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]]> Der Gesetzentwurf, die Strafgewalt des Reichstages über seine Mitglieder
betreffend, ist abgelehnt worden, und insofern könnte das Folgende verspätet
erscheinen. Indeß, man beschäftigt sich ja mit der Frage, ob den hervorgetre¬
tenen Uebelständen mit einer Abänderung der Geschäftsordnung gesteuert werden
müsse, und sollte das bejaht werden, so wird man zusehen, wie das zu machen
sei. Was dabei herauskommen wird, wissen wir nicht zu errathen. Vermuth¬
lich nicht viel, und dann könnten die mit Halbheiten nicht beseitigten Gefahren
bedingungsloser Redefreiheit und Öffentlichkeit Veranlassung werden, daß der
unlängst begrabene Gesetzentwurf wieder auflebte — vielleicht in anderer Ge¬
stalt und vielleicht vor einem anderen Reichstage, in welchem die wohlbegrün¬
dete Befürchtung vor Beirrung des öffentlichen Rechtsbewußtseins die weniger
gerechtfertigte Scheu vor Beeinträchtigung des Einflusses der Volksvertretung
auf die Nation überwiegen könnte.
Inzwischen hat die Presse die Pflicht, unbeirrt durch Deklamationen die
Ansichten über die Sache nach Möglichkeit zu klären, und dies geschieht wohl
am besten, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie es mit ihr in anderen parla¬
mentarischen Versammlungen gehalten worden ist und- noch gehalten wird, wo¬
mit ja keineswegs gesagt sein soll, daß wir nachahmen, sondern nnr, daß wir
dem etwaigen Guten, das wir dort finden, uns anpassen sollten. Insofern be¬
grüßen wir eine Schrift Dr. R. Schleiden's: „Die Disciplinar- und
Strafgewalt parlamentarischer Versammlungen über ihre Mit¬
glieder" (Berlin, I. Springer), die uns in diesen Tagen zuging, mit unge¬
lenker Freude, zumal da sie fast ganz objektiv gehalten ist. Langjähriger
Sammlung entsprungen, enthält sie alles Wissenswerthe und darunter sehr viel
Neues in Bezug auf unsern Gegenstand, und so glauben wir den Lesern d. Bl.
einen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen einen ausführlichen Auszug daraus
mittheilen, vor allem aber sie ihnen zum Selbststudium empfehlen.
In England galt die Redefreiheit von jeher für das wichtigste aller
parlamentarischen Rechte. Kein Abgeordneter darf wegen Aeußerungen, die er
im Parlamente gethan, außerhalb desselben zur Rechenschaft gezogen werden;
er ist sür dieselben nur dem Hause, dem er angehört, verantwortlich. Nur
wenn ein Redner selbst seine dort gesprochenen verletzenden Auslassungen ver¬
öffentlicht, ist er — wie bereits in Ur. 6 d. Bl., S. 210 hervorgehoben wurde,
in Folge der Fiktion, daß das Parlament geheim verhandle — einer Klage
vor den bürgerlichen Gerichten ausgesetzt. Dem Ober- und dem Unterhause'
steht dagegen im Fall von Ordnungswidrigkeiten eine weitgehende Disziplinar-
und Strafgewalt über seine Mitglieder zu, und während dieselbe in jenem nur
selten geübt wird, da der Vorsitzende hier „nicht Richter oder Wächter der
Ordnung ist", wird die Verletzung der zahlreichen Anstandsregeln des Parla¬
mentes im Unterhause, wenn ein Mitglied sich darüber beschwert, immer vom
Sprecher geahndet; entweder durch eine „Ermahnung" oder, in ernsteren Fällen,
dnrch Ordnungsruf mit Nennung des Schuldigen, und wenn dieser dann sich
nicht entschuldigt, dadurch, daß das Haus eiuen Verweis zu beschließen pflegt.
Kommt es zu Beleidigungen gegen Mitglieder des Hanfes oder ungebührlichen
Angriffen auf Charakter und Verfahren des Parlamentes, so muß der deshalb
zur Ordnung gerufene seine Worte zurücknehmen und sich entschuldigen. Weigert
er sich dessen oder gibt er eine unbefriedigende Erklärung ab, so wird gewöhn¬
lich Ertheilung eines Verweises oder Haft beantragt. Der Betreffende kann
sich dann von feinem Platze aus vertheidigen, muß aber hierauf vor der Ver¬
handlung des Falles abtreten, um später vor deu Schranken des Hauses vom
Sprecher das Urtheil desselben zu vernehmen, wozu er bis vor etwa hundert
Jahren niederknieen mußte.
Zahlreiche Fälle beweisen, daß beide Häuser des englischen Parlamentes
und ebenso die Courts of Law and Equity befugt sind, wegen Ungehorsams
gegen ihre Befehle, Verstöße gegen ihre Regeln und Privilegienbruch Abge¬
ordnete mit Hast zu bestrafen, von der dieselben sich dann nicht, wie sonst
üblich, durch Bürgschaft frei machen dürfen. Früher wurde der Verurtheilte
nach dem Gefängniß von Newgate oder in den Tower gebracht, jetzt aber gibt
man ihn gewöhnlich dem mit der Polizei des Hauses beauftragten Sergeant
at Arms. Mit der Vertagung des Parlamentes erhält er sofort seine Freiheit
wieder, oft aber schon, wenn die Entlassung von einem Mitgliede beantragt
wird, oder wenn der Verhaftete erklärt, er bereue sein Vergehen. Fast in jeder
Session werden Abgeordnete verhaftet, die bei einem Namensaufrufe fehlen
und dann ihre Abwesenheit nicht genügend zu entschuldigen im Stande sind.
Bis 1866 erkannte das Unterhaus und seitdem noch wiederholt das Oberhaus
wegen Ordnungswidrigkeiten auf Geldstrafen. Auffallend ist die Gelindigkeit,
daß im Unterhause Verhöhnung der Gesetze und Beleidigungen des Souveräns
und der königlichen Familie nur mit einem Verweis oder Haft gerügt werde»;
denn dasselbe kann höhere Strafe verhängen: es darf die Betreffenden aus
seiner Mitte ausstoßen, womit früher Entziehung der Wählbarkeit verbunden
war. Jetzt ist dieses exorbitante Recht des Parlamentes, das im Oberhause
niemals üblich war, soweit es sich um Aberkennung der Befugniß, sich wieder
wählen zu lassen handelt, beseitigt, und die Ausstoßung bleibt in der Regel
für solche Vergehen vorbehalten, welche Mitglieder unfähig machen, einen Sitz
im Parlamente einzunehmen und, falls sie straflos blieben, das Ansehen des
Parlamentes untergraben würden. Man stieß Mitglieder z. B. wegen Be¬
theiligung an offenem Aufruhr, wegen Fälschung, Meineid, Betrug, Veruntreu¬
ung öffentlicher Gelder, wegen Bestechlichkeit, wegen unehrenhaften Betragens,
wegen Schmähschriften und anderer Vergehungen gegen das Haus selbst aus.
In Bezug auf letztere verfuhr man in der jüngsten Zeit sehr mild. 1838
wurde Daniel O'Connell, als er einige seiner Kollegen in öffentlicher Rede des
Meineids geziehen, nur ein Verweis ertheilt. 1875 sagte Plimsoll in gerechter
Entrüstung über das gewissenlose Benehmen von Schiffsrhedern, die als seine
Kollegen im Unterhause saßen, er wolle diese „Schurken" entlarven, und als
der Sprecher ihn aufforderte, dies zurückzunehmen, weigerte er sich, worauf
aber nicht Ausstoßung, sondern nur ein Verweis beantragt wurde. Die wieder¬
holt nahe an Hochverrath streifenden Reden, welche mehrere von den soge¬
nannten Hom'ernlers noch im vorigen Jahre im Unterhause hielten, führten
nicht zu deren Entfernung ans dem Parlamente.
Wie die seit 1845 üblich gewordene Öffentlichkeit der Sitzungen des Par¬
lamentes niemals gesetzlich anerkannt worden ist, und wie es jedem Mitgliede
jeder Zeit freisteht, durch die Bemerkung, er erblicke Fremde auf der Galerie,
die Wegweisung der Zuhörer zu veranlassen, so ist auch die Veröffentlichung
der Verhandlungen durch die Presse, die einst als Privilegienbruch scharf ver¬
folgt wurde, seit 1771 zwar gestattet, aber nur durch stillschweigende Zustim¬
mung des Parlamentes. Dasselbe ist völlig befugt, der Presse mit den alten
Gesetzen Stillschweigen aufzuerlegen, wenn bei den Verhandlungen ungebühr¬
liche Aeußerungen fallen, indeß würde dies, wie Schleiden meint, nur durch
einen förmlichen Beschluß des Hauses anzuordnen sein, und dieser würde im
Zeitalter der Schnellpressen und Telegraphen jedesmal zu spät kommen.
Strenge Gesetze also und milde Handhabung ist hier, wie in allen diesen
Dingen, die Regel des englischen Parlamentes, das vorläufig freilich keine
sozialistischen Revolutionäre in seiner Mitte sieht.
Im Kongreß der Vereinigten Staaten gibt es nur wenige positive
Regeln für dessen Strafgewalt über seine Mitglieder. Die Verfassung besagt:
„Jedes Hans kann seine Geschäftsordnung selbst feststellen, seine Mitglieder
wegen ordnungswidrigen Benehmens bestrafen, auch mit Zustimmung von zwei
Drittheilen ein Mitglied ausstoßen." seie aber ist in autoritativer Weise ent¬
schieden worden, was unter „ordnungswidrigem Benehmen" zu verstehen ist,
und was für andere Strafen außer der Ausstoßung zulässig sind. Ganz allge¬
mein wird in den Geschäftsordnungen der beiden parlamentarischen Körper¬
schaften, Senat- und Repräsentantenhaus, gesagt, daß der Vorsitzende ein Mit¬
glied, welches durch Worte oder sonstwie die Regeln des Hauses übertritt, zur
Ordnung rufen soll, und daß jedes andere Mitglied dies darf. Verweise und
Verurteilungen zur Abbitte scheinen nicht vorzukommen. Mit Haft bestraft
nur das Repräsentantenhaus die, welche bei einem Namensaufrufe fehlen und
sich später uicht deswegen entschuldigen können. Wiederholt kam es vor, daß
Repräsentanten in gröbster Weise wörtlich und thätlich einander beleidigten,
ohne daß etwas Anderes als ein gewöhnlicher Ordnungsruf erfolgte, freilich
hat der Kongreß in der öffentlichen Meinung nicht viel an Achtung zu ver¬
lieren. Das Recht zur Ausstoßung eines Mitgliedes ist unbeschränkt, und
während des Bürgerkrieges kamen Fälle, wo von diesem Rechte gegen rebellische
und illoyale Senatoren Gebrauch gemacht wurde, ziemlich oft vor. Alle
Sitzungen des Kongresses sind öffentlich, nur die nicht, wo der Senat soge¬
nannte exekutive Geschäfte verhandelt, aber die Ausschließung der Öffentlich¬
keit kann jederzeit beschlossen, ja vom Sprecher allein angeordnet werden. Die
öffentlichen Verhandlungen beider Häuser werden in offiziellen stenographischen
Berichten vollständig publizirt.
In Frankreich gilt nach Schleiden jetzt wahrscheinlich wieder die Ge¬
schäftsordnung vom 6. April 1849 und nicht die durch kaiserliches Dekret vom
2. Februar 1867 eingeführte, die bis auf eine einzige Bestimmung viel milder
war. In jener sind die zulässigen Disziplinarstrafen folgende: Ruf zur Ord¬
nung, derselbe mit Eintragung in's Protokoll, Verweis, derselbe mit zeitweiliger
Ausschließung vom Orte der Sitzungen. Der einfache Ruf zur Ordnung er¬
folgt bei jeder Verletzung der Geschäftsordnung, der verschärfte, wenn der be¬
treffende Abgeordnete innerhalb von dreißig Tagen zwei Mal zur Ordnung
gerufen worden ist. Der Verweis wird gegen jedes Mitglied ausgesprochen,
welches nach einem verschärften Ordnungsrufe nicht zu seiner Pflicht zurückge¬
kehrt ist, ferner gegen solche, die innerhalb von dreißig Tagen wiederholt haben
zur Ordnung gerufen werden müssen, gegen solche, die in der Versammlung
das Signal zu einer tumultuarischen Szene oder zu mehrfacher Enthaltung
von der Theilnahme an den gesetzgeberischen Arbeiten gegeben haben, endlich
gegen jeden Abgeordneten, der gegen einen oder mehrere seiner Kollegen Be¬
leidigungen, Herausforderungen oder Drohungen ausgestoßen hat. Verweis
mit zeitweiligen Ausschluß ist auf Widerstand gegen den einfachen Verweis
gesetzt, ferner auf Aufreizung zur Gewaltthätigkeit und zum Bürgerkriege, end-
lich auf schwere Beleidigung (ontr^sah gegen die Versammlung, einen Theil
derselben oder den Vorsitzenden. Der Ausgeschlossene hat die Kammer sofort
zu verlassen und darf in den drei folgenden Sitzungen nicht wieder erscheinen,
widrigenfalls er verhaftet und drei Tage in Haft gehalten werden soll. Beide
Arten des Verweises werden auf Vorschlag des Hauses notirt und im Proto¬
koll vermerkt. Mit beiden ist Verlust der Hälfte der Tagegelder des Abgeord¬
neten während eines Monats und Anschlag des Verweises in allen Gemeinden,
wo derselbe gewählt worden, auf seine Kosten verbunden. Der Repräsentant,
gegen den eine solche Strafe beantragt ist, hat das Recht, gehört zu werden
oder einen Kollegen für sich sprechen zu lassen. Die Verhandlungen der National¬
versammlung sind öffentlich, wenn nicht fünf Mitglieder eine geheime Sitzung
verlangen.
Indem wir bitten, das, was unsere Schrift über Belgien und das Ver¬
fahren der deutschen Parlamente von 1848 bis 1850 mittheilt, in ihr selbst
nachzulesen*), entnehmen wir ihr nur noch einige Notizen über die hierher ge¬
hörigen Einrichtungen der Landtage in den deutschen Einzelstaaten, wobei wir
den preußischen und die einiger kleineren Länder außer Betracht lassen.
In Bayern herrschten in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sehr
strenge Bestimmungen. Das Edikt über die Geschäftsordnung für die Kammer
der Abgeordneten vom Jahre 1825 sagt u. a.: „Sollten Sie (die Abgeordneten)
sich persönliche Ausfälle gegen den Regenten, die königliche Familie oder die
einzelnen Mitglieder der Kammer erlauben, oder Anträge gegen die allgemeine
Staatsverfassung zu stellen unternehmen und ungeachtet der von dem Präsi¬
denten gemachten Erinnerung hiermit fortfahren, so ist derselbe berechtigt und
verpflichtet, die Sitzung für diesen Tag auf der Stelle zu schließen und in der
folgenden Sitzung über die Bestrafung des fehlenden Mitgliedes der Kammer
vorzutragen, welche entscheiden wird, ob dasselbe zum bloßen Widerruf oder
zum zeitlichen oder gänzlichen Ausschluß aus der Kammer zu verurtheilen sei.
Hiernach soll der Präsident insbesondere auch beleidigende Ausfälle gegen die
eigene Regierung und Regierungsbehörden, gegen fremde Regierungen, gegen
den Deutschen Bund, gegen die Stättdeversammluug oder gegen eine einzelne
Kammer derselben niemals dulden, sondern mit Verweisung zur Ordnung und
nach Beschaffenheit der Sache mit Untersagung der ferneren Wortführung un-
verweilt und ernstlich einschreiten." Dieser Paragraph der Geschäftsordnung
ist erst 1851 beseitigt worden, Ausschließungen von Mitgliedern auf bestimmte
Zeit aber waren bis 1872 gestattet.
Die sächsische Verfassungsurkunde von 1831 enthält genau dieselbe Be¬
stimmung wie die soeben mit Anführungszeichen mitgetheilte, dann aber noch
Folgendes: „Wenn die gerügte Aeußerung ein besonderes Verbrechen oder eine
persönliche Beleidigung in sich begreift, so kann das fragliche Mitglied der
Kammer, es mag nun dessen Ausschließung erfolgt sein oder nicht, deshalb noch
vor seinem ordentlichen Richter belangt werden. Verlangt es der Ausge¬
schlossene, so ist die Entscheidung, ob derselbe bei einer künftigen Ständever¬
sammlung wieder wählbar sein solle, an den Staatsgerichtshof zu verweisen,
sonst ist derselbe nicht wieder wählbar." Diese Bestimmungen sind erst 1874
außer Kraft gesetzt worden.
In Württemberg besteht ein Staatsgerichtshof, der über Unternehmungen,
welche ans den Umsturz der Verfassung gerichtet sind, und über Verletzung
einzelner Punkte derselben erkennt, und vor dem die Regierung einzelne Mit¬
glieder der Stände anklagen kann. Nach Z 203 des Verfassungsgesetzes er¬
streckt sich „die Strafbefugniß dieses Gerichtshofes nur auf Verweise und
Geldstrafen, auf Suspension oder Entfernung vom Amte und auf zeitliche oder
immerwährende Ausschließung von der Landstandsschaft". Ist aber von ihm
auf die höchste in seiner Kompetenz liegende Strafe erkannt, ohne daß eine
weitere ausdrücklich ausgeschlossen ist, so bleibt den ordentlichen Gerichten
vorbehalten, „gegen den Verurtheilten ein weiteres Verfahren von Amtswegen
eintreten zu lassen".
Am nächsten steht endlich dem zu Anfange erwähnten Gesetzentwurf für
den Reichstag die braunschweigische Geschäftsordnung von 1871 mit fol¬
genden Bestimmungen: „Abgeordnete, welche gegen die Vorschrift der Geschäfts¬
ordnung verstoßen oder in ihren Aeußerungen die Würde des Deutschen Reiches,
der Mitglieder des Bundesrathes, des Reichstages oder befreundeter Regenten
oder Regierungen angreifen, werden vom Präsidenten zur Ordnung gerufen.
Wird die vom Präsidenten gerügte Ordnungswidrigkeit fortgesetzt, oder geht
dieselbe in Widersetzlichkeit gegen die Anordnungen des Präsidenten über, so
kann die Versammlung auf Antrag des Letzteren den Schuldigen sofort ent¬
fernen und nach vorgängiger kommissarischer Begutachtung durch einen in der
nächsten Sitzung zu fassenden Beschluß durch Verweis oder Ausschließung von
den Verhandlungen strafen. Ein gleiches Verfahren tritt auf den gehörig
unterstützten Antrag eines einzelnen Abgeordneten ein, wenn ein Mitglied so
arge Verstöße gegen die Geschäftsordnung begeht oder die Redefreiheit in solcher
Weise mißbraucht, daß die Verweisung zur Ordnung durch den Präsidenten
oder dessen Rüge nicht für ausreichend gehalten wird. Sollte aber der Fall
eintreten, daß ein Abgeordneter 1.) die dem Landesfürsten oder dessen fürst¬
lichem Hause schuldige Ehrerbietung verletzte, 2.) Anträge auf Umsturz der
Verfassung machte oder 3.) die Grenzen der freien Meinungsäußerung auf eine
die Ruhe des Landes oder des gesammten Deutschland gefährdende Weise
überschritte, so ist der Präsident verpflichtet, die Versammlung zu schließen oder
auf eine bestimmte Zeit zu entlassen und in der nächsten Sitzung über den
Vorgang Vortrag zu machen. Die Versammlung hat sodann über die Aus¬
schließung des schuldigen Mitgliedes auf bestimmte Zeit oder auf immer Be¬
schluß zu fassen."
Wie man sieht, war also der Gesetzentwurf, den sie vor vier Wochen mit
so viel Entrüstung von sich wiesen, durchaus nichts Unerhörtes.
Seit langer Zeit ist bei Uns keinem Buche mit so gespannter, ungeduldiger
Erwartung entgegengesehen worden, wie der als eine Abtheilung der „Staaten-
geschichte der neuesten Zeit" angekündigten „Neuesten Geschichte Deutschland's"
von Treitschke ^- um des Gegenstandes nicht minder als um des Verfassers
willen. Ist es doch das erste Mal, daß der vielgefeierte und viel angefeindete
Politische Schriftsteller und Publizist als Geschichtsschreiber vor das deutsche
Volk tritt, nicht wie andere mit einer Erstlingsarbeit, der man gern die
Schwächen jugendlicher Unerfahrenheit zu gute hält, sondern mit der voll aus¬
gereiften Frucht vieljähriger Geistesthätigkeit. Und was von Zeit zu Zeit die
„Preußischen Jahrbücher" als Studien zu dem Hauptwerke oder als Proben
daraus mittheilten, z. B. die Aufsätze über den Wiener Kongreß und über die
Gründung des Zollvereins, war nur geeignet, die Erwartung auf das Ganze
Zu steigern.
In gewissem Sinne wird diese durch den vorliegenden ersten Band des¬
selben*) getäuscht; statt nämlich dem ursprünglichen Plane gemäß mit dem
Jahre 1815, mit dem Wiener Kongreß zu beginnen, schließt derselbe mit diesem
Zeitpunkte. Denn der Verfasser erkannte, wie er in dem an Max Duncker ge¬
richteten Vorworte ausspricht, bald, „daß ein nicht ausschließlich für Gelehrte
bestimmtes Buch weiter ausholen muß. Die Schicksale des Deutschen Bundes
bilden nur den Abschluß des zweihundertjährigen Kampfes zwischen dem Hause
Oesterreich und dem nen aufsteigenden deutschen Staate; sie bleiben dem Leser
unverständlich, wenn er nicht über die Anfänge der preußischen Monarchie und
den Untergang des heiligen Reiches unterrichtet ist. Eine allen Gebildeten ge¬
meinsame nationale Geschichtsüberlieferung hat sich in unserm kaum erst wieder¬
vereinigten Volke noch nicht entwickeln können. Jenes einmüthige Gefühl froher
Dankbarkeit, das ältere Nationen ihren politischen Helden entgegenbringen,
hegen wir Deutschen nur für die großen Namen unserer Kunst und Wissen¬
schaft; selbst über die Frage, welche Thatsachen in dem weiten Wirrsal unserer
neuen Geschichte die wahrhaft entscheidenden waren, gehen die Meinungen noch
weit auseinander."
Es liegt leider viel Wahres in diesem letzten Worte, und doch bezeichnet
gerade die einleitende Skizze auch die Grenze seiner Berechtigung. Indem sie
nicht darauf ausgeht, neue Thatsachen mitzutheilen, vielmehr sich nicht scheut,
zuweilen Allbekanntes zu wiederholen, sobald es zur Herstellung des Gesammt-
bildes nicht entbehrt werden kann, indem sie aus dem Gewirr der Ereignisse
die wesentlichen Gesichtspunkte heraushebt, die Männer und die Institutionen,
die Ideen und den Schicksalswechsel, welche unser neues Volksthum geschaffen
haben, hervortretend läßt, um „durch diese Uebersicht einen Begriff zu geben
von den großen Gegensätzen, welche den Staatsbäu unseres Mittelalters zer¬
störten und den Boden für die weltlichen Staatsgebilde des neuen Jahrhun¬
derts ebneten", stellt sie sich gewissermaßen als der Niederschlag der gesammten
bisherigen wissenschaftlichen Arbeit auf diesem Gebiete dar, der sich nunmehr,
zu einem festen Kern krystallisirt, zum unverlierbaren Eigenthum desjenigen
Theiles unseres Volkes gebildet hat, welcher überhaupt einer geschichtlichen Auf¬
fassung fähig ist. Denkt heutzutage noch irgend ein urtheilsfähiger Deutscher
daran, die windigen Ideen von Ouro Klopp und Konsorten aufrecht zu halten?
Gegründet auf die strengste wissenschaftliche Forschung, hat die nationale Ge¬
schichtschreibung siegreich das Feld behauptet.
Es ist nicht immer der feierliche Griffel der Klio, welchen der Historiker
Treitschke führt, sondern oft auch die ihm gewohnte leichtere Feder des
Essayisten; ja man ist versucht, ganze Partieen seines Buches eher für eine
Aneinanderreihung von Essays als für eine Geschichtschreibung strengeren
Stiles zu halten. Aber sollen wir ihm einen Vorwurf daraus machen, daß
er auch in dem weitergespannten Rahmen der vorliegenden Aufgabe seinem
eigentlichen Wesen treu geblieben ist? Treitschke gehört zu den Naturen, die
sich nicht verleugnen können. „Es gibt," sagt er selbst, „viele Arten, Geschichte
zu schreiben, und jede ist berechtigt, wenn sie nur ihren Stil rein und streng
einhält", und was etwa seine Darstellung an schulgerechter Methode vermissen
läßt, das ersetzt sie reichlich durch Lebendigkeit und Anschaulichkeit. Wir stehen
durchaus nicht an, schon jetzt Treitschke als Geschichtschreiber den gefeiertsten
Namen dieses Gebietes ebenbürtig zur Seite zu stellen.
Von Treitschke's Stil zu reden ist kaum möglich, ohne zugleich die ihm
eigenthümliche BeHandlungsweise des Stoffes mit in Betracht zu ziehen. Der
sprachliche Ausdruck ist bei ihm nicht ein Gewand, das sich kunstreich gefaltet
um den körperlichen Stoff legt, das sich diesem nach Belieben bald umgeben, bald
abnehmen läßt, nein, er ist die dem Körper angewachsene Haut, die demselben
Rundung und Anmuth verleiht, sich aber nicht ablösen läßt, ohne ihn selbst
zu zerstören; so untrennbar gehören hier Inhalt und Form zusammen. Die
zündende Kraft des Vortrages, die Treitschke zu einem der wirkungsvollsten
Redner auf dem Katheder gemacht hat und die auch seinem schriftlichen Aus¬
drucke innewohnt, die große Kunst, die er besitzt, nie langweilig zu werden, sie
stammt nicht aus einer besonders sorgfältigen Behandlung der Form; die
rhetorischen Mittel, deren er sich bedient, sind ungemein einfach, ja, man möchte
sagen, er verschmäht sie gänzlich; sein Stil ist so schlicht wie nur denkbar und
dabei dennoch höchst effektvoll und pathetisch. Aber dieses Pathos ist nicht ein
rhetorisches, sondern ein sittliches; was seinen Worten ihre Energie verleiht,
sie so tiefeindringend macht, ist nicht die sprachliche Kunst, sondern der Charakter.
Treitschke theilt nie blos dem Leser ein gewisses Quantum von Kenntnissen
mit, sondern er setzt jedesmal seine ganze Persönlichkeit ein für das, was er
vertheidigt, oder gegen das, was er bekämpft; die wissenschaftliche Ueberzeugung
fließt ihm zusammen mit der menschlichen Empfindung. Daher das ganz indi¬
viduelle Gepräge seiner Darstellung, sodaß es unmöglich ist, ihn in einer
historischen Schule unterzubringen, daß er aber auch selbst gewiß nie eine
historische Schule wird bilden können.
Treitschke versteht das taciteische hos ira. se 8tuäio nie in dem Sinne,
daß er sich mit kühler Objektivität den Thatsachen und den Personen gegen¬
überstellt und von dem Standpunkte wissenschaftlicher Ueberlegenheit aus auf
das menschliche Gewühl zu seinen Füßen herabsieht. Wie der große Historiker
selbst, der jenes oft mißbrauchte Wort gesprochen, so liebt er und so haßt er,
nur nicht mit der blinden Leidenschaft der Partei, sondern aus ethischer Ueber¬
zeugung. Er hängt sein Herz an jede sittliche Größe, aber keine auch noch so
gewaltige Gestalt, keine noch so einflußreiche Macht vermag ihm zu imponiren,
sobald er ihre sittliche Berechtigung vermißt.
Diesem Grundzuge seiner Anschauung entspricht die Wahrhaftigkeit seines
ganzen Wesens, mit der er niemals, namentlich nicht in den politischen Kämpfen
der letzten fünfzehn Jahre, das Publikum über seine Gesinnung im Unklaren
gelassen hat, jene „erbarmungslos gransame deutsche Wahrhaftigkeit", die mehr
als alles Andere ihm auch aus Friedrich's des Großen Wesen so sympathisch
entgegenklingt, und auf der wiederum die stolze Unabhängigkeit von herge¬
brachten und scheinbar anerkannten Meinungen beruht, wie sie auch das vor¬
liegende Buch charakterisirt. Wie manche fromme Denkungsart hat schon der
entsetzlich geringe Respekt, den Treitschke vor gewissen Dingen hat, mit einer
Gänsehaut überlaufen! Auch in seinem neuesten Werke findet sich dazu reich¬
liche Gelegenheit. Schonungslos, schneidig, derb, nennt er die Sache beim
rechten Namen, mag dieser auch häßlich klingen, sobald die Sache häßlich ist;
was Niedertracht ist, das heißt bei ihm auch Niedertracht, gleichviel, von wem
sie geübt wird; selbst da, wo er liebt, duldet er weder, noch versucht er Be¬
schönigung. Dafür aber besitzt er auf der anderen Seite die volle Empfäng¬
lichkeit für Alles, was kraftvoll, wahrhaft gut und schon ist, und mit freudiger
Bewunderung folgt er den Schritten der großen Männer, die unseres Volkes
Führer gewesen sind. So durchläuft er die ganze Tonleiter der Empfindungen.
Wenn er hier über Wrede, „den rohesten Prahler unter den Landsknechten des
Rheinbundes", oder über „die Verräther am Vaterlande, denen die im Dienste
des Landesfeiudes erworbene schimpfliche Bente erhalten ward", die Schale
seines Zornes ausgießt, so zeigt er doch mit lächelnder Ironie, wie im Schlosse
zu Anholt die zarten Hände der Prinzessinnen an der Fahne sticken, welche
der Kriegsmacht der Sayn-sayn'schen Nation zu Kampf und Sieg voranleuchten
sollte, oder wie wunderbar die Großmuth und die religiösen Grundsätze des
Czaren Alexander mit dem Vortheile des Hauses Gottorp übereinzustimmen
pflegten; während er hier die Kaiserin Marie Louise mit epigrammatischer
Schärfe abfertigt: „Sie kehrte nicht in die Tuilerieen zurück: - die Treue der
Oesterreicherin gehörte nur dem Glückskinde, nicht dem Gatten", so klingt dort
ein tiefer Brustton ans der Schilderung von Napoleon's Lebensende hervor:
„Dort auf der einsamen Felseninsel hat der Gefangene mit eigenen Händen
eine Strafe über sich verhängt, wie sie der bitterste Feind nicht grausamer er¬
sinnen konnte. Das titanische Leben nahm ein gaunerhaftes Ende. Mit wüstem
Gezänk und der gewerbmäßigen Verbreitung ungeheuerlicher Lügen füllte er
seine letzten Jahre aus; er selber riß den Schleier hinweg von der bodenlosen
Gemeinheit des Riesengeistes, der sich einst erdreistet hatte, der Welt den Fuß
auf den Nacken zu setzen." Und dann wieder die mächtige Erregung des
Herzens, welche die Darstellung des ganzen Befreiungskrieges mit feinen ge¬
waltigen Peripetieen durchzittert, die stolze Bewunderung, die zu den Helden
desselben emporschaut, die prächtige Charakteristik des alten Blücher, der weihe¬
volle Nachruf an Scharnhorst: „Tragischer hat keiner geendet von den schöp¬
ferischen Geistern unserer Geschichte!" Auch das gehört zu den Eigenthümlich-
leiten, man möchte sagen zu den Liebhabereien Treitschke's, daß er gern einzelne
konkrete Züge in die Darstellung der großen Weltbegebenheiten einsticht, um
durch sie ein Allgemeines zu charakterisiren, namentlich, wenn dabei eine ge¬
müthliche Saite anklingt. Daß die armen Leinweber der schlesischen Landwehr
bei Wartenburg sich vor der Schlacht noch gemächlich Pflcinmen von denselben
Bäumen geschüttelt hatten, unter denen sie dann todt auf dem nassen Boden
lagen, oder daß die Offiziere der Fünfundzwanziger das bei Belle-Alliance er¬
beutete Silbergeschirr Napoleon's der Lieblingstochter ihres Königs als Tafel-
schmuck schenkten, sind an sich für die Weltgeschichte höchst gleichgiltige Dinge,
aber doch sind sie trefflich geeignet zur Belebung und Kolorirung des Bildes.
