die Stunden gedacht, die er in der Gegenwart Doro-
theens verbringen würde, und hatte in der Erwartung dieses Glückes die Be¬
denken zum Schweigen gebracht, die sich ihm entgegenthürmten, wenn er an
seine Stellung in der Welt dachte. Zu Zeiten bäumte sich in ihm eine wilde
Entschlossenheit auf, die Ansprüche geltend zu machen, welche ihm zustanden,
dann aber wieder standen das Duldergesicht der Mutter und sein eignes Ver¬
sprechen vor ihm, und verschloß dem Ehrgeiz die Thür. In diesem Augenblicke
fühlte er seine Brust qualvoll bedrückt.
Was ist es, was mir die Ehre gebietet? fragte er sich, und welche Art
von Ehre ist es, der ich folgen soll? Ist es die Ehre, welche sich ans die Meinung
der Welt gründet, oder ist es die, welche die ewigen Grundsätze der Sittlichkeit
zum Fundamente hat? Und sind beide wirklich für mich in Zwiespalt miteinander?
Werde ich, wenn ich meinen wahren Namen und Titel offenbare und mich so
über den Wunsch meiner seligen Mutter und das eigne Versprechen hinwegsetze,
noch in meinem Innern dies Gefühl beständiger Zufriedenheit mit mir selbst
haben, welches die erste und einzige Bedingung des Glückes ist? Werde ich aber
nicht, wenn ich ihn verschweige, einen Verrat an ihr begehen, die mir höher
steht als alles andre?
Aber während er so in dem höchst peinlichen Zustande eines Mannes sich
befand, der von verschiednen starken Empfindungen bedrängt wird und sich keiner
einzigen ganz zu überlassen wagt, kam ein Zufall ihm zu Hilfe, den er in diesem
Augenblicke als ein günstiges Geschick freudig begrüßte. Der Schiffer, welcher
ihn hierher gebracht, hatte sich zur Wohnung des Haushofmeisters begeben und
dort ein gastfreundlich angebotenes Gläschen Genever getrunken. Er kam jetzt
in Begleitung des jüngsten Degenhard, des Freundes der blonden Millicent,
herangeschritten, und beide meinten, daß es ein vorzügliches Wetter und eine
günstige Gelegenheit sei, mit dem Schleppnetz zu fischen. Wenn es der Herr
Graf erlaubte, wollten sie mit beiden Booten hinausfahren. Und vielleicht, so
meinte Degenhard, würde es den Herrschaften Vergnügen machen, den Fang mit
anzusehen.
Der Baron wollte nicht mit. Sein Fuß erlaube ihm solche wacklige Par¬
tien nicht, sagte er. So blieb auch der Graf zurück, um deu Besuch nicht allein
zu lassen. Aber Dorothea, meinte der Baron, würde Vergnügen an der
Wasserfahrt finden und Herr Eschenburg würde sie vielleicht begleiten wollen.
In der That fanden beide Vergnügen daran, und fast ohne zu wissen, wie
ihnen geschah, gingen sie, ob dieser frohen Aussicht eines ungestörten Beisammen¬
seins ganz befangen, hinunter an den Strand.
Der junge Degenhard richtete die Art und Weise der Ausfahrt ein. Er
war mit dein Fischfang ebenso vertraut wie mit der Jagd. Gemeinsam mit
seinem Vater trug er das Netz herbei und schob mit Hilfe des Schiffers, den
Eberhard: mitgebracht hatte, des Grafen Boot ins Wasser. Dann half Eber¬
hard! seiner Dame in das Schiffchen, worin er gekommen war, und behielt dessen
Besitzer bei sich, die Degenhards aber besetzten das andre Fahrzeug, und neben
einander ruderten sie hinaus.
Sie sind ein geschickter Mann, mein liebenswürdiger Freund, wenn dies
Arrangement dnrch Ihre Klugheit zustande gekommen ist, sagte Dorothea in
englischer Sprache mit einem Lächeln, worin Eberhard: ebensowohl einen scherzend
gemeinten Vorwurf, als die glücklichste Zufriedenheit lesen konnte.
O, meine angebetete Dorothea, erwiederte er, ich verehre ohne irgend welchen
Stolz auf meine Voraussicht nur die gütige Hand eines schützenden Genius in
dieser entzückenden Gelegenheit, Ihnen allein nahe zu sein.
Wirklich? sagte sie nachdenklich, den Blick auf das hübsche, braune Gesicht
des jungen Degenhard richtend. Dann wäre es nicht unmöglich — aber ich
weiß nicht, ob ich mich darüber freuen darf —, daß meine gute Millicent in¬
direkt die gütige Hand lenkt, die Sie verehren.
Der junge Degenhard bemerkte wohl den Blick, der forschend auf ihm
ruhte, aber er saß ungemein ehrbar da und schien sich allein um das Netz zu
bekümmern, das nun von den Männern zwischen beiden Booten ausgebreitet
ward und, von bleiernen Gewichten nach unter gezogen, durch die Fluten hin¬
schleppte. Man war aus der Bucht heraus in die offene See gekommen, die
Ruder waren eingezogen und die Segel entfaltet, mit halbem Winde zogen
die Schiffe nordwärts, und nur das leise Plätschern am Kiel unterbrach die
leuchtende, glitzernde Stille. Eberhardt hatte das Tau des Segels und das
Steuerruder seines Fahrzeuges in Händen, während der Schiffer mit dem Netze
beschäftigt war, und er blickte mit ruhiger Wonne auf die geliebte Gestalt ihm
gegenüber.
Ich bin sehr geneigt, alles zu verehren, was uns beschützt, sagte er, und
keinen Genius zu verschmähen, der meiner Sehnsucht zu Hilfe kommt. Sie
haben wohl keine Ahnung davon, meine stolze Freundin, mit welcher Anziehungs¬
kraft Sie ausgestattet sind und mit welcher Dankbarkeit ich jede Minute be¬
trachte, die mir den Anblick Ihres geliebten Antlitzes und den süßen Ton Ihrer
Stimme gewährt. In meiner einsamen Behausung und auf meinen Wanderungen
an dieser mir nun so interessanten Küste verfolge ich immer nur dies teure
Bild, das mir jetzt gegenwärtig ist, Sie glauben nicht, wie welcher Beharr¬
lichkeit ich Ihnen in Gedanken nachgehe. Das selige Entzücken, das ich an
jenem Morgen empfinden durfte, wo mir zuerst diese Augen ihr Geheimnis
verrieten und diese Lippen es bestätigten, brennt in meinem Herzen unauslösch¬
lich »ach. Ich folge von weitem jedem Ihrer Schritte und begleite Sie bei
allen Ihren Beschäftigungen im Laufe der langen Stunden, wo ich von Ihnen
getrennt bin. Ich denke mit inniger Teilnahme an die Beweise Ihres Herzens
von unerschöpflicher Güte. Jetzt, denke ich, ist meine Dorothea von der Sorge
für die armen Leute erfüllt, deren traurige Lage sie verbessern will, und ich be¬
neide jeden von diesen Tagelöhnern und jedes dieser von Arbeit gebückten Weiber,
denen Ihre Gedanken sich zuwenden, jetzt, hoffe ich, ist sie wohl auf dem Balkon
und blickt — verzeihen Sie meiner Kühnheit — in der Richtung aus, von der
ich kommen könnte. Und oft denke ich mit Zittern und Traurigkeit daran, daß
ich vergessen sein könnte, und daß ein Herz, an welches so viele Ansprüche er¬
hoben werden, würdigere Ziele als meine Erinnerung wählen könnte.
(Fortsetzung folgt.)
Dieses Buch giebt sich als erster Band von Erzählungen aus alten deutschen
Städten, der Zweck desselben ist also mehr ein didaktischer als ein poetischer, und
wenn auch der Verfasser in der Vorrede den Satz aufstellt, die Poesie dürfe nicht
vergessen, daß sie sich im geschwisterlichen Bunde mit der Geschichte Selbstzweck
bleibe, so lassen sich doch zwei Zwecke nebeneinander schwer erreichen, ohne daß der
eine den andern überwiegt oder beide sich gegenseitig beeinträchtigen. In der
Regel muß man denn auch viel Belehrung mit in den Kauf nehmen, die mit dem
dichterischen Zwecke nicht in unmittelbarer Verbindung steht; und andrerseits fällt
die geschichtliche Belehrung, soweit sie nicht unmittelbar und geradezu gegeben wird,
unter der Einwirkung der Dichtung leicht etwas unklar und schielend aus. Doch
wozu den vergeblichen Kampf gegen die Mißbildung der „archäologischen Erzählung"
(so nennt der Verfasser selbst seine Schöpfung) mit den alten Gründen immer und
immer wieder aufnehmen? Gegen Einwendungen dieser Art ist der Verfasser ge¬
feit, denn er spricht sich in den ersten Sätzen seiner Vorrede sehr schneidig gegen
die Tadler im allgemeine» aus; wenn er trotzdem „auf die billige Nachsicht einer
verständigen Kritik" hofft, so meint er damit wohl eben eine, die ihm seine Vor¬
aussetzungen über die Berechtigung der ganzen Gattung zugiebt.
Und von diesem Standpunkte aus kann man gern anerkennen, daß die Helden¬
gestalt des Nothenbnrgcr Bürgermeisters Heinrich Topplcr, sein heldenmütiges
Ringen um die Selbständigkeit der Stadt im Kampfe wider die äußern Gegner
und gegen die geheimen Feinde im Innern recht anschaulich zur Darstellung ge¬
bracht ist; auch der hervorragendste von diesen Feinden, der Geisterbanner Rabeno
Hakaton, ist eine in den Verhältnissen der Zeit wurzelnde und nicht ohne Geschick
gezeichnete Figur. Einiges Bedenken flößt jedoch schon in historischer Beziehung
die Gestalt der Leila ein, eines Judemniidchens, das, dnrch Baude der Dankbarkeit
an das Topplcrsche Haus gefesselt, eine eigentümliche Zwitterstellung zwischen
Judentum und Christentum einnimmt; und noch größer wird das Bedenken, wenn
wir Leila mit Hakaton und ihren Verwandten über die Stellung der Juden, die
Judenverfolgungen und ihre Anlässe des breitern sich aussprechen hören. Eine ge¬
wisse Billigkeit in Abwägung der Schuld auf beiden Seiten läßt sich dem Ver¬
fasser nicht absprechen; dem Charakter jener Zeit aber steht die Vorführung der¬
selben Argumente, die gegenwärtig im Kampfe der Parteien vorgebracht zu werden
pflegen, nicht recht zu Gesichte. In den andern Partien der Erzählung ist die ge¬
schichtliche Wahrscheinlichkeit besser berücksichtigt und dadurch der Zweck des Buches,
geschichtliche Belehrung auf dem Wege dichterische« Gewisses zu vermitteln, in
einer im ganzen löblichen Weise erreicht.
Mciriam Tenger ist eine Ungarin voll starken österreichischen Patriotismus, dem
sie in den Widmuugsworten an Dr. Constantin von Wurzbach-Tennenberg, den be¬
kannten Historiographen und Biographen, einen kurzen, aber kräftigen Ausdruck giebt.
Umso wohlthuender berührt in ihrem Roman die Unbefangenheit und das Wohl¬
wollen, mit dem sie deutsche und insonderheit preußische Art und Eigenheit zu
schildern weiß, der sie neben und gegenüber dem Österreichertum volle Gerechtigkeit
widerfahren läßt, ohne doch bei der Schilderung des letztern in den Fehler so
vieler ihrer Landsleute, den eines schwächlichen Pessimismus, zu verfallen. Nicht
als ob Fragen der Politik in dem Roman die erste Rolle spielten; die Charaktere
und Schicksale der dargestellten Personen fesseln in erster Linie unsre Teilnahme;
aber wir merken doch überall, daß der Roman in den letzten zwei Jahrzehnten
spielt: die großen Politischen Ereignisse und Bewegungen der Zeit werfen ihren
Schatten in die Handlung des Romans hinein und wirken bestimmend auf die
Schicksale der Personen und namentlich des Helden ein. Das Buch wurzelt ganz
in der Gegenwart und erweckt schon um deswillen Teilnahme; diese verdient es
aber auch darum, weil Mariam Tenger eine mit Phantasie und Ursprünglichkeit
begabte Erzählerin ist, die uns in diesem Romane eine über das Maß des Ge¬
wöhnlichen hervorragende Schöpfung bietet.
Vor allem versteht die Dichterin die Kunst der spannenden Erzählung gut —
mitunter vielleicht zu gut; der Anspielungen auf späteres, der Stellen, die ihre
volle Erklärung erst im folgenden finden, sind so viele, daß eine gewisse Gcdächtms-
anstrengung dazu gehört, dem allen gerecht zu werden. Wenn am Ende der ersten
Abteilung die Mehrzahl der auftretenden Personen bei einem gewaltigen Sturme
auf einem See verunglückt und diese sämtlich in der nächsten Abteilung unter ver¬
ändertem Namen auftreten, ohne daß uns die Erzählerin etwas darüber verrät,
wer und ob überhaupt jemand gerettet worden ist, so läuft durch dieses allzu drastische
Mittel die Geschichte doch Gefahr, unverständlich oder lächerlich zu werden. Sehr
reichlich wird das Kunstmittel angewandt, die Erzählung in dem Augenblicke der
größten Spaltung abzubrechen und die Lösung des Knotens erst im spätern Ver¬
laufe zu geben. Aber die Führung der Fäden, ihre Verwicklung und Entwicklung
ist doch eine so geschickte, daß man der Verfasserin immer wieder gern folgt, um-
somehr', da ihr eine große Gabe anmutiger Darstellung eigen ist. Und zwar stehen
in dieser Beziehung die Abschnitte, die am schönen G.- (doch wohl Gmnndcncr)
See spielen, und die, welche uns nach der deutschen Hauptstadt führen, sowohl in
Bezug auf die Schilderung des Hintergrundes als der handelnden Personen voll¬
kommen auf gleicher Höhe; alle Personen siud mit gleicher Liebe, gleichem Ver¬
ständnis und gleicher Lebendigkeit geschildert.") Vor vilen gelingt der Verfasserin
die Darstellung neckischer Weiblichkeit und munterer Liebenswürdigkeit; aber auch
eine Gestalt wie der Geheimrat Burgau, der Typus des höhern preußischen Beamten¬
tums in gutem Sinne, ist mit großer Naturwahrheit und sichtlicher Liebe gezeichnet.
Die romanhafteren unter den handelnden Persönlichkeiten sind kluger Weise
in einer etwas matteren Beleuchtung gehalten: so der Titelheld selbst, ein polnischer
Fürstensohn, der, durch wunderbare Schicksalsverkettung in niedere Lebensstellung
geworfen, sich in dieser festhalten läßt und auch unter diesen Verhältnissen ein reiches
inneres und äußeres Leben entfaltet. Auch der Betrüger, der durch List die Rolle
dieses Polcnfürsten zu spielen weiß und in ihr schmählich zu Grunde geht, erscheint
stets nur im Hintergründe der Erzählung. Doch auch diese Gestalten sind keine
Schemen, sondern haben Fleisch und Blut.
So ist denn das ganze Buch eine schätzenswerte Bereicherung unsrer erzählenden
Literatur. Eine größere Ruhe und Objektivität der Darstellung wird sich die Ver¬
fasserin freilich noch aneignen müssen, der Schluß des zweiten Kapitels der zweiten
Abteilung lautet beispielsweise folgendermaßen: „Das scheint denn auch der Fall
gewesen zu sein, denn eine Viertelstunde später eilte das kleine Fräulein »ach Hause.
Mutmaßlich notirte es in seinen Kalender den 12. Dezember 1876 als einen sehr
ereignisvollen Tag. Wir müssen, ehe wir berichten, was nach diesem Tage geschah,
einige Rückblicke ans Personen und Erlebnisse thun, die wichtiger als er und das
kleine niedliche Fräulein sind." Die erste Abteilung schließt so: „Unvergessen werden
wir die Kunde davon wiederfinden, sobald wir Anlaß haben, ihr nachzuforschen."
Das sind Verstöße gegen die Gesetze der epischen Darstellung, deren sich eine gute
Erzählung nicht schuldig machen darf; solche Einmischung der Persönlichkeit des Er¬
zählers Paßt höchstens in den komischen Roman, aber nicht in die ernsthafte Er¬
zählung, zu welcher gerechnet zu werden das vorliegende Buch sonst allen An¬
spruch hat.
Seiner Gattung nach steht dieses Buch eigentlich auf der Greuze der Novelle
und des Romans; dem ursprünglichen Novellenstoffe ist eine begleitende Handlung
beigegeben, die durch ihre Bedeutung mehr und mehr in den Vordergrund tritt
und mit ihrer ein ganzes Menschenleben umfassenden Grundlage nicht mehr Novelle,
sondern Roman ist.
Die Novelle erzählt von einem Arzte Dr. Berche, den seine große Vorliebe
für das Theater mit der ersten Liebhaberin der Bühne seines kleinen Städtchens
in nahe Berührung und schließlich in eine Art Liebesverhältnis bringt, das ihn
seiner Gattin entfremdet und diese in ihrer Verlassenheit in die Gefahr stürzt, ihr
verschmähtes Herz einem Jugendfreunde ihres Mannes, dein or, Rosner, zu schenken.
Doch löst sich der Zwiespalt dadurch, daß Berche die sittliche Unmürdigkeit der
Schauspielerin und seiner Stellung zu ihr erkennt, reuig zu seiner Gattin zurück¬
kehrt und mit ihr im fernen Amerika ein neues Leben beginnt, ein Nachspiel, das
mehr durch die Zeit, in welche die Handlung verlegt ist, nämlich das Ende der
vierziger Jahre, als durch die Sache selbst begründet erscheint; Dr. Rosner aber,
ein aristokratischer Vertreter demokratischer und sozialistischer Grundsätze, findet bei
einem durch rohe Bedrückung hervorgerufenen Aufstande der Arbeiter, dem er ent¬
gegentreten will, seinen Tod, Die andre Handlung hat den Maler Schönaich zum
Mittelpunkte. Diesen, der durch unglückliche Verkettung von Schuld und Ver¬
hängnis in früher Jugend sich an eine altere Frau, die ihn nicht versteht, ja alle
Kunst für Teufelswerk hält, gefesselt worden ist, sucht die Freundin der Gattin
Berchts, Ellen, aus dem Elend seines Tagelöhnerberufes herauszureißen, um ihn
für die Kunst und vor allem für sich zu gewinnen. Den dadurch hervorgerufenen
Kämpfen ist aber die geistig und körperlich geschwächte Natur des Malers nicht
gewachsen, und ein wohlthätiger Tod enthebt ihn der Notwendigkeit, dem Drängen
Elters folgend, das Band mit seiner Familie zu zerreißen.
Diese beiden Handlungen, in die noch einige andre Gestalten eingreifen, sind
so verschmolzen, daß doch die zweite das Übergewicht erlangt. Der Verfasser legt
ihr auch den tiefern Wert bei; das ergiebt sich aus seiner Widmung an Karl
Reinecke, den Leipziger Kapellmeister. Er sagt darin freilich wohl nicht ohne einige
Übertreibung: „Dem Schicksal des armen Schönaich wirst du hoffentlich deine Teil¬
nahme nicht versagen. Er ist nicht gestorben, er stirbt überhaupt uicht; wer ein
Auge h ^t, ihn zu erkennen, sieht ihn jeden Tag bald in dieser, bald in jener Ge¬
stalt durch die Straßen schleichen." Sollte freilich die Zahl der verkümmerten
Genies wirklich so groß sein? Dann würde wenigstens die Menschheit die mangelnde
Entfaltung derselben kaum zu beklagen haben; höchstens würde man manches durch
künstliche Mittel gezüchtete Talent gern durch ein echtes, gottbegnadetes ersetzt sehen.
Woher aber der Name Marionetten? Er erklärt sich auf folgende Weise,
or. Berche erinnert ein wenig, aber nicht zu seinem Schaden, an Wilhelm Meister.
Er liebt nicht nur die wirkliche Bühne, sondern anch das Marionettentheater und
benutzt eine Gelegenheit, ein solches zu erwerben; und mit diesem führt er nun
vor der Gesellschaft des Romans einige Puppenspiele auf, die ihm sein Freund
Gerardus schreibt, der seinerseits die Stoffe dazu sich von der sagen- und märchen¬
kundigen Felicitas erzählen läßt. Da ist ein Fragment eines Faust, das Märchen
von den drei Spinnerinnen, das Märchen vom heiligen Andreas, das Märchen
vom Schneider im Himmel, das Märchen vom Schneewittchen, das Märchen von
der Jungfrau Maleen und endlich das Märchen vom Gevatter Tod. Das eine
davon ist, wie die obenerwähnte Widmung besagt, bereits früher von Karl Reinecke
in Musik gesetzt erschienen und in weitern Kreisen bekannt geworden; auch die
andern haben einen eignen Reiz der Sprache; sie reden sehr glücklich in dem Tone
Hans Sächsischer und Goethischer Einfachheit und Unbefangenheit. So tritt z. B. in
dem Märchen vom Schneider im Himmel der Herr selbst auf:
Nun aber bin ich müd' und matt
Und hab' heut des Regierens satt;
Ich will ein bissel mich vertreten,
Lustwandeln zwischen den Gartenbeeten--
''
Du, Petrus, Acht hab auf die Thor,
Die güldnen Riegel schiebe vor.
Wer kommt, der soll da draußen warten,
Bis ich zurück bin aus dem Garten,
Und thu' er dös, und thu' er fromm,
Er wart', bis daß ich wieder komm'.
Die Theaterliebhnberei Berchts, die eingefügten Puppenspiele, die eingestreuten
zahlreichen und teilweise ausführlichen Gespräche über Theater und dramatische
Literatur weisen ebenso wie die ganze äußere Gruppirung des Stoffes und die
Darstellungsweise sehr deutlich auf das Goethische Muster hin; einzelne Absätze
(eine Kapiteleinteilung fehlt dem Buche) schließen mit ganz auffälligen Anklange
an Goethische Art,
Wie Wilhelm Meister, so wirft sich anch Berche zum Leiter der Schauspiel¬
truppe auf und studirt den widerwilligen, in platter Routine befangenen die
Goethische Iphigenie, wie jeuer den Hamlet, ein. Die Bemerkungen, die Rvcber
bei dieser Gelegenheit den Schauspielern in den Mund legt, sind mit beißendem
Spotte über diese Routine getränkt. Der erste Held sagt: „Er, der vom Theater
nichts versteht, wirft sich zu unserm Herrn und Meister auf, und weil er keine
Gage in Anspruch nimmt, sogar seine Praxis als Theaterarzt umsonst ausübt, ist
es unserm Direktor gerade recht. Wir aber haben Anspruch ans Entschädigung,
Den Statisten mag er zeigen, was sie zu thun haben, aber Ihnen, Karoline, die
Sie gleich groß sind im Tragischen wie im Komischen, Vorlesungen zu halten über
die Auffassung einer Rolle, und mir gar so von oben herab zu sagen, ich müsse
erst noch lernen, wie man Verse spreche, das geht über die Pnppelbänmc, Ich mag
nicht daran denken, was er mir alles zum Verschlucken hat vorgesetzt; die Vokale und
Konsonanten lägen mir im Munde wie ein Haufen geraspeltes Holz. Da mußte
ich viertelstundenlang Pater und Bader buchstabiren, Kunststücke machen mit dem
Gaumen, den Lippen und deu Zähnen, daß es mir grün und blau vor den Angen wurde.
Ich risse die herrlichsten Stellen in Fetzen, sagte er mir, weil ich nicht einmal richtig
Atem zu holen wüßte, und so ließ er mich herhalten, als wäre ich ein Opernsänger,
Der alte Zelter hätte sich darauf verstanden und der hätte einmal gesagt, daß jeder
gute Bereiter seinem Pferde zuerst einen stehenden Atem beibringe, — Wer war
Zelter? fragte Karoline. Ohne Zweifel ein Pferdehändler, antwortete Farnese.
Was? mich mit einem Gaul zu vergleichen, der ich durch die Eleganz meiner Er¬
scheinung die ganze Damenwelt zur Bewunderung hinriß."
Auch die Unterhaltungen Berchts und seiner Freunde bieten eine Fülle feiner
und treffender Bemerkungen, obwohl sie dem gewählten Zeitraum des Romans
entsprechend nur auf frühere Erscheinungen eingehen und vorwiegend an Tieck und
Immermann anknüpfen. Ja fast will es scheinen, als stamme das ganze Buch
in seinen Grundzügen wirklich aus einer der geschilderten nicht zu fern liegenden
Zeit, sodaß wir in ihm ein Erstlingswerk eines bereits gereiften Mannes vor uns
hätten, Inhalt und Darstellungsweise wenigstens würden dieser Annahme nicht
widersprechen, und es wäre nur mit Freuden zu begrüßen, wenn solche Enthalt¬
samkeit in weitern Kreisen zum Muster genommen würde. Wir würden dann ans
belletristischen Gebiete weniger Bücher haben, aber mehr wertvolle.
evanche heißt das Wort, welches seit zwölf Jahren von jenseits
der Vogesen in das deutsche Reich herüberschallt, bald lauter und
drohender, bald versteckter und dann desto ingrimmiger, Revanche
bildet den tiefinnerster Beweggrund für das Verhalten wohl
sämtlicher Politiker und Militärs in der benachbarten westlichen
Republik, mag er nun in Maßnahmen der Regierung oder heißspornigen
Reden zu Tage treten, oder verschämt hinter der Hülle konzilianter Form und
gemachter Anspruchslosigkeit hervorlugen.
Selbstverständlich mußte es, dem Geiste des unruhigen, großsprecherischer
Volkes entsprechend, die vornehmste Sorge der republikanischen Regierung Frank¬
reichs sein, das aus Gefangenschaft und sonstiger Jnternirung zurückkehrende
Heer neu zu organisiren. Mit Feuereifer hat man dieses Unternehmen in An¬
griff genommen und bis in die neueste Zeit unablässig daran gearbeitet. Merk¬
würdigerweise sind dabei fast sämtliche Heereseinrichtungen des verhaßten bar¬
barischen Gegners in getreuer Nachbildung zu Grunde gelegt worden, ohne daß
doch anscheinend überall mit denselben Mitteln gleiche oder auch nur ähnliche
Erfolge erzielt worden wären. Wenigstens scheint das Institut der Einjährig-
Freiwilligen gänzlich Schiffbruch gelitten zu haben, auch die Entsendung eines
schwachen Expeditionskorps nach Tunesien im verflossenen Jahre hat zahlreiche
innere Schäden aufgedeckt, und die Herbstmanöver sollen nach den Berichten
auswärtiger, namentlich englischer Zeitungskorrespondenten noch keineswegs als
Bild und Vorschule des Krieges gelten können, vielmehr manchen Einblick in
alten Schlendrian und staunenswerte Unkenntnis und Unfähigkeit gestatten.
Doch sei dem, wie ihm wolle. Thatsächlich muß selbst der wohlmeinendste Freund,
womit wir keineswegs den Verdacht erwecken wollen, als ob wir uns zu dieser
Zahl rechneten, zugeben, daß das Werk der französischen Heeresorganisation
weder nach festen, unverrückter Grundsätzen, noch mit derjenigen Kontinuität der
Anschauungen gefördert worden ist, ohne welche ein Gelingen unmöglich erscheint.
Die Republik hat seit ihrer Aufrichtung mehr Kriegsminister verbraucht als das
preußische Heer in der zehnfachen Zeit, und jeder von ihnen hat sich immer
mehr oder weniger mit der Richtung seines Vorgängers im Widerspruche be¬
funden.
Es ist wohl überflüssig, die Reihe der aus dem Dunkel hervorgezogenen
und nach kurzer Zeit wieder der Vergessenheit zurückgegebenen Männer, welche
sich willig finden ließen, das ehrenvolle Amt eines französischen Kriegsministers
zu verwalten, hier mit Namen aufzuführen. Wir wollen auch durchaus nicht
sagen, daß die Republik mit der Wahl dieser hohen Würdenträger sich fort¬
während in der Lage des Steines befunden hätte, welcher bergab rollt, wenn
wir unumwunden unsrer Ansicht Ausdruck geben, daß Staat und Armee bei
der Ernennung des Generals Thibaudin den denkbar niedrigsten Standpunkt in
dieser Beziehung erreicht haben.
Die Gelegenheit und die politische Konstellation, welcher der genannte Herr
die Erhebung zu einem Posten verdankt, der noch in weit höherm Maße, als
dies beispielsweise im deutschen Heere der Fall ist, die gesamte Armeeleitung ir
einer Hand vereinigt, ist bekannt. Aber es ist wohl nicht überflüssig, Beweise
für die Richtigkeit der oben ausgesprochenen Anschauung beizubringen, und wir
verweisen deshalb zunächst auf zwei öffentliche Aktenstücke.
Der in Mainz erschienene „Süddeutsche Polizei-Telegraph" hat am 14. De¬
zember 1870 folgenden vom königlichen Gouvernement daselbst erlassenen und
gezeichneten Steckbrief veröffentlicht: „Der französische Kriegsgefangene Colonel
Thibaudin vom 67. Linienregiment, geboren zu Moulins en Gilbert, hat sich
unter Bruch seines Ehrenworts von hier heimlich entfernt. Alle Zivil- und
Militärbehörden werden hierdurch ersucht, auf den Thibaudin zu vigiliren und
ihn im Betretungsfalle dem Gouvernement zuführen zu lassen." (Folgt das
Signalement.)
Wenige Tage darauf brachte das „Militär-Wochenblatt" in Nummer 139
eine Bekanntmachung des Inhalts: „In Verfolg der Bekanntmachung im Mi¬
litär-Wochenblatt Ur. 184 werden diejenigen kriegsgefangenen Offiziere nam¬
haft gemacht, welche unter Bruch des Ehrenworts, keinen Fluchtversuch machen
zu wollen, desertirt sind: 24. Colonel Thibaudin, Kommandeur des 67. Linien-
Regiments."
Dieser Bruch des Ehrenwortes steht freilich durchaus nicht vereinzelt da. Eine
Verfügung der Regierung der nationalen Verteidigung versprach allen fran¬
zösischen Offizieren ohne Ausnahme, also auch den auf Ehrenwort verpflichteten,
welche aus deutscher Gefangenschaft entweichen würden, eine Geldbelohnung von
750 Franks und setzte damit geradezu eine Prämie und noch dazu eine recht
niedrige auf den Wortbruch. Die überwiegende Mehrzahl der gefangenen Offi¬
ziere ist nun zwar ihrem Worte treu geblieben, ein nicht geringer Prozentsatz
aber hat sich dem korrumpirenden Versprechen zugänglich erwiesen, und nach Buschs
bekanntem Buche „Graf Bismarck und seine Leute" sind im Moniteur von
Versailles Anfang Februar 1871 außer den Namen der drei bekannten Generale
142 Namen von wortbrüchigen Offizieren veröffentlicht worden, unter denen sich
Oberst Thibaudin, zwei Oberstleutnants, drei Bataillonschefs und dreißig Ka¬
pitäne befanden.
Oberst Thibaudin fügte zur Verschleierung der Thatsache seinem Namen
denjenigen seiner Mutter, Comagny, hinzu, und wir begegnen ihm unter diesem
Doppelnamen als Führer einer Division und später als kommandirenden Offizier
des 24. Armeekorps, mit welchem er auch auf den Boden der Schweiz übertrat.
Die Untersuchungskommission über alle aus deutscher Gefangenschaft entwichenen
Offiziere, in deren Schoße manche Menschlichkeiten vorgekommen sein mögen,
soll dem (ZMlois zufolge die Frage: I^s volonel ?b.idMäin s'est, it Ms as.ii8 1s
<zg,s ä'ßtrs rötorwö xg,r taut« vordre, l'Koimsur? allerdings verneint haben, aber
nicht weil die Thatsache des Wortbruches bestritten werden konnte, sondern weil
man den thatkräftigen und befähigten Offizier trotz dieses schweren Vergehens
-och für würdig hielt, dem Vaterlande an hervorragender Stelle weiter zu dienen.
Diese Entscheidung scheint indeß in den Reihen der Armee Befremden und Ent¬
rüstung hervorgerufen zu haben, wenigstens hat nach den Notizen französischer
Blätter der neue Kommandeur des 32. Linienregiments nur unter großen Schwierig¬
keiten sich seine Stellung innerhalb des Offizierkorps erkämpfen können, und drei
Jahre lang ist er trotz hervorragender kriegerischer Befähigung von der Beförderung
zum General zurückgestellt worden, hat erst 1877 das Kommando einer Brigade
erhalten und ist 1882 zum Divisionsgeneral aufgerückt.
Die Regierung bedürfte neuerdings zur Durchführung ihrer Absichten einen
Mann mit eiserner Stirn, und General Thibaudin, welcher 1370 in dieser
schätzenswerten Eigenschaft einiges geleistet zu haben scheint, verfügte denn auch
sofort nach Übernahme des Ministerportefeuilles das, was andre Generale sich
geweigert hatten zu thun, die Entfernung der Prinzen von Orleans aus ihren
Dienstleistungen „zur Aufrechterhaltung der Disziplin."
Nie ist dieses Wort in gröberer Weise gemißbraucht worden als durch
den wortbrüchigen Offizier, da schon allein die Thatsache, daß er die höchste
Stellung in der französischen Armee einnimmt, die schwerste Schädigung von
Disziplin, Unterordnung und dem bisherigen Gefühl unantastbarer Ehre in sich
schließt. Zwar hat der Minister Thibaudin in gewundener Erklärung, deren
mangelhafte Beweisgründe durch die Übertragung in die deutsche Sprache noch
abgeschwächt und verflacht werden, den Bruch des Ehrenwortes zu bestreiten
versucht; doch wird er wohl dem unterschriebenen Revers gegenüber verstummen,
welcher im Original unzweifelhaft noch erhalten ist und der „Post" zufolge den
Wortlaut hat: ^'snMAs og. x^roth Ä'lioiinsur, Ah us k»irs s,nouv sssg-i as
tuits, ä'suvo^ör se Ah rsosvoir ass oorrssxonÄMvss uni^usmsnt psr l's.utorits'
militg-irs, se Ah ri'sdussi su Mvuns mMsrs Ah 1s, xsrimssion, ^u'on in'g.
Avril^s, Ah eiroulsr librsinent. Aauh Iss krontisrss an'ein in'iinxssörÄ.
General Thibaudin hat in der kurzen Zeit seiner Ministerherrlichkeit bereits
mehrfach Gelegenheit gefunden, höhere Offiziere mit strengen Arreststrafen zu
belegen, und mochte das Vergehen nun darin bestehen, daß hochverräterischer
Weise ein für den Begräbnistag Gambettas angesetzter Ball nicht abgesagt
worden war, oder in ähnlichen mit der innern Verwaltung der Armee in aller-
unmittelbarster Beziehung stehenden Vergehen und Unterlassungen, stets wird
bei der Bestrafung die Notwendigkeit einer straffen Handhabung der Disziplin
betont!
Der parlamentarische Feldzug des neuen Ministers, auf den in Frankreich
noch höheres Gewicht gelegt werden muß als andrer Orten, ist der Rede des
Herzogs von Audiffret-Pasquier gegenüber mit einem sogenannten Erfolge in
Szene gesetzt worden. Doch hat die Kammer den neuen Armeereorganisations-
entwurf, welcher in der Beschaffung andrer Uniformen für die Infanterie gipfelte,
dem General mit dem Bemerken zurückgegeben, daß er den Schnitt der Waffen¬
röcke innerhalb der etatsmäßigen Mittel selbst bestimmen möge, und im Senate
hat der Minister einen Zwischenruf des Barons Lareinty bisher nicht beantwortet.
Der genannte Herr soll nämlich in seiner Wißbegierde sich zu der Frage ver¬
stiegen haben, was der Kriegsminister mit einem Offiziere anfangen würde, der
das gegebene Ehrenwort nicht gehalten hätte. Außer dem Minister scheinen
indeß noch andre Personen im Sitzungssaale des Senats nicht mit besonders
scharfen Sinneswerkzeugen begnadigt zu sein, wenigstens ist der parlamentarische
Zwischenfall auf Anordnung des Präsidenten nicht in das Sitzungsprotokoll
eingetragen worden, weil das Bureau ihn nicht gehört hat.
Wir sollten meinen, daß solche Dinge in Verbindung mit der Sprache
mancher, auch rein militärischer Blätter völlig hinreichend seien, um einem Minister
die Erwägung nahe zu legen, sich von dem gefahrvollen Posten wieder zurück¬
zuziehen. Herr Thibaudin aber scheint festzustehen, und wir freuen uns dessen
und hoffen, daß diejenigen seiner Kollegen, welche den Zeitungsberichten zufolge
ihn nicht ungern scheiden sehen würden, nicht das Oberwasser bekommen werden.
Abgesehen von der Unannehmlichkeit, welche für die nach Frankreich kommandirten
vaterländischen Offiziere der persönliche Verkehr mit dem entwichenen Kriegs¬
gefangenen notwendigerweise im Gefolge haben muß, können die Deutschen nichts
mehr wünschen, als die möglichst lange Dauer eines Kriegsministeriums Thibaudin.
Denn wie ein republikanisches Frankreich anscheinend von sämtlichen Staats¬
formen die beste Gewähr bietet für den von aller Welt gewünschten Frieden,
so muß ein Mann von der Vergangenheit des Generals Thibaudin auf die
französische Armee, in deren Reihen zahlreiche politische Parteianschauuugen
nur durch den Gedanken an Ehre und Pflicht zu gemeinsamem Streben sich
einigen, in seiner jetzigen Stellung einen derartig zersetzenden Einfluß ausüben,
daß das scharfe, schneidige Kriegsinstrument zur stumpfen, unschädlichen Waffe
herabsinkt.
^! le Frage, ob derjenige, welcher wegen Verdachts eines Verbrechens
oder Vergehens in Untersuchungshaft genommen worden ist, im
Falle der Freisprechung oder der Einstellung des Verfahrens — des¬
gleichen die verwandte Frage, ob derjenige, welcher wegen eines
I Verbrechens oder Vergehens verurteilt worden ist und die Strafe
ganz oder teilweise verbüßt hat, im Falle späterer Freisprechung auf Grund
wiederaufgenommenen Verfahrens berechtigt sein soll, vom Staate Entschädigung
wegen der erlittenen Freiheitsentziehung zu verlangen, ist in den letzten zehn
Jahren vielfach, namentlich im Reichstage und vom Juristentage, erörtert worden.
Zu irgend einem praktischen Ergebnis haben diese Erörterungen bis jetzt nicht
geführt, und nach dem, was über die Stimmung im Bundesrate verlautet,
scheint auch zur Zeit wenig Aussicht vorhanden zu sein, daß Bundesrat und
Reichstag sich über die Fragen verständigen. Dennoch wird kaum jemand in
Abrede stellen, daß eine solche Verständigung in hohem Grade wünschenswert
sei, zunächst für die Fälle, wo ein Unschuldiger eine Strafe erlitten hat; diese
Fälle lassen sich aber nicht gut allein erledigen, denn die Behandlung beider
Arten in Wissenschaft und Gesetzgebung läßt sich, obwohl sie teilweise verschieden
sind, nicht trennen.
Im folgenden soll ein Versuch gemacht werden, zu dieser Verständigung
beizutragen. Wir werden uns namentlich mit den Beschlüssen des Juristentages
befassen und schicken voraus: sehr viele der von uns aufzustellenden Sätze sind
auf den Versammlungen des Juristentages teils ausgesprochen, teils angedeutet
worden; was wir geben, ist also keineswegs durchaus neu, sondern zu einem
erheblichen Teil nur die Zusammenfassung bisher geäußerter Ansichten. Wenn
wir die einzelnen Vertreter dieser Ansichten nicht namhaft machen, so möge uns
das nicht so ausgelegt werden, als ob wir deren Verdienste gering anschlugen.
Der Grund ist nur der, daß wir, wenn wir jedem Kämpfer in dieser Sache
gerecht werden wollten, die Verhandlungen des Juristentags ziemlich in sxtkuso
wiedergeben müßten.
Der Juristentag hat sich nicht weniger als viermal mit unsrer Frage (oder
unsern beideu Fragen) beschäftigt. Dem elfte» Juristentage lag die Frage vor:
„Soll im Falle der Freisprechung für die Untersuchungshaft eine Entschädigung
gewährt werden?" Nach langer Erörterung hatte schließlich die Versammlung
über nicht weniger als fünf verschiedne Anträge abzustimmen; alle fünf, sowohl
die die Frage mehr oder weniger bejahenden, als auch der sie verneinende,
wurden abgelehnt.
Dem zwölften Juristentage wurde die Frage mit einer kleinen Änderung
gestellt: „Soll im Falle der Freisprechung (oder der Nichterhebung der An¬
klage) für die Untersuchungshaft eine Entschädigung gewährt werden?" Aber
auch diesmal vermochte keiner der für und wider gestellten Anträge eine Mehr¬
heit zu erzielen, die Frage kam in derselben Fassung, wie auf dem zwölften,
vor den dreizehnten Juristentag, und dieser machte sich endlich schlüssig. Nach¬
dem nämlich ein Antrag dahin: „Der Staat hat für die unverschuldet erlittene
Untersuchungshaft Entschädigung zu gewähren" mit kleiner Majorität abgelehnt
worden war, sprach sich eine „ganz überwiegende Majorität" für folgende Ant¬
wort auf die gestellte Frage aus: „Im Falle der Freisprechung oder der
Zurückziehung der Anklage ist für die erlittene Untersuchungshaft eine ange¬
messene Entschädigung zu leisten, es sei denn, daß der Angeklagte durch sein
Verschulden während des Verfahrens die Untersuchungshaft oder die Verlänge¬
rung derselben verursacht hat." In der Fragestellung wie in der Antwort ist,
wie die Verhandlungen ergeben, immer vorausgesetzt, daß die Entschädigung vom
Staat zu gewähren sei.
Mit der Frage der Entschädigung des Verurteilten, der nachträglich freige¬
sprochen wird, befaßte sich der sechzehnte Juristentag, der — zwar unter sehr von
einander abweichenden Vvtirungen der Redner, aber doch einstimmig oder nahezu
einstimmig — sich dahin aussprach: „Ist infolge einer Wiederaufnahme des Ver¬
fahrens zu Gunsten des Verurteilten auf Freisprechung desselben oder in An¬
wendung eines mildern Strafgesetzes auf eine geringere als die verbüßte Strafe
erkannt worden, so ist derselbe berechtigt, aus der Staatskasse eine Genug¬
thuung für die gänzlich oder teilweise verbüßte Strafe, sowie den Ersatz der
infolge.der Strafverbüßung entstandenen vermögensrechtlicheii Nachteile zu ver¬
langen. Der Anspruch entfällt fsoll heißen: fällt weg), wenn der Verurteilte
durch sein Verhalten während des Verfahrens die Verurteilung vorsätzlich oder
fahrlässig herbeigeführt hat."
Schon das Schicksal der beiden Fragen deutet darauf hin, daß die Be¬
antwortung der einen Frage viel mehr Bedenken hat als die der andern: über
die Frage der Untersuchungshaft wurde erst bei der dritten Beratung des Ju¬
ristentages, und zwar unter sehr schwacher Beteiligung (es stimmten nur 52 Mit¬
glieder ab), ein positiver Beschluß erzielt; über die Frage der Strafhalt herrschte
schon bei der ersten Beratung nahezu Einstimmigkeit, nur bezüglich der zu Sta-
tuirenden Ausnahmen von der Entschädigungspflicht war sie nicht vorhanden.
Eine eingehendere Betrachtung wird denn auch ergeben, daß, obwohl beide
Fragen aus demselben Prinzip zu entscheiden sind, doch der Beschluß des Ju-
ristcntags zur ersten Frage weit weniger Aussicht und Anspruch auf Berück¬
sichtigung seitens des Gesetzgebers hat als der Beschluß zur zweiten.
In beiden Beschlüssen des Juristentags ist nicht ausgesprochen, wer über
Existenz und Umfang des Entschädigungsanspruchs zu erkennen habe. Erörtert
wurde die Frage wiederholt, zwar nur nebenher, aber doch sehr lebhaft. Wäh¬
rend ein Teil der Redner für die Zuständigkeit des Zivilgerichts eintrat, er¬
klärten andre es für reine Thorheit, die Frage der Entscheidung des allein be¬
rufenen Strafrichters entziehen zu wollen. Es wurde vermieden, die Frage zur
Abstimmung zu bringen, wahrscheinlich weil man die wünschenswerte Einstimmig¬
keit der Beschlüsse nicht schädigen wollte. Diese Zurückhaltung ist aber zu be¬
dauern, denn mit der richtigen Beantwortung der Zuständigkeitsfrage wäre ein
erheblicher Schritt zur Lösung der Hauptfrage geschehen.
Was ist der Zweck — was ist der Rechtsgrund — was ist der Gegen¬
stand des Entschädigungsanspruchs bei den Untersuchungs- wie bei den Straf¬
gefangenen? Antwort: Der Zweck ist Schadenersatz oder Genugthuung, der
Rechtsgrund ungerechtfertigte, widerrechtliche Freiheitsentziehung, der Gegenstand
ein Geldäquivalent für die entzogene Freiheit und den durch die Entziehung ge¬
stifteten Schaden.
Ist diese Antwort auf die dreifache Frage richtig, so kann über die Zu¬
ständigkeit des Zivilrichters unsers Erachtens kein Zweifel obwalten: es handelt
sich um eine gegen den Fiskus anzustellende Deliktsklage, eine Klage wegen
widerrechtlicher Gefangenhaltung. Denn daß der rechtmäßig Gefangengehaltene
keinen Anspruch habe, darüber waren wohl alle Mitglieder des Juristentages
einig; die Streitfrage war nur: Wann ist die Gefangenhaltung, insbesondre die
Untersuchungshaft, eine rechtmäßige?
Muß aber die Zuständigkeit des Zivilrichters für den Entschädigungs¬
anspruch anerkannt werden, so ergiebt sich für die rein juristische Betrachtung
sofort die Hinfälligkeit der Klage gegen den Fiskus. Der Fiskus ist eine juristische
Person, und darüber, daß eine juristische Person nicht fähig ist, Delikte zu be¬
gehen, sollte doch unter deutschen (und österreichischen) Juristen seit Savignys
Ausführungen (System, Bd. 2, M 94, 95) kein Streit mehr möglich sein. Er
kann daher auch nicht für Delikte seiner Beamten belangt werden, sofern nicht
aus diesen Delikten ihm ein vermögensrechtlicher Vorteil zugeflossen ist. Wäre
jemand wegen eines Vergehens oder einer Übertretung zu einer Geldstrafe ver¬
urteilt worden, die er bezahlt hat, so könnte er, wenn es ihm gelingt, Wieder¬
aufnahme des Verfahrens und in diesem seine Freisprechung zu erwirken, ohne
allen Zweifel das zu Unrecht Bezahlte vom Fiskus zurückfordern; aber wie der
Staatftskus ersatzpflichtig werden soll, wenn ein Richter einen Beschuldigten,
dessen Schuld im Verlauf des Verfahrens nicht erwiesen werden konnte oder
dessen Unschuld später festgestellt wurde, in Untersuchungshaft genommen oder
zu Gefängnisstrafe verurteilt hat, ist rein juristisch nicht zu begreifen. Warum
soll es sich bei der widerrechtlichen Gefangenhaltung von feiten eines Richters
anders verhalten als bei irgend einem andern Delikt? Wenn ein Untersuchungs¬
richter sich vom Zorn hinreißen läßt, einem Beschuldigten einen Schlag ins
Gesicht versetzt und ihm dabei ein Auge ausschlägt, so ist er ganz gewiß schaden¬
ersatzpflichtig; aber wir zweifeln, ob die Herren Dr. Jaques und Genossen eine
Klage, sei es beim Zivil- oder beim Strafrichter, zulassen würden des Inhalts:
Der Staat hat mir durch seinen Beamten ein Auge ausgeschlagen, ich ver¬
lange von ihm Schadenersatz.