So nebensächlich das zuletzt angedeutete Verfahren sein mag, so hängt es
doch enger mit den Grundanschauungen Treitschke's zusammen, als es auf den
ersten Blick wohl scheint. „Dem Historiker," sagt er selbst (S. 28), „ist nicht
gestattet, nach der Weise des Naturforschers das Spätere einfach aus dem
Früheren abzuleiten. Männer machen die Geschichte. Die Gunst der Weltlage
wird im Völkerleben wirksam erst durch den bewußten Menschenwillen, der sie
zu benutzen weiß." Damit hat er klar und deutlich den Gegensatz einerseits
zu Ranke, dem die Personen nur die Träger allgemeiner Ideen, andererseits
zu der materialistischen Geschichtsschreibung, der sie nur die blinden Werkzeuge
der Naturnothwendigkeit sind, bezeichnet. Die Geschichte ist ihm das Produkt
der menschlichen Freiheit. Darum gestaltet sich ihm der geschichtliche Prozeß
zum Drama mit Schuld und Sühne, mit freier Wahl der Mittel von Seiten
der Handelnden und einem göttlichen Walten über allem Menschengeschick. Das
ist der Punkt, wo sich der Historiker mit dem Dichter berührt, und Treitschke
besitzt noch einen Ueberschuß über den einen Tropfen poetischen Blutes, den
jeder wahre Historiker in den Adern haben muß. Eben daher stammt neben
dem Kultus der Person, dem er offen huldigt, die stete Bereitschaft zur Aner¬
kennung aller lebensfähigen Kräfte im Gegensatz zu dem Absterbenden und
Vergehenden, der richtige Blick, um das Große und Entscheidende zu sondern
von dem Nebensächlichen und Anfälligen. Wenn er bei Erwähnung Cölln's,
Messenbach's und Buchholz', als der Väter der gerade auf dem Boden
Berlin's gedeihenden Tadelsucht, „die eigenthümliche Unfähigkeit, die Dimen¬
sionen der Menschen und der Dinge recht zu sehen, das Große und Echte
von dem Kleinen und Vergänglichen zu unterscheiden", als einen echt deutschen
Charakterzug, als eine nationale Schwäche rügt, so spricht sich darin zugleich
das gegensätzliche Bewußtsein von einer der hervorstechendsten Eigenthümlich¬
keiten seiner eigenen Art und Weise aus.
Aus diesem und keinem anderen Grunde hat Treitschke von jeher zu den
Hauptverfechtern der preußischen Hegemonie über Deutschland gehört. Preußen
ist ihm die Allgel, in der sich die neuere Geschichte Deutschland's dreht; auch
da, wo er tadelt, bitter und scharf tadelt, ist sein Herz bei Preußen, dem Hort
und Schirm, dem Bürgen für die Zukunft unseres Volkes. Und dem entspre¬
chend liegt denn auch diesem ganzen ersten Buche die Tendenz zu Grunde, als
die beiden Kräfte, welche aus dem tiefen Verfall der mittelalterlichen Institu¬
tionen, aus der Verfassungslosigkeit seit dem westphälischen Frieden unser Volk
wieder zur Lebensfähigkeit emporgezogen haben und welche darum auch für
Gegenwart und Zukunft die ersten Bedingungen seines Lebens sind, nachzu-
weisen: die Glaubensfreiheit und den preußischen Staat. Dies ist die Lehre,
die er dem gegenwärtigen Geschlechte predigt. Was er bei Gelegenheit des
Wiener Kongresses bemerkt: „Unter den politischen Sünden, welche dieser un¬
glücklichen Nation (der preußischen) die Bahn zur Macht und Freiheit ver¬
sperrten, ward keine so verderblich wie die allgemeine, in einem gebildeten
Volke fast wunderbare Unkenntniß des eigentlichen Inhaltes der neueren vater¬
ländischen Geschichte. Von allen den gewaltigen Umgestaltungen, welche die
Entstehung des preußischen Volksheeres und damit die Befreiung Deutschland's
erst ermöglicht hatten, wußte man in den Kleinstaaten schlechterdings nichts" —
haben diese Worte nicht auch noch für die Gegenwart zum guten Theil ihre
Geltung? Neben der schweren politischen Arbeit aber, die der preußische Staat
an dem deutschen Volke verrichtet hat, geht die große aus dem ureigenen
Schooße desselben entsprossene, mit dem Wiedererwachen unserer Literatur be¬
ginnende Geistesarbeit einher, bis endlich „das alte harte, kriegerische Preu-
ßenthum und die Gedankenfülle der modernen deutschen Bildung sich zusam¬
menfinden, um nicht wieder von einander zu lassen". Durch das Zusammen¬
treffen der denkbar ungünstigsten Umstände haben die wohlerworbenen An¬
sprüche Preußen's bei der Neuordnung von 1814 und 1815 keine Beachtung,
geschweige Anerkennung gefunden; aber die nie versagende geschichtliche Gerech¬
tigkeit behält sich ihr Endurtheil für eine künftige Stunde vor. „Mochten die
Kleinstaaten noch eine Weile ihre französischen und englischen Institutionen
behalten, da sie doch vor der Hand weder die Kraft noch den Willen besaßen,
die Geschenke der Fremden aufzugeben. Unterdessen wuchs und reifte in
Preußen Scharnhorst's Werk, die deutsche Kriegsverfassung, und einmal doch
mußte die Zeit kommen, da das ausländische Wesen in den kleinen Staaten
sich überlebte. Dann konnte das preußische Volksheer sich zum deutschen Heere
erweitern. Bei Großgörschen stand seine Wiege, wer mochte wagen, ihm die
stolzen Siegesbahnen seiner Zukunft vorherzubestimmen? Boyen trug in seiner
verschlossenen Seele die sichere Ahnung, daß dies nationale Heer dereinst noch
reichere Kränze um seine Fahnen winden würde als weiland die Soldaten
Friedrich's."
Mit dieser Perspektive schließt das erste Buch. Von dem zweiten bis
1819 reichenden begreift dieser Band nur die erste Hälfte, bis zum zweiten
Pariser Frieden. Auch hier, in den Verhandlungen des Wiener Kongresses,
wo der Verfasser den Boden eigener Forschung zu betreten beginnt, steht
Preußen naturgemäß im Vordergrunde. Recht eigentlich gilt für diesen Theil sein
Wort: „In der Geschichte Preußen's ist nichts zu bemänteln noch zu ver¬
schweigen. Was dieser Staat geirrt und gesündigt hat, weiß alle Welt schon
längst, Dank der Mißgunst aller unserer Nachbarn, Dank der Tadelsucht
unseres eigenen Volkes; ehrliche Forschung führt in den meisten Fällen zu der
Erkenntniß, daß seine Staatskunst selbst in ihren schwachen Zeiten besser war
als ihr Ruf." Aber wir müssen uns für jetzt versagen, auf den Inhalt dieses
Abschnittes näher einzugehen; es wird Zeit sein, darauf zurückzukommen, wenn
der ganze vorliegt.
Nur das eine noch wollen wir dem Verfasser mit herzlichem Handschlag
bezeugen: sein Buch ist nicht blos eine wissenschaftliche Leistung, es ist eine
patriotische That. Als solche will er selbst es angesehen wissen. „Indem ich,"
so schließt er sein Vorwort, und mit dieser Anführung, die gewissermaßen das
Programm des Ganzen enthält, nehmen auch wir für jetzt von ihm Abschied,
„indem ich noch einmal zurückblicke auf die anderthalb Jahrhunderte, welche
dieser Band zu schildern versucht, empfinde ich wieder, wie so oft beim Schreiben,
den Reichthum und die schlichte Größe unserer vaterländischen Geschichte. Kein
Volk hat besseren Grund als wir, das Andenken seiner hart kämpfenden Väter
in Ehren zu halten, und kein Volk, leider, erinnert sich so selten, durch wie viel
Blut und Thränen, durch wie viel Schweiß des Hirns und der Hände ihm
der Segen seiner Einheit geschaffen wurde ... Der Erzähler deutscher Geschichte
löst seine Aufgabe nur halb, wenn er blos den Zusammenhang der Ereignisse
aufweist und mit Freimuth sein Urtheil sagt; er soll auch selber fühlen und
in den Herzen seiner Leser zu erwecken wissen, was viele unserer Landsleute
über dem Zank und Verdruß des Augenblicks heute schon wieder verloren
haben: die Freude am Vaterlande."
Die Bedeutung Friedrich Wilhelm's des Ersten ist lange Zeit verkannt
worden. Seine Thätigkeit war in der Hauptsache eine vorbereitende, die erst
später Früchte trug, und bereu Wichtigkeit für die Entwickelung Preußen's
dann vor dem blendenden Glänze der Thaten seines großen Sohnes übersehen
wurde, so daß sich nur die Erinnerung an das sparsame, barsche, jähzornige
Wesen des Svldatenkönigs erhielt. Erst als die Archive zugänglicher wurden,
begann durch Ranke's, Droysen's und Schmoller's Arbeiten allmählich eine
andere Auffassung der RegierungstlMgkeit dieses Fürsten Platz zu greifen,
und jetzt sind nur noch die einzelnen Partieen seines Bildes weiter auszuführen,
wenn er als das erkannt werden soll, was er wirklich war: Der König,
dem Preußen für die Förderung seiner inneren Angelegenheiten
das Meiste verdankt. Diese Arbeit beginnt Stadelmann"), indem er uns
nach Akten des Staatsarchivs und unter Beifügung der wesentlichsten Doku¬
mente erzählt, was Friedrich Wilhelm für die Hebung der Landwirthschaft und
Kolonisation seiner Staaten gethan hat. Auf etwa 200 Seiten wird von den
Maßregeln berichtet, die unter der Regierung in Bezug auf die innere Ver¬
waltung im Allgemeinen, auf Gründung neuer Dörfer und Banernstellen, auf
Laudesmelioration, gutsherrlich-bäuerliche Verhältnisse, Pachtwesen und Be-
wirthschaftung der Domänen, landwirtschaftlichen Unterricht, Pferdezucht, Ab¬
wehr von Viehseuchen und kulturschädlichen Thieren, Gartenbau und Baumzucht
und Aehnliches ergingen. Deu Rest des Buches nehmen 90 Urkunden ein, die
großentheils sehr charakteristisch find.
Das Bild, das wir aus Stadelmann's Darstellung und ihren urkundlichen
Belegen gewinnen, ist in Kürze folgendes. Der Große Kurfürst hatte sich
nach Kräften bemüht, die Schäden, welche der dreißigjährige Krieg in Preußen
zurückgelassen, zu beseitigen, der eingetretenen Verarmung zu steuern und dem
Menschenmangel in weiten Strecken durch Aufnahme und Ansiedelung von
Einwanderern abzuhelfen. Dennoch blieb in dieser Beziehung für seine Nach¬
folger noch sehr viel zu thun übrig. Unter dem ersten derselben geschah ver¬
hältnißmäßig wenig, desto mehr aber unter dem zweiten, der sich fast nach
allen Richtungen hin als eine im eminenten Sinne reformatorische Natur er¬
wies. Der Verwaltuugsorganismus, den er vorfand, war mangelhaft, der
Beamtenstand vielfach korrumvirt, das Finanzwesen zerrüttet. Fast mit allen
überlieferten Zuständen der inneren Verwaltung fand sich der König in seinem
Bemühen um die Aufrichtung des Landes im Gegensatz. Sein wuchtiger Wille
mußte erst zerstören, um neue Ordnungen zu schaffen. So in der Armee, in
der Verwaltung, dem Steuerwesen, der Rechtspflege und dem Volksunterricht,
den der König durch Einführung des Schulzwanges wesentlich förderte. Nach-
dem der öffentliche Dienst nen organisirt war, und sich tüchtige Gehilfen her¬
angebildet hatten, begann sein Wirken für die Wiederbevvlkerung des Landes,
die Hebung der Bodenkultur, die Urbarmachung ausgedehnter Einöden, die
Verbesserung der Lage der Bauern und die Reorganisation des darniederlie¬
genden Dvmünenwesens. Sorgsani, beharrlich und mit großen Opfern wurde
Ostpreußen aus tiefem Verfall herausgehoben und wieder auf die Füße ge¬
stellt. Die Gewerbthcitigkeit wurde in neue Bahnen gelenkt. Die Regelung
der Administration nach Grundsätzen, die sich später in dem strammen, spar¬
samen, pflichttreuen preußischen Beamtenstande ausprägten, erstreckte sich anch
auf die nieist sehr im Argen liegende Verfassung und Finanzwirthschaft der
Städte. Kurz, kaum ein Zweig des öffentlichen Dienstes, in den die reformi-
rende Hand des Königs nicht gedeihlich eingegriffen hätte. Manche feiner
Maßregeln, namentlich die seiner Wirthschaftspolitik, sind zwar längst als Mi߬
griffe erkannt. In sehr wichtigen Fragen aber hat er grundlegend auch sür
die Gegenwart gewirkt, und die hierher gehörigen Schöpfungen haben dem
Preußischen Staate gerade seiue Eigenart verliehen. Die knappe Haushaltung
Friedrich Wilhelm's ist demselben verblieben, von der Zweckmäßigkeit seines
Verfahrens in Ostpreußen legt die Blüthe dieser Provinz noch heute Zeugniß
ab, und seine Organisation des Domänenwesens hat sich in ihren Grundzügen
bis auf die Gegenwart bewährt. Für die Pflege der schönen Künste freilich
hatte der König keinen Sinn, die Wissenschaft förderte er nur insofern, als sie
Mittel zur Erreichung praktischer Zwecke bot; sein Wesen war ausschließlich
auf das Nützliche gerichtet.
Blicken wir auf den Stand der Landeskultur und des Landbaues in der
Zeit des Regierungsantritts des Königs, so erscheint es als ein Segen, daß
die Ueberleitung zu freier Bewegung in die Hand eines energischen Geistes
gelegt war, die zunächst Ordnung und damit die Vorbedingung künftiger er¬
folgreicher Selbstthätigkeit zu schaffen bemüht war. Der Betrieb war durch
den Krieg auf eine niedrige Stufe herabgesunken. Eine landwirtschaftliche
Literatur zur Verbreitung besserer Einsicht existirte erst in schwachen Anfängen.
Die wenigen Beispiele eines verstündigeren landwirtschaftlichen Verfahrens
konnten bei der Mangelhaftigkeit der damaligen Verkehrsverhältnisse nur auf
ihre nächste Umgebung wirken. Da war es von höchster Bedeutung, daß der
König den ihm angeborenen hellen Blick für Dinge des Landbaues durch einen
fast ununterbrochenen Verkehr mit der Praxis schärfte, daß er beinahe jedes
Jahr seine zahlreichen Domänen bis in's Einzelne inspizirte und sich jede
Woche über sie berichten ließ, daß er, aufmerksam auf alle Beispiele guten
Wirthschaftsbetriebes im Lande, das Verfahren derselben auf seinen Domänen
nachahmte, und daß er auch Private zu solcher Nachahmung anregte, mit
einem Worte, daß er seinen Unterthanen das Beispiel eines Regenten gab, der
die Bedeutung der Landwirthschaft für den Staat und den Nationalwohlstand
voll zu würdigen wußte und selbst als umsichtiger Landwirth thätig war.
„Königliche Exempla wirken mehr als alle Regeln."
Auch hier hat Friedrich Wilhelm bisweilen geirrt, auch hier hat er als
„roe-nsr as broQM" die freie Bewegung oft zu sehr eingeschränkt. Aber im
Allgemeinen verfuhr er vorsichtig und überlegscun. „Selten schreitet," wie der
Verfasser sagt, „der König zum Angriff größerer Unternehmungen, ohne seine
eigene Ansicht von der Sache an der von bewährten Räthen geprüft oder sie,
nachdem er eine oberste Verwaltungsbehörde geschaffen, der Berathung im
Generaldirektorium unter seinen: Beisein unterzogen zu haben. Erst wenn Gründe
gegen Gründe reiflich erwogen sind, erfolgt die Entscheidung des Königs.
War diese aber ausgesprochen, so durfte allerdings ohne seine ausdrückliche
Bewilligung eine Diskussion kaum noch stattfinden. Es war dann einfach
Ordre zu pariren." Ueberhaupt gibt sich die Eigenart des Königs in der Lei¬
tung der Staatsgeschäfte und seine Methode, mit den Behörden zu verkehren
und zu arbeiten, auch in den hier mitgetheilten Akten überall kund, und zwar
sofort nach dem Regierungswechsel. Unmittelbar nach demselben sehen wir ihn
an vielen Fragen sich persönlich betheiligen, häufig nnr in charakteristischen
kurzen Randbemerkungen wie „Gust", „Sehr gude," „Alles richtig" oder
„Narren Possen", „Platt abweißen" oder (wie sehr oft) „Wo die Raison?",
zuweilen aber auch in bogenlangen eigenhändigen Abhandlungen. Nach diesen
Meinungsäußerungen verfaßten dann die Minister Verfügungen, die dem König
bei wichtigeren Fragen im Konzept vorgelegt werden mußten und nicht selten
von ihm mit Abänderungen versehen wurden.
Sehr groß ist der Kontrast zwischen den Verfügungen auf dem hier vor¬
liegenden Gebiete, die von dem Vorgänger Friedrich Wilhelm's, und denen, die
von letzterem ausgingen: dort Geduld und Nachsicht, hier Rauhheit und Drängen
ans schnelles Handeln. In keiner Angelegenheit hat es Zeit, Alles soll, wo
möglich, auf der Stelle erledigt werden. Früher Kabalisiren des einen Be¬
amten gegen den andern, jetzt strengste Abweisung jedes Versuches zur Intrigue.
Früher von oben her Wandelbarkeit der Ansichten, stetes Sichverlassen auf die
wechselnde Auffassung der Dinge von Seiten der verschiedenen Behörden, über¬
haupt der Wille Vieler, jetzt ein einziger Wille und feste, bestimmte Weisungen.
Ueberall eingreifendes Reguliren und nie ruhendes Wachen über genaue Ein¬
haltung der ertheilten Vorschriften. Dies begegnet uus namentlich in vielen
von den Verfügungen, welche der Einrichtung des Generaldirektoriums und
der Provinzialkcnnmern folgen. So befiehlt eine an sämmtliche Kammern ge¬
richtete Kabinetsordre vom 19. April 1723 diesen Behörden, über alle und
jede in der Instruktion für die Geschäftsführung den Kammern zur Besorgung
aufgegebenen Punkte „mit Nächstem specifique und deutlich zu berichten, ob
und welchergestalt denenselben insgesammt ein Genüge geschehen sei"... „Dafern
aber bei einem oder dem andern Punkte das Gehörige nicht verfügt sein sollte,
so habt Ihr die Ursachen anzuzeigen, warum solches unterblieben ist." Dem
fügt der König eigenhändig bei: „Diese Ordre ist sehr nöthig an Churmärk.
Magdeburg-Halberstädter Krieges und Domänen Cammern, daß sie berichten
sollen, ob sie meiner instruction Genüge gethan und warum nit? die Raison;
sind die Raison valable, gude, sind sie nit valable, soll fiscus agiren und spar-
tanische Karre werden arriviret werden."
Selten spricht der König in Sachen der Verwaltung einen Tadel aus,
ohne bestimmt anzugeben, wie es besser zu machen sei. Ueberhaupt zeigt sich
bei ihm eine ganz entschieden positive Richtung, von den sür den Thronfolger
bestimmten Rathschlägen und Anweisungen an bis herab zu den kleinsten
Dingen, und so erwächst denn in dieser Schule ebenso das preußische Verwal¬
tungssystem wie die preußische Beamtendisziplin.
Unter den hervorragenden ständigen Gehilfen des Königs bei seinen
Unternehmungen für die Landeskultur begegnen wir Heinrich Rüdiger v. Ilgen,
der 1728 als Geheimer Rath starb, Ehrenreich Bogislav v. Creutz, der diri-
girender Minister im zweiten Departement des Generaldirektoriums war, den
dirigirenden Ministern Christoph v. Katsch, Johann Andreas v. Kraut und
Johann Heinrich v. Fuchs, die sämmtlich aus dem Bürgerstande hervorgegangen
waren, ferner dem Wirklichen Geheimen Rathe und Kommissariatspräsidenten
Truchses zu Waldburg, dem Minister Friedrich v. Görne, den Etatsräthen
Mathias Christoph v. Bredow und Adam Ludwig v. Blumenthal, endlich dem
Geheimen Finanz-, Kriegs- und Domänenrath Herold. Letzterer war besonders
für Kolonistensachen, Görner und Bredow vorzugsweise für landwirthschaftliche
Angelegenheiten thätig. Selten geschah es, daß die Leistungen seiner Mit¬
arbeiter den König völlig befriedigten, und oft und lebhaft klagt er, „wie geringe
Assistenz er von seinen Beamten habe".
Als Friedrich Wilhelm am Schlüsse seines Lebens zurückblickte, lag hinter
ihm reicher Erfolg, die Frucht rastloser Thätigkeit und eines Systemes weiser
Maßregeln. Die Bevölkerung des Landes hatte sich seit seinem Regierungs¬
antritt um mehr als ein Drittheil der Zahl vermehrt, die er übernommen,
die Staatseinkünfte hatten sich fast verdoppelt, für -den Auf- und Ausbau des
Staates und die Vorbedingungen seiner weiteren Entwickelung war außer¬
ordentlich viel geschehen, „Der Osten dieser Provinz," schrieb noch 1863 ein
Königsberger, „wird Friedrich Wilhelm I. ewig als seinen Knlturbriuger ver¬
ehren."
Der König zeigte sich auch in seiner Eigenschaft als Landwirth als die
schlicht ehrliche, durchaus wahrhaftige und pflichttreue Natur, als die er uns
in anderen Beziehungen entgegentritt, freilich aber auch als der argwöhnische,
maßlos heftige, rücksichtslos ungeduldige Mann, den wir sonst in ihm kennen.
Die Wege, die er ging, waren die einer uneingeschränkten Selbstherrschaft.
Sie waren schroffster und rauhester Art. Nach den Anschauungen unserer Tage
wären vielleicht manche seiner durch barsches, drohendes Befehlen erzwungenen
Erfolge durch Auregung und Belehrung besser zu erreichen gewesen. Für freie
Entschlüsse, für Handeln nach eigener Erkenntniß und Bestimmung war inner¬
halb der Machtsphäre des Königs wenig oder gar kein Raum, und für politische
Freiheit gab es in diesem militärisch monarchischen Preußen durchaus keine
Stelle. Aber diesen Thatsachen gegenüber, die lange Zeit hindurch einseitig
genug hervorgehoben worden sind, muß immer wieder an die Verhältnisse und
die Menschen erinnert werden, mit denen Friedrich Wilhelm zu thun hatte,
sowie an die Aufgaben, die ihm gestellt waren. Von ihm gilt, wie von Luther,
die Aeußerung, die der letztere einst über sich selbst that: „Ich muß die Klötze
und Stämme ausreuten, Dornen und Hecken weghauen, die Pfützen ausfüllen
und bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muß."
Ueberdies aber stand der starren, oft gewaltsamen und oft grausamen Art
des Königs seine wahrhaft väterliche Fürsorge für das Beste des Volkes und
Staates gegenüber, und seinen ost harten Forderungen an die Leistungsfähigkeit
Anderer entsprach die eigene sich nie genugthuende Pflichtstrenge und Selbst¬
verleugnung. „Gott hat," so sagt der König in einer für seinen Nachfolger
bestimmten Instruktion, „den Regenten nicht eingesetzt, um seine Tage in Genuß
zuzubringen, wie die Meisten thun, sondern um sein Land wohl zu regieren
Zur Arbeit sind die Regenten erkoren; will aber ein Fürst Ehre erwerben und
mit Ehren seine Regierung führen, fo muß er seine Geschäfte selber vollziehen."
Wie hoch steht mit solchen Grundsätzen Friedrich Wilhelm über seinem sächsischen
Nachbar, August dem Starken, und ähnlichem kläglichen Abklatsch des Versailler
In Makart verkörpert sich jener sinnliche Zug unserer Zeit, der seine
Befriedigung in äußerem Prunk und berauschender Farbenpracht sucht, jene
künstlerische Richtung, die man nicht sehr höflich, aber sehr bezeichnend den
„Gründerstil" genannt hat; Böcklin ist der Repräsentant jener genialen Zerrissen¬
heit und Zerfahrenheit, jener in Kontrasten schwelgenden Bizarrerie, die ebenso
sehr ein Zeichen unserer Zeit ist; und der Dritte im Bunde, Gabriel Max, ist
der Apostel einer unklaren Gefühlsschwärmerei, einer interessanten Schwächlich¬
keit, die mit ihren Gebrechen kokettirt, einer unbefriedigten Sehnsucht, die an
die Art der Romantiker und an Heinrich Heine anknüpft. Eine krankhafte
Sentimentalität paart sich mit einer unglaublich raffinirten Spekulation auf die
Nerven des großen Publikums, auf seine Lust am Abenteuerlichen und Roman¬
tischen. Böcklin's Bizarrerieen verlacht man als ungefährlich, Makart's Farben¬
zauber und seine Frivolität blenden vorübergehend das Auge und regen die
Sinne auf; die Art eines Gabriel Max, der durch grauenhafte Bilder die ab¬
gestumpften Nerven eines blasirten Publikums zu reizen sucht, der, um seinen
Zweck zu erreichen, selbst vor Jahrmarktskniffen nicht zurückschreckt, vergiftet da¬
gegen das gesunde Gemüth des unbefangenen Beschauers, von diesem unbemerkt,
mit dem Mehlthau des Pessimismus.
Gabriel Max wurde am 23. August 1840 in Prag geboren. Sein Vater,
Joseph Max, war ein geschickter, formgewandter Bildhauer, der eine Reihe von
Figuren mehr dekorativen Charakters für Denkmäler und öffentliche Gebäude
in der böhmischen Hauptstadt ausgeführt hat. Der Sohn blieb bis zu seinem
fünfzehnten Jahre in der Lehre des Vaters, der 1855 starb. Es ist auffallend,
daß diese Lehrzeit an Gabriel Max spurlos vorübergegangen ist. An keinem
seiner Werke läßt sich in der Formenbehandlung der Einfluß eines Bildhauers
nachweisen. Er verschmäht im Gegentheil jede stärkere Modellirung, er drängt
alles Körperliche hinter dem Geistigen zurück, bisweilen in einem Grade, daß
die Figur kaum das sie umgebende Gewand füllt. Nur in seiner Vorliebe für
das statuarische, Geschlossene, Jsolirte läßt sich vielleicht noch erkennen, daß
ein Bildhauer seiue ersten Schritte in das Gebiet der Kunst geleitet hat.
Bis zum Jahre 1858 besuchte er noch die Akademie seiner Vaterstadt.
Dann ging er nach Wien und studirte dort drei Jahre lang auf der Kunst¬
akademie. Die ihm angeborene Leidenschaft für die Musik brachte ihn damals
auf den Gedanken, die in einigen Hauptwerken Beethoven's, Mendelssohn's u. a.
herrschenden Grundideen durch seine Kunst zu versinnlichen und durch Gestalten
zu verkörpern. Er führte diesen Gedanken in zwölf Tusch Zeichnungen aus, deren
geistreiche Erfindung solchen Beifall fand, daß der Künstler auch später noch
auf diesen Einfall zurückkam und gelegentlich ein „Adagio" malte. Dieses
Schwelgen in unbestimmten, unklaren Gefühlen nahm erst eine charakteristische
Form an, als der Maler im Jahre 1863 nach München übersiedelte und in
die Piloty-Schule eintrat. Die glänzenden Aeußerlichkeiten der Piloty'schen Art
fesselten ihn bei Weitem nicht in dem Grade wie Makart. Auf eine Stoff-
oder Kostüinmalerei, auf ein virtuoses Farbenspiel hat er sich niemals einge¬
lassen. Seine Farbe tritt in den Dienst seiner Ideen und ist von derselben
interessanten, sentimentalen Blässe angekränkelt wie seine sujets, was jedoch
nicht verhindert, daß sein Kolorit oft durch Feinheit und Harmonie fesselt.
Zwischen der modernen Münchener Schule und den Pariser Ateliers haben
stets intime Beziehungen geherrscht, die theils durch Münchener Kunsthändler,
welche Pariser Novitäten aufstellten, theils durch Studienreisen der Münchener
nach Paris gepflegt wurden. Es ist daher nicht unmöglich, daß Gabriel Max
durch das, Beispiel der Franzosen auf das Lieblingsthema seiner ersten Zeit, auf
das christliche Märtyrerthum, gebracht wurde. Wir finden sogar in der fran¬
zösischen Malerei des Julikönigthums ein Prototyp für Gabriel Max, welches
eine so auffallende Verwandtschaft mit dem Münchener Meister zeigt, daß es
nur merkwürdig ist, daß noch Niemand auf die äußere und innere Verwandt¬
schaft aufmerksam gemacht hat. Gabriel Max ist eine moderne Replik Ary
Scheffer's. Bei dem Franzosen begegnet uns dieselbe kränkliche und schwächliche
Sentimentalität, dieselbe Neigung, das Unmögliche möglich zu machen und ly¬
rische Empfindungen, vormalige Seelenstimmungen und frühere Leiden durch die
bildende Kunst in einem Individuum zum Ausdruck zu bringen, dieselbe Neigung,
dichterische Gebilde von stark lyrischem Grundcharakter, wie Mignon, Gretchen,
Julia, zu verkörpern. Schon Hegel hat bei Gelegenheit einer von Schadow ge¬
malten Mignon auf das „malerisch unfaßbare Wesen" dieser Goethe'schen Frauen¬
gestalt hingewiesen. „Der Charakter Mignon's," sagt er in seiner Aesthetik, „ist
schlechthin poetisch. Was sie interessant macht, ist ihre Vergangenheit, die Härte
des äußeren und inneren Schicksals, der Widerstreit italienischer, in sich heftig
aufgeregter Leidenschaft in einem Gemüth, das sich darin nicht klar wird, dem
jeder Zweck und Entschluß fehlt, und das nun, in sich selbst ein Geheimniß,
absichtlich geheimnißvoll sich nicht zu helfen weiß. Ein solches volles Konvolut
kann nun wohl vor unserer Phantasie stehen, aber die Malerei kann es nicht,
wie es Schadow gewollt hat, so ohne Bestimmtheit der Situation und der
Handlung einfach durch Mignon's Gestalt und Physiognomie darstellen." Diese
vortreffliche Auseinandersetzung paßt in ihren wesentlichsten Sätzen auf alle
Schöpfungen Gabriel Max', von den umgebrachten Märtyrerinnen bis auf
seine Kindesmörderinnen.
Die Zeit der römischen Decadence ist stets ein beliebter Tummelplatz für
die Piloty-Schüler gewesen. Während aber die meisten der Historienmaler dieser
Schule es liebten, die römischen Imperatoren und ihren Troß auf dem Lotter¬
bette zu zeigen, blättert Gabriel Max in den blutigen Annalen der ersten Christen¬
gemeinden umher und suchte die Nerven des durch den Anblick der Wollust
übersättigten Publikums durch eine raffinirte Spekulation auf sein Mitleid
wieder anzustacheln. Die ekstatische Verzückung der christlichen Märtyrerinnen,
die unter den Fäusten roher Henkersknechte ihr Leben ausgehaucht haben oder
kurz vor dem Tode stehen, war ihm ein willkommenes Thema, das er zu¬
nächst gründlich ausbeutete.
Die Malerei des zweiten Kaiserreichs hatte dieses dankbare Gebiet schon
eher entdeckt und ihre Orgien in Grausamkeit, Wollust und Sentimentalität ge¬
feiert, und es ist gar nicht unwahrscheinlich, daß Gabriel Max auch nach dieser
Richtung hin Impulse von Frankreich empfangen hat. Das berühmte Bild
von Delaroche, die auf der Tiber schwimmende Leiche einer jungen Mär¬
tyrerin aus Diokletian's Zeiten, 1855 gemalt, ist ja durch den Kupferstich, die
Lithographie und die Photographie in alle Welt verbreitet worden. Aber
während auf diesem Bilde trotz seiner ganz modernen Sentimentalität immer
noch ein Hauch religiösen Gefühls und religiöser Andacht ruht, darf man auf
den Märtyrerbildern von Gabriel Max solche Züge nicht suchen. Seine
Märtyrerinnen sind „interessante Geschöpfe" schlechtweg. Ihr blasser Teint, ihr
wirres, schwarzes Haar, ihre schwärmerischen Augen, ihre feinen Glieder, ihr
schmächtiger Körper, alles ist so rührend und appellirt so eindringlich an unser
Mitgefühl, daß wir gar nicht mehr nach der Lebens- und Leidensgeschichte die¬
ser Aermsten zu fragen brauchen.
Das erste Bild dieser Art, mit welchem Gabriel Max an die Oeffentlich-
keit trat, war eine Märtyrerin am Kreuz. Daß es auch auf dem Pariser
„Salon" Anerkennung fand, ist bei der ausgeprägten Vorliebe der französischen
Historienmaler für Greuelszencn jeglicher Art, bei dem abscheulichen Hange zur
Leichenmalerei, der neuerdings ganz entsetzliche Dimensionen angenommen hat,
nicht zu verwundern. Max wurde dadurch ermuthigt, auf diesem Pfade fortzu¬
schreiten, und brachte nach der Gekreuzigten eine „erwürgte heilige Ludmilla"
zum Vorschein. Sein gedämpftes Kolorit, das überwiegend mit gebrochenen
Farben, mit hellgelb, grau, lila und rosa operirt, seine in den Umrissen ver¬
schwommene Zeichnung harmonirten vortrefflich mit seinen thränenvollen sujets.
Die „gekreuzigte Märtyrerin" erhielt noch dadurch eine pikante Würze, daß ihr
der Maler einen römischen Jüngling gegenüberstellte, der eben, bekränzt und
des Bacchus voll, von einem Gelage heimkehrt, von dem Anblick erschüttert
aber plötzlich stehen bleibt und die Rosen von seinem Haupte der Sterbenden
zu Füßen legt. Der Gedanke ist nicht mehr neu. Er ist oft genug poetisch
verwerthet worden; aber er wird niemals auf empfindsame Gemüther seine
Wirkung verfehlen. Auf einem späteren Bilde (1874) hat der Künstler diesen
Pikanten Kontrast noch einmal in einer andern Weise verwerthet. Dort wird
die Rose von unbekannter Hand einer jungen, zum Tode verurtheilten Christin
in dem Augenblicke zugeworfen, wo sie in die Arena unter die wilden Bestien,
zwei Löwen und einen Tiger, tritt. In diesen Kreis gehört auch das geblen¬
dete Mädchen, welches am Eingang der Katakomben sitzt und — ein raffinirter
Kontrast — den Besuchern brennende Lämpchen feilbietet.
Bis zum Jahre 1867 blieb Max in Piloty's Atelier. Dann schlug er in
München seinen festen Wohnsitz auf, den er später, als seine seltsamen Bilder
von spekulativen Kunsthändlern mit hohen Preisen bezahlt wurden, mit einer
Villa an den Ufern des Würmsees vertauschte, bis er wieder nach München als
Professor an die Kunstakademie berufen wurde.
Seine Neigung zu einem stillen, beschaulichen Leben prägt sich besonders
in denjenigen Bildern aus, die nicht so herausfordernd an das Nervensystem
des Beschauers pochen, wie z. B. in der melancholischen Nonne, in der „Waise",
den „barmherzigen Schwestern" und in dem „Herbstesreigen", dessen Grund¬
stimmung an die an musikalische Themata anknüpfenden Erstlingswerke des
Künstlers erinnert. Leider ist die Situation des letzteren Bildes so unklar,
wie es sonst nur die Gefühle sind, welche in den Angesichtern der Max'schen
Figuren aufdämmern. Man sieht eine Gesellschaft von vornehmen Herren und
Damen in Kostümen des 16. Jahrhunderts in einem Garten unter einer schat¬
tigen Platane versammelt, die einen konversirend, die anderen Früchte oder
Blumen pflückend. Ein junges Mädchen, hinter der sich ein Kavalier, augenschein¬
lich ihr Liebhaber, verbirgt, reicht einem am Baume lehrenden, melancholisch
dreinschauenden Herrn eine Herbstzeitlose. In dieser Abweisung durch die
Blumensprache scheint die Pointe des geheimnißvollen Bildes zu liegen, welches
im Uebrigen durch ein harmonisches Kolorit von größter Delikatesse erfreut.
So unklar wie der Vorgang ist auch die Luftperspektive, welche, wie auch
andere Bilder zeigen, für den Künstler ein Buch mit sieben Siegeln zu
sein scheint.
Auf der Wiener Weltausstellung sah man außer diesem „Herbstesreigen"
auch die „Walpurgisnacht", jene Erscheinung des enthaupteten Gretchens, die
nach dem großen Erfolge des Christuskopfes mit dem doppelten Blick, auf den
wir später zu sprechen kommen, die Runde durch die Hauptstädte Deutschland's
machte. Wir eröffnen damit die Bildergalerie nach den Meisterwerken unserer
klassischen Dichter, die eine zweite große Gruppe in dem Schaffen des
Künstlers bildet.
Die alten biederen Düsseldorfer malten das Grerchen am Spinnrade oder
Faust und Margarethe im Garten; dann ließen die dramatisch stärker angeleg¬
ten Münchener die schone Sünderin sich im Bewußtsein ihrer Schuld vor der
U^ehr clolvrosÄ winden, Gabriel Max, der Epigone, der Begründer der
Schreckensherrschaft in der modernen deutschen Kunst, hat uns das „blasse,
schöne Kind" in der Walpurgisnacht mit dem „einzig rothen Schnürchen" um
den Hals gemalt. In dieser Progression vom Idyllischen zum Tragischen und
von da zum Gräßlich-schaurigen prägt sich ein gut Theil der Entwickelungs¬
geschichte der modernen Malerei in Deutschland aus, wenn man anders die
sonderbare Kunsterscheimmg, die sich in dem Schöpfer des „Gretchens", des
„Christuskopfes" und der „Kindesmörderin" verkörpert, nicht kurzer Hand aus
der Kunstgeschichte in die Kuriositätenkabinette oder gar in das Gebiet der
Pathologie verweisen will.
Gabriel Max hat mit diesem „Gretchen" übrigens nicht einmal etwas
originelles geschaffen. Ary Scheffer ist ihm auch auf diesen: Gebiete voran¬
gegangen, der Mann mit den „todmüden Farben" und den „unheimlich vagen
Umrissen", wie ihn Heine so unübertrefflich charakterisirt hat. Ary Scheffer
hat 1846, also ein Vierteljahrhundert vor Gabriel Max, das Phantom der
Walpurgisnacht gemalt, „ein halbnacktes Gespenst mit weichen hängenden Formen,
das nichts gemein hat mit dem ,blassen, schönen Kind^ und nichts weniger als
den ,süßen Leib^ zeigt, den Faust genoß." Gabriel Max ist nicht so ungalant
mit dem armen Gretchen umgesprungen. Wenngleich die Worte, die Faust zu
Mephisto spricht, unzweifelhaft darauf hindeuten, daß Gretchen wie die anderen
Phantome des Blocksbergs unbekleidet erscheint, hat sich Max wohl gehütet,
dem Dichter hierin zu folgen. Abgesehen davon, daß ihm trotz seiner Bild¬
hauerstudien die plastische Modellirung des menschlichen Körpers, ja auch schon
die korrekte Zeichnung eine gewisse Pein verursacht, hätte er mit einem nackten
Gretchen gegen den guten Ton der modernen Gesellschaft verstoßen, der ihm
über alles geht, weil ihm ihr Beifall seine Erfolge sichert. So ist aus seinem
Gretchen ein zahmes Pensionsfräulein geworden, das sich einmal vergangen
hat und nun so grausamlich bestraft wird. Ein seltsamer, eigenthümlich prickeln¬
der Schauer überläuft den Rücken der Zuschauer, die eine so durchaus moderne,
aus der neuesten Gesellschaft herausgegriffene Erscheinung in einer so peinlichen
und fatalen Situation erblicken.
In Wien war das Gretchen blos „ausgestellt"; unter der Menge machte
es nicht den gewünschten Effekt. Das wurde später anders. Ein Kunsthändler
bemächtigte sich des Bildes. Er sah mit richtigem Blick und richtiger Erkennt¬
niß des modernen Geschmacks, daß mit einer bloßen Ausstellung nichts gethan
war. Das Gemälde mußte nach allen Regeln der Kunst „inszenirt" werden.
Zu diesem Zwecke wurden, ähnlich wie in den anatomischen Museen die eeckinsts
süxai-us und in dem Pcmoptikum die Schreckenskammer, die geschlossenen Zimmer
erfunden. In den Jahren 1876 und 77 machte das Bild in solcher Jnszenirung
seine Runde durch die Hauptstädte Oesterreich's und Deutschland's. Ich sah das
Bild in Berlin wieder, wo es der „Verein Berliner Künstler" unter seine Pro¬
tektion genommen hat. Daß auch diese ehrenwerthe Körperschaft zu dem Hum-
bug, mit welchem die Hamburger Besitzer das Bild zu umgeben für gut fanden,
ihre Hand boten, ist für alle Zeiten mit schwarzen Lettern in ihre Chronik
eingetragen.
Durch einen dunklen Vorhang war von dem großen Ausstellungssaal ein
Gemach abgegrenzt. Schlug man die Portisre zurück, so trat man in ein
schwarz verhangenes Zimmer, in welches von außen kein einziger Lichtstrahl
hineinfiel. Aus dem Hintergrunde trat dem Eintretenden eine weiße, grell be¬
leuchtete Gestalt entgegen: ein todtenbleiches Angesicht starrte ihn mit glanzlosen
Augen an, den Augen, „die eine liebende Hand nicht schloß". Die Hände der
geisterhaften Erscheinung kreuzten sich krampfhaft über der Brust und drückten
das aufgelöste, in wirren Strähnen herabhängende, schwarzbraune Haar gegen
den Hals, als wollten sie das blutige Mal verbergen, den rothen von Henkers¬
hand gezeichneten Streifen, der durch das weiße Linnengewand hindurchschimmerte.
Die Gestalt drückte sich gegen eine dunkle Felswand, als wollte sie sich vor
den Blicken des Faust verbergen; die Füße waren eng aneinander geschlossen,
wie es in der Dichtung heißt: „Sie scheint mit geschlossenen Füßen zu gehen."
Von einer um den Hals geschlungenen Schnur hing eine Kapsel herab, deren
Deckel aufgesprungen und aus der ein güldner Fingerreif, Faust's Liebespfand,
auf das Felsgestein herabgeklirrt war. Auf dem Boden spielten einige Raben,
die Vorboten des Hochgerichts, mit dem glitzernden Kleinod. Mit diesem völlig
modern novellistischen Zug war der Maler jedoch noch nicht zufrieden. Wer
das Bild ohne die effektvolle Jnszenirung gesehen hatte, der wußte, daß noch
an der Felswand des Hintergrundes der Schatten einer Hand zu sehen war.
Der Schatten einer Hand! Wer denkt dabei nicht an einen der Sensations¬
romane von Dumas dem Vater oder von Eugen Sue? Welch' ein Spielraum
war da der Phantasie des Beschauers gelassen? War es die Hand des Faust,
der seinem Begleiter das grauenhafte Phantom weist, oder war es gar die Hand
des teuflischen Versuchers, der sein Opfer auf eine neue Phantasmagorie auf¬
merksam macht?
An der linken Seite des Bildes war eine regelrechte Koulisfe aufgerichtet,
hinter der zwei große Lampen angebracht waren, die ihr Licht in einen metalle¬
nen Hohlspiegel warfen und von dort auf das Bild reflektiren ließen. Diese
unwürdige Komödie mußte natürlich jedem ernsthaften Kunstfreunde den Genuß
an den trefflich gemalten Einzelheiten verleiden. Wer sich nicht auf Wien
besann, konnte sich nicht davon überzeugen, daß die Figur ausnahmsweise
vortrefflich gezeichnet war, und daß die koloristische Stimmung des Bildes auch
ohne künstliche Beleuchtung von wahrhaft poetischer Wirkung war. Aber über
das Moderne einerseits und über das komisch Spukhafte andererseits kam man
doch nicht hinaus. Ich mußte wieder an die Worte Heine's über Scheffer's
Gretchen denken (1831), die ich hier folgen lasse, nur um zu zeigen, daß alles
schon einmal dagewesen: „Sie ist zwar Wolfgang Goethe's Gretchen, aber sie
hat den ganzen Friedrich Schiller gelesen, und sie ist viel mehr sentimental als
naiv und viel mehr schwer idealisch als leicht graziös."
Viel mehr sentimental als naiv! Darin liegt auch der Schwerpunkt der
Schöpfungen von Gabriel Max, darin ist ihr Hauptfehler, ihre interessante
Schwäche begründet, aber auch das Geheimniß ihres Erfolges bei dem Publikum
der modernen Salons, welches fo gern mit seinen Nerven kokettirt. Diesem
sentimentalen Bedürfniß kommt auch eine Reihe von Genrebildern entgegen,
welche ohne die Beimischung des Grauenhaften auch in Privatkreisen Käufer
gefunden haben. Gabriel Max liebt es, solchen Bildern geheimnißvolle, epi¬
grammatisch zugespitzte Titel zu geben, aus denen man gleich eine ganze Novelle
Herausbuchstabiren kann. Ein Mädchen, das beim Morgengrauen vom Balle
heimgekehrt ist und nun, im Begriff zu Bett zu gehen, beim Ablegen seines
Flitterstaates inne wird, daß auch seine Jugend zur Neige gegangen ist, wie
der rauschende Ballabend; sie sitzt auf ihrem Bett und preßt die Hände vor's
Gesichts — wie geistreich, wie seelenvoll, wie hübsch pointirt! „Verbinde!"
heißt die Devise des Genrebildes. Eine junge Dame, die einsam in ihrem
Zimmer am Klaviere, dem Tröster aller unverstandenen Seelen, sitzt — „Still¬
leben" genannt. Ist das nicht witzig', geistreich und melancholisch zugleich?
Doch genug damit — der nächste Trumpf, den Gabriel Max nach seinem
Gretchen ausspielte, war die Julia Capulet, zu der er sich nach seiner Behauptung
die Inspiration aus dem Shakespeare geholt hatte. Er hat die scheintodte
Julia, die den Schlaftrunk genommen, auf ihrem Lager dargestellt, dessen Ein¬
samkeit mit ihr noch ein Wachtelhund theilt. Im Hintergrunde sieht man be¬
reits durch ein Fenster die Hochzeitsgesellschaft nahen, mit Graf Paris an der
Spitze, mit Musikanten, welche der jungen Braut ein Ständchen bringen wol¬
len. Aber diese Leute sind so gemalt, als wären sie hundert Schritte von der
Schläferin entfernt. Es ist wieder die unglückselige Perspektive, die dem Maler
in die Quere kommt. Aber was hat er aus der Julia gemacht, der „schönen
Sonne" Romeo's, um derentwillen Luna „in blassem Neide sich verzehrt"? Ein
kleines, verwachsenes Mädchen — Jemand hat behauptet, daß ihr Oberschenkel
schon in der Nähe des Magens beginnt — liegt, mit einem schmutzig blauen
Gewände angethan, auf einem mit schmutzig grünem Tuch drapirten Lager, aus dessen
oberen Theil noch ein großer grüner Vorhang herabfüllt, so daß sich auf dem
gelblichen Angesichte der Julia noch blaue und grünliche Töne Rendezvous
geben. Wir nehmen den Shakespeare zur Hand und trauen unseren Augen
nicht; da steht: „es liegt der Tod auf ihr, wie Maienfrost auf der Ge¬
filde schönster Blume liegt." Eine schlafende Rose hätte nicht an die Nerven
der Beschauer gegriffen; darum breitete der Maler über dem unglücklichen, ver¬
nachlässigten Geschöpfe den Hauch der Verwesung aus, den grünlichen Ton,
welchen gewöhnlich erst die „Wasserleichen" anzunehmen pflegen. Daß das Bild
virtuos gemalt ist, wird durch unsere Besprechung vorausgesetzt. Stümpereien
ignorirt man. Aber der Maler, mit dem wir uns hier beschäftigen, hat wie
kaum ein zweiter alle Töne in seiner Gewalt, mit denen er auf unklare,
weiche Gemüther wirken kann. Man hat gesagt, diese Julia „mit den dunklen
Flechten und dem scharf gezeichneten Munde" könnte ebensowohl eine Miranda,
eine Desdemona, eine Perdita, eine Helena, eine Viola fein. Gewiß. Denn
es fehlt ihr jede Spur von Individualität. Es ist der Max'sche Typus, der
auf allen seinen Gemälden wiederkehrt, von der Lampenverkäuferin an, die den¬
selben scharf geschnittenen Mund, dieselben hageren, vergrämten Züge dem allge¬
meinen Mitleid darbietet. Im Grunde genommen kehrt überall dasselbe Grund¬
thema wieder; nur die Maskerade ist anders, und die Variationen sind so kunst¬
voll arrangirt, daß der harmlose Beschauer gar nicht bis aus den Grund
blicken kann.
Das Motiv zu dem nächsten Bilde war einem Gedichte Chamisso's ent¬
lehnt, der „Löwenbraut". Im Käfig des Löwen liegt die entseelte Tochter des
Thierbändigers, den Brautkranz im Haar, auf dem Boden, die Hände im Todes¬
kampfe in den Sand gegraben:
„Die schöne Gestalt, ein gräßlicher Raub,
Liegt blutig, zerrissen, entstellt in dem Staub."
Der Löwe hat seine Tatzen auf den Körper des Mädchens gelegt, das er eben
getödtet, und erwartet mit erhobenem Haupte, trotzigen Muthes die Kugel aus
der Büchse des ergrimmten Bräutigams, der von draußen herbeistürzt. Der
Löwe legt Zeugniß dafür ab, daß Gabriel Max sich eifrig mit dem Thier¬
studium befaßt hat. Er hätte freilich ein schöneres und kräftigeres Exemplar
auswählen können. Aber um eine so schwächliche Gestalt, die kaum das Kleid
ausfüllt, niederzustrecken, bedürfte es auch keines stolzen Wüstenkönigs. Dem
Bilde fehlt es übrigens an dem Farbenreiz, an der Zartheit des Kolorits, an
der träumerischen Harmonie, die wir an den Gemälden des Künstlers immer
noch bewundern müssen, auch wenn wir sonst nichts zu bewundern haben. Das
Rosa des Kleides, das schmutzige Gelb des Löwen und das graue Grün der
Bäume außerhalb des Käfigs vereinigen sich zu einer Disharmonie, wie sie
schriller und unangenehmer kaum gedacht werden kann.
Im Jahre 1875 versuchte sich Max — ich glaube zum ersten Male —
auf dem religiösen Gebiete, indem er den Heiland am Bette eines sterbenden
Mädchens als Herrn über Leben und Tod darstellte. Der Maler sagt nur:
„Christus, eine Todte erweckend." Die Frage, ob des Jairus' Töchterlein mit
dem zart hingehauchten Mädchen gemeint ist, läßt er offen, damit der Beschauer,
dem der Vorgang des Bildes ziemlich klar ist, doch an seinem Titel etwas
herumgrübeln kann. Der Erlöser, dessen feiner, durchgeistigter Kopf an die
aesthetischen Schönredner der Münchener Salons erinnert, sitzt am Bette der
Kranken und hält ihre Hand zärtlich umfaßt. Er hat das belebende Wort
gesprochen und wartet nun, daß das Leben in die halb erstarrten Züge des
bleichen, zarten Angesichts zurückkehre. Die Situation wäre in ihrer Einfach¬
heit ergreifend, wenn der Maler nicht durch einen überflüssigen Scherz, ohne
den es nun einmal bei ihm nicht abgeht, den harmonisch feierlichen Gesammt-
eindruck verdorben hätte. Auf dem Arme des Mädchens sitzt nämlich eine
große Fliege, die so meisterlich, mit so fabelhafter Naturwahrheit gemalt ist,
daß sich hier das Wunder des Zeuxis und Parrhasius erneuern könnte. Nur
würde der Fliegenschnäpper, der nach dem Insekt haschen wollte, nicht vor dem
Arme des Mädchens zurückschrecken, aus dem Blut und Leben völlig gewichen sind.
Ein herbes Seitenstück zu diesem immerhin friedlichen Gemälde, auf dem
doch das Leben noch über den Tod den Sieg davontrügt, wenn der Maler
auch diesen Sieg noch nicht vollständig dargestellt hat, bildet der „Ahasver" vor
der Leiche eines Kindes. Der Sarg steht in einem dunklen Gewölbe, auf dem
Angesichts des Kindes liegt die süße Ruhe des Todes, aber in den verzerrten
Zügen des zur ewigen Ruhelosigkeit verdammten Juden prägt sich grimmiger
Neid auf das arme Wesen aus, das den seligen Schlummer schläft. Mit dieser
raffinirten Gegenüberstellung hat Gabriel Max das Höchste erreicht, was bisher
seiner krankhaft überreizten Phantasie entsprossen ist. Was später folgte, war
entweder rein kurios oder rein pathologisch oder so widerwärtig, daß es kaum
eine Beachtuug verdient. In die letzte Kategorie gehört ein „Tannhäuser", der
sehnsüchtig auf das Meer blickt, während eine bleichsüchtige, olivengrün gefärbte
Venus ihn vergebens durch ihre schlaffen Reize zu fesseln sucht, ein trauernder
Affe, den Max mit unübertrefflicher Selbstironie „Mignon" getauft hat u. f. w.
In das Gebiet der Kuriositäten gehört der schon erwähnte Christuskopf
mit dem doppelten Blicke, der seit 1876 wie ein Mirakel durch die Hauptstädte
Europa's geführt und je nach der religiösen Stimmung oder nach dem Glaubens-
bekenntniß der Bewohnerschaft in kapellenartigen Räumen auf Altären und mit
Kerzenbeleuchtung oder in den profanen Lokalen der Kunstvereine aufgestellt
wird. Auf ein mit großen Nägeln festgenageltes grobes Linnentuch, dessen
rohes Gewebe an die Byssoslaken erinnert, in welche die ägyptischen Mumien
eingewickelt wurden, ist das Antlitz des Erlösers gemalt, der Sage getreu,
welche von der heiligen Veronika erzählt wird, die mit ihrem Tuche den
Schweiß von dem blutigen Angesichts des Heilandes auf seinem letzten Wege
trocknete und den Abdruck seiner schmerzdurchfurchten Züge in dem Gewebe
behielt. Das Tuch ist so meisterhaft gemalt, daß es beinahe selbst ein Wunder
ist. Rationalistisch gesinnte Menschen erklären dieses Wunder allerdings da¬
durch, daß sie behaupten, der Maler habe einfach ein grobfasriges Tuch auf
die dick aufgetragene, halbtrockene Farbe gedrückt und durch diesen geistreichen
Kunstgriff den stupenden Eindruck hervorgerufen. Wir halten dies natürlich
für pure Verleumdung Und bewundern nach wie vor das vergilbte, an den
Kanten ausgefaserte, vom Schmutze des Alters stark angegriffene Tuch, welches
hie und da von Blutstropfen befleckt ist. Die Haare Hunger wirr um das
dornengekrönte Haupt, um die hohe Stirn und die hohlen, bleichen Wangen
und vereinigen sich unten mit den Strähnen des Bartes. Der Mund ist schmerz¬
lich zusammengekniffen, die Wimpern sind sest geschlossen und die Augen tief in
ihre Höhlen herabgesunken, als wären sie äußerer Gewalt, einem starken Drucke
gewichen. Wo das Augenlid mit dem Knochen des Stirnbeins einen Winkel
bildet, ruht ein tiefer kreisrunder Schatten, der dadurch eingermaßen, aber noch nicht
ganz erklärlich wird, daß das Licht von oben herabfällt und die Stirn und das
Nasenbein voll beleuchtet. Für den vom Bilde Zurücktretenden ruft der kleine
runde Schatten die Illusion der Pupille des geöffneten Anges hervor. Wo die
Wimper mit dein unteren Lide zusammentrifft, lagert sich wiederum ein tiefer
bläulicher Schatten, wie er sich nach dem Tode und selbst bei Lebenden einstellt,
welche schwere Nachtarbeit, schwere Leiden und Krankheiten durchgemacht haben.
Das Blut von der Stirn fließt über das rechte Ange auf die Wange herab.
Dieser Anblick bietet sich dem Beschauer, wenn er dicht vor das Bild tritt.
Entfernt man sich dagegen allmählich Schritt für Schritt, so öffnen sich nach und
nach die Augen des Heilandes. Der dunkle Fleck auf dem geschlossenen Augenlide
gewinnt Glanz und Leben, er hellt sich zu stumpfer Bläue auf und, wenn der
Beschauer seinen Standpunkt etwa fünf Fuß von dem Bilde entfernt genommen
hat, blicken ihn die weit geöffneten, halb verschleierten Augen des Heilandes
schwermüthig an. Zu gleicher Zeit scheinen sich auch die übrigen Theile des
Gesichtes zu beleben: Die Wangen scheinen voller zu werden, und die Lippen
wölben und öffnen sich halb, als wollten sie fragen: „Warum habt ihr mir
das gethan?"
Dieses Kunststück entzieht sich bereits einer ernsthaften Kunstkritik. Man
bedauert nur, daß ein immerhin vornehm veranlagtes Talent sich zu solchen
gemeinen Jährmarktslniffen hergegeben hat und sich deu groben Humbug ge¬
fallen läßt, den der mit dem Bilde herumziehende Kornak aller Orten in Szene
setzt. Aber Gabriel Max that noch ein mehreres: er malte zwei Pendants zu
dem Christusbilde, Maria Magdalena und Judas Ischarioth, dort die „verklärte",
hier die „verzweifelte" Reue, wie der Maler wiederum höchst geistreich seine
Bilder nannte. Das Haupt des Selbstmörders hängt, von Raben umkreist, in
den Aesten eines Baumes. Es ist dem Künstler dabei natürlich besonders
darum zu thun gewesen, die Todesart des Verräthers in seinen verzerrten
Zügen möglichst getreu zum Ausdruck zu bringen, und er wird zu diesem Zwecke
nicht minder eifrige Studien getrieben haben, als für seine „Kindesmörderin",
das Seusationsbild, welches zuletzt die Runde durch Oesterreich's und Deutsch¬
land's Hauptstädte gemacht und die Leute, die es noch nicht kannten, das Gruseln
gelehrt hat.
Zu diesem Gemälde hat er wiederum seine Inspiration aus einem Dichter
geschöpft, aus Bürger's schauriger Ballade „Des Pfarrers Tochter von Tauben¬
hain". Gabriel Max ist eben kein schöpferisches Genie, sondern ein mehr nach¬
empfindendes Talent, welches dichterische Gedanken weiter ausspinnt und ge¬
legentlich auch nach der psychologischen Seite vertieft. Ebenso sehr fehlt ihm
die Kraft, eine große Komposition zu beherrschen und gleichmäßig zu durch¬
dringen. Ueber ein, zwei Figuren ist er selten hinausgegangen, und wo er's
that, ist er stets unverständlich geblieben. Der vorwiegend kontemplative Zug
seines Geistes weist ihn auf eine solche Beschränkung hin, auf eine Darstellung
seelischer Affekte, die in ihrer Komplizirtheit für die Kunst aber nicht immer
darstellbar sind.
„Am schilfigen Unkengestade", so heißt es in dem Bürger'schen Gedichte,
„Das ist das Plätzchen, da wächst kein Gras;
Das wird vom Thau und vom Regen nicht naß.
Da wehen die Lüftchen so schaurig."
Am schilfigen Unkengestade, das sich im Vordergrunde des Bildes, nur mühsam
erkenntlich, ausdehnt, kniet die unglückliche Tochter des Pfarrers. Das Terrain
zieht sich sanft aufsteigend bis zum Hintergründe empor, wo noch ein Streifen
grauverhängten Himmels sichtbar ist. Die Bodenfläche ist nur mit Schilfrohr
bedeckt, das heftig vom Winde gepeitscht wird. Im Vordergrunde, hart am
Teiche, bildet das Rohr ein kleines Dickicht. Die Kindesmörderin kniet zur
Seite einer Böschung, die von Flechtwerk gehalten wird. Sie stützt ihren linken
Arm auf das Bollwerk, drückt mit beiden Händen das eben geborene, eben er¬
mordete Kind an die Brust und preßt den Kopf des kleinen Leichnams an ihre
blassen Lippen. Ein weißes Linnen verhüllt nur den Unterkörper des Kindes
und seinen Hinterkopf. Dort, wo die zitternde Hand das weiße Tuch an das
kleine Haupt preßt, sieht man Blutspuren, die stummen Zeugen der grausen
That. Der Kopf des Mädchens ist dem Beschauer fast im Profil zugekehrt.
Die kastanienbraunen Haare hängen ihm wirr um die Stirn und fallen in
Strähnen auf den Nacken und die halbentblößte Brust. Das grau-violette
Kleid ist vorn aufgenestelt: es scheint, als hätte die Unselige noch ihre Mutter-
Pflicht erfüllt, bevor der Wahnwitz ihre Sinne verwirrt und sie zur entsetzlichen
That getrieben. Ein schwarzer UmHang ist von der Schulter der Kindesmör¬
derin herabgeglitten. Ihre schönen Züge, welche natürlich wieder die interessante,
gelbgrüne Leichenblässe zeigen, welche Gabriel Max und Makart gemeinsam ist,
sind durch die Reue über ihre That, durch Verzweifelung, durch Furcht oder
ähnliche Gefühle nicht entstellt. Die Augen sprechen nur wenig mit, da sie
von deu gesenkten Augenlidern halb geschlossen sind. Während sich der Hinter-
und Mittelgrund des Bildes in dämmerhaftes Dunkel verliert, ergießt sich über
das Mädchen und das gemordete, mit grauenerregender Naturwahrheit gemalte
Kind ein greller Schein. Man weiß zwar nicht, von wannen er kommt; aber
er ist da und verfehlt seine gespenstische Wirkung nicht.