Man hat die Schadenersatzpflicht des Staates auch in der Art zu kon-
struiren versucht, daß man sie auf eine sogenannte oulxa in kli^knäo zurück¬
führte: der Staat sei haftbar, wenn und weil er einen ungeschickten Beamten
angestellt habe. Mit dieser Beweisführung kommt man aber um keinen Schritt
weiter: der „Staat" kann sich auch keiner Nachlässigkeit in Auswahl seiner Be¬
amten schuldig machen; es mag vorkommen, daß ein Minister seinem Landes¬
herrn einen unfähigen Bewerber zur Besetzung eines Amtes in Vorschlag bringt;
allein daraus würde sich höchstens eine Klage gegen den Minister ableiten lassen,
der die Ernennung des delinauirenden Beamten gegengezeichnet hat.
Nun sind wir keineswegs gemeint, die Sache hiermit für erledigt zu halten;
schon die Einmütigkeit, mit der der letzte Juristentag sich für die Haftpflicht des
Staates im Falle der Verurteilung eines Unschuldigen ausgesprochen hat, ist uns
ein Beweis, daß etwas geschehen muß, um die Frage zu erledigen und der, man
darf wohl sagen, allgemeinen Stimme gerecht zu werden, welche die Entschädigung
desjenigen fordert, der infolge irrigen Richterspruchs vielleicht jahrelang im Zucht¬
hause geschmachtet hat. Wenn nicht aus juristischen, so muß sich doch aus poli¬
tischen Gründen die Haftpflicht des Staates, wenigstens innerhalb gewisser
Grenzen, rechtfertigen lassen.
Soll eine Rechtspflicht des Staates zur Entschädigung wegen ungerecht¬
fertigter Freiheitsentziehung aufgestellt werden, so wird man sie immer nur
darauf gründen können, daß der Staat für die Fehler seiner Beamten einstehen
solle. Die allgemeine Frage, ob der Staat für Schäden und Nachteile, welche
die von ihm angestellten Beamten durch vorsätzliche oder kulpose Verletzung ihrer
Dienstpflichten einem Dritten zufügen, (unbedingt oder subsidiär) haften solle,
wurde vom Juristentag auch wiederholt erörtert. Allein die mit Mehrheit an¬
genommenen Resolutionen des sechsten und des neunten Juristentages kamen
nicht über die Formulirung des allgemeinen Prinzips hinaus, daß der Staat
sür Schäden und Nachteile, welche seine Beamten in der oben bezeichneten Weise
zufügen, direkt hasten solle. Namentlich sprechen sich die Resolutionen nicht
darüber aus, ob der Staat nur für grobe oder aber auch für leichte Fahr-
lässigkeit seiner Beamten einzustehen habe. Der Referent auf dem sechsten
Juristentage hatte unter anderm die These aufgestellt: „Die Widerrechtlichkeit
(für die der Staat einzustehen hat) muß in Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit
bestehen"; zu einer Abstimmung über diese These kam es jedoch nicht.
Unsre Frage ist nun lediglich eine spezielle Anwendung jener allgemeinen
Frage; für ihre Beantwortung ist aber durch das vom Juristentage aufgestellte
Prinzip so gut wie nichts gewonnen, eben weil dasselbe nichts darüber enthält,
ob der Staat nur sür eulxa 1»ta oder aber auch für oulxs, Isvis seiner Beamten
haften soll. Dies ist der Kernpunkt unsrer Frage.
Daß ein Richter, der in bewußter Widerrechtlichkeit einen Unschuldigen in
Untersuchungshaft nimmt oder zur Strafe verurteilt, desgleichen ein Staats¬
anwalt, der in bewußter Widerrechtlichkeit diese Maßregeln beantragt und durch¬
setzt, dem Geschädigten zivilrechtlich verantwortlich ist, versteht sich von selbst;
sie machen sich (als Urheber oder Anstifter) des Verbrechens der widerrecht¬
lichen Gefangenhaltung schuldig, für das sie wie ein gewöhnlicher Privatmann
auch zivilrechtlich haften. Diese Haftung ist von mehreren, aber nicht von allen
einzelstaatlichen deutschen Gesetzgebungen auch für den Fall grob-fahrlässigen
Handelns anerkannt, teilweise zugleich mit der sei es direkten oder subsidiären
Haftpflicht des Staates. Die Anerkennung der Verantwortlichkeit der Beamten
auch für grob-kulpose Freiheitsentziehung, desgleichen die Anerkennung der
wenigstens subsidiären Haftung des Staates für äolus.und oulpg, lata der be¬
treffenden Beamten würde wohl auch beim Bundesrat auf keine großen Schwierig¬
keiten stoßen. Fälle der bewußt-rechtswidrigen Freiheitsberaubung durch Richter
oder Staatsanwälte kommen ja zum Glück kaum je vor; grob-fahrlässige Frei¬
heitsentziehung, insbesondre in der Form grundlos verlängerter Haft, werden
sich manchmal ereignen, aber doch selten so, daß nicht mit mehr oder weniger
Aussicht auf Erfolg die grobe Fahrlässigkeit bestritten werden könnte. Jedenfalls
kann das finanzielle Bedenken gegen die subsidiäre Haftbarkeit des Staates in
beiden Fällen kaum ins Gewicht fallen. Die Schwierigkeit beginnt erst bei der
leichten Fahrlässigkeit; hier handelt sichs um die Schaffung durchaus neuen
Rechts, nicht bloß was die Haftung des Staates, sondern auch was die Haftung
der Beamten angeht. Die Frage ist hier: Soll eine Verantwortlichkeit der Be¬
amten selbst für jede Fahrlässigkeit mit subsidiärer Haftpflicht des Staates —
oder aber eine direkte Haftung des Staates mit Regreßrecht gegen den schuldigen
Beamten wenigstens bei grober Fahrlässigkeit statuirt werden?
Nach gemeinem Rechte ist jeder verpflichtet, den durch seine Arglist ent¬
standenen Schaden zu ersetzen, den durch seine bloße Schuld entstandenen nur
in ganz bestimmten Fällen. Das französische Recht macht jeden sür jeden durch
seine Schuld entstandnen Schaden verantwortlich; welches Prinzip in das deutsche
bürgerliche Gesetzbuch Aufnahme finden wird, ist wohl noch unentschieden, wir werden
aber schon jetzt sagen können, daß, wenn auch der Grundsatz des voäs
angenommen wird, doch jedenfalls von einer Haftung der richterlichen (einschließlich
der staatsanwaltlichen) Beamten für jede, auch die leichteste Fahrlässigkeit wird
Umgang genommen werden. Auf Beamte wendet das französische Recht selbst
den Satz nicht an; das badische bürgerliche Recht, das auf dem LoÄs MxoI6on
beruht und den Grundsatz der Haftung für jede Fahrlässigkeit gleichfalls auf¬
stellt, normirt die Haftung der Beamten für widerrechtliche Freiheitsentziehung
ausdrücklich dahin, daß dieselben — unter subsidiärer Haftung des Staates —
nur für bösen Vorsatz und grobe Nachlässigkeit verantwortlich sind. Eine andre
Entscheidung der Frage den Beamten gegenüber könnte auch nur die Folge
haben, daß entweder das Gesetz nicht angewendet oder der Staat in kurzer Zeit
keine, wenigstens keine brauchbaren Beamten finden würde. Denn ein leichtes
Verschulden wird man anch einem tüchtigen Untersuchungsrichter bei mancher
ergebnislosen Verhaftung, noch mehr einem erkennenden Richter bei einem nach¬
träglich wieder aufgehobenen Strafurteil nachweisen können; der Gefahr aber,
wegen jedes derartigen, in der Hauptsache gewöhnlich auf einen Mangel der
Urteilskraft zurückzuführenden Fehlers mit einer Schadenersatzklage verfolgt zu
werden, wird sich ein ehrlicbender Mann nicht aussetzen.
Es bliebe also nur die andre Alternative: direkte Haftung des Staates für
jede fahrlässige Freiheitsentziehung mit Regreß gegen den grob-fahrlüssigen Be¬
amten. Würde der Grundsatz, daß jeder für die Folgen seines schuldhaften
Handelns verantwortlich ist, in das deutsche Recht aufgenommen, so würde sich
diese Haftung mit einer gewissen Notwendigkeit ergeben; der Gesetzgeber, welcher den
Beamten ausnahmsweise Befreiung von dieser Verantwortlichkeit einräumt, müßte
dafür Sorge tragen, daß der durch die Schuld des Beamten Geschädigte anders¬
woher den Ersatz seines Schadens erhielte, und da bliebe als ersatzpflichtig nur
die Staatskasse übrig. Würde dagegen das deutsche Zivilgesetz bezüglich der
Schadensklage an dem — unsers Erachtens hierin prinziplosen — gemeinen Recht
festhalten, dann wäre allerdings durch die Zulassung des Entschädigungsanspruchs
wegen jeder fahrlässigen Freiheitsentziehung ein Ausnahmerecht für gewisse
Schadenfälle begründet, ein Ausnahmerecht, von dem man aber immerhin sagen
könnte, daß es seine Rechtfertigung finde in dem Schutz, den der Staat einem
so hohen Gute wie der persönlichen Freiheit seiner Bürger schulde.
Wenn wir also hiernach bereit sind, die Haftung des Staates in der be¬
zeichneten Weise anzuerkennen, so sind wir deshalb doch weit davon entfernt,
die Resolutionen des Juristentages in ihrem ganzen Umfange, namentlich was
die Untersuchungshaft angeht, uns aneignen zu wollen; denn diese schießen unsers
Erachtens weit über das Ziel hinaus.
Wir haben oben gesagt, alle Mitglieder des Juristentages seien wohl damit
einverstanden, daß ein rechtmäßig gcfangengehaltener keinen Anspruch auf
Schadenersatz habe; die Frage sei nur die: wann ist die Gefangenhaltung, na¬
mentlich die Untersuchungshaft, rechtmäßig? Dieser Frage, bei deren Veant-
wortmig nach unsrer Ansicht die Mehrheit des dreizehnten Juristentages geirrt
hat, haben wir jetzt näher zu treten.
Hat ein Verurteilter die Wiederaufnahme des Verfahrens und in diesem
Verfahren seine Freisprechung erreicht, dann steht es fest, daß seine Gefangen¬
haltung, seine Strafhaft unrechtmäßig war. Dies steht fest, aber auch nicht
mehr. Es ist namentlich mit der Freisprechung noch nicht festgestellt: einerseits,
daß der Freigesprochene unschuldig war, andrerseits, daß der Staat nun un¬
bedingt Schadenersatz zu leisten hat.
Die Gegner der Haftpflicht des Staates haben diese beiden Punkte in Zu¬
sammenhang bringen wollen und haben gesagt: Es ist ungerecht, dem Staate
den Schadenersatz zuzumuten, denn es ist ja durch die Freisprechung nicht immer
bewiesen, daß der Freigesprochene wirklich unschuldig war; die nachträgliche Frei>
sprcchnng wird häufig ihren Grund bloß darin haben, daß die ursprünglichen
Belastungsmomente abgeschwächt worden sind — so, wenn ein Zeuge wegen
Meineids, jedoch nur wegen eines über einen untergeordneten Punkt falsch ge-
schwornen Eides, verurteilt worden ist —, nicht darin, daß das Gericht positiv
die Unschuld für erwiesen hielt. Die Stichhaltigkeit dieser Beweisführung ver¬
mögen wir nicht anzuerkennen; nicht etwa weil ihr die Fiktion, der Freige¬
sprochene sei unschuldig, entgegenstünde, sondern darum, weil die Frage der Schuld
oder Unschuld hier unerheblich ist. Wenn die sonstigen Voraussetzungen zutreffen,
so genügt zur Begründung des Schadenersatzanspruchs die Anführung: Durch
das Urteil im Wiederaufnahmeverfahren ist festgestellt, daß (im ersten Verfahren)
eine Verurteilung nicht hätte erfolgen sollen, oder: Wäre im ersten Verfahren
die Beweislage dieselbe gewesen wie im zweiten, so hätte nicht verurteilt werden
dürfen. Mag nunmehr bezüglich der Schuld auch nur ein Avr Haust, vorliegen,
bei vorliegendem Mir liesse durfte nicht verurteilt werden, also war die Ge-
fangenhaltung, die Strafhalt unrechtmäßig. Wenn wir trotzdem sagen, daß mit
der Freisprechung noch nicht die Ersatzpflicht des Staates gegeben sei, so hängt
dies nicht mit dem Unterschiede zwischen Unschuldbeweis und mangelhaftem Schuld-
beweis zusammen, sondern es ist damit nur ausgesprochen: aus der Freisprechung
folgt noch nicht ein (sei es auch noch so leichtes) Versehen des Richters, der
früher verurteilt hat. Dieser Richter hat objektiv geirrt, das steht fest; aber
er kann geirrt haben unter Verhältnissen, wo jeder andre, auch der gewissen¬
hafteste, scharfsinnigste Richter, ebenso geirrt hätte, und in solchem Fall kann
von einer subjektiven Verschuldung keine Rede sein. Dann fällt aber auch die
Haftpflicht des Staates weg, sofern sie überhaupt auf Rechtsgrüuden ruhen soll.
Wir berühren hiermit die Einschränkung, welche der sechzehnte Juristentag
seiner Resolution über den Entschädigungsanspruch bei unschuldig erlittener
Strafhaft beigefügt hat: „Der Anspruch entfällt, wenn der Verurteilte durch sein
Verhalten während des Verfahrens die Verurteilung vorsätzlich oder fahrlässig
herbeigeführt hat." Der Formulirung dieses einschränkenden Zusatzes können
wir nicht beipflichten, wenigstens was das „fahrlässige Herbeiführen der Ver¬
urteilung" angeht. Wer vorsätzlich seine objektiv ungerechtfertigte Verurteilung
herbeigeführt hat, der hat allerdings nie Anspruch auf Entschädigung, und
zwar einfach nach dem Satze: Volsnti non ut iiMria. Anders bei der Fahr¬
lässigkeit; hier ist die Resolution teils zu eng, teils zu weit, jedenfalls aber
unklar. Man lese nur die Verhandlungen des Juristentages nach, um sich
hiervon zu überzeugen. Wenn der fälschlich Angeklagte in der Aufregung und
Verzweiflung Dinge leugnet, die sonnenklar sind, und Dinge behauptet, deren
Unwahrheit am Tage liegt, so liegt die Gefahr nahe, daß der Richter über
den Entschädigungsanspruch denselben abweist mit der Begründung, der Angeklagte
habe durch sein Leugnen und Lügen die Verurteilung fahrlässig selbst herbei¬
geführt; und doch möchten wir einem solchen Angeklagten seine verkehrte Ver¬
teidigung nicht zur Schuld anrechnen, zumal wenn wir daran denken, in welcher
Weise oft voreingenommene Vorsitzende, d. h. Vorsitzende, welche sich aus den
Akten der Voruntersuchung schon ihre Überzeugung von der Schuld des An¬
geklagten gebildet haben, die Verhöre vornehmen und verurteilungssüchtige
Staatsanwälte die Geschworenen bearbeiten. Ebenso, wenn ein Angeklagter
Berteidigungsmittel, die er gebrauchen könnte, aus Ungeschicklichkeit nicht benutzt;
auch von ihm kumm man sagen, er habe seine Verurteilung fahrlässig herbei¬
geführt, und doch möchten wir auch ihm den Ersatzanspruch nicht aberkennen:
es war Sache des Anklägers und Richters, dem Angeklagten seine Schuld, nicht
Sache des Angeklagten, dem Richter seine Unschuld zu beweisen.
Nach unserm Dafürhalten hat die Ersatzpflicht des Staates vielmehr nur
dann, aber auch immer dann wegzufallen, wenn den Richter, der die Verur¬
teilung ausgesprochen hat, keinerlei Verschulden trifft. Soweit an der vom Ju¬
ristentag gemachten Einschränkung etwas richtiges ist, wird dies auch durch
unsern Satz gewahrt, dieser geht aber teils nicht so weit, teils weiter. Bloß
ungeschickte Verteidigung macht, wie schon bemerkt, des Ersatzanspruchs nicht
verlustig, denn bei strenger Prüfung der Belastungsbeweise konnte der Richter
trotz der verkehrten Verteidigungsweise sich überzeugen, daß ein zur Verur¬
teilung hinreichender Beweis eben doch nicht vorhanden sei. Andrerseits kann
der Anspruch hinwegfallen, auch ohne daß dem Verurteilten irgend ein Ver¬
schulden zur Last fällt. Hat z. B. der Verurteilte eine objektiv verbrecherische
That begangen, und es stellen sich nach der Verurteilung Zeichen von Geistes¬
störung ein, so ist es denkbar, daß im wiederaufgenommenen Verfahren Frei¬
sprechung erfolgen muß, weil der Gerichtsarzt erklärt, es sei möglich oder wahr¬
scheinlich, daß die geistige Störung schon zur Zeit der That vorhanden und
auf diese von Einfluß gewesen sei. Für eine Ersatzpflicht des Richters oder
des Staates fehlt es hier an jedem Grunde. Die Rechtspflicht würden wir
aber unter Umständen auch dann verneinen, wenn zufolge der scheinbar glaub¬
würdigen Aussagen eines oder mehrerer meineidiger Zeugen eine Verurteilung
erfolgt ist; hier muß zwar nicht, aber es kann die Sache so liegen, daß der
beste Richter einem Irrtum nicht zu entgehen vermochte. Trifft ihn aber keine
Schuld, so ist auch der Staat nicht haftbar. Der Verurteilte hat seinen An¬
spruch gegen die meineidiger Zeugen zu verfolgen; wenn diese vermögenslos
sind, so ist dies für ihn ein Unglück, gerade so, wie wenn ihm ein vermögens¬
loser Mensch sein Haus angezündet oder einen Arm abgeschlagen hat. Wenn
in solchen Fällen aus außerordentlichen Mitteln, Dispositionsfonds und der¬
gleichen eine Entschädigung gewährt wird, so wird hiergegen niemand etwas
einzuwenden haben. '
Der Regel nach wird aber trotz dieser Einschränkung die Entschädigungs¬
klage des im wiederaufgenommenen Verfahren freigesprochenen Verurteilten Er¬
folg haben, denn in den meisten Fällen wird die ungerechtfertigte Verurteilung
auf eine fehlerhafte Beweiswürdigung im ersten Verfahren ausschließlich oder
teilweise zurückzuführen sein. Eine fehlerhafte Beweiswürdigung schließt aber
immer ein zum mindesten leichtes Versehen des Richters in sich. Auf einer
ungenügenden Beweiswürdigung werden namentlich die schwersten ungerecht¬
fertigten Verurteilungen, diejenigen wegen Verbrechen, beruhen, die Verurtei¬
lungen, welche von Geschworenengerichten ausgehen. Hier ist auch, nebenbei be¬
merkt, nur mit einer gegen den Staat zu richtenden Klage zu helfen, wenn
man dem Beschädigtem überhaupt einen Ersatzanspruch gewähren will. Die Ge¬
schworenen, oder gar die auf gesetzlichem Wege kaum zu ermittelnde Majorität
derselben ersatzpflichtig zu machen, ginge wohl nie an, auch wenn ihr grober
Irrtum noch so sehr auf der Hand läge. Denn einmal tragen an ihren falschen
Wahrsprüchen gewöhnlich Staatsanwalt und Vorsitzender Richter den größern
Teil der Schuld; sodann wäre zu erwarten, daß die Geschworenen, wenn sie
einer Schadenklage wegen ungerechter Verurteilung ausgesetzt wären, auch in
manchem Falle erwiesener, aber geleugneter Schuld ein Nichtschuldig aussprächen.
Nach der Resolution des Juristentages soll von der Regel der dem Ver¬
urteilten zu leistenden Entschädigung eine Ausnahme eintreten im Falle seiner
gegen ihn zu beweisenden eignen Schuld an der Verurteilung; nach unsrer
bisherigen Ausführung wäre der Anspruch des Klägers an die Voraussetzung
der von ihm zu beweisenden Schuld des Richters geknüpft. Hinsichtlich
dieser Beweislast möchten wir jedoch dem Juristentage ein Zugeständnis machen.
Wenn auch unser Satz, daß die ungerechte Verurteilung regelmäßig ganz oder
teilweise auf irrige Beweiswürdiguug, auf einen Fehler des Richters zurückzu¬
führen sei, richtig ist, so wird doch im einzelnen Falle der Beweis des Fehlers
insofern schwierig sein, als nach Ablauf von Jahr und Tag nicht leicht der
spezielle Punkt zu bezeichnen sein wird, wo der Fehler gemacht wurde. Dies
wäre nur möglich, wenn das ganze Beweismaterial schriftlich fixirt und das
Urteil mit Gründen versehen wäre, die eine eingehende Beweiswürdigung ent¬
halten. Ersteres ist zufolge des mündlichen Verfahrens nie, letzteres bei Schwur-
gerichtsnrteilen gleichfalls nie, bei Urteilen andrer Gerichte höchst selten der
Fall. Ist hiernach der stritte Beweis für die thatsächlich nicht vorhandene
Schuld des Richters vom Kläger infolge der bestehenden staatlichen Einrich¬
tungen hcinfig nicht zu führen, so erscheint es durchaus billig, daß ihm die Be¬
weisest abgenommen und die Haftung des Staates unbedingt ausgesprochen
werde, aber mit dem Vorbehalt: es wäre denn, daß die Verurteilung ohne jedes
Verschulden der staatlichen Organe erfolgt ist — ein Gegenbeweis, der z. B.
in den obenerwähnten Fällen einer nachträglich zu Tage getretenen Geistes¬
störung oder des Meineides von Zeugen oder auch in dem auf dem Juristentage
erwähnte Falle leicht zu sichren wäre, wenn der Verurteilte mit seineu Entlastungs-
beweiscn absichtlich zurückgehalten hat um dem wahren Schuldigen herauszuhelfen.
Sind wir dem Ausgeführten zufolge bezüglich des Anspruches wegen un¬
gerechtfertigter Strafhalt im wesentlichen mit dem Juristentage einverstanden,
so gilt nicht dasselbe für die Frage der Untersuchungshaft. Hier stellt der
Juristentag das Verlangen auf, daß in allen Fällen der Freisprechung und der
Einstellung des Verfahrens dem Verhafteten Entschädigung gewährt werden soll,
außer wenn ihm bewiesen wird, daß er durch sein Verschulden während des
Verfahrens die Untersuchungshaft oder deren Verlängerung verursacht hat. Regel
und Ausnahme sind gleich bedenklich, während andrerseits der vom Juristentage
al'gelehrte Gegenvorschlag, wonach der Staat (nur) für die unschuldig erlittene
Untersuchungshaft Entschädigung zu gewähren haben soll, gleichfalls nicht an¬
nehmbar erscheint; er ist um so viel zu eng, als das erstere Verlangen zu
weit geht.
Der Beschluß des Juristeutages will deu Entschädigungsanspruch der Regel
nach bloß abhängig machen von der Thatsache der Freisprechung oder der Zurück¬
ziehung der Anklage, an deren Stelle nach der Reichsstrafprozcßordnung der Be¬
schluß, das Hauptverfahrcn nicht zu eröffnen, treten wird, welchen Beschluß wir
Kürze halber als Eiustellungsbeschluß bezeichnen. Ist die Bedeutung desselben auch
in andern Beziehungen wesentlich von der Freisprechung verschieden, so ist doch die
Gleichstellung beider gegenüber der Entschädigungspflicht wegen erlittener Unter¬
suchungshaft gerechtfertigt, wenigstens vermögen wir uns nicht zu der auf dem
Juristentage vereinzelt laut gewordenen Ansicht zu bekennen, daß der Verhaftete,
gegen den das Verfahren eingestellt wird, dafür, daß er nicht vor das erkennende
Gericht gestellt werde, so dankbar sein müsse, daß er nicht auch noch eine Entschä¬
digung wegen ungerechtfertigter Untersuchungshaft verlange. Wenn daher im fol¬
genden von Freisprechung die Rede ist, möge hierunter auch der Einstcllungs-
beschluß als begriffen angesehen werden. Umgekehrt will der abgekehrte Antrag
den Anspruch davou abhängig machen, daß der Freigesprochene den positiven
Beweis seiner Unschuld führt.
Der Beschluß des Juristeutages beruht auf der Anschauung: Wer freige¬
sprochen ist, der ist als nicht schuldig erklärt; wer aber nicht schuldig ist, der
durfte auch nicht als verdächtig in Untersuchungshaft genommen werden. Der
erstere Satz enthält eine Halbwahrheit, der zweite ist positiv falsch.
Allerdings ist im deutschen Strafprozeß die „Entbindung von der Instanz"
schon lange und mit Recht aufgegeben. Ein Urteil kann nur auf Schuldig oder
auf Nichtschuldig lauten, nur verurteilen oder freisprechen. Der Freigesprochene
hat das Recht, zu verlangen, daß er vom Staate als nichtschuldig behandelt,
in Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte nicht ferner wegen der gegen ihn
erhobenen Anklage beschränkt werde. Formell steht er dem wirklich Unschuldigen
gleich. Aber daß er wirklich unschuldig sei, das folgt aus der Freisprechung
noch keineswegs; im Gegenteil, in den meisten Fällen erfolgt die Freisprechung
nur wegen unzureichenden Beweises der Schuld, und da, wo die Urteile mit
wirklichen Gründen versehen sind, wird aus diesen auch oft genug zu entnehmen
sein, daß der Richter keineswegs von der Unschuld des freigesprochenen Ange¬
klagten überzeugt war. In solchen Fällen begründet die Freisprechung also nur
die Fiktion der Unschuld, und auf Grund dieser Fiktion dem Freigesprochenen,
der in Wirklichkeit immer noch sehr verdächtig sein kann, einen Entschädigungs¬
anspruch gegen den Fiskus zu gewähren, dagegen wird sich ein gesundes Rechts¬
gefühl stets empören. Diese Beleidigung des Rechtsgefühls könnte der Sache
der Angeklagten, deren Schuld zweifelhaft ist, leicht gefährlich werden. Wenn
jetzt ein Mensch von bedenklichem Vorleben eines Verbrechens oder Vergehens
angeklagt ist, so wird ein gewissenhafter Richter, auch wenn schwere Vcrdachts-
gründe vorliegen, dennoch lieber freisprechen als verurteilen, wenn er irgend ein
Glied in der Kette der vorgebrachten Beweise unzuverlässig findet; wird er aber,
namentlich ein Geschworner, ganz dasselbe Maß der wünschenswerten Strenge
in Prüfung der Beweise anlegen, wird er nicht vielmehr — ihm selbst unbe¬
wußt — gegen den Angeklagten beeinflußt werden, wenn er sich sagen muß:
Im Falle der Freisprechung erhält der Angeklagte einen unanfechtbaren Rechts¬
anspruch auf Entschädigung wegen der Untersuchungshaft, die doch mit allem
Grunde gegen ihn verhängt worden ist?
Denn trotz der Freisprechung kann die Haft mit Grund verhängt gewesen
sein. Wir kommen damit zu dem zweiten Satze, der dem Beschlusse des Juristen¬
tages zu Grunde liegt: Wer nicht schuldig ist, der durfte nicht verhaftet werden;
oder genauer ausgedrückt: Wer durch die Freisprechung für nichtschuldig erklärt
ist, für den ist rückwärts festgestellt, daß die verhängte Haft nicht gerechtfertigt
war. Keineswegs! Wir haben allerdings oben bei der Freisprechung im Falle
des wiederaufgenommenen Verfahrens gesagt, durch das neue Urteil werde fest¬
gestellt, daß die Gefangenhaltung, die Strafhaft des nunmehr Freigesprochenen
unrechtmäßig war, denn das neue Urteil sagt, daß der Angeklagte im ersten Ver¬
fahren nicht hätte verurteilt werden sollen. Mit der Untersuchungshaft des
Freigesprochenen verhält es sich ganz anders; das freisprechende Urteil sagt nur:
Es liegt kein Grund vor, über den Angeklagten eine Strafhaft zu verhängen;
es sagt aber keineswegs: Es lag kein Grund vor, den Angeklagten in Unter¬
suchungshaft zu nehmen. Und zwar besagt dies die Freisprechung nicht bloß
nicht in dem Falle, wo wegen unzureichenden Beweises freigesprochen wurde,
sondern auch nicht einmal für den Fall, wo die Unschuld des Angeklagten positiv
erwiesen ist.
Kein zivilisirter Staat — dies wurde schon von verschiednen Rednern des
Juristentages hervorgehoben — kann die Untersuchungshaft entbehren. Er wird
zum Schutze der persönlichen Freiheit die gesetzlichen Voraussetzungen für deren
Zulüssigkeit so streng normiren, als die Rücksicht auf das allgemeine Wohl ge¬
stattet; treffen aber die gesetzlichen Voraussetzungen zu, dann kann der Verhaftete
niemals behaupten, er sei widerrechtlich seiner Freiheit beraubt worden. Ist
er unschuldig, so ist die Verhaftung für ihn ein Unglück, aber der Umstand,
daß ihn dieses Unglück durch die gesetzmäßige Thätigkeit eines richterlichen Be¬
amten getroffen hat, rechtfertigt es nicht, ihm einen Entschädigungsanspruch
gegen den Staat zu gewähren. Durch mancherlei Maßregeln staatlicher oder
gemeindlicher Behörden kann ein Bürger zu Schaden kommen, zu einem Schaden,
den er vielleicht weit höher anschlägt, als er eine vorübergehende Beschränkung
seiner persönlichen Freiheit anschlagen würde. Allein wenn die Maßregel ge¬
setzmäßig war, so wird es niemand in den Sinn kommen, dem Staate oder
der Gemeinde eine Entschädigungspflicht aufzuerlegen. Wenn z. B. jemand an
einer frequenten, aber schlechte» Gebirgsstraße ein Wirtshaus besitzt und der
Staat eine gute neue Straße weit seitab von seinem Hause bauen läßt, so kann
hierdurch die ökonomische Existenz des Mannes schwer geschädigt, vielleicht zerstört
werden, aber Schadenersatz kann er nicht verlangen, weil niemand ihm ein Un¬
recht zugefügt hat. Warum sollte es nun gerade bei einer Art von Schaden-
zufügung anders gehalten werden? In dem ausgeführten liegt auch schon die
Widerlegung des Verlangens, es solle demjenigen, der seine Unschuld beweist,
Entschädigung gewährt werden; auch er kann infolge unglücklicher Verkettung
der Umstände völlig rechtmäßig verhaftet worden sein, auch seinem Ansprüche
würde es daher an einer rechtlichen Grundlage fehlen. Andrerseits aber schränkt
diese Ansicht den Anspruch des ungerecht Verhafteten ganz ungebührlich ein;
es kann die Unrechtmäßigkeit der Untersuchungshaft auf der Hand liegen, während
es doch dem Verhafteten rein unmöglich ist, den positiven Beweis seiner Un¬
schuld zu führen. So ist uns ein Fall erinnerlich, wo ein durchaus unbe¬
scholtener Mann, dem sein Haus abbrannte, auf sehr schwache Verdachtsgründe
hin wegen Brandstiftung verhaftet und aus gröbster Fahrlässigkeit sieben Monate
in Haft gehalten wurde. Er hatte nach würtembergischen Rechte gegen den
fahrlässigen Beamten überhaupt keinen Anspruch; wäre ihm aber ein solcher
unter der Bedingung, daß er seine Unschuld nachweise, eingeräumt worden, so
wäre er gerade so rechtlos gewesen, denn die Unmöglichkeit seiner Thäter¬
schaft konnte er nach Lage der Sache nicht beweisen. Und doch sollte für solche
keineswegs ganz seltene Fälle der Gesetzgeber den Entschädigungsanspruch des
ungerecht Verhafteten anerkennen; denn ungerecht verhaftet war der Mann,
nicht deshalb, weil ihm seine Schuld nicht bewiesen werden konnte, sondern
darum, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verhängung, jedenfalls
aber für die lange Fortdauer der Haft, nicht zutrafen. Weder eine Ge¬
fährdung des Staatsinteresses noch eine Beleidigung des allgemeinen Rechts¬
bewußtseins wäre zu besorgen, wenn demjenigen, der durch Schuld der
staatlichen Organe der Strafrechtspflege seiner Freiheit beraubt, ohne ge¬
setzlichen Grund in Haft genommen oder nach Wegfall dieses Grundes in
solcher zurückbehalten worden ist, ein Entschädigungsanspruch gegen den Staat,
diesem aber der Regreß gegen den grob - fahrlässigen Beamten gewährt
würde.
Nach der Reichsstrafprozeßordnung darf die Untersuchungshaft nur ver¬
hängt werden, wenn einerseits dringender Verdacht vorhanden ist, daß der
Angeschuldigte der Thäter ist, andrerseits zu besorgen steht, daß ohne die Haft
der Zweck der Untersuchung — durch Flucht, Beseitigung der Spuren der That,
Kollusionen mit Mitschuldigen oder Zeugen — vereitelt würde. Es ist augen¬
fällig, daß hier dem richterlichen Ermessen ein ziemlich weiter Spielraum gegeben
. ist; man wird aber nicht sagen können, ein zu weiter Spielraum. Die Ver¬
urteilung ist an die Voraussetzung geknüpft, daß die Schuld vollständig be¬
wiesen, daß die gegen den Angeklagten vorliegenden Thatsachen vollkommen
schlüssig seien; ergiebt sich später die Unschuld des Verurteilten, so wird man
regelmäßig nachweisen können, daß es an dieser Schlüssigkeit von Anfang an
gefehlt hat. Anders bei der Verhaftung. Sie ist zunächst an die Voraussetzung
des „dringenden Verdachts" gebunden. Mit aller Logik läßt sich nicht bestimmen,
wo ein Verdacht anfange oder aufhöre dringend zu sein; die Entscheidung muß
dein verständigen Ermessen des Richters für den einzelnen Fall überlassen bleiben,
und ebenso verhält es sich im ganzen mit der Voraussetzung der Fluchtgefahr.
Nun aber ist der Richter A verständiger. als der Richter B, der Richter C
skrupulöser — „ängstlicher" nennen es die einen, „gewissenhafter" die andern —
als der Richter D; der eine Richter wird daher manchmal verhaften, wo der
andre, sei es mit Recht, weil er der verständigere oder der gewissenhaftere, oder
auch mit Unrecht, weil er der minder verständige und ängstlichere ist, von diesem
Schritt Umgang nehmen würde. Eine Haft, die der verstündige und gewissen¬
hafte Richter nicht verfügt hätte, wird regelmäßig eine ungerechtfertigte, wird
ein Fehler, wird dem sie verfügenden Richter zur Schuld, wenn auch nur zur
leichten Schuld zuzurechnen sein. Dieser Erwägung wäre durch eine entsprechende
Erweiterung des § 70 des Reichs-Gerichtsverfassuugsgesetzcs Rechnung zu tragen;
es wäre zu bestimmen, daß über Entschädigungsansprüche wegen ungerecht er¬
littener Untersuchungshaft ohne Rücksicht auf den Streitwert stets Kollegial¬
gerichte zu entscheiden haben.
Wir verlangen die Zulassung des Entschädigungsanspruches wegen jeder
Schuld des Beamten; diese Zulassung ist ungefährlich, denn der geriebene Ver¬
brecher, der sich mit Schlauheit, aber auch mit Mühe der Verurteilung ent¬
zogen hat, wird von vornherein wenig Neigung haben, den Ersatzanspruch geltend
zu machen, und wenn er ihn geltend macht, wird der darüber erkennende Richter
nicht leichthin eine Schuld des Untersuchungsrichters oder Staatsanwalts be¬
jahen. Andrerseits aber ist die Zulassung notwendig wegen der Unmöglichkeit
einer strengen Scheidung von grobem und leichtem Verschulden; es giebt viele
Fälle der Verhängung und noch vielmehr Fälle der Fortdauer der Unter¬
suchungshaft, wo ein verständiger und gewissenhafter Richter garnicht anders
kann, als ein Verschulden bei der Verbürgung oder bei der langen Dauer der
Haft zu bejahen. Ob aber das Verschulden als ein schweres oder als ein
leichtes zu bezeichnen sei, kann sehr schwer zu entscheiden sein. Würde man nun
den Entschädigungsauspruch nur bei schwerem Verschulden zulassen, so würde
die Klage meistens erfolglos bleiben. Wäre sie auch zunächst formell gegen
den Staat gerichtet, der wirkliche Beklagte, weil im Fall der Verurteilung des
Staates stets regreßpflichtig, wäre der schuldige Beamte, und gegen diesen wäre
ungefähr so selten eine Verurteilung zu erwirken, wie es jetzt bei der Syndikats¬
klage der Fall ist. Der einzelne Beschädigte schon wird sich besinnen, gegen
einen Richter oder Staatsanwalt klagend aufzutreten; die am Orte des Delikts
niedergelassenen Anwälte werden auch keine besondre Lust zu solchen Prozessen
haben, die leicht den Schein persönlicher Gehässigkeit erregen; der Justizver¬
waltung des Staates endlich kann es nur angenehm sein, wenn dergleichen
Prozesse erfolglos bleiben. Ganz anders, wenn der Entschädigungsanspruch auch
wegen leichten Verschuldens des die Haft verfügenden Beamten statthaft ist.
Den unpersönlichen Fiskus zu belangen wird weder der Beschädigte selbst noch
ein Anwalt Bedenken tragen, das Gehässige des Vorwurfes einer grob-fahr¬
lässigen Pflichtverletzung füllt weg, und was wir nicht am geringsten anschlagen
wollen, die Möglichkeit der Klage wegen oulxa Isvis einerseits und des Re¬
gresses des Staates wegen oulxa latg. andrerseits wird als ein mächtiger An¬
trieb zur Vorsicht bei der Verhängung und bei der Verlängerung der Unter¬
suchungshaft wirken. Allerdings ist bei dem Prozeß des Beschädigtem gegen
den Fiskus der schuldige Beamte nicht notwendig beteiligt, aber wenn der
Fiskus einmal einem Kläger, den der Untersuchungsrichter ein halbes Jahr hat
sitzen lassen, in der Hoffnung, daß er mürbe werden und gestehen werde, oder
in dessen Fall der Staatsanwalt ein halbes Jahr lang vergessen hat,, einen
Anklage- oder einen Einstellungsbeschluß zu beantragen, wenn der Fiskus einem
solchen Kläger für den Tag auch nur zwei oder drei Mark hat zahlen müssen,
wird die Dienstaufsichtsbehörde doch geneigt sein, zu untersuchen, ob der be¬
treffende Beamte nicht einer groben Nachlässigkeit sich schuldig gemacht hat, und
die Aussicht auf die Unannehmlichkeit einer in solchem Falle wohl unausbleib-
liehen Regreßklage wird das Pflichtgefühl der mit der Haft befaßten Beamten
sehr wesentlich steigern.
Die der Resolution des Juristentages beigefügte Einschränkung, der ganz
dieselben Bedenken entgegenstehen wie der Einschränkung des Entschädigungs¬
auspruchs des im wiederaufgenommenen Verfahren Freigesprochenen, erscheint bei
unserm Borschlag durchaus entbehrlich; auch beschränkt sich dieser nicht auf die
vom Juristentage hervorgehobenen Fülle der Freisprechung oder der Einstellung
des Verfahrens, er kann vielmehr auch auf Fälle der Verurteilung Anwendung
finden, wo mit der Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Strafe nicht ge¬
holfen ist, wenn nämlich die Dauer der ungerechtfertigten Haft die Dauer der
erkannten Strafe übersteigt. Nach seinen beiden Richtungen formulirt geht aber
unser Vorschlag dahin:
1. Ist infolge der Wiederaufnahme des Verfahrens zu Gunsten des Ver¬
urteilten Freisprechung erfolgt, so hat der Freigesprochene gegen die Staatskasse
Anspruch auf Ersatz des aus der Strafverbüßung ihm erwachsenen Schadens,
ausgenommen, wenn die Verurteilung ohne jedes Verschulden des erkennenden
Richters erfolgt ist.
2. Ist die Untersuchungshaft verhängt oder die verhängte Haft verlängert
worden, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen der Verhaftung von Anfang an
nicht vorhanden waren oder im Verlauf des Verfahrens weggefallen sind, so
steht dem Verhafteten wegen der unrechtmäßig verhängten oder verlängerten
Haft ein Anspruch auf Schadenersatz gegen die Staatskasse zu, vorbehaltlich
des Rückgriffs der letztern auf den Beamten, der in grober Fahrlässigkeit die
Haft verhängt oder deren Fortdauer veranlaßt hat.
eilige Menschen nur sind es, an deren innerer Entwicklung das
deutsche Volk so innigen Anteil nimmt, deren Charakter gründlich
zu kennen ihm von so bedeutendem Interesse erscheint, wie dies
bei Goethe der Fall ist. Es ist nicht wahr, daß wir ihn alle
nur als Dichter und besonders als lyrischen Dichter hochschätzen;
nein, wer sich in seine Werke hineingelesen hat, wer seiner geistigen Entwick¬
lung, seinem Lebensgang, seinen Kämpfen, Freuden und Leiden gefolgt ist, der
kennt ihn als Vater der Weisheit, als Quelle des Trostes und der edelsten
Freude in trüben Stunden, als Führer in vielen Kämpfen der Seele, ja sogar
als vortrefflichen Ratgeber in wissenschaftlichen Problemen. Daher ist uns
daran gelegen, daß sein Bild immer reiner und freier von den Schlacken, welche
die Zeitgenossen daran heften mochten, durch die historische Forschung hervor¬
trete. Wir können es wohl ertragen, wenn ihm hie und da in wissenschaft¬
lichen Fachstudien Irrtümer nachgewiesen werden — es irrt der Mensch, so
lang er strebt; aber wir empfinden es schmerzlich, wenn ihm auf irgend einem
Gebiete, auf dem er ernstlich strebend uno forschend thätig war, der Mangel
bestimmter geistiger Fähigkeiten oder eine prinzipiell verkehrte Richtung vor¬
geworfen wird.
Vielleicht ist gerade diese Empfindung der Goetheverehrer und -Freunde
bei den oft gehörten Angriffen der Naturforscher auf dessen wissenschaftliche
Arbeiten ein mitwirkendes Motiv gewesen, um nach einander Virchow, Helm-
holtz und zuletzt Dubois-Reymond zu bestimmen, ihr Urteil über Goethes
Leistungen in der Naturwissenschaft abzugeben. Sie haben freilich die unbehag¬
liche Empfindung zum Teil nur gesteigert und sich bemüht, ihren eignen, ganz
andern prinzipiellen Standpunkt in ein möglichst günstiges Licht zu setzen. Helm-
holtz (s. dessen populär-wissenschaftlichen Vorträge, 1866) giebt zunächst die
bahnbrechenden Verdienste Goethes um die beschreibenden Naturwissenschaften
zu, besonders in der Botanik und in der vergleichenden Anatomie, meint aber,
in der physikalischen Wissenschaft der Optik sei es ihm nicht möglich geworden,
den richtigen Standpunkt zu erreichen. Er sucht sich diese sonderbare Thatsache
so zurechtzulegen: Goethe war ein Dichter, d. i. ein Künstler, dessen hervor¬
ragende Begabung darin bestand, Ideen, die er konzipirte, in schöner Form zu
gestalten. So stand er der Natur wie einem Kunstwerk gegenüber, welches er
als die sinnliche Erscheinung einer Idee betrachtete. Dieser Idee, diesem gei¬
stigen Gehalt der Naturerscheinung suchte er in seinen Gedanken sich zu nähern,
und dadurch konnte er in den beschreibenden Naturwissenschaften Gesetze der
Formenbildung entdecken, welche doch eigentlich, genau besehen, keine brauchbaren
Naturgesetze waren, denn er kümmerte sich dabei garnicht um den Mechanismus
der Materie. Dieser später oft wiederholte Vorwurf taucht hier, wie es scheint,
zum erstenmale auf. Der Goethische Ausspruch, daß man die verschiedenen
Formen der Blätter, Knospen und Blüten einer Pflanze als aus der Wieder¬
holung und Umbildung gleichartiger Gebilde hervorgegangen betrachten könne,
verwandelt sich in der für Helmholtz allein richtigen Sprache der mechanischen
Naturforscher in einen Satz wie etwa: „Die Blütentcile wie die Blätter sind
seitliche Anhänge der Pflanzeuachse," und um das zu sehen, brauchte freilich
kein Goethe zu kommen. Goethe, als einem Dichter, sagt Helmholtz, war es
nur um den schönen Schein zu thun, nicht um die wirkliche Erklärung der Er¬
scheinung aus mechanischen Ursachen. Darum konnte er auch nicht die New-
tonsche Farbentheorie begreifen, denn es kam ihm von vornherein völlig absurd
Vor, daß man die Phänomene des Lichts und der Farben zerlegen und zu¬
sammensetzen, reinigen und mischen könne fast so gut wie chemische Substanzen,
wie doch die Physiker es alle Tage wirklich zu thun behaupten, und auch
Goethen des öftern vordemonstrirt haben. Er blieb bei seiner Behauptung,
daß sich das helle Weiß niemals ans dunklern Farben zusammensetzen lasse,
daß die Farben des Spektrums nur an den Rändern weißer Bilder durch Ver¬
mischung von Weiß mit dem dunkeln Grunde, daß überhaupt alle Farben durch
verschiedne Verbindungen von Weiß und Schwarz und verschiedne Trübungen
des reinen Lichtes entstünden, kurz, er wollte durchaus nicht den Mechanismus
der feinen Lichtmaterie und ihrer Zusammensetzung aus verschiedenfarbigen
Strahlen begreifen. So empfindet denn Helmholtz von seinem Standpunkt aus
mit Recht „ein unbehagliches, ängstliches Gefühl," bei einem so hervorragenden
Manne gar keine Fähigkeit finden zu können, so einfache mechanische Theorien
zu begreifen. Die leidenschaftliche Polemik, in die Goethe zuweilen gegen die
physikalischen Optiker geraten ist, dient ihm zum Beleg, daß hier doch ein ganz
wesentlicher Mangel in Goethes wissenschaftlichem Denken gewesen sein müsse,
etwa nach dem eignen Worte Goethes:
Noch spukt der Babylonische Thurm,
Sie sind nicht zu vereinen;
Ein jeder Mann hat seinen Wurm,
Kopernikus den seinen.
„Wir können, sagt Helmholtz, den Mechanismus der Materie nicht dadurch
besiegen, daß wir ihn wegleugnen, sondern mir dadurch, daß wir ihn den Zwecken
des sittlichen Geistes unterwerfen. Wir müssen seine Hebel und Stricke kennen
lernen, wenn es auch die dichterische Naturbetrachtung stören sollte, um sie
nach unserm eignen Willen regieren zu können, und darin liegt die große Be¬
deutung der physikalischen Forschung für die Kultur des Menschengeschlechts
und ihre volle Berechtigung begründet." Nimmt man i» diesem Satze anstatt
des schönklingenden Wortes „sittlichen Geistes" den einzig passenden Ausdruck:
praktischen Willen des Menschen, die Natur seinen Zwecken dienstbar zu machen,
so tritt uns überraschend deutlich der echte Schüler Bacos und der ganzen eng¬
lischen empiristischen Schule entgegen, zu der sich freilich Goethe nicht so rück¬
sichtslos bekannte. Praktische Erfolge im Kampf des Menschen, um die Herr¬
schaft über die Natur zu gewinnen, das ist nach dieser Anschauung das Ziel der
Wissenschaft, welches ihr allein Bedeutung für die menschliche Kultur und volle
Berechtigung verleiht. So hatte Lord Bacon gepredigt, als er für seine
Landsleute das Mona, orZauvn verfaßte und den Glauben an die mittel¬
alterliche Gelehrsamkeit und die Macht der aristotelischen Logik zertrümmerte.
Durch Wissen und Kenntnisse Macht, Einfluß und Reichtum zu gewinnen, ja
die ganze Welt zu unterwerfen, das war das Ziel, welches Baco vor England
aufstellte.