Man erzählt, der Künstler habe mit dem Studium von Kinderkadavern
kein Ende finden können! Nicht weniger als fünf Kinderleichen soll er als
Modelle gebraucht haben, bis er seinen Zweck erreicht, und daraus erklärt sich
wohl auch, daß das so zu Stande gekommene Kind schon eine ganz respektable
Größe hat.
Auf diesem Wege ist die Kunst glücklich dahin gerathen, ihre Vorbilder
in der Morgue zu suchen, und darum konnte es uns nicht weiter verwundern,
daß ein Berliner Maler durch die „Kindesmörderin" auf deu Gedanken gebracht
wurde, einen Mann zu malen, der, scheintodt in die Morgue geschafft, plötzlich
inmitten der auf den Tischen aufgelegten Leichname wieder zum Leben erwacht
und mit entsetzensvollen Blicken auf seine grauenhafte Umgebung starrt.
Immerhin treten aber solche künstlerische Erscheinungen wie Gabriel Max,
wie Hans Makart und Arnold Böcklin noch so sporadisch auf, daß von einer
epidemischen Krankheit, welche das Heiligthum der deutschen Kunst zu verwüsten
droht, noch nicht die Rede sein kann. Solche krankhafte Auswüchse hat es am
gesunden Stamm der Kunst immer gegeben, ohne daß dieser in seinem Wachsthum
gefährdet worden wäre .Aber selten ist die Stimmung der Zeit derartigen Ver-
irrungen so günstig gewesen, so sehr entgegengekommen, als in unserer zerris¬
senen, unklaren, in immerwährender Gährung begriffenen Epoche des Ueberganges."
Der Aufsatz d. Bl. über die Gortschakoff'sche Politik hat auch im Auslande
Aufmerksamkeit erregt und allerlei Besprechungen veranlaßt, die mehr oder
minder Beachtung verdienen. Im Folgenden greifen wir einige von diesen
Beurtheilungen heraus, um sie entweder ganz oder nach ihrem Hauptinhalte
mitzutheilen, wobei wir uns ausführlicher Kommentare enthalten und nur hie
und da eine Glosse einschalten, mit welcher der Verfasser jenes Aufsatzes ein¬
verstanden sein dürfte. In etwas komischem Lichte wird dabei die Allwissen¬
heit erscheinen, welche die Presse in Bezug auf die Person desselben entwickelt,
und noch wunderlicher wird Manchem die Verschiedenheit der Ergebnisse vor¬
kommen, zu der diese Allwissenheit gelangt ist.
Die Wiener „Presse" nennt den Artikel einen „offenbar wohlunterrichteten"
und findet es „bezeichnend für die Stellung des Fürsten Bismarck zu der
Vermitteluugs-Mission Schuwaloff's, daß der Kanzler eben wieder eine kleine
publizistische Fehde gegen dessen Vorgesetzten und Nebenbuhler eröffnet hat".
Das Hauptgewicht des Artikels aber liegt, wie das Blatt findet, in der An¬
deutung, daß Gortschakoff noch immer ein Zusammengehen mit Frankreich im
Auge zu haben scheine, das schließlich nur gegen Deutschland gemünzt sein
könne. „Das hier nach Petersburg gerichtete Avis ist gerade des Zeitpunkts
wegen bemerkenswerth", meint die Redaktion der „Presse", die übrigens (wir
verweisen auf Ur. 3 d. Bl., S. 120) im Irrthum ist, wenn sie Moritz Busch
als Redakteur der „Grenzboten" bezeichnet.
Die großen englischen Zeitungen, die unsern Aufsatz ebenfalls einer Be¬
trachtung würdigen, scheinen namentlich denjenigen Ausführungen desselben Be¬
deutung beizulegen, welche das Kapitel der Dankbarkeit, die Deutschland der
russischen Politik schulden soll, behandelten und zu dem Schlüsse gelangten,
daß diese Schuld nicht groß gewesen und 1870 abgetragen worden sei. So
die „Pakt Malt Gazette" und der „Daily Telegraph", das verbreitetste und
nächst den „Times" einflußreichste Blatt England's. Der Berliner Korrespon¬
dent des letzteren schreibt: „Die heftigen Angriffe der russischen Presse aus
Deutschland sind von den Berliner Zeitungen beinahe unbeachtet gelassen
worden. Es war etwas ganz Unerklärliches in ihrer gänzlichen Gleichgiltigkeit
gegen die moskowitische Verleumdung des Fürsten Bismarck und seiner Politik.
In der That, viele Leute begannen den Verdacht zu hegen, daß der Ton der
russischen Journale nur ein Deckmantel für das innige Einverständniß sei,
welches, wie man annahm, zwischen den Kabinetten von Se. Petersburg und
Berlin herrschte. Das letzte Heft der ,Grenzboten^ — einer Wochenschrift,
die ihre Inspirationen direkt ans der höchsten Quelle empfängt (woher weiß
das der Berichterstatter, daß er so bestimmt spricht?), läßt allen Zweifel in
Betreff des Gegenstandes schwinden ... Der ganze Stil des Artikels, der kein
geringes Aussehen in politischen Kreisen gemacht hat, verräth seinen Ursprung."
In einem ausführlichen Artikel bespricht dann Kingston in demselben Blatte
unsern Aufsatz, um daraus den (wohl etwas raschen) Schluß zu ziehen, „wenn
Zeitschriften von hoher Stellung, die in dem Rufe stehen, sich des Vortheils zu
erfreuen, daß die höchste politische Persönlichkeit Deutschland's sie von Zeit zu
Zeit als Mundstücke benutze, mit Rußland über Soll und Haben abzurechnen
beginnen", so „dürfen England, Frankreich und Oesterreich wohl zuversichtlich
hoffen, daß Deutschland sie fest und entschieden in ihrem Entschlüsse unter¬
stütze» wird, die Erfüllung des Berliner Traktates nach seinem Wortlaute her¬
beizuführen, und daß Rußland, wenn es ein Abweichen von seinen feierlichen
Verpflichtungen gegen Europa im Auge haben sollte, mit seinen Bemühungen,
die orientalische Frage wieder aufs Tapet zu bringen, gänzlich isolirt und ohne
Freund und Fürsprecher sein würde."
In Frankreich fragt der „Temps", nachdem er bemerkt, die russische Presse
beschäftige sich viel mit dem Auslande, weil sie innere Fragen nicht erschöpfend
behandeln dürfe: „Wenn der ,Golvs' lange Zeit hindurch der Vertreter jener
freisinnigen öffentlichen Meinung in Rußland war, die so gern ihr Augenmerk
auf Deutschland richtete, woher kommt denn die jetzige Wandlung in seiner
politischen Ansicht, die nämlich, daß der ,Golos° seine frühere Theilnahme für
Deutschland erkalten läßt und sich von diesem Lande wegwendet?" Das fran¬
zösische Blatt findet die Erklärung darin, daß die Erhaltung der russischen
Sympathieen dem Schwinden des früheren Prestiges Deutschland's parallel
laufe. „Dieses Land," so meint der weise Franzmann, „welches sich unter der
Leitung der rückwärts strebenden Politik des Fürsten Bismarck befindet, be¬
ginnt sein Ansehen in den Augen von Leuten einzubüßen, die für ihr Vater¬
land eine Entwickelung wünschen, welche sich im Geiste der Freiheit und des
vernünftigen Fortschritts vollzieht."
Recht bezeichnend ist der Leitartikel, den das „Journal des Dcbats" vom
21. März unserer Darstellung der Gortschakvff'schen Politik zu widmen für
gut befunden hat, und so wollen wir ihn unverkürzt solgen lassen.
„Ich will nicht wie eine Lampe verlöschen, die ausgeht, sondern wie ein
untergehender Stern, hat vor drei Jahren zu Reichsstadt in dem Augenblicke,
wo die beiden Kaiser von Rußland und von Oesterreich sich begegneten, um
sich über die erste Theilung der Türkei zu verständigen, der Fürst Gortschakosf
gesagt. Lampe oder Stern — der deutsche Reichskanzler behauptet, daß er im
Erlöschen ist, und so läßt er es durch Herrn Moritz Busch, seinen dienstbaren
Geist (llollunö ä wi) sein ,Büschchen^, wie er ihn während des Feldzuges von
1870 nannte, den wohlbekannten Verfasser eines ebenso pikanten als berühmten
Buches, erklären. (Wir erlauben uns hier abermals die Frage, woher man
das weiß, woher man das so bestimmt und sicher weiß, daß man es als selbst¬
verständlich behauptet?) Der Artikel des Herrn Busch, der in einer Leipziger
Wochenschrift, den ,Grenzboten'. erschienen ist, macht jetzt die Runde durch
Deutschland und wird als Entgegnung des Fürsten Bismarck auf die heftigen
Angriffe betrachtet, deren Gegenstand der Letztere seit einiger Zeit beinahe in
allen russischen Journalen gewesen ist. Von jener Reichsstädter Aeußerung,
die er der Welt auf diese Weise zum ersten Mal enthüllt, geht der Vertraute
des preußischen Ministers ans, um die Verdienste des Fürsten Alexander
Michailowitsch als Staatsmann und Diplomat einer Würdigung zu unter¬
ziehen und dieselben sehr winzig (bion mines) zu finden. Er zeigt ein uner¬
meßliches Mißverhältniß zwischen seiner Eitelkeit und seinem Scharfblick, er
tadelt, daß er sich mit immer schwächer werdenden Händen an die Macht an¬
klammere, und bedauert (was beiläufig in unserm Artikel nicht entfernt ge¬
schehen ist und niemals geschehen könnte) den Kaiser Alexander, der in Folge
einer an Schwäche grenzenden Gutmüthigkeit zögere, sich von einem Diener
zu trennen, dessen hohes Alter viel weniger zu bestreiten ist als je seine Geistes¬
kraft (of-lsur). Dieser Hieb ist von äußerster Grobheit (et'uns ruässss sx-
trZms), und es ist uns unmöglich, den deutschen Reichskanzler nicht zu beklagen,
den ein tragisches Geschick so zu verurtheilen scheint, seine alten und großen
Freundschaften alle eine nach der andern zu brechen. Nach dem Grafen Arnim,
nach Herrn Delbrück, nach Herrn v. (N. as) Camphausen ist die Reihe jetzt
an den liebsten, an den ältesten Genossen, an den illustren Freund von Frank¬
furt gekommen. 1u ciirocius, ?Matth! (Recht schöne Wehmuth, aber weniger
begründet als schön.)
Und doch würde man eine Ungerechtigkeit begehen, wenn man nicht aner¬
kennen wollte, daß in diesem Streite voll Aufregung und Bissigkeit (äSodire-
vuznts) das Recht und die Vernunft auf der Seite des Fürsten Bismarck sind;
denn nur deshalb, weil der deutsche Reichskanzler sich nicht zur Abänderung
des Berliner Vertrages hat hergeben wollen, nur weil er nicht bereit gewesen
ist, die Phantasieen von San Stefano zu Ehren bringen zu helfen, ist er in
der letzten Zeit der Gegenstand moskowitischer Anfeindungen geworden. Nun
aber scheint es uns ebenso naturgemäß als dem Rechte entsprechend zu sein,
daß Herr v. Bismarck, selbst abgesehen von den Interessen Deutschland's, an
der genauen Ausführung der dnrch einen europäischen Areopag feierlich festge¬
stellten Klauseln festhält — einen Areopag, bei dem er persönlich den Vorsitz
führte. Was auch die Journale von Se. Petersburg sagen mögen, der deutsche
Reichskanzler hat während dieses Krieges im Orient in sehr loyaler und gene¬
röser Weise die Schuld der Erkenntlichkeit abgetragen, die er während des
unheilvollen Jahres 1870 übernommen. Daß diese Erkenntlichkeit ihm leicht und
vortheilhaft, am Schluß der Rechnung sogar vortheilhafter für Deutschland als
für Rußland geworden ist, daraus kann man ihm billigerweise keinen Vorwurf
machen. Ein so großer und so wohlerfahrener Genius wie der des Fürsten
Gortschakoff hatte ein solches Ergebniß voraussehen müssen; unendlich viel
tiefer stehende und weniger erfahrene Geister haben es schon zu Anfang der
orientalischen Verwickelung vorausgesehen und vorausgesagt. (Wenn das nicht
Ironie wäre, wofür wir es nehmen möchten, so würde es eine wenig gerecht¬
fertigte und entweder byzantinische, oder auf eine ca,xtg.tlo dEnsvolöntias be¬
rechnete Bescheidenheit sein; denn die ,unendlich viel tiefer stehenden' Geister
sind doch wohl die des ,Journal des Debats'.) So viele Täuschungen sind
gefallen, und so viele Helden sind dahingeschwunden, die Signatur bleibt, und
es gilt, sie zu ehren.
So fahren wir denn trotz all des Geschreies der russischen Zeitungen fort,
an die stritte Ausführung des Berliner Vertrages zu glauben, und wenn der
„Nord" (das bekannte belgische Blatt mit russischen Tendenzen) uns vorwirft,
wir seien zu ,optimistisch' in dieser Angelegenheit, so antworten wir ihm, daß
unser Optimismus sich auf die Haltung gründet, die wir diesen Oxtirous
Naximus annehmen sehen, der sich den eisernen Kanzler nennt, und der immer
seinen Willen zur Geltung zu bringen verstanden hat. Nach einiger Ueber-
legung und mit Unterstützung des Grafen Schuwaloff, der sich nach Se. Peters¬
burg begeben hat, wird Fürst Gortschakoff endlich dahin gelangen, anzuerkennen,
daß ein Vertrag eben ein Vertrag ist, und daß es bei dem erhabenen Worte
des Kaisers Alexander in seinem Manifeste vom 13. Februar verbleiben muß.
Er wird aufhören zu schmollen und wieder anfangen sich zu sammeln und
fortan, gleichviel, ob Lampe oder Stern, von jenem reinen Lichte strahlen,
welches jedem Staatsmann, der dieses Namens wahrhaft würdig ist, die Achtung
vor dem Völkerrechte und dem Weltfrieden verleiht."
Das scheint uns im Großen und Ganzen eine recht verständige und recht¬
schaffene Auffassung der Dinge.
Auch in Rußland hat unser Artikel Erwiederungen hervorgerufen. Der
„Gvlos", auf den er sich hauptsächlich bezog, will nicht offiziös sein. Er be¬
hauptet, Deutschland's politische Presse stehe unter dem unbedingten Einflüsse
des Preßbureaus, und somit wolle es den Deutschen durchaus nicht einleuchten,
daß es in Rußland gestattet sein könne, eine selbständige Meinung über aus¬
ländische Politik zu äußern. Das sei auch mit den „Grenzboten" der Fall,
deren „Redakteur" Busch „bekanntermaßen" (in der That? wirklich?) mit dem
Fürsten Bismarck in Verbindung stehe. Bezüglich der Bemerkungen des
„Temps" erklärt der „Golos", daß dieselben nur theilweise zuträfen. Aller¬
dings könnten die scharfen Maßregeln der letzten Zeit keinen Anklang bei denen
finden, welchen derartige Neuerungen im eigenen Vaterlande höchst unerwünscht
wären; der wahre Grund der Erhaltung der russischen Presse liege aber in
dem Erwachen eines vaterländischen Geistes in der ganzen russischen Gesell-
schaft und in der Ueberzeugung, daß die, welche sich für Freunde Rußland's
ausgegeben hätten, in ihren Beziehungen zu Rußland sich von allzu eigen¬
nützigen Beweggründen leiten ließen. „Nun ist," so schließt der selbstverständ¬
lich wieder aus dem russischen Auswärtigen Amte kommende Artikel, „der Zeit-
Punkt da, wo wir auf eigenen Füßen stehen müssen, ohne weiter auf Bündnisse
zu bauen, die sich im kritischen Augenblicke als nutzlos erweisen, während sie
zur selben Zeit auf den natürlichen Gang unserer äußeren und inneren Politik
störend einwirken."
Die russische „Se. Petersburger Zeitung" hat von unseren Bemerkungen,
die sie als „Auffassung der Politik des Fürsten Gortschakoff Seitens der deut¬
schen Regierung" anzusehen scheint, gleichfalls Notiz genommen. Auch sie bringt
dieselben in Verbindung mit der Reise Schnwaloff's. Sie meint dann, die
russischen Zeitungen müßten sich bei Beurtheilung der Beziehungen zwischen
Deutschland und Rußland auf einen nationalen Standpunkt stellen (einver¬
standen) und nicht Kosmopoliten sein, wie man in Berlin gern möchte.
(Das verlangt niemand, wohl aber darf man beanspruchen, daß der national¬
russische Standpunkt sich auf gleichem Niveau mit dem Völkerrechte und dem
Weltfrieden, nicht aber über demselben befinde.) „Eine nationale Auffassung
der gegenseitigen Interessen bedingt noch nichts Feindseliges, sondern führt nur
näher zum Ziel und hebt jede Frage auf den richtigen Standpunkt." (Sehr
wahr, mit der eben angeführten Einschränkung.) „In den letzten Jahren, die
letzten Monate nicht ausgenommen, ist keine russische offizielle oder staatliche
Erklärung erlassen worden, welche eine Feindseligkeit gegen Deutschland bedingt
Hütte." (Das haben wir nicht behauptet, und das würde bei der allbekannten
Gesinnung des Kaisers Alexander auch gar uicht möglich gewesen sein, wohl
aber haben wir auf die Angriffe gegen Deutschland von Seiten der nach
unserer wohlbegründeten Meinung von der Kanzlei des Fürsten Gortschakoff
inspirirter russischen Presse hingewiesen und daraus Schlüsse ziehen zu dürfen
geglaubt.) Zum Schlüsse hält die Zeitung die Fabel, daß Rußland im Mai
1875 Deutschland vom Kriege mit Frankreich zurückgehalten habe, aufrecht und
knüpft daran die Verdächtigung, Fürst Bismarck und der „Kriegspartei" sei es
wünschenswert!), an der Spitze des russischen Auswärtigen Amtes statt des
Fürsten Gortschakoff eine andere Persönlichkeit zu sehen — Behauptungen, in
Betreff deren wir getrost den Lesern überlassen können zu beurtheilen, wer die
Wahrheit gesprochen hat, Fürst Bismarck in seinen Aeußerungen gegen Blowitz
oder der russische Journalist, der für Gortschakoff platirt.
Die deutsche „Se. Petersburger Zeitung" endlich bringt — unbegreiflicher
Weise in derselben Nummer vom 20. März, in der sie den eben analysirten Artikel
ihrer russischen Kollegin wiedergibt — eine Berliner Korrespondenz, die mit
der Miene, aus unterrichteten Kreisen zu kommen, unsern Aufsatz „einfach als
Phantasiegebilde sensationellen Charakters" bezeichnet. Der Verfasser des Auf¬
satzes ist auch hier Moritz Busch; er ist auch hier Redakteur der „Grenzboten"
die „ihren erlöschenden Ruhm wieder aufzufrischen und die Aufmerksamkeit auf
sich zu lenken suchen, um das Unternehmen wieder in Gang zu bringen"; Herr
Busch „gibt sich auf Grund seiner früheren dienstlichen Bekanntschaft mit dem
Fürsten Bismarck auch jetzt noch das Air, als sei er in die Geheimnisse der
Diplomatie eingeweiht und als sei er von sachverständiger Seite inspirirt
worden"; die Blätter, die den Artikel „Gortschakoffsche Politik" abgedruckt,
sind auf eine „plumpe Aufforderung hineingefallen", und dergleichen mehr.
Wir können dazu nur sagen: Zwar rührend schlecht unterrichtet, aber
um so dreister und nebenbei recht ordinär. Aber wir wundern uns nicht. „Je
unwissender, desto unverschämter" — das pflegt ja die Regel zu sein, nach
welcher die Betriebsamkeit mancher und leider zu vieler Skribenten arbeitet, die
in Korrespondenzen machen und Enthüllungen verüben. Wir dürfen uns
trösten; denn
„Ihres Bellens lauter Schall
Beweist nur, daß wir reiten —
Ja reiten."
Wenn sich einmal ein unternehmender Kopf finden wird, der uns von der
vielgeschmähten deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts ein Vorurtheilsfreies,
frisch aus den Quellen geschöpftes Gesammtbild zeichnen wird, ohne zum so und
so vielten Male den alten Kohl unserer Literaturgeschichten aufzuwärmen —
einen geistvollen, leider in seiner Darstellung etwas ungenießbaren Versuch in
dieser Richtung hat 1870 C. Lemcke im ersten (bisher einzigen) Bande seiner
Geschichte der deutschen Dichtung gemacht — so wird er in den trefflichen
Brockhaus'schen Neudrucken deutscher Dichter des 17. Jahrhunderts, einer der
vier bekannten Brockhaus'schen Textsammlungen zur Geschichte der deutschen
Dichtung, eine ganz unschätzbare Förderung finden. Auch der eben ausgegebene
13. Band der genannten Serie, der uns den merkwürdigsten Vertreter jener
inbrünstigen geistlichen Erotik, die der Katholizismus des 17. Jahrhunderts in
Deutschland zeitigte, Friedrich spe, den Dichter der „Trutznachtigal", vorführt,
schließt sich seinen Vorgängern in jeder Beziehung würdig an. In der üblichen
Einleitung (S. 1—64), einer Arbeit, die von musterhafter Gründlichkeit und
großer Sachkenntniß in der ziemlich entlegenen einschlägigen Literatur zeugt,
gibt der Herausgeber über spe's Lebenslauf Rechenschaft, namentlich über die
beklagenswerthe Stellung, die er gegen seine Ueberzeugung Jahre lang als
Beichtvater von unglücklichen Opfern, die in Hexenprozessen verurtheilt worden
waren, einnehmen mußte, und berichtet über seine mannichfaltige, zum guten Theil
eben gegen den Hexenwahn gerichtete schriftstellerische Thätigkeit. Da aber die
„Trutznachtigal" erst 1649, vierzehn Jahre nach dem Tode spe's, veröffentlicht
wurde und vorher nur in Abschriften verbreitet war, so gibt uns die Einleitung
auch sorgfältige Nachweise über die erhaltenen Originalmanuskripte, charakterisirt
mit rühmlicher Objektivität den eigenthümlichen Inhalt und Ton, sowie die
sprachliche Seite von spe's geistlichen Liedern und bespricht endlich die bis¬
herigen Ausgaben und Bearbeitungen der „Trutznachtigal", sowie die umfängliche,
aber, wie es scheint, wenig ergiebige ältere Literatur über spe's Leben. Der
Text der Dichtungen selbst ist, wie gewöhnlich, im strengsten Anschluß an die
Originalausgabe mitgetheilt und mit den nöthigen sprachlichen Erläuterungen
versehen.
Entgangen ist es dem Herausgeber, daß Felix Mendelssohn 1847 unter
der Ueberschrift „Altdeutsches Frühlingslied" zwei Strophen eines Liedes aus
spe's „Trutznachtigal" für eine Singstimme mit Klavierbegleitung komponirt
hat (Ur. 39 der Ausgabe von Breitkopf <K Härtel), freilich in einer gänzlich
verballhornten Textgestaltung. Aus dem geistlichen Erotikon, dem „Liebge¬
sang der Gespons Jesu zum Anfang der Sommerzeit", aus den inbrünstigen
Ergüssen einer Seele, die sich nach Vereinigung mit ihrem Heiland sehnt, ist
ein weltliches Frühlings- und Liebesliedchen geworden, die Klage eines Lieb¬
habers, der von seiner Geliebten getrennt ist; und auch mit der schönen Natur-
schilderung der ersten Strophe sind schwächliche Modernisirungen vorgenommen
worden. Im Folgenden stellen wir das Original der Lesart bei Mendelssohn
gegenüber:
1. Der trübe Winter ist fürbei,
Die Kranich wiederkehren,
Nun reget sich der Vogelschrei
Die Nester sich vermehren;
Laub mit gemach
Nun schleicht an tag,
Die Blümlein sich nun melden;
Wie Schlänglein krumm
Gehn lächlcnd und
Die Bächlein kühl in Wüldcn.
1. Der trübe Winter ist vorbei.
Die Schwalben wiederkehren,
Nun regt sich Alles wieder neu,
Die Quellen sich vermehren.
Laub allgemach
Nun schleicht an Tag,
Die Blümlein nun sich melden;
Wie Schlänglein krumm
Gehn lächelnd um
Die Büchlein kühl in Wüldcn,
6. Wo nur man schaut, fast alle Welt
Zur Freuden thut sich rüsten,
Zum Scherzen alles ist gestellt.
Schwebt alles fast in Lüsten;
Nur ich allein,
Ich leide Pein,
Ohr End ich werd gequälet,
Seit ich mit dir
Und du mit mir
O Jesu, dich vermählet.
2. Wo man nur schaut, fast alle Welt
Zur Freude sich thut rüsten.
Zum Scherzen Alles ist gestellt.
Schwebt Alles fast in Lüsten.
Nur ich allein.
Ich leide Pein,
Ohr' Ende werd' ich leiden.
Seit du von mir,
Und ich von dir.
O Liebste, mußte scheiden.
Es wäre interessant zu wissen, ob Mendelssohn diese Veränderungen mit dem
Originale selbst vorgenommen hat, was allerdings nicht unwahrscheinlich ist, da
er auch an modernen Liedertexten bisweilen in unfaßbarer Weise sich vergriffen
hat (man denke an das Heine'sche Lied: „Ich wollt', meine Schmerzen ergossen
sich" und an das, was Mendelssohn in seinem Duett (!) daraus gemacht hat),
oder ob die Modernisirungen bereits aus einer der von Balle genannten neueren
Bearbeitungen der „Trutznachtigal" stammen. Vielleicht ist der Herausgeber
geneigt, uns hierüber aufzuklären?
Die Erläuterungsliteratnr zu den Werken unserer Dichter hat nachgerade
einen nahezu beängstigenden Umfang gewonnen. Es ist oft darüber geklagt
worden, daß unzählige Gebildete heutzutage hervorragende Schöpfungen der
deutschen Literatur, und nicht etwa blos der älteren, nur noch aus den Literatur¬
geschichten kennen, anstatt die Werke selber gelesen zu haben. Man könnte er¬
gänzen: aus den Literaturgeschichten und aus den Erläuterungsschriften. Man
liest gar nicht mehr Schiller und Goethe — nein, man liest über Schiller
und Goethe. Anstatt sich vor allen Dingen unmittelbar und unbefangen mit
dem Dichter selbst zu beschäftigen, wendet man sich zuerst an die, welche be¬
lehrend und erläuternd, preisend und tadelnd sich über den Dichter verbreitet
haben. Diese Thatsache ist nicht hinwegzuleugnen. Es ist aber auch unschwer
zu sagen, wer die Schuld daran trägt. Die Schule mit ihrer heutigen, vor¬
wiegend lehrhaften Richtung, mit ihrer Systematisirungssucht, der es viel mehr
darauf ankommt, daß der Schüler von allem ein bischen wisse, als daß er den
geringsten Theil einer Sache sich wirklich zu eigen gemacht habe, die viel mehr
Gewicht darauf legt, daß er die sämmtlichen Werke eines Dichters der Reihe
nach mit den Jahreszahlen herzählen kann und womöglich gleich noch ein fix und
fertig formulirtes aesthetisches Urtheil dazu, als daß er möglichst viele dieser Werke
selber gründlich gelesen habe — die Schule befördert unleugbar die Neigung
zu äußerlicher todter Vielwisserei. Nicht um die Literatur, sondern um die
Literaturgeschichte ist es ihr zu thun. Die Schule ist es aber auch, die sich
krampfhaft an die Kommentarliteratur anklammert. Wo ist ein Lehrer, der,
man möchte wirklich sagen den Muth bat, noch einen eignen Gedanken über
ein Lessing'sches oder Goethisches Drama zu haben? der sich nicht aus
irgend einer Erläuterungsschrift erst gleichsam die Erlaubniß holte, das zu
denken, was er denkt? Wo ist ein Schüler, der, wenn ihm die Aufgabe gestellt
ist, sich über irgend eine poetische Gestalt oder irgend eine mit einer Dichtung
zusammenhängende aesthetische Frage auszusprechen, nicht vorher aus allerhand
„Einleitungen" und „Erläuterungen" sich erst befangen und konfus machte,
ehe er an die Arbeit geht?
Es kann uns nicht in den Sinn kommen, indem wir diese Gefahren der
Erläuterungsliteratur hervorkehren, ihren Nutzen vollständig leugnen zu wollen.
Worauf es beim Verständniß eines Dichterwerkes vor allem ankommt, das
Verhältniß der Dichtung zu ihrer Quelle zu kennen und sich bewußt zu werden,
was der Dichter aus dieser Quelle gemacht hat, hierzu kann und muß uns
ein guter Kommentar verhelfen. Und aus diesem Grunde, aber auch fast nur aus
diesem heißen wir die vorliegenden Erläuterungen Düntzer's zu Uhland's Balladen
und Romanzen trotz der eben ausgesprochenen Bedenken aufrichtig willkommen.
Wenn irgend ein Bändchen der allbekannten und vielbenutzten Wartig'schen
Sammlung von „Erläuterungen zu den deutschen Klassikern" einem Bedürfniß
entgegenkommt, so ist es das vorliegende.
''
Uhlands Balladen gehören gegenwärtig neben den Schillerschen und
Goethischen zu den populärsten Dichtungen unsers Volkes. In den Mittel¬
klassen unserer höheren Schulanstalten stehen sie schon seit geraumer Zeit im
Vordergründe der deutschen Lektüre. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß sie
auch zu deu am leichtesten verständlichen Dichtungen gehören, vor allem schon
deshalb nicht, weil ihre Stoffe zum Theil doch recht entlegene sind. Sie wur¬
zeln meist in provinziellen und sonstigen wenig geläufigen Sagenkreisen, und
es bedarf, wenn eine völlig klare Einsicht erreicht werden soll, der mannich-
fachsten Spezialkenntnisse in Geschichte und Sage. Nun sind im Laufe der
Zeit von den verschiedensten Seiten Beiträge zur Quellenforschung über Uhland's
Balladen gespendet worden. Aber wie viele überblicken diese zerstreute Literatur?
Wie vielen ist sie zugänglich? So lange nicht das vorhandene Material zu
bequemer Benutzung zusammengestellt wird, ist es so gut wie nicht vorhanden.
Seit Jahren erwartet man von Ludwig Holland in Tübingen, dem wir schon
einen gereinigten, geordneten und vervollständigten Text der Uhland'schen Ge¬
dichte verdanken, eine große kommentirte Ausgabe derselben oder einen selb¬
ständigen Kommentar dazu. Wenn irgend einer, meinte man, so habe Holland
das gesammte einschlägige Material in den Händen, er galt für den einzig
berufenen Interpreten Uhland's. Nun ist ihm, was niemand erwartet hatte,
der flinke, schreiblustige Allerweltskommentator zuvorgekommen, und diesmal hat
er sich durch seine Fingerfertigkeit entschiedenen Anspruch aus Dank erworben.
Das vorliegende Bändchen schließt sich in jeder Weise an die Erläute¬
rungen Düntzer's zu Goethe's und Schiller's Gedichten an. Eröffnet wird es
durch eine zusammenhängende Darstellung „Uhland als lyrischer Dichter"
(S. 1—99), welche zunächst am Faden einer biographischen Skizze die Gedichte
Uhland's in chronologischer Folge aufreibt und die einzelnen Gattungen
derselben kurz charakteristrt. Hieran schließen sich dann (S. 100—320) die
eigentlichen Erläuterungen zu den einzelnen Gedichten in derselben Reihenfolge,
in welcher die 88, beziehentlich, wenn man die zu einem größeren Ganzen zu¬
sammengefaßten einzeln zählt, 96 Uhland'sche Balladen in der gewöhnlichen
Cotta'schen Ausgabe geordnet sind. Unberücksichtigt geblieben sind die 4 „Alt¬
französischen Gedichte", was namentlich um des zweiten willen, „Graf Richard
ohne Furcht", das zu den Lieblingen der deutschen Jugend zählt, zu be¬
dauern ist.
Ueber die Art der Behandlung brauchen wir uns nicht zu verbreiten. Es
sind eben „Düntzer'sche Erläuterungen" mit all' ihren Vorzügen und Schwächen —
für den Kundigen ist damit genug gesagt. Düntzer's Kommentare sind Mate-
ricilsammlungen, die alles enthalten, was bei der Besprechung einer Dichtung
von sachlichen, sprachlichen, poetikalischen und ästhetischen Bemerkungen sich nur
irgend anbringen läßt. Es fehlte höchstens noch, daß auch sämmtliche Bezie¬
hungen jedes einzelnen Gedichtes zur Musik und zur bildenden Kunst nachge¬
wiesen wären; das scheinen aber beides dem Erklärer fremde Gebiete zu sein.
Die einschlägige Literatur übersieht Düntzer trotz Ludwig Holland; wo in
einem Schulprogramm oder einer Zeitschrift ein Beitrag zur Erklärung eines
Uhland'schen Gedichtes gespendet worden ist — nichts ist ihm entgangen.
Schade, daß er nicht in einer Einleitung eine zusammenfassende Uebersicht alles
dessen gegeben hat, was bisher zur Erklärung der Uhland'sehen Balladen ge¬
schrieben worden ist. Es wäre dies sehr dankenswerth gewesen. Jetzt, da es
unterblieben ist, muß man sich die betreffende Literatur aus den Anmerkungen
zusammensuchen. Aber Ordnung, Übersichtlichkeit und Klarheit ist ja überhaupt
Düntzer's Sache nicht. Das Brauchbare und Wesentliche ans der Masse des
Ueberflüssigen auszuwählen und mit einander zu verbinden bleibt meist dem
Leser überlassen. Hervorgehoben zu werden verdient, daß Düntzer den Fehler,
der ihm so oft vorgeworfen worden ist, daß er anch von den simpelsten und ver¬
ständlichsten Dichtungen breite prosaische Umschreibungen gibt, im vorliegenden
Bändchen mit augenscheinlicher Selbstüberwindung und nicht ohne Erfolg bekämpft
hat. Seine absolute Gleichgültigkeit gegen die sprachliche Form aber macht sich
auch hier wieder in der peinlichsten Weise fühlbar. Etwas Unbeholfeneres,
Geschmackloseres als dieses Düntzer'sche Kommentar-Deutsch wird schwer zu finden
sein. Die abscheuliche Manier, alle möglichen Relativsätze, gleichviel in welchem
logischen Verhältniß sie zum Hanptworte stehen, in Partizipia zu verkürzen,
kaun einen beim Lesen förmlich nervös machen.
Auf Einzelheiten einzugehen ist hier nicht der Ort, wiewohl es an Irr¬
thümern und Flüchtigkeiten nicht fehlt. In dem Gedichte „Ein Schifflein ziehet
leise" schraubt einer der Insassen des Schiffes von seinem Wanderstabe
„Stift und Habe" und verwandelt ihn so in eine Flöte. Zu „Habe" bemerkt
Düntzer: „die er oben auf dem Ttabe trug", bildet sich also ein, es handle
sich um Hab' und Gut des Wanderers, um das Bündel, das er vom Stocke
nehme (schraube!), während doch offenbar Zwinge und Griff des Stockes zu
verstehen ist (Vgl. Handhabe). Ein seltsamer Druckfehler (?) findet sich in
den Erläuterungen zum „Schenk von Limburg". Der Kaiser sagt da in der
zehnten Strophe zum Grafen:
„Nun macht die Jagd mich dürsten,
Drum thu mir das, Gesell,
Und gieb mir eins zu bürsten
Aus diesem Wasserquell."
Dazu schreibt Düntzer: „Büßen, schwäbisch und schweizerisch für trinken,
eigentlich die Kehle reinigen, wie auch ausputzen steht." Wenn aber gerade
dasjenige Wort verdorben erscheint, auf das es ankommt, woran soll der Er-
lüuterungsbedürftige sich dann halten?
Technik und Philosophie — zwei Begriffe, die anscheinend himmelweit aus-
einanderliegen, sie sollen vereinigt werden zu einer „Philosophie der Technik"!
Was ist Technik, was ist Philosophie? Technik, als ein Theil der Kunst,
gehört zu den Gebieten des menschlichen Könnens, und zwar bildet sie das¬
jenige Gebiet, welches unter der Herrschaft der menschlichen Hand steht; daher
Technik auch als das Handwerksmäßige in der Kunst bezeichnet worden ist.
Philosophie gehört zu den Gebieten des menschlichen Wissens; sie ist die
Wissenschaft von den Prinzipien, d. h. von den obersten Grundsätzen oder
Grundbegriffen aller Wissenschaften und aller Künste. „Philosophie der Technik"
also wäre die Wissenschaft vom Prinzip der Technik.
Was aber ist das Prinzip der Technik? Um diese Frage zu beantworten,
gilt es, einen kurzen Umweg zu nehmen, der uns auf das Gebiet der Physio¬
logie und der Psychologie sühren wird. Die Physiologie der Sinnesorgane
lehrt, daß, wenn die Dinge und Kräfte der Außenwelt mit unseren Sinnes¬
organen in Berührung kommen, sie durch Vermittelung der Sinnesnerven in
unserer Seele Empfindungen erregen und Vorstellungen erzeugen, die qualitativ
unabhängig sind von der Natur der erregenden Ursache. Wir empfinden Licht,
wenn Aetherschwingungen die Ausbreitung des Sehnerven in unserm Auge
treffen. Aber dieselben Aetherwellen, welche wir mittels unseres Sehorganes
als Licht wahrnehmen, erregen in uns, wenn sie die Haut treffen, die Empfin¬
dung von Wärme, und die Aetherwellen, welche wir durch die Haut als
Schwirren wahrnehmen — das Gehörorgan vermittelt sie uns als Ton. Wir
können auch ein und dieselbe Erregungsursache durch alle unsere Sinnesorgane
zugleich empfinden. Den elektrischen Reiz empfinden wir mittels des Sehorganes
als Blitz, mittels des Gehörorganes als Ton oder Sausen, mittels der Haut
als Prickeln oder stechenden Schmerz; mittels der Zunge erhalten wir einen
Metallgeschmack und durch die Nase Ozongeruch. Ein Schlag auf den Kopf,
der uns, wie man zu sagen Pflegt, Hören und Sehen vergehen macht, erregt
ganz im Gegentheil gleichzeitig die Empfindung von Licht, Ton und Schmerz.
Auch innere Nervenreize, welche die Folge von ungewöhnlicher Blutzusammen¬
setzung, von Kreislaufstörungen oder von Krankheit sind, erregen in uns die
spezifischen Sinnes-Empfindungen, je nachdem sie diesen oder jenen Sinnes¬
nerven treffen. '
Es wirkt also das sogenannte objektive Licht wie jeder andere den Seh¬
nerven treffende Reiz, objektiver Schall erzeugt Tonempfindung, so gut wie
jede andere Erregungsnrsache des Gehörnerven, und dasselbe gilt von den
äußeren und inneren Reizen der übrigen Sinnesnerven. Das Ange sieht nicht,
das Ohr hört nicht, die Haut fühlt nicht, die Zunge schmeckt nicht, die Nase
riecht nicht, sondern die Sinnesorgane sind nur Aufnahmeapparate für die als
Sinnesreize bezeichneten Erregungsursachen der Außenwelt. Die Reize treffen
in den Sinnesorganen die hier ausgebreiteten Zweige der Sinnesnerven, welche
wie ein Telegraphendraht sie fortleiten zu den Nervenzellen im mittleren Theile
des großen Gehirnes. Hier erst erregt der gereizte Sehnerv die Empfindung
von Licht und Farben, hier erst ruft der gereizte Homero die Empfindung
von Geräuschen und Tönen hervor, hier erst entsteht durch die Vermittelung
der gereizten Hautnerven die Empfindung von Hart und Weich, von Warm
und Kalt, hier erst bekommen wir durch den gereizten Geschmacknerven die
Empfindung von Süß und Sauer, von Bitter und Salzig, hier erst empfinden
wir mittels der gereizten Geruchnerven den Dust der Rose wie den Pesthauch
der Verwesung.
Doch nicht passiv empfängt die Seele die Sinneseindrücke, sie ist kein
bloßes Spiegelbild der Außenwelt, sondern sie reagirt gegen dieselbe; die Seele
perzipirt nicht blos, sondern sie cipperzipirt auch die Sinneseindrücke. Diese
Apperzeption der Seele besteht in der Reaktion ihrer früheren, im Gedächtniß
aufbewahrten Erfahrungen gegen die mittels der Sinnesnerven ihr zugeleiteten
Eindrücke der Außenwelt. Jede Sinneswahrnehmung setzt sich zusammen aus
Perzeption und Apperzeption, und die letztere ergänzt die erstere. Wenn wir
auf leichtem Kahne sanft stromabwärts gleiten, so sehen wir die Ufer in ent¬
gegengesetzter Richtung an uus vorübereilen, und wenn wir mit schwellenden
Segeln, den Hafen verlassend, in die See hinausfahren, so sehen wir das Land
langsam zurückweichen. Wir sehen es, dennoch glauben wir es nicht, weil wir
ans früherer Erfahrung wissen, daß das Ufer feststeht, und daß wir uus
bewegen. Wenn wir einen weißen zylindersörmigen Körper mit körnigem Ge-
füge vor uns sehen, so sagen wir — ohne die Härte und den Geschmack des
Körpers zu erproben — auf Grund des Zeugnisses unserer Gesichtswahrneh-
muug, es sei Salz. Die Apperzeption der Seele ergänzt in diesem Falle die¬
jenigen Eigenschaften des Salzes, die nur durch die Mitwirkung des Tahl- und
des Geschmacksorganes wahrnehmbar sind. Das Apperzeptionsvermögen der
Seele, das meistens unbewußt in Thätigkeit tritt, ist ein wesentliches Hilfs¬
mittel für die Erkenntniß der Außenwelt, aber es ist auch die Quelle häufiger
Sinnestäuschungen und die Ursache von Vorurtheilen und Aberglauben.
Die Dinge oder Kräfte der Außenwelt, kurz, die Welt als Gegensatz zu
unserer Seele ist für unser Bewußtsein nur die Ursache unserer Empfindungen
und Vorstellungen. Den bewußten Zustand unserer Seele, der durch die
Sinneseindrücke hervorgerufen wird, bezeichnen wir als Empfindung. Die
Empfindungen aber werden zu Vorstellungen, wenn wir jene auf die Außen¬
welt, als auf ihre Ursache beziehen. Die Vorstellungen, die in unserm Be¬
wußtsein von der Außenwelt entstehen, sind also das individuelle Produkt
unserer Seele; die Welt ist unsre Vorstellung, wir erkennen die Welt nur als
unsre Vorstellung.
Aber die Sinnes-Empfindungen, die mit Beziehung auf die Außenwelt
zu Vorstellungen in unsrer Seele werden, bilden nicht deren einzigen Inhalt.
Die meisten Empfindungen und Vorstellungen sind verbunden mit den Gefühlen
von Lust oder Unlust, beziehentlich von Freude oder Schmerz. Und wie gegen
den Sinneseindruck durch Apperzeption, fo reagirt die Seele gegen die Gefühle
von Lust und Unlust durch Bewegung. Das Organ dieser Reaktion der Seele
ist der Muskel. Mittels der sogenannten motorischen Nerven setzt die Seele
die willkürlichen Muskeln in Bewegung, welche unsern Körper den Dingen
der Außenwelt, die uns Lust bereiten, nähern oder diese Dinge mit unserm
Körper in Berührung bringen, und welche unsern Körper ^von den Dingen
oder diese von ihm entfernen, wenn sie Unlustgefühle in uns erregen. Die
Muskeln, welche der Mensch am häufigsten zur Reaktion gegen Lust- und
Unlustgefühle verwendet, sind die der Hand. Die Hand ist das Hauptorgan,
das Hauptwerkzeug, dessen sich der Mensch bedient, um Dinge zu erlangen, die
ihm Lust und Freude bereiten, und Dinge abzuwehren, die ihm Unlust und
Schmerz erregen.
Unter den Unlustgefühlen nimmt der Hunger die erste Stelle ein; die
größte Summe von Bewegung verwendet der Mensch auf dessen Abwehr durch
Erwerbung von Speise und Trank, die ihm das Lustgefühl der Sättigung und
Erregung angenehmer Geschmacksempfindung verschaffen. C. Rokitcmsky nannte
in einem Vortrage vor der Wiener Akademie der Wissenschaften") den Charakter
des Thieres einen aggressiven. „Dieser aggressive Charakter wurzelt im Hunger
des Protoplasma (des eiweißhaltigen Zelleninhaltes), welcher selbst seinen
Grund hat in der Labilität der thierischen Materie, vermöge welcher diese
fortwährend der Aufnahme geeigneter Stoffe von Außen bedarf, um sich zu
erhalten, damit sie nicht der Zersetzung anheimfalle und sterbe."
Im Urzustande bedient sich der Mensch seiner bloßen Hände, zuweilen
aber auch seiner Füße und Zähne, um sich die Dinge der Außenwelt anzu¬
eignen zur Befriedigung seiner Lust und zur Abwehr seiner Unlust. Sicherlich
war der Mensch im Urzustande viel stärker als jetzt. Das Beispiel unserer
Athleten, die mit Zentnergewichten spielen und am Trapeze hängend einen er¬
wachsenen Menschen mit den Zähnen halten, zeigt uns, welch' hohen Grad von
Muskelkraft auch der moderne Mensch erlangen kann, wenn er seine ganze
Arbeitsthätigkeit auf die Ausbildung und Uebung seiner Muskeln verwendet,
wie es im Urzustande geschah. Das Bestreben nnn, seine Körperkraft zu
schonen und die Wirkungen seiner Hand zu steigern, trieb den Menschen schon
früh zur Aneignung todter oder anorganischer Werkzeuge. Die ersten Werk¬
zeuge in den Anfängen der Kultur find rohe Abbilder der menschlichen Hand
und des Armes, sowie der Fingernagel und der Zähne. Auf höheren Kultur¬
stufen gelangt der Mensch zu dem Bedürfniß, auch andere Organe seines
Körpers durch künstliche Werkzeuge zu ergänzen. Er erfindet optische Apparate
zur Ergänzung seines Sehorganes, akustische zur Ergänzung seines Gehör¬
organes. So kunstvoll aber diese Apparate auch gebaut sind, sie wiederholen
doch nur — anfangs in unbewußter Findung, dann in bewußter Erfin¬
dung oder Nachbildung — die Form des menschlichen Organes, dem sie dienen
und das sie ergänzen sollen.
Von den übrigen Sinnesorganen ist das Tastorgan nur unvollkommen
ergänzt durch die Sonde des Chirurgen. Die Organe.des Geschmackes und
des Geruches entbehren zur Zeit noch der Ergänzung durch technische Apparate.
Dagegen ist das menschliche Sprachorgan in den Blas-Instrumenten nach¬
gebildet. Die bezeichneten Organe des menschlichen Körpers sind in Form
von Werkzeugen in die Außenwelt projizirt. Die Organprojektion oder die
technische Ergänzung menschlicher Organe — das ist das Prinzip der Technik.
Die Organprojektion ist demnach der Grundbegriff der Philosophie der Technik.
Diese aber bildet die Grundlage eines höchst geistvollen Werkes von Ernst
Kapp, mit dessen Inhalt wir uns auf den nachfolgenden Seiten näher beschäf¬
tigen wollen.*)
Kapp bezeichnet sein Buch bescheiden als „Grundlinien einer Philosophie
der Technik" und kündigt es in seinem Vorworte selbst als den Versuch einer
Grundlegung an. Dieser Versuch aber ist entschieden von epochemachender
Bedeutung, und das vom Autor zitirte arabische Sprichwort wird man füglich
ihm selbst gegenüber anwenden dürfen: „Das Verdienst dem Begründer, wenn
auch der Nachfolger es besser machen sollte."
Den Ausgangspunkt für das erste Kapitel bildet das berühmte Wort des
Protagoras: „Der Mensch ist das Maß der Dinge". Mit diesem Satze, sagt
Kapp, war ein für allemal der anthropologische Maßstab formulirt und der
eigentliche Kern menschlichen Wissens und Könnens kenntlich gemacht. Ihm
verdankt ihren ewigen Inhalt die griechische Kunst, deren Meißel in Götter¬
bildern den Idealmenschen verkörperte, und es ist immerhin bezeichnend, daß
sür Sokrates die Bildhauerkunst, der er sich in jüngeren Jahren gewidmet, die
Vorstufe gewesen ist zu seiner späteren geistigen oder ethischen Plastik, ans
Grund der bekannten Tempeliuschrift „Erkenne dich selbst". Hand in Hand
mit der unseren Tagen vorbehalten gewesenen Entdeckung der Einheit der
Naturkräfte geht die Enthüllung auch der Einheit der Menschennatur. Denn
indem der Mensch sich der Einheit seines Wesens, als des ihm bisher unbe¬
wußten Grundes seiner aus den Zusammenhang der Naturkräfte gerichteten
Forschung, bewußt wird, indem er in und aus der Natur, nicht über und
außer ihr denkt, ist sein Denken die Uebereinstimmung der physiologischen An¬
lage mit den kosmischen Bedingungen. Der Mensch nimmt die Außenwelt
nicht blos sinnlich wahr, wie das Thier, sondern er begreift sie, und er unter¬
scheidet in ihr Natur- und Menschenwerk. Von den ersten rohen Werkzeugen,
geeignet, die Kraft und Geschicklichkeit der Hand im Verbinden und Trennen
materieller Stoffe zu steigern, bis zu dem mannichfaltigst ausgebildeten „System
der Bedürfnisse", wie es eine Weltausstellung gedrängt vorführt, sieht und er¬
kennt der Mensch in all' diesen Außendingen, im Unterschiede von den unver¬
änderten Naturobjekten, Gebilde der Menschenhand, Thaten des Menschengeistes,
den sowohl unbewußt findenden, wie bewußt erfindenden Menschen—sich selbst.
Es geschieht dies nach Kapp in zweifacher Weise. Einestheils ist jedes
Werkzeug im weiteren Sinne des Wortes, als Mittel der Erhöhung der Sinnes¬
thätigkeit, die einzige Möglichkeit, um über die unmittelbare oberflächliche Wahr¬
nehmung der Dinge Hinauszugelangen, anderentheils steht es als Werk der
Thätigkeit von Hirn und Hand so wesentlich in innerster Verwandtschaft mit
dem Menschen selbst, daß er in der Schöpfung seiner Hand ein Etwas von
seinem eigenen Sein, seine im Stoff verkörperte Vorstellungswelt, ein Spiegel-
und Nachbild seines Innern, kurz einen Theil von sich vor seine Augen gestellt
erblickt. Da aber das Selbst nur in seinem Leibe „leibt und lebt", so kann
diese vom Menschen ausgehende äußere Welt mechanischer Werkthätigkeit auch
nur als reale Fortsetzung des Organismus und als Hinausverlegung der
inneren Vorstellungswelt begriffen werden. Der Mensch produzirt und pro-
jizirt sich selbst in seinen Gerathen und Werkzeugen nach dem Grundsatze, „daß
aus Jeglichem immer nur das, was in ihm liegt, heraustreten kaun".
Das zweite Kapitel führt uns an die eigentliche Schwelle der Untersuchung.
Die Mitte einnehmend zwischen den Zielen der Forschung: den geologischen
Anfängen und der teleologischen Zukunft, ist der Mensch der feste Punkt, von
dem aus das Denken nach rückwärts und nach vorwärts die Grenzen des
Wissens erweitert und zu dem es aus den Verirrungen subjektiver Ausdeutung
solcher Gebiete, welche jeder Forschung unzugänglich sind, zu erneuter Gesun¬
dung zurückkehrt.
Das dritte Kapitel macht uns mit den ersten Werkzeugen bekannt. Die
Hand liefert in allen denkbaren Weisen ihrer Stellung und Bewegung die
organischen Urformen, denen der Mensch unbewußt seine ersten nothwendigen
Geräthe nachgeformt hat. In ihrer Gliederung als Handfläche, Daumen und
Gefinger ist die offene, hohle, fingerspreizende, drehende, fastende und geballte
Hand für sich allein, oder zugleich mit gestrecktem oder gebogenem ganzen
Unterarm, die gemeinsame Mutter des nach ihr benannten Handwerkzenges.
Nur unter der unmittelbaren Beihilfe des ersten Handwerkzeuges wurden die
übrigen Werkzeuge und überhaupt alle Geräthe möglich. Unter Benutzung der
in der unmittelbaren Umgebung nächst „zur Hand" befindlichen Gegenstände,
erscheinen die ersten Werkzeuge als eine Verlängerung, Verstärkung und Ver¬
schärfung leiblicher Organe. Ist demnach der Vorderarm mit zur Faust ge¬
ballter Hand oder mit deren Verstärkung durch einen faßbaren Stein der
natürliche Hammer, so ist der Stein mit einem Holzstiel dessen einfachste künst¬
liche Nachbildung. Denn der Stiel oder die Handhabe ist die Verlängerung
des Armes, der Stein der Ersatz der Faust. Wie aber das Stumpfe in der
Faust vorgebildet ist, so die Schneide der Werkzeuge in den Nägeln der Finger
und den Schneidezähnen. Der Hammer mit einer Schneide geht in die Umge¬
staltung von Beil und Axt ein; der gesteifte Zeigefinger mit seiner Nagel¬
schärfe wird in technischer Nachbildung zum Bohrer; die einfache Zahnreihe
findet sich wieder an Feile und Säge, während die greifende Hand und das
Doppelgebiß in dem Kopf der Beißzange und in den Backen des Schraubstockes
zum Ausdruck gelangt. Hammer, Beil, Messer, Meißel, Bohrer, Säge, Zange
sind primitive Werkzeuge, gewissermaßen die Werk-Werkzeuge, die urersten Be¬
gründer der staatlichen Gesellschaft und ihrer Kultur.
So quillt ein Reichthum .von Schöpfungen des Kunsttriebes ans Hand,
Arm und Gebiß. Der gekrümmte Finger wird zum Haken, die hohle Hand
wird zur Schale; im Schwert, im Speer, im Ruder, in der Schaufel, im
Rechen, im Pflug, im Dreizack hat man die mancherlei Richtungen des Armes,
der Hand und ihrer Finger, deren Anpassung ans die Jagd-, Fischfang-, Gcirten-
und Feldgeräthe sich ohne besondere Schwierigkeit ergibt.
Der in die Handspitze auslaufende Arm hat an den ursprünglich raub-
thierartig mit Nägeln bewehrten Fingern die natürlichste zum Einschlagen,
Aufreißen und Verwunden geeignete Vorrichtung. Dem entsprechend wird der
Schärfung und Zuspitzung von Holz- und Horustücken passend nachgeholfen.
Das Bruchstück vom Hirschgeweih mit einer Endzacke, die halbe Kinnlade vom
Höhlenbär konnten, so wie sie waren, zur Verlängerung der Hand, deren
gekrümmte Finger härteren Boden nicht zu lockern vermochten, benutzt werden.
Aber auch die Produkte der gesteigerten Industrie verleugnen nicht ihren
Ausgang und ihre wesentliche Bedeutung. Die Dampfmahlmühle und die
Steinhandmühle des Wilden sind eben beides Vorrichtungen zum Mahlen.
An diesem Punkte zieht Kapp die Ergebnisse der vergleichenden Sprachwissen¬
schaft heran. Nach Lazar Geiger hatte der Mensch Sprache vor dem Werkzeuge
und vor der Kunstthätigkeit. Betrachten wir, sagt er, irgend ein Wort, das
ewe mit einem Werkzeuge auszuführende Thätigkeit bezeichnet: wir werden
ruiner finden, daß dies nicht seine ursprüngliche Bedeutung ist, daß es vorher
eine ähnliche Thätigkeit bedeutet hat, die.nur der ursprünglichen Organe des
Menschen bedarf. Vergleichen wir z. B. das uralte Wort mahlen, Mühle,
lateinisch mola, griechisch 5»^^. Das aus dem Alterthum wohlbekannte Ver¬
ehrer, die Körner der Brodfrucht zwischen Steinen zu zerreiben, ist ohne Zweifel
einfach genug, um in einer oder der andern Form schou für die Urzeit voraus¬
gesetzt zu werden. Dennoch ist das Wort, das wir jetzt für eine Werkzeug¬
thätigkeit gebrauchen, von einer noch einfacheren Anschauung ausgegangen.
Die in dem into-europüischen Sprachstämme sehr verbreitete Wurzel oder
mar bedeutet „mit den Fingern zerreiben", auch wohl „mit den Zähnen
Zermalmen". Diese Erscheinung, daß die Werkzeugthätigkeit von einer ein¬
gehen, älteren, thierischen benannt wird, ist eine ganz allgemeine, und ich weiß
Ne nicht anders zu erklären, als daraus, daß die Benennung älter ist als die
Werkzengthätigkeit, welche sie heute bezeichnet, daß das Wort schon vorhanden
war, ehe die Menschen sich anderer Organe bedienten als der angeborenen
untürlichen. Woher hat die Skulptur ihren Namen? Loiüxo ist eine Nebenform
bon seg.1xo und bedeutet anfangs nur das Kratzen mit den Nägeln. Wir
müssen uns hüten, bemerkt Geiger weiter, dem Nachdenken bei der Entstehung
des Werkzeuges einen zu großen Antheil zuzuschreiben. Die Erfindung der
ersten höchst einfachen Werkzeuge geschah gewiß gelegentlich, zufällig, wie so
Manche große Erfindung der Neuzeit. Ale wurden ohne Zweifel mehr ge¬
funden als erfunden. Diese Ansicht hat sich mir besonders aus der Beobach¬
tung gebildet, daß die Werkzeuge niemals von einer Bearbeitung benannt sind,
sondern immer von der Verrichtung, die sie auszuführen haben. Eine Scheere,
eine Säge, eine Hacke sind Dinge, die scheeren, sägen und hacken. Dieses
Sprachgesetz muß um so auffallender erscheinen, als die Geräthe, die nicht
Werkzeuge sind, genetisch, passivisch nach ihrem Stoffe oder der Arbeit benannt
zu werden Pflegen, aus der sie hervorgehen. Der Schlauch z. B. ist überall
als eine abgezogene Thierhaut aufgefaßt. Als ferneres Beispiel führt Geiger
auch die Scheere an. Scheere bedeutet ein Doppelmesser, ein zweiarmiges
schneidendes Werkzeug. Ehe Scheere und Scheermesser bei den indogermanischen
Nomaden der Urzeit zur Schafschur dienten, wurde die Wolle der Schafe ge¬
rupft. Die Verwandtschaft von scheeren mit scharren, mit dem althochdeutscher
Namen des Maulwurfs hoorn», das scharrende Thier, macht es wahrscheinlich,
daß nach der Grundbedeutung der Worte schaben, kratzen, scharren die Scheere
als ein Werkzeug zum Schaben und Kratzen der Haut zum Zwecke des Rupfens
aufgefaßt sei. Auf solche Weise, sagt Geiger, können wir die Benennungen der
Werkzeuge und auch die Werkzeugthätigkeit selbst in einem langsamen Prozesse
ans einer ganz allmählichen Fortentwicklung der menschlichen Bewegungen,
wie sie anfangs schon dem sich allein überlassenen Leibe des Menschen mög¬
lich waren, entsprungen denken.
Dem Verständnisse dessen, was Geiger die Entwickelung des Werkzeuges
genannt hat, dürfte, wie Kapp hinzufügt, die Berücksichtigung der gleichzeitig
vor sich gehenden Entwickelung des Organes zu statten kommen. Die Hand
des Urmenschen war ohne Zweifel von der Hand des Kulturmenschen sehr
verschieden, insofern ihr erst nach und nach unter dem Einflüsse der ihr durch
den Gebrauch des Werkzeuges möglichen Schonung und Uebung eine größere
Weichheit und Beweglichkeit zu Theil wurde. Sie wurde von der ununter¬
brochenen unmittelbaren Berührung mit der rohen und harten Materie erlöst
und steigerte mittels des Werkzeuges die zur Anfertigung der vollkommneren
Geräthe erforderliche Geschmeidigkeit. So unterstützte in Wechselwirkung das
Werkzeug die Entwickelung des natürlichen Organes, dieses wiederum auf
jeder höheren Stufe entsprechender Geschicklichkeit die Vervollkommnung und
Entwickelung des Werkzeuges. Der erste beste Stein oder Ast, unverändert
wie er sich vorfand, von der Fußhaut des Affen aufgerafft, bleibt Stein und
Ast wie alle anderen Steine und Aeste. In der Hand des Urmenschen aber
ist Stein und Ast die Verheißung des Werkzeuges, die Urzelle eines ganzen
Kulturapparates der fernsten Zukunft.
Weiterhin untersucht nun Kapp die Bewegung des Werkzeuges. Hat die
Hand, sagt er, behufs Ausführung einer hebenden, schneidenden, klopfenden,
drohenden Bewegung „sich befaßt" mit einem Gegenstande, so wird dieser,
je nach Gestalt und Widerstandsfähigkeit und je nach der Beschaffenheit der
Arm- und Handbewegung mitthun, was die Hand thut, in deren Fassung
und Gewalt er sich befindet. Sagt man, daß die Hand „sich" mit einem
Gegenstande „befaßt", so heißt das bei Weitem mehr als das einfache: sie
«ergreift" oder „erfaßt" ihn. Das rückbezügliche „sich" deutet auf die Ueber¬
einstimmung zwischen dem Organe und einem zum Werkzeuge ausersehenen
Gegenstande. Hat sich demnach die hebende Hand mit einer Stange befaßt,
so hebt diese mit und wird zum Hebel, der scharfe und spitze Stein in der
Hand schneidet und dreht sich mit und wird zu Messer, Säge und Bohrer;
denn die schneidende oder bohrende Drehbewegung des Handgelenkes setzt sich
schneidig oder spiralig in dem gefaßten Gegenstande fort und formt ihn
Zu Messer, Bohrer und Schraube. Die Sprache bezeichnet die Hebel-Enden
"ach ihrem Ursprünge als Hebelarme. Wie das Zermalmen mit den Zähnen
vor jeder Mühle da war, so das Sichheben des Armes vor allen Hebeln. In
organischer Bewegung hat die Verrichtung mit Werkzeugen ihren Ursprung, und
die ursprüngliche Bezeichnung einer organischen Bewegung ist die Wurzel der
Namen von entsprechenden Mechanismen.