Freilich hat schon kurze Zeit nachher Hobbes mit unerbittlicher Schärfe
nachgewiesen, daß diese Prinzipien, wenn man sie als die einzig echten Prin¬
zipien der Wissenschaft proklamirt, nicht stille stehen bleiben bei der Zerstörung
der Autorität der Griechen und der mittelalterlichen Scholaster, wie Bacon es
aus praktischen Gründen gewünscht hatte, sondern daß sie notwendig auch die
Autorität derjenigen Gesetze zerstören müssen, welche die Ordnung des Staates
und der Gesellschaft aufrechterhalten. Mit nnwidersprechlicher Konsequenz müssen
sie zu den Prinzipien der Revolution fortschreiten, und es bleibt für die Auf¬
rechterhaltung der menschlichen Gesellschaftsordnung kein andres Mittel, als daß
der Staat als allverschliugeuder Leviathan mit tyrannischer Gewalt und eiserner
Fuchtel die Freiheit einschränkt und unterdrückt. (Vergl. Kuno Fischers Baco
von Verulam.) Diese Anschauungen sind ohne Zweifel noch bis auf den heutigen
Tag für die Entwicklung der politischen Verhältnisse und Anschauungen in Eng¬
land maßgebend gewesen. Aus ihnen entspringt die Theorie von dem feindlichen
Gegensatz der Interessen der Negierung und der Gesellschaft, die sich so schwer
und hoffentlich garnicht bei uns einbürgern will, weil die Entwicklung Deutsch¬
lands einen ganz andern Gang genommen hat als die Englands.
Vielleicht war eben die Stellung Goethes im praktischen Leben als Staats¬
mann in einem Kreise, der doch nicht ganz so unbedeutend war, wie man ge¬
wöhnlich annimmt, eine mitwirkende Ursache, daß er die Wissenschaft nicht allein
um der praktischen Erfolge willen, sondern in erster Linie als einen Weg zur
Erkenntnis der Wahrheit mit völliger Gleichgiltigkeit gegen praktische Erfolge
betrachtete. Als Staatsmann war er selbstverständlich auch nicht blind gegen
solche Erfolge, die sich aus der wissenschaftlichen Forschung ergaben — dafür
legt seine Verwaltung des Bergbaus bestimmtes Zeugnis ab; aber er hielt die
Prinzipien der Wissenschaft stets rein und hoch über den Interessen des prak¬
tischen Lebens. Wie das in der Farbenlehre sich geltend macht, darauf werden
wir später noch zurückkommen.
Vor dem Richterstuhle Virchows (Goethe als Naturforscher, 1861) be¬
steht der Dichter Goethe bedeutend besser als bei Helmholtz. Virchow, der
große Kenner organischer Formen, der selbst eine gewisse dichterische Erfindungs¬
gabe brauchte, um die Idee der organischen Einheit in der Zelle zu finden,
wurde durch Goethes Betrachtungsweise der organischen Natur sympathisch be¬
rührt. Er rühmt ihn als den „selbständigen Mitbegründer jener Methode,
welche man die genetische genannt hat, einer Methode, welche in ihrer An¬
wendung auf die Entwicklungsgeschichte schon vor ihm durch Caspar Friedrich
Wolf geübt worden war, welche jedoch durch Goethe eine ungeahnte Ausdehnung
und eine allgemeine Anerkennung erlangt hat, und welche schon durch ihn sogar
auf die Deutung pathologischer Dinge angewendet wurde." Auf die optischen
Studien ging Virchow nicht genauer ein, sondern verwies damit Goethe an
das Urteil von Helmholtz. Er selber aber brauchte die genetische Methode als
Hauptstütze und Hebel seiner Zellentheorie und ging darin sogar soweit, daß er
ihr die Hauptursache für die Fortschritte der Naturwissenschaften in diesem
Jahrhundert zuschreibt. (Vergl. seine Rede auf der Naturforscherversammlung
in Rostock.) Er sagt sogar von Goethes Untersuchungen über die Zusammen¬
setzung der Pflanzen aus gleichartigen Teilen, von denen jeder eine Art Indi¬
viduum für sich bildet, daß Goethe wohl herangetreten sei an das Geheimnis
der organischen Individualität, ihm aber nicht vergönnt gewesen sei, es zu
entschleiern, „da das Mikroskop erst nach ihm die Wunder des Zellenlebens
enthüllt hat."
Die genetische Methode sucht die organischen Formen durch ihre Entwick¬
lung aus andern Formen, von denen die erstem abstammen sollen, zu erklären,
ohne sich dabei sonderlich um den Mechanismus der Materie zu kümmern,
ohne viel nach den mechanischen Kräften zu fragen, durch welche die Entwicklung
zustande kommt, und dadurch ist offenbar die nahe Verwandtschaft zwischen
dieser Methode und der Betrachtungsweise Goethes gegenüber der organischen
Natur gegeben. Die Verschiedenheit tritt erst dann ein, wenn Virchow die
Methode auf die Zellen anwendete, die Schwann als die kleinsten Formelemente
der pflanzlichen und tierischen Gewebe erkannt hatte, wenn er diese zu unteil¬
baren Einheiten erhebt, die uns erst das Geheimnis organischer Individualität
entschleiern. Wenn Goethe von dem großen Geheimnis in der Natur spricht,
so bezeichnet er damit etwas, wofür der menschliche Verstand überhaupt unzu¬
länglich ist und bleibt, um es kurz zu sagen, die Gedanken des Schöpfers, die
bestimmende Macht, welche die Materie benutzt, um sinnvoll konstruirte Indi¬
viduen entstehen zu lassen, jenen über aller Erscheinung als deren notwendige
Voraussetzung zu fordernden Urgrund der Natur, den wir uns nicht als von
der Materie abhängig denken können, weil unser Verstand die Materie nur als
Erscheinung begreift und schlechterdings nicht verstehen kann, wie aus mecha¬
nischen Gesetzen ein Organismus entstehen soll, d. h. ein nach einem zusammen¬
hängenden Plan zweckmäßig konstruirtes Individuum, dessen einzelne Teile alle
dem Ganzen untergeordnet sind. Goethe ließ dies Geheimnis ruhig bestehen
und wußte sich darin völlig einig mit Kant. Er kämpfte nur, ebenso wie dieser,
gegen eine bornirte teleologische Naturauffassung, welche den Schöpfer der Welt
alles zum Nutzen der Menschen einrichten ließ. Diese Richtung, die freilich
immer noch nicht ganz ausgestorben ist, war schon von ältern Philosophen, wie
Hume, verspottet worden, und Goethe war gewiß ihr populärster Gegner, da
Kant "doch immer nur von wenigen gelesen und von noch weniger» verstanden
wurde. Wenn also Virchow in den Wundern der Zellenwelt und Haeckel in
den Konsequenzen des Darwinismus das große Geheimnis entschleiert sehen, so
hat das nichts mit Goethes Denkart zu thun, obwohl ihn beide für sich ins
Gefecht führen. Goethe behauptete, daß jedes Individuum für sich selbst eine»
Zweck erfülle, den man wohl aus der Anlage der Teile und ihrer Verbindung
zu einem Ganzen annähernd erschließen, nachdenken oder „nachstammeln" könne,
daß es aber thöricht sei, diesen innern Zweck mit dem äußern Nutzen zu ver¬
wechseln, den eine Pflanze oder ein Tier dem andern Tiere oder dem Menschen
bringe. Virchow behauptet, daß auch jede Zelle, die zum Bau der Pflanze
oder des tierischen Leibes dient, ein solches selbständiges Individuum sei. Und
doch ist das Verhältnis des organischen Formelementes zur organischen Form
des Ganzen genau dasselbe, wie das eines Mauersteins zum architektonischen Ge¬
bäude. Die Idee des Architekten wird uns nicht durch das Studium der Ele¬
mente des Baues begreiflich. Die Zelle hat gar keine selbständige Bedeutung
und erfüllt durchaus keinen andern Zweck, als im Dienste des Mechanismus
zu stehen, der die Form des Ganzen zustande kommen läßt. Dadurch sollen
die Verdienste Virchows um die medizinische Wissenschaft nicht geschmälert werden,
aber es soll doch angedeutet sein, daß dieselben sicher nicht aus seiner Überein¬
stimmung mit Goethe zu folgern sind.
Am schlimmsten wird Goethe von Dubois-Reymond behandelt in seiner
Berliner Rektoratsantrittsrede vom 15. Oktober 1882, die er unter dem Titel
„Goethe und kein Ende" veröffentlicht hat. Sei es, daß Haeckel durch die un¬
ablässig wiederholten Berufungen auf Goethes morphologische Anschauungen,
sei es, daß Herman Grimm durch seine überzeugende Darstellung von Goethes
Verdiensten um die Naturwissenschaft in seinen Vorlesungen (1877), oder sei es,
daß ein alter Ingrimm des mechanischen Naturforschers gegen den Vertreter
einer subjektiven Farbenlehre ihn nicht ruhen ließen, genug, der berühmte Ber¬
liner Professor hielt es für angemessen, einmal gründlich ein Ende zu macheu
mit dem thörichten Wahn, als ob die Naturwissenschaft nicht auch ohne Goethes
Beteiligung gerade so weit gekommen wäre, wie sie jetzt ist, und zu zeigen, daß mehr,
als was seine einzelnen Erfolge auf morphologischen Gebiete genützt haben, die
falsche Richtung geschadet habe, „welche er der damals durch die sogenannte
Naturphilosophie schon hinlänglich bethörten deutschen Wissenschaft einprägte."
Wenn wir die unglaublich philisterhafte Beurteilung des Faust im Anfang des¬
selben Vortrags, der „besser gethan hätte, statt an Hof zu gehen, ungedecktes
Papiergeld auszugeben und zu den Müttern in die vierte Dimension zu steige»,
Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen und Elektrisirmaschine und
Luftpumpe zu erfinden," zusammenhalten mit der Beurteilung der Farbenlehre,
so ist das Resultat ungefähr dahin zusammenzufassen, daß es schade sei, daß
dieser Schuster nicht bei seinem Leisten geblieben. Er hatte ja einen so deut¬
lich vorgezeichneten Beruf als großer Dichter, wobei er sich ja auch hinreichend
ernähren konnte, warum mußte er sich noch in Dinge mischen, die er garnicht
verstand, und für die er gar kein Talent hatte? Es fehlte ihm der Begriff der
mechanischen Kausalität, sagt der Professor, darum war er als Tragödiendichter
nicht besonders geschickt in der künstlichen Verschlingung dramatisch spannender
Motive, darum hatte er als Naturforscher eine unberechtigte Abneigung gegen
Experimente und künstliche Instrumente; er blieb gern haften an der Betrachtung
der Oberfläche, während der echte Forscher alle Hebel und Schrauben ansetzt,
um den Mechanismus, durch den der schöne Schein entstanden ist, zu begreifen.
Die mechanische Kausalität kann nun freilich nichts andres heißen, als die An¬
wendung der Begriffe von Ursache und Wirkung auf die Materie, die nach
mechanischen Gesetzen sich verändert. Hat jemand nicht die Fähigkeit, diese Be¬
griffe auf einen Gegenstand seiner Betrachtung anzuwenden, so muß er in der
Ausübung seiner Verstandesfunktionen ganz erheblich beschränkt sein, sei es durch
einen Bildungsfehler oder eine Krankheit seines Gehirns; denn Ursache und
Wirkung gehören zu den Stammbegriffen oder kategorialen Funktionen. Doch
war dieser Teil der transzendentalen Logik dem berühmten Professor jedenfalls
unbekannt, sonst würde er sich wohl etwas besonnen haben, ehe er Goethe dem
deutschen Volke als Idioten denunzirte.
So kommen wir denn auf ein wunderliches Verhältnis Goethes zu den
Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft. Das, wofür er am meisten gepriesen
wird, hat er in der That garnicht besessen, und das, wofür er am meisten ge¬
tadelt wird, die Farbenlehre, war das, worauf er selbst am meisten Gewicht
legte, und womit er sich so intensiv beschäftigt hatte, so daß er sogar ein Lehrbuch
und eine Geschichte derselben verfaßte. Seine Bestrebungen in der organischen
Formenlehre gingen im wesentlichen dahin, für die Gedanken der alles er¬
zeugenden schöpferischen Klaft — sagen wir kurz des Schöpfers — Gesetze zu
finden. Wenn er auf diesem Gebiete Erfolge errang, die selbst die spezia-
listischen Fachmänner durchaus befriedigt haben, wenn er selber durch seine Be¬
mühungen sich einen weiten Überblick und eine herrliche Beobachtungsfertigkeit
im Einzelnen erwarb, so ist es doch viel zu kühn zu behaupten, daß die weitere
Konsequenz dieser Bestrebungen zu Virchows Zellenthcorie oder gar zu Haeckels
Monismus geführt hätte, von dem in diesen Blättern jüngst schon die Rede
gewesen. Der erneuerte Vitalismus, den Virchow in der Zcllentheorie kultivirt,
würde Goethen ebenso unverständlich geblieben sein, wie heute denjenigen Schülern
der Wissenschaft, die mit Kant und Goethe innig vertraut sind. Zur Erklärung
der Lebeusprozesse im Körper eine Lebenskraft gegenüber dem Mechanismus
der Materie aufzustellen, und wäre es auch nur in der einzelnen Zelle, ist schon
seit Kant und dann wieder seit Lotzes ersten Arbeiten für prinzipiell falsch er¬
kannt. Damit sollen nicht die großartigen äußern Erfolge, welche die Zellen¬
theorie gehabt hat, geleugnet werden, aber es ließe sich doch ein großes, weit
über den hier zugemessenen Raum gehendes Kapitel schreiben, wenn man die
hemmenden und nachteiligrn Wirkungen der Zellentheorie mit den Vorteilen
derselben vergleichen wollte. Man könnte den Vorwurf erheben, daß der Be¬
griff der mechanischen Kausalität wenigstens nicht hinreichend zur Anwendung
gekommen sei; denn die Zellentheorie will Lebenserscheinungen erklären, ohne
auf den Mechanismus der Materie hinreichend Rücksicht zu nehmen. Goethe
hat auf diesen Mechanismus sich nur oberflächlich und andeutungsweise ein¬
gelassen, weil er es nicht nötig hatte, sich mit Dingen zu befassen, für die er
keine besondre Anlage und Neigung in sich spürte. Die Prozesse im lebendigen
Körper, soweit sie überhaupt mechanisch erklärbar sind, machte er nicht zum
Hauptgegenstande seiner Studien. Hätte er es gethan, so würde er sicher den
prinzipiellen Irrtum der Lebenskraft vermieden haben, insofern man sie im
Gegensatz zum Mechanismus der Materie denkt. Noch viel weniger aber würde
Goethe im Haeckelismus seine eignen Gedanken wiedererkennen. Das Bemühen,
den schöpferischen Gedanken aus der Schöpfung wegzuerklären, würde ihm so
absurd erschienen sein, wie nur je die Newtonsche Farbentheorie.
Und so kommen wir zu der Hauptfrage, die noch nirgends befriedigend
gelöst ist, zu der Frage, warum sich Goethe und die Physiker von Fach in der
Farbenlehre nicht verständigen konnten. Goethe versichert zwar, daß er die
Fachgelehrten sehr wohl verstanden habe, da es ihm gerade als Dichter leicht
sei, sich in die verschiedensten Denk- und Anschauungsweisen andrer hineinzuver¬
setzen. Er klagt nur über Mangel an Verständnis aus der andern Seite, und
da derselbe immerfort andauert, so gerät er allmählich in eine höchst feindselige
Stimmung gegen den einseitigen, von Vorurteilen beengten Zopf- und Zunft¬
geist der Fachgelehrten. Gelegentlich hat er dann mit zornigen, witzsprühenden
Worten wuchtige Hiebe auf die Gegner ausgeteilt. Von allen größern Natur¬
forscher», die bis in unsre Zeit hcreinragten, haben im Grunde nur zwei Physio¬
logen ganz unverholen ihre Anerkennung der Goethischen Farbenlehre aus¬
gesprochen; das waren Müller und der berühmte Böhme Purkinje. Von den
Physikern hat keiner jemals ein Wort der Anerkennung gefunden, es sei denn
für Goethes Beschreibung der subjektiven Farbenphänomene. Johannes Müller
hat schon in seinem ersten epochemachenden Werke das erklärende Wort ge¬
sprochen, durch welches die Goethische und die physikalische Theorie in das
richtige Verhältnis gesetzt wurden, es ist aber später wieder vergessen worden.
Er sagte, daß er sich nie habe befreunden können mit einer Lehre, welche das
Licht als etwas äußeres und von unsrer Empfindung unabhängiges betrachte;
jene physikalischen Theorien der Optiker betrafen nur die äußern Ursachen unsrer
Lichtempfindung, nicht das Licht selbst, welches er als eine Energie der Seh-
sinnsubstanz (der nervösen Substanz der Netzhaut und der Sehnerven) auffaßte.
Heutzutage ist Hering der einzige Professor der Physiologie gewesen, der es
gewagt hat, den Physikern wieder zu sagen, daß ihre Lichttheorie garnicht das
Licht, sondern nur diejenigen Bewegungen betreffe, welche in unsrer Netzhaut
Lichtempfindung hervorrufen. Freilich wissen das die Lehrer der Physiologie
alle ganz gut; in jedem Lehrbuch findet man wenigstens eine Stelle, in der
gesagt wird, daß sie von denjenigen Wellenbewegungen reden, welche bei ihrem
Auftreffen auf die Netzhaut Lichtempfindung erregen, aber das hat nun nicht
etwa die Folge, daß man den Gegenstand der Empfindung und die physikalische
Ursache derselben als etwa vollständig Heterogenes und Unvergleichbares be¬
trachtet, sondern die, daß man trotz bessern Wissens beständig beide miteinander
identifizirt. Die Menschen sind übereingekommen, sagt Helmholtz, diejenigen Äther¬
wellen, welche bei ihrem Auftreffen auf die Netzhaut Lichtempfindung erregen,
Licht zu nennen, eine Bezeichnung, welche eigentlich nur der Empfindung zu¬
kommen sollte. Und doch wußten die Menschen, welche zuerst den Ausdruck
Licht gebrauchten, ganz bestimmt noch nichts von Ätherwellen. Es scheint, als
wenn die berühmten Physiologen und Physiker besonders leicht sich selbst und
ihre nähern Fachgenossen mit der ganzen Menschheit identifizirten. Sagt doch
auch Dubois-Reymond^ wie er in seinem Vortrage Faust für thöricht erklärt,
weil er sich am Erkennen der Wahrheit verzweifelnd das Leben nehmen wolle:
„In keines Menschen Brust ist der Wissensdrang heftiger als die jedem Leben¬
digen eingeborne Lust zu leben." Zu dieser Behauptung mußte er freilich
kommen, weil er Faust vorher als einen Professor und Kollegen bezeichnet hatte,
für die dieser Satz gelten mag. Bei Menschen aber, die eine Rangstufe tiefer
stehen, z. B schon bei Privatdozenten, sind dem widersprechende Beobachtungen
gemacht worden. Und so giebt es zweifellos auch sehr viele Menschen, die keine
Ahnung davon haben, daß gewisse feinste Wellenschwingungen eines hypo¬
thetischen Äthers eben dasselbe sind, was sie Licht und Farbe nennen.
Nun verweist man freilich ans die großartigen Erfolge, welche die Annahme
gehabt habe, daß das Licht aus Ätherwellen bestehe. Der Gang der Licht¬
strahlen, die Brechung, die Zerlegung und Zerstreuung, die Reflexion und Inter¬
ferenz, die Vergrößerung und Verkleinerung der Bilder, die herrlichsten optischen
Instrumente von der allergrößten Bedeutung für die Naturwissenschaften, alles
läßt sich nach dieser Annahme erklären und mit der mathematischen Berechnung
in Übereinstimmung bringen. Kein Zweifel, daß diese ganze Richtung eminente
Erfolge gehabt hat. Aber wenn man anstatt der Annahme, Licht bestehe aus
Ätherwellen, bei dem bekannten Grundsatz stehen geblieben wäre, daß die feinsten
Schwingungen irgend eines Mediums nur die Ursache der Lichtempfindung seien,
so würde an jenen Erfolgen nicht das geringste anders ausgefallen sein, nur
daß man zuweilen etwas weitläufiger im sprachlichen Ausdruck hätte werden
müssen. Die optischen Gesetze sind alle nach mechanischen Prinzipien begreiflich.
Das ist aber der Grund, weshalb sie nicht ohne weiteres Gesetze der Empfindung
sind, von denen Goethe allein geredet hat.
An diesem Punkte, in dem Zusammenhang der physikalischen Wellenbewegung
mit der Empfindung, tritt der sonderbare und noch sehr wenigen hinlänglich bekannte
Umstand ein, daß dieselbe Theorie, die auf dem mechanischen Gebiete so enorme Er¬
folge hatte, gar nicht weiter vorwärts kommen kann in der Theorie der Empfindung,
trotz aller Bemühungen der scharfsinnigsten Physiologen. Jene Erfolge waren ja
nur errungen worden, weil es sich dabei um rein mechanische Prinzipien gehan¬
delt hatte. Dabei durfte man ungestraft Licht und Farbe und farbige Strahlen
sagen anstatt Wellenbewegungen, welche je nach Qualität und Quantität diese
oder jene Farbenempfindung hervorrufen. Denn in sehr vielen Fällen gilt am
Ende der Satz, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, besonders wenn
es sich um Experimente handelt, deren Bedingungen man selber nach Belieben
regeln kann. Aber sowie man mit Bedingungen zu thun hat, die man nicht
selbst anordnen kann, so trifft man auch auf Ausnahmen von jenem Satze. So
rufen z. B. in den meisten Fällen die Schwingungen von ein und derselben
Länge dieselbe Farbenempfindung hervor. Hat man es aber zufällig mit dem
Auge eines Farbenblinden zu thun, so rufen dieselben Ätherwellen, die beim
normalen Auge die Empfindung Rot erzeugen, eine ganz andre, dem Normal¬
sehenden garnicht bekannte Empfindung hervor, die jedenfalls dem Grau ver¬
wandt ist. Ja auch im normalen Auge giebt es gewisse Bedingungen, unter
denen Lichtstrahlen, die sonst Grau hervorrufen, Farbenempfindung erzeugen,
die bekannten Erscheinungen des subjektiven Kontrastes. Wenn aber die Äther¬
wellen an sich Licht und Farben wären, so gäbe es für diese Erscheinungen gar
keine stichhaltige Erklärung.
Folgt man den Studien unsrer berühmtesten Physiologen weiter, sieht man,
wie sie sich abgemüht haben, auf Grund der physikalischen Theorie des Lichtes
die Gesichtsempfindung zu erklären, so muß man wirklich am Ende stehen bleiben
voll Bedauern darüber, daß alle diese Mühen nicht etwas befriedigendere Re¬
sultate ergeben haben. An der Spitze steht immer der rein materialistische
Grundsatz: Wir empfinden nicht die Gegenstände, die unsern Sinnen erscheinen,
sondern nur die Veränderungen in unsern Sinnesnerven, die durch den Reiz
von jenen Gegenständen aus hervorgerufen werden, und haben nur von dieser
Veränderung in den Sinnesnerven einen Schluß zu machen auf das Dasein
und die Gestalt jener Gegenstünde. Daß dieser Schluß von der Wirkung auf
die Ursache nur ganz zweifelhafte Resultate ergeben kann, geht aus der einfachen
logischen Betrachtung hervor, daß eine Wirkung recht wohl verschiedne Ursachen
haben kann. Und doch ist dies das große Resultat der Forschung, welches Helm-
holtz nicht müde wird zu wiederholen, daß die Gegenstände der Welt in Wahr¬
heit und Wirklichkeit uns niemals bekannt werden, daß wir nur Zeichen von ihnen
in unsern Sinnesnerven empfangen und diese durch Übung und Gewohnheit zu
deuten lernen müssen. Um diesen elenden Skeptizismus uns als Resultat der
Wissenschaft anzupreisen, hätte auch eine kleinere Kraft als Helmholtz ausgereicht.
Dabei hält man den Satz, daß wir nur die Veränderungen in unsern Nerven, aber
nicht die Gegenstände selbst, von denen sie herrühren, wahrnehmen, noch dazu
für so selbstverständlich, daß man ihn garnicht beweisen zu brauchen glaubt.
Und doch ist er nur ein Ausfluß des Materialismus, der die Nervenkraft für
die einzige Ursache aller geistigen Thätigkeit hält und von Gesetzen des
menschlichen Erkenntnisvermögens nichts weiß. Für den, der aber weiß, daß
der Fähigkeit des Menschen, zu empfinden, s. priori die Raumform beiwohnt,
Nun will ich nicht behaupten, daß Goethe in Kants Erkenntnistheorie voll¬
ständig geschult gewesen sei, man kann sogar aus seinen Tagebüchern nachweisen,
daß er die Kritik der reinen Vernunft nicht völlig verstanden hatte — aber
das ist ganz gewiß, daß er seine eignen Anschauungen in der Naturwissenschaft
stets konform mit den Kantischen hielt. Vom Wesen des Lichts zu reden, er¬
klärte er für bedenklich, der letzte Grund bleibe uns immer ein Geheimnis, man
müsse sich an die Beobachtung der Phänomene halten, d. h. der Veränderungen
des Lichts vom hellen durch das Reich der Farben zum dunkeln und umgekehrt.
Sein Standpunkt ist von vornherein dadurch gekennzeichnet, daß er das Licht
niemals als eine mechanischen Gesetzen folgende Materie auffaßt, sondern nur
als von uns Empfundenes, ohne nach den materiellen Ursachen desselben zu
fragen. Sein Ausgangspunkt für alle Farbenstudien war die gewaltige Wir¬
kung des Lichts und der Farben auf das menschliche Gemüt in Natur und
Kunst. Noch ehe er seine Beobachtungen in ein zusammenhängendes System
gebracht hatte, war ihm schon klar, daß Blau mit Schwarz verwandt sei und
Gelb mit Weiß in ihrer Wirkung auf unser Gemüt. Der entscheidende er¬
kenntnistheoretische Grund dafür ist erst in der jüngsten Zeit gebracht worden
(vgl. meine Abhandlung: Zur Psychologie der Farbenempfindung).
Keine Äußerung hat vielleicht Goethe so sehr in den Augen der Physiker
geschadet als die Worte des Faust:
Geheimnisvoll am lichten Tag
Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
Diese Worte sind ernst gemeint und bilden mit die Einleitung zu jener Stim¬
mung der Verzweiflung, die den Faust die Giftphiole in die Hand nehmen läßt.
Da sieht man, heißt es, wie wenig Goethe von der Bedeutung und Benutzung
der physikalischen Instrumente verstand, mit denen wir doch täglich den Schleier
der Natur aufheben und ihre Geheimnisse enträtseln. Man übersah nur, daß
die vorhergehenden Verse heißen:
Ihr Instrumente freilich spottet mein,
'
Mit Rad und Kämmen, Walz und Bügel.
Ich stand am Thor, ihr solltet Schlüssel sein;
Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.
Faust besaß eine Fülle von komplizirten physikalischen Instrumenten, und ob¬
wohl er mit ihrem Gebrauch vollständig vertraut war, erkannte er plötzlich, daß
sie ihm das Geheimnis, wonach er strebte, nicht erschließen würden. Das muß
denn doch wohl ein andres Geheimnis gewesen sein als ein solches, das durch
mechanische Mittel zu enträtseln ist. Und nun können wir den Gegensatz zwischen
Goethes Standpunkt in der Farbenlehre und dem der Physiker aufs allerschärfste
hinstellen. Goethe wußte konform mit Kant, daß die ganze Welt der sinnlichen
Wahrnehmung nichts ist ohne den Hintergrund des Geistes. Den Geist aber
in seinem Wesen zu erkennen, dazu reicht unser menschlicher Verstand nicht aus.
Die Welt durchforschen und erkennen wir als der Gottheit lebendiges Kleid,
die Gottheit selbst nicht. Alles Mechanische ist unserm Verständnis zugänglich,
der letzte Grund davon aber bleibt uns Geheimnis selbst am hellen lichten
Tage. Licht und Farben sind gar nichts ohne unsre Empfindung, diese aber ist
eine Thätigkeit des menschlichen Geistes, also bleibt es immer bedenklich, von
ihrem letzten Grunde und Wesen zu reden, einem Geheimnis, das man nicht
völlig entschleiern kann. Seine Erscheinung ist zu beobachten und zu be¬
schreiben, da es
soviel es strebt,
Verhaftet an den Körpern klebt;
Von Körpern strömt's, die Körper macht es schön,
Ein Körper hemmt's auf seinem Gange.
Die UrPhänomene sind die einfachsten Fälle, wo Finsternis und Licht so zu¬
sammenwirken, daß Farben erscheinen, aus ihnen lassen sich alle komplizirten
Fälle ableiten. Auf diesem Wege bekommen wir ein zusammenhängendes System
von Erscheinungen, welches uns die Wirkung der Farben aus das menschliche
Gemüt ohne Widersprüche erklärt und folglich für alle Kunstbetrachtung von
der größten Bedeutung sein muß.
Die Physiker dagegen schließen von vornherein den Geist ganz aus von
ihrer Betrachtung. Sie fragen zuerst nach dem Stoff des Lichtes und nach den
mechanischen Gesetzen, denen er unterworfen sei. Die feine Materie, die Newton
von der Sonne ausstrahlen ließ, mußte einer womöglich noch feinern Platz
machen, die in Wellenschwingungen erzittert. Immer wird das Licht als etwas
für sich bestehendes Materielles behandelt, mit dem man so umgehen könne wie
mit einer chemischen Mischung. Sieben Arten farbiger Strahlen setzen das
weiße Licht zusammen, lassen sich wieder aus demselben ausscheiden, reinigen
und verunreinigen, wie man will, und wenn es nun gilt, ihre Wahrnehmung
durch die Sinne und ihr Verhältnis zum menschlichen Gemüt zu erklären, so
ist man erstaunt, daß man gar keinen geeigneten Zugang zu demselben finden
kann. Wohl mühen sich die Schüler aller Orten, die Entwicklung des mensch¬
lichen Farbensinnes durch die Jahrtausende hindurch aus den mechanischen
Kräften der verschiedenfarbigen Lichtstrahlen nachzuweisen, die „Realität der
Farbenempfindungen" durch chemische Prozesse in der Netzhaut wahrscheinlich
zu machen, zu zeigen, daß farbige Strahlen materiell in die Netzhaut und damit
in die Empfindung übergehen; aber zum Unglück aller dieser Bemühungen
findet sich immer sehr bald, nachdem sie aufgetaucht sind, eine Fülle so wider-
sprechender Erfahrungen, daß man sie wieder aufgeben muß. So kommt man
denn zu dem Schlüsse, daß die Art und Weise, wie materielle Bewegungen in
den Geist übergehen oder Geist Produziren, uns niemals klar werden wird, und
daß wir beruhigt sagen können: Ixiwimmus se iWorMmus — ein unüber¬
trefflich passender Wahlspruch für philosophische Ignoranten! Weder davon,
daß diese Frage überhaupt falsch gestellt ist, noch davon, daß uns die von Kant
begründete transzendentale Methode zur Kenntnis der Gesetze des Denkens,
Erkennens und selbst des Gefühles führt, haben diese berühmten Herren eine
Ahnung.
Dem stolzen Verdikte Dubois-Reymonds, daß Goethes Farbenlehre längst
gerichtet sei, setzen wir die Behauptung entgegen, daß das Verständnis für
Goethes wissenschaftliche Verdienste bei den heutige» Koryphäen der Natur¬
wissenschaft mehr und mehr abgenommen hat, und zwar in dem Maße, als sie
sich der materialistischen Denkweise genähert haben. Will man nun unter den
entschieden ohne Verständnis einander gegenüberstehenden Parteien unparteiisch
entscheiden, wer Recht und wer Unrecht gehabt, so muß man zunächst sagen,
daß der Streit nur darum möglich war, weil beide, auf verschiednen philo¬
sophischen Anschauungen fußend, unter den Begriffen Licht und Farbe verschie¬
denes verstanden. Goethe war von seinem Standpunkte aus vollkommen im
Recht. Die Phänomene des Licht- und Farbenreiches waren für ihn nur den
Gesetzen und Eigentümlichkeiten unsrer Empfindung unterworfen, nicht mecha¬
nischen Gesetzen einer Lichtmaterie. Er sagte, daß Farbenempfindung nur ent¬
stehe, wenn Hell und Dunkel oder Weiß und Schwarz mit einander in Be¬
rührung kommen, die je nach den Umständen eine verschiedene Vermischung oder
Verbindung beider herbeiführe. So erklärte er die Abendröte und das Blau
des Himmels, und auch, vielleicht mit ein wenig Zwang, die Farben des Spek¬
trums, sowie überhaupt alle Dispersivnserscheinungen. Alle seine Erklärungen
gehen darauf hinaus, daß von diesen wenigen obersten UrPhänomenen alle andern
Licht- und Farbenerscheinungen im Zusammenhang als davon abgeleitet und
durch sie verständlich aufgefaßt werden müßten. Zu diesem Zwecke scheute er
niemals Mühe und Fleiß, weder in der Durchforschung der Literatur, noch in
der exaktesten Beobachtung zahlreicher Experimente. Alles, was von seiner
Scheu vor physikalischen Apparaten oder komplizirten Versuchen behauptet wird,
beruht auf bloßem Mißverständnis der angeführten Stellen aus dem Faust.
Seine zahlreichen Experimente sind musterhaft klar und nüchtern angestellt und
beschrieben, aber freilich immer nur zu dem Zwecke unternommen, um Gesetze
der Empfindung zu finden, nicht der Lichtmaterie.
Wie sehr Goethe diesen Standpunkt innehält, sieht man am deutlichsten
aus der entschiednen Art, in der er Schopenhauer desavouirt, als dieser
Goethes Farbenlehre in seiner plumpen Manier erläutert zu haben glaubte.
Goethe hatte gesagt: Wenn man durch ein Prisma ein weißes Viereck auf
schwarzem Grunde ansieht, so wird sein Bild seitlich verschoben. Dadurch ent¬
steht an den Grenzen desselben rechts und links ein Zusammenwirken von
Schwarz und Weiß, und daher die farbigen Ränder, einerseits blau-violett,
andrerseits rot-gelb. Schopenhauer führte dies Beispiel in materiellerm Sinne
aus, indem er sagte: An dem einen Rande spielt das Bild des weißen Vierecks,
indem es über den schwarzen Grund hinüber sich ausbreitet, die Rolle eines
trüben Mediums, welches bekanntlich wie der Rauch vor dem dunkeln Horizont,
von der Sonne beschienen, Blau hervorruft. An dem andern Rande bleibt das
weiße Bild unter dem schwarzen Grunde stecken,' oder dieser breitet sich darüber
aus (warum, ist nicht gesagt), und nun ist wieder das Rot-Gelb daraus zu er¬
klären, daß eine trübe Schicht vor einem hellen Hintergrunde liegt wie bei der
Abendröte. Diese Erläuterung seiner Theorie that Goethe sofort mit den Worten
ab: „Gut Gedachtes in fremden Adern wird sofort mit dir selber hadern";
worüber Schopenhauer sich allerdings stark ärgerte, aber doch nicht bekehrte.
Er hatte Goethe gegenüber dieselbe Naivetät wie Fichte Kant gegenüber. Beide
behaupteten ihren Meister besser zu verstehen als dieser sich selbst.
Wenn man sagt, die Goethischen UrPhänomene, wie durch trübe Mittel
zwischen dem Beobachter und dem Hintergründe Gelb und Rot und andrerseits
Blau entständen, seien durch Brückes Untersuchungen über die atmosphärischen
Einflüsse auf das Licht widerlegt, so ist das ein Irrtum, dessen selbst Brücke sich
niemals gerühmt hat. Es verdient natürlich volle Anerkennung, daß er die
physikalischen Ursachen zu den von Goethe beschriebenen Phänomenen nach¬
gewiesen hat, aber dadurch ist Goethes Beschreibung der Phänomene nicht wider¬
legt, sondern nur von physikalischer Seite fester begründet.
Ob Goethe auch Recht hatte mit seiner Polemik gegen die Physiker, ist
eine ganz andre Frage als die, ob er ein Recht hatte, seine Farbenlehre als
ein zusammenhängendes System von Beobachtungen aufzustellen. Wenn Helm-
holtz eine Auslese von leidenschaftlich gefärbten Äußerungen Goethes (bis zum
Unglaublichen unverschämt — barer Unsinn — fratzenhafte Erklärungsart —
höchlich bewundernswert für die Schüler auf der Laufbank — ich sehe wohl,
Lügen bedarf's und über die Maßen) zusammenstellte, um nachzuweisen, wie
er gegen Newton, diesen größten Denker in der Physik und Astronomie, ge¬
sündigt habe, so hat er damit allerdings erreicht, daß das deutsche Publikum
weit und breit überzeugt ist von Goethes illoyaler Kampfesweise in wissenschaft¬
lichen Sachen. Allein diese Darstellung ist ungerecht. In dem, was Goethe
selbst hat drucken lassen, in seiner eigentlich wissenschaftlichen Polemik gegen
Newton sind derartige Ausfälle nicht enthalten. Im Gegenteil sucht er die
großen Erfolge der Newtonschen Farbenlehre durch die Genialität und die geistige
überlegene Kraft des großen Denkers zu erklären, welche fortreißend und be¬
stimmend auf die Nachwelt wirken mußten. Wenn Goethe später nach jahr¬
zehntelangen vergeblichen Bemühungen, für seine Anschauungen bei den Phy-
sikern Verständnis zu finden, verbittert in Privatgesprächen mit intimen Freunden
wie Eckermann gelegentlich heftig wurde, so spricht das wohl dafür, daß er
leidenschaftlich auf seiner festen Überzeugung bestand, aber man darf es ihm nicht
so anrechnen, als wenn er auch im öffentlichen Kampfe sich nicht zu mäßigen
verstanden hätte. Einige Xenien sind vielleicht das bitterste, was er mit Absicht
in dieser Art veröffentlicht hat. Aber auch dabei muß man bedenken, daß er
ja keineswegs ganz im Unrecht war.
Er hatte völlig Recht in der Hauptsache, daß die Physiker das Licht und
die Farben materiell auffaßten, als etwas, was unabhängig von unsrer Em¬
pfindung in der Welt außer uns existire, und daß sie, wie wir nachgewiesen
haben, oft gegen besseres Wissen an dieser falschen Vorstellung festhielten. Er
hatte auch darin recht, daß in der Newtonschen Farbenlehre anfänglich mancher
Irrtum über erfahrungsmäßige Thatsachen wie über die Achromasie enthalten
war. Und niemand hat mit so eindringendem, vielseitigem Verständnis wie
Goethe auseinandergesetzt, daß eine Theorie mathematisch richtig und doch in
der Erfahrung falsch sein kann. Darum vergleicht er Newtons Lehre mit dem
astronomischen System von Tycho de Breche und trifft damit schlagend die
Emanationstheorie des Lichtes.
Daß ihm aber auch die Undulationstheorie zu materiell erschien und er
überhaupt garnichts gutes an den physikalischen Lehren übrig lassen wollte,
darin ging er ein wenig zu weit. Es fiel ihm nicht ein, daß man ein Be¬
dürfnis haben könne, die Möglichkeit der Raumanschauung zu erklären. Konform
mit Kant, wie er sich ohne detaillirte Kenntnis desselben hielt, fand er nichts
unbegreifliches in der Fähigkeit des Geistes, Gegenstände im Raum unmittelbar
wahrzunehmen. Daß dazu erst eine physikalische Verbindung zwischen den
Gegenständen und dem Auge stattfinden müsse, wollte er eben deswegen nicht
anerkennen, weil ihm diese Verbindung bestandig in Form von Hypothesen über
ein materielles Licht entgegengebracht wurde. Daß Lichtstrahlen, von den
Körpern ausgehend oder zurückgeworfen, ins Auge gelangen, von der Netzhaut
aufgenommen, durch den Sehnerv weiter befördert werden sollen, um im Gehirn
mit den Geistesfähigkeiten in Verbindung zu treten, hatte keinen Sinn für ihn,
wie es denn auch in der That sinnlos ist. Aber wenn er imstande gewesen
wäre, mit den heutigen Mitteln der Wissenschaft die Natur der Netzhaut und
des Nervensystems kennen zu lernen, so würde er sich nicht der notwendigen Ein¬
sicht verschlossen haben, daß, um eine Sinnesempfindung auszulösen, eine physische
Bewegung notwendig ist, mag sie nun von den innern Organen her, etwa aus
dem Blute, oder vom äußern Raume aus durch feinste Wellenschwingungen
die Nervensubstanz erregen. Die physische Erregung der Netzhaut fordert eine
Physische Verbindung zwischen den Gegenständen der Wahrnehmung und dem
Auge, und diese wird allerdings von der Undulationstheorie auf eine bewunderns¬
würdige Weise hergestellt. Die Theorie ist mustergiltig, sobald sie darauf ver-
zichtet, das Wesen des Lichtes zu erklären, welches nur in der Empfindung
selbst seine wahre Begründung hat.
Wer wollte aber aus dieser Unkenntnis Goethe einen ernstlichen Vorwurf
machen, da über das wirkliche Verhältnis von Geist und Nervensubstanz noch
bis auf den heutigen Tag bei den Physiologen so gut wie gar keine vernünftige
Ansicht existirt? Zwar hat Kant im vierten Paralogismus der reinen Vernunft
die Methode vorgezeichnet, deren sich die Forschung zur Lösung derartiger Pro¬
bleme bedienen muß, aber Gebrauch hat fast niemand davon gemacht. Auf diesem
Gebiete also Goethe Unwissenheit und Irrtum vorzuwerfen, das ist ein Vor¬
wurf, der zwar nicht ganz abgewiesen werden kann, der aber die Gegner in
noch höherm Maße trifft als ihn. Und so sagen wir zum Schluß: Will einer
die Licht- und Farbentheorie studiren, so halte er sich zunächst an die Physiker.
Wird ihm dort vielleicht bei weiteren Fortschritt bange, den Zusammenhang der
Erscheinungen mit dem ewigen Grunde der Schöpfung und dem menschlichen
Geiste zu verlieren, so wende er sich zu Goethe, von dem er zugleich die sinn¬
reichsten Andeutungen über den Zusammenhang der Farbenempfindung mit dem
Gemüte des Menschen und seinem Kunstgefühl erhalten wird. Will er endlich
über den Gegensatz zwischen beiden Parteien klar werden, so muß er sich in
die Entstehung der Gesichtswahrnehmungen nach den Resultaten der Physio¬
logie vertiefen, aber er muß dabei die Erkenntnistheorie Kants als Regulator
benutzen, denn nur nach den großen allgemeinen Gesetzen, nach denen unsre Vor¬
stellungen überhaupt entstehen, kann auch die Entstehung der Vorstellungen durch
einen einzelnen Sinn ihre Begründung finden.
N n dem großen niederländischen Meister, welcher dem germanischen
Geiste sympathischer ist als der gleichgeartete Michelangelo, und
welcher dem modernen Geschmack — soll man eS mit Bedauern
sagen? — mehr zusagt als Dürer und Holbein, in Rubens er¬
reichte der große Kreislauf, den das wiederbelebte klassische Alter¬
tum im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts unter italienischem Himmel be¬
gonnen, sein Ende. Er ist der letzte Ausläufer jener künstlerischen Bewegung,
die wir unter dem Namen der Renaissance begreifen, und zugleich der letzte
schöpferische Geist, welcher den Formen der Antike, die sich bereits in ein ge¬
dankenloses Spiel ohne realen Inhalt zu verflüchtigen drohten, ein neues Leben
einflößte und ihnen ein eigenartiges, ganz aus seiner kühnen, gewaltigen Phan¬
tasie Herausgebornes Gepräge aufdrückte. Denn die Überfülle des Körperlichen,
jene Massen kolossaler Weiblichkeit und Männlichkeit, vor denen sich die kleinen
Geister unsrer Tage fürchten, vor denen sie in den Galerien bestürzt oder ver¬
wirrt oder in erheuchelter Scham die Augen niederschlagen, jene mächtigen
Formen, die man gemeinhin mit „flämisch" bezeichnet, sind nicht etwa, wie man
oft geglaubt und geschrieben hat, auf die Modelle der Niederlande zurückzu¬
führen. Jetzt, wo wir den Entwicklungsgang des großen Meisters genau kennen,
wissen wir, daß er seine Formensprache an den Venetianern, insbesondre an
Tizian und Veronese, dann in Mantua an Giulio Romano und Mantegna,
endlich in Rom an Michelangelo, an Caravaggio und auch wohl an den Carracci
allmählich zu jenem ganz individuellen Dialekt herausbildete, welcher als Ru¬
bensstil unverkennbar ist und während des ganzen siebzehnten Jahrhunderts von
zahlreichen Malern in den Niederlanden und in Deutschland adoptirt wurde.
Kennen wir aber auch den Entwicklungsgang des Antwerpener Meisters
wirklich so genau, wie ich eben sagte? Während der Zeit seines Aufenthalts
in Italien können wir seine künstlerische Entwicklung, seine Studien fast Schritt
für Schritt verfolgen, zumal sich seine drei oder, da das eine in zweifacher
Redaktion vorhanden ist, seine vier großen, in Italien gefertigten Altarwerke,
von denen man eines ganz, das andre zum größten Teile verloren glaubte,
nach und nach auf- und zusammengefunden haben. Rechnet man noch etwa zwei
Dutzend Gemälde und ein Dutzend Zeichnungen hinzu, und stellt man die auf
seinen Aufenthalt und seine Studien in Italien bezüglichen Notizen in seiner
Korrespondenz zusammen, so hat man ein anschauliches und ziemlich ausreichendes
Bild jener bedeutungsvollen und entscheidenden Zeit von 1600 — 1608. Wie
aber steht es mit dem vorausgegangenen Jahrzehnt und mit seinen Lehrern?
Sobald wir an diese Frage herantreten, stoßen wir Schritt für Schritt auf
Rätsel und Widersprüche.
Dem praktischen Studium der Antike in Italien muß unzweifelhaft eine
gründliche klassische Bildung vorausgegangen sein, wofür sich auch in der ein¬
zigen seiner ältern Biographien, die auf Zuverlässigkeit Anspruch erheben darf,
ein Zeugnis findet. Daß diese Biographie, das A und O aller Rubensstudien
historischen Inhalts, von dem Verfasser eines kürzlich erschienenen Buches Rubens
und die Antike, welches uns den Anlaß zu diesem Artikel gegeben hat, Herrn
Goeler von Ravensburg, wohl zitirt, aber nicht benutzt worden ist, kann bei
der Eilfertigkeit, mit welcher heute Bücher gemacht und — was schlimmer ist —
auch gedruckt werden, nicht Wunder nehmen.*) Weitschweifig und unbeholfen
wie der Titel, den wir in der Anmerkung vollständig wiedergeben, ist auch der
Inhalt dieses Buches, Es ist eine trockene referirende Zusammenstellung in der
Art jener Aufgaben, wie sie gewöhnlich in den archäologischen und kunstwissen¬
schaftlicher Seminaren der Universitäten zur Übung und methodischen Schulung
der studirenden Jugend von den Professoren gestellt werden, eine Arbeit, die
mehr das Geschick und die Ausdauer eines Registrators als den Geschmack und
den ordnenden Sinn eines Kunsthistorikers verrät, eine Arbeit endlich, der man
wenigstens das Verdienst des Kärrners viudiziren könnte, wenn sie nicht so
außerordentlich lückenhaft und unkritisch wäre.
Der Verfasser kennt also, wie manche andre Quellen zur Rubensgeschichte, auch
die nach dem Muster des Cornelius Nepos geschriebene lateinische VitÄ ki-ubsmi nur
dem Namen nach, die insofern von ganz unschätzbarem Werte ist, als sie von
Rubens' Neffen, Philipp Rubens, mit Hilfe der von Albert Rubens, dem Sohne
des Meisters, hinterlassenen und in der Familie aufbewahrten Aufzeichnungen
auf den Wunsch des französischen Malers Roger de Piles verfaßt worden ist.*)
In dieser Lebensbeschreibung, deren Zuverlässigkeit noch in keinem Punkte er¬
schüttert, vielmehr durch archivalische Funde verstärkt worden ist, und die selbst
in ihrem wohlmotivirten Schweigen beredt ist, heißt es von dem jugendlichen
Rubens, daß er in Köln „die erste wissenschaftliche Nahrung zu sich nahm, und
zwar mit solcher Leichtigkeit der Auffassung, daß er die Altersgenossen leichr
übertraf, bis er sich im Jahre 1587, nach dem Tode des Vaters, mit seiner
Mutter nach Antwerpen .... begab und seinen übrigen Studiengnng vollendete."