Die Bewegung der Werkzeuge steht in vollkommener Uebereinstimmung
Mit der Bewegung der menschlichen Gelenke. Als daher die Physiologie diese
Uebereinstimmung erkannt hatte, entnahm sie die Bezeichnung fiir die Bestand¬
theile des Bewegungs-Organismus dem Bewegungs-Mechanismus, und so
kamen Werkzeugnamen wie Hebel, Charnier, Spirale, Schraube, Schrauben¬
spindel, Schraubenmutter u. s. w. aus der Mechanik zur Physiologie; das or¬
ganische Vorbild des Werkzeuges entlehnte die Bezeichnung seiner werkthätigen
Organe seinem mechanischen Nachbilde.
Im vierten Kapitel behandelt Kapp die Gliedmaßen und Maße. Ueberall
und und bleiben bei Jung und Alt, beim Wilden wie beim Kulturmenschen
solgende natürlichen Maße im Gebrauch: der Fuß, der Finger und seine
Glieder, der Daumen, die Hand und der Arm, die Fingerspanne, die Ent¬
fernung der schreitenden Füße und die ausgebreiteten klaffenden Arme, eines
Fingers und eines Haares Breite als Längenmaße; die Handvoll, der Mund¬
voll, die Faust- und die Kopfgröße u. s. w. als Hodl- und Raummaße. Als
Zeitmaß führt Kapp nur an den „Augenblick"; er übersieht den Pulsschlag
des erwachsenen Menschen als den Repräsentanten der Sekunde, des Urmaßes
sür die Stunden, Jahre und Jahrtausende. Unsre ganze Zeitrechnung stützt
sich ja, wie K. E. v. Bär geistvoll ausgeführt hat, auf die Dauer eines mensch¬
lichen Pulsschlages als Einheit.
Mit Maß und Zahl, sagt Kapp, rekognoszirt der Mensch und beherrscht
er die Dinge. Ein primitives Werkzeug, die Zange, dient zum Packen und
Festhalten, das thut zur Noth auch die thierische Klaue — aber mit Maß-
und Zahlstab in der Hand und den Blick auf die Uhr gerichtet, zum Fest¬
halten von Zeiträumen und Raumzeiten im Kalendarium, erreicht der Mensch
seine höchste Aufgabe, die nach dem Sanskrit-Wurzellaut ist: ein Messender zu
sein, ein Ermesser und Denker!
Im fünften Kapitel wendet sich der Verfasser zu den Apparaten und
Instrumenten, und zwar zunächst zu den optischen. Schon im Alterthume
erkannte man die vergrößernde Eigenschaft sphärisch geformter Glasstücke. Die
„Linse" war das erste optische Instrument, und sie blieb das Konstante, die
Seele desselben, durch alle Wandlungen von der einfachen Lupe bis zu den
Sonnen- und Hydrooxygen-Mikroskopen. Nachdem eine Anzahl von optischen
Apparaten und Instrumenten erfunden, in der That aber dem menschlichen
Sehorgane unbewußt nachgebildet war, konnte das physiologische Räthsel des
Auges gelöst werden, und wiederum ging der Name des Instrumentes, „Linse",
später über auf das lichtbrechende Organ im Auge.
Wie die Bezeichnung „Linse", meint Kapp, so lehrt überhaupt die gesammte
anatomische und physiologische Nomenklatur, daß sie im Wesentlichen aus Namen
besteht, welche von Gegenständen entlehnt worden sind, die sich außerhalb des
Organismus befinden, aber besonders von solchen, die der Projektion ange¬
hören. Wie soll es sonst zu verstehen sein, wenn die Konstruktion des Auges
der einer CÄinsrA odscurg. „ganz analog" befunden wird; wenn gezeigt wird,
daß auf der Netzhaut ein verkehrtes Bild der vor dem Auge befindlichen
Gegenstände „ganz in gleicher Weise entstehe wie das Bild auf der Rückwand
einer earaMÄ okseura.", und daß das Auge ein Organ sei, welches den da-
guerreotypijchen Prozeß in außerordentlicher Vollkommenheit ausführe? —
alles Aussprüche, die sich in den physiologischen Schriften von Joh. Müller,
L. Hermann und C. G. Carus finden. Vom Standpunkte der Organprojektion
hat man solche Aussprüche einfach umzukehren und zu erklären, daß die Kon¬
struktion der eawsiÄ odsoura, ganz analog sei der des Auges, daß sie das von
dem Organe aus unbewußt projizirte mechanische Nachbild desselben sei, durch
dessen Unterstützung die Wissenschaft nachträglich in die Vorgänge der Gesichts-
wahrnehmungen hat eindringen können.
Eben solche Beziehungen bestehen zwischen dem Gehörorgan und den
ihm unbewußt nachgebildeten akustischen Apparaten. Was die Linse und das
Daguerreotyp für die Erkenntniß des Sehorganes, das hat das von Pythagoras
erfundene Monochord und das Klaviatur-Instrument der Neuzeit für die Er¬
kenntniß des Gehörorganes geleistet. Auf dem Monochord hatte das Alterthum
die Konsonante für die Töne gefunden, der moderne „Flügel" ist es, dem
Helmholtz den Schlüssel zu dem 2000 jährigen, im innersten Verschluß des
Ohres verborgenen Geheimniß abgelauscht hat. In dem schneckenförmig ge-
wundeueu Theile des inneren Ohres liegt das vom Marchese Corli entdeckte
mikroskopische Gebilde, welches aus einigen tausend Fasern oder Stäbchen von
ungleicher Länge und Spannung besteht. Dieses sogenannte Corli'sche Organ
bildet nach Helmholtz' Untersuchungen eine Art regelmäßig abgestufter Besaitung,
wie wir eine solche an der Harfe und am Klavier kennen. Die 3000 auf ver¬
schiedene Töne abgestimmten Corli'schen Stäbchen entsprechen nämlich den
Klaviersaiten, und es ist jedes solcher Stäbchen mit akustischen Nerven verknüpft,
welche jedesmal mechanisch erregt werden und einen bestimmten einfachen Ton
empfinden, sobald das betreffende Stäbchen in Mitschwingungen versetzt wird.
Später hat Hansen die Ansicht ausgesprochen, daß nicht die Corli'schen Stäb¬
chen, sondern die Grundmembran (auf der sie befestigt sind) je nach der ver¬
schiedenen Breite ihrer Abschnitte auf verschiedene Töne abgestimmt sei.
Helmholtz schloß sich dieser Ansicht an und glaubte nur, daß die Corli'schen
Stäbchen, als relativ feste Gebilde, bestimmt seien, die Schwingungen der
Grundmembran auf eng abgegrenzte Bezirke des Nervenwulstes zu übertragen.
Der geniale Gedanke, fügt Kapp hinzu, vom Klavier aus der Lösung der
Aufgabe näher zu treten, bleibt unangefochten.
Nachdem wir so bisher die wichtigen Beziehungen der menschlichen Hand,
des Auges und Ohres zu ihren in die Außenwelt projizirten technischen Nach¬
bildungen eingehender betrachtet haben, dürfen wir uns bei den übrigen Or¬
ganen kürzer fassen.
Die Beziehungen zwischen dem menschlichen Stimmorgan und der Kirchen¬
orgel sind leicht verständlich. Der Lunge gleicht der Blasebalg, der Luftröhre
die Windlade, dem Kehlkopf die Pfeife, der Mund- und Nasenhöhle das An¬
satzrohr. Aus der Konstruktion der Orgel aber hat wiederum die Physiologie
die wissenschaftliche Erkenntniß des menschlichen Stimmorganes geschöpft. Die
Klappen und Ventile in den technisch konstruirten Pumpwerken sind unbewußt
nachgebildet dem organischen Pumpwerke — unserm Herzen; jene aber haben
wiederum dem wissenschaftlichen Verständniß des Herzmechcinismus gedient.
Endlich mögen von den in die Außenwelt projizirten menschlichen Organen
nur noch die Knochen in Betracht gezogen sein. Der „inneren Architektur der
Knochen" widmet Kapp das sechste Kapitel seines Buches. Es ist eine aus¬
gemachte Thatsache, sagt er, daß neuerdings in den Hoch-Eisenkonstruktionen des
Brückenbaues, besonders bei Eisenbahnen, gewisse Regeln der Architektur in
Anwendung gebracht worden sind, für welche Physiologie und Mathematik das
bisher durchaus unbekannte Vorbild in der Anordnung der Knochensubstanz
im thierischen Körper entdeckt haben. Wenn man nämlich einen Gliederknochen
nach seiner Längsrichtung durchsägt, so sieht man, daß die harte und feste
Rindensubstanz ein schwammiges Knochengewebe (die sogenannte SxonAioss,)
umgibt, welches vorwiegend an den beiden Enden des Knochens entwickelt ist.
Das Gefüge der sxonAiosa erkennt man am deutlichsten an dem oberen Ende
des menschlichen Oberschenkelknochens. Hier war es, wo zuerst Hermann Meyer
in Zürich und Julius Wolfs in Berlin die Architektur des Knochens kennen
lernten. Beim Anblicke der Meyer'schen Präparate erkannte der Züricher
Mathematiker K. Culmann sofort, daß die spongiosen Bällchen genau in den¬
selben Linien aufgebaut seien, welche die Mathematiker in der graphischen
Statik an Körpern entwickeln, die ähnliche Formen haben, wie die betreffenden
Knochen, und ähnlichen Kräfteeinwirkungen ausgesetzt sind, wie diese. Er zeich¬
nete einen Krähn, dem er die Umrisse des oberen Endes eines menschlichen
Oberschenkelbeines gab und bei dem er eine den Verhältnissen beim Menschen
entsprechende Belastung annahm. In diesen Krähn ließ er unter seiner Auf¬
ficht die sogenannten Zug- und Drucklinien von seinen Schülern hineinzeichnen.
Und mit welchem Ergebniß! Es zeigten sich, daß diese Linien in allen Punkten
dieselben sind, welche die Natur am oberen Ende des Oberschenkels durch die
Richtungen, die sie hier den Knochenbälkchen gegeben, in Wirklichkeit ausgeführt
hat. Da der Pauly'sche Brückenträger auf die Theorie der Zug- und Drucklinien
basirt ist, so durfte Wolff mit Recht sagen: die Natur habe den Knochen auf¬
gebaut, wie der Ingenieur seine Brücke. Und weiter: die Natur habe, so zu
sagen, ein mathematisches Problem gelöst und eine wunderbare Bestätigung
der Zug- und Drucklinien gegeben. Und wiederum fügt Kapp hinzu: so ist
der Mechanismus die Fackel zur Erleuchtung des Organismus. Physiologische
Vorgänge sind nicht unmittelbar zu verstehen, sondern sie müssen mit Hilfe
mechanischer Vorrichtungen experimentell begriffen werden.
Das siebente Kapitel ist der Dampfmaschine und dem Schienenweg ge¬
widmet. Was an der Dampfmaschine die hohe Bewunderung einflößt, das
sind nicht jene technischen Einzelheiten, wie etwa die Nachbildung einer orga¬
nischen Gelenkverbindung durch metallene Drehflächen mit Aalglätte, nicht die
Schrauben, Arme, Hämmer, Hobel, Kolben, sondern es ist die Speisung der
Maschine, die Umsetzung der Brennstoffe in Wärme und Bewegung, kurz, der
eigenthümlich dämonische Schein selbsteigener Arbeitsleistung. Hier spricht die
Erinnerung an höhere Herkunft, die den Menschen, dessen Hand das eiserne
Ungethüm gebaut und freigegeben hat zum Wettlauf mit Sturm und Wind
und Wogen, vor sich selbst erstaunen macht, wo jeder prüfende Blick dazu
beiträgt, die Wahrheit des L. Feuerbach'schen Textwortes aller Anthropologie
einleuchtend zu machen, daß der Gegenstand des Menschen nichts anders ist,
als sein gegenständliches Wesen selbst.
Das achte Kapitel betrachtet den elektromagnetischen Telegraphen als das
projizirte menschliche Nervensystem. Auch hier wieder bestätigt sich eine oben
wiederholt schon ausgesprochene Beobachtung, wenn Kapp sich auf die Worte
Alfred Dove's beruft: „Wir verstehen den Mechanismus der Natur immer
erst dann, wenn wir ihn frei nacherfunden haben; so das Auge , nachdem wir
die oamsrs,, die Nerven, nachdem wir den Telegraphen konstruirt." Im zehnten
Kapitel — das neunte, welches sich im Anschluß an Carus und E. v. Hartmann,
mit dem Begriffe des „Unbewußten" beschäftigt, übergehen wir hier — gibt Kapp
eine sehr anschauliche Darstellung der Maschinentechnik nach dem Werke von
I. Reuleaux: Theoretische Kinematik, Grundzüge einer Theorie des Maschinen¬
wesens. Das elfte macht uns mit dem morphologischen Grundgesetze bekannt
nach Zeising's Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, welcher
der „goldne Schnitt" zu Grunde liegt. Die Theilung einer geraden Linie durch
den goldnen Schnitt bewirkt bekanntlich die Herstellung eines Verhältnisses,
wonach der kleinere Abschnitt zum größeren sich verhält, wie dieser zur ganzen
Linie. Zeising hat durch zahlreiche Messungen nachgewiesen, daß, wenn die
vom Scheitel bis zur Sohle gezogene Längslinie des menschlichen Körpers
durch den goldnen Schnitt getheilt wird, die Theilung regelmäßig in den Nabel
fällt; es verhält sich demnach der kleinere obere Abschnitt des Körpers (der
sogenannte Minor des goldnen Schnittes) zum größeren unteren Abschnitt (dem
Major des goldnen Schnittes), wie dieser zur ganzen Längslinie. Theilt man
den Minor und den Major nochmals durch den goldnen Schnitt, so fällt die
Theilung der Minorlinie auf die Verbindung von Hals und Rumpf, die Thei¬
lung der Majorlinie auf den unteren Rand der Kniescheibe. So kann man
die Theilung durch den goldnen Schnitt mit jeder Minor- und Majorlinie
beliebig fortsetzen; immer wird man finden, daß entweder der Minor oder der
Major, oder auch beide, eiuer bestimmten Gliederung entsprechen, und daß alle
Gliederabschnitte des menschlichen Körpers zu einander in einem bestimmten
Normalverhältnisse stehen. Kapp zeigt nun, daß die Grundform zweckmäßig
konstruirter Werkzeuge, wie z. B. die amerikanische Axt, in Uebereinstimmung
steht mit dem Normalverhältniß des menschlichen Organes, dem sie dienen.
Die letzten beiden Kapitel des Kapp'schen Werkes endlich behandeln die
Sprache und den Staat. Daß auch der letztere in den Rahmen einer „Phi¬
losophie der Technik" hineinpaßt, davon wird der Verfasser schwerlich jemanden
vollständig überzeugen; dagegen sind die technischen Beziehungen der Sprache
von Kapp sehr glücklich und geistvoll aufgefaßt worden. In der Sprache, sagt
er, hört der Unterschied von Kunstwerk und Werkzeug, der sonst durchweg
feststeht, ganz auf. Indem sie erklärt, was sie selbst ist, übt sie gerade das
aus, was sie erklären will. Mithin ist sie das Werkzeug, sich als ihr eignes
Werkzeug zu begreisen, also ein vergeistigtes Werkzeug, Spitze und Vermitte¬
lung zugleich der absoluten Selbstproduktion des Menschen, Gedankenform in
dem Sinne, daß die Form selbst Gedanke und der Gedanke Form ist, ist auch
sie die Einheit eines letzten Unterschiedes. Je nach ihrer Berufung an das
Ohr oder an das Auge, wird die Sprache als Lautsprache und als Schrift¬
sprache unterschieden. Die Schrift erklärt Kapp als „aller Manufakte höchstes;
sie ist die Einheit von einem Idealen und Realen, ein Kunstwerk, dessen Zauber
in der ing,nil propria-Namens Zeichnung, als kürzester sichtbarer Abbreviatur
einer Persönlichkeit, den ganzen Menschen in sich begreift und dokumentirt.
In der Schrift ist die Sprache permanent, die Schrift ist der verzauberte Laut
aus dem sie in jedem Moment wieder ausklingen und auf's neue als lebendiges,
Wort den Geist des Hörers bannen und fortreißen kann. Kurz, der Buchstabe
ist das Symbol einer unzerstörbaren Zusammengehörigkeit, der gegenseitigen
Immanenz von Gehörten und Erblicktem, von Buch als Schriftzeichen und
von Stab als Lautklang, von Rede und von Schrift, mit einem Wort: er
birgt das Sprachganze. Lebt daher und entwickelt sich die Sprache als Natur¬
macht im Menschen, so ist dessen Handschrift die Signatur seiner Abstammung,
d. h. der im Allgemeinen und im Besonderen, nach Race und Nationalität, je
nach dem Naturell des Individuums ausgeprägten Naturbestimmtheit. Dem
„Sprich, und ich will dir sagen, weß Volkes und Geistes Kind du bist" tritt
im Allgemeinen die Auskunft ebenbürtig an die Seite, welche die Charaktere
der Handschrift über den Charakter des Schreibers ertheilen. Nehmen wir die
Sprache als ein Ganzes, dem Ganzen der Menschheit Eigenthümliches, so er¬
scheint sie, nach dem Zweck der Verständigung und Belehrung, als Werkzeug,
aber nach dem Inhalt ihres universalen Kernstoffes als Produkt. Auf dem
ganzen bisher durchschrittenen Gebiete war das Werkzeug nach seiner Ent¬
stehung um so deutlicher von den Objekten seiner Wirksamkeit zu unterscheiden,
je mehr in die Sinne fallend der zu beiden verwendete Stoff war. Mit der
allmählichen, sogar bis zum Lufthauch sich steigernden Verfeinerung des Stoffes
verlor sich der Unterschied in ein Dunkel, aus dem er noch einmal strahlend
in dem Sondergebiete eines reinen Manufaktes, in der Handschrift, hervortrat,
um dann in der allgemeinen Sprachsphäre sich gänzlich zurückzuziehen.
Dies ein kurzer Auszug aus der Fülle von Thatsachen und scharfsinnigen
und überraschenden Folgerungen, aus denen Kapp seine „Philosophie der Technik"
aufgebaut hat. Wir zweifeln nicht, daß derselbe unsere Leser zu eignem, ein¬
gehenderen Studium des geistvollen Werkes angeregt haben wird.
Sofort nach Kayser's Ankunft in Rom ging Goethe mit ihm an's Werk.
Kayser führte feine Komposition auf dem Klaviere vor, seine Gegenwart machte,
wie Goethe sich äußerte, „eine sonderbar anschließende Epoche". „Ich sehe, man
soll seinen Weg nur ruhig fortgehen, die Tage bringen das Beste, wie das
Schlimmste." Die kleinen häuslichen Störungen, die Kayser's und Tischbein's
Ankunft und Beherbergung verursachten, waren bald überwunden, um so mehr,
als. Goethe in Kayser „einen trefflich guten Mann fand, der zu seinem Natur¬
leben, wie es nur irgend auf dem Erdboden möglich, völlig paßte". Die häus¬
liche Ordnung war bald hergestellt, die unterbrochenen Arbeiten nahmen neben
den musikalischen Bestrebungen ihren regelmäßigen Verlauf. Ein Lob Kayser's
übertraf das andere, auch der Herzog von Weimar wurde in das Interesse ge¬
zogen, wohl nicht ohne Rücksicht auf das, was Goethe durch ihn zu erreichen
suchte. Goethe gestand, durch Kayser die italienische Musik erst zu genießen,
weil man doch in der Welt ohne wahre innere Erkenntniß nichts recht genießen
könne. Es war ein außerordentlich reges Leben, das sich nach Goethe's eigner
Beschreibung entfaltete. Kayser's Klavierspiel in dem Künstlerkreise, der Vor¬
trag von Kompositionen zu Goethischen Dichtungen, unter denen bereits die
Symphonie zu „Egmont" war, der Verfolg der italienischen Kirchenmusiken, die
geschichtlichen Studien über die Tonkunst, durch welche Kayser in die italienischen
Bibliotheken geführt wurde und als Polyhistor auf fern abliegende interessante
Dinge kam — das alles kennzeichnet das vielgestaltige Leben, an welchem
Kayser wahrlich einen nicht geringen Antheil hatte. Goethe wurde aber auch
nicht müde, den Ruhm Kayser's nach allen Seiten hin zu verbreiten.
Unter diesen Bestrebungen eilte der italienische Aufenthalt beider seinem
Ende entgegen, den übrigens Kayser in Rom nur einmal unterbrochen hatte.
Während die Kompositionen zum „Egmont" vollendet wurden, vertieften sich
beide auch in die italienische Kirchenmusik, und namentlich machte sie Kayser
zum Gegenstande seines Studiums. Schließlich stand Goethe doch früher am
Ziele seiner Thätigkeit; nur um Kayser's willen, der noch einige Studien zu ab-
solviren hatte und Noten sammelte, verzögerte er die Rückkehr nach Deutschland.
Der Tag der Abreise war ursprünglich auf den 22. oder 23. April festgestellt,
und nun eilte Kayser, reich beladen mit musikalischen Schätzen, nochmals nach
Weimar, um von neuem dort die dramatisch-musikalischen Versuche Goethe's
zu unterstützen, denen sich inzwischen bisher kaum geahnte Schwierigkeiten ent¬
gegengestellt hatten.
Goethe's Haus stand dem Jugendfreunde offen, der treue Philipp hatte
dasselbe zur Empfangnahme für beide bereitet. Hier endlich, so meinte man,
sollte sich Goethe's Wunsch verwirklichen. „Ich hoffe," schreibt er an Karl
August (den 6. Mai 1788), „die Umstände sollen sich fügen, daß Käufer das,
was wir mitbringen genießbar machen kann."
Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Wie sich seit Goethe's Eintritt
in Weimar (18. Juni 1788) in Bezug auf seine musikalischen Pläne die Dinge
gestalteten, läßt sich nicht durchschauen. Das bewegte Leben der ersten Zeit,
die herannahende Wiederabreise Kayser's, der am 15. August mit der Herzogin
Anna Amalie abermals nach Italien zu gehen bestimmt war, schloß, wie sich
Goethe ausdrückt, alle Hoffnung auf die schöne Tonkunst für ihn zu. Vor
allem aber war, wie David Heß") versichert, eine kleine Mißstimmung zwischen
dem Dichter und dem Komponisten eingetreten, die sich auf's engste an
die auseinandergehenden Ansichten über die Aufführung der Oper anschloß.
Auch das, was Goethe bezüglich der Versorgung Kayser's in Weimar im Stillen
betrieb, gelangte nicht zum erwünschten Abschluß. Vielleicht sollte Kayser's
Werth von neuem sich aus der Reise der Herzogin bewähren, die bei ihren
musikalischen Bestrebungen mehr als andere die Bedeutung des Goethischen
Freundes zu beurtheilen im Stande war.
Da trat das unerwartete, aber nach der Anlage seines ganzen Charakters
nicht eben befremdende, für seinen weiteren Lebensgang aber bestimmende
Moment ein, daß Kayser durch sei« offenes, gerades Wesen, das zuweilen in
urwüchsige Derbheit sich verkehrte, in MißHelligkeiten mit dem Gefolge der
Herzogin verwickelt wurde, plötzlich zum Erstaunen Goethe's aus dem Gefolge
der Herzogin ausschied und seiner Heimat zueilte, in der er am 10. Sep¬
tember 1789 wieder anlangte.
Dieser Umstand trug zwar nicht zum völligen Bruche mit Goethe bei,
beide korrespondirten noch während des Jahres 1789 miteinander. Namentlich
war es Kayser, der die Verbindung aufrecht erhielt, während Goethe in seinem
Leben voller Zerstreuung nur spärliche Zeichen seiner alten Anhänglichkeit gab.
Wie die Oper („Scherz, List und Rache") von Kayser komponirt war, entsprach
sie schließlich doch nicht den gehegten Erwartungen, und die ganze Arbeit drohte
verloren zu gehen. Noch dachten beide an eine musikalische Umarbeitung. Goethe
wünschte die Weglassung der Rezitative; „mögen," schreibt er, „die prosaischen
Deutschen den sanglosen Dialog deklamiren".
Vielleicht hätte die Verbindung beider sich noch fortgesetzt, Kayser wäre
nach Goethe's Wunsch an die Umarbeitung der Oper im Laufe des Winters
herangetreten, wenn er nicht dnrch die Mittheilung überrascht worden wäre,
daß Reichardt sich Goethen durch die Komposition von „Claudine" zu nähern
strebte; eine Verbindung, die wesentlich dazu beitrug, daß Kayser sich mehr und
mehr zurückzog, und Goethe ihn bald kaum noch einer Erwähnung würdigte.
Dagegen soll Kayser trotz seiner Spannung mit Goethe nur mit der größten
Hochachtung von diesem gesprochen haben und nie haben merken lassen, daß das
frühere freundschaftliche Verhältniß gestört worden sei.
Erst nach langen Jahren, als Goethe feine italienische Reise bearbeitete,
dachte er des alten Freundes und wandte sich an Zelter, um von diesem ein
eingehendes Urtheil über Kayser's Komposition der Oper „Scherz, List und
Rache" zu erhalten und über seine Kunst ebenso in's Klare zu kommen, wie er
es über seine Studien und seinen Charakter war. Vielleicht bezeichnet das,
was Goethe in der italienischen Reise selbst sagt, das erbetene Urtheil Zelter's.
..Ich selbst — schreibt Goethe als Bekenntniß — war schon über das Maß
des Intermezzo hinausgegangen und das kleinlich scheinende Sujet hatte sich
in so viele Singstücke entfaltet, daß selbst bei einer vorübergehenden sparsamen
Musik drei Personen kaum mit der Darstellung zu Ende gekommen wären.
Nun hatte Kayser die Arien ausführlich nach altem Schnitt behandelt und
Man darf sagen, stellenweise glücklich genug, wie nicht ohne Anmuth des Ganzen.
Allein wie und wo sollte das zur Erscheinung kommen? Unglücklicher Weise
litt es nach früheren Müßigkeitsprincipien an einer Stimmenmagerkeit, es stieg
nicht weiter als bis zum Terzett und man hätte zuletzt die Theriaksbüchse des
Doctors gern beleben mögen, um einen Chor zu gewinnen. Alles unser Be¬
mühen daher, uns im Einfachen und Beschränkten abzuschließen, ging verloren,
als Mozart auftrat. Die Entführung aus dem Serail schlug alles
nieder und es ist auf dem Theater von unserm so sorgsam gearbeiteten Stück
niemals die Rede gewesen."
Dies Geständniß zeigt klar, daß die Bestrebungen Goethe's aus dem musi¬
kalisch-theatralischen Gebiete nicht glücklich waren, daß aber auch Kayser nicht
die Vorbedingungen in sich vereinigte, um sich eine Lebensstellung zu ver¬
schaffen, die seinen hohen Talenten und sonstigen persönlichen Eigenschaften
entsprach. Er blieb Musiklehrer in Zürich bis an das Ende seines Lebens.
Was Goethe vergebens versucht hatte, das unternahmen 1789, als sich
Kayser's Zukunft uicht günstiger gestalten wollte, zwei seiner alten Jugendbe¬
kannter, Klinger und Schleiermacher.
Lange Zeit hindurch war die Verbindung Klinger's mit Kayser unter¬
brochen gewesen, als Klinger in der neuen Ausgabe seiner Werke seiner ge¬
dachte und ihm sogar seine „Neue Arria" widmete. Bald wären aber auch
seine Bemühungen als gescheitert zu betrachten gewesen, als Kayser den alten
Freund endlich eines Briefes würdigte, der bei aller Eigenthümlichkeit des
Tones nicht verkennen ließ, „daß der Bursche gerade noch war, wie vor 17
Jahren". Aus dieser erneuten Verbindung erwuchs das Streben Klinger's, den
Jugendfreund in eine angemessene Lebensstellung zu bringen. „Kaysern muß
geholfen werden und ich habe ihm geholfen, will ihm noch besser helfen," schreibt
Klinger an Schleiermacher (19. Oktober 1792). „Mein Chef der Graf Anhalt
hat mir einen Platz für ihn zugesagt, der schon sehr gut aushilft; das Mehrere
und Bessere wird sich geben und von ihm abhängen. Zu seinem gegenwärtigen
und künftigen Besten ist nöthig, daß Du ihm ein Patent als Hofrath sogleich
verschaffst, dadurch kommt er gleich in hiesigen Dienst. Er wird in unserm
Hause angestellt werden und Du kannst leicht denken, welche Freude mir dieses
macht. Unumgänglich nothwendig ist es, daß er sich in dein Sprechen der
französischen Sprache unaufhörlich übe. Er braucht sie «.IzsowmkQt zu seinem
gegenwärtigen Plaz und eben fo sehr, wenn er von seinen Talenten in der
Musik die Vortheile ziehen will, die ich ihm versprechen kann."
Klinger schlug vor, daß Schleiermacher Kaysern bei sich aufnehmen, ihn zum
Studium des Französischen, der Geographie und Geschichte anhalten möchte.
„Nur hauptsächlich verschaffe ihm den Rang als Hofrath, im Fall Du ihn bis
zu seiner Abreise aufnehmen willst, so schreibe ihm, daß er gleich komme, damit
er seine fatalen Verhältnisse los werde, sich aufheitere, etwas kühner werde und
mit mehr Muth seinen neuen Weg betrete. Gereuen soll es ihn nie. Nur
flöße ihm Zuversicht ein, denn dies ist es, was die Unglücklichen seiner Sinnes
Art nie haben."
Schleiermacher, der damals Kabinetssekretär des Erbgroßherzogs von
Hessen-Darmstadt war, konnte es nicht schwer fallen, in der gewünschten Weise
seinem Jugendfreunde nützlich zu werden. Das ersehnte Hofrathspatent wurde
nicht allein ausgefertigt, fondern lag sogar vordatirt vom 3. August 1791
bereit.
Aber Kayser konnte sich nicht entschließen, wenigstens nicht so bald, den
neuen Lebensweg zu betreten. Die Gründe mochten schwer wiegend sein, und
im Fall Kayser eine leidliche Lage außerhalb Rußland's fand, mußte Klinger sie
gelten lassen. Wahrscheinlich rechnete Kayser, wenn auch nur im Stillen darauf,
daß Goethe ihn doch noch in eine musikalische Stellung berufen werde. „Ich kann
Dir nicht sagen," schrieb Klinger an Schleiermacher, „wie viel mir daran liegt,
daß Kayser zur Ruhe kommt."
Aber die Wünsche Klinger's verwirklichten sich nach keiner Seite hin, er
blieb zwar direkt und indirekt mit Kayser in brieflicher Verbindung, die sich
aber, wie David Heß versichert, in Folge der gewonnenen politischen Anschau¬
ungen Kupfer's lockerte. Kayser übte nach außen hin eine beinahe an Aengst-
lichkeit grenzende Vorsicht, und in den letzten zehn Jahren getraute er sich
überhaupt uicht mehr den Briefwechsel mit seinem Freunde Klinger in Peters¬
burg fortzusetzen. So blieb das Verhältniß beider bis zu Kayser's letztem
Lebensjahre, obgleich beide Freunde mit unveränderlicher Liebe fest einander zuge¬
than blieben. Einen unerwarteten Beweis davon, so erzählt uns David Heß, gab
Klinger seinem Freunde anonym auf eine Weise, daß man an der alten Ergeben¬
heit nicht zweifeln darf. Aber auch jetzt noch blieb Kayser in seiner reservirten
Stellung und konnte sich nicht entschließen, den Faden des Briefwechsels wieder
aufzunehmen. Da Heß mit Klinger zufällig in Verbindung getreten war, betraute
Kayser ihn damit, dem Freunde des Nordens die alten freundlichen Gesinnungen
Zu übermitteln. Sofort antwortete Klinger und schrieb an Heß: „Ich danke
Ihnen für die freundschaftlichen Zeilen, die Sie mir im Auftrag meines treuen
trefflichen edelen Jugendfreundes und geliebten Bruders geschrieben haben.