Eine Erinnerung an die Antwerpener Schulstudien hat uns ein Brief von Bal-
thasar Moretus, dem spätern Chef der berühmten Antwerpener Druckerei Plantin-
Moretus, an Philipp Rubens vom 3. November 1600 aufbewahrt, in welchem
es heißt: „Deinen Bruder habe ich schon als Knaben in der Schule gekannt
und habe ihn als einen Jüngling von auserlesensten und anmutigstem Geiste
geliebt." Von demselben Balthasar Moretus sind zwei lateinisch geschriebene
Briefe an Rubens den Maler bekannt, die dieser während seines Aufenthaltes
in Rom 1606 erhielt und aus denen die Thatsache hervorgeht, daß er des
Lateinischen völlig mächtig war. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß er
noch dreißig Jahre später selbst einen leidlich gut lateinisch geschriebenen Brief
an Franciscus Junius zustande bringen konnte. Charakteristisch für seine klas¬
sische Bildung ist auch die freilich nicht verbürgte, von Weyermann und Michel
in verschiedner Version mitgeteilte Anekdote, nach welcher der Herzog von Man-
tua den Maler einmal überrascht haben soll, als er mit lauter Stimme latei¬
nische Verse aus der Aeneide zitirte.
Wir wissen aus jener Biographie des Philipp Rubens, daß Maria
Pypelinckx, die Mutter unsers Petrus Paulus, nach dem Tode ihres Mannes
im Jahre 1587 von Köln nach Antwerpen zurückkehrte. Wir wissen ferner aus
dem Testamente der braven Frau, daß ihr Sohn 1590 in den Dienst der Frau
von Ligne, der Witwe des Grafen Philipp von Lalaing. trat und daselbst „ein
Weilchen (s-lMMtuIuin tgmxus) unter den Pagen diente____ Aber bald des
höfischen Lebens überdrüssig geworden und von seinem Genius zum Studium
der Malerei getrieben, setzte er es bei seiner Mutter durch, zumal die Mittel
seiner Eltern durch die Kriege schon zusammengeschmolzen waren, daß er dem
Antwerpener Maler Adam van Noort in die Lehre gegeben wurde. Unter diesem
Meister legte er neun Jahre lang die ersten Gründe zu seiner Kunst,
und zwar mit solchem Erfolg, daß er von der Natur selbst dazu geschaffen zu
sein schien. Darauf brachte er fast vier weitere Jahre in der Lehre des
Otto Vaenius, zu jener Zeit dem ersten unter den belgischen Malern, zu." Nimmt
man an, daß Rubens sich Ende 1590 oder Anfangs 1591 für die Kunst erklärte,
so kommen wir zu dem Schluß, daß er im Jahre 1593 seine Lehrzeit beendet
haben muß, und damit stimmt vollkommen die urkundlich bezeugte Thatsache,
daß Rubens im Jahre 1598 unter dem Dekanate des Adam van Noort in die
Antwerpener Lukasgilde aufgenommen wurde, ksstsr Ruvvöns, viiMööstsr
soilÄsr lautet der betreffende Vermerk in den Liggeren.
, Bei einem so harmonischen Zusammenschluß der Thatsachen mit der Über¬
lieferung der Biographie ist ein Versuch, an der alten Legende festzuhalten,
nach welcher Rubens drei Lehrer gehabt hätte, schwer mehr zu begründen.
Als der erste derselben wird nämlich der Landschaftsmaler Tobias Verhaecht
oder, wie der Name in den Urkunden lautet, Van Haecht genannt. Diese An¬
nahme stützt sich nur auf eine nicht ganz einwurfsfreie Unterschrift unter Ver-
haechts Porträt. Unter dem von Otto van Veer gezeichneten Bildnisse Ver-
haechts steht als dessen Geburtsjahr 1566, während aus seinen eignen urkundlich
niedergelegten Angaben hervorgeht, daß er 1561 geboren ist. Warum sollte
auch jene Unterschrift nicht irrig sein? 1590 erst wurde er Meister, wodurch
er das Recht erhielt, Lehrlinge aufzunehmen, und wie die Liggeren beweisen,
ließ er auch viele Lehrlinge einschreiben, und unter diesen befindet sich der Name
des Rubens nicht. Eben erst Meister geworden, wird er schwerlich schon ein
solches Renommee besessen haben, daß Rubens zu ihm in die Lehre trat. Van
den Brander, der gelehrte Verfasser der Sösoliikäöiiis ^.nwörpsokk Zouiläsr-
sodool (Antwerpen, I. E. Buschmann, 1878 ff.), der glückliche Quellenforscher
und Quclleufinder, hat den Versuch gemacht, die schwache Überlieferung durch
neue Gründe zu stützen. Er hat die Thatsache ausfindig gemacht, daß Ver¬
haecht mit einer Enkeltochter von Rubens' Stiefgroßvater vermählt war, und
daß diese allerdings sehr weitläufige Verwandtschaft den Anlaß gegeben habe,
Rubens bei Verhaecht in die Lehre zu geben. Aber diese Heirat fand erst im
Jahre 1592 statt, also zu einer Zeit, wo Rubens nach der alten Rechnung zu
Adam van Noort übersiedelte. Angesichts des klaren Wortlauts der Familien¬
biographie und des Fehlens von Rubens' Namen unter den Lehrlingen Ver-
haechts müssen wir den letztern so lange aus der Reihe von Rubens' Lehrern
streichen, bis bessere Beweise beigebracht worden sind. Wir dürfen dies umso
eher thun, als nicht ein einziges Bild Verhaechts auf uns gekommen ist, aus
dem sich konstatiren ließe, welchen Einfluß er etwa auf Rubens gehabt. Und
dieselbe auffallende Thatsache kehrt auch in Bezug auf Adam van Noort und
Otto van Veer wieder. Von dem erstern ist ebenfalls kein Gemälde erhalten,
welches ihm mit absoluter Sicherheit zugeschrieben werden kann. Aus den we¬
nigen Werken van Veeus aber läßt sich keine Verwandtschaft zwischen ihm und
Rubens ableiten. Und auch von Rubens selbst ist aus seiner ersten Antwerpener
Periode bis 1600 kein authentisches Stück übrig geblieben. Otto van Veens
Einfluß auf Rubens wird vorwiegend ein literarischer gewesen sein, da der
Maler zugleich lateinische Verse machte und allegorische und emblematische Werke
mit bildlichen Darstellungen herausgab.
Diesen geistigen Verkehr zwischen Meister und Schüler hätte Goeler von
Ravensburg aus den literarischen Arbeiten Otto van Veens schildern sollen.
Er hätte die Erzeugnisse der Druckerei Plantin-Moretus, welche Rubens mit
großem Eifer verfolgte, mit heranziehe», die Lektüre des Malers nach den zahl¬
reichen Notizen kontrolircn sollen, welche sich in seiner Korrespondenz finden.
Daraus hätten sich wertvolle Aufschlüsse über Rubens' mythologische Kennt¬
nisse, über sein Verhältnis zur Antike ergeben. Doch nichts von alledem findet
sich in dem vorliegenden Buche, welches wie das Herbarium eines Botanikers
aussieht: vertrocknete und verstaubte Gelehrsamkeit, die einen alexandrinischen
Charakter, aber nicht in dem guten Sinne des Aristarch, trägt. Hätte der Ver¬
fasser wenigstens die Bücher gelesen, welche er in den Noten zitirt! Dann
wäre ihm nicht das Versehen Passirt, von dem bekannten Brief über die antiken
Dreifüße an Peiresc zu behaupten, daß das italienische Original verloren ge¬
gangen sei, während dasselbe in dem Werke von Sainsbury, welches Goeler von
Ravensburg zitirt, in Mehr80 und ausführlicher als in der französischen Über¬
setzung bei Gachet abgedruckt ist. Noch schlimmer und fast unverantwortlich ist
es, wenn er über den Inhalt von Abhandlungen urteilt, die er nicht gelesen
hat. So behauptet er auf S. 73 seiner Kompilation, der Unterzeichnete hätte
in einem Artikel der „Grenzboten" gegen die Echtheit des im Berliner Mu¬
seum befindlichen Bildes „Neptun und Amphitrite" geschrieben. Davon steht
in meinem Artikel keine Silbe. Ich habe nur die Ansicht derer bekämpft, welche
meinen, daß das Bild eine völlig eigenhändige Arbeit von Rubens sei, da ich der
Meinung bin, daß das meiste an diesem Bilde von der Hand seiner Schüler herrührt.
Während Goeler von Ravensburg den resümirenden Teil seiner Arbeit auf
fünfzig Seiten beschränkt hat, ist der Schwerpunkt von ihm auf die Aufzählung
und Beschreibung derjenigen Gemälde von Rubens gelegt worden, deren Stoffe
der antiken Mythologie und Geschichte entlehnt sind oder in welchen irgend ein
antikes Element verwertet worden ist. Was nützt uns aber dieses räsonnirende
Verzeichnis, in welchem literarhistorische, ästhetische und kritische Bemerkungen
durcheinander gemacht werden? Auf Vollständigkeit kann dieses Verzeichnis
keinen Anspruch machen, da einige Galerien, wie z, B. die Brüsseler, garnicht,
andre, wie die Petersburger Eremitage, nur oberflächlich benutzt worden sind.
Aus der erstem hätte der „Besuch der Venus in der Schmiede des Vulkan,"
aus der letztern die „Statue der Ceres" zitirt werden müssen, welche besonders
wichtig in Bezug auf die von Rubens in dem Fragmente „Über die Nach¬
ahmung der Statuen" niedergelegten Ansichten ist. Ans das Feld der Bilder¬
kritik hätte sich der Verfasser garnicht wagen sollen, da ihm nur in seltnen
Fällen Autopsie zur Seite zu stehen scheint. Wie aus Anmerkungen und Zitaten
hervorgeht, beruht seine Bilderkenntnis vorzugsweise auf gedruckten Quellen und
brieflichen Mitteilungen von Galeriebcmnten. Dabei verfährt er aber sehr will¬
kürlich. Einmal führt er den gelehrten Konservator des Nus66 VlMtin-Norsw«
in Antwerpen, Dr. Max Rooses, als Autorität ins Feld. Ein andresmal be¬
streitet er dieselbe, indem er die von Rooses mit gutem Grunde ausgesprochene
Ansicht, „daß unter den mythologischen Bildern von Rubens Werke seiner eignen
Hand recht selten seien," zu erschüttern sucht. Bei Erwähnung des Berliner
Gemäldes „Neptun und Amphitrite" tritt der Verfasser sehr warm für die
„vortreffliche Abhandlung" des Herrn Dr. Bode über dieses Bild ein. Was
wird er dazu sagen, wenn er erfährt, daß das Parisurteil der Dresdner Galerie,
dessen Echtheit er sich von Herrn Inspektor Gustav Müller bescheinigen läßt,
auch von Herrn Dr. Bode und zwar mit vollem Rechte „angezweifelt" worden
ist? Eine Neuigkeit ist dieser von Herrn Dr. Bode erhobene Zweifel allerdings
nur für Goeler von Ravensburg, da Bode denselben bereits 1873 in Zahns
Jahrbüchern sür Kunstwissenschaft ausgesprochen hat. Wie der berühmte „Liebes¬
garten" ist auch dieses „Parisurteil" eine Schülerarbeit, und zwar vermutlich
eine Kopie des Erasmus Quellinus, welcher Rubens in den letzten Jahren seines
Lebens sehr nahe gestanden hat und dessen Hand sich auch auf andern, dem
Meister zugeschriebenen Gemälden nachweisen läßt. Aus jenem Aufsatze Bodes,
den man mit Bezug auf die Rubensbilder der Dresdner Galerie in jeder Zeile
gutheißen darf, würde der Verfasser auch die für ihn betrübende Nachricht er¬
halten haben, daß die beiden Darstellungen der „Rückkehr der Diana von der
Jagd," an welche er sinnige Betrachtungen über Zeichnung und Kolorit des
Meisters knüpft, nur Schulkopien sind, die auf das Darmstädter Original
zurückgehen. Auf dem Gebiete der Bilderkritik also Mißgeschick über Mi߬
geschick!
Hätte sich der Verfasser wenigstens auf das Gebiet der Archäologie be¬
schränkt, welches ihm bekannter zu sein scheint, wiewohl er auch hier andern
das meiste zu thun übrig gelassen hat! In einem Briefe an Peiresc vom 16, März
1636 ist die Rede von einem antiken Relief des trojanischen Krieges in der
Arundelsammlung. Es wäre Sache des Archäologen gewesen, nachzuweisen, daß
sich dieses Relief jetzt in Oxford befindet, und wo es publizirt ist. In demselben
Briefe ist von einer antiken Landschaft die Rede, welche Rubens ausführlich
bespricht und zu erläutern sucht. Existirt diese Landschaft noch? fragt jeder
Leser, welcher die archäologischen Kenntnisse des Meisters einmal prüfen will.
Darauf weiß der Verfasser keine Antwort zu geben, obwohl das Gemälde mehr¬
fach publizirt und zuletzt noch von Wocrmanu (Die Landschaft in der Kunst der
Alten, 1876) besprochen worden ist. Daß Goeler den Brief von Rubens an
den Geschichtschreiber und Antiquar Francis de Swert vom Jahre 1617 oder
1618, welcher ganz lateinisch geschrieben und für Rubens den Altertumsforscher
von besondrer Wichtigkeit ist, nicht gekannt hat, darf bei seiner mangelhaften
Kenntnis der Quellen nicht Wunder nehmen. Schreibt er doch S. 16, daß
Rubens „am 28. Oktober 1668 infolge des plötzlichen Todes seiner Mutter von
Rom nach Antwerpen" zurückkehrte, während in Wirklichkeit nur die Nachricht
von der schweren Erkrankung seiner Mutter seine Abreise beschleunigte. Eine
Kleinigkeit; wenn jemand aber über einen Mann wie Rubens schreiben will,
muß er auch in solchen Kleinigkeiten zeigen, daß er sich für seine hohe Aufgabe
gründlich vorbereitet hat.
Man wird nach diesen Proben den wissenschaftlichen Wert der Goelerschen
Arbeit beurteilen können. Das Kapitel in der Biographie des Meisters, welches
die Überschrift zu tragen hätte: „Rubens'Verhältnis zur Antike," ist nach wie
vor noch ungeschrieben.
as neue Kabinet in Frankreich fährt fort, sich zu befestigen und
Aussicht auf längern Bestand zu gewinnen. Einige Tage freilich
war seine Stellung nichts weniger als gesichert, und noch jetzt
ist es fraglich, ob ihm die Gunst der Mehrheit in den beiden
Körperschaften der Landesvertretung auf lange Zeit zugewandt
bleiben wird.
Jm Senate kam am 1. März die von der Rechten angekündigte Jnter¬
pellation in Betreff der Entfernung der orleanistischen Prinzen aus dem aktiven
Militärdienste zur Verhandlung, und man beklagte sich, daß die Regierung das
bezügliche Gesetz falsch gedeutet und ungehörig angewendet habe. Der Kriegs¬
minister entgegnete, dieser Vorwurf sei grundlos; denn die Regierung habe das
Eigentumsrecht der Gemaßregelteu an ihren Graden nicht verletzt, es stehe ihr
aber die Befugnis zu, über die dienstliche Stellung der Prinzen zu verfügen,
und sie habe dieselben aus der Armee entfernen müssen, da ihre Stellung hier
gegen die Verfassung verstoße. Der streng orleanistische Herzog d'Audiffre-
Pasquier bestritt die Erklärungen des Ministers als ungenügend, vermochte
den Unterschied zwischen den Graden und der dienstlichen Stellung der Prinzen
nicht anzuerkennen, behauptete, daß alle Offiziere künftig von dem Belieben des
Kriegsministers abhängen würden, und forderte schließlich seine Kollegen auf,
sich gegen den „Despotismus der Republik" und die Dekrete auszusprechen,
durch welche die drei Prinzen in Ruhestand versetzt worden waren. Der
Senat aber, der bis dahin das Interesse der Armee und das Prinzip
der Gerechtigkeit vertreten hatte, glaubte, den Bogen nicht zu straff spannen
zu dürfen, er fürchtete einen bedenklichen Zusammenstoß mit der Er¬
regung, die im andern Hause die Mehrheit ergriffen hatte, und so handelte
er politisch, indem er der Aufforderung des orleanistischen Redners nicht nach¬
gab, sondern die vom Ministerpräsidenten Ferry beantragte einfache Tages¬
ordnung mit 154 gegen 110 Stimmen annahm, womit der Gegenstand er¬
ledigt war.
Schwer gelang es dem neuen Kabinet, sich vor der Linken in der Depu-
tirtenkammer im Sattel zu erhalten, und vielleicht war es nur der Indisposition
Clemenceaus, welcher die Sache der letztern führte, zu danken, wenn Ferry hier
keine Niederlage erlitt. Es handelte sich in diesem Falle um die Frage, ob
man ohne Verzug an die Umgestaltung der Verfassung gehen oder die Sache
vertagen solle. Die Umgestaltung der Verfassung der Republik bedeutet erstens
Einführung der Listenwahlen statt der Wahlen nach Arrondissements, zweitens,
und das ist gegenwärtig das nächste Ziel der Radikalen und Gambettisten, eine
„Reform" des Senats, die denselben weniger einflußreich und von der jeweiligen
Strömung der öffentlichen Meinung abhängiger machen (so die Gambettisten)
oder (so die Radikalen) ihn ganz und gar beseitigen soll. Die Leute von den
beiden Gruppen der Linken wollen Unbeschränktheit der Deputirtenkammer, einen
souveränen Konvent, dessen Willensäußerungen durch keine andre Körperschaft
kontrolirt, dessen Beschlüsse von keinem Senat umgestoßen werden können, sie
verlangen, daß der Parlamentarismus bis zu seinen äußersten Konsequenzen
durchgeführt werde, und die Opposition der Senatoren gegen die von der Mehr¬
heit der Deputirten beschlossenen Proskriptionsgesetze hat dieses Begehren ver¬
stärkt. Ist erst der Senat aus dem Wege geschafft, so kann auch die Regie-
rung leidenschaftlichen Bestrebungen des Abgeordnetenhauses keinen Widerstand
mehr leisten. Sträubt sie sich, so beseitigt man sie durch Votiren gegen ihre
Vorschläge oder durch ein Mißtrauensvotum, sie macht einer andern und diese
wieder einer andern Platz, und der schönste Despotismus ist hergestellt, wenn
die Wahlen uicht einmal den Gemäßigten die Oberhand in der allmächtig ge¬
wordenen Versammlung verschaffen. Dies das Ideal aller Radikalen in Frank¬
reich, wie es, wenn auch nicht gerade das Ideal, aber sicher unbewußt das Ziel
und Ende der Bestrebungen unsrer Fortschrittsdemokraten ist.
Für jetzt sind aber in Frankreich die Bäume doch noch nicht in den Himmel
gewachsen, obwohl es einen Augenblick so scheinen konnte, und die Minorität
auf der linken Seite fast fortdauernd gewachsen ist. Unmittelbar nach dem
Amtsantritt der neuen Minister stellte Ferry, wie in voriger Nummer berichtet
wurde, dreimal mittelbar die Vertrauensfrage, und jedesmal erklärte sich eine
bedeutende Majorität der Deputirten für ihn und seine Kollegen. Dann aber
schien sich das Blatt zu wenden, und das Kabinet des Präsidenten Grevy wurde
deutlich daran erinnert, daß es auf unsicherem Boden gehe und sterblich sei wie
seine Vorgänger. Am 5. März erlitt Ferry in der Frage der Verfassungs¬
revision eine Niederlage, allerdings nicht in einer förmlichen parlamentarischen
Schlacht, sondern bei einem Antrage auf Vertagung einer Debatte, indeß prägte
die Stellung, die der Ministerpräsident bei dieser Gelegenheit einnahm, der Ab¬
stimmung einen gegen das Kabinet gerichteten Zug auf. Der Ausgangspunkt
war die Frage, ob gewisse Vorschläge wegen einer Umbildung der Verfassung
der Republik „in Betracht genommen werden sollten." Der Premier erklärte,
daß er dem Senate keine derartigen Pläne vorlegen werde. Zu geeigneter Zeit
werde er die Sache in die Hand nehmen, aber jetzt würde eine Anregung der¬
selben unzeitgemäß sein, da sie einen scharfen Konflikt zwischen den beiden ge¬
setzgebenden Körperschaften zur Folge habe» und das Land, welches vor allen
Dingen Frieden verlange, in heftige Aufregung versetzen werde. Wenn das
Volk sähe, daß die Republik Unsicherheit und Wühlerei bedeute, so würde es
ihr seine Unterstützung entziehen. Das waren starke und, wie man meinen sollte,
überzeugende Gründe. Aber die Mehrheit der Kammer ließ sich von ihnen nicht
überzeugen. Als Clemenceau den Minister um weitere Erklärungen ersuchte und
den Antrag stellte, die Debatte zu vertagen, erreichte er das damit von ihm ins
Auge gefaßte Ziel, indem sein Antrag mit 69 Stimmen über die Hälfte der
Mitglieder des Hauses Annahme fand. Mit andern Worten: er brachte der
Regierung eine Niederlage bei und zeigte wieder einmal, wie wenig Verlaß in
Frankreich auf ministerielle Majoritäten ist. Natürlich war nun noch die Haupt¬
frage zu entscheiden, und man konnte hoffen, daß Ferry hier über seinen Gegner
siegen werde, wie dies denn in der That am nächsten Tage geschah. Aber es
war immerhin merkwürdig, daß ein Ministerpräsident, nachdem er kurz zuvor
wiederholt die Mehrheit für sich gehabt und nachdem er erst zehn Tage am
Ruder gestanden, beim ersten ernstlichen parlamentarischen Sturme umge¬
worfen wurde.
Indessen ist er, ohne viel Schaden erlitten zu haben, von seinem Falle
wieder aufgestanden, ein zweiter starker Wind hat ihn unbehelligt gelassen, und
sein Schiff fährt vorläufig unter Hellem Himmel. Die am 6. März wieder¬
aufgenommene Debatte der Kammer über die Verfassungsrevision erfüllte nicht,
was man von ihr erwartet hatte. Das Haus lehnte allerdings zweimal den
Antrag auf Schluß der Debatte ab, um Clemenceaus Ansicht von der Frage
zu hören. Aber der Abgeordnete für Montmartre hatte diesmal nicht seinen
guten Tag. Er litt an Schnupfen und Husten, mußte einmal abbrechen und
sich erholen und sprach weder deutlich und vernehmlich noch mit dem gewohnten
Schwung und Feuer. Die Debatte wurde vom Abgeordneten Girault mit dem
Verlangen eröffnet, die Diskussion bis nach den Osterferien zu verschieben,
damit man Gelegenheit habe, die Meinung der Wählerschaften über die Ver-
fassungsrevision und deren Dringlichkeit zu erfahren. Dieser Antrag wurde ab¬
gelehnt. Dann erhob sich Greuel von der Linken und griff die Regierung
heftig an, indem er ihr vorwarf, sie versuche die wichtigste Reform zu ver¬
zögern, zu deren Ausführung die jetzige Kammer recht eigentlich gewählt sei.
Es seien, meinte er, genug Verschleppungen vorgekommen, genug Versprechen
gebrochen worden. Die Regierung solle darum nunmehr ohne Verzug an die
Reform gehen, statt sie, wie vorgeschlagen worden, einer in den letzten Zügen
liegenden Kammer zu überlassen, die das zu ihrer Durchführung erforderliche
Ansehen nicht mehr besitzen werde. Dann sprach Clemenceau. Dreihundert und
elf Wählerschaften, erklärte er, hätten der Kammer Abgeordnete mit der Ver¬
pflichtung zugesandt, die Vcrfassungsveränderung zu befürworten, und das Mi¬
nisterium Gambetta, von dessen Mitgliedern mehrere jetzt im Kabinet säßen,
hätte es als die notwendigste aller Reformen bezeichnet. Warum gäben diese
Herren ihre frühere Politik auf? In Betreff des Grundes, daß der Senat das
Revisionsgesetz unausbleiblich verwerfen werde, möchten die Minister und gewisse
Abgeordnete doch sagen, woher sie das wüßten. Wären sie etwa beauftragt,
die Meinung des Oberhauses hier auszudrücken? Wo nicht, so würde es gegen
die Würde des Hauses verstoßen, demselben mit einer solchen Drohung zu kommen.
Wünsche der Senat eine Bürgschaft gegen zuweitgehcnde Revision, so wäre sie
in der Thatsache zu finden, daß von mehr als dreihundert Deputirten gegen¬
wärtig nur etwa achtzig die Beseitigung des Senates wünschten. Diese einer
doppelköpfigen Gesetzgebung günstig gestimmte Mehrheit könnte aber einmal,
und zwar bald, zur Minderheit werden, und so sei jetzt eine vortreffliche Ge¬
legenheit sür die Regierung und ihre Anhänger, die Sache zu erledigen. „Nehme
man sich in Acht vor einer Revolution, rief der radikale Führer aus, die jeden
Augenblick ausbrechen kann, wenn ein Teil der öffentlichen Gewalt dem Volks¬
willen gekannte, auch bei uns beliebte Phrase!) zu widerstehen versucht. Die
Regierung hat nach dem Votum der letzten allgemeinen Wahlen her meinte das
Kammervotum vom 26. Januar 1882^j zu handeln, sonst wird sie das Volk
hinwegfegen." Der Redner zählte dann die Fälle auf, wo der Senat den Reform-
bestrebungen der Deputirtenkammer in den Weg getreten sei, und warnte die
Regierung, sich durch fortgesetzte Verschleppung der Sache die Massen zu ent¬
fremden. „Ich möchte nicht, sagte er, daß ein Republikaner genötigt wäre, an¬
zuerkennen, daß er zu lange gewartet habe." Der Ministerpräsident legte die
Frage kurz und bündig der Kammer vor und erklärte, wenn dieselbe nicht genug
Vertrauen in die Regierung setzte, um die Angelegenheit in den Händen derselben
zu lassen, so möge sie es nur sagen. Die Antwort darauf war, daß die De¬
putaten die folgende Resolution Sadi Camoes annahmen: „Die Kammer erklärt,
indem sie ihr Vertrauen in die Erklärung der Negierung beziehentlich der Re¬
vision der Verfassungsgesetze ausspricht, daß kein Grund vorliegt, die Gesetz¬
entwürfe der Herren Andrieux und Barodet in Betracht zu ziehen, und geht zur
Tagesordnung über."
Die Annahme dieser Resolution erfolgte mit der großen Majorität von
316 gegen 173 Stimmen. Aber wie Clemenceau nicht ohne Grund sagte: diese
Majorität kann binnen kurzem zur Minorität werden. Die Kammer hat schon
einmal für Verfassungsrevision gestimmt, und zwar infolge dessen, daß Clemenceau
mit Macht dafür ins Geschirr ging, er wird nicht verfehlen, auf die Sache bei
passender Gelegenheit zurückzukommen, und dieser und andern Gefahren gegen¬
über wird es Fcrry nicht leicht werden, die Verfassungsrevision aufzuhalten bis
zum Jahre 1886 und sie dann ohne starke Beeinträchtigung des Rechtes und
Einflusses des Oberhauses zu verwirklichen. Gelingt ihm das, so wird die Re¬
publik wohl noch Jahre und Jahrzehnte fortleben, mißlingt es, so sällt die
Hauptstütze, die ihren Bestand sichert.
orothea hörte mit süßer Hingebung Eberhardts Worten zu und
unterbrach ihn, zu glücklich über den Ausbruch seiner Empfin¬
dungen, mit keiner Silbe und keiner Bewegung. Das sanfte Hin¬
gleiten auf dem Wasser, das gelinde Schaukeln der Wellen wiegte
sie, von der Musik so angenehmer Worte begleitet, in eine über-
schwänglich selige Empfindung, die sie für ewig hätte verlängern mögen. Sie
sah in die tiefen blauen Augen des geliebten Mannes, aus denen die wahrste,
heißeste Neigung sprach, wie in das Licht eines verheißungsvoll lockenden Sternes,
und sür diesen Augenblick trübte keine der Welterfahrung entkeimende Besorgnis
ihr reines Glück.
Denn es giebt eine Furcht, die mich oft befällt, fuhr er nach langem
Schweigen fort, nämlich die, daß die Ansprüche der Gesellschaft trennend zwischen
uns treten könnten. Wer bin ich, daß ich meine Augen zu einer so vornehmen
Dame erheben darf? Ach, ich sehe oft im Geist meine glänzende Dorothea in
einem Kreise, der zu stolz ist, als daß mein Name darin genannt werden dürfte,
und sehe sie selbst lächelnd zurückblicken auf ein Gefühl, das in ländlicher Ein¬
samkeit entstand. Ich darf mich nicht darüber täuschen, daß die Welt mir
feindlich ist und daß sie eine große Macht besitzt. In der Abgeschiedenheit
blühen die echten Leidenschaften auf, sie ist ein guter Boden für so viel ver¬
langende Pflanzen. Aber in der Welt gilt die Leidenschaft nicht, denn die
Vielfältigkeit der Eindrücke gestattet keinem Gefühl solche Tiefe und Breite, wie
die Liebe verlangt, und die Gesellschaft entnervt mit ihrer Klugheit auch die
kräftigste Seele.
Wie weise Sie reden, mein Freund, und doch wie thöricht, sagte Dorothea.
Sind Sie so bekannt mit der Welt und mit meinem Herzen? Verlangen Sie,
daß ich noch deutlicher, als ich es schon gethan habe, das Eingeständnis meiner
Schwäche ablege, und brauche ich Ihnen zu sagen, daß das, was meine Schwäche
Ihnen gegenüber, meine Stärke gegenüber der Gesellschaft ist? Nun denn, ich
will Ihnen gegenüber mit voller Offenheit eine Wahrheit aussprechen, welche
mein Herz deutlich empfindet und von der auch das Ihrige überzeugt sein
muß, daß nämlich meiner Stellung, meinem Vater und Ihnen selber mit Ihrem
Mißtrauen zum Trotz unser beider Geschick für immer vereinigt ist und daß
wir zusammen glücklich oder unglücklich werden müssen.
Sie sprach, von ihrem Gefühl hingerissen, in dringender und leidenschaft¬
licher Weise, und wie von einer prophetischen Stimme berührt, verlieh er seinen
heißen Wünschen gläubig die Gewißheit der Überzeugung.
Die Schiffchen entfernten sich immer weiter vom Lande, und der Thurm
des Grafen erschien in einer violetten Beleuchtung, während das Haus nicht mehr
deutlich zu erkennen war. Hier draußen war die See noch ruhiger als in der
Nähe des Strandes, und fast ganz unbeweglich, nur unter dem Drucke des
Segels etwas seitwärts geneigt, schienen die Fahrzeuge zu liegen. Eine feier¬
liche Stille herrschte auf der weiten Fläche, und die Flut von Licht, die sich vom
Himmel herab ergoß und vom Wasserspiegel zurückgestrahlt wurde, verklärte die
Umgebung der Liebenden und stimmte wundervoll zu dem Licht, das in ihren
Herzen entzündet war. Als hätten die Begleiter eine Ahnung von der Feier¬
lichkeit des Tages gehabt und sich gescheut, das Gespräch des Paares zu unter¬
brechen, leiteten sie schweigend die Bewegungen der Boote und des Netzes, nur
in einzelnen Zurufen sich verständigend.
Und dürfen wir ganz sicher sein, daß dieser Mann uns nicht versteht?
fragte Dorothea, ihrer Sache wohl gewiß, aber doch mit der Möglichkeit der
Gefahr spielend.
Ganz sicher, entgegnete Eberhardt. Ich habe mich vorher überzeugt, daß
er kein Wort englisch versteht.
Sie haben sich vorher überzeugt! rief sie mit schalkhaftem Drohen. O über
den voraussehenden Herrn! Welch ein gefährlicher Mann Sie sind, mein teurer
Freund! Mein Vater schwört nicht höher als bei Ihnen, wenn es sich um das
Reiten und die Führung einer Attacke handelt, der Tochter haben Sie die Ge¬
heimnisse der Kunst offenbart und auf die der Malerei die süßeren der Liebe
folgen lassen, der Graf ist erfüllt von der Tiefe Ihrer Gedanken. Überall haben
Sie die Wissenschaft des Sieges zur Hand!
Dorothea sah höchst anmutig aus, während sie ihre Bewunderung mit der
Maske des Spottes zu verdecken suchte und doch aus ihren schönen Augen nur
Liebe und Entzücken sprachen. Die Zartheit ihrer Farben und die edle Form
ihres Gesichts erschienen in dieser hellen Beleuchtung, die den zweifelhaften Schön¬
heiten so nachteilig ist, in reinstem Glanz und wie verklärt. Ihre linke Hand
hing über Bord in das sonnenwarme Wasser herab und spielte mit dem durch-
sichtig hellen Element, das schmeichelnd um die rötlich gefärbten Spitzen der
schlanken weißen Finger floß und perlend über die schimmernde Haut hinlief.
Eberhardt betrachtete sie mit Bewunderung, und es vergingen beiden in dem
Gespräch, das sie miteinander führten und das, wovon sie auch immer reden
mochten, doch nur den einen wichtigen Gegenstand, ihre Liebe, zum Mittelpunkt
hatte, die Stunden dieses Nachmittags und Abends wie ein kurzer, seliger
Traum. Erst der tiefe Stand der Sonne, die sich zum Meere herabneigte und ein
rotgoldnes Licht zu verbreiten anfing, mahnte an die Rückkehr. Dorothea ge¬
dachte ihres Vaters, der vor Einbruch der Nacht nach Hause zu fahren ge¬
wünscht hatte, und sie gab das Zeichen zur Umkehr.
Ich wünschte wohl, wir könnten diese glückliche Fahrt in die Unendlichkeit
verlängern, sagte sie, aber wir dürfen Papa nicht ungeduldig werden lassen.
Lassen Sie uns die Segel wenden, mein Freund.
Der Wind, der ihnen beim Ausfahren gedient hatte, war mit dem Sinken
der Sonne etwas stärker geworden und etwas mehr nach Norden herumgegangen,
sodaß sie in größerer Schnelle das Land wieder erreichten als sie es verlassen
hatten. Es schienen an diesem Tage des Glückes selbst die Elemente ihrer Liebe
dienstbar zu sein. Eberhardt hob mit starkem Arm die teure Last vom Boote
auf den Sand und ein Schauer der Wonne durchbebte ihn, als er den Leib
der Geliebten umfaßte. Er bot ihr den Arm, um sie hinauf zum Hause zu
führen, während die Begleiter zurückblieben, mit dem Netz und dem Ergebnis
des Fanges beschäftigt.
Es war noch immer hell, obwohl die Sonne untergegangen war und nur
ein zartes Rot von unbeschreiblicher Weichheit den blassen Himmel im Westen
überzog. Diese duftige Färbung des abendlichen Lichtes schien das alte Gebäude
auf dem Hügel gleichsam zu erleichtern, indem sie seine schweren Steine als von
feinem, ätherischem Stoffe gebildet darstellte, und sie gab der ganzen Landschaft,
dem Garten, der Hügelreihe und dem fernen Walde eiuen besondern Reiz, indem
sie alle Umrisse milderte und das Land mit einem dem Meere entliehenen
schimmernden Schleier umhüllte. Eine kurze Minute noch blieben Eberhardt
und Dorothea vor der Hausthür stehen, an dem Platze, wo die alten Herren
zwischen den hölzernen Säulen gesessen hatten, und sie blickten trunkner Auges
in die weite Flut hinein, die sich, von dem Rosenrot der letzten Sonnenstrahlen
durchglüht, unermeßlich vor ihnen ausbreitete. Dorotheens Hand legte sich
fester auf seinen Arm.
O Dorothea, flüsterte er, ein Leben, das zusammengesetzt wäre aus lauter
Stunden wie diese, ungetrennt, auf immer vereinigt wir beiden — welche Selig¬
keit könnte größer sein!
Er glaubte, daß dieser schöne Augenblick der letzte seines Zusammenseins
mit der Geliebten sein würde, und als beide in das Haus traten, wohin die
alten Herren sich schon seit zwei Stunden zurückgezogen hatten, wollte er sich
empfehlen. Der Blick des Generals fiel ihm wieder ein, und er wollte seine
Anwesenheit nicht über die Gebühr verlängern. Aber heute wandte sich alles
nach seinen Wünschen, selbst nach denen, die er sich selbst nicht zu gestehen wagte.
Der Baron war sehr guter Laune. Er hatte dem General eine sehr lange
dauernde Schachpartie, welche zu verschiedenen malen höchst kritisch gestanden
hatte, endlich glücklich abgewonnen und saß im Triumph des Siegers da. Er
hatte den Fischfang, die Seefahrt seiner Tochter und die Rückkehr »ach Eich¬
hausen darüber völlig vergessen.
Einmal stand es schlimm, sagte er zu Eberhardt. Sehen Sie, so stand
die Partie: Hier die feindliche Königin, hier mein König ganz versperrt und
für diesen unglücklichen Bauer nur eine einzige Deckung. Hätten Eure Excellenz
die Thürme doublirt, so wäre ich verloren gewesen. Das war es, was ich
fürchtete. Aber mein Läuferzug lenkte den zweiten Thurm ab.
Ich bitte um Verzeihung, verehrter Herr Nachbar, sagte der General, der
Läufer genirte mich nicht im geringsten, und das Doubliren der Thürme hätte
mir nichts geholfen. Nein, der Schwerpunkt der Partie lag im Springer, und
den haben Sie, wie ich gestehen muß, mit einer erstaunlichen Schlauheit ver¬
wendet.
Der Baron konnte sich dieser Auffassung nicht anschließen. Er hatte ge¬
wonnen, wollte jedoch beweisen, daß der Gegner hätte gewinnen müssen, wenn
er seine, des Barons, Klugheit besessen hätte. Er stellte die Partie um fünf
Züge rückwärts wieder auf und appellirte an Eberhardts Urteil. Indem dieser
mit kritischem Blick die Stellung der Parteien musterte, drang ein leises Husten
an sein Ohr. Er sah Dorothea im Hintergrunde stehen, ein allerliebstes, mali-
tiöses Lächeln ihm herübersendend.
Das Urteil über die Partie war schwierig, und Eberhardt besann sich lange.
Ja, sagte er endlich, wenn ich alle Chancen vergleiche, neige ich auch zu der
Ansicht, daß das Doubliren der Thürme der Sache eine andre Wendung ge¬
geben haben würde, dabei ist aber —
O Doktor aller Fakultäten! sagte eine leise Stimme im Hintergrunde.
Sagtest du etwas, mein Kind? fragte der Baron aufblickend. Doch war¬
tete er die Antwort nicht ab, denn er war zu sehr an das Schachbret gefesselt.
Sehen Sie, Herr Graf, sagte er triumphirend, das Doubliren der Thürme,
darin lag es, das war immer meine Meinung.
Nun, sagte der General lächelnd, mir scheint es jetzt wirklich auch so, als
ob das Doubliren von Bedeutung wäre.
Baron Sextus sah mit erhöhtem Genuß auf die Figuren, die er so ge¬
schickt geführt hatte, und bestärkte sich in der Meinung, daß nach ihm selber
wohl Herr Eschenburg der feinste Spieler sei. Er drehte lachend den grauen
Schnurrbart und nickte dem jungen Manne zu. Doch fiel ihm jetzt ein, daß
es dunkel geworden sei, und er erinnerte an die Abfahrt.
Sie denken zu Fuß nach Scholldorf zurückzukehren? fragte er Eberhard:.
Das ist. ein weiter Weg und kein sehr angenehmer von hier aus. Begleiten
Sie uns doch, Herr Eschenburg. Sie können dann in meinem Wagen von Eich¬
hausen aus zurückfahren.
Eberhard! errötete vor Vergnügen und verbeugte sich zustimmend. Er
wagte kaum, Dorothea anzusehen, in dem Gefühl, daß jedermann aus seinen
Augen die geheime Geschichte seines Glückes ablesen könne. Dorothea saß mit
stiller, bescheidner Miene neben dem Grafen und sah in den eignen Schoß,
als ginge sie die Sache nichts an. Der Graf aber ließ seinen ruhigen Blick
von einem zum andern wandern und dachte in Erinnerung der eignen Vergangen¬
heit: O wie blind macht uns Männer das Vertrauen!
Der Wagen fuhr vor, und der Baron stieg, von Eberhardt gestützt, ein,
um neben seiner Tochter Platz zu nehmen. Dann setzte sich Eberhardt auf den
Rücksitz, und das leichte, schnelle Gefährt rollte davon. An der dunkeln
Himmelsdecke blitzten die Sterne hervor und ergossen ihr magisches Licht über
das stille Land.
Viel zu schnell für zwei pochende Herzen ging die Fahrt. Sie fühlten sich
so selig eines in des andern Nähe. Das Gespräch ging nur stockend, und wenn
Eberhardt nachher chätte sagen sollen, was er geredet, so würde er es nicht ver¬
mocht haben. Er war ganz in einen Rausch der Liebe versunken, und nur zu¬
weilen weckte es ihn wie ein elektrischer Schlag, wenn ein weiches Kleid ihn
streifend berührte, oder ein feiner Fuß unversehens mit dem seinigen zu¬
sammentraf.
Als er nach einer Fahrt, die ihm mit Blitzesschnelligkeit vergangen zu sein
schien, allein von Eichhausen abwärts fuhr und sich sehnsüchtig in die Ecke
schmiegte, wo die Königin seines Herzens gesessen hatte, da nahm er die freu¬
dige Zuversicht der wahren Liebe ohne irgend ein trübes Vorgefühl mit sich.
Pfarrer Sengstack in Scholldorf war damit beschäftigt, die Predigt für den
nächsten Sonntag auszuarbeiten. Er saß an seinem Schreibtische in der düstern,
kahlen Pfarrwohnung, die keine Spur der verschönernden Hand eines edleren
weiblichen Wesens zeigte, umgeben von Büchern, die teils auf dem Tische vor
ihm, teils neben dem Stuhle auf dem Boden aufgeschichtet lagen. Ein trübes
Lächeln erschien auf seinem Gesicht, indem er die Feder aus der Hand legte und
seufzend in den von der Morgensonne erhellten Garten blickte.
Welcher Strom von erhebenden Gedanken kommt über mich bei dieser herr¬
lichen Epistel des Paulus, und ich muß sie alle unterdrücken! sagte er sich. Ihr
sollt eure Perlen nicht vor die Säue schütten und das Heiligtum nicht den
Hunden geben. O welches Entzücken müßte es sein, vor einer Gemeinde zu
stehen, die Empfindung hätte, in der die Liebe für das Göttliche lebendig wäre,
und die den Worten ihres Lehrers mit Verständnis lauschte!
Sein Blick irrte unter den Bäumen und Sträuchern von kümmerlichem
Wachstum und schlechter Pflege umher, die er durch das niedrig gelegene Fenster
auf dem kleinen Grundstück der Pfarrei übersehen konnte, und kehrte dann zu
dem Tische zurück, indem er von einem farbig ausgeführten Plane angezogen
wurde, der mit kleinen Nägeln an der Schrankthür angeheftet war. Es war
der Plan zu Dorotheeus Kolonie, und ein schwärmerisches Licht entzündete sich
in den Augen des Geistlichen, als er dies Blatt Papier betrachtete,
ZuHörerinnen, wie diese da, dachte er, ihnen das Evangelium zu predigen,
müßte eine Lust sein, ihnen, denen die heilige Flamme der christlichen Wahrheit
im Herzen brennt!
Tief versunken in seine weitab schwärmenden Ideen, die ihn von der lastenden
Alltäglichkeit der Gegenwart hinwegführten, achtete er kaum darauf, daß ein
Frauenzimmer von nicht sehr sauberem Aussehen in das Studirzimmer trat
und unter dem Vorwande des Abstäubens mit einem Wischtuch über die be¬
scheidnen Möbel von polirtem gelblichem Holze hinwegfuhr, wobei sie mehr
Geräusch machte und mehr Ungeschicklichkeit entwickelte, als die sechs Stühle,
das Sopha und zwei große Bücherregale notwendig erscheinen ließen. Erst als
diese Magd, der die Sorge für das leibliche Wohl des Pfarrers anvertraut
war, zwei schwere Bücher laut schallend zu Boden warf, die auf einem der
Stühle in seiner Nähe lagen, wandte er sich mit einer unmutigen Bewegung
zur Seite.
Ich dächte, meine Liebe, sagte er, Sie könnten mit etwas mehr Rücksicht
verfahren. Und überhaupt habe ich, wie mir däucht, schon einigemale den Wunsch
geäußert, daß diese Reinigung des Zimmers während meiner Abwesenheit ge- -
Seschen solle.
Die Magd war von derber Beschaffenheit und zeigte im allgemeinen wenig
Verständnis für die Worte des Pfarrers. Sie hatte eine Neigung, seine Er¬
mahnungen übelzunehmen, während ihr die gelegentlichen Püffe und Fußtritte
ihres frühern Herrn, eines Ökonomen, als etwas den Verhältnissen entsprechendes
nicht aufgefallen waren. Sie schielte noch einmal nach dem Tische hin, auf
welchem seit mehreren Stunden das Frühstück unberührt stand, und schlug dann
im Hinausgehen die Thür hinter sich zu. Bei aller Achtung vor der geistlichen
Würde konnte sie sich zweifelhafter Gedanken über die Zurechnungsfähigkeit eines
Herrn nicht enthalten, der sein Essen über seinen Büchern vergaß.
Dem Pfarrer entging die üble Laune des Frauenzimmers nicht, und er
ward unangenehm dadurch berührt. Sollte ich etwa zu hart mit diesem Mädchen
verfahren, fragte er sich, daß sie sich so wenig in meine Wünsche schicken mag?
Dann vertiefte er sich wieder in seine Arbeit und steckte eben tief in Baurs
Werke über den großen Apostel, dessen zweiter Brief an die Thessalonicher ihn
beschäftigte, als er noch einmal durch das Hereinkommen der Magd gestört
wurde, welche ihm meldete, daß ihn eine feine Dame, wie sie sich ausdrückte,
zu sprechen wünsche.
Unwillkürlich durchzuckte ihn bei dieser Ankündigung die Vermutung, daß
es jene Dame sein müsse, deren werkthätige Liebe für die Armen einen so ganz
besondern Einfluß auf ihn ausübte, und deren reizende Gestalt sich nur zu deutlich
seinem Herzen eingeprägt hatte. Er fuhr in die Höhe, bestürzt an sich selbst
heruntersehend und in der Überlegung, ob er die Zeit haben werde, seinen mit
Tinte befleckten Schlafrock gegen ein passenderes Kleidungsstück zu vertauschen,
als bereits die Dame in das Zimmer trat und ihm entgegenkam. Aber mit
einer gewissen Beschämung über die schüchtern gehegte Erwartung, es werde das
Fräulein von Sextus sein, erblickte er ein ihm ganz fremdes Gesicht vor sich.
Dunkle, funkelnde Augen unter schön geschwungenen Brauen, ein scharf ge¬
schnittenes Gesicht mit stolzer Nase und von blühenden Farben sahen ihm ent¬
gegen, und die Haltung der Dame, ihr leise rauschender, elegant gearbeiteter
Anzug von schwarzer Seide, ihr Hut von ganz besondrer Form, alles zeigte
dem Geistlichen, obwohl er nicht eben weltkundig war, deutlich die Dame aus
der guten Gesellschaft.
Sie kam mit liebenswürdiger Gewandtheit und Offenheit lächelnd auf ihn
zu, indem sie ihren Besuch mit dem hohen Interesse entschuldigte, das seine
Predigten ihr eingeflößt hätten, und ihn bat, nur für kurze Minuten seine
Aufmerksamkeit einem Anliegen christlicher Natur ihrerseits zu schenken. Sie
kam seiner Verlegenheit und Unbeholfenheit sehr geschickt zu Hilfe, indem sich
unter ihren Händen fast wie von selbst zwei Sitze zurecht fanden, auf deren
einem sie, den Rücken nach dem Licht gewandt, sich niederließ, während sie ihn
auf dem andern sich zu setzen nötigte. Aber den Kindern gleich, die mit un¬
verfälschten Instinkt die guten von den bösen Personen zu unterscheiden wissen,
fühlte das einfache ehrliche und ideal gestimmte Gemüt des Geistlichen eine un¬
behagliche Luft durch diesen Raum wehen, der, wenn auch nicht von den Grazien
der Häuslichkeit, so doch von den Heroen des Geistes geweiht war.
Ich bin die Gräfin von Altmschwerdt, sagte die Dame, sich ihm vorstellend.
Und dann erzählte sie ihm, daß sie im benachbarten Fischbeck zur Kur sei und
zu ihrer geistlichen Erbauung Sonntags nach Scholldorf zu kommen pflege, wo
sie zur wahren Freude ihres Herzens einen echten und wahren Verkündiger der
reinen Lehre gefunden habe.
Der Pfarrer war nicht ganz unempfindlich für diese Schmeichelei, und der
erste Eindruck, den die Dame auf ihn gemacht hatte, verschwand allmählich unter
der Meinung, daß es nicht richtig sei, vorschnell über einen Menschen zu urteilen.
Doch war es ihm rätselhaft, daß er noch nie etwas von der Dame in der kleinen
Kirche bemerkt hatte und daß ihm auch weder der Küster noch sonst ein Ge¬
meindemitglied etwas darüber gesagt hatte, während doch eine so glänzende Er-
scheimmg, die unter den Pfarrangehörigen wie ein Paradiesvogel unter Krähen
gesessen haben mußte, schwerlich hätte unbemerkt bleiben können. In seiner
Verwunderung machte er kein Hehl aus diesem Gedanken,
Ich will es für ein Kompliment nehmen, daß Sie mich noch nicht in der
Kirche gesehen haben, entgegnete sie sanft und mit einem wehmütigen Lächeln,
als sei sie die letzte und bescheidenste der Jüngerinnen des Herrn, Dann aber
kam sie auf ihr Anliegen, wie sie es nannte. Sie sprach davon, daß ihr ganzes
Interesse der innern Mission geweiht sei, und daß sie wünsche, auch während
ihrer Badereise diesem Zwecke dienen zu können. Deshalb wende sie sich an
den hochwürdigen Pfarrer von Scholldorf.
Ich wende mich an Sie, sagte sie, weil ich überzeugt bin, daß Sie am
besten wissen werden, wo eine Wohlthat angebracht sein würde. Sowohl mit
Geld als mit Ermahnungen und Zurechtweisungen wünschte ich vorzugehen.
Und ich bin der Meinung, daß gerade diejenigen, welche am tiefsten gefallen
sind, am meisten der emporziehenden Hand bedürfen. Gewiß finden sich in
Ihrer Gemeinde verwahrloste Leute, unglückliche Familien, deren Ernährer ihrer
Pflicht nicht nachkommen. Solche Leute sind es, die ich aufzusuchen gedenke,
um nach meinen schwachen Kräften zu versuchen, sie aufzurichten.
Der Geistliche nickte. Gewiß giebt es deren und nur zu viele, sagte er.
Das Arbeitsfeld der innern Mission ist auch bei uns reich an Aufgaben, Wie
in den höhern Lebenskreisen die Freude am Mammon, so ertötet in den niedrigen
die Sorge um das tägliche Brod die Liebe zum Heiland, Großer Gott, wenn
wir uns im Geiste zurückversetzen in jene gesegnete Zeit, wo die Gestalt des
Erlösers leibhaftig auf Erden wandelte, so können wir es nicht glauben, daß
unter uns, wenn wir damals im jüdischen Lande gelebt hätten, auch nur einer
hätte sein können, der von ihm gehört und nicht Weib und Kind, Bruder und
Schwester, Haus und Hof, Äcker und Vieh verlassen haben sollte, um sein ge¬
heiligtes Antlitz zu sehen! Und ist der Herr nicht immer gegenwärtig, auch
noch jetzt? Und wir dulden nicht nur Weib und Kind, sondern allerhand er¬
bärmliche Dinge, Ehrgeiz und Eitelkeit, und Zorn und Haß, ja sogar die
niedrigsten Laster zwischen uns und dem Heil der Welt!
O wie wahr, mein Herr, o wie wahr! sagte Gräfin Sibylle.
Der Pfarrer trat an seinen Schreibtisch und nahm sein Verzeichnis der
aus öffentlichen Mitteln unterstützten Armen zur Hand. Sie werden keine an¬
genehmen Bekanntschaften machen, sagte er. Es ist ein rauher Schlag von
Menschen, der hier an der Küste lebt, und wahrhaftig, es hat uuter dem Ein-
flusse des unseligen Schnapses ein unbeschreibliches Unkraut in unserm armen
Dorfe unter dem Weizen gewundert, Da ist zum Beispiel der alte Jan Pieters,
der sich betrinkt, so oft er das Geld dazu hat, und der vor sechs Wochen aus
dem Zuchthause kam. Er hatte seiner Frau, die die Ernährerin der Familie ist,
den rechten Arm aus Bosheit zerschmettert. Ich möchte kaum raten, ihn zu
besuchen, Frau Gräfin, Geld würde bei ihm übel angebracht sein, weil er es
sicher vertrinkt, und daß Worte bei ihm Nutzen haben könnten, muß ich sehr
bezweifeln.
Schrecklich! sagte die Gräfin. Aber wüßten Sie nicht Leute, lieber Herr
Pfarrer, die dem christlichen Worte zugänglicher wären als dieser im Laster des
Trunkes verkommene Mensch?
Der Pfarrer las wieder in seinem Verzeichnis, lehnte sich in seinem Stuhl
zurück und schüttelte traurig den Kopf.
Wenn ich so die Reihe der Armen und Elenden durchmustere, kommt mir
oft der Zweifel, ob es überhaupt in menschlicher Macht steht, einen dieser Ge¬
fallenen zu bessern. Vielleicht liegt es an meiner ungenügenden geistlichen
Kraft — aber, wenn ich meine Wirksamkeit ernstlich prüfe, muß ich mir ein¬
gestehen, daß da nicht ein einziger ist, von dem ich sagen könnte, daß ihn meine
Predigt gebessert hätte.
Indem er so sprach, schien er ganz die Gegenwart seines Besuches ver¬
gessen zu haben und nur mit den eignen Gedanken beschäftigt zu sein, dit ihn
immer wieder auf den Punkt führten, wo er an seinem Berufe unter dem un¬
gebildeten Volke zweifelte.
Die Gräfin war verwundert über diese mangelnde Zuversicht des Pfarrers
und über die Offenheit, mit welcher er sie eingestand. Dies war ein Mann,
dachte sie, der seinen Geist mit Vorliebe auf überirdische Sphären lenkte und
für die Wirklichkeit des Lebens nicht taugte. Es war ihr jedoch nicht unlieb,
bei ihrem'Vorhaben gerade auf einen solchen gestoßen zu sein.
Sie unterschätzen gewiß Ihre Wirksamkeit, Herr Pfarrer, sagte sie, und
ich bin überzeugt, daß manche der Gnadenwirkungen, die Sie geneigt sind allein
dem Höchsten zuzuschreiben, durch Ihre Worte und Ihr Beispiel doch wenigstens
sehr gefordert wurden. Oder sollten in Ihrer Gemeinde solche Gnadenwirkungen
ganz gefehlt haben?
Es wäre undankbar von mir, undankbar gegen Gott, wenn ich das be¬
haupten wollte, entgegnete er lebhaft. Aber doch, Frau Gräfin, wenn ich den
Zustand unter diesen Leuten bedenke, möchte ich Ihnen raten, mir lieber die
Summe anzuvertrauen, welche Sie in Ihrer Großmut zu schenken beschlossen
haben, damit ich das Geld mit Hilfe der Gemeindeverwaltung verleite. Ich
glaube, daß es auf diese Weise leichter in die richtigen Hände gelangen
würde.
Mein Verdienst, wenn ich überhaupt von einem Verdienst reden darf, würde
hierdurch um die Hälfte geschmälert werden, versetzte die Gräfin. Ich gehöre
nicht zu jenen Personen, welche sich der Wohlthätigkeit als einer sauern Pflicht
entledigen und sie abkaufen mögen. Im Gegenteil glaube ich, daß die von
Gott bevorzugten Stände eine große Schuld an den Sünden der Armut da¬
durch tragen, daß sie sich scheuen, persönlich sich mit dem Elend bekannt zu
machen. Nennen Sie mir, bitte, einige Familien, die zwar vom Laster berührt,
aber noch nicht ganz dem Trunke anheimgefallen sind.
Nun denn, sagte der Pfarrer, ich will Ihnen derer nennen, und ich freue
mich ungemein Ihrer echt christlichen Gesinnung, gnädige Gräfin. Doch machen
Sie sich darauf gefaßt: Trinken thun sie alle. Zwei Laster sind es, die hier
ganz allgemein unter dem niedrigen Volke herrschen, das ist erstlich das Stehlen
und zweitens das Trinken. Es ist nicht bei allen so schlimm wie bei Jan Me¬
ters und einigen seiner Gesinnungsgenossen, die längst am Delirium verstorben
wären, wenn sie nicht zeitweise Gelegenheit hätten, sich im Zuchthause zu er¬
holen, und die, wie man zu sagen pflegt, nur das liegen lassen, was zu heiß
oder zu schwer ist. Diese besseren will ich Ihnen aufschreiben.
Er machte einige Notizen und reichte der Gräfin das beschriebene Blatt.
Darunter ist ein Mann, sagte er, bei dem ich in der That noch nicht alle
Hoffnung aufgeben möchte, weil er ein geweckter Bursche ist, der manches wohl
mehr aus Leichtsinn verübt hat. Es ist ein Schiffer namens Claus Harmsen.
Die Gräfin nahm dankend das Papier.
Und nun, sagte sie, habe ich noch den Wunsch, Sie möchten mir einen
Führer mitgeben.
Wenn ich selbst Sie begleiten —
O nein, nein, auf keinen Fall! rief die Gräfin. Ich bitte um ein Mädchen
oder einen Burschen, der im Orte bekannt ist.
Der Pfarrer zog die Schelle, und mit Hilfe der Dienstmagd ward ein
Bursche herbeigeschafft, dem die Verpflichtung oblag, den Garten zu bestellen
und der sich irgendwo in der Nähe frühstückend umhertrieb.
So verließ die Gräfin mit freundlichem Gruß das Studirzimmer des
Pfarrers, und er blieb träumend auf dem Flecke stehen, wo sie sich von ihm
verabschiedet hatte. Er dachte an die Jahre zurück, welche er als Hauslehrer
in einer vornehmen Familie verlebt hatte, und an seine Bekanntschaft mit Schloß
Eichhausen. Welch ein Glück mußte es sein, unter so herrlichen Leuten wie
diese Gräfin und das Fräulein von Sextus, in einer Gemeinde gebildeter Men¬
schen, in einer großen Stadt des Predigtamtes zu warten!
Während dessen durchschritt Gräfin Sibylle die Dorfgasse und begab sich
nach dem ärmsten Teile des Ortes, wo ihre feinen Stiefel mit den schmalen
Sohlen und spitzen Absätzen sich tief in den Erdboden einwühlten, sodaß der
mit Muschelstücken und Fischgräten durchsetzte Sand oft über ihrem Spann
zusammenschlug. Ihr Führer, bedächtig den Rest seines Frühbrots kauend,
schritt neben ihr und warf kritische Blicke seitwärts auf die elegante Erscheinung,
während er bei Begegnung einer befreundeten und geistesverwandten Natur mit
dieser ein listiges Blinzeln austauschte.
Gräfin Sibylle besuchte nacheinander drei Hütten, die ihr wenig Interes¬
santes zu bieten schienen. Wenigstens zeigte sie, im Gegenteil zu ihrem Ve-
nehmen im Pfarrhause, wenig liebevolle Teilnahme. Mit kaltem Auge und
kurzem Wort reichte sie den gebrechlichen Männern und zerlumpten Weibern,
die sie in den niedrigen, unreinlichen Räumen vorfand, eine Gabe und eilte,
wieder hinauszukommen.
Führe mich jetzt zunächst zum Hause des Claus Harmsen, sagte sie ge¬
bieterisch zu dem Burschen, als sie die dritte Hütte verlassen hatte.
Sie war angewidert von dem Anblick der kümmerlichen und unschönen
Existenzen, von der Finsternis und dem Übeln Geruch der erbärmlichen Woh¬
nungen, die sie betreten hatte, und sie fühlte eine unsägliche Verachtung gegen
dies Volk mit seinen schlechten Manieren. Mit gerunzelten Brauen schritt sie
weiter, peinlich berührt von der Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, doch fest
entschlossen, sie durchzuführen.
Vor einem einstöckigen Bau inmitten eines Hofes, wo ein Schwein sich in
der Jaucheupfütze wälzte, blieb ihr Führer stehen.
Hier wohnt Claus Harmsen, sagte er grinsend. Es schien seinem Ver¬
ständnis der Gegensatz zwischen dem Ort der Handlung und der Person der
Wohlthäterin immer mehr als ein belustigender einzuleuchten, und er stand, die
Hände in den Hosentaschen, wie zu einer Gratisvorstellung von Dorfkomödianten
geladen da.
Gräfin Sibylle gebot ihm, draußen zu warten, und öffnete die Hausthür,
durch welche sie sofort in die Küche trat, einen gepflasterten Raum, wo an einem
kalten Herde ein junges Frauenzimmer mit einem Kinde an der Brust auf einem
Schemel saß. Zwei größere Kinder spielten am Boden mit einigen Ferkeln,
die beim Öffnen der Thür quiekend an der Gräfin vorbei ins Freie stürzten.
Die Küche war eng und nur schwach erhellt durch ein kleines Fenster, dessen
Scheiben von Staub und Spinnweben bedeckt waren. Gräfin Sibyllens erster
Gedanke war der des Erstaunens darüber, daß ein so kleiner Raum so ungeheuer
viel Schmutz zu beherbergen imstande sei.
Ist Euer Mann nicht zu Hause, meine gute Frau? fragte sie.
Was soll mein Mann? fragte das Frauenzimmer. Sie war mißtrauisch,
denn die Fragen nach ihrem Gatten von seiten Höhergestellter zeigten nach ihrer
Erfahrung nur bevorstehende Strafen an und wurden am besten durch die
äußerste Zurückhaltung beantwortet.
Ich nehme Anteil an Eurer Armut, meine gute Frau, sagte Gräfin Si¬
bylle, welche sich vorsichtiger Weise auf der Schwelle der offenen Thür hielt.
Es ist meine Absicht, Euch zu helfen, wenn ich kann.
Das Frauenzimmer, durch das hereinfallende Licht geblendet, hielt die
Hand über die Augen und starrte den Besuch schweigend an. Das blasse Ge¬
sicht des armen Weibes war nicht häßlich, und die melancholischen Augen hätten
wohl, wenn das Glück ihnen seinen Schein hätte verleihen wollen, angenehm
und lieblich blicken können. Aber das Elend hatte sie blöde gemacht und hatte
tiefe Furchen in die schmalen Wangen gegraben. Es zogen sich von den Augen¬
winkeln zum Munde hin Falten, welche an die Thränenfluten gemähnten, die
dort geflossen waren.
Antwortet! Wo ist Claus Harmsen? fragte die Gräfin ungeduldig.
Ich weiß nicht, antwortete die Frau.
Er ist doch Euer Mann! Ihr werdet wohl wissen, wo er ist, sagte die
Gräfin. Sie zog ihre Börse und nahm ein kleines Goldstück heraus. Hier,
sagte sie, das schenke ich Euch.
Sie wagte sich bei diesen Worten in die Küche hinein, indem sie ihr Kleid
eng zusammenraffte und in die Höhe zog, und legte das Geld auf den Leib
des Kindes auf dem Schoß der Frau, welche ihr keine Hand entgegenstreckte.
Wo ist Euer Mann? Ich will ihm auch etwas schenken.
(Fortsetzung folgt.)
Kleines Staatshandbuch des Reichs und der Einzelstaaten. Nach amtlichen und
andern zuverlässigen Quellen zusammengestellt. Bielefeld und Leipzig, Vclhagen und
Klasing, 1883.
Dieser kleine, 222 Seiten umfassende, hübsch ausgestattete und typographisch
geschickt und übersichtlich angeordnete Oktavband unternimmt den Versuch, die wich¬
tigsten staatlichen und persönlichen Notizen unsers Gesamtvaterlandes in einem
handlichen Nachschlagcbuche zu vereinigen. Er giebt einen Überblick über den ge¬
samten staatlichen Organismus des Reiches wie jedes einzelnen Bundesstaates, und
läßt infolge seiner Anordnung sämtliche Behörden in der Gliederung nach ihrem
Ressortverhältnis zu einander, nach der Jneinanderschachtelung und dem innern Aufbau
zu der Gesamthierarchie des Staates erkennen. Neben kurzen genealogischen No¬
tizen, dem Namen des Regenten und des Thronfolgers, neben knapper Darlegung
der Verfassungsverhältnisse und manchen statistischen Notizen von Bedeutung führt
das Buch dann die Namen der Persönlichkeiten auf, welche an der Spitze der Be¬
hörden oder im öffentlichen Leben von besondrer Wichtigkeit erscheinen. Dazu ge¬
hören sämtliche Abgeordnete des Reichstages und der Einzellandtage, in den Hanse¬
städten die Mitglieder von Senat und Bürgerschaft, die deutschen Botschafter,
Gesandten und Berufskonsuln, die höhern Befehlshaber der Armee und Marine,
die Präsidenten der Gerichte, die Oberstaatsanwälte und ersten Staatsanwälte, die
preußischen Landräte und die ihnen im Rang etwa gleichgestellten Beamten der
andern Staaten, alle akademischen Lehrer und die Gymnasialdirektoren, die Vor¬
stände der Reichsbankhauptstellen, die Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbetriebs¬
direktoren, endlich die Bürgermeister der größern Städte.
Es ist nicht möglich, schon jetzt ein zutreffendes Urteil über das Buch zu
fällen. Der Erfolg wird lehren, ob ein Bedürfnis in dieser Richtung bestand und
ob die vorliegende Arbeit überall das Richtige getroffen hat, die Lücke auszufüllen.
Jedenfalls wird das kleine Staatshaudbuch schon in seiner jetzigen Form manche
interessante Auskunft gewähren, und da Herausgeber und Verlagshandlung von
vornherein Erweiterungen und Verbesserungen in Aussicht gestellt haben, so ist es
nicht unwahrscheinlich, daß aus kleinem Anfange sich hier ein wertvolles, unent¬
behrliches Nachschlagelmch entwickeln wird.
as wir vor einigen Wochen (vgl. Ur. 6) in Betreff der franzö¬
sischen Kolonialpolitik vermuteten, beginnt sich jetzt zu erfüllen.
De Brazza ist zur Gründung einer Niederlassung, die sich zu
einem Staate erweitern soll, nach dem Kongo abgereist, und in
Madagaskar haben die dort an der Ost- und an der Nordwest¬
küste eingetroffenen französischen Kriegsschiffe in diesem Augenblicke bereits die
Feindseligkeiten gegen die Hova-Regierung eröffnet, welche die Insel oder we¬
nigstens einen beträchtlichen Teil derselben in die Gewalt Frankreichs bringen
sollen. Da es so gut wie sicher ist, daß diese beiden Unternehmungen die Welt
weiter beschäftigen werden, so wird es nicht überflüssig sein, sie etwas näher
ins Auge zu fassen.
Der Kongo oder Zaire ist der größte Strom Afrikas und einer der längsten
und wasserreichsten Flüsse der Erde überhaupt. Aus den Seen in Zentral¬
afrika kommend, ergießt er sich im Südwesten des Weltteils in das Atlantische
Meer. An seiner Mündung fast anderthalb deutsche Meilen breit, hat er hier
eine Tiefe von mehr als zweihundert Faden, und weiter oben, jenseits der
Stromschnellen der Gegend, wo er das Gebirge durchbricht, ist er noch zwanzig
Meter tief. Bis vor kurzem war nur sein unterer Lauf in Europa bekannt,
erst Stanley bereiste und beschrieb ihn und seine Uferlandschaften von der Quelle
bis zur Meeresküste. Dieser Riesenstrom, in den eine große Anzahl kleinerer
Wasserläufe mündet, zeigt zu verschiedenen Zeiten einen sehr verschiedenen Cha¬
rakter, indem er während der heißen und trocknen Monate des Jahres seicht ist,
während der Regenzeit aber ungeheure Wassermassen fortwälzt. Er ist ferner
sehr reißend; denn sein Fall beträgt auf eine Strecke von ungefähr dreihundert
Meilen gegen tausend Meter. Aber nur an einer Stelle, bei Mandschanga,
stellt er der Schifffahrt auf eine Entfernung von anderthalb Meilen unüber¬
windliche Schwierigkeiten in Gestalt von Klippen und Strudeln entgegen, die
auch künftig nicht zu beseitigen sein werden. Weiter aufwärts ist er mit flach¬
gehenden Dampfern zu jeder Jahreszeit zu befahren, und das gleiche gilt von
dem Netze von Strömen und Flüssen, die das Land zu beiden Seiten des Kongo
bewässern.
Dieses Land, am untern Laufe des Stromes zwischen den portugiesischen
Besitzungen Loango und Angola gelegen, hat in der Ebene einen äußerst frucht¬
baren Boden und reiche Schätze an Kupfer- und Eisenerzen. Es ist an der
Mündung des Flusses ungesund, wie fast alle Küstenstriche Westafrikas, im
Innern dagegen, namentlich in dem Hochlande der Montes Quemados, dessen
Gipfel die Höhe von tausend Metern erreichen, auch für Europäer zur Nieder¬
lassung wvhlgeeignet. Die Eingebornen sind Neger, wenig begabt, aber gut¬
mütig, ehrlich und nicht kriegerisch. Als das Land 1484 von dem Portugiesen
Diego Cas entdeckt und, wie damals üblich, für die Krone Portugal in Besitz
genommen wurde, bildete es ein Reich mit den sechs Provinzen Sonho, Bamba,
Batta, Pango, Sundi und Pemba, in deren letzter auf einem Berge die Haupt¬
stadt Ambassi lag. Der König (Tschenu) zeigte sich entgegenkommend, rasch
breitete sich das Christentum aus, und bald war von den katholische» Missio¬
nären die ganze Bevölkerung zu ihm bekehrt, natürlich wie in allen diesen Ge¬
genden nur äußerlich. Als in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts die
kriegerischen Stämme der Giagi in das Reich eingedrungen waren, wurden sie
mit Hilfe der Portugiesen wieder verjagt, aber als die Provinz Sonho (an der
Mündung des Kongo) zum Entgelt für diesen Beistand an Portugal abgetreten
werden sollte, kam es zu einem Bürgerkriege, der damit endete, daß die Pro¬
vinz vom Reiche sich losriß, welchem Beispiele zu Ende des siebzehnten Jahr¬
hunderts auch Bamba folgte. Zuletzt zerfiel das ganze in Stücke, die fortan
nur von kleinen Häuptlingen beherrscht wurden; die in San Salvador umge¬
taufte Hauptstadt Ambassi wurde eine Wüstenei, das Christentum verschwand
beinahe ganz, und die Bevölkerung versank in die alte Armut und Unwissenheit.
Versuche, das Gebiet sür europäische Kultur wiederzugewinnen, mißlangen,
bis Stanley nach seiner großen Entdeckungsreise durch den dunkeln Erdteil die
Sache in die Hand nahm. Im Auftrage und mit Unterstützung der 1876 ge¬
gründeten, unter dem Vorsitz des Königs der Belgier arbeitenden „Internatio¬
nalen Afrikanischen Gesellschaft" kehrte er im Jahre 1879 nach dem Kongo
zurück, um sein Zivilisationswerk zu beginnen. Zuerst errichtete er zu Banana
am Ausflusse des Stromes in das Meer eine Station für Maschinen, Werk¬
zeuge und Vorräte aller Art. Dann stellte er eine Dampferverbiudung von
Jsangila nach Madschcmga her und legte bei Vivi eine zweite Station an, von
der aus er auf dem rechten Ufer eine vier Meter breite Fahrstraße erbaute,
welche die Stromschnellen umging und beim Stanley-Pook, dem Anfangspunkte
der großen schiffbaren Flußstrecke im Innern, endigte. Die Schwierigkeiten, mit
denen er dabei zu kämpfen hatte, waren außerordentlich groß. Das Terrain
hemmte den Fortschritt der Arbeiten durch dichten Urwald und Felsschluchten;
Proviant und Futter für die Lasttiere waren an Ort und Stelle nicht zu haben
und mußten deshalb nachgeschafft werden, infolge des Klimas erkrankten und
starben viele von den Arbeitern. Die Eingebornen weigerten sich anfangs,
Dienste zu leisten, und später zeigten sie sich nur gegen hohen Lohn dazu be¬
reit, sodaß sich Stanley genötigt sah, von Zanzibar Leute kommen zu lassen.
Aber der energische Mann verzagte nicht, und seine Beharrlichkeit wurde mit
Erfolg belohnt. Bald standen ihm vier Dampfer zur Verfügung, zwei für die
Strecke von der Mündung bis zur Station Vivi, und zwei für den mittlern
und obern Lauf des Kongo. Nachdem er das Dampfboot avM glücklich
bis zum Stanley-Pook gebracht hatte, gründete er achtzehn Meilen davon ent¬
fernt, an der Mündung des Jbari Nkutu, eine dritte Station. Dann kehrte
er für einige Monate nach Europa zurück, um dem Könige der Belgier über
seine Thätigkeit Bericht zu erstatten, und während seiner Abwesenheit übernahm
der deutsche Reisende Peschuel-Lösche den Befehl über die in Afrika zurückge¬
bliebenen Beamten und Arbeiter der Expedition.
Nachdem also Stanley der Welt die große Wasserstraße nach dem Herzen
Afrikas gezeigt, errichtete die Internationale Gesellschaft, deren energischster Agent
er war, unter seiner Leitung am Kongo verschiedne Posten zu dem Zwecke, von da
aus Handel zu treiben und dem Einflüsse von Religion und Gesittung Bahn
zu brechen. Es schien eine Zeit lang nichts weniger als unmöglich, daß der
Kaufmann und der Missionär der Zivilisation und dem Verkehr das weite
Land noch einmal auf friedlichem Wege eroberten. Keine Macht dachte an
Annexion desselben, jede, die in der Gesellschaft vertreten war, begnügte sich mit
der Absicht, es durch Anlegung von Straßen und Aufstellung von Dampfbooten
zugänglich zu machen, die Bevölkerung von Kriegszügen, Raub und Sklaven¬
jagden abzulenken und sie allmählich an die oder jene Industrie zu gewöhnen,
welche einen vorteilhaften Austausch von Landeserzeugnissen gegen europäische
Fabrikwaaren zu sichern geeignet war. Es war die beste Aussicht, daß dieses
Verfahren der Internationalen Gesellschaft das Kongothal oder wenigstens einen
großen Teil desselben ohne irgendwelche Gewaltmaßregeln für den Handelsver¬
kehr gewann und humanen Einflüssen öffnete. Bis in weite Entfernung von
der Küste waren bereits Brücken und Wege angelegt, gingen Lasttiere, Wagen
und Dampfer, und die Bevölkerung, die anfangs mißtrauisch gewesen war und
bisweilen das Treiben der weißen Männer zu hindern gesucht hatte, begann sich
zu fügen und den Fremden sogar Beistand bei ihrer Arbeit zu leisten. Es war
vorauszusagen, daß bei Fortdauer dieser Verhältnisse im Laufe von zehn bis
zwanzig Jahren eine Kette kommerzieller Ansiedlungen, Depots, Faktoreien und
Märkte sich von dem Ausflusse des Kongo bis nach Nordosten hinauf und
vielleicht bis zu dem Punkte im Innern erstreckt haben würde, wo der Lualuba
den großen Landsee verläßt. Und wäre dieser Gedanke auch nicht auszuführen
gewesen, so kann niemand mit Fug daran zweifeln, daß ein langer und breiter
Gebietsstreifen im Zentrum Afrikas auf diesem Wege in Zustände versetzt worden
wäre, welche den dort hausenden wilden Stämmen große Vorteile gebracht und
der europäischen Spekulation und Arbeit neue Märkte geboten hätten. Das
alles ist auch uoch heute möglich, aber leider nicht mehr recht wahrscheinlich.
Wir sehen uns vielmehr vor das Bedenken gestellt, ob der Same der Zwietracht,
der bereits ausgestreut ist, nicht aufgehen und alle jene schönen Pläne und
Hoffnungen vereiteln wird.
Der eine Zweig der Internationalen Afrikanischen Gesellschaft reichte nach
Frankreich hinein. Der Führer der Expedition, welche derselbe nach Westafrika
auf Entdeckungen aussandte, war der tapfere und thatkräftige Graf Savorgncm
de Brazza, der sich nicht damit begnügte, innerhalb der Linien seiner Auftrag¬
geber zu arbeiten, sondern seine Bemühungen ganz und gar darauf richtete, der
französischen Republik einen Vorteil zuzuwenden, indem er ihr eine neue Ko¬
lonie zu verschaffen bestrebt war. De Brazza reiste, unterstützt von der fran¬
zösischen Regierung, im Jahre 1879 nach dem Kongo ab. Er näherte sich
demselben von Norden her, d. h. er fuhr den Ogowefluß hinauf und stieß nach
einer mühseligen und gefährlichen Wanderung östlich vom Stanley-Pook, einer
seeartigen Erweiterung des Kongo, auf diesen Strom. Noch einmal brach er
nach dem obern Ogowe auf, dann kehrte er nach dem Ufer des Kongo zurück,
und hier begann er die Ausführung seiner politischen Absichten, indem er in
Jbaka, an der Mündung des obengenannten Jbari Nkutu, eines von Süden
her dem Kongo zuströmenden Flusses, sich von Makoto, einem der vielen kleinen
Fürsten oder Häuptlinge, die jetzt das Kougovolk beherrschen, die Erlaubnis
zur Anlegung einer Station in der Nähe des Stanley-Pook erwirkte und sich
vertragsmäßig gegen Geschenke für Frankreich ein beträchtliches Stück Land ab¬
treten ließ, auf dem er die Faktorei Brazzaville anlegte, nachdem er zuvor schou
am obern Ogowe die Station Franceville errichtet hatte. Über Vivi ging
Brazza alsdann nach der Mündung des Kongo und von dort nach dem Gabun¬
flusse, wo er um Weihnachten 1880 eintraf, und von wo er sich wieder nach
Franceville begab. Dann legte er an dem von ihm im Jahre 1878 entdeckten
Alima, einem andern Ueberflusse des Kongo, 1881 eine dritte Station an,
die er Pohle d'Alima nannte, und die an der Stelle liegt, wo der Alima schiffbar
wird. Da nach seinen Angaben die Gegend zwischen diefem und dem Ogowe frucht¬
bar und dicht bewohnt ist, da sich ferner ohne viel Schwierigkeit hier Fahrstraßen
erbauen lassen, da ferner die dort hausenden Negerstämme friedlich und ihm
günstig gesinnt sind, und da ihm endlich auch am Kongo bisher keine Hinder¬
nisse in den Weg gelegt worden sind, so hat es den Anschein, als würden ihm
seine Absichten gelingen.
Während de Brazza seine dritte Faktorei am obern Alima einrichtete, traf
der Schiffsfähndrich Mizo mit zwei andern Franzose» aus Europa am Ogowe
ein. Dieselben langten um die Mitte des September 1881 in Franceville an,
und Mizo übernahm die Leitung dieser Station. De Brazza aber kehrte jetzt
nach Paris zurück, wo er der Regierung seinen Vertrag mit Makoto vorlegte
und diese sowie die Kammern bewog, ihn zu ratifiziren und ihn weiter zu unter¬
stützen. Die Folge war, daß eine größere französische Expedition nach dem
Kongothale aufbrach. Eine Kompagnie algerischer Schützen wird den Reisenden,
der jetzt Offizier der französischen Flotte geworden ist, als Eskorte begleiten,
ein französisches Kanonenboot ist zu seiner Versügung gestellt worden, und man
hat ihn mit reichlichen Vorräten an Waffen und Munition versehen. Er zog
als Agent der Internationalen Gesellschaft, einer Pnvatgenossenschaft, aus und
verwandelte sich bei seiner Rückkehr in einen Beamten und Offizier einer großen
kontinentalen Regierung, der sich jetzt nach Afrika begeben hat, um die Erfüllung
eines Vertrages, welcher dieser Regierung ausschließliche Privilegien verleiht,
nötigenfalls mit Gewaltmitteln durchzusetzen. Mit andern Worten: wo bisher
europäische Unternehmer neutrale Personen waren, die kein nationales Symbol
vereinigte, und die unter keiner Regierung dienten, sondern reine Privatleute
waren, kommt dieser Unternehmer mit einer Tricolore in der Hand und im
Namen und Auftrage der französischen Regierung und versetzt damit das Vor¬
gehen im Kongothale auf einen ganz neuen und nicht ungefährlichen Boden.
Er hat den ursprünglichen Plan einer friedliche» Eroberung des Landes unter¬
graben und mit Bewußtsein und Absicht Grund zu Streitigkeiten gelegt.
Uns Deutschen kann das recht sein, wie alle ähnlichen Unternehmungen
der Franzosen in fernen Gegenden. In England aber ist man darüber in
hohem Grade mißtrauisch geworden, sowohl in der Kaufmannswelt als im
Parlament. Schon sind in der Sache Anfragen an die Minister ergangen,
und Jakob Bright hat als Sprecher für die Fabrikanten in seiner Wählerschaft
eine Motion angekündigt, welche eine gründliche Besprechung der ganzen An¬
gelegenheit zur Folge haben wird. Auch die Londoner Presse hat sich des
Gegenstandes bereits bemächtigt und bespricht ihn in Ausdrücken, die den
Franzosen durchaus nicht schmeicheln. So sagt der vint^ Isis^xu u. a.:
„Was das Publikum zu wissen wünschen muß, ist, wie England sich zur Frage
dieser großen Einfahrt in das Innere Afrikas stellt, in welchem Grade unsre
Handelsinteressen von dem Thun und Treiben der verschiedenen Parteien berührt
werden, die gegenwärtig stromaufwärts vordringen, und ob irgend eine derselben
auf geraden oder krummen Wegen sich ausschließliche Vorteile zu verschaffen
strebt. Es ist möglich, daß aus Stanleys glänzender Entdeckung internationale
Verwicklungen hätten hervorgehen können, aber sei dem, wie ihm wolle, die
Quelle und der Ursprung der jetzt bestehenden Schwierigkeiten ist einzig und
allein in dem eigentümlichen Verfahren de Brazzas zu suchen, welcher meinte,
er habe für die Franzosen gewisse Rechte erworben, welche, wenn man ihnen
nicht entgegentritt, wahrscheinlich Verwirrung und Zusammenstöße zur Folge
haben werden, wo das NichtVorhandensein eines um sich greifenden Wesens
sicher wohlthätige Ruhe und dauernden Frieden geschaffen hätte." An einer
andern Stelle sagt das Blatt: „Nicht alle Folgen dieses gewagten Schrittes
lassen sich voraussehen. Aber es liegt auf der Hand, daß der französische Ehr¬
geiz die besten Aussichten ans eine friedliche Entwicklung des Kongothales be¬
droht. Die bloße Thatsache, daß eine Regierung in aller Form auf die Bühne
getreten ist, deutet auf Konflikte hin, die vielleicht nicht immer diplomatischer
Natur sein werden. Die britische Regierung unterhandelt bereits mit Portugal
auf der Grundlage seiner alten Ansprüche auf Gebiet zu beiden Seiten des
Flusses. Noch ist keine Entscheidung erreicht, aber es ist im Unterhause erklärt
worden, es werde dafür gesorgt werden, daß die Portugiesen, falls ihr Anspruch
zugestanden werden sollte, unsern Handel nicht stören dürften.*) Jetzt erscheint
eine andre Regierung am Kongo, setzt sich über beide Ufer seines Laufes und
vernichtet mir nichts dir nichts die Unabhängigkeit der Bevölkerung an der
Küste. In unsern Fabrikdistrikten giebt sich beträchtliche Eifersucht bezüglich
des portugiesischen Verlangens kund, und wenn Brights Motion durchginge,
würde das Kabinet sich gehindert sehen, irgend einem Vertrage zuzustimmen,
welcher die Einverleibung von Gebiet durch eine europäische Macht scmktionirte...
Was die Internationale Gesellschaft betrifft, so ist zu bemerken, daß Stanley,
dem französischen Agenten zuvorkommend, an den Kongo zurückgekehrt ist, und
daß er nicht zu den Leuten gehört, die sich schüchtern und demütig An¬
maßungen, welche unter der Decke spielen, unterwerfen." Die Handelskammer
von Manchester hat darauf hingewiesen, daß ein bedeutender Kapitalbetrag jetzt in
dem Handel auf den verschiedenen Flüssen der afrikanischen Westküste angelegt sei,
und daß die Industrie ihres Bezirks ein erhebliches Interesse an seinem Gedeihen
habe. Sie hat darauf aufmerksam gemacht, wie die Franzosen den Niger von
seiner Mündung bis nach Timbuktu hinauf monopolisirt haben, und bezieht sich
schließlich auf den Brazzascheu Vertrag, der Frankreichs Kolonien zu vermehren
bestimmt ist. „Alle diese Dinge, meint der lölöZraxli, beschränken einen Handel,
der bisher frei war, und halten die vielversprechende Entwicklung dieses Teiles
der Welt zur Gesittung auf. Was den großen Kongo betrifft, so gab ihn
Stanley der ganzen Menschheit, und die Zivilisation swirklich nur die?^ verlangt,
daß er nicht der Habgier und Streitsucht als Beute überantwortet werde."
Ähnlich wie zu der Kongvfrage verhält sich begreiflicherweise die öffentliche
Meinung in England zu dem Vorgehen der Franzosen gegen Madagaskar. Der
Angriff aus die Insel hat begonnen. Die Stadt Tamatave, ein Hafenplatz der
Küste nicht fern von der französischen Insel Reunion und deshalb die gegebene
Landungsstelle für ein Jnvasionsheer, ist nach den neuesten Nachrichten be¬
setzt worden, und zu gleicher Zeit sind vier Kriegsschiffe nach dem Nordweste»
abgedampft, wo die Republik früher eine Faktorei besaß. Nach Verträgen, die
vor etwa dritthalbhundert Jahren abgeschlossen wurden, glaubt Frankreich eigent¬
lich im rechtlichen Besitz von etwa drei Vierteilen der ganzen ungeheuern Insel
zu sein. Doch will es dieses angebliche Recht jetzt nicht geltend machen, son¬
dern sich mit vier Zugeständnissen zufrieden geben: 1. Die Königin soll für
einen an der madagassischen Küste geplünderten französischen Lugger Schaden¬
ersatz leisten; 2. die Hovaregierung soll das Erbrecht der Nachkommen des fran-
zösischen Konsuls Laborde auf das Grundeigentum anerkennen, welches dieser
auf der Insel besaß; 3, sie soll die Häuptlinge bestrafen, welche auf französischem
Gebiete ihre Flagge aufgehißt haben, und 4, sie soll die von ihr aufgehobenen
Vorrechte der Franzosen wiederherstellen. Der letztgenannte Punkt ist der allein
wichtige. Wollte die Königin Ranavalo auf ihn eingehen, so hieße das den
Franzosen die thatsächliche Herrschaft über die Insel einräumen. Man wird
also eben nicht auf ihn eingehen, es sei denn durch Waffengewalt dazu ge¬
zwungen. Kein unparteiischer Richter wird den Malagassen in der Sache ganz
Unrecht geben können. Das Verfahren gegen sie wiederholt nur die alte Ge¬
schichte westlicher Manöver gegen östliche Halbbarbaren, mit denen man sich
quasi rechtliche Ansprüche schuf, die schließlich mit dem Schwerte in der Hand
eingetrieben wurden. Auch die englische Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts
weiß von solchen Ränken zu erzählen, und so hat John Bull seinem Nachbar
über den Kanal in der Sache nichts vorzuwerfen. Aber zu spotten kann er
nicht unterlassen, und damit hat er wohl nicht Unrecht. Sie waren immer unsre
Nebenbuhler, aber keine glücklichen, darf er sagen. Sie verloren durch uns ihre
indischen Besitzungen, wir vertrieben sie ans Canada und zwangen sie, Louisiana,
d. h. das ungeheure Thal des Mississippi mit den Thälern seiner Nebenflüsse,
zu verkaufen. Sie rächten sich dadurch, daß sie Algerien und neuerdings Tunis
wegnahmen, was uns des Mittelmeeres wegen unbequem und verdrießlich war.
Der Versuch, Madagaskar zu erobern, gehört auf ein andres Blatt, es soll
damit die Niederlage ausgeglichen werden, die wir ihnen in Ägypten beigebracht
haben. Frankreich mußte die südafrikanische Insel einziehen, weil das nord¬
afrikanische Delta nebst Zubehör in englische Hände geraten war. Es mußte
in Antananarivo, der Hauptstadt der Malagassen, auch ein Tel El Kebir haben.
Es ging gar nicht anders. Thiers pflegte gelegentliche Kriege, die sein Vater¬
land führte, damit zu rechtfertigen, daß es nützlich sei, von Zeit zu Zeit jen¬
seits der Grenzen seine Fahne zu zeigen. ^ Sonst hätten natürlich die Völker
das Vorhandensein Frankreichs vergessen, und das würde eine internationale
Kalamität gewesen sein. Diese große Nation, die, wie wir aus Victor Hugo
wissen, „das Mekka der Menschheit" ist, würde den Leuten aus dem Gedächtnis
geraten sein, wenn französische Musketiere oder Dragoner nicht bisweilen ein
paar Fremde umgebracht hätten, lediglich um die Welt an die Aufgabe zu er¬
innern, die einem edeln Volke zu Teil geworden ist. Unparteiische Beobachter
können etwas boshaft Humoristisches darin finden, daß, weil wir Frankreich am
Nil „ignorirt" haben, die Malagassen für solch unhöfliches Gebühren bestraft
werden müssen. Die Fürstin und die Bevölkerung der bedrohten Insel freilich
werden in der Thatsache, daß sie hingeschlachtet werden, weil in Kairo die
doppelte Kontrole ein Ende nahm und die Eitelkeit der Franzosen Genug¬
thuung dafür verlangt, gerade nichts erfreuliches erblicken und ebensowenig etwas
logisches.
So die englischen Spötter. Indeß, wenn auch der nächste Beweggrund
für diese plötzliche Thätigkeit der Franzosen im fernen Südosten neu ist, so hat
es doch schon oft Streit zwischen Frankreich und Madagaskar gegeben. Die
Franzosen landeten vor etwa zweihundertundfünfzig Jahren ans der Insel und
gründeten hier 1774 eine Niederlassung. Während des langen Krieges mit
Napoleon I. nahmen die Engländer ihnen ihr dortiges Fort und die benach¬
barten Inseln Mauritius und Reunion weg. Die letzter» erhielten sie beim
Frieden zurück, das Fort aber übergab man 1818 dem König Radama, um
ihn durch ein Geschenk zur Unterdrückung des Sklavenhandels zu bewegen.
Seine Nachfolgerin trieb 1835 die britischen Missionäre aus dem Lande und
begann eine Verfolgung der eingeborenen Christen und der fremden Ansiedler.
Dies führte 1845 zu einem englisch-französischen Angriff auf die Küstenstadt
Tamatave. Derselbe mißlang, und die Insel versank unter der Königin Nanavalo
wieder in Heidentum und Barbarei. 1855 unternahmen die Franzosen allein
eine neue Expedition gegen Madagaskar, erlitten aber eine Niederlage, und der
Kaiser Napoleon, damals vom Krimkriege stark in Anspruch genommen, verfolgte
die Sache nicht weiter. Seitdem hat der Westen die Insel unbehelligt gelassen.
Als die reaktionäre Königin starb, folgte ihr ihr Sohn, ein Christ und Freund
der Gesittung, und obwohl es gelegentlich zu Rückfällen und Aufständen kam,
sind die Zustände unter ihm und der jetzigen Herrscherin im ganzen befriedigend
gewesen. Man hat Missionäre geduldet, ja ermutigt, der Handel mit Europa
hat zugenommen, die Sklaverei ist beseitigt, die Zivilisation hat sich weithin
ausgebreitet. Die Franzosen behaupten nun, die gegenwärtige Beherrscherin der
Insel sei nur „Königin der Hovas," des mächtigsten Stammes der Malagassen,
und der Besitz ganz Madagaskars komme ihr rechtlich nicht zu. Das scheint
aber nur ein Kniff der französischen Diplomatie zu sein. In neueren Verträgen
werden die Vorgänger der jetzigen Königin entschieden als Souveräne der ge¬
samten Insel angesehen und behandelt, und zwar ohne irgendwelchen Vorbehalt.
Gewiß bestand das Reich von Madagaskar einmal aus einer Zahl von Stämmen,
die voneinander unabhängig waren, aber das war auch mit Frankreich und allen
andern europäischen Staaten einmal der Fall. Die Franzosen behaupten, ein
Recht darauf zu haben, mit den Sakalavas, einem untergeordneten Stamme
auf der Nordwestseite der Insel, direkt zu unterhandeln, und ihr jetziger Streit
mit der Königin entspringt zum Teil aus der Weigerung der letztern, die Un¬
abhängigkeit von Leuten anzuerkennen, die sich einst ihrer Obmacht unterwerfen
mußten. Allerdings ist diese Unterwerfung von verhältnismäßig neuem Datum.
Sie erfolgte unter Radama I., Madagaskars Peter dem Großen. Bei seinem
Regierungsantritt fand er ein barbarisches Volk vor, bei seinem Tode hinterließ
er ein vielfach zivilisirtes. Er förderte Missionäre und Gewerbsunternehmer,
höhere und niedere Schulen, übte seine Kriegsleute nach europäischem Muster
und versah sie mit guten Waffen, schickte talentvolle Malagassen nach Mauritius
und selbst nach Europa, um sich in den Wissenschaften und Künsten des Westens
auszubilden und sie dann in der Heimat zu lehren. Der genannte Stamm im Nord¬
westen, auf dessen Freundschaft die Franzosen sich jetzt stützen, zeichnete sich damals
durch Seeraub und Sklavenhandel aus. Der König unterdrückte beides im
Einklange mit einer Übereinkunft, die er mit den Engländern abgeschlossen hatte,
und zwang die Sakalavas, seine Oberherrlichkeit anzuerkennen. Seine Laufbahn
bot für alle Freunde des Fortschritts hohes Interesse, es war der erste Versuch,
Madagaskar der Familie der zivilisirten Völker und Länder zu nähern. In
dieser Beziehung erstrebte und erreichte er, wenigstens zum Teil, auf seiner
fernen Insel, was Mehemed Ali in Ägypten im Auge hatte und leistete. Nach
seinem Tode nahm das zwar ein jähes Ende, indem unter seiner Nachfolgerin
das Christentum und die Gesittung wieder vom Götzendienst und der einstigen
Roheit und Unwissenheit überwuchert wurden, aber nach Verlauf von drei
Jahrzehnten erhob sich ein zweiter Radama, unter dem und dessen Erben
Madagaskar vielfach wiedergewonnen wurde, wenn nicht überall für das Christen¬
tum, so doch für Duldung und Menschlichkeit. Die wieder zugelassenen Missio¬
näre haben die große Masse des Hovavolkes noch nicht bekehrt, aber immerhin
auf viele Eindruck gemacht, und sie sind im Lande geblieben als Vorposten
westlicher Bildung und Denkart und als Vorbereiter besserer Zustände. Es
scheint darum ein grausames Verhängnis zu sein, wenn bloßer Landhunger jetzt
einen Kampf zwischen einer großen europäischen Nation und diesem halb zivili¬
sirten, aber fortschreitenden Volke entzündet hat.