Sagen Sie ihm von mir, wir seyen nie getrennt gewesen und könnten es auch
uicht sein. Was er mir im siebzehnten Jahre war, ist er mir im siebzigsten."
Bald darauf fchrieb Klinger an Kayser selbst. Der Brief ging leider durch
Unachtsamkeit verloren, nachdem er bereits über die Schwelle der Kayser'schen
Wohnung geleitet war. Kayser verschloß den Unmuth darüber in seiner Seele.
Nur einmal äußerte er sich in wenigen Worten darüber: „Die langersehnten
Zeilen von meinem einzigen Freunde find verunglückt, mir zwar bis in
weine Wohnung zugekommen, aber ihr Anblick ist mir nicht geworden. Wen
der Herr lieb hat, den züchtigt er."
Sicherlich geht aus den Verhältnissen Kayser's zu Goethe, Klinger und
Schleiermacher hinlänglich das Streben hervor, dem Komponisten und Jugend-
freunde eine seinen Talenten entsprechende Lebensstellung zu schaffen. Daß
dies trotz aller Bemühungen nicht gelang, lag zum Theil in Kayser's eigen¬
thümlich angelegtem Wesen und in Lebensverhältnissen, die ausschließlich aus
seinem Berufe und seinem dauernden Aufenthalte in Zürich sich ergaben. Wir
gehen diesem Leben noch im Einzelnen etwas nach; es erklärt vieles.
Während Kayser's musikalisches Talent früh entwickelt und anerkannt war,
stand er zu dem elterlichen Hause, besonders zu dem Vater, der die äußerste
Strenge übte, in einem Verhältniß, welches wenig zu der Bewunderung des
musikalischen Talentes und zu den Ovationen Passen wollte, die ihm allseitig
dargebracht wurden. Dazu kam, daß Kayser's frühestes Liebesverhältniß mit
Säumchen in Frankfurt unaufhörlich und nachdrücklich im elterlichen Hause be¬
kämpft wurde, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Uebersiedelung nach
Zürich in einigem Zusammenhange mit diesen Kämpfen stand, wenn Goethen
auch bedeutendere Gründe leiten mochten, als er ihn dorthin zu vorübergehendem
Aufenthalte empfahl.
Den Ruf, der Kayser vorausging, mehrte insbesondere Lavater, der in
seiner Physiognomik Kayser's Kopf und Profil vier Mal kommentirte und den
jungen Komponisten als das größte musikalische Genie pries. Kayser's äußere
angenehme Erscheinung, die etwas Auffallendes, Vornehmes und Jmponirendes
hatte, seine ungewöhnliche Bildung öffneten ihm die angesehensten Hänser Zürich's;
man rühmte ihm vorzügliches Lehrtalent und allseitiges Streben nach Vervoll¬
kommnung nach. Er trug sich mit großen musikalischen Projekten, beschäftigte
sich, wie wir sahen, mehrfach literarisch, und man kann bei der vielseitigen
Thätigkeit, die er als eifriger Freimaurer, als Dichter, Komponist und Tourist
entwickelte, nicht verkennen, daß er lange Zeit hindurch auf bestimmte Ziele
hinarbeitete und sich zu konzentriren verstand, wenn ihn die Lehrthätigkeit als
Unbemittelten auch vielfach schädigte.
Unverkennbar hat aber auf Kayser's späteres Leben und absonderliches
Wesen der unbefriedigte Drang nach dem Familienleben einen höchst ungünstigen
Einfluß ausgeübt. Noch ein Mal in den mittleren Jahren seines Lebens hatte
er eine tiefe Neigung zu einer Dame gefaßt, der er in Zürich Unterricht ertheilte.
Aber es war und blieb ein auf gegenseitige Achtung und gleichartige Empfin¬
dungen begründetes Verhältniß, das sich nicht zu dem gestalten wollte, was
seinem Herzen Nahrung gegeben hätte.
Allem Anschein nach trug diese Vereinsamung Kayser's dazu bei, daß aus
dem jugendlichen Schwärmer ein abgeschlossener Sonderling wurde, der im täg¬
lichen Berufe aufging, seine Welt und seine Ideen für sich hatte, und der in
der Durchbildung seiner Eigenheiten zu einer gesellschaftlichen Sonderstellung
kam, die er zwar nicht für glücklich hielt, aber zu deren Abstreifen ihm doch
die Kraft, vielleicht auch der gute Wille mangelte.
Der Schwerpunkt seiner Thätigkeit lag in der Erfüllung der Tagespflichten,
die ihm durch den Lehrberuf vorgeschrieben waren. In diesem wirkte er an¬
regend und fördernd. Wenn sein rauhes, gebieterisches und wortkarges Ver¬
halten zunächst seine Schüler abschreckte, so war bei der Zuneigung, die er für
das kindliche Wesen bekundete, bei der Herzensgüte, die ihm eigen war, der
Erfolg seiner Lehrthätigkeit um so gewisser, als ihm die Zuneigung und ehr¬
furchtsvolle Gesinnung der Schüler auf die Dauer nie fehlten.
Anspruchslos war bei allem Ehrgeiz auch sein öffentliches musikalisches
Wirken in Zürich. Er wohnte allen musikalischen Ausführungen bei und wirkte
in ihnen mit, ohne sich mit der Direktion zu befassen. Nur bei der Todtenfeier
seines Freundes Lcwater dirigirte er die musikalische Aufführung in der Gro߬
münsterkirche und da auch nur indirekt. Seine Verschlossenheit, der tiefe Ernst
seiner Stimmung verhinderten die günstigen Wirkungen, deren seine gründliche
musikalische Bildung fähig war; er hätte sich und dem großen Ganzen mehr
sein können. Neben ihm wirkte in Zürich ein gleich tüchtiger edel gesinnter
Musiklehrer Joh. David Brämig, der in seinen Eigenthümlichkeiten Kaysern
jedenfalls nicht nachstand. Beide homogene Naturen näherten sich weder in
ihren: Beruf noch im sonstigen Leben, obgleich sie zehn Jahre an ein und dem¬
selben Orte lebten und wirkten. Beide waren gleich entfernt vom Neid, der
bei gleicher Wirksamkeit den einen oder andern so leicht hätte erfüllen können.
Beide sprachen mit hoher Achtung von einander, aber keiner that einen Schritt
zur gegenseitigen Annäherung, die so viel Ersprießliches hätte wirken können; ja
Heß versichert, daß keiner den andern habe spielen hören.
Neben Lavater's Urtheil über Kayser's musikalische Bedeutung liegt uns
das von Chr. Fr. Daniel Schubart") vor, der sich folgendermaßen äußert: „Kayser
ist der beste musikalische Kopf, die Originalität seines Charakters drückt sich in
allen seinen Kompositionen, wie in seiner Spielart aus; seine Faust ist ge¬
flügelt und schimmernd, der Umriß seiner Passagen stark markirt, seine Manieren
sind rund und schön, sein Triller ist kräftig . . ., sein Satz ist gründlich und
männlich, voll Einfalt und zur Größe aufstrebend. Und doch hat dieser Musiker
wenig Sensation in Deutschland hervorgebracht. Es fehlt ihm an Grazie, an
Gefälligkeit und Leichtigkeit der Melodieen. Sein Satz ist oft mürrisch und
finster." Der größte Tadel, den Schubart ausspricht, ist der, daß Kayser
Originalität affektirt habe, wogegen sich David Heß am meisten wendet, weil
Kayser's edler Stolz und angeborene Originalität diese Verirrung nicht zuge¬
lassen habe.
Das Urtheil Schubart's enthält bei allem Tadel Momente genug, die ge¬
eignet gewesen wären, Kayser's Thätigkeit eine allgemeinere Anerkennung zu
sichern. Seitdem es aber Goethen nicht geglückt war, ihn in ein passendes
Geleis für seinen Lebensberuf zu führen, war es bei dem Naturell Kayser's
leicht begreiflich, daß er aller emporführenden Pläne sich entschlug und kaum
selbständige Versuche machte, seinen Kompositionen dnrch Veröffentlichung der¬
selben Theilnahme und Anerkennung in weiteren Kreisen zu verschaffen. Viele
seiner Schöpfungen sind nicht einmal dem Namen nach bekannt geworden. Unter
ihnen ist eine jedenfalls hervorragende, die Frucht seines zweiten italienischen
Aufenthaltes, die „Römischen Nebenstunden" wahrscheinlich untergegangen, nach¬
dem es Goethen nicht geglückt war, einen Verleger für diese zu finden.
Um so intensiver strebte Kayser in stiller Zurückgezogenheit nach eigner
weiterer Vervollkommnung; sein Freund Heß versichert uns, daß er Polyhistor
in eminenten Sinne gewesen sei. Er hatte sich bei bescheidenen Mitteln in den
Besitz einer reichen Bibliothek gesetzt, die er genau kannte, weil er jedes Buch
exzerpirte. Seine Exzerpte waren systematisch geordnet; er verfolgte alle Er¬
scheinungen auf wissenschaftlichen Gebieten, unter denen besonders die deutsche
Literatur und Gelehrtengeschichte eine hervorragende Stelle einnahmen. Besonders
reich war der Artikel Bibliographie, der sich über alle denkbaren Fächer ver¬
breitete und eine Masse anscheinend unwichtiger.Notizen enthielt, die ihm aber
alle von hohem Interesse waren, weil sie für irgend einen Zweck sich förderlich
erweisen konnten. So nahm er alles auf, nicht blos was dem höheren intel¬
lektuellen, sondern auch was dem praktischen Leben gehörte, und dennoch führte
er ein blos kontemplatives Leben, und weder sein Aeußeres, noch seine immer
gehaltreiche, wenn auch lakonische Konversation ließen in ihm die Pflege klein¬
licher Detail-Liebhaberei vermuthen, da sie bei der angeborenen Kraft seines nach
Idealen strebenden Geistes ihm keinen Eintrag that; ein universelles Streben
blieb ihm stets.
Im schneidenden Gegensatz zu den wissenschaftlichen Bestrebungen standen
seine Ansichten über das Gebiet der Geistesaufklärung, die er nur in höchster
Beschränkung verbreitet wissen wollte. Es hing dies unstreitig mit seiner politi¬
schen Richtung zusammen, die in der Jugend freisinnig, sich mehr und mehr,
namentlich seitdem die Wirkungen der französischen Revolution fühlbar geworden
waren, konservativ gestaltete, bis er dann völlig mit den neuen Formen der
politischen Welt brach und als ihr schroffster Gegner anzusehen war.
Ueber sein sonstiges Leben, dem es an Monotonie nicht gebrach, liegen uns
nur wenig Nachrichten vor. Nur in einer Richtung muß er Bedeutendes ge¬
leistet haben. Es war sein maurerisches Denken und die eminent nachhaltige
Thätigkeit auf diesem Gebiete, die er von seinem Eintritt in Zürich bis zu dem
letzten Athemzuge bethätigte. Er galt, und wohl nicht mit Unrecht, als ein tief
Eingeweihter in die königliche Kunst, er unternahm bedeutende Reisen in Ange¬
legenheiten seiner Loge; schon 1782 entsandte sie ihn mit Diethelm Lavater auf
den großen Freimaurer-Kongreß uach Wilhelmsbad, und 1811, als die Züricher
Loge ihre Arbeit nach längerer Unterbrechung wieder aufnahm, wollte sie ihn
zum Großmeister ernennen. Kayser's Bescheidenheit ließ die Annahme dieser
ehrenvollen Stellung nicht zu; aber er blieb dem maurerischen Streben mit
seinem überlegenen Wissen und seinem Thatendrange bis zu seinem Ende treu.
Freunde wie Klinger schrieben wohl aus Unkenntniß dessen, um was es sich
bei diesen Bestrebungen handelte, die Ausbildung des eigenthümlichen Wesens
seinen maurerischen Schwärmereien zu. „Er ist ein Schwärmer, lebt mit
Schwärmern und wer mag die verstehen!" Welt- und Menschenkenntniß sprach
Klinger dem Freunde ab, dessen Herz „durch keine schwarze Erfahrung geengt"
worden sei.
Kayser war der Mann musterhafter Ordnung. Er zeichnete sich, nachdem
er alle weiterführenden Pläne, wie es scheint bald nach seiner Rückkehr aus
Italien, aufgegeben, durch ein beispiellos regelmüßiges und einfaches Leben aus.
Trotzdem war er in beständigem Kampfe mit den Sorgen des Lebens, in welchen
er aber seinen vollen Ehrgeiz behauptete und anstatt in der Heimat lieber fern
an die Pforten alter Freunde um Hilfe anklopfte. Es entrollt sich uns ein trübes
Bild, wenn wir der Zeiten gedenken, wo Schleiermacher ihn mit edlem Sinne
unterstützte und Kayser's Leben voll von Sorgen und Bekümmernissen verlief,
von dem Goethe, der es „abstrus" zu nennen wagte, wohl keine Ahnung hatte.
In seinen letzten Lebensjahren — so erzählt uns David Heß -— verließ
Kayser seine alte Wohnung, die in der Stadt hinter Zäunen lag, um sie mit
w:er geräumigeren zu vertauschen. Um seine reiche Bibliothek besser entfalten
Zu können, miethete er sich im Hause zur Tanne an der Oberstraße ein und
Mg auch jetzt uoch seinem oft beschwerlichen Berufe nach. Aber allmählich
stellten sich bei ihm auch uoch die körperlichen Beschwerden des höheren Alters
em. Schon 1821 wurde er von der Gicht heimgesucht, die sich auf die Augen
warf und ihn geraume Zeit zur drückenden Unthätigkeit verurtheilte. Zum
Gebrauch einer Kur in Baden konnte er sich nicht entschließen. Obwohl sein
Zustand sich besserte, erholte er sich doch nicht mehr, seine Gesichtszüge fielen
Zusammen, sie waren ernster, düsterer als zuvor. Da regte sich in ihm ein
stilles Heimweh nach seiner alten Vaterstadt Frankfurt, die er so lange nicht
Mehr gesehen hatte. Er beschäftigte sich mit dem Gedanken, dorthin zurückzu¬
kehren und feine Tage an der Seite einer geliebten Schwester zuzubringen.
Aber das Schicksal versagte ihm die Erfüllung dieses Wunsches. Gegen Ende
des Jahres 1823 traf die unerwartete Nachricht von dem Hinscheiden seiner
Schwester ein; das traurige Ereigniß erschütterte ihn tief, obwohl er desselben
uur bei nahestehenden Freunden gedachte.
Am Abend des 19. Dezember kehrte er aus der Stadt zurück und fühlte
steh unwohl. Sein Arzt Dr. Diethelm Lavater, der auf eine starke innere Er¬
regung schloß, erkannte bald die Symptome eines Nervenfiebers. „Es mag etwas
dergleichen gewesen sein", erwiederte Kayser, ohne des Zufalls weiter zu gedenken.
Er fügte sich den ärztlichen Anordnungen und war gefaßt und ruhig. Auch
fand er noch die Kraft, seine Angelegenheiten zu ordnen, seine letzte Verfü¬
gung zu treffen, wobei er auch an die Belohnung seiner treuen Pflegerin dachte.
Im Gefühl des herannahenden Todes kleidete er sich um und begab sich zur
Ruhe. Jeden Beistand leicht abwehrend, verschied er kurz nach Mitternacht.
Er ruht auf dem Friedhofe hinter dem Bethause der Oberstraße.
Was Kayser an maurerischen Schriften besonders verpackt hinterlassen hatte,
wurde der Züricher Loge ununtersucht übergeben, nachdem ein Bruder des Ver¬
ewigten angelangt und den gesammten Nachlaß in Empfang genommen hatte.
Kayser's reiche Bibliothek kam in die Hände der Antiquare, von seinen reichen
Korrespondenzen findet sich nur weniges noch vor oder ist zum Theil unzu¬
gänglich. Schwerlich wird es unter diesen Umständen gelingen, das Lebensbild
Kayser's zu vervollständigen. Seine Bedeutung wird aber auch der vorstehende
lückenhafte biographische. Versuch erkennen lassen.
Als der Tod Kayser's seinem Freunde Klinger gemeldet wurde, erwiederte
dieser kurz darauf in einem Schreiben an David Heß: „Ja er war ein eigner
aber reiner und edler Mensch, gebildet aus, durch und für fich felbst aus seinem
Innern. Sein stiller Geist, fein reines Herz waren feine Lehrer und Leiter
und führten ihn zum stillen Leben, für das er allein geschaffen war."
Am 31. März beendete die Tarifkommission ihre Arbeit und legte damit
dem Reichskanzler das erwünschteste Geschenk auf den Geburtstagstisch des ersten
April. Am 2. April ging der Tarifgesetzentwurf nebst dein Tarif in den
Morgenstunden gedruckt dem Bundesrath zu, auf dessen um 2 Uhr Nachmittags
desselben Tages abzuhaltender Plenarsitzung der Entwurf bereits stand. Doch
erklärten einige Mitglieder, sich so rasch nicht haben informiren zu können; so
wurde der Entwurf auf die Tagesordnung vom 3. April gesetzt und mit un¬
bedeutenden Modifikationen außer einer zum Bundesrathsbeschluß erhoben. Am
4. April Abends ging er bereits als Vorlage dem Reichstage zu, der sich einige
Stunden vorher bis zum 28. April vertagt hatte, doch nicht ohne Anstalt ge¬
troffen zu haben, daß den Reichsboten jede inzwischen etwa eingehende Vorlage
nachgesendet werden könne.
Das Werk ist also da. Es wurde bereits in der ersten durch die Tarif¬
kommission dem Bundesrathe vorgelegten Gestalt bekannt, die wenigen Verän-
derungen, welche der Bundesrath vorgenommen, sind ebenfalls bekannt. Es
hat auch schon Urtheile die Hülle und Fülle gegeben. Zuerst werden, wie
natürlich, die Äußerlichkeiten bemerkt, die etwa zu bemerken sind. Man wun¬
dert sich, daß kein neues System der Tarifklassen aufgestellt worden, nachdem
der Reichskanzler die bisherige Klassifikation wiederholt für mangelhaft erklärt.
Man wundert sich, daß das System der Werthzölle nicht eingeführt worden,
nachdem der Kanzler in seinem Schreiben vom 15. Dezember sich für Werth¬
zölle, die nach Gewichtseinheiten zu erheben, erklärt. Diese Bemerkungen sind
unbestreitbar, was die Thatsache anlangt, aber ungerechtfertigt, soweit sie Tadel
erregen wollen, und unmotivirt, soweit sie Befremden ausdrücken wollen. Die
Tarifkommission hat das Mögliche geleistet, indem sie vom 3. Januar bis zum
31. März die sämmtlichen Positionen des bisherigen Zolltarifs berathen und
größtenteils umgearbeitet hat; die schwierige Aufgabe einer Tarifirung nach
dem Werthe und der Auffindung eines Systems, um ein durchgehendes Ver¬
hältniß zwischen dem Werth jedes Artikels und dem Eingangszoll herzustellen,
war eine in dieser Arbeitszeit nicht zu lösende Aufgabe, wenn sie überhaupt
lösbar ist neben den übrigen an den Tarif zu stellenden Anforderungen. Ganz
ähnlich verhält es sich mit der Anforderung einer besseren Gruppirung des
Tarifes. Auch diese Anforderung hört nicht ans, wohlbegründet zu sein, weil
ihr in der gegebenen Arbeitszeit nicht entsprochen werden konnte. Nun sagen
die bekannten klugen Leute: warum mußte die Arbeitszeit so kurz sein? Es
sind das diejenigen Leute, deren Klugheit viel zu groß ist, um jemals zu
lernen, daß der Mensch noch nicht über das Elend der Thierheit hinaus wäre,
wenn er bei jedem Schritt hätte warten sollen, bis er den gegebenen Zustand
nicht mit einem besseren, sondern mit dem vollkommnen hätte vertauschen können.
Wir würden auch den jetzigen Zolltarif mit allen seinen Gefahren und Schäden
in alle Ewigkeit behalten müssen, wenn wir ihn nur mit dem vollkommensten
aller Tarife vertauschen wollten. Aber darum handelt es sich nicht, wenigstens
nicht für diejenigen, die klug genug sind, nicht auf die höchste Klugheit zu
warten. Es handelt sich um die Steigerung der Reichseinnahmen durch einige
Finanzzölle, um den Schutz einiger Gewerbe, deren Nothstand als Folge der
bisherigen Zollpolitik mit Händen zu greifen ist, um einige Kampfzölle auf
Einfuhrartikel, für deren etwaiges Ausbleiben nöthigenfalls ein Ersatz zu finden
ist, deren Produzenten aber durch den Kampfzoll vermuthlich zu der Einsicht
kommen werden, daß sie, anstatt die Einfuhr nach Deutschland zu verlieren, besser
thun, die Zahlung künftig in deutscher Waare anzunehmen. Wenn der Tarif¬
vorschlag diese drei Arten von Zöllen im Allgemeinen richtig aufgefunden hat,
so ist er ein verdienstvolles und wohlthätiges Werk. Daß er in den Einzel¬
heiten mit den Jahren vervollkommnet, in der Methode abgerundet und ver-
einfache, neu erkannten oder neu entstandenen Bedürfnissen angepaßt werden
muß, ist völlig selbstverständlich. Es handelt sich um den ersten Schritt auf
den richtigen Weg, während die Kritiker verlangen, man solle sogleich den
letzten Schritt thun. Damit ist die Kritik gerichtet, aber nicht die Arbeit der
Tarifkommission. Andere Kritiker machen es der Kommission zum Vorwurf,
daß sie keine Berechnung aufgestellt hat, was die neuen Zollsätze für Erträge
liefern werden. Ja, wer so klug wäre, das zu wissen! Die Klugen verlangen
wieder einmal das Unmögliche. Man soll doch nur nie vergessen, daß es der
praktischen Staatskunst niemals vergönnt ist, Maßregeln nach einem unfehl¬
baren Prinzip zu konstruiren und die Wirkungen nach diesem Prinzip zu be¬
rechnen. So zu verfahren versucht der Mechaniker; und wenn er zehnmal nach
dem wissenschaftlich richtigsten Prinzip verfährt, so kommt der praktische Erfolg
doch erst nach hundertfachen Versuchen — wenn er kommt. Der Mechaniker
kann ein richtiges Prinzip haben; das Zusammenwirken seiner Mittel muß er
erst erproben, weil er nicht von allen Mitteln die erschöpfende Kenntniß haben
kann. So ergeht es dem Mechaniker, und doch ist seine Aufgabe wie ein
Kinderspiel gegen die des Staatskünstlers, der mit den lebendigsten, zusammen¬
gesetztesten und veränderlichsten Elementen zu thun hat. Und doch muß es
eine Staatskunst geben; ohne sie zerfallen und versinken die Völker. Während
langer Zeiträume braucht sie nur in Tradition zu bestehen; wenn aber die
Vorsehung haben will, daß ein Volk bestehe und wachse, so schenkt sie ihm
einen Künstler, von dessen Vorbild die traditionelle Praxis durch Jahrhun-
derte zehren mag. Das staatlich zerrissene Deutschland konnte eine nationale
Zollpolitik nicht haben, es konnte nicht daran denken, ein System der Zölle
zu erstreben, welches das harmonische Emporblühen der einheimischen Er¬
werbsthätigkeit bezweckt. Ein solches System kann nur von einem politischen
Zentralpunkt ausgehen, und es kann nicht durch eine noch so lange sitzende
Kommission in vollkommener Gestalt gefunden, es kann nur durch eine in
ihrer Bewegung möglichst unbehinderte Zentralgewalt experimentirend nach und
nach hergestellt werden. Man kreuzige und segnet sich freilich, daß an dem
lebendigen Körper der Volkswirthschaft fort und fort experimentirt werden solle.
Aber man hat nur dann das Recht sich zu bekreuzigen, wenn man sich von
der Sache die absurdesten Vorstellungen macht. Wenn das Rezept einer guten
Speise, in den Grundbestandtheilen unverändert, bei täglicher Bereitung eine
Zeitlang täglich sich vervollkommnet, so wird der Magen der Genießenden nicht
zu Tode experimentirt. Genau so ist es jetzt mit dem Rezepte für die deutsche
Volkswirthschaft. Der es verordnet, weiß, was er will und wie er es will.
Dem Kranken ist es besser, nach einem unvollkommenen Rezept bedient zu
werden, als nach einem schädlichen, und die Besserung des Kranken wird
täglich fortschreiten, je vollkommener das Rezept in Theorie und Praxis durch
die fortwährende Anwendung ausgebildet wird.
Die deutsche Nation kann nicht dankbar genug sein, daß sie nicht blos
den politischen Zentralpunkt gewonnen hat, von welchem aus zentrale Aufgaben
überhaupt in Angriff genommen werden können, sondern daß sie in dem
Schöpfer der Zentralgewalt zugleich den Staatsmann gewonnen hat, der mit
dem Muthe der größten Entschlüsse zugleich die Gewalt persönlicher Ueberlegen-
heit besitzt, die Unermeßlichkeit parlamentarischer Bedenken fortzureißen oder
hinwegzustoßen. Denn nie käme ein Parlament aus sich heraus oder unter
gewöhnlichen Ministern zu einem solchen Entschluß, nie käme die öffentliche
Meinung in Deutschland zu der Klarheit, Festigkeit und zu dem Uebergewichte
der Stimmen, um ein Parlament in diesen Fragen auf einen bestimmten Weg
zu drängen. In Folge unserer staatlichen Zerrissenheit sind auch unsere wirth¬
schaftlichen Interessen auseinandergerissen. Die lange Zeit fast unbestrittene
Herrschaft einer so absurden Theorie, wie es die Manchesterdoktrin, diese Waffe
des englischen Handelsübergewichtes, in ihrer Anwendung auf Deutschland
ist, wäre völlig unbegreiflich, wenn die Erklärung nicht unmittelbar vor den
Augen läge. Die Unterwerfung unter die Manchesterdoktrin war die Ver¬
zweifelung, jemals den richtigen Weg der Handelspolitik der Zerrissenheit der
Interessen gegenüber einschlagen und experimentirend verfolgen zu können. Auch
von dieser Verzweifelung hat die Vorsehung uns erlösen wollen, indem sie uns
einen Bismarck gab. Es scheint, daß sie durch diesen Mann alles für uns
thun will, was wir selbst in Folge der verschuldeten und unverschuldeten Irrwege
unserer Geschichte nicht mehr zu thun im Stande waren. Um so strenger wird
sie Rechenschaft fordern, wenn wir mit dem überreichlich gespendeten Pfund
fortan nicht zu wuchern verstehen.
Bei weitem die wichtigste Veränderung, welche der Bundesrath an der
Kvmmissionsvorlage vorgenommen, ist die Hinzufügung einer allgemeinen Voll¬
macht für den Bundesrath, jeden Einfuhrzoll um den doppelten Betrag des
jetzt einzuführenden Tarifes zu erhöhen gegenüber solchen Staaten, welche Schiffe
oder Waaren deutscher Herkunft ungünstiger behandeln als jene anderer Staaten,
oder welche deutsche Erzeugnisse erheblich höher belasten, als ihre Erzeugnisse
in Deutschland belastet sind. In dieser Vollmacht, welche den Bundesrath
berechtigt, nöthigenfalls den ganzen Tarif in einen Kampszolltarif zu ver¬
wandeln, liegt erst die wahrhaft wirksame Waffe der neuen Zollpolitik. Eine
solche Waffe kann nie durch die gesetzgebenden Faktoren eines Staates gehand¬
habt werden, einem Bismarck kann man sie anvertrauen mit der Zuversicht
des höchst energischen und zugleich höchst vorsichtigen Gebrauches, vorsichtig
in Bezug auf die innere Volkswirthschaft und die äußere Interessenpolitik,
energisch in der Verachtung aller Scheinnachtheile nach innen und außen.
Wenn man diese Vollmacht dem Bundesrathe gibt, so gibt man sie dem Vor¬
sitzenden desselben, solange dieser Vorsitzende Fürst Bismarck ist. Unter einem
andern Vorsitzenden wird weder dieser Vorsitzende selbst noch der Bundesrath
die Vollmacht gebrauchen, auch wenn sie noch zu Recht besteht. Sie wird
alsdann von selbst erlöschen, ohne daß für die Zurücknahme ein Mund sich rührt.
Wir haben nur zu wünschen, daß der, für den die Vollmacht ausgestellt
werden soll, den Geschäften erhalten bleibt, bis der Zweck der Vollmacht er¬
Wie die Naturwissenschaften, so hat auch die Geschichtschreibung in den
letzten Jahrzehnten ungewöhnlich große Fortschritte gemacht. Die Methode
ist vielfach eine andere geworden, man geht von richtigeren Grundsätzen aus,
und Zufall oder Forschung haben neue Quellen geöffnet. In Folge davon
ist ein nicht geringer Theil dessen, was die wissenschaftlichen Historiker noch
vor fünfzig Jahren unbesehen sür ausgemachte Thatsache hielten, und was die
Schule und die populäre Literatur, jenen vertrauend, als Thatsache in's Volk
brachten, in dessen Kreisen es sich dann einwurzelte und fortpflanzte, bei ge¬
nauerer Betrachtung als unbegründet erkannt und daraufhin aus den Ge¬
schichtsbüchern gestrichen oder doch wesentlich modifizirt worden.
Eine große Anzahl von Dingen, Einrichtungen und Ereignissen der Ver¬
gangenheit, die noch in den zwanziger und dreißiger Jahren selbst der gelehrten
Welt vollkommen feststanden und bis in die vierziger Jahre hinein in Gymna¬
sien, sowie in Weltgeschichten und Konversationslexicis für die gebildeten
Schichten der Nation unbefangen vorgetragen wurden, haben sich in nichts
aufgelöst oder wenigstens ein ganz anderes Gesicht bekommen. Für geschicht¬
lich gehaltene Persönlichkeiten sind zu mythischen Helden oder Gottheiten ge¬
worden, andere zu bloßen Repräsentanten kulturhistorischer Perioden, wieder
andere zu absichtlichen Erfindungen, die meist die Urzeit eines Volkes schmücken
oder schänden oder als Beispiele für die Güte einer Philosophie, einer Religion,
einer politischen Doktrin dienen oder auch Gelehrten, die vor einer Lücke standen
und Lücken in ihrer Darstellung für ehrenrührig hielten, aus der Verlegenheit
helfen sollten. In gleicher Weise hat man historische Entwickelungen, Zustände
Und Ereignisse, die mit Mythen oder Hypothesen durchsetzt waren, dieser Zu¬
sätze entkleidet und in ihrer eigentlichen Natur erkannt. Die meisten von den
Anekdoten und den wohlgesetzten Reden, sowie viele von den Aussprüchen, welche
die alte Geschichtschreibung an den Namen dieses oder jenes großen Mannes
knüpfte und mit Vorliebe nacherzählte, sind von der heutigen für apokryph
erklärt worden. Tyrannen haben sich in ganz achtbare und in ihrer Art wohl¬
gesinnte Leute, dagegen vielgerühmte Fürsten, Staatsmänner oder Parteiführer
sich in Mittelmäßigkeiten, in beschränkte Köpfe, in ordinäre Egoisten verwandelt.