Madagaskar ist ein Land, dessen Besitz wirklich begehrenswert ist. Da man
Australien als eiuen Weltteil zu betrachten hat, so ist die Insel der Hovas wohl
die größte der Erde; denn sie ist ungefähr so ausgedehnt wie Frankreich selbst.
Ungleich Australien, zeigt sie ein prächtiges Netz von Flüssen und Strömen,
die von dem Zentralgebirge, von dessen Höhen mehrere die Schneegrenze dieser
Breiten überragen, indem sie über zwölftausend Fuß hoch sind, nach der öst¬
lichen und der westlichen Küste hinabfließen. Das Innere ist durchaus gesund,
aber am Meere zieht sich fast allenthalben wie am afrikanischen Festlande ein
mehr oder minder breiter Gürtel von Sümpfen und Marschen hin, deren Luft
den Europäern gefährlich ist. Die Bevölkerung, welche von einigen nur auf
drei, von andern auf fünf Millionen Seelen geschätzt wird, gehört zum Teil
einer Rasse an, welche Verwandtschaft mit den Kaffern zeigt, redet aber nur
eine Sprache, die zu den malayischen Idiomen zu zählen ist. Die herrschenden
Stämme, die Hovas, sind hochgewachsene, breitschulterige Leute, die sich durch
physische Kraft und energischen Geist auszeichnen. Sie gleichen den Zulus an
Mut und Ausdauer, sind denselben aber sonst in vielen Beziehungen überlegen.
Es ist daher nicht zu erwarten, daß die Eroberung der Insel den Franzosen
sehr leicht fallen wird. Die französische Geschichte ist in diesem Teile der Welt
voll von mißglückter Angriffen, und man darf annehmen, daß es ihnen hier
ergehen wird, wie ihnen von Alfred de Musset in Betreff eines gewissen Landes
am Rheine prophezeit worden ist: „Sie werden auf die Fußtapfen ihrer Väter
stoßen." Nur wird ein Unterschied sein, die Fußtapfen werden mit der Spitze
nach dem Ausgangspunkte gerichtet sein, ungerächte Niederlagen und hastige
Rückzüge sind die Ereignisse, von denen die Küsten von Madagaskar erzählen.
Es giebt hier und im Innern keine Kanäle und Eisenbahnen, wie sie die Eng¬
länder auf dem Wege von Alexandrien nach Kairo antrafen, dagegen reißende
Bergströme, schroffe Schluchten ohne Brücken und dichtverwachsene Wälder in
Menge, es werden mehr Leute durch Krankheit und Maugel untergehen als
durch Schwert und Kugel, und wenn die Malagassen sich das Beispiel des
Fabius Cunctator zum Muster nehmen, so wird es manches Hundert Rothosen
kosten, bevor man in Paris die Einnahme von Antananarivo durch Illumination
feiern kann. Wenn Frankreich sich an dem ägyptischen Kriege nicht beteiligte,
so war die Ursache wohl Angst vor Berlin. In Madagaskar sieht es eine
Insel, mit der Vismarck sich nicht befaßt, und wo es sich deshalb keine Ent¬
haltsamkeit aufzuerlegen hat. Es wird sich hier doppelt trösten, indem es den
Verlust von Elsaß und Lothringen durch Gründung eines neuen Lemurischen
Reiches gutmacht und Tel El Kebir durch einen Sieg verwischt, der den fran¬
zösischen Poeten neuen Stoff zu Lobgesängen liefert. Indeß hat die Sache
auch ihre bedenkliche Seite, besonders für das Kabinet Jules Ferry. Eine
größere Expedition nach Madagaskar ist ein kostspieliges und, wie gezeigt, ge¬
fährliches Unternehmen. Ferry hat weder mit England noch mit Deutschland
dabei zu rechnen, wohl aber mit Clemenceau und seiner Partei, die aus demokra¬
tischen Grundsätzen gegen alle kriegerischen Abenteuer sind. Afrika ist von alter
Zeit her verhängnisvoll für europäische Politiker gewesen, im alten Rom und
in unsern Tagen, wo im Znlulande eine Dynastie erlosch und Minister an
Mißgriffen scheiterten, die sie in Transvaal oder Tunis begangen hatten.
Madagaskar kann noch das Feldgeschrei einer neuen Ministerkrisis an der
Seine werden.
n patriotischer Erhebung begehen wir heute den Tag, welcher dem
deutschen Volke deu sieggekröuten Begründer seiner Einheit, den
glorreichen Erneuerer seines Kaisertums geschenkt hat. Von neuem
gedenken wir da zunächst der unvergleichlich großen Thaten, durch
welche das so lange vergeblich Ersehnte endlich Wahrheit und
Wirklichkeit wurde. Mit tiefem Dankesgefühle werden wir uns dann des reichen
Segens bewußt, der unter der Sonne des vom Kaiser beschirmten Friedens
aus der blutigen Saat aufzugehen begann und an dem auch diese der Pflege
der Wissenschaft geweihte Stätte ihren wohlgemessenen Anteil empfangen hat
und noch fortdauernd empfängt.
Weiterhin aber steigt dann im Gegensatze dazu doch auch das ernste Bild
jener trüben Zeit noch einmal vor uns auf, in welche Anfang und Mitte dieses
thatenreichen Fürstenlebens gefallen sind. Wir sehen den königlichen Knaben,
wie auch über ihm die Trümmer des väterlichen Reiches zusammenzustürzen
drohen, wie er, vielleicht noch ohne ganz klares Bewußtsein von der Furchtbar¬
keit der Lage, doch einen für sein ganzes Leben entscheidenden Eindruck empfing
durch den tiefen Schmerz der königlichen Eltern, in welchem das Unglück des
Vaterlandes so überwältigend und dabei so menschlich wahr zum Ausdruck kam.
Und nach dem begeisterten Aufschwünge der Befreiungskriege, an deren letzten
Ereignissen dem königlichen Jüngling noch selbst thätig teilzunehmen vergönnt
war, durchmißt unsre Erinnerung dann die lange, trübe Zeit der Enttäuschungen,
der zunehmenden Entmutigung und des verstimmten Verzagens, in welcher das
deutsche Volk seine liebsten Hoffnungen scheitern, seine Ideale geächtet oder von
unreinen Händen entweiht sah, sodaß es ihm selbst nach einer erneuten, ver¬
zweifelten Anstrengung nicht gelingen wollte, den Bann zu brechen, der auf
seiner Entwicklung zu lasten schien und die Gestaltung des nationalen Staates
in unerreichbare Ferne hinauszuschieben drohte.
Und dann fühlen wir uns noch einmal umweht von jenem erquickenden
Hauche frischeren nationalen Lebens, welcher vor einem Vierteljahrhundert nach
langer erstickender Schwüle durch Preußen und Deutschland zu wehen begann,
als mutige, befreiende, zielbewußte Worte des Prinz-Regenten eine neue Ära
nationaler Politik einleiteten, demselben Hauche, welcher dann allmählich zu
dem luftreinigenden Sturmwinde erstarkte, vor dem alte Schmach Deutschlands
im Norden endlich verwehte, unter dessen Brausen das in heißem innern Kampfe
geschmiedete Schwert preußischer Wehrhaftigkeit den aussichtslos verschlungenen
Knoten der deutschen Frage mutig durchhicb, der schließlich die siegreichen Heere
des geeinigten Deutschlands wie im Fluge bis unter und in die Mauern von
Paris getragen.
Nicht bloß den Sieger in den größten Schlachten, welche deutsche Waffen
geschlagen, nicht bloß den Begründer des neuen Reiches, den Hort des Friedens
und den Hüter unsrer nationalen Wohlfahrt verehren wir in unserm greisen
Kaiser — in ihm verkörpert sich gleichsam die ganze deutsche Geschichte während
der letzten drei Menschenalter. Der hehrste aus der immer kleiner werdenden Zahl
derer, welche Deutschland noch in seiner tiefsten Erniedrigung gesehen, der
treuesten einer in der unentmutigten Wahrung der nationalen Hoffnungen in
trüber Zeit ist er endlich das auserwählte Werkzeug geworden, das die Wieder¬
geburt Deutschlands vollendete.
Wohl liegt da die Versuchung nahe, anknüpfend an die neuere Geschichte
Deutschlands eines der Probleme, die sich aus derselben für die Gegenwart er¬
geben, vom Standpunkte des Wünschenswerten und des Möglichen aus zu be¬
handeln, um an der Hand der Geschichte vielleicht einen Blick in die Zukunft
zu thun. Aber das hieße doch hinabsteigen in die stanberfüllte Arena der Tages¬
politik und wäre nicht möglich, ohne auf die in der Gegenwart mit einander
ringenden Gegensätze einzugehen und zu ihnen für und wider Stellung zu nehmen.
Wäre aber ein solches Verfahren schon nicht in Einklang zu bringen mit dem
alten, wohlbegründeten Brauche, welcher an dieser Stelle nur die über dem
Wandel der Tagesmeinungen und über dem Streite der Parteien stehende
Wissenschaft zum Worte gelangen läßt, so wäre es vollends unangemessen gerade
an dem heutigen Tage. Denn was auch in der Mühsal der politischen All¬
tagsarbeit trennend zwischen den einzelnen Gliedern des Staates stehen mag,
heute wird es zum Schweigen gebracht und vergessen. Ohne Ausnahme finden
sich heute alle zusammen in dem einen Gefühle dankbarer Verehrung für unsern
greisen Kaiser, und fern bleibt der Feier des ihm geweihten Tages alles, was
auf den lichten Festesglanz desselben auch nur den leisesten Schatten werfen könnte.
Künftigen Geschlechtern bleibt es vorbehalten, das Zeitalter Kaiser Wilhelms I.
von dem Standpunkte der historischen Wissenschaft aus zu betrachten. Aber fast
möchte man denjenigen beneiden, dem diesen herrlichen Stoff zu behandeln dereinst
das köstliche Recht gewährt sein wird. Denn sicherlich kann der nationalen Ge¬
schichtschreibung keine dankbarere Aufgabe geboten werden als diese, deren Wert
und Bedeutung für das gesamte deutsche Volk völlig zweifellos ist und von
allen ohne Ausnahme anerkannt wird. So wird der Schöpfer des nationalen
deutschen Staates dereinst auch in den Mittelpunkt der nationalen Geschichte
gerückt sein, und wie er durch seine Thaten die deutsche Nation als solche hat
erstehen lassen, so wird an und in der Behandlung derselben endlich auch eine
nationale deutsche Geschichtschreibung entstehen und groß werden.
Denn haben wird eine nationale Geschichtschreibung? Konnten wir eine
solche haben? Und wenn nicht — wie kam das? Und wie kann das anders
werden?
Diese Fragen sei es mir vergönnt an dem heutigen festlichen Tage zu be¬
handeln, wo wir, unserm Kaiser huldigend, auf den irdene- und ergebnisreichsten
Teil der deutschen Geschichte zurückblicken.
Über Begriff und Wesen nationaler Geschichtschreibung überhaupt sich zu
verstündigen, ist wohl nicht so schwer, wie es zunächst scheinen mag. Denn
maßgebend für die Bezeichnung einer Geschichtschreibung als nationale sind in
gleicher Weise Inhalt, Form und Tendenz derselben. Als national wird
man wohl diejenige Geschichtschreibung bezeichnen dürfen, welche einen Stoff be¬
handelt, der in seiner epochemachenden Bedeutung für die Gesamtentwicklung
des betreffenden Volkes allgemein anerkannt ist, und zwar behandelt einmal
in einer Form, welche der Gcsamtvertrctnng der nationalen Bildung ange¬
messen und mit Genuß verständlich ist, und dann in der Absicht und mit dem
Erfolge behandelt, daß der geschichtliche Inhalt desselben erkannt und begriffen
werde als die notwendige und kontinuirlich fortwirkende Grundlage für die in
der Gegenwart bestehende Ordnung und daher auch geachtet werde als ein Mo¬
ment, welches auf die weitere Entwicklung der Nation bestimmend einzuwirken
berufen ist. Nationale Geschichtschreibung, so wenig sie der gelehrten Grund¬
lage entbehren kann, ist daher weder ausschließlich noch vorzugsweise gelehrt,
vielmehr verfolgt sie eine allgemeine, praktisch-politische oder national erziehende
Tendenz. Sie will und soll die lebendige Verbindung herstellen zwischen Ver¬
gangenheit und Gegenwart, indem sie durch den Nachweis seiner historisch ge¬
gebenen Bedingungen über Wesen, Berechtigung und Entwicklungsfähigkeit des
gegenwärtigen Zustandes aufklärt und so die Nation erzieht und anleitet zur
Erfüllung ihrer Pflichten und zur Übung ihrer Rechte in Gegenwart und Zu¬
kunft. Die nationale Geschichtschreibung zieht die Summe aus der Vergangen¬
heit und übermittelt, was darin geirrt und gefehlt, als warnende Lehre, was
darin Großes gewonnen und geleistet worden ist, als kostbares Vermächtnis
und ermunterndes Vorbild der Gegenwart, damit das eine wie das andre Frucht
trage und Segen bringe in der Zukunft.
Von hier aus ergeben sich nun sofort die Bedingungen, von welchen Ent¬
stehung und Entwicklung einer nationalen Geschichtschreibung abhängig sind.
Zunächst und vor allem bedarf es dazu des Vorhandenseins einer Nation,
eines in sich geschlossenen Volkstums, welches sich seiner nationalen Eigenart
bewußt ist und nicht bloß die mit nationaler Existenz verbundenen Rechte zu
üben, sondern auch die davon untrennbaren ernsten und schweren Pflichten zu
erfüllen bereit und zu erfüllen befähigt ist. Zu solchem nationalen Bewußtsein
aber kommt ein Volk selten ohne harte innere Kämpfe und schwere äußere
Heimsuchungen; zur Nation wird es meistens erst geschmiedet durch ein großes,
gewaltiges Schicksal. Es ringt sich zu nationalem Dasein erst empor durch
mühselige und oft lange Zeit unbelohnte Arbeit, zuweilen erst im Verzweiflungs¬
kampfe um seine Existenz. Und gerade solche große Krisen, in welchen eine
Nation sich als solche formirt oder nach Zeiten pflichtvergessener Schwäche sich
gewissermaßen auf sich selbst besinnt, sie bilden naturgemäß den vornehmsten,
nie veraltenden und nie erschöpften Stoff nationaler Geschichtschreibung. So
entfaltet bei den Griechen die nationale Geschichtschreibung in Herodot ihre erste
und zugleich schönste Blüte, unmittelbar nachdem das bisher vielgeteilte und
uneinige Volk gegenüber dem persischen Angriff sich als Nation fühlen gelernt
und in dem gemeinsamen Kampfe für seine Freiheit in unsterblichen Helden¬
thaten als solche bewährt hatte. Ähnliches geschah bei den Römern nach dem
Hannibalischen Kriege, welcher die nationale Kraft des in seiner Existenz be¬
drohten römischen Volkes zu den unvergleichlichsten Anstrengungen gesteigert hatte.
Und Mittelalter und Neuzeit bestätigen diese Beobachtung. Die erste große
nationale That des französischen Volkes, der Kampf um die Behauptung des
heiligen Landes, dessen Last anderthalb Jahrhunderte lang der französische Adel,
wenn auch nicht allein, so doch vorzugsweise getragen hat, und die während
derselben Zeit vollendete Abschließung des nationalen französischen Staates durch
die Eroberung der englischen Besitzungen auf dem Festlande fanden in Villehardouin
und Joinville, der große nationale Kampf gegen die englischen Erbansprüche
und die Neusammlung der zum Tode erschöpften nationalen Kräfte Frankreichs
nach dem hundertjährigen Kriege in Froissard und Philipp Commes ihre na¬
tionalen Historiker. Und besteht nicht noch heutigen Tages ein ganz ähnliches
Verhältnis zwischen der Ära der napoleonischen Kriege und den Werken von
Thiers, den in ihrer Art klassischen Produkten echt französischer nationaler Ge¬
schichtschreibung mit allen ihren Vorzügen, aber auch allen ihren Mängeln?
Gerade diese Beispiele weisen auf eine Eigenschaft hin, ohne welche der an
sich der Behandlung würdigste Stoff nicht wohl Gegenstand einer in dem fest¬
gestellten Sinne national zu nennenden Geschichtschreibung werden kann. Soll
diese nämlich, wie es ihr Wesen erfordert, auf die Gesamtheit der Nation
wirken, so muß sie sich über den Parteien halten, die in der Gegenwart mit
einander streiten. Daher bleiben ihr füglich die Stoffe versagt, welche nicht
behandelt werden können, ohne daß der nationalen Einheit gefährliche Momente
in Wirksamkeit gesetzt werden. Die Entwicklung des Gegensatzes zwischen Athen
und Sparta, das Ringen zwischen Optimalen und Populären, der Kampf der
Rosen in England, die Religions- und Bürgerkriege in Frankreich konnten viele
Generationen hindurch nicht Stoffe nationaler Geschichtschreibung werden. Und
dies gilt überhaupt von allen Stoffen, in deren Behandlung die Gegensätze
Wiederaufleben, welche Jahrzehnte hindurch das Leben einer Nation zerrissen,
vielleicht gar vergiftet haben. Denn erst sehr spät verlieren dieselben die ge¬
fährliche Kraft, den Hader der Vergangenheit in der Gegenwart neu zu ent-
stammen, erst sehr spät werden sie zu wirklich objektiver Behandlung geeignet.
Mit Vorliebe dagegen wird die nationale Geschichtschreibung sich solchen Stoffen
zuwenden, für welche die ganze Nation ohne Rücksicht auf die Kontroversen
der Gegenwart gleich warm empfindet, welche alle in gleicher Weise als eine
Zierde und als einen Segen der nationalen Vergangenheit ansehen und ehren.
So standen vor den Augen aller Hellenen die Perserkriege, so standen und
stehen vor denen aller Franzosen die Kreuzzüge und die hundertjährigen Kämpfe
gegen England, vor denen aller Engländer die grundlegenden Verfassungskämpfe
und die glorreiche Revolution. Wie auch immer der Einzelne zu den seine
Zeit beschäftigenden Kontroversen stehen mag, einig sind sie alle darin, daß jene
Ereignisse einen Grenz- und Denkstein in dem Werden ihrer Nation bezeichnen,
eine Epoche, ohne die alles Folgende nicht möglich gewesen wäre und an der
daher alle nachlebenden Geschlechter sich gleichmäßig freuen und erheben sollten.
Ohne diese Liebe einer Nation zu ihrer Vergangenheit ist eine nationale Ge¬
schichtschreibung überhaupt nicht möglich. Sie kann nicht entstehen, wo die
Vergangenheit von dem Standpunkte des Parteikampfes der Gegenwart aus
immer von neuem in Frage gestellt und bestritten wird, wo man, sie sich gegen¬
seitig zum Vorwurfe machend, in ihr vornehmlich die Waffen sucht zur Verdäch¬
tigung oder zur Niederwerfung politischer Gegner.
Wie — so frage ich nun — steht es in dieser Beziehung mit Deutschland
und der deutschen Geschichtschreibung?
Ohne Frage bietet die Vergangenheit unsres Volkes herrliche Stoffe natio¬
naler Geschichtschreibung in reicher Fülle. Und doch haben wir eine nationale
Geschichtschreibung noch nicht bei uns entstehen sehen. Wohin wir uns in der
deutschen Geschichte wenden, überall finden wir die prinzipiell entgegengesetzten
Ansichten im Streite um allgemeine Anerkennung. Es giebt nicht eine einzige
unter den großen Epochen der deutschen Geschichte, als deren Ergebnis,
während die einen durch sie einen großen und heilsamen Fortschritt bewirkt sein
lassen, die andern nicht mit noch viel größerm Nachdruck einen bedauernswerten
Rückschritt zu erweisen suchen.
Da haben wir zuerst die Großthaten unsres mittelalterlichen Kaisertums,
an deren Erforschung die Geschichtschreibung unsrer Tage ihre beste Kraft gesetzt,
an der sie ihre Methode fortschreitend vervollkommnet und sich erst wahrhaft
zum Range einer Wissenschaft erhoben hat. Die deutsche Kaiserzeit selbst,
während deren Deutschlands Geschicke die des Abendlandes bedingten, hat
eine nationale Geschichtschreibung nicht hervorgebracht. Denn in dem Wider¬
streit zwischen dem mächtigen Zuge nach einem Weltstaat und einer Weltkirche
und dem zähen Beharrungsvermögen der natürlich begründeten und historisch
ausgebildeten Stammessonderung erhob man sich damals noch garnicht zum
Begriff einer Nation. Wie in Sprache und Dichtkunst, so herrscht auch in der
Geschichtschreibung jener Zeit durchaus der landschaftliche Charakter vor. Nicht
als ob es nicht auch damals Historiker gegeben hätte, welche über die Grenzen
der Stämme hinweg die deutsche Nation als eine Einheit erfaßten und in ihr
die alles tragende Stütze für Weltstaat und Wcltkirche fahen — es genügt
an Otto von Freising zu erinnern, der in seines großen Neffen, Kaiser Friedrichs I.,
Thaten die glorreiche Erneuerung der Herrlichkeit deutscher Nation darstellte,
die er früher schon als entschwunden betrauert hatte, oder an den Mönch von
Se. Blasien, der von der Stille seines Schwarzwälder Klosters aus mit stolzem,
aber verständnisvollen Blicke die kühnen Bahnen verfolgte, welche die staufische
Kaiserpolitik mit Heinrich VI. einschlug, und bei des gewaltigen Kaisers jähem
Tode seinem Jammer über das damit hereinbrechende nationale Unglück in
noch heute tief ergreifender Klage Ausdruck gab. National in der Auffassung
und — im Sinne jener Zeit — auch in der Tendenz, sind diese Werke es doch
nicht im Erfolge gewesen. Entbehrten sie doch schon der nationalen Sprache!
Es bleibt doch immer eine höchst merkwürdige Thatsache und wirft ein grelles
Licht auf das in der politischen Entwicklung des deutschen Mittelalters wesent¬
liche, daß in derselben Zeit, in der Wolfram von Eschenbach und Walther von der
Vogelweide sangen, die Großthaten der dentschen Kaiser in Deutschland selbst
nur in lateinischer Sprache für die Nachwelt erzählt wurden. Kaum kann es
einen stärkern Beweis dafür geben, wie wenig das Volk als solches an dieser
ganzen Kaiserpolitik beteiligt war, wie wenig dieselbe als nationale Sache gelten
konnte, wie es sich trotz deutscher Kriege und Siege dabei doch eigentlich nur
um römische Reminiscenzen und um internationale Ideale handelte.
Eine Ahnung von der Bedeutung des Mittelalters erfüllte die Humanisten.
Plante doch ihr kaiserlicher Gönner Maximilian die Abfassung eines nationalen
Geschichstwerkes; „Bildersaal deutscher Ahnen" sollte dasselbe heißen. Ausgeführt
worden ist es freilich nicht, trotz einiger vorbereitenden archivalischen Reisen und
andern einleitenden Studien dazu. Wenn schon Willibald Pirkheimer in der Ge¬
schichte das vornehmste Mittel gefunden zu haben meinte zur Hebung der deutschen
Nation und durch gute historische Darstellungen den gerechten nationalen Stolz
desselben zu wecken dachte, so beklagte es doch noch Melanchthon als ein Unglück
des deutschen Volkes, daß es zwar viel herrliche Fürsten hervorgebracht und
ruhmwürdige Thaten vollführt habe, aber der literarischen Verherrlichung beider
noch immer entbehre.
Im Fortgange des Reformativnszeitalters überragen auch auf diesem Ge¬
biete statt der nationalen je länger je mehr die religiösen, die konfessionellen,
die theologischen Interessen, und die Geschichtschreibung, die in Wimpheling,
Sebastian Frank und Aventin einen vielverheißenden Aufschwung genommen,
wurde bald zur dienenden Magd der Theologie erniedrigt. Im siebzehnten
Jahrhundert trat sie dann in ein ganz ähnliches Abhängigkeitsverhältnis zur
Rechtswissenschaft, besonders zum Staats- und Völkerrecht in ihrer Anwendung
ans Politik und Diplomatie. Sie verliert darüber so ganz die Fühlung mit
dem geistigen Leben der Nation, das freilich während des großen Krieges arg
verkommen war. daß sie garnicht mehr die Absicht hat, zu dieser zu sprechen,
sondern sich in boruirter Vornehmheit auch sprachlich in die engen Schranken
der Gelehrsamkeit einschließt. Erregte doch noch Johann Jakob Mascov, als er
im dritten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts ans Grund verdienstlicher kri¬
tischer Forschung dem deutschen Volke die Geschichte des Mittelalters in deutscher
Sprache zu erzählen unternahm, bei seinen Mitgelehrten so schweren Anstoß,
daß er, um seinem Werke wissenschaftlich nicht jeden Erfolg abzuschneiden, sich
entschließen mußte, die Kaisergeschichte in lateinischer Sprache fortzuführen.
Und als dann unter dem Einflüsse der Aufklärung auch in Deutschland
endlich el» neues geistiges Leben sich zu regen begann, da übertrug man die
Feindschaft, welche die Aufklärung gegen die Kirche im allgemeinen und gegen
das Papsttum im besondern predigte, auf das Mittelalter überhaupt. So kam
schließlich jene unwahre, auf Selbsttäuschung beruhende und auf Selbstvergöt-
terung hinauslaufende Richtung zur Herrschaft, die uns in den für philosophisch
ausgegebenen Phantastereien eines Jselin und Meiners entgegentritt. Ohne
jede Kenntnis des einzelnen brachen diese Leute den Stab über dem Mittel¬
alter im ganzen und stellten dasselbe dar als eine Zeit der Roheit, der Sünd¬
haftigkeit und der geistigen Nacht, um im Gegensatze dazu sich selbst pharisäisch
zu brüsten, wie sie es so herrlich weit gebracht, und die als Muster angestaunten
Franzosen als das erste Volk der Welt zu preisen.
Der Gegenschlag blieb nicht aus. Zuerst gab, im Gegensatz zu dem Franzosen¬
kultus der Aufklärung, der urdeutsche Justus Möser in seinen Osnabrückischen
Geschichten ein zwar nicht ganz historisch treues, aber lebenswahres Bild alt-
deutscheu Wesens. Dann entwarf Herder gleich in seiner Erstlingsschrift eine
gerechte, liebevolle Schilderung des bis dahin so völlig verkannten Mittelalters
in Rücksicht auf Verfassung, Kirche, Gesellschaft und Literatur, und gleichzeitig
gewann Schiller, der in seinen Leistungen als Historiker gewöhnlich ungerecht
unterschätzt wird, durch den Glanz seiner künstlerischen Darstellung und die
hinreißende Gewalt seines politischen Idealismus der Geschichte die Teilnahme
des großen Publikums und machte dieselbe zum erstenmale wieder aus einer
Schulsache der Gelehrten zu einer lebendigen Volkssache.
Die folgenden Ereignisse, die Zeit der Knechtschaft und des Kampfes um
die Freiheit, steigerten zugleich mit dem nationalen Gefühl den historischen Sinn
und die Vorliebe für das national Deutsche, und von der Verdammung und
Verhöhnung des Mittelalters ging man allmählich über zu jenem unverständigen
Mittelalterkultus, den die Romantik in Schwang brachte. Auf diesem Boden erwuchs
Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen, welche ohne hervorragenden
wissenschaftlichen Wert doch eine so weit reichende und nachhaltige Einwirkung auf
die Literatur überhaupt ausgeübt hat, wie kaum noch ein andres Geschichtswerk;
auf demselben Boden erwuchsen schließlich die Raupachschen Hohenstaufentragödien.
Die christlich-germanische Schwärmerei mit ihren stark katholisirenden Neigungen
wurde Mode, wurde eine Macht; aus der Literatur und der Kunst fand sie
ihren Weg in die Politik und in die Kirche.
War es da nun wohl zu verwundern, wenn nachher, beim Beginn eines
neuen, gesünderen politischen Lebens in Deutschland, das eben noch vergötterte
Mittelalter wiederum der Gegenstand der heftigsten Angriffe wurde? Wenn
man dasselbe gar sür die Mängel der Gegenwart verantwortlich machte, indem
man die moderne Feudalität fälschlich mit der mittelalterlichen, die hierarchischen
Bestrebungen der protestantischen Orthodoxie einfach mit dem hierarchischen Papst¬
tum zusammenwarf? Mußte in einer innerlich so stürmisch gährenden Zeit da
nicht schließlich immer Weilern Kreisen erst die Fähigkeit und dann auch der
gute Wille verloren gehen, dem Mittelalter historisch gerecht zu werden?
Die damals entstandenen Gegensätze aber kämpfen noch heute miteinander,
so Großes inzwischen durch die um Ranke geschaarte kritische Schule in der
wissenschaftlichen Erforschung des Mittelalters geleistet sein mag. Noch fehlt
eine allgemein anerkannte Durchschnittsauffassung, ein nationales Bild des deut¬
schen Mittelalters, in welchem diejenigen Züge desselben, die in ihrer Bedeutung
für die Gesamtentwicklung Deutschlands von alle» gleichmüßig anerkannt sind,
einheitlich zusammengefaßt wäre». Dem sentimental romantisircnden Standpunkte,
den Wilhelm von Giesebrecht in seiner deutsche» Kaisergeschichte einnimmt, stellt
sich schroff der politisch-kritische entgegen, den zuerst Heinrich von Sybel ver¬
treten, indem er die in die Ferne schweifende, unerreichbaren Idealen nachjagende
Kaiserpolitik der Ottonen, Salier und Staufer mit beredten, aber doch nicht
berechtigten Worten als die erste und eigentliche Quelle alles Elends nachzu¬
weisen suchte, welches Deutschland in der Folgezeit getroffen und auf Jahr¬
hunderte zur Ohnmacht und Zerrissenheit verurteilt hat.
Jedenfalls ist das deutsche Mittelalter in seiner Gesamtbedeutung für die
Entwicklung der deutschen Nation noch kontrovers, noch ist diese nicht von
dem Standpunkte der nationalen Geschichtschreibung festgelegt. Wo und wie
sie diskutirt werden mag, sofort entbrennt der Kampf zwischen Zcntralisten und
Partikularisten, zwischen Groß- und Kleindeutschen, zwischen Welsen und Ghi-
bellinen aufs neue.
Aber bei welcher von den großen Epochen der deutschen Geschichte, die für
eine nationale Historiographie vorzugsweise in Betracht kommen würde», ist
nicht das gleiche, zum Teil in noch weit höherm Maße der Fall?
Ich denke zunächst an die Reformation. In der Erneuerung der evan¬
gelischen Lehre durch den thüringischen Bauernsohn, welcher deutsches Volks¬
bewußtsein und deutsches Volksgewissen in sich verkörperte, sieht der eine Teil
der deutschen Nation die herrlichste Großthat deutscher geistiger und sittlicher
Kraft, der andre verurteilt sie als eine revolutionäre Verirrung, als eine
frevelhafte Auflehnung gegen göttliches und menschliches Recht. Während die
einen sich rüsten, die vierte Säkularfeier des Reformators zum Ausgangspunkte
für eine neue Sammlung und Erhebung des deutschen Protestantismus zu
machen, meinen die andern noch immer nicht endgiltig auf den ehemaligen Be¬
sitzstand verzichten zu dürfen und sind in streitbarer Rüstung das Verlorene
zurückzugewinnen bestrebt. Natürlich kommt dieser Gegensatz auch in der ge¬
schichtlichen Behandlung des Reformationszeitalters immer von neuem zum Aus¬
druck: noch öffnet sich zwischen der protestantischen und der katholischen Auf¬
fassung eine unausfüllbare, eine nicht zu überbrückende Kluft. Haben wir es
doch noch jüngst erleben müssen, daß ein deutscher Historiker, freilich der streit¬
barsten einer unter den Vorkämpfern des Ultramontanismus, aber ein Mann
reich an Können und Wissen und glänzend begabt für die Kunst historischer
Darstellung, in einem gründlich gelehrten, glänzend geschriebenen, aber durch
und durch tendenziös berechneten Werke die Behauptung zu erweisen unter¬
nahm, den Höhestand nationalen Wohlbehagens auf Grund einer vollauf be¬
friedigenden politischen und kirchlichen Ordnung und der reichsten Blüte des geistigen
und wirtschaftlichen Lebens habe Deutschland in der zweiten Hälfte des fünfzehnten
Jahrhunderts erreicht gehabt; es seien damals alle Bedingungen vorhanden
gewesen, welche die Entwicklung Deutschlands zum nationalen Staate gewähr¬
leisten konnten, und erst durch die revolutionäre, rechtlose und unnötige Frie¬
densstörung Luthers sei dieselbe zum Verderben unsers Volkes gewaltsam unter¬
brochen und auf Abwege gelenkt worden. So wird hier die Reformation
verantwortlich gemacht für all das schwere, was Deutschland seitdem zu erdulden
gehabt hat.
schroffer noch und noch leidenschaftlicher prallen diese Gegensätze in der
Geschichte des siebzehnten Jahrhunderts, vornehmlich des dreißigjährigen Krieges,
zusammen, wo auf der einen Seite der furchtbare Ferdinand II., der lieber
über eine Wüste regieren als Ketzer unter seinem Szepter dulden wollte,
Maximilian von Baiern und Tilly, auf der andern ein Mansfeld, ein Anhalt
und vor allem ein Gustav Adolf als die heldenhaften Vorkämpfer der wahren
Interesse» des deutscheu Volkes gefeiert werden, Wallenstein aber von der einen
als ein geachteter Verbrecher verdammt, von der andern als ein Märtyrer
kühner nationaler Politik dargestellt wird.
Wohin immer wir uns wenden mögen, überall finden wir die deutsche
Geschichtschreibung gleich zwiespältig, gleich wenig entsprechend dem Bilde, welches
wir uns von nationaler Geschichtschreibung machen. Sind doch auch die Thaten
Friedrichs des Große», an denen trotz des damals vorhandenen politischen
Gegensatzes das deutsche Volk sich zuerst freudig zur Ahnung künftiger natio¬
naler Existenz erhob, auch heute noch weit entfernt von einer allgemeinen An¬
erkennung und gerechten Würdigung, und zwar nicht allein von feiten derjenigen,
gegen deren Vorfahren sie einst geschahen! Noch ist ein Ouro Klopp nicht
ganz vereinsamt, sondern findet auch über die Kreise der Welfeufrcunde hinaus
verständnisvolle Anhänger und eifrige Nachbeter, und selbst nach dem Schicksals¬
spruch von 1866 und 1870 fehlte es nicht ganz an Vertretern jenes politischen
Dogmas, nach welchem der Fridericianismus und die auf ihm beruhende Ent¬
wicklung wenn nicht geradezu ein Unglück, so doch jedenfalls kein Segen für
Deutschland gewesen sein soll. Noch hört man oft genug diese historisch-politische
Weisheit variiren, und ihre Vertreter werden noch immer nicht müde, von ihrem
Standpunkte aus die praktischen Konsequenzen zu ziehen, welche sich für die
Gegenwart daraus ergeben sollen.
Mit dem Zeitalter der Befreiungskriege aber, dem lichtesten Punkte in der Ver¬
gangenheit Deutschlands bis auf die größern Ereignisse 1870—1871, ist es nicht
wesentlich besser bestellt. In der napoleonischen Zeit ist der dem Keime nach ja
immer vorhandene Gegensatz zwischen dem Norden und dem Süden von Deutsch¬
land organisirt und zu einem politischen Systeme ausgebildet worden, dessen
Vorteile freilich dem ganzen Deutschland so wenig wie seinen Teilen, sondern
außerdeutschen oder doch halbdeutschen Mächten zu gute kamen. Die Schlachten
der Befreiungskriege sind ja nun einmal nicht bloß gegen die Franzosen, sondern
auch gegen den Süden geschlagen worden, und das Auseinandergehen nach ganz
verschiednen Richtungen, das gleich darnach in der Entwicklung beider eintrat,
verschärfte den immer bestehenden Gegensatz und ließ das alle Zeit vorhandene
Gemeinsame so weit vergessen, daß selbst nach der günstigen Wendung, die unsre
nationale Entwicklung neuerdings genommen, die Verständigung auf dem Boden
der Geschichte erschwert bleibt und eine gerechte gegenseitige Würdigung oft ver¬
mißt wird. Finden wir den starken Nachklang davon doch selbst in einem der
glänzendsten und verdienstlichsten Werke über die neueste deutsche Geschichte,
welches mit seinem hohen sittlich-patriotischen Pathos, seiner edeln nationalen
Gesinnung, seiner praktisch-politischen Weisheit mit Recht als eine der Zierden
unsrer historischen Literatur gefeiert wird und dem Ideal eines nationalen Ge-
schichtswerkes in manchem Punkte ganz nahe kommt, während es doch auf der
andern Seite durch die unleugbare Voreingenommenheit und Unbilligkeit des
Urteiles über wichtige Lebensformen und Lebensbethätigungen des nichtpreu¬
ßischen Südens verletzt und anstößt und sich den ungegründeten Vorwurf tenden¬
ziöser Geschichtsmacherei zugezogen hat.
Auf eine mehr als tausendjährige, an großen und glänzenden Thaten über¬
reiche Entwicklung zurückblickend, haben wir Deutschen eine eigentlich nationale
Geschichtschreibung bei uns doch noch nicht entstehen sehen. Denn bisher erzählte
diese tausendjährige Geschichte nicht von den Thaten und Leiden einer Nation,
sondern von den wechselnd gruppirten Stämmen und Staaten des einen, viel¬
geteilten Volkes, welche einander anziehend, aber auch wieder abstoßend, froh
der Gemeinsamkeit in den wichtigsten Lebensmomenten, in andern, praktisch
augenblicklich viel wichtigern, unfähig sich zu verständigen, den Drang zu natio¬
naler Zusammenschließuug mächtig empfinden und dann wieder in den klein-
liebsten Sonderbestrebungen auseinandergehen, eine Nation werden möchten und
doch nicht werden können. Ohne das Vorhandensein einer deutschen Nation aber
ist auch eine deutsche nationale Geschichtschreibung nicht möglich.
Wenn es nun aber die Aufgabe der historischen Wissenschaft ist, die
allgemeinen Gesetze der geschichtlichen Entwicklung, die sich in den großen
Erscheinungen des Völkerlebens offenbaren, und ihre je nach den Verhältnissen
wechselnde Wirksamkeit nachzuweisen und zu begreife», so wird sie, will sie dies
erreichen, natürlich vornehmlich die großen historischen Individuen zu Objekten
ihres Studiums macheu, in deren Leben diese Gesetze im größten Maßstabe
und daher am deutlichsten erkennbar zu Tage treten. Diese großen historischen
Individuen aber sind eben die Nationen. Mußte nun aber von diesem Stand¬
punkte aus die deutsche Geschichte, bisher zu keinem erkennbaren Abschlüsse
führend, in sich widerspruchsvoll und rätselhaft, manchem nicht geradezu als
ein besonders ungeeignetes Objekt erscheinen? Und sollte von hier aus nicht der,
ich will nicht sagen uatioualitätslvse, aber doch internationale Zug zu erklären
sein, welcher der deutschen Geschichtschreibung eigen ist? die auffallende Vorliebe
unsrer gefeiertsten Historiker für ans der Fremde entlehnte Stoffe? Ranke hat
die italienische, die französische, die englische Geschichte behandelt, der vater¬
ländischen, welcher er einst sein glücklichstes Werk gewidmet, hat er sich erst
nach einer langen Unterbrechung wieder zugewandt und zwar ausgesprochener-
maßen unter dem Einflüsse, welchen die Entfaltung des nationalen Lebens in
Deutschland auf ihn einübte. Heinrich von Sybel verdankt seinen Ruhm der
Geschichte der französischen Revolution, also der Behandlung eines sozusagen
internationalen Themas. Ich erinnere ferner an das, was Lorenz Hegel,
Reuchlin und Gregorovius für die italienische, Lappenberg, Pauli und Gneist für
die englische, Röpell und Co.ro für die polnische, Strahl und Herrmann für
die russische, Hopf und Mendelssohn-Bartholdy für die griechische, Zinkeisen und
Rohre für die türkische Geschichte gethan haben, an das, was Dahlmann für
die Geschichte Dänemarks, Baumgarten für die Spaniens, Lemcke für die
Portugals geleistet hat. Ich möchte mit diesen Bemerkungen uicht mißverstanden
werden: weit davon entfernt, das Verdienst der genannten Gelehrten herabzusetzen
oder den Beifall, den ihre Werke gefunden, als nicht völlig berechtigt darzustellen,
will ich nur die bezeichnende Thatsache konstatiren, daß von den namhaftesten
Geschichtschreibern Deutschlands die überwiegende Mehrzahl ihren Ruf der Be¬
handlung außerdeutscher Stoffe verdankt.
Haben wir nun darin einen Mangel zu sehen? Ist daraus der Entwicklung
unsres Volkstums ein Schaden erwachsen? Ich meine doch nicht! Sicherlich
nicht, insofern als der Mangel einer nationalen Geschichtschreibung doch nur
dem Mangel an wahrhaft nationaler Existenz entspricht, als die geschichtliche
Literatur, die, wie die Literatur überhaupt, den Gesamtinhalt des geistigen
und sittlichen Lebens eines Volkes wahrheitsgetreu zum Ausdruck bringen soll,
auch in diesem Falle, wenn auch nach der negativen Seite hin, nur die Wirklichkeit
wiederspiegelt, also jedenfalls dem Gebote der Wahrheit getreu bleibt. Darüber
nämlich darf man sich nicht täuschen, es liegt für jede nationale Geschichtschreibung
die Gefahr nahe, daß sie, um einen Stoff vollkommen für sich geeignet zu machen,
ihn dreht und modelt, davon oder dazu thut, ihn färbt oder künstlich beleuchtet, um
ihn, während er nicht ganz national ist, doch als einen solchen erscheinen zu lassen.
Unleugbar tritt die Geschichtschreibung damit in einen Widerspruch zu ihrer
ersten und vornehmsten Pflicht, ja sie thut gerade das Gegenteil von dem, was
zu thun ihr schwerer, aber schöner Beruf ist. Statt zu leiten und zu belehren,
verführt sie und erzeugt Wahnvorstellungen, welche oft schwer auf die darin
befangene Nation zurückfallen. Oder sollte an der Irreleitung der öffentlichen
Meinung in Frankreich, an jener eiteln Selbstbespiegelung in dem blendenden
Glänze der Gloire nicht wenigstens zu einem Teile die zwar dnrch und durch
nationale, aber aus Schmeichelei gegen die Nation und ihre Schwächen un¬
wahre Geschichtschreibung die Schuld tragen, welche der Revolution und dem
Kaiserreiche gegenüber Thiers mit so unerhörtem Erfolge geübt hat? Für eine
solche, im Übeln Sinne des Wortes nationale Geschichtschreibung ist in Deutsch¬
land nach der ganzen Entwicklung desselben und auch nach der der deutschen
Historiographie bisher kein Platz gewesen. Mögen wir auch in Zukunft alle
Zeit von ihr verschont bleiben!
In einer andern Hinsicht aber kann die deutsche Geschichtschreibung von
der nationalen Historiographie der Franzosen sowohl wie der Engländer lernen
und hat sie, wenn ich mich nicht irre, in neuerer Zeit auch schon zu lernen an¬
gefangen. Das ist die Form. In England und Frankreich suchen die hervor¬
ragendsten Vertreter auch der Geschichtswissenschaft ihren Stolz darin, das Ergebnis
ihrer Studien ihrer Nation in einer jedem Gebildeten verständlichen Form vor¬
zulegen, und nicht bloß das, sie wissen auch dem an sich spröden Stoffe dach
Eleganz der Form, Wohlklang der Rede, Abrundung der geschmackvollen Dar¬
stellung einen Reiz zu verleihen. Unsern Historikern kann man ein Gleiches im
allgemeinen nicht nachrühmen: allzu lange sind diese nur Gelehrte gewesen,
gewöhnt, nur für die mitforschenden Fachgenossen, nicht für ein größeres Publikum
zu schreiben. Man sehe nur die Masse der vielbändigen Werke, in denen der
magere Text nicht selten unter der Flut der Noten und Exkurse förmlich unter¬
geht, man sehe die auch nicht geringe Zahl von Büchern, die doch eigentlich nur
unverarbeitetes Material in die Öffentlichkeit bringen. Nur so ist es möglich, daß
Männer von den eminenten wissenschaftlichen Verdiensten eines Pertz, Waitz u. a.
den Gebildetsten außerhalb des Kreises der Leute vom Fach höchstens dem Namen
nach bekannt, dem deutschen Volke aber ziemlich fremd sind. Es hängt damit
zusammen die garnicht wohlangebrachte Geringschätzung, mit welcher manche von
unsern Gelehrten auch heute noch auf die Bestrebungen zur Popularisirung
gerade der Geschichte herabsehen, sich selbst für zu gut und ihre Wissenschaft
für zu vornehm dazu halten. Aber für keinen der daran beteiligten kaun es
von Nutzen sein, wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung dem
Volke zu übermitteln, das Amt, das nur den kundigsten Händen anvertraut
werden sollte, gewöhnlichen Leuten überlassen wird, die aus dem lebendigen
Quell der Wissenschaft selbst niemals einen frischen Trunk gethan, nicht selten
leichtfertigen, aber umso fingerfertigeren Lohnschreibcni. Es wäre von hohem
Interesse und gewiß äußerst lehrreich, könnte man einmal für einen größern
Kreis sozusagen statistisch feststellen, woher eigentlich unsre Gebildeten die Summe
historischer Kenntnisse beziehen, die allein zum Verständnis der Tngesgeschichte
unentbehrlich sind, worin also ihre historische Lektüre besteht. Das Ergebnis,
glaube ich, würde ein erschreckendes Mißverhältnis ausweisen zwischen dem hohen
wissenschaftlichen Staude der deutschen Geschichtschreibung und dem Maße der
geschichtlichen Bildung, zwischen der Produktivität der historischen Literatur und
den geringen Beständen der Privatbibliotheken an geschichtlichen Werken, unter
deuen Weiter und Wernicke wohl am stärksten vertreten sein dürften!
Und dennoch, meine ich, wird sich billigerweise nicht in Abrede stellen lassen,
daß seit etwa länger als einem Jahrzehnt in diesen Dingen eine erfreuliche
Wandlung begonnen hat und in fortschreitendem Vollzüge begriffen ist. Die
historische Literatur ist im Vergleich mit früher doch schon in mancher Hinsicht eine
andre geworden: sie gewann die allzu lange entbehrte Fühlung mit der Nation
wieder, erlangte von neuem die Fähigkeit, auf dieselbe zu wirken, und die Nation
nimmt infolge dessen auch an ihren Leistungen einen lebendigem und frischern
Anteil. Was andres aber sollte man in diesem gesteigerten historischen Interesse
zu sehen haben als eine Nachwirkung der großen geschichtlichen Ereignisse, deren
Zeuge nicht bloß, deren Träger das deutsche Volk gewesen, als eine Bethätigung
des gesteigerten nationalen Sinnes, des lebendigem nationalen Bewußtseins, die
es von den Schlachtfeldern Frankreichs mit heimgebracht?
Denn schon in früheren Zeiten wird jedesmal, wenn das deutsche Volk
sich zur Nation zusammenzufassen versucht, auch ein Ansatz, ein Anlauf zu
nationaler Geschichtschreibung bemerkbar. Im Zeitalter Maximilians, wo Deutsch¬
land sich geistig verjüngte und die Wege Italiens gehen zu wollen schien, dann
wieder im Höhcstaud der reformatorischen Bewegung, wo mit der kirchlichen
Neugestaltung zugleich auch die politische und soziale Wiedergeburt des deutschen
Volkes nahe schien, sind mehrfach nicht verächtliche Versuche in dieser Richtung
gemacht worden. Im Zeitalter Friedrichs des Großen stellte Lessing die Forderung,
die Geschichte möge sich endlich abwenden von den älteren Zeiten, welche, arm
an Quellen, aber reich an kritischen Kontroversen, eine kunstmäßige, auf ein
größeres Publikum zu wirken befähigte Behandlung überhaupt nicht zuließen,
wenn man nicht lauter Hypothesen statt Thatsachen bringen wollte, und ver¬
langte, sie sollte sich statt dessen vielmehr an die lebensvolle, an großen Thaten
reiche und einen jeden packende Geschichte der Gegenwart halten, die allein
Quellen, Stoff und Interesse darböte. Und wirklich schrieb im Zeitalter Friedrichs
des Großen Michael Ignaz Schmidt die erste, schlechtweg so genannte „Deutsche
Geschichte."
Viel tiefer und nachhaltiger war die Anregung, welche die Befreiungskriege
gaben. Kein geringerer als der Freiherr vom Stein unternahm es, „durch Er¬
schließung der Quellen den Geschmack an der deutschen Geschichte zu beleben
und ihr Studium zu erleichtern, um hierdurch zur Erhaltung der Liebe zu dem
gemeinsamen Vaterlande und zu dem Gedächtnis unsrer großen Vorfahren bei¬
zutragen." Aus dieser Anregung erwuchs das großartige, wahrhaft nationale
Unternehmen der Ucmumsntg. (ZvrmMms liistorivs, welches freilich dem Schicksal
auch nicht entging, dem nach den Befreiungskriegen alle nationalen Bestre¬
bungen erlagen. In Osterreich galt es für revolutionär und den österreichischen
Gelehrten wurde die Beteiligung daran untersagt; Baden und Preußen, welche
allein eine dauernde Beihilfe gewährten, wurden dadurch Metternich vollends
verdächtig, und Stein bedauerte, die ihm anfangs angebotene russische Hilfe ab¬
gelehnt zu haben. Es ist bekannt, wie sich an die Entwicklung dieses großen
nationalen Werkes die der deutschen Geschichtswissenschaft auf das engste ange¬
schlossen, wie dieselbe mit seinem Wachstum gewachsen und vervollkommnet ist.
Ein integrirender Bestandteil in dem geistigen Leben der Nation aber ist die
Beschäftigung mit der vaterländischen Geschichte auch damals nicht geworden:
die von Stein erstrebte nationale Geschichtschreibung ist daraus nicht entsprungen.
Jahrzehnte hindurch blieb die politische Atmosphäre der Entwicklung einer solchen
durchaus ungünstig, und nach der Enttäuschung der Jahre 1848 und 1849
flüchtete sich auch die Geschichte mehr und mehr in die Beschäftigung mit den
erfreulicheren und lehrreicheren Geschicken fremder Nationen.
Erst mit dem Beginn der neuen Ära unternahmen es Männer, die an
dem letzten gescheiterten Versuche zur Schaffung eines nationalen Staates in
ernster Arbeit hervorragenden Anteil genommen hatten, in dem nun erneuten
und verstärkten Glauben an Preußen als den Staat der deutschen Zukunft
dem deutschen Volke seine Geschichte mit nationaler Tendenz und in praktisch-
pvlitisch bildenden Sinne wahrheitsgetreu zu erzählen. Jetzt erst lernten die
Deutschen die Schmach des alten Reiches und seines kläglichen Zusammensturzes
kennen und den Abgrund recht ermessen, der sich zwischen der friedricianischen
Zeit und der mühseligen Zusammenflickung Deutschlands durch die Wiener Ver¬
träge öffnet; jetzt erst fand man in der Geschichte der preußischen Politik den roten
Faden, welcher, die entwicklungs- und lebensfähigen Momente mit einmal ver¬
bindend, aus der Vergangenheit zur Gegenwart hinüberleitet und dann zu einem
festen Staudpunkte auch für die Wechselfälle der Zukunft.
Ein Vierteljahrhundert ist seitdem verflossen. Was damals nur die Über¬
zeugungstreuesten als eine entfernte Aussicht gelten ließen und nur die Zuversicht¬
lichsten als teure Hoffnung in der Stille ihres Herzens hegten, das ist seitdem,
in unerwartet andern Formen vielleicht, aber auch unerwartet glänzend und
großartig zum Heile des deutschen Volkes verwirklicht worden. Wir haben das
deutsche Reich, die deutsche Nation hat als solche die ihr gebührende achtung¬
gebietende Stellung neben den andern Nationen eingenommen. Die Rätsel der
Vergangenheit sind gelöst, und ein fester Grund für alle Zukunft ist gewonnen.
Mögen wir ihn alle Zeit halten und bewahren, pflegen und ehren! Dazu
anzuleiten und zu erziehen, dazu zu bilden und zu begeistern wird na¬
mentlich auch die Sache der nationalen Geschichtschreibung sein. Die letzte Be¬
dingung, welche zu ihrem reichen Erblühen bisher noch fehlte, ist jetzt voll und ganz
erfüllt. Um seinen greisen Herzog geschaart, hat das deutsche Volk, einig wie
nie zuvor, in großen, vom Staunen der Welt begleiteten Thaten nationale Ge¬
schichte gemacht; möge die deutsche Geschichtschreibung nicht hinter ihr zurück¬
bleiben.
Zum erstenmale stehen diesem Stoffe gegenüber alle Stämme und alle
Staaten Deutschlands aus einem und demselben Boden. Hier fehlen alle die
Momente, die sonst die Urteile auseinandergehen und die Geschichte sich so ent¬
gegengesetzt äußern lassen. Von hier aus erscheint auch die Vergangenheit anders,
und über manchen bisher streitigen Punkt dürfte nun die Verständigung leicht
sein. Für Mit- und Nachwelt aber tritt in das Zentrum dieser abschließenden
Zeit der Erfüllung die Heldengestalt des greisen Königs, welcher die im Donner
siegreicher Schlachten gewonnene Kaiserkrone sich eben an der Stelle auf das
Haupt setzen durste, von wo Deutschland in der Zeit seiner Ohnmacht und Ent¬
würdigung am schmachvollsten Hohn und Gewalt geboten worden war. Gott
schütze, Gott segne den Kaiser!
is bei einem seiner Sommerfeste der studentische Gesangverein
des Dresdner Polytechnikums unter der kundigen Leitung seines
Liedermeisters ein deutsches Volkslied gesungen, da ward, als das
Lied verklungen und der Beifall verrauscht war, am Dozenten¬
tische die Frage aufgeworfen, ob wohl die Franzosen dem etwas
ähnliches an die Seite zu setzen hätten.*) Diese Frage schließt sicherlich nicht
bloß die Meinung eines einzelnen in sich, sondern, und darin liegt ihre Be¬
deutung, die Anschauung der überwiegenden Mehrzahl der gebildeten Klasse»
Deutschlands. Wohl ist sich der Deutsche freudigen Stolzes bewußt, daß ihm
in seiner Volkspoesie ein Schatz überkommen ist, so reich wie keinem zweiten
Volke auf der Welt. Allein gerade die Lebhaftigkeit, mit welcher er seine Vor¬
züge auf diesem Gebiete empfindet, hindert ihn auf der andern Seite zuzu¬
gestehen, daß auch das leichtlebige Volk der Franzosen eine echte, wahre Volks¬
poesie besitzen könne, welche sich um Tiefe, Zartheit und Innerlichkeit mit
der deutschen auch nur entfernt vergleichen ließe. Diese Anschauung taucht nicht
bloß in der flüchtigen Unterhaltung des Tages auf, sie macht sich in voller
Schärfe auch in literarischen Erzeugnissen geltend, wie dies z. B. eine Stelle
in B. Schwarz' Reiseerinnerungen aus Algier und der Sahara beweist, wo auf
diese vermeintliche klaffende Lücke der französischen Dichtung mit den Worten
hingewiesen wird: „In dem schillernden Garten der französischen Geistesblüten,
in ihrer an so manchen herrlichen Erzeugnissen reichen Literatur sehlt eins, das
herrlichste von allen, das kleine, aber so unvergleichlich duftende Veilchen, welches
in Deutschland seit alter Zeit an allen Zäunen und Hecken gedeiht — das
Volkslied."
Wie sollten wir auch zu andern Anschauungen kommen? Thun doch Schule
wie Leben gleichmäßig das ihre, um uns von dieser Seite der französischen
Dichtung nichts ahnen zu lassen. Die Schule, indem sie bei der ihr zugemessenen
Zeit ihre Aufgabe darin erkennt und auch erkennen muß, uns mit der klassischen
Dichtung bekannt zu machen, also mit einer Gattung, welche im Französischen
einen wesentlich rhetorischen, der Volksdichtung geradezu entgegengesetzten Cha¬
rakter trägt; das Leben, indem es, auf die Leidenschaften der menschlichen Natur
spekulirend, aus gewinnsüchtigen Gründen uns die Kenntnis einer Seite der fran¬
zösischen Literatur vermittelt, welche die besser» Geister Deutschlands wie Frank¬
reichs gleichmäßig verurteilen, welche aber durch ihre weite Verbreitung in
Deutschland das Vorurteil genährt hat, als könnten unter dem Himmel Frank¬
reichs nur solche giftigen Früchte zur Reife gedeihen, als sei dem Franzosen eine
Poesie versagt, in welcher sich vor allem das ausprägt, was wir Deutschen so
gern mit dem Worte Gemüt bezeichnen. Ist es nicht das Gemüt, das deutsche
Gemüt, welches, wie die Sonue der Landschaft, so auch der Volksdichtung erst
Licht, Farbe und Reiz verleiht? Wie aber sollte der Franzose eine gleich der
unsrige» „aus der Tiefe des Gemüts" quellende Poesie besitzen, wenn ihm, wie
man nicht müde wird zu wiederholen, selbst das Wort dafür fehlt? Hat man
nicht aus demi Fehlen dieses Wortes geistreiche Schlüsse auf den Charakter des
Franzosen wie auf den Charakter seiner Volkspoesie ziehen wollen? Wie aber,
wenn man sich in dieser Annahme täuschte, wenn der Franzose doch ein Wort
besäße, welches die „weiche Innerlichkeit des psychischen Menschen" trefflich malte:
los öntrs-nich? Ist es denn seine Schuld, wenn dieses Wort noch immer nicht
genügend bekannt und gehörig gewürdigt worden ist? Um nur ein Beispiel
statt vieler anzuführen: Wenn Ernest Prarond von der französischen Volks¬
dichtung der Picardie seltsamerweise sagt: n'al risn trouvs as ng.it' 8orei ass
övtrMks an xsuxlö Kto., so weiß ich diesen Ausdruck nicht entsprechender
wiederzugeben als durch „hervorgegangen aus dem Gemüt, dem Gemütsleben
des Volkes." Und wie an das Wort, so werden wir uns auch daran gewöhnen
müssen, dem Franzosen die Sache, d.h. eine Volksdichtung, zuzugestehen, in
welcher sich sein Gemüt auf seine Weise, aber nicht minder reich und anmutig
wiederspiegelt als das deutsche.
Worin liegt nun der Grund, daß die französische Volksdichtung eine ver¬
hältnismäßig so unbekannte Sache ist, nicht bloß für den Deutschen — das
wäre begreiflich —, sondern auch, was wir kaum zu fassen vermögen, für den
Franzosen?
Wenn ich bei der Beantwortung dieser Frage scheinbar länger verweile,
als es durch den Gegenstand geboten erscheint, so geschieht es, weil die Stellung
der französischen Volksdichtung innerhalb der französischen Nation sich am
klarsten aus der gegensätzlichen Schilderung deutscher Verhältnisse ergeben wird.
Als einst im deutschen Reichstage Fürst Bismarck von sozialdemokratischer
Seite angegriffen wurde und der Ausdruck fiel, er gehöre nicht zum Volke, da
erhob er sich in seiner ganzen Größe, um diesen Vorwurf, denn als solchen
faßte er ihn auf, weit von sich abzuwehren. Ich werde nicht mißverstanden
werden, wenn ich sage, daß beide Teile gleich recht oder gleich unrecht hatten.
Wir alle gehören und gehören auch wieder nicht zum Volke. Wir ge¬
hören ihm insofern zu, als wir seine Sprache sprechen, seine Geschicke teilen,
uns als Glied der großen deutschen Nation empfinden, nicht bloß soweit die
deutschen Marken reichen, sondern soweit die deutsche Zunge klingt. Wir ge¬
hören aber nicht zum Volke, insoweit man unter demselben jenen Teil der Ge¬
samtheit einer Nation versteht, welcher keine gelehrte, fremdartige Bildung em¬
pfangen hat, sondern, wenn überhaupt eine Bildung, eine solche, welche den
volkstümlichen Boden nicht verlassen hat. Denn daß die Bildung der Gebildeten
keine rein volkstümliche, daß sie sich zusammensetzt aus den verschiedenartigsten
und dem Volke im engern Sinne völlig unbekannten Elementen, dies noch aus¬
führlicher darzulegen, hieße Eulen nach Athen tragen. Rom und Griechenland
haben uns genährt, die Errungenschaften der modernen Völker auf den ver¬
schiedenartigsten Gebieten der-Wissenschaft und Kunst sind unser geistiges Eigen¬
tum geworden, und als Fazit dieser Einflüsse ergiebt sich eine sprech- und
Denkweise und ein Ideenkreis, der sich in seiner Tiefe und Vielgestaltigkeit von
dem Gedankenkreise des Volkes und seiner sprech- und Denkweise wesentlich
unterscheidet.
Dieser verschieden potenzirten Bildungssphäre entsprechend hat denn auch
jeder Teil des Volkes seine eigne Poesie, und wir unterscheiden demgemäß eine
Kunstpoesie, welche in dem mit höherer Bildung getränkten Teile der Nation
ihren Ursprung nimmt, und eine Volkspoesie, deren Prinzip, wie es de la Ville-
marque treffend ausführt, das menschliche Gemüt in seiner ganzen Unwissenheit
ist, wo die Abwesenheit jeder Erziehung, um mit Champfleury zu reden, nur
dazu dient, die Eindrücke der Seele desto kräftiger auszugestalten, eine Poesie,
deren Schönheiten zu genießen, nach dem Rate eines spanischen Autors, das
Beiseitelegen aller gelehrten Erinnerungen erheischt.
Wir sehen also — und es ist dies eine Erscheinung, welche sich nicht bloß
bei einem Volke findet, sondern zu allen Zeiten und bei allen Völkern wieder¬
holt — innerhalb einer jeden Nation zwei scharf durch ihren Bildungsgang
getrennte Gruppen einander gegenüberstehen — ein Verhältnis, welches, auf
die Spitze getrieben, selbst politische Gefahren in sich bergen kann, wie wir dies
am besten aus den Bestrebungen der Sozialdemokratie erkennen, welche diese
Kluft, die der Vaterlandsfreund zu überbrücken strebt, künstlich zu erweitern
suchen, um so zu einem völligen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse zu ge¬
langen. Indessen stehen sich in Deutschland diese beiden Gruppen nicht so un¬
vermittelt gegenüber; in dem deutschen Liede ist uns ein Schatz überliefert,
welcher nicht bloß demjenigen Teile des Volkes angehört, aus welchem er hervor¬
gegangen, sondern recht eigentlich dem Gesamtvolke. Durch alle Wandlungen
unsers Lebens, von der Wiege bis zum Sarge, begleitet uns das Lied fröhlich
mit den Fröhlichen, weint es mit den Trauernden, am häuslichen Herd und mit
doppelter Kraft in der Fremde, auf der Schulbank wie auf der Hochschule, auf
Höhen wie dort „unten im Thale," in dem Getriebe des Werktages wie bei
festlichen Gelegenheiten, überall ist es der getreue Ausdruck unsrer Stimmung,
das Band, welches uns an die gemeinsame Heimat, das gemeinsame Vater¬
land knüpft.
Auch der Franzose hat eine Volkspoesie; sie leugnen wollen hieße leugnen,
daß er ein Herz gleich andern Menschen habe, daß er unfähig sei, seine Leiden
und Freuden, die Gefühle, welche sein Herz bestürmen, in Liedern auszutönen.
Der Franzose besitzt auch, wie hinlänglich bekannt, eine Kunstpoesie; sie ist lange
genug nicht bloß das Vorbild von Deutschland, ja der ganzen gebildeten Welt
gewesen. Allein weder die eine noch die andre dieser Poesien ist in dem
deutschen Sinne volkstümlich. Volks- und Kunstpoesie stehen sich in Frankreich,
zur Stunde wenigstens, noch unvermittelt gegenüber. Wie einst im alten Rom
ist die Kunstpoesie nur für die Schichten der obern Zehntausend vorhanden, in
das Volk steigt sie nicht herab; sie würde sich damit etwas zu vergeben glauben.
Das Volk, das ungelehrte Volk wäre auch nicht fähig, die glatte Rundung, die
fein zugespitzten Gedanken derselben zu erfassen. Die Volksdichtung wiederum
ist dem gebildeten Franzosen, man kann sagen, eine tsrrg. nov^una. Sie ist
ihm in ihrer einfachen Schöne unverständlich. Sehr lehrreich ist in dieser Be¬
ziehung, daß Graf Puymaigre den Erfolg, welchen fremde Volkspoesien im Gegensatz
zu der eignen in Frankreich erzielten, dem Umstände zuschreibt, daß die Knorren
und Auswüchse, welche jede echte Volksdichtung wie der Baum des Waldes
zeigt, unter der glatten Übersetzung verschwunden seien, daß also auch hier nicht
der Inhalt, sondern die Form das Glück des Liedes machte. „Das reimt ja
nicht" lautete die charakteristische Antwort eines gebildeten Franzosen, welchen
ich mit der ländlichen Muse seines Heimatlandes, deren innere Schönheit mich
entzückte, bekannt zu machen suchte. Ein gebildeter Franzose, sagt Edouard
Schure, wird schon bei dem Namen des Volksliedes sich die Ohren verstopfen
und bitten, ihn um Himmelswillen mit dein Vortrag desselben zu verschonen;
wüste Bilder tauchen in ihm auf: eine lärmende Hochzeit, wo Bauern und
Bäuerinnen im unverständlichsten Patois ein Lied i» herzzerreißender Weise vor¬
tragen, oder ein Bettler, welcher auf dem Jahrmarkt ein jämmerlich Lied singt,
welches er auf einer Violine 5 äcmx ooräss begleitet.
Woher diese befremdende Erscheinung in Frankreich, während wir in Deutsch¬
land doch neben der Volks- und Kunstpoesie eine wahrhaft volkstümliche Dichtung
besitzen, welche, jenen beiden Quellen entstammend, gleichmäßig in alle Schichten
unsers Volkes gedrungen ist?
Es ist dies nicht, wie man wohl meinen möchte, ein Verdienst unsers
Volkswesens allein. Daß dieses nicht der Fall ist, zeigt uus deutlich Moe, der
eifrige Sammler norwegischer Volkslieder und Märchen, in seiner Vorrede, wo
er von der seltsamen Erscheinung spricht, daß die norwegische Kunstpoesie ein
von der Volksdichtung getrenntes Leben führe, derselben fremd gegenüber¬
stehe. Es ist dies vielmehr ganz wesentlich ein persönliches Verdienst unsrer
größten Schriftsteller, unsrer edelsten Dichter, welche uns diese Liebe zur Volks¬
dichtung anerzogen haben, da sie deren Wert auch für die Kunstdichtung voll¬
ständig erkannten.
Auch für Deutschland gab es eine Zeit, wo das Volkslied, wie noch heute
in Frankreich, der Paria in der Literatur war, wo wir, in der Nachahmung
des Auslandes und namentlich Frankreichs befangen, den volkstümlichen Boden
verlassen hatten, auf welchen bereits Luther unsre Literatur gestellt hatte. Herder
war es, der das große Verdienst für sich in Anspruch nehmen darf, unsre er¬
wachende literarische Selbständigkeit, unsre selbständig gewordene Literatur auf
diesen Boden, in welchem jede Literatur wurzeln muß, hingelenkt zu haben. Als
echter Deutscher Kosmopolit, begnügte er sich jedoch nicht mit den heimischen
Blüten, sondern sammelte in seinen „Stimmen der Völker" Volkslieder aller
Nationen, und es ist sehr bezeichnend für den Standpunkt der französischen
Volksdichtung, daß in dieser reichen Sammlung sich nur wenig französische Lieder
befinden und unter diesen wenigen höchstens zwei oder drei, welche auf den
Namen eines Volksliedes wirklichen Anspruch erheben dürfen. Herder wies
darauf hin, daß in dieser Poesie, welche keinerlei fremde Einflüsse zeige, auch
die Kunstpoesie wurzeln müsse, daß die Kunstpoesie zurückkehren müsse zu der
Wahrheit des Gefühls, zu der tiefen Innerlichkeit, welche sich in der Volks¬
dichtung für jeden bemerklich mache, der Augen zu sehen und Ohren zu hören
habe, Deutschland lächelte aber das Glück, nicht bloß den Manu gefunden zu
haben, welcher der deutschen Dichtung den Weg zu ihrer Neugestaltung auf der
Grundlage der Volksdichtung wies, sondern daß ihm in Goethe mich der Genius
geboren ward, der Herders Gedanken zur That werden ließ, der wie der Königs-
sohn im Dornröschen die jahrhundertelang schlummernde Volksmuse zu neuem
Leben küßte. Mit Leidenschaft warf sich Goethe auf die Dichtungen, welche
Herder ihm mitgeteilt hatte. Er sammelte selbst auf seinen Ausflügen im Elsaß
diese duftigen Blüten, er wiegte sich in ihren Harmonien, er durchdrang sich
mit ihrem Geiste, und er fand bestätigt, was Herder ihm gesagt, daß sich in
ihnen unter eiuer einfachen und doch höchst anmutigen Form wahres, lauteres
Gefühl berge. Von nun an ward diese arme, kleine Kunst seine Führerin, und
damit zugleich das Vorbild für alle jene Dichter, welche mit und nach ihm dem
Lorbeer der Unsterblichkeit zustrebten. Hinter seinem Werke zu verschwinden, es
als volkstümlich betrachtet zu sehen galt und gilt noch heute als des Dichters
höchster Ruhm.
Um diese Blüte volkstümlicher Poesie bei uns zu erhöhen, kam noch etwas
andres hinzu. Deutschland ist seit lange das erste Land in der Musik gewesen.
Daß es hierin „an der Spitze der Zivilisation marschirt," haben ihm selbst die
Franzosen, die dieses Wort früher so gern für sich in Anspruch nahmen, nie be¬
stritten. Indem sich nun in Dentschland die Musik mit dem Liede auf die
wunderbarste Weise vermählte, trug diese Verschmelzung vor allem dazu bei, das
Lied in aller Herzen fortleben zu lassen; denn, einmal gehört, verschwand es
dem Gedächtnis.
Und die Wirkungen dieser Poesie auf die großen Massen blieben nicht aus,
besonders als jene großartigen Sammlungen deutscher Volkslieder von Arnim
und Brentano und von Uhland, sowie in neuerer Zeit von Scherer und von
Simrock erschienen, welche diese Lieder wie einen lange verschollenen Schatz aus
nicht wieder aus der Tiefe der Volksseele zu Tage förderten.
So ist die zweite Blütezeit unsrer Kunstdichtung hervorgegangen aus der
naiven Dichtung des Volkes, wie der reichgeästete Baum aus der bescheidnen
Wurzel. Und wenn wir auch in neuester Zeit in ein andres, in ein historisches
Zeitalter getreten sind, welchem wesentlich andre Aufgaben zu lösen zugefallen
als den vorausgegangenen Zeitabschnitten, so hat sich doch die innige Ver¬
schmelzung der Kunst- mit der Volksdichtung herübergerettet in unsre Tage. Kein
schöneres Bild dieser innigen Vereinigung in Deutschland weiß ich zu finden,
als zu erinnern an ein Vorkommnis aus jüngerer Vergangenheit. Als bei der
Feier des vierhundertjährigen Bestehens der Universität Tübingen Würtembergs
König die Festgenossen in sein Schloß geladen hatte und sich zwanglos in
ihren Reihen erging, da wurde ihm auf diesem Rundgänge von den Gesang-
vereinen der Studentenschaft eine Huldigung dargebracht. Nichts Schöneres aber
wußten die Musensöhne, die Blüte der deutschen Nation, die dereinstigen Ver¬
treter des deutschen Volkes in seineu oberste» Schichten, nichts Schöneres wußten
sie ihrem Landesherrn zu singen als ein einfaches Volkslied — das Volkslied
im Munde des Gebildeten in hochbedeutsamer, feierlicher Stunde!
Und umgekehrt, wenn wir Deutschlands gesegnete Flure» um Neckar und
am Rhein, im Wasgau — doch wozu in die Ferne schweifen —. im schönen
Sachsenlande durchstreifen, tönt uns nicht oft von einem Trupp singender Feld¬
arbeiter Eichendorffs schönes Müllerlied oder Hauffs Reiterlied entgegen — das
Kunstlied im Munde des Volkes?
Aber nicht bloß in den Tagen festlichen Glanzes und friedlicher Arbeit
beiden wir diese verbindende und darum auch versöhnende Kraft des Liedes er¬
fahren, sondern vornehmlich in den Zeiten großer Gefahren. Ich brauche nur
an die Lieder der Freiheitskriege, nur an die „Wacht am Rhein" in unsern
Tagen zu erinnern, welche aller Herzen, weß Standes und weß Bekenntnisses
auch der einzelne sein mochte, doch in einem Gefühle zusammenschlagen ließ, in
dem Gefühle für das Vaterland. In dieser gegenseitigen Durchdringung liegt
ein gutes Teil deutscher Kraft, es hat sich erprobt in schweren Zeiten, wahren
wir es uns für alle Zeiten!
Es ist ein schönes und für den Deutschen erhebendes Bild, welches sich
hier unser» Blicken darbietet. Fragt man nun, was Frankreich dem an die
Seite zu setzen habe, so muß mau sich sagen: nichts, was dem gliche. Sicher¬
lich hat Frankreich große Namen aufzuweisen, bedeutende Männer, welche seinen
Ruhm in alle Welt getragen, herrliche Meisterwerke, Talente der verschieden¬
artigsten Gattung. Allein nach einer Poesie, welche das gesamte Volk in allen
seinen Gliedern durchdränge, welche von allen Ständen der vielgliedrigen Ge¬
sellschaft nicht nur gekannt, sondern mich geliebt würde, nach ihr sucht man ver¬
geblich. Nur hin und wieder tauchen einzelne seltene Ausnahmen auf, wie
die Marseillaise, der feurige Gesang der Revolution, und die anmutigen Lieder
Berangers, welche auch in die breiten, Schichten des französischen Volkes ge¬
drungen sind. So haben auch einzelne wenige Lieder aus dem Volke Eingang
in die Kreise der Gebildeten gefunden, wie das bekannte von Champfleury mit¬
geteilte Lied von deu ungehorsamen Geschwistern, welche trotz des Verbotes
der Mutter dennoch zum Tanze eilen und ihren Ungehorsam mit dem Tode
büßen müssen. Vielleicht hat gerade das Lehrhafte des Liedes zu seiner Ver¬
breitung in den Pariser Erziehungsanstalten, wo es von den jungen Mädchen
gesungen wird, beigetragen. Abgesehen von dem Schluß, welcher, was im Volks¬
liede selten geschieht, die Moral mit bewußter Absichtlichkeit predigt, ist das
Liedchen ganz im echten Volkstone gehalten.
Avr voll, MS, Alls, w it'iiAS xss äimssr.
Lllo monts su Kant se hö mit s, plsursr.
8on trsrs sri'lo' äans son ^joli d^than.
Na Schur, sosur, Pi'!is-tu äoue a xlsursr?
UaillÄN u' ohne pas o^us j'alls voir ä^ussr.
Asts ta rod' se t» esiuturs äorse.
I^Sö v'la vsrti «laus un ^joli datsitu.
ut äsux x-is, se, Ill v<M no^of.
II Kt c^llAt' M, se Is VVÜÄ no^s^
1^ msr' äem«.na' xouro^noi la oloous eines.
L'est xour ^.äsls se votro eng sins.
Volks. 1s sort ass sukauts odstiuss.
Und eine ebenso vereinzelte Erscheinung ist es, wenn auch die blasirten Kreise
des Pariser Theaterpublikums hin und wieder Liedern aus dem Volke ihren
Beifall schenken, wie uns dieses Ceilan-Moncaut von einem Bearner Liedchen
berichtet, welches in vollendeter Weise von dem liebenswürdigen Liedersänger
aus Bearn, Lamazor, vorgetragen wurde. Das Liedchen selbst lautet in der
französischen Übertragung:
Louuaissoü-vous of, dorsssrs?
LIlo sse bslls voulus uus stoils.
ü,sZ»räh2 ins. vsrxsro,
LIls sse bslls sonulls uns stoils.
RsMrävü la dsrKsrs. La wills sse si tius
Hu'on la xsut xisuärs sutro Iss äoixts
RsxMägü um borssöro,
Rio sse Kens ovinus uns stoils.
LsxsräW la IisrAvrs.8a xorxs sse xlus Klaueus
(juo Ist usiAS as I» toussors.
RsAg-räh-! ins dsrZsrs,
Nis sse dslls ovinus uus stoils.
RgMiäsii I» Ksrgsrs. Lur öff ^sux 1'awour Sö levs,
8ur sou ocsur it Sö vossr.
Ro^räsii ma bsrAsrs,
Ms sse dslls voulus uus stoils.
ü.sAÄr<lW l» bsrgsrg. .
Allein diese Ausnahmen bestätigen nur die Regel. In wieviel Herzen lebt
denn die Poesie, welche Rolle spielt sie in der Familie, am häuslichen Herde,
im Verlaufe des Lebens? So fragt sich Schure, und er bleibt uns die Ant¬
wort schuldig. Trotz des Reichtums an Poesie, welchen Frankreich sein eigen
nennt, ist diese doch mehr ein Eigentum der gebildeten Klassen, als daß sie eine
Kraft wäre, welche aus dem Volke stammt und wieder zum Volke zurückkehrte,
um Freude, Begeisterung und Liebe zum Idealen zu verbreiten. Wie einst das
Lateinische zum Griechischen, so verhalten sich seit mehr denn hundert Jahren
französische und deutsche Poesie zu einander: Horaz, Ovid, Vergil sind große
Dichter, aber Kuustdichter, welche für eine gewählte, in griechischer Bildung er¬
zogene Gesellschaft schrieben. Die große Masse des römischen Volkes hat nie
einen Ovid oder Horaz gekannt. In Griechenland stand die Poesie mit dem
Leben stets in engster Verbindung. Seinen Homer lernte der griechische Jüng¬
ling auswendig. Des Thrtäus Kriegslieder erscheinen als eine politische Macht.
Pindar feiert seine Helden auf den olympischen Spielen vor einem begeisterten
Volke. Für die Römer wie für die Franzosen war.Poesie ein Luxus, für den
Grieche» wie für den Deutschen sind Poesie und Leben eins.
Woher dieser Abgrund, welcher sich unleugbar zwischen der Kunst- und
Volkspoesie in Frankreich zeigt, woher diese befremdende Erscheinung, daß das
Volk nicht teilnimmt an den Meisterwerken seiner Kunstdichter, und die ge¬
bildeten Kreise weit davon entfernt sind, die literarischen Schätze des Volkes zu
ahnen und zu begreifen?
Dieser Riß wurde vorbereitet im sechzehnten Jahrhundert, im Zeitalter der
Renaissance, also gerade in einer Zeit, welche für die Volksliteratur eine Blüte¬
zeit genannt werden darf. Die leuchtenden Vorbilder, welche Griechenland und
Rom der gebildeten Welt jener Tage entgegentrugen, nahmen dieselbe in so
hohem Maße gesungen, daß sie die heimische Poesie zu vergessen begann und in
der überkommenen fremden aufging. Thut doch der Herold dieser neuen Richtung
Du Bellay in seiner IllustiÄtion as 1a lanssus trancMs die heimische Dichtkunst
mit den Worten ab: „Gieb diese alten französischen Dichtungen, Balladen, Lieder
und andre Tändeleien (se autrss teils« Spiesriös) auf, welche den Geschmack an
unsrer Sprache verderben und keinen andern Zweck haben als Zeugnis von
unsrer Unwissenheit abzulegen," während das Haupt der sogenannten Plejade,
Ronsard, welcher den französischen Parnaß in nie wiedergesehener Weise be¬
herrschte, im Grunde doch volkstümlich blieb. So eingenommen er auch von den
Vorzügen der Antike gegenüber der heimischen Dichtung sein mochte, er ver¬
suchte doch das heimische Element mit dem antiken zu verschmelzen. Erst das
siebzehnte Jahrhundert löste sich vollständig von dem volkstümlichen Boden los.
ging einseitig in der Antike auf, wie dieses am schlagendsten der ^,re xostiaue
des Boileau und besonders jene Stelle beweist, in welcher der Gesetzgeber des
Parnaß als den ersten, welcher
as,us ess sisolsg ^rossisrs
OsdromUs, I'^re «ortus as iwuZ visux romÄneisrs,
Viktor preist und damit die an nationalen Erinnerungen reiche Literatur der
vergangnen Jahrhunderte souverän in den Bann thut. Die Poesie, welche so
auf das Altertum gepfropft erblüte, an Feinheit und Rundung hatte sie wohl
gewonnen, an Saft und Ursprünglichkeit aber verloren.
So blieben die Verhältnisse das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch,
und ausdrücklich bezeugt Villemain, daß Laharpe die Kreise der Hauptstadt wohl
für die Kunstdichtung zu begeistern wußte, mit vornehmer Verachtung dagegen
auf jene Studien herabsah, welche sich mit dem Volke beschäftigten. Erst mit
dem Eintritt der Revolution, welche unter den Klängen der Marseillaise ihren
Einzug hielt, begann auch in der Dichtung neues Leben zu Pulsiren. Einen
Augenblick schien es, als wenn die Revolution, welche von der Provinz ausging,
auch den Keim zu einer mehr volkstümlichen Dichtung erwecken sollte. Aber
unglücklicherweise, wenigstens für die Poesie, konzentrirte sich die Revolution in
Paris und führte zum Kaiserreich, und unter dem eisernen Szepter, welches
nun die Welt regierte, flohen erschreckt die sanfteren Musen, um erst wiederzu¬
kehren, als mit dem Königtum des Krieges Stürme friedlicheren Zeiten wichen.
Auch die Romantik, welche von Deutschland her in Frankreich Eingang
fand und welche in der Literatur neue Bahnen anstrebte, den nationalen Geist
und die christliche Religion in die Dichtung hinüberzutragen trachtete, teilte das
Schicksal aller vorausgegangenen Bewegungen; auch sie versäumte es, an die
Volksdichtung anzuknüpfen und blieb in ihren Wirkungen auf Paris beschränkt.
Seit jener Zeit ist Paris mehr und mehr der ausschließliche Mittelpunkt der
Literatur geworden. Nicht für Frankreich denkt, lebt und spricht der Franzose,
sondern für Paris giebt er sein Herzblut hin. Nicht in dem Volke aufzugehen,
wie der deutsche Dichter, sondern Paris zu gefallen ist das Streben des fran¬
zösischen Dichters. Paris ist ja Frankreich. Diese straffe Zentralisation ist
aber der Verderb der Poesie. Und nicht oft genug kann es rühmend hervor¬
gehoben werden, was auch in dieser Beziehung Deutschland seinem Staaten¬
bunde und dessen kunstliebenden Fürsten und Höfen zu danken gehabt hat. Nur
noch ein Jahrzehnt, so klagt Schure, dieses Überwiegen der Hauptstadt auf
das geistige Leben, und man wird in Frankreich keine wahre Volkspoesie mehr
kennen!
ille, lieber Papa, gieb mir doch zehn Pfennige, ich brauche ein
neues Schreibebuch! — Wie oft ergeht wohl im Laufe eines
Monats diese Bitte an einen Vater, der mehrere Kinder in der
Volksschule hat? Ein paarmal habe ich daraus erwiedert: Mein
guter Junge, das Papier in deinen Schreibebüchern ist herzlich
schlecht, es ist dünn, durchscheinend und blau ; ich habe aber in meinem Schreib¬
tische ein großes Packet schönes weißes und starkes Schreibepapier liegen; auch
graues und blaues habe ich zu Umschlägen; ich will dir davon geben, so viel
du brauchst, nimm Nadel und Zwirn und hefte dir selbst ein neues Schreibe¬
buch. Da heißt es aber jedesmal: Ach bitte nein, Papa, das dürfen wir nicht,
wir müssen alle ganz egale Schreibebücher haben, mit blauen Linien, zwölf
Zeilen auf der Seite; bei Mitscherlichs im Entladen an der Schnlstraße bekommt
man sie akkurat so, wie wir sie brauchen, die ganze Klasse kauft bei Mitscherlichs,
ich gehe vorbei, wenn ich in die Schule muß, bitte, gieb mir die zehn Pfennige!
(Zur Erläuterung bemerke ich, daß Herr Mitscherlich in der That an der Ecke
der Schulstraße einen Laden hat, an dessen Schaufenster eine Papptafel hängt
mit der Aufschrift „Schreibntensilien" —- ein Wort, das für die vorbeigehende
Schuljugend einen umso größeren Zauber hat, je weniger sie sich darunter
denken können; meine Kleine, die gern über die Bedeutung der Wörter grübelt,
fragte mich neulich, ob Utensilic wohl mit Petersilie zusammenhinge.)
Zwei Tage später hat wieder einer sein Rechenbuch ausgeschrieben, den
dritten Tag sein „Diarium," und den vierten quälen sie wieder um ein paar
Pfennige, um bei Mitscherlichs Stahlfedern zu kaufen. Zwar habe ich auch
davon mindestens noch dreiviertel Groß im Schreibtische liegen, eine weiche,
leicht ansprechende Feder mit breitem Schnabel. Aber die Jungen verschmähen
sie stets mit angsterfülltem Gesicht, wenn ich ihnen eine aufreden will: Ach
bitte nein. Papa, wir dürfen nur mit der Alfredfeder ^ schreiben, die ganze
Klasse schreibt damit, Herr Bretschneider zankt, wenn einer eine andre Feder
hat. (Zur Erläuterung bemerke ich wieder, daß die Alfredfeder ? ein abscheulich
hartes und spitzes Instrument ist, mit dem ich nicht imstande wäre eine Zeile
zu schreiben.)
Ich bin ein harmloser Familienvater und kann mich an pädagogischer Ein¬
sicht natürlich nicht entfernt mit den wackern jungen Männern messen, die drei
Jahre lang das Seminar besucht haben. Alles, was ich thun kann, um meine
pädagogische Einsicht zu erhöhen, ist das, daß ich gewissenhaft alle die Artikel
lese, in denen in der Tagespresse heutzutage Schulfragen erörtert werden, vor
allem die Berichte über Versammlungen und Vorträge, welche im Lehrervcrein,
im Pädagogischen Verein und in der Pädagogischen Gesellschaft unsrer Stadt
gehalten worden sind. Leider habe ich dabei über die Schreibebücher- und
Stahlfederfrage, die mir ganz besonders am Herzen liegt, nie etwas erfahren können,
bin also zur Zeit noch darauf angewiesen, mir meine eignen Gedanken darüber
zu machen. Und da denke ich denn so. Es ist doch seltsam, daß die Schule, die
jetzt so viel davon redet, wie notwendig es sei, die „Individualität" der Kinder,
soweit sie eine gute Individualität ist, sich ungestört entwickeln zu lassen, doch
in Dingen, in denen diese Individualität sich zeigen und aufs unschuldigste
sich aussprechen könnte, in überflüssiger Weise unifvrmirt und schablonisirt; es
ist ferner doch seltsam, daß die Schule, die ihre Zöglinge auf der einen Seite
durch die epochemachende Errungenschaft der „Schnlsparkassen" zum Sparen an¬
leiten möchte, sie auf der andern Seite geradezu zur Verschwendung nötigt;
es ist endlich doch seltsam, daß eine Zeit, die es für nötig hält, durch besondern
„Handfertigkeitsunterricht" — ein herrliches Wort, mindestens ebenso schön wie
„Kleinkinderbewahranstalt"! — für die Ausbildung praktischen Geschickes bei der
Jugend zu sorgen, doch die Gelegenheit unbenutzt läßt, welche die Schule ganz
von selbst zur Bethätigung der gewünschten Handfertigkeit bietet.
Als ich in die Schule ging, fiel es keinem Menschen ein, fertige Schreibe¬
bücher zu kaufein geheftet, beschnitten, liniirt, mit einem roten Löschblatt und
mit einem weißen Schildchen auf dein Umschlage versehen, und der Umschlag
nochmals in ein graues Papier eingeschlagen. Alles dies machte sich vor dreißig
Jahren ein richtiger Junge selber zurecht und hatte dabei mannichfache Gelegen¬
heit, Handfertigkeit zu entwickeln und sich anzueignen. Ich denke noch mit
Vergnügen daran, wie wir durch Ausschneiden zierlich geränderter Buchschildchen
einander zu überbieten suchten. Heute stehen die Kinder dabei und staunen den
Vater wie einen Tausendkünstler an, wenn er ein Buch heftet, ein Briefkouvert
bricht und schneidet, ein gedrucktes Buch zur Schonung des Einbandes mit
einem kunstgerechten Papierumschlage versieht. Solche Dinge haben wir in
früherer Zeit in der Schule gelernt; das war unser „Handfertigkeitsunterricht."
Wir waren aber dabei früher auch sparsamer als die heutige Jugend, die
ihre Hefte mit unglaublicher Geschwindigkeit vollschreibt. Durch übermäßig
breiten Rand und weitabstehende Zeilen in den Schreibebüchern, in den Rechen¬
büchern durch die Einrichtung, daß jedes einzelne Zahlzeichen in ein besondres
Kästchen gesetzt wird und infolge dessen auf einer Quartseite zwei solcher Divisions¬
exempel Platz finden, deren wir früher mindestens acht auf die Seite schrieben,
wird erreicht, daß die Besuche bei Mitscherlichs das ganze Jahr über nicht abreißen.
ZuM Überfluß hat der brave Herr Mitscherlich noch ein Mittel, durch das er
eine ganz besondre Anziehungskraft auf die Kinder ausübt. Er hat unter seiner
Ladentafel eine Pappschachtel stehen, worin allerhand Ausschuß von jenem
nichtsnutzigen kleinen Plunder liegt, der in Gestalt von bunten und in Relief
gepreßten Blumensträußchen, Vögeln, Männchen, Häuschen u. s. w. jetzt die
Schaukästen aller Papier- und Schreibwaarentrödler füllt. So oft sich nun
ein Junge ein neues Schreibeheft oder ein paar neue Alfredfedern holt, greift
Herr Mitscherlich in besagte Schachtel und giebt ihm einen Papagei oder einen
Ulanen oder ein Schweizerhäuschen zu, und das ist für den Jungen natürlich
der Glanzpunkt bei dem ganzen Geschäft. Um dieses Bildchens willen kann
er's nicht erwarten, bis er in seinem Heft wieder auf der letzten Seite ange¬
langt ist.
Noch schlimmer aber als die Bequemlichkeit und die Verschwendung, zu
der die Jugend durch diesen Trödel mit „Schreibutensilien" gewöhnt wird, ist
der Umstand, daß die Schule selbst die Kinder hierzu nicht bloß anleitet, sondern
geradezu nötigt, indem sie sie alle über einen Kamm scheert. Es ist mir
unbegreiflich, wie man vierzig verschiedne Kinderhände dazu zwingen kann, mit
ein und derselben Feder, und noch dazu mit einem solchen Martcrinstrument,
zu schreiben! Jeder Erwachsene sucht sich doch die Feder aus, die ihm bequem
ist, und hier verdirbt man von vornherein eine bildungsfähige Hand durch ein
hartes, kritzliches Instrument — vermutlich nur unsrer heutigen, nach meinem
Geschmack völlig charakterlosen Schulkalligraphie zu liebe, die sich in ihrer glatten,
kraftlosen Eleganz gegen den alten markigen Kanzleiduktus ausnimmt, wie
ein geschniegelter Zierbengel gegen einen einfachen, tüchtigen Mann. Es ist
mir ferner unbegreiflich, wie man vierzig Kindern der verschiedensten Art und
Anlage zumuten kann, genau dasselbe Schreibeheft mit zur Schule zu bringen,
und sich so selbst des einfachsten Mittels begeben, die Verschiedenheit der
Kinder und die Verschiedenheit des häuslichen Einflusses kennen zu lernen.
Wenn ich Schulmeister wäre, so würde ich anordnen, daß kein in der Papier¬
handlung fertig gekauftes Schreibeheft in der Schule gebraucht werden dürfe.
Ich würde die Kinder unbedingt dazu anleiten, sich ihre Hefte selber anzu¬
fertigen und für den Gebrauch vorzubereiten. Es würde dabei vielleicht der
kleine Übelstand entstehen, daß das Heft des einen Jungen um einen Viertelzoll
größer als das des andern ausfallen würde — für manchen Schulmeister,
der zu Ostern zu den öffentlichen Prüfungen die Hefte seiner Jungen womög¬
lich vom Buchbinder einbinden und mit goldbedruckten Schilden versehen läßt,
freilich eine schwere Herzkränkung —, aber ich würde gleich am ersten Hefte sehen,
in welchem Hause Ordnung und Schönheitssinn herrscht und in welchem nicht,
welcher Junge sich geschickt anstellt und welcher nicht, wer zur Sorgfalt und
Sauberkeit erzogen ist und wer nicht.
Du lachst, lieber Leser, über den Ernst, mit dem ich solche Kleinigkeiten
behandle? Du hast gut lachen. Wer, wie ich, sechs Kinder gleichzeitig zur
Schule schickt, für den ist dieses Thema durchaus keine Kleinigkeit. Ich werde
natürlich nach Ostern geduldig wieder meinen Beutel ziehen und Groschen über
Groschen zu Herrn Mitscherlich schicken. Aber lieb wäre mir's doch, wenn mich
ein kundiger Mann einmal darüber aufklärte, daß ich in dieser Frage im Irr¬
tum sei.
^ rg.
!alls noch Jemand von den unglücklichen Beamte» am Leben
sein sollte, welchen in den dreißiger und vierziger Jahren die
Zensur über Druckschriften aufgebürdet war, so wird er wohl
mit stiller Befriedigung von den Verhandlungen des preußischen
. I Landtages im Februar dieses Jahres Kenntnis genommen haben.
Kein Zorn- und Schmähwort wurde seinerzeit stark genug befunden für die
Männer, welche ihres leidigen Amtes getreu »ach ihren Vorschriften walteten,
häufig auch im Zweifel oder aus Liebedienerei oder in der Parteiwut über
ihre Vorschriften hinausgriffen. Gedankenmörder, Jdeenhcnker, ohnmächtige
Werkzeuge der Tyrannei, elende Schergen, die das einzige Hemmnis bildeten
der politischen und — literarischen Größe Deutschlands! Darin war alle Weltt>K<W»
einig: Lehrfreiheit und Preßfreiheit — mehr brauchte man nicht; hätte sich
niemand mehr zu dem schmählichen Dienste hergegeben, „den Gedanken zu knebeln/'
so würde die Freiheit nicht mehr in dem Land der Träume zu suchen gewesen
sein, und einzig die Zensur trug die Schuld, daß die deutsche Nativnalliteratnr
damals noch nicht einen Aufschwung nahm, himmelhoch über die beiden
sogenannten klassischen Periode» derselben. Aber jene Sklaven der rohen Gewalt
nannten alles staatsgefährlich, was ihnen zu hoch war. staatsgefährlich!
Als ob Ideen jemals dem Staate Gefahr bringen könnten.
Solcher und ähnlicher Standreden dürste sich der emeritirte Zensur noch gut
erinnern. Was es mit der Literaturblüte seit Aufhebung der Zensur zu bedeuten habe,
darüber hätte er sich wahrscheinlich längst seine Meinung gebildet, und nun
müßte er zu seiner Beruhigung erfahren, daß es doch staatsgefährliche Lehren
giebt. Freilich sehen sie teilweise etwas anders ans als diejenigen, welche er
einst zu unterdrücken suchte.