Von gewaltigen Schlachten, von ganzen Kriegen sogar hat sich gezeigt, daß sie,
so genan man über sie bis in's Einzelne unterrichtet zu sein meinte, niemals
stattgefunden haben.
Trotzdem wird in ziemlich weiten Kreisen selbst protestantischer Länder
nicht Weniges der Art noch für baare Münze gehalten und in katholischen
sogar in höheren Schulen als solche ausgegeben und arglos angenommen, und
so ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn man diesen Uebelstand einmal zur
Sprache bringt. Die Gefahr, manchem unserer Leser nichts Neues zu sagen,
darf unseres Erachtens nicht davon abschrecken. Denn das Publikum besteht
allenthalben nur zu einem kleinen Bruchtheile aus Gelehrten, und selbst diesen
werden, soweit ihr Fach nicht die Bearbeitung der Geschichte ist, einige von
unseren Mittheilungen willkommen sein.
Selbstverständlich können die nachfolgenden Notizen die Masse von natür¬
lich gewachsenen oder absichtlichen Fabeleien, die sich mit dem echten Stoffe
der Geschichte vermischt und verschmolzen haben und für Viele noch heute an
ihr haften, nicht erschöpfen. Unsere Aufgabe kann nur die sein, auf das Vor¬
handensein derselben aufmerksam zu machen, zur Vorsicht zu mahnen wo etwas
irgendwie zweifelhaft erscheint. Zweifelhaft erscheinen sollte aber alles recht
Großartige, Glänzende, Abenteuerliche und Außerordentliche, desgleichen alles
Pointirte und. Plötzliche. Das Geschichtsbild verliert durch solche Vorsicht
allerdings manchen poetischen Zug, manche erhebende und rührende Stelle,
allerlei Erbauliches, Biederes, Witziges und Ueberraschendes, aber es wird
wahrer, und das ist die Hauptsache. Die Fiktion braucht nicht zu sterben,
wenn sie dahin verwiesen wird, wohin sie gehört, in den Bereich, aus dem der
Dichter seine Stoffe nimmt.
Zwei Grundirrthümer besonders haben die frühere Auffassung der Ent¬
wickelung der Menschheit stark beeinflußt und wirken hie und da noch fort.
Der eine bestand darin, daß man die Menschen und Ereignisse, durch die
jene Entwickelung sich vollzogen hat, nicht, wie es jetzt geschieht, aus
ihrer Zeit heraus, sondern nach der Moral der unseren oder gar nach seiner
besonderen politischen oder religiösen Ansicht beurtheilte und darstellte. Der
andere Irrthum war der, daß man die älteste Zeit als die vollkommenste an¬
sah, daß man an eine altorientalische und ägyptische Urweisheit glaubte, von
der hinweg es mit der Menschheit bergab gegangen sei, und daß man so den
ganzen Charakter und das Wesen der Geschichte verkannte, die doch nichts
Anderes als eine Entwickelung des Menschengeschlechts aus der Einfachheit
zur Mannichfaltigkeit, zur Ausprägung aller in dasselbe gelegten Fähigkeiten
des Denkens, Empfindens und Genießens ist — eine Entwickelung, welche sich
im Einzelnen zwar nicht in gerader Linie, sondern spiralförmig, mit scheinbaren
Unterbrechungen und Rückschritten, im Großen und Ganzen aber doch stetig
vollzieht.
Gewisse Mythen, Sagen und Legenden, in denen Wunder, Erscheinungen
von Göttern, heiligen und übermenschlich gestalteten und begabten Heroen, Ge¬
spenster und andere Naturwidrigkeiten eine Hauptrolle spielen, hatte die moderne
Geschichtschreibung nicht zu bekämpfen; denn sie charakterisirten sich von selbst vor
dem Blicke des Verständigen von vornherein als Unmöglichkeiten. Kein Mensch
von Urtheil wird im neunzehnten Jahrhundert die Mythen, welche die Grün¬
dung Athen's und Rom's umspinnen, die Thaten des Herakles, den Argonau¬
tenzug, die Kämpfe vor Ilion, die Fahrt des Aeneas von Troia nach der
Tibermündung, den Sprung des Curtius, die Erzählung vom Ringe des Polykrates
und Aehnliches im Ernst für geschichtlich gehalten haben. Gleiches ist ferner von
gewissen Mythen der hebräischen Urzeit, von dem Besuche Gottes bei Abraham,
von Lot's Weib, das sich in eine Salzsäule verwandelte, vom Ringen Jakob's
mit dem Herrn, wobei jenem die Hüfte ausgerenkt wurde, von Simson, der
Hunderte von Philistern mit einem Eselskinnbacken erschlug, und von Elias,
der Feuer auf die Baalspriester herabflehte, anzunehmen. Dasselbe gilt endlich
von einer Anzahl Mythen, die von nordischen Chronisten und Geschichtschrei¬
bern, Jornandes, Paulus Diaconus, Saxo Grammaticus u. a., in ihre Berichte
verflochten worden sind, und von allen christlichen, mohammedanischen und
buddhistischen Legenden, soweit sie mit der Natur im Widerspruche stehen.
Aber auch andere Angaben, solche, die sich zwar mit den Naturgesetzen
vereinigen ließen, sich aber aus inneren Gründen sofort als äußerst unwahr¬
scheinlich kennzeichneten, waren nicht erst als Unmöglichkeiten zu charakterisiren.
Nur eine Geschichtsbehandlung, welche das Gegentheil von dem war, was sie
hätte sein sollen, konnte die Franken von den Trojanern, die Bewohner der
schweizerischen Urkantone von Skandinaviern oder Niedersachsen, das jetzt regie¬
rende sächsische Königshaus von Wittekind, dem Stammhäuptling der Sachsen
des Wesergebietes, abstammen lassen oder, wie von nicht wenigen Engländern
und Jankees noch heute geglaubt wird, behaupten, Amerika sei von den ver¬
lorenen zehn Stämmen Israel's bevölkert worden. Ebensowenig Berücksichti-
gnug konnten bei denkenden Menschen Erfindungen wie die vom König Friso
beanspruchen, der 303 v. Chr., vom Indus herkommend, an der Nordsee ein
Reich gegründet haben sollte, oder die vom Ursprung der Freimaurerei beim
Bau des Salomonischen Tempels oder gar bei Errichtung der Pyramiden, und
von einer Fortpflanzung der Lehren und Bräuche dieses Geheimbundes durch
die griechischen Mysterien und die mittelalterlichen Tempelritter.
Glaubhafter konnte einer Zeit, die wenig geschichtlichen Sinn besaß und
in der Exegese noch nicht so weit gekommen war, wie die gegenwärtige, man¬
cherlei Anderes erscheinen. Sie konnte meinen, daß Abraham und die übrigen
Erzväter der Jsraeliten, abgesehen von den Wundern in ihrem Leben, wirkliche
Menschen gewesen seien, während wir jetzt wissen, daß sie rein mythische Heroen
oder, noch wahrscheinlicher, Götter der hebräischen Urzeit waren. Jene alte
Zeit konnte ferner die Erzählung von Judith, die den Holofernes erschlägt, für
Geschichte und den Bericht vom frommen Tobias mit Abrechnung einiger
Mirakel für die Biographie eines gottesfürchtigen Juden halten, der während
des babylonischen Exils gelebt. Jetzt wissen wir, daß das Buch Judith ein
Patriotischer Roman und daß das Buch Tobiä gleichermaßen ein Erzeugniß
wohlmeinender Tendenz ist. Jene Zeit konnte endlich, um noch eins anzu¬
führen, unbedenklich annehmen, daß die Anekdoten, die Plutarch von feinen
Helden erzählt, auf Wahrheit beruhen, und daß die langen, fchöngedrechselten
Reden voll Schwung und Weisheit, die Livius seinen Feldherren und Staats¬
männern in den Mund legt, wirklich von ihnen gehalten worden seien. Nichts¬
destoweniger aber sind jene Anekdoten offenbar zum großen Theil und diese
Reden sammt und sonders im Wesentlichen Kunstprodukte.
Lange Zeit hat sich unsere studirende Jugend an Harmodios und Aristo-
geiton begeistert, die „im Myrthenzweige das Schwert trugen und den Tyrannen
erschlugen, um Athen wieder unter die Herrschaft gerechter Gesetze zu bringen".
Wie wir aber jetzt und schon seit geraumer Zeit wisse», hatten die Tyrannen¬
mörder zwar bei den Panathenäen des Jahres 514 unter den festlichen
Myrthenzweigen, die sie trugen, Schwerter verborgen, haben auch den Tyrannen
Hipparch umgebracht; der Beweggrund ihrer That war aber nichts weniger
als politischer Natur, sondern Eifersucht bei Aristogeiton und beleidigte Fami-
lienehre bei Harmodios, und die Ermordung des Tyrannen hatte keineswegs
unmittelbar die Wiederherstellung der altgesetzlichen Zustünde im attischen
Staate zur Folge. Der Mord war ein Akt der Rache für eine zugefügte
Beleidigung und zugleich ein Ausfluß der Furcht, daß noch andere Beleidi¬
gungen folgen würden; ideale Motive wirkten dabei in keiner Weise mit. Der
eine Mörder fiel bei der That unter den Streichen der Leibwache, der andere
wurde von dem Bruder des Tyrannen dem Scharfrichter übergeben, und statt
daß der Mord die Freiheit gebracht hätte, war das Gegentheil die Folge: Aus
der volksfreundlichen und vielfach segensreichen Regierung der Peisistratiden
wurde eine unerträgliche Zwingherrschaft voll Blut- und Geldgier, die noch
ganze vierthalb Jahre auf der Stadt und ihren Bürgern lastete.
Verschiedene Berichte Herodot's, z. B. die über Astyciges, Kyros und Kroisvs,
fallen unzweifelhaft wenigstens zum Theil in die Kategorie des Mythus. Noch
sicherer läßt sich dies behaupten von gewissen Erzählungen aus dem frühen und
späten Mittelalter, in denen man ehemals wirkliche geschichtliche Vorgänge oder
doch Spuren der Reste von solchen erkennen wollte. Noch heute wird am Rheine
der Berg gezeigt, wo Siegfried den Drachen erschlagen, und im Odenwalde der
Quell, wo Hagen's Speer ihn durchbohrt haben soll. Aber Siegfried hat nie gelebt,
als in der Mythe und der Poesie, er war ursprünglich eine Personifikation der
Sonne — wie der hebräische Simson —, dann ein Held der altgermanischen
Wauderdichter; und ebenso wenig wie er haben die meisten der gigantischen
Männer- und Fxauengestalten des Epos, das seinen Tod und Chrimbild's
Rache besingt, und die Schicksale dieser grimmen Recken etwas mit der Ge¬
schichte zu schaffen. Dietrich von Bern, der Ostgothenkönig Theodorich, und
Etzel, der Großchan der Hunnen Attila, figuriren im Nibelungenliede nur mit
ihrem Namen, nicht mit ihrem Wesen und ihren Thaten.
Wir haben aber noch viel auffallendere Beispiele ungeschichtlicher Personen
und Dinge anzuführen, die vor nicht langer Zeit noch allgemein für geschicht¬
lich galten. Noch heute wird es wahrscheinlich Leute geben, die über die Er¬
oberung Britannien's durch die Angelsachsen wohl unterrichtet zu sein glauben.
Die einen werden uns die von den meisten Geschichtschreibern adoptirte angel¬
sächsische Ueberlieferung erzählen, andere vielleicht die etwas romantischer klin¬
gende britische Tradition. In beiden liegen Namen, Oertlichkeiten, Jahres¬
zahlen, Ereignisse vollkommen klar und bestimmt vor, so daß es scheint, als
ob kaum daran zu zweifeln sei. Und doch hat Lappenberg schon vor 40 Jahren
mit zwingenden Gründen den Beweis geführt, daß nichts von allen diesen
Einzelheiten begründet, daß Alles Sage und Mythe und nicht einmal die
Existenz der Brüder Hengist und Horsa nachzuweisen sei.
Karl der Große gehört allerdings der Geschichte an, aber in vielen seiner
Züge zugleich der Sage, und ältere Geschichtschreiber schieden die letztere nicht
aus. Was man von seiner Tafelrunde zu wissen glaubte, fiel mit der Er¬
kenntniß, daß die Erzählungen des Erzbischofs Turpin, seines Zeitgenossen,
von den Thaten seiner Paladine ein Machwerk aus den letzten Jahrhunderten
des Mittelalters war. Die Geschichte von seiner Tochter Emma, die des
Nachts ihren Geliebten Eginhcird auf ihrem Rücken über den Hof der kaiser¬
lichen Pfalz getragen haben sollte, damit dessen Fußtapfen in dem frischge-
fallenen Schnee ihre Zusammenkunft nicht verriethen, ist sehr anmuthig, aber
durchweg Fabel. Von Roland hat die historische Kritik kaum die Existenz
eines Helden dieses Namens, von der großen Mordschlacht bei Ronceval, in der
er gefallen sein soll, nur die trockene Thatsache übrig gelassen, daß im Jahre
778 bei einem Ueberfall des Frankenheeres durch kriegerische Stämme in den
Pyrenäen mehrere vornehme Leute aus dem Gefolge Karl's den Tod ge¬
funden haben.
Die Verbrennung der großen Bibliothek Alexandrien's dnrch die moham¬
medanischen Eroberer des Landes, die Anm, der Feldherr der letzteren, mit
den Worten motivirt haben soll: „Wenn darin enthalten ist, was im Koran
steht, so ist sie überflüssig; enthält sie aber etwas Anderes, so muß sie ver¬
nichtet werden", ist geschichtlich ebensowenig zu begründen. Eher ließe sich ihre
Unmöglichkeit behaupten; denn von jener größten Büchersammlung des Alter¬
thums war beim Einbruch der Sarazenen sicher und schon lange vorher wahr¬
scheinlich nichts oder nur sehr wenig mehr vorhanden.
Auch die Geschichte der römischen Päpste ist voll von Erfindungen, welche
entweder den Zweck hatten, die Macht des Papstthums zu heben und zu er¬
weitern, oder seinem Ansehen schaden sollten. Produkte der erstgenannten Art
haben wir in der im Jahre 777 zuerst auftretenden, aber etwas früher ent¬
standenen Erdichtung vor uns, daß der Kaiser Konstantin bei seiner Taufe dem
Papste Sylvester ganz Italien und die Inseln im westlichen Meere geschenkt
habe, worauf gestützt Urban II. sich Corsika unterwarf, und Hadrian IV. sich
für befugt hielt, Irland der Krone England zu schenken.
Ferner gehören hierher die berüchtigten pseudo-isidorischen Dekretalen, die
zuerst im Jahre 853 erwähnt werden und viel Unheil angerichtet haben. Sie
sind eine Sammlung von Briefen und Erlassen alter Päpste, von denen gerade
die ältesten und wichtigsten erdichtet sind, und die den Zweck haben, die um die
Mitte des neunten Jahrhunderts zuerst erhobenen Ansprüche des Papstthums
als uralt erscheinen zu lassen. Ihr Grundgedanke ist: das römische Oberprie-
sterthum ist die von Christus eingesetzte weltregierende Macht, und die Bischöfe
stehen als Beauftragte des Papstes direkt unter diesem. Keine Provinzialsynode
darf in Folge dessen ohne päpstliche Erlaubniß abgehalten werden. In allen
Klagen gegen Geistliche ist freie Appellation an die Kurie gestattet. Kein
Bischof darf ohne Genehmigung des Papstes abgesetzt werden; überhaupt wird
das Einschreiten gegen einen höheren Kleriker so erschwert, daß es fast unmög¬
lich gemacht wird. Dieser Schwindel bildete vom Ende des neunten Jahr¬
hunderts an die Grundlage des römischen Kirchenrechts. Im sechzehnten wurde
der Betrug zwar entlarvt, aber noch heute gibt es katholische Schriftsteller,
welche an die Echtheit der Dekretalen Jsidor's zu glauben sich den Anschein
geben. Indeß ist das nicht mehr nöthig. Die Ernte ist eingeheimst. Jene
Grundgedanken sind, wie bemerkt, in das allgemein giltige Recht der katholischen
Kirche aufgenommen. Den weltlichen Regierungen gegenüber sie geltend zu
machen, ist freilich schwieriger geworden; innerhalb der Kirche aber sind sie
unbestritten. Unter den Erfindungen, die dem Pontifikat Schaden zu bringen
bestimmt waren, sei hier nur an die lange geglaubte Fabel von der Päpstin
Johanna erinnert.
Kehren wir aus der Kirche des Mittelalters in die Kreise außerhalb der¬
selben zurück, so begegnen wir neben anderen Sagen, die geraume Zeit sür
Geschichte galten, auch derjenigen vom Mäusethurm bei Bingen, nach welcher
der Erzbischof Hatto von Mainz bei einer Hungersnoth eine Menge armer
Leute in eine Scheune gesperrt und darin verbrannt haben soll, wobei er ihr
Angst- und Schmerzgekreisch mit dem Piepen von Mäusen verglichen hätte;
später aber wäre er zur Strafe dafür von Mäusen verfolgt und in jenem
Thurme aufgefressen worden. Das Strafwunder werden wir hier fofort
streichen, aber auch die Unthat ist nichts weniger als geschichtlich. Hatto er¬
scheint in den ihn charakterisirenden historischen Nachrichten nicht als ein grau¬
samer Mann; wohl aber zwang er seine trägen Mönche zu fleißiger Arbeit,
und es wäre nicht unmöglich, daß einer derselben, der sich mit Chronik schreiben
befaßte, nach dem Tode des gestrengen Erzbischofs eine auch anderwärts ver¬
breitete Sage, die u. a. von dem polnischen Könige Popiel und einem Thurme
im Goplo-See an der russischen Grenze erzählt wird, auf ihn angewendet hätte.
Kaiser Heinrich I. heißt in der Geschichte der Vogelsteller oder der Städte¬
erbauer, weil er von einem Vogelherd auf den Thron berufen und weil er
eine Anzahl von Städten gegründet haben soll. Wir wissen aber jetzt, daß
jenes ebensowenig der Fall war, wie, daß er sein Herzogthum Sachsen, was
gleichfalls behauptet wurde, dem Papste geschenkt habe; auch hat er zwar eine
Anzahl Burgen angelegt, aber keine einzige Stadt erbaut.
Die zahlreichen Skandalgeschichten von Kaiser Heinrich IV. sind großen-
theils Erdichtungen oder wenigstens arge Uebertreibungen des Parteihasses,
der den Feind des Papstthums auch nach seinem Tode noch verfolgte.
Von den Kreuzzügen hat Sybel gezeigt, daß ihre Geschichte, namentlich die des
ersten, vielfach mit Sagen durchwebt und entstellt worden ist. Nicht der Ein¬
siedler Peter von Amiens mit seinem Eifer und seinen Wundern wurde die
Veranlassung zu jener mächtigen Bewegung, sondern der Papst Urban, der sie
als Kampfmittel gegen den Kaiser hervorrief und benutzte; und nicht der
fromme. Gottfried von Bouillon, sondern der sicilische Normannenherzog Boe-
mund war der Hauptführer bei den kriegerischen Operationen. Beiden späteren
Kreuzzügen aber wirkten neben gottesfürchtigen und hierarchischen Bestrebungen
sehr wesentlich, und mehr als diese, merkantile Tendenzen mit.
Eine Erfindung ist die Historie von dem zahmen Löwen, der den Grafen
Wieprecht von Groitsch auf Schritt und Tritt begleitet haben soll; eine erfun¬
dene Anekdote auch das Geschichtchen von der Doppelehe des Grafen Ernst
von Gleichen, zu welcher der Papst seine Erlaubniß ertheilt haben soll, und
zwar ist diese Sage, deren Held in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahr¬
hunderts gelebt haben soll, erst zu Ende des sechzehnten aufgekommen.
Aehnliches gilt von der Erzählung, wie Landgraf Ludwig der Springer,
der Erbauer der Wartburg, zu seinem Beinamen gelangt sein soll. Derselbe
hatte — so berichteten die ^.ong-iss Nsio.dö.räsvruQiikQSös — den Pfalzgrafen
Friedrich zu Sachsen auf der Jagd im Walde bei dessen Burg Scheiplitz im
Osterlande ermordet, um dessen Gemahlin, Adelheid von Stade, heirathen zu
können. Von den Verwandten des Pfalzgrafen beim Kaiser verklagt, wurde
Ludwig auf des letzteren Befehl gefangen genommen und auf das Schloß
Giebichenstein gebracht, wo er zwei Jahre später hingerichtet werden sollte. Am
Tage vor der Exekution aber that er unter dem Vorwande, es friere ihn, einen
weiten Mantel um und sprang, während seine Wächter beim Brettspiel saßen
und seiner nicht sonderlich achteten, vom Rande des Bergfelsens in die unten
vorüberfließende Saale hinab, aus deren Fluthen ihn ein Diener, der jenseits
mit einem weißen Pferde, das der Schwan hieß, auf ihn gewartet hatte, her¬
auszog und in Sicherheit brachte. Diese Geschichte, die aller Wahrscheinlichkeit
nach aus einer alten Mythe von übermenschlichen Sprüngen, die verschiedenen
Helden zugeschrieben wurden, und aus der falschen Deutung des Beinamens
8s.IisnL entstanden ist, figurirte noch vor wenigen Jahrzehnten in populären
Geschichtswerken als eine solche, die sich wirklich zugetragen.
Ebenfalls Fabel ist es, daß Markgraf Friedrich „mit der gebissenen Wange"
durch einen Biß seiner Mutter zu diesem Beinamen gekommen sei. Albrecht
der Unartige wollte, so wird in alten Chroniken erzählt, und so glaubte man
noch vor nicht langer Zeit, auf Andringen seiner Buhle Kurre oder Kunigunde
von Eisenberg seine Gemahlin Margaretha, eine Tochter des Kaisers Friedrich
des Zweiten, von einem Eselstreiber auf der Wartburg ermorden lassen. Dieser
aber fühlte Mitleid mit der unschuldigen Fürstin und verhalf ihr des Nachts
zur Flucht. Von Schmerz überwältigt biß sie den einen ihrer schlafenden
Knaben beim Abschied in die Wange, sodaß ihm für sein ganzes Leben eine
Narbe blieb. Nach einer anderen Version that sie dies gar mit Ueberlegung:
er sollte ein Zeichen behalten, um für alle Zeit der seiner Mutter widerfah¬
renen Unbill und ihres Jammers eingedenk zu bleiben. Das Histörchen ist
allerliebst für Maler und Dichter, die sich seiner auch mehrfach bemächtigt haben,
aber sehr unwahrscheinlich, und die nüchterne Geschichtsforschung weiß nichts
von ihm.
Als bloße Erdichtung einer späten Zeit bezeichnet der Historiker Palacky
die Anekdote, nach welcher Ludwig der Baier nach der Schlacht bei Mühldorf
mit seinem Gefolge Mangel an Lebensmitteln gelitten, bis endlich jemand einen
Korb Eier herbeigebracht, die der Kaiser dann mit den Worten vertheilt habe:
„Jedem Mann ein El, dem braven Schweppermcmn aber zwei." Nichts ist
hiervon wahr, als daß Seyfried Schweppermcmn, Feldhauptmann der Stadt
Nürnberg, bei jenem Siege Ludwig's mitgewirkt hat, und daß jener angebliche
Ausspruch des Kaisers sich einst aus Schweppermanu's Grabsteine fand.
Sehr zweifelhaft ist es, ob es je den Arnold Strude oder Struthan von
Winkelried gegeben hat, der in der Schlacht bei Sempach sich geopfert haben
soll, um „der Freiheit eine Gasse" zu machen. Er soll aus dem Kanton
Unterwalden gewesen sein, und ein schönes Denkmal bei Stans verherrlicht seine
That. Aber die sempacher Schlacht fand im Jahre 1386 statt, und die Ueber¬
lieferung von Winkelried's Aufopferung tritt zuerst um die Mitte des sech¬
zehnten Jahrhunderts auf.
Ganz und gar ungeschichtlich ist, wie schon längst unter Anführung guter
Gründe behauptet und neuerdings von Rochholz aufs allergründlichste dcirge-
thcm worden ist, die Erzählung von Tell's Apfelschuß und die Ermordung des
Vogts Geßler durch Tell. Aus den Urkunden der Familiengeschichte der
schweizerischen Geßler geht hervor, daß kein einziger von ihnen die Rolle,
welche die Tell-Sage ihnen zuweist, oder auch nur eine ähnliche gespielt haben
kann, und keiner von einem Tell oder einem anderen Schützen den Tod er¬
litten hat. Dagegen begegnen wir bei den verschiedensten Völkern schon in
Zeiten lange vor der, in welche die schweizerischen Chronisten die Thaten
ihres Tell verlegen, ganz ähnlichen Sagen, die auf eine uralte Natur¬
mythe hindeuten, welche die alljährlich wiederkehrende Erlegung des Winter¬
tyrannen durch die Pfeile des Frühlingsgottes, die Sonnenstrahlen, zum
Inhalte hat. Solche Seitenstücke zur Tell-Sage finden wir nicht blos unter
nord- und südgermanischen, sondern auch unter keltischen, finnischen und orien¬
talischen Völkern, am Rhein, in Schleswig-Holstein, in Norwegen, in England,
in Wales, im alten Griechenland und selbst in Persien. Das interessanteste
Beispiel darunter ist die Erzählung vom dänischen Schützen Toko, der wir
bei Saxo Grammaticus begegnen, welcher im zwölften Jahrhundert schrieb
und Toko seinen Apfelschuß vor König Harald Blauzahn (936—986) thun
und ihn später diesen Tyrannen durch einen Pfeil tödtlich verwunden läßt.
Reich an Fabeln, die bis auf die neueste Zeit in Geschichtsbüchern immer
und immer wieder naiv nacherzählt worden sind, ist namentlich anch das Refor-
mationszeitalter. Vorzüglich um die Person Luther's gruppirten sich eine Menge
theils gehässiger, theils harmloser Nachreden, ganz so wie es später mit Friedrich
dem Großen geschah, und wie es unter anderen wahrscheinlich auch einmal mit
Bismarck geschehen wird. Alle Welt kennt die Vision auf der Wartburg, wo
der Reformator vom Teufel in Gestalt einer großen Brummfliege belästigt
wurde und das Tintenfaß nach ihm warf, und Vielen wird aus ihrem Geschichts¬
unterrichte der Vorfall erinnerlich sein, wo ein Wetterschlag Alexis, den Freund des
jugendlichen Luther, neben diesem zu Boden streckt und letzteren dadurch zur
Einkehr in sich selbst veranlaßt. Die Tenfelserscheinung richtet sich von selbst,
und von der anderen Anekdote ist nur soviel wahr, daß Luther als junger Mann
eines Freundes durch dessen plötzlichen Tod beraubt wurde. Johann Friedrich
der Großmüthige soll die Schlacht bei Mühlberg verloren haben, weil er bei
Beginn derselben zu lange im Gebet verweilt; die Geschichte aber sagt, weil
er zu lange beim Glase gesessen und zu tief hineingesehen hatte. Gustav Adolf
war bis vor kurzem für Alle und ist noch heute ohne Zweifel für Viele nur
der Glaubensheld, der dem bedrängten deutschen Protestantismus zu Hilfe eilte.
Namentlich durch Schiller's Geschichte des 30 jährigen Krieges ist diese Auf¬
fassung Populär geworden und es bis in die jüngste Zeit auch geblieben.
Genauere Forschung aber hat ergeben, daß den Schwedenkönig anch politische
Motive, und zwar vorwiegend, zu seinem Erscheinen in Deutschland veranlaßten,
mit anderen Worten, daß er allerdings religiös gesinnt und von Mitgefühl
für seine Glaubensgenossen im Süden der Ostsee erfüllt war, daß auf ihn
aber noch mehr ehrgeiziger Thatendrang, der Wunsch, durch Eroberungen an
den deutschen Ostseeküsten für Schweden die Herrschaft über das baltische Meer
zu gewinnen, und die Hoffnung, sein Land zu einer Frankreich und Oesterreich
ebenbürtigen Macht zu erheben, von Einfluß waren.
In den letzten Jahrhunderten ist es weniger die Mythen- und sagenerzeu¬
gende Volksphantasie gewesen, die der Geschichte Ungeschichtliches beigemischt
hat, als Verleumdung und Fälschung zur Förderung politischer und anderer
Zwecke und andererseits die Sucht, die Situationen pikant zu machen und
großen Männern Bonmots anzudichten. In der letztgenannten Richtung sündigt
unsere Presse alle Tage, und das Publikum unterstützt diese Unart. Es ver¬
langt weit weniger die Wahrheit zu erfahren, die ja häufig nicht zu seineu
Lieblingsmeinungen stimmt, als unterhalten zu werden und Stoff zur Unter¬
haltung guter Freunde zu bekommen; Sensationelles, Witziges, Pointirtes geht
ihm über die nüchternen Thatsachen, und die Zeitungen, größtenteils indu¬
strielle Unternehmungen und daher trotz aller zur Schau getragenen Gesinnungs-
tltchtigkeit gesinnungslos, oft von einer erschreckenden Unwissenheit, Oberfläch-
lichkeit und Leichtfertigkeit, aus Geschäftsrücksichten gefällig , thun ihm seinen
Willen.
Immer und immer wieder wird bei Fragen, wo Rußland auf die Bühne
tritt, von Schwärmern für Polen und Türken, von Ultramontanen, unbelehrbar
weisen Demokraten und ähnlichen Geistern die Fabel vom Testament Peter's
des Großen aufgewärmt, obwohl die Köche wissen könnten und sicher wissen,
daß sie eine Erfindung des Jahres 1812 ist. Dem Kaiser Napoleon lag da¬
mals daran, das Gerücht zu verbreiten, Rußland erstrebe die allmähliche Er¬
oberung und Beherrschung der gauzen Welt, und dieser Gedanke sei bei ihm
Tradition. Zu diesem Zwecke ließ er von dem Gelehrten Lesur, der im Mini¬
sterium des Auswärtigen zu Paris angestellt war, ein dickes Buch ausarbeiten,
welches mit der Miene- eines ernsten historischen Werkes eine Reihenfolge von
Lügen ärgster Art vortrug. Es war, anders ausgedrückt, ein schwerleibiges
Pamphlet mit politischen Zwecken des Tages, welches neben einer Andeutung,
daß es in den Petersburger Archiven geheime Memoiren Peter's des Großen
gebe, einen Auszug aus dem angeblichen letzten Willen dieses Kaisers mittheilte,
welcher die Umrisse und Hauptgedanken jener Eroberungspolitik enthielt. Später
zogen Andere, immer mit bestimmter Tendenz, die inzwischen in Vergessenheit
gerathene, nicht sehr geschickt verfertigte, ja in einzelnen Stellen geradezu ab¬
geschmackte Erfindung des Soldschreibers Napoleon's wieder hervor und suchten
sie durch Angabe der Zeit, in welcher das Testament entstanden sein sollte,
glaubwürdiger