Wir wollen nicht den nationalen Zorn wachrufen gegen die neuen Hüter
des Staatswohles, die freiwilligen Nachfolger der alten Zensoren. Uns er¬
heitern sie gleichmäßig, ob sie mit ihren Leibern das Haus Hohenzollern gegen
den Reichskanzler oder den Staat gegen den Sozialismus decken. Wenn Pro¬
fessor Hänel, der wirklich nicht viel jünger sein soll als Professor Wagner,
diesen väterlich ernährt, nicht politische Meinungen in den Hörsaal zu ver¬
pflanzen, wenn ein andrer Herr in der Verteidigung des Staatsbahnsystems
einen Ausdruck des Hasses gegen die besitzenden Klassen erkennt, wenn Herr
Windthorst noch kühnere logische Sprünge macht, so werden wir ihnen doch nicht
aus Parteirücksicht unsern Beifall versage»! So sehr hat die Politik uns nicht
um die Empfänglichkeit für den Humor gebracht. Herr Windthorst vor allem
macht in seinem Eifer einen unauslöschlichen Eindruck, und er möge es uns
nicht verübeln, wenn wir ihn nach dieser Leistung zum schönen Geschlechte
rechnen. (Der edle Ritter ohne Furcht und verschiedene andre Eigenschaften,
Herr Engen Richter, scheint entsprechende Wahrnehmungen schon früher gemacht
zu haben, da er so gern unter dem Zentrumsfenster girrt und lockt.) Der
Zentrumsführer deduzirt folgendermaßen: „Wenn der Staat alle Eisenbahnen
übernehmen soll, weil er sie besser bewirtschaften und größern Ertrag erhalten
wird, so muß er auch allen Grundbesitz übernehmen, der jetzt nur Privatleuten
etwas einbringt — und das ist vollständig die Lehre der Sozialdemokratie."
Glaubt man nicht die Logik der Frau Kcmdel oder einer von ihren Schwestern
zu hören? „Ich soll dies und jenes nicht essen? Warum nicht? Es schmeckt
mir doch, und mit demselben Rechte könnten Sie mir das Essen und Trinken
überhaupt verbieten." Und wenn er auf den kleinen Unterschied aufmerksam
gemacht wird zwischen Aktionären, welche an den Früchten, die sie genießen, gar
keinen Anteil haben, und den Besitzern und Verwaltern von Grund und Boden,
zwischen dem Privilegium auf Kosten der Allgemeinheit und dem Privateigentum,
so sagt er: „Das versteht ihr nicht/' Ganz wie die Damen, auch darin, daß
er, so oder so, das letzte Wort zu behalten weiß.
Natürlich war ihm das Loch in seinem Räsvimemcnt ganz wohl bekannt.
Und es wird auch schwerlich aus Vergeßlichkeit geschehen sein, daß er diesmal
sein Radikal- und Universalmittel gegen alle sozialen Schäden, die Zurückberufung
der abgesetzten Geistlichen, nicht aus der Tasche zog. Die Gelegenheit dazu
wäre so schön gewesen — vielleicht zu schön? Fürchtete er etwa, daß Vergleiche
zwischen dein Besitz der toten Hand und jenen: der Aktiengesellschaften angestellt
werden könnten? Den Gutsbesitzern auf der Rechten bange machen, ohne die
eigue Furcht zu verraten — doch nein. Er ist ja viel zu klug und scharf¬
sichtig, um wirklich zu glauben, daß die heutige Nationalökonomie Sozialdemokraten
heranbilde. Er weiß so genau wie wir, daß die jungen Männer, welche jetzt
die Universität verlassen, so wenig daran denken, die Kirchengüter einzuziehen
als den kommunistischen Staat zu etabliren. Aber sie bringen, wie Adolf
Wagner richtig bemerkte, ein strammes Staatsbewußtsein mit nach Hause, und
davor muß freilich der Staat bewahrt werden!
Als bei andrer Gelegenheit treffend darauf hingewiesen wurde, daß in
ander» Ländern der Katholik sich zuerst als Angehöriger der Nation und des
Staates fühle, in Deutschland aber — häufig, nur zu hänfig! — zuerst als
Katholik; da wurde richtig der Kulturkampf wieder ausgespielt. Die Ausflucht
ist wahrlich recht lahm. Ist in Italien der Klerus nicht national gesinnt trotz
Exkommunikation, Okkupation des Kirchenstaates, Einziehung der Kirchengüter und
allem sonstigen? Auf den Krieg von 1859 werden sich die Herren von Schorlemer
und Majunke wohl noch besinnen. Es waren die Truppen des Konkordats-
staates Österreich, die in allen Dörfern der Lombardei mit Glockengeläute
empfangen wurden: man flehe um Sieg für die kaiserlichen Waffen, hieß es
und zu spät wurden die Kaiserlichen inne, daß ans diese Weise den Piemontesen
das Nahen des „Feindes" angekündigt wurde. Ja, auch in Österreich hält bei
weitem die Mehrzahl der deutschen Geistlichkeit zur deutschen Partei, obgleich
sie vom Liberalismus Unbill und Unglimvf reichlich erfahren hat. Andrerseits
gebricht es gegenwärtig fast keinem europäischen Lande an Staatsangehörigen,
welche mehr oder weniger offen darauf hinarbeiten, eben diese Staatsangehörig¬
keit loszuwerden; aber daß sie in dem Bemühen noch auf Seiten derjenigen,
von welchen sie sich losreißen möchten, Unterstützung finden, und daß von dem
geistlichen Oberhaupt abhängig gemacht wird, wann und wie weit man national
sein dürfe, das ist eine Spezialität des deutschen Reiches. Bewußte Absicht ist
dabei gewiß ausgeschlossen. Wenn nur nicht praktisch die Verblendung, das
Verranutseiu in Parteidogmen und Parteischlagworten ebensoviel bedeutete!
Was die „ Entschieden" gegen den Abgeordneten Wagner so sehr in
Harnisch brachte, daß sie durcheinander rannten wie die aufgestörten Bewohner
eines Ameisenhaufens, ist schon eher verständlich. Man darf wohl vier Wochen
nach Erlaß eines Gesetzes den Beweis antrete», daß es seinen Zweck verfehlt
habe, aber mit der Rechtfertigung einer Rcgierungsmaßregel aus den Thatsachen
muß mindestens zehn Jahre gewartet werden, schon weil dann die Opposition
es riskiren darf, das Geschehene für ihr Werk auszugeben — wie die Lösung
der deutschen Frage. Und die Empfindlichkeit, sobald das bewegliche Vermögen
zur Sprache kommt, kennen wir ja längst. Man erhält mitunter den Eindruck,
daß es nichts heiligeres gäbe als die Spekulation, und daß der Übel größtes
Ackerbau und Kleingewerbe sei. Wäre die Debatte nicht so unvorbereitet in das
Haus geschneit, so würde man den Herren wohl ein nicht kleines Register von
Segnungen des Privatbetriebes der Eisenbahnen vorgetragen haben. Es ist
doch «och nicht so lange her, daß Herr von der Heydt als Handelsminister
Gesellschaften zwingen mußte, den Forderungen des Verkehrs zu entsprechen,
oder daß zwei Gesellschaften, um sich gegenseitig zu ärgern, gemeinschaftlich das
Publikum chikanirteu, indem sie regelmäßig ihre Züge eine Viertelstunde vor
Eintreffen des andern abgehen ließen, um deu Anschluß unmöglich zu macheu.
Dies segensreiche Spiel wurde z. B. von der Taunus- und der Main-Neckar¬
bahn in Frankfurt lange Zeit ausgeführt. Mit der Logik der Herren Fort¬
schrittler und ihrer zentralen Bundesgenossen könnte man sagen: mit demselben
Rechte müßte Freigebung der Posten verlangt werden. Es giebt noch Länder,
in welchen man zur Reisezeit erfahren kann, daß für die Beförderung der regel¬
mäßigen Post keine Pferde zur Verfügung sind, weil der Herr Postmeister sie
für die einträglicheren Extraposten bereit halten muß. Alles natürlich zum besten
des „Konsumenten." Und die sittliche Entrüstung über das Erwähnen der un¬
mäßigen Gehalte von Eisenbahndirektoren! Die Gehalte werden von den Direktoren
ja nicht selbst bestimmt, sondern ihnen von den Aktionären bewilligt, daher ist
es eine arge Indiskretion, so zarte Angelegenheiten überhaupt zu berühren. Aber
ist es denn nicht dort so gut, wie im Staatsdienste, der „Konsument," der
„Steuerträger," der die Gehalte bezahlt und dort noch die Dividenden dazu?
In Sachen der Lehre Darwins erinnerten die Herren sich der Freiheit der
Wissenschaft, aber so weit darf diese Freiheit doch nicht gehen, daß Aktionäre
und Eisenbahndirektoren von der Durchführung der neuen Doktrin eine Schmä¬
lerung ihrer Einkünfte befürchten müßten. Da fängt die Sache an staatsge¬
fährlich zu werden.
Was wohl der alte Zensor davon denken möchte? Damals glaubte man
das Verlangen nach politischer Freiheit auszurotten, wenn man ihm versagte,
sich zu äußern, heute glaubt man, die soziale Frage zu beseitigen, indem man
jedem Reformgedanken entgegentritt. Damals schworen die Regierungen auf
die Weisheit des Totschweigens; heute thut es die Opposition — das ist aller¬
le Frau betrachtete das Goldstück und betrachtete die Dame,
aber antwortete noch immer nicht. Sie konnte sich nicht von
dem Argwohn losmachen, daß dies Ereignis zwar im Anfang
freundlich aussehe, aber gewiß eine Zitation vor Gericht zur
Folge haben werde. Dieser wunderschöne, glänzende Anzug,
dieser Diamantenblitz in der Agraffe unter der schwarzen, wallenden Feder, dieses
stolze Gesicht waren etwas zu ungewöhnliches in ihrer Behausung, als daß es
etwas gutes hätte bedeuten können.
Ich weiß nicht, antwortete sie wieder.
Gräfin Sibylle kniff die Lippen zusammen und schoß einen Zornesblick auf
das blasse Gesicht hinab. Dann wandte sie sich und gewann wieder die Thür,
wo sie in der reinern Luft aufatmete. Ein albernes Volk, murmelte sie. Heda!
rief sie ihrem Führer zu, komm herein und sprich du mit der Frau. Sie be¬
hauptet, nicht zu wissen, wo ihr Mann ist. Sag ihr, daß ich herumgehe, um
Almosen auszuteilen, und daß ich wissen will, wo Claus Harmsen ist.
Der Bursche näherte sich in einiger Verlegenheit ob dieses Auftrags, ging
aber in das Haus, während die Gräfin im Hofe blieb, und sprach im Dialekt
der Gegend mit der Frau am Herde.
Sie meint, er würde wohl im lustigen Seehund sein, meldete er dann
zurückkehrend.
Was ist das?
Der Bursche erklärte ihr, der lustige Seehund sei eine Schenke drunten
am Wasser, abseits vom Dorfe, wo die Schiffer verkehrten, und Gräfin Sibylle
erklärte nach einigem Sinnen zu seinem Erstaunen, daß sie Claus Harmsen dort
suchen wolle.
Die letzten Häuser des Dorfes wurden passirt, und der Weg führte zwischen
Kartoffelfeldern zu einem einzeln stehenden Gebäude hinunter, das in der Ferne
unmittelbar am glänzenden Saume des Meeres lag. Beim Näherkommen ver¬
nahm Gräfin Sibylle den vom Seewind ihr entgegengetragenen Klang von
Flötentöne» von jener Stelle her.
Sie zeigte auf das Gebäude, das auf einer langgestreckten Werft lag, und
sprach die Vermutung aus, dies sei die gesuchte Schänke. Ihr Führer be¬
stätigte es.
Ich will hier warten, sagte sie darauf. Lauf du hinunter, und wenn der
Mann dort ist, bring ihn mir hierher. Ich werde dir ein gutes Trinkgeld geben,
wenn du ihn bringst.
Der Bursche setzte sich in Trab, Gräfin Sibylle aber blieb stehen und blickte
ihm, die Spitze ihres Sonnenschirmes in den Sand bohrend, erwartungsvoll
nach, wie er zwischen den Feldern hinlief und dann hinter der Planke der Werft
verschwand. Sie war sehr schlecht gestimmt durch ihren Gang, durch den Anblick
so unerfreulicher Gegenstände und durch die Hindernisse trivialer Natur, die sie
zu überwinden hatte. Das anhaltende Waten in den sandigen Wegen hatte sie
müde gemacht, der Geruch von Fischüberresten und Theer, der sie überall umgab,
ihre Nerven angegriffen, und finster blickte sie auf die Schänke hinab, deren
dunkle Masse sich von dem blendenden Hintergrunde abhob.
Indessen war ihr Abgesandter erfolgreich in seiner Mission. Claus Harmsen
saß inmitten von einem Dutzend nichtsthuerischer Genossen auf dem Rande der
Werft und blies die Flöte. Sie ließen allesamt der Reihe nach ihre Beine
über dem Wasser baumeln und halfen einander die Schiffe betrachten, welche
in der Ferne vorüberzogen, während sie den Melodien der „Schönen Minka"
und andrer Musikstücke lauschten, die ihr beliebtester Freund, der muntere Claus,
mit einer gewissen Virtuosität vortrug. Von Zeit zu Zeit, in den Pausen,
ließen sie eine Flasche mit stark duftenden Inhalt herumgehen. Es erregte
einiges Aufsehen in dem Kreise, als die Botschaft an Claus eintraf, und es
wurden einige orakelhafte Bemerkungen aus tabakkauendem Munde laut, welche
das blasse Weib an dem kalten Herde zum Ziele hatten. Claus Harmsen aber
steckte, als er etwas von einer Geld schenkenden Dame vernommen und darauf
noch einmal nachdenklich ausgespuckt hatte, seine Flöte in die Tasche seines
Schifferkittels und trollte hinter dem Boten her.
Die Gräfin betrachtete den langknochigen Menschen, als er im Schiffer¬
gang auf Seebeinen schwankend heraufkam, mit aufmerksamem Blick, und ihre
Miene erhellte sich ein wenig. Claus Harmsen hatte ein verschlagenes Gesicht.
Seine braunen Augen hatten einen Ausdruck, der auf Lust und Witz und die
Neigung zu tollen Streichen schließen ließ, und ein gewisser Zug um die Mund¬
winkel verriet Pfiffigkeit. Der Hut, den er trug, klaffte zwischen Rand und
Kopfteil auseinander, sodaß das krause, dunkle Haar durch den Spalt hervor-
quoll. Wer das öde, schmutzige Haus dieses Mannes gesehen hatte und nun
ihn selbst vor sich sah, der am Vormittage in der Schänke blies, der hätte,
wenn er wirklich Mitgefühl besaß, sicherlich vor diesem, vom Trinken geröteten,
verschmitzten und sorglosen Gesicht die Neigung zu einer ernsten Mahnung
verspürt.
Aber Gräfin Sibylle dachte nicht an eine solche Mahnung. Sie drückte
ihrem Führer eine Belohnung in die Hand und hieß ihn fortgehen. Dann
begann sie, allein mit dem Schiffer, ein Gespräch, das unverhältnismäßig lange
dauerte für ein so ungleiches Paar. Claus Harmsen veränderte im Laufe dieser
Unterhaltung gar bald seine anfängliche Miene des erwartungsvollen Staunens,
und der listige Charakter seiner Züge trat noch deutlicher hervor. Er kraute
sich mehreremale bedenklich in den dichten, unbändigen Locken, indem er den Hut
zurückschob und mit unverschämtem Lächeln der Dame ins Gesicht sah. Aber
zuletzt schien er sich zu fügen und zeigte ein unterwürfiges Wesen. Das ge¬
bieterische Wesen der vornehmen Frau, die Gewalt ihres Blickes und ihre Worte
waren über seine rohe Natur Herr geworden.
Er zog ehrerbietig den Hut, als sie ihn verabschiedete, und sah ihr, als
sie wieder dem nahen Dorfe zuschritt und in die Gasse einlenkte, mit verblüfftem
und nachdenklichen Wesen nach, nicht ganz unähnlich einem wilden Tiere in der
Menagerie, das-die überlegene Kraft seines Bändigers kennen gelernt hat.
Ich habe da ein Billet bekommen, welches einige Abwechslung für uns in
Aussicht stellt, sagte Baron Sextus zu seiner Tochter. Mit diesen Worten
reichte er ihr beim Frühstück ein dreieckig gefaltetes Papier hin, welches in
langen, spitzen, festgezeichnetcn Schriftzügen die Mitteilung der Gräfin Sibylle
von Altenschwerdt enthielt, daß sie sich mit ihrem Sohne zu einer Kur in Bad
Fischbeck aufhalte und die Gelegenheit nicht versäumen wolle, das ihr dem
Namen nach wohlbekannte Eichhausen zu besuchen, vorausgesetzt, daß sie er¬
wünscht komme.
Es war an dem Tage, nachdem Sibylle ihre Begegnung mit Andrew gehabt
hatte, an demselben Tage und zu derselben Zeit, wo sie mit dem Flötenspieler
aus dem lustigen Seehund verhandelte. Gräfin Sibylle war rasch in ihren
Entschlüssen.
Der Baron befand sich heute sehr gut. Der gestrige Ausflug nach der
Besitzung des Grafen war ihm gut bekommen. Er hatte im Sinne, heute
wieder zu Pferde zu steigen, er verzehrte mit großem Appetit ein Hirschsteak,
nachdem er wochenlang Wassersuppendiät gehalten hatte, und er war gut ge¬
launt und zu Unternehmungen aufgelegt.
, Was meinst du, Dorothea, sagte er, als seine Tochter das Billet gelesen
hatte und ihm schweigend zurückreichte, denkst du nicht, daß es der Höflichkeit
angemessen wäre, einen reitenden Boten hinüberznschicken und die Herrschaften
zum Diner oder zum Abendessen, oder wozu du sonst willst, einzuladen?
Ganz wie du es für gut hältst, lieber Papa, antwortete sie. Kennst du
die Gräfin und ihren Sohn persönlich?
Nein, nur dem Namen nach. Es sind die schlesischen Altenschwerdt. Sie
sind in frühern Zeiten zu verschiednen malen mit unsern Vorfahren in freund¬
schaftliche Berührung gekommen, und es wäre mir lieb, wenn wir die Tradition
guter Beziehungen aufrecht erhielten.
Ein gewisses Etwas im Benehmen ihres Vaters war für Dorotheens weib¬
lichen Instinkt auffallend. Er sah sie nicht an, während er sprach, und seine
Bewegungen mit Messer und Gabel waren um eine Nuance lebhafter als sonst.
Er hatte für gewöhnlich wenig Neigung, Fremde einzuladen, und verhielt sich
gegen die Gutsnachbarn kühl und ablehnend. Es lag in diesem Billet und
in dessen Aufnahme von feiten ihres Vaters etwas auffälliges für Dorothea.
Du weißt nichts näheres über die Gräfin und ihren Sohn? fragte sie.
Meine liebe Dorothea, entgegnete der Baron, ich habe gehört, daß sie
Witwe ist und daß ihr Sohn irgend eine Anstellung im diplomatischen Dienst
hat. Es handelt sich hier lediglich um eine Artigkeit, und ich denke, wir lassen
um die Ehre zu einer Tasse Thee bitten, und schicken am Nachmittag schon
einen Wagen hinüber, damit wir den Gästen noch bei Tageslicht die Sehens¬
würdigkeiten zeigen können. Ich denke, wir setzen den morgenden Tag dazu
fest, denn ich sähe es gern, wenn der General dabei wäre, und der ist, wie er
mir gestern sagte, heute in Holzfurt. Es scheint wieder etwas mit seinem Neffen
im Werke zu sein, der ihm schon manchen schönen Thaler gekostet hat, den der
gute, alte Herr selber gebrauchen könnte. Wenn du den General benachrichtigen
willst, wird es mir angenehm sein. Herr Eschenburg wird vielleicht von selbst
kommen, oder, wenn du es nicht für sicher hältst, laß es ihn auch wissen, daß
wir ihn erwarten. Er ist ein unterrichteter Mann, der zur Unterhaltung bei¬
tragen wird. Der Gräfin will ich selbst eine Einladung schreiben.
Dorothea erwiederte nichts weiter und führte die Anordnungen ihres
Vaters aus, aber sie sah, ohne daß sie selbst Mißte, warum, der Ankunft des
neuen Besuchs mit einer gewissen Unruhe entgegen, obwohl sie sich des nahen
Wiedersehns mit Eberhardt freute. Es war, seitdem sie wußte, daß Eberhardt
sie liebte, eine heilige Stimmung über sie gekommen, in welcher jede neue Er¬
scheinung einem profanen Wesen glich, das über die Schwelle des Tempels ein¬
treten will.
Um sich zu beruhigen und die mißtrauischen Gedanken zu verscheuchen, die
ihr die Aussicht auf neue Bekanntschaften einflößte, schrieb sie ein Briefchen an
Eberhardt. Sie war nicht so ganz sicher, daß er kommen würde, und wollte
ihm für jeden Fall eine Einladung zukommen lassen. Mein lieber Freund,
schrieb sie, wenn ich auch gerade keine besonders gute Meinung von Ihrer
Unterhaltungsgabe aus der Probe gewonnen habe, die Sie gestern auf der Fahrt
nach Hause ablegten, und wenn ich deshalb auch befürchte, daß Sie alle Ihre
Beredsamkeit auf die Wte-z-Tßte sparen und in der Gesellschaft, zu der ich
Sie einladen soll, mehr den Beobachter spielen werden, so will ich doch einer
Pflicht nachkommen. Mein Vater hat brieflich eine alte Bekanntschaft erneuert
und will dieselbe auf morgen Abend zum Abendessen laden. Er fürchtet, daß
ein gewisser, in allen Künsten bewanderter Herr dabei fehlen könnte. Es scheint
ihm um eine solide Stütze in seinen kavalleristischen Thesen zu thun zu sein,
und er hegt ein Vertrauen in dieser Hinsicht, welches ich wünschte teilen zu
können. Ich muß sagen, daß ich einiges Herzklopfen verspürte, als mein lieber
Vater mir den Wunsch mitteilte, diesen Herrn bei uns zu sehen. Ermahnen
Sie ihn, bitte, wenn er Ihnen bekannt sein sollte, zu bedenken, daß diesesmal
eine Dame als Gast gegenwärtig sein wird, und daß vermutlich schärfere Augen
als gewöhnlich sein Betragen studiren werden. Er soll wohl Acht geben, seine
gesetzte und weisheitsvolle Haltung zu bewahren. Wenn er das thun will, so
soll ihm gestattet sein, schon am Nachmittage zu kommen. Was eine andre
Dame betrifft, die vielleicht dazu beitragen könnte, diese Haltung zu gefährden,
so will ich selbst Sorge tragen, daß sie sich recht bescheiden und zurückhaltend
benimmt. Sie soll die eignen Augen gesenkt halten und so wenig vorteilhaft
als möglich in den seinigen erscheinen. Mit freundlichem Gruß Ihre Dorothea.
Nachdem sie dies Billet versiegelt und Millicent übergeben hatte, die es
durch einen Boten abgehen lassen sollte, setzte sich Dorothea in die Nische vor
dem Balkon ihres Zimmers und sah den Weg entlang, der in den Wald und
dort drüben nach Scholldorf führte. Es lag ihr ein trübes Gefühl auf der
Brust, das auch durch den scherzenden Ton des Briefchens sich nicht hatte zer¬
streuen lassen. War es die natürliche Rückwirkung nach so viel Glück am
gestrigen Tage? War es die Notwendigkeit der Mischung von Hell und Finster,
die allem Dasein auferlegt ist?
Millicent kehrte zurück und schob eine Fußbank neben Dvrothecns Stuhl,
auf welcher sie sich niederließ und der Freundin in die Augen sah. Der me¬
lancholische Schimmer in diesen sonst so heitern Sternen entging ihr nicht, und
sie versuchte sie durch ein leichtes Geplauder aufzuhellen. Während dessen schallten
von unten Hnfschläge herauf, Dorothea blickte hinab und verfolgte sinnend und
ohne auf Millicents Worte zu lauschen den eiligen Ritt des Knechtes, der mit
ihrer Botschaft an Eberhardt unterwegs war.
Millicent erhob sich und holte aus Dorotheens Bücherschrank einen Band
der Gedichte von Byron hervor, kehrte zu ihren Füßen zurück und las ihr jenen
reizenden Gesang vor, in welchem die Liebe des weißen Jünglings und der
sanften, braunen Schönen, der Eingebornen einer fernen Insel des Stillen
Meeres, geschildert und in bezaubernde» Klängen die Schönheit der Natur ge¬
feiert wird. Der Gesang durchglühte die Herzen beider jungen Mädchen, und
die Verse des von Schönheit trunkenen Dichters zitterten in ihnen nach, als
Millicents Stimme verklungen war und sie mit schwärmenden Auge zu Do¬
rothea emporblickte.
Der Gegensatz der eigentümlichen Formen und Farben beider jungen
Mädchen trat in diesem Augenblicke besonders lebhaft hervor, und Eberhardt
wäre entzückt gewesen, wenn er hätte sehen können, wie herrlich Dorothea in
diesem Herabbeugen zu der Blondine aussah. Millieeut stützte ihren rechten Arm auf
Dorothccns Knie, während sie mit der linken Hand das Buch in ihrem Schoße
hielt, und kehrte mit rückwärts gebogenem Kopf das Gesicht nach oben. Die
dunkle Schönheit begegnete mit gerührtem Blicke diesen glänzenden, blauen Augen,
und die prachtvolle Glut unter den halbgesenkten langen, schwarzen Wimpern
leuchtete tief und heiß.
Es war still in dem hochgelegenen heimlichen Zimmer mit der weiten Aus¬
sicht. Kein Laut drang zu diesem alten Bnrggemach mit den dicken Steinwänden
als der entfernte Schrei eines Raubvogels, der über dem Walde schwebte. Auf
der goldbedruckten Ledertapetc schimmerten zitternde Sonnenlichter, und es schien
die grünliche, glänzende Wand die lebendige, blättertragcnde Kulisse eiuer hohen
Laube zu sein, durch deren Rankenwerk der Strahl des Tagesgestirns mühsam
hindurchdringt.
O Dorothea, sagte Millicent nach einer langen, stummen Pause, hinüber¬
denkend an den Reiz von Otahaiti, den Byron schildert, wie wunderbar schön
muß es doch sein, in deu Schoß der Natur zurückzukehren!
Dorothea lächelte, indem sie ihre eignen Gedanken und Wünsche in ver¬
änderter Gestalt ans Millicents Seele hervorblicken sah und sich in der Freundin
Gemüt versetzte. Millicent hatte einen schwärmerischen Sinn, und sie erfüllte
die Anforderungen des täglichen Lebens mit seiner Nüchternheit oft nur, im
Sinne einer verzauberten Prinzessin. Die Erziehung, welche sie in Dorotheens
Gesellschaft erhalten hatte, hob sie mit ätherischen Schwingen über die Stellung
ihrer Familie und die Tradition ihrer Vorfahren empor. Millicent sah auf
die idealen Gestalten der Dichterwerke und ihrer eignen schwunghaften Phan¬
tasie. Vielleicht auch war schon durch ihre Mutter, die Kammerjungfer, ein
leichterer Tropfen Blutes der schweren Masse bäuerischer Säfte beigemischt
worden, der dem Sauerteig im Brode glich, und mochte wohl die Meinung des
Barons Sextus über die Verbindung ihrer Eltern nicht ganz ohne ein Salz-
koru sein, Millicent sah zuweilen ihre vollen, roten Wangen im Spiegel mit
Verdruß und dachte es sich entzückend, blaß zu sein und ein Herz im Busen
zu tragen, das von Kummer und Leid zerrissen ist.
Siehst du, Dorothea, fuhr sie fort, wenn ich mir ausmale, daß mich je¬
mand mit der ganzen Glut seiner Seele liebte und mit mir in einer abgcschie-
denen, süßen Wildnis lebte, wie diese armen, verfolgten Matrosen auf der Insel,
da wäre ich so selig, daß ich gern alles, alles auf der Welt hingäbe! Es muß
doch etwas schönes sein um entsetzliche Hindernisse, die der Liebe im Wege
stehen, und eine unglückliche Liebe muß himmlisch sein!
Danke Gott, wenn du es nicht erfährst, sagte Dorothea. Übrigens denke
ich, du hast deine Hindernisse. Ist denn nicht dein Bruder Rudolf, ist nicht
deine ganze Familie gegen dein Verhältnis zu Degenhard? Besucht er nicht
ganz heimlich das Schloß?
Ja, das ist schon wahr, aber ich mache mir nicht viel aus diesen Hinder¬
nissen. Denn siehst du, Dorothea, wenn das Schlimmste zum Argen kommt,
lache ich die ganze Gesellschaft aus, nehme Degenhard an der Hand, heirate
ihn und ziehe mit ihm nach Holzfurt oder sonst wohin, und wir fangen eine
Gärtnerei an. Was wir brauchen, verdienen wir leicht, und wir haben nicht
nötig, irgend jemand um seine Gnade anzugehen. Aber als vornehme Dame
einen armen Künstler zu lieben, ihn aller Welt zum Trotz zu lieben und mit
ihm zusammen zu Grunde zu gehen, das ist poetisch.
Millicent mochte wohl auf eine scherzende Entgegnung gerechnet haben und
hatte sicher nicht beabsichtigt, die Freundin zu betrüben. So war sie denn sehr
erschrocken, als sie bemerkte, daß zwei große Thränen sich in Dorotheens Augen
drängten und ihre Miene vom Ernst zur Wehmut überging.
Meine liebste, beste Dorothea, rief sie flehend, indem sie von ihrem niedrigen
Sitz aus die Knie niederglitt und beide Hände der Betrübten ergriff, verzeihe
mir mein unbesonnenes Geschwätz! Wie konnte ich nur solches Zeug vorbringen!-
Gewiß, du bist mir nun böse, und ich selbst werde mir noch weniger verzeihen
als du es kannst.
Dorothea trocknete ihre Augen und sah halb lächelnd, halb traurig in das
volle, blühende, von üppiger, blonder Haarflut umkränzte Gesicht herunter.
Meinst du, es wäre noch nötig, in der Phantasie so schreckliche Dinge sich
auszumalen, du thörichtes Kind? sagte sie. Denkst du nicht an ein gewisses
Sprichwort vom Teufel? Ach, ich bin überzeugt, meine liebe Millicent, daß
es im täglichen Leben Tragödien giebt, die so schrecklich sind, wie nur irgend
eine von denen, die wir auf der Bühne sehen und in den Gedichtsammlungen
finden. Und wenn wir sie erleben sollten, wovor uns der gütige Himmel be¬
wahren möge, dann würden wir sie wohl nicht mehr romantisch, poetisch und
entzückend finden.
Millicent machte eine Bewegung mit ihrer Hand, als wollte sie ein zu¬
dringliches Insekt verjagen, und sagte mit munterm Tone: Fort mit den Grillen!
Ich lobe mir immer frisch vorwärts zu gehen. Nehmen wir die Tage, wie sie
kommen! Ich habe einmal gehört, daß man leicht über einen kleinen Stein
stolpern kann, wenn man nur in die Ferne sieht. Und du bist doch sonst auch
nicht zu so trübseligen Betrachtungen aufgelegt. Ich habe mir immer gedacht,
wenn ich Romeo und Julia las, daß es besser sein muß, es so zu erleben wie
sie, anstatt sich schließlich gleich den meisten Menschen zu Tode zu langweilen.
Du bist wirklich ein gedankenloses Geschöpf, Millicent, sagte Dorothea
kopfschüttelnd. Wie du hin und her schwatzest, und mit so wenig Verstand!
Bist du nicht immer noch dasselbe Mädchen, das einstmals Essig trank, um
blaß zu werden, anstatt Gott für seine gute Gesundheit zu danken? Ich darf
dir den Byron und Shakspcre nicht mehr in die Hand geben, wenn du so
unsinnige Ideen daraus ziehst. Und nun gestehe einmal ernsthaft: Hast du
nicht Degeuhard veranlaßt, ganz unberufen den Figaro zu spielen?
Wahrhaftig, ich weiß nicht, wovon du redest, sagte Millicent mit schelmi¬
schem Gesicht. Sollte der gute, ehrliche Degenhard ein solches Talent entwickelt
haben? Wem zu Gefallen hat er es denn gethan?
Geh, du bist ein listiges Geschöpf. Und ich fange an zu merken, worauf
du hinaus willst. Du redest so widersprechend, weil du wissen möchtest, was
ich denke.
Und ist das ein Geheimnis? Und ein wissenswertes dazu? Doch nein,
teuerste Dorothea, ich will nicht mit dir Versteckens spielen. Habe ich doch deut¬
lich gesehen, daß dich etwas bewegt, und bin ich doch nicht unklar darüber,
was es ist. Aber ich könnte dir wohl etwas böse sein, daß du mich nicht zur
Vertrauten gemacht hast, obwohl du weißt, daß ich keinen sehnlicheren Wunsch
habe, als dich glücklich zu sehen. Es ist nicht hübsch von dir, siehst du, daß du
mir kein Wort sagst. Ich habe ja wohl gesehen, daß Herr Eschenburg rein
weg ist in dich, und daß du ihn auch nicht gleichgiltig ansehen kannst. Aber
was du davon denkst, das hättest du mir wohl sagen dürfen!
Ach, meine Millicent, meine Millicent! rief Dorothea, ihre Arme in einer
plötzlichen stürmischen Bewegung um der Freundin Hals schlingend. Du glaubst
wohl, mich zu kennen, aber du kennst doch nicht dies Herz, das an dem deinen
schlägt. Kenne ich es doch selbst erst seit wenigen Tagen! Es ist zu empfind¬
lich, ich fühle es wie von einer fremden Gewalt dahingeführt, ohne daß ich es
zu beherrschen vermag, und mich überwältigt die Gewißheit, daß es glücklich
werden oder brechen muß!
O Liebste! sagte Millicent, Thränen über den Ausbruch der Freundin ver¬
gießend. Ich keime dich wohl, und jetzt erst sehe ich klar, wie ich dich mit
meinen dummen Phantasten gepeinigt habe. Aber sei nicht traurig, laß dich
nicht von trüben Gedanken, die ich erst hervorgerufen habe, unglücklich machen.
Warum nicht heiter in die Zukunft sehen? Vertraue auf die Macht der Liebe,
wie ich auf deinen starken Sinn vertraue.
Ach, es ist heute kein guter Tag, sagte Dorothea. Der gestrige war zu
schön, und ich werde ihn wohl teuer bezahlen müssen! Ich weiß nicht — heute
ängstigt mich alles. Ich denke, es ist keine gute Vorbedeutung, daß zu Anfang
alles so glücklich verläuft. Es giebt Zeiten, wo ich abergläubisch bin, und ich
habe heute wieder meinen alten Glauben, daß die Dinge besser verlaufen, wenn
sie zu Anfang Mißgeschick haben. Das anfängliche Stocken schien mir immer
einen guten Gang für später zu verkünden. Doch genug, ich will mich be¬
zwingen. Hat sich doch nichts ereignet, was mich betrüben könnte, und nur ein
reines Phantasiegebilde ist es, was mich quält.
Sie versuchte ein heiteres Gesicht zu machen und hörte mit scheinbarer
Aufmerksamkeit dem Gespräch der Freundin zu, die sich alle Mühe gab, Ergötz¬
liches aufzutischen und durch die eigne gute Laune ihre Stimmung zu verbessern.
Aber es ließ sich ein gewisses Bangen nicht ganz ersticken, und weder dieser
Tag noch der folgende Morgen wollte die alte Fröhlichkeit ungetrübt auf¬
kommen lassen.
An diesem Tage, welcher zum Empfang der Gäste bestimmt worden war,
zog sich Dorothea bald nach dem Essen auf ihr Zimmer zurück und beschäftigte
sich mit einer Stickerei, während Millicent, auf dem Altan sitzend, auch ihrer¬
seits schweigend ihren Gedanken nachhing.
Millicent dachte darüber nach, welch wundervoll romantisches Verhältnis
sich in ihrer nächsten Umgebung angesponnen habe. Wenn wirklich eine ernst¬
hafte, heiße Liebe zwischen Dorothea und dem schönen Maler entbrannt war,
dann wollte sie, Millicent. alles thun, was in ihren Kräften stünde, um die
Sache zu fördern. Sie kannte den Charakter des Barons und die in Schloß
Eichhauscn herrschenden Grundsätze genau genug, um zu wissen, daß diese Liebe
zum mindesten ebensoviel Schwierigkeiten auf ihrem Wege finden müsse wie die
Liebe irgend eines der beneidenswerten Paare, welche in den ihr liebsten Liebes¬
geschichten leiden und kämpfen, bevor der herrlichste Sieg ihre unerschütterliche
Treue krönt. Ihre lebhafte Phantasie spiegelte ihr heimliche Zusammenkünfte,
verborgene Ausgänge, versteckte Briefe und Schlüssel, zitternde Flucht und herz¬
erschütternde Thränenströme vor, und sie beschloß, auf alle Fälle sich als eine
Freundin und Gehilfin zu erweisen, der selbst die ärgsten Folterinstrumente das
anvertraute Geheimnis nicht aus dem Busen reißen sollten.
Während sie so ihrer lebendigen Einbildungskrast freien Lauf ließ und
hinaus in die Landschaft blickte, die in der Ferne mit dem leichten Luftmeere
verschwamm, ward ihre Aufmerksamkeit auf den von Fischbeck zurückkehrenden
Wagen des Barons gelenkt, der aus dem Walde auftauchte und in schnellem
Trabe ans dem Wege zum Schlosse näherkam. Sie zeigte Dorothea die Er¬
scheinung und ergriff zugleich ein Opernglas, um besser sehen zu können, wie
der Besuch sich ausnähme. Auch Dorothea blickte mit einer gewissen Spannung
hinab. Das eigentümliche Gefühl, welches sie schon gestern bei Ankündigung
der Gräfin Altenschwerdt und ihres Sohnes überkommen hatte, machte sich von
neuem und noch stärker geltend, als die Gäste so nahe waren, und allen ver¬
ständigen Überlegungen zum Trotz durchzuckte sie plötzlich eine Ahnung, daß der
junge Mann, der dort heranrollte, in einer für sie nicht gleichgiltigen Absicht komme.
Ein reizender Mensch! sagte Millicent, durch ihr Glas blickend. Er hat
dunkle Augen und einen entzückenden kleinen Schnurrbart, aber er macht ein
melancholisches Gesicht und lehnt sich zurück, als ob er müde von der Spazier¬
fahrt wäre. Die Mutter sieht so aus, daß ich nicht bei ihr Kaffee trinken
möchte, wenn ich wüßte, sie haßte mich. Ich denke mir, Katharina von Medici
hat solch eine Nase gehabt
Dorothea schüttelte den Kopf und ging, ohne auf Milliceuts dienstbeflissene
Versuche einer Verschönerung ihrer Frisur einzugehen, hinunter in die Halle,
wo nach Anordnung ihres Vaters die Gäste empfangen werden sollten. Sie
fand ihn bereits dort, da man ihm die Einfahrt des Wagens gemeldet hatte.
Er ging auf und ab in dem weiten Raume, der die Schritte haltend wieder¬
tönen ließ, wo nicht etwa der Fuß auf die Teppiche und Felle der einzelnen
Ruheplätze getreten hatte, und es kam Dorothea so vor, als ließe sich eine Art
von Feierlichkeit in seinem Wesen bemerken. Er zog den linken Fuß noch etwas
nach und setzte ihn behutsam hin, doch war dies das einzige Zeichen des letzten
Gichtanfalls, denn seine Haltung war stramm und seine Gesichtsfarbe frisch. Er
blieb stehen, als er Dorothea kommen sah, und warf einen prüfenden Blick unter
den grauen, trotzigen Brauen hervor auf ihre Erscheinung, gleich als halte er
vor der Front seiner Schwadron und beobachte deren Paradestellung.
Ein Lächeln überflog seine verwitterten Züge, als er die Schönheit seiner
Tochter auch bei der strengsten Beurteilung anerkennen mußte, und er sagte mit
freundlichem Tone: Das ist recht, mein Kind, daß du immer hübsch pünktlich
bist. Wirst du wohl von mir geerbt haben. Es ist im allgemeinen eine Eigen¬
tümlichkeit des Weibervolkes, daß sie allemal in dem Augenblick, wo sie am Platze
sein sollen, zehntausend verdammte Nebendinge treiben, Kinkerlitzchen suchen und
ihre Männer und Väter warten lassen.
Dorothea war so wenig verwöhnt durch väterliche Liebe, daß selbst dieses
in seiner Form etwas rauhe Kompliment wie Sonnenschein auf ihr Gemüt ge¬
fallen wäre, hätten nicht die Umstände gerade jetzt die Aufmerksamkeit des
Barons ihrem argwöhnisch gewordenen Sinn etwas verdächtiges gehabt. Es war
ihr selbst unbegreiflich, wie sie dazu kommen könne, Argwohn zu hegen. Das
lag sonst nicht in ihrer Natur. Aber sie konnte sich nicht enthalten, den un¬
greifbaren Stimmen zu lauschen, die leise in ihrem Herzen ertönten.
Die Gräfin Altenschwerdt trat ein, der Baron eilte ihr entgegen. Indem
sie in der großen Thür erschien, deren beide Flügel der wohlgeschulte Diener
aufgerissen hatte, fiel das volle Licht aus dem gegenüberliegenden hohen Fenster
auf ihre Gestalt, und sie erschien ans dem dunkeln Hintergrunde wie ein Ge¬
mälde, das Bildnis einer stolzen und gebieterischen Fürstin. Dorothea blickte
ihr voll ins Gesicht, und es schien ihr, als gewonnen die unbestimmten Be¬
fürchtungen in ihrem Herzen greifbare Gestalt. Sie konnte den Blick nicht ab¬
wenden von dieser Frau. Sie sah die schön geschwungenen Augenbrauen, die
Adlernase und die funkelnden Augen wie die prächtigen Farben vor sich, als
würde dieses Bild ihr für immer ins Gedächtnis gebrannt, und sie wußte
von der ersten Sekunde an, daß dies eine Feindin sei. Es erfolgte ein eif¬
riges Händeschütteln und ein Austausch von Höflichkeiten zwischen der Gräfin
und dem Baron, wobei der frühern Jahrhunderte gedacht wurde, in denen die
Sextus und die Altenschwerdt befreundet gewesen, und dann stand Dorothea
vor der Gräfin und fühlte sich alsbald an der Hand gezogen und von zärtlichen
Armen umschlossen. Ein leichter Kuß hauchte auf ihre Stirn. Es war der
Gräfin Sibylle ein Bedürfnis, den lieblichen Sproß des in ihrer Familie so
oft genannten alten, stolzen Geschlechts beim ersten Anblick zu umarmen. Als¬
dann stellte sie ihren Sohn vor. Dorothea mußte sich gestehen: so unheimlich
ihr die Gräfin war — ihr Sohn machte den Eindruck eines Edelmannes.
Seine Verbeugung war ehrfurchtsvoll, verbindlich und verriet die Gewohnheit
der guten Gesellschaft, sein Blick war ausdrucksvoll und angenehm, seine Worte
waren ruhig und gewählt.
Baron Sextus bot jetzt der Gräfin den Arm, um sie zu der behaglichen
Ecke der Halle zu führen, wo der Kaffee aufgetragen war. Sie nahm den
Arm mit einem süßen Lächeln, das wie Sonnenschein auf das braunrote, runz¬
lige Soldatengesicht fallen sollte, und ging gemessenen Schrittes an seiner Seite
dahin. Die Schleppe ihres prachtvollen schwarzen Seidenkleides, das von oben
bis unten mit schwarzen Spitzen besetzt war, zog lang hinter ihr her, sodaß
Dietrich und Dorothea, die dem ältern Paare folgten, sich in der Entfernung
mehrerer Schritte halten mußten.
Dorothea konnte auch am Kaffeetisch nicht unterlassen, während sie sich
mit dem jungen Grafen unterhielt, ihre ruhig prüfenden Blicke nach der Gräfin
hinüberzusenden, die auf der andern Seite des Tisches saß und völlig von der
Unterhaltung mit dem Baron in Anspruch genommen zu sein schien. Sie ver¬
stand es sich zu kleiden, das mußte Dorothea zugestehen. Sie trug ein schwarzes
Spitzentuch auf dem Kopfe, das mit Diamantnadelu an dem schwarzen Haar
festgesteckt war, und die Art der Faltung dieses Tuches, welches ihr vorzüglich
stand, war so eigentümlich und so kunstvoll, wie Dorothea dergleichen noch nie¬
mals gesehen hatte. Welch ein Funkeln dieser schwarzen Augen, ein Funkeln,
das mit dem der Diamanten wetteiferte! War hier auch Kunst möglich, wie
bei dem Weiß und Rot des Gesichtes, über dessen Echtheit sich Dorotheens
Scharfblick nicht täuschen konnte? Der feine Duft eines Parfüms von Atkinson,
frischgemähten Heu ähnlich, zog von den Gewändern dieser Weltdame herüber
und ließ Dorothea denken, daß sie nie wieder mit ganz reiner Empfindung an
einer Wiese werde vorübergehen können, auf welcher Heuhaufen lägen.
Aber die angenehme Wirkung hatte der Besuch auf Dorothea, daß sie im
Gespräch mit Dietrich und in Beobachtung der Gräfin völlig das Gefühl der
Beklemmung verlor, welches sie vorher gepeinigt hatte. Sie fühlte sich erregt,
aber sicher, die Unklarheit ihres Empfindens hatte dem festen Bewußtsein des
eignen Willens Platz gemacht.
Nach dem Kaffee wurde ein Rundgang durch das Schloß unternommen,
denn es galten ja die Merkwürdigkeiten dieser alten Stammburg für den Haupt¬
grund des Besuches. Dorothea führte und ging mit Dietrich voran. Schon
im Treppenhaus?, dessen hohe Wände mit gigantischen Gemälden bedeckt waren,
gab es einen kleinen Aufenthalt, und dann ließ Dorothea die Thür zur Ge¬
mäldegalerie im obern Stockwerke aufschließen. Ein langer Gang von mehr
als zwanzig Fuß Breite, auf dessen rechter Seite die Bilder ausgehängt waren,
eröffnete sich, und es wehte den Eintretenden eine kühlere Luft und jener eigen¬
tümliche Hauch von Räumen entgegen, welche selten besucht werden. Eine Reihe
von Fenstern, nach Norden gerichtet, alle in tiefen Nischen liegend und mit
grünen Gardinen verhängt, gab der Galerie ihr Licht, und es ragten in der
matten Beleuchtung in weiter Perspektive hier ein Helm, dort ein gespenstisch
weißes Gesicht, dort ein drohender Arm aus schwarzem Hintergrunde hervor.
Der vorauseilende Diener zog die Vorhänge auf Dorotheens Anweisung unter
Berechnung der Lichteffekte teilweise zurück, und nun tauchten aus der geheim¬
nisvollen Dämmerung viele Kriegergestalten und altertümlich gekleidete Frauen¬
figuren zwischen Landschaften, Seestücken. Genrebildern und historischen Ge¬
mälden auf. Die Porträts, zum großen Teil aus der eignen Familie, waren
für den Baron der wertvollste Teil seiner Sammlung, und er war eifrig be¬
müht, der Gräfin Sibylle Aufschluß über Namen und Thaten dieser Herren
und Damen aus alter Zeit zu geben. Dorothea und Graf Dietrich wandten
sich indessen mehr den andern Gegenständen der Sammlung zu, .unter denen
mehrere ältere Meisterwerke sich befanden. Graf Dietrich zeigte ein feines Ver¬
ständnis für die Kunst, und sein Gespräch mit Dorothea ward lebhaft und
eingehend. (Fortsetzung folgt.)
Zur Beachtung.
Mit dem nächsten beste beginnt diese Zeitschrift das «Quartal ihres 42. Jahr>
qangs, welches durch alle Buchhandlungen und vostanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen ist.
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Leipzig» im März MS.Die Verlagshandlung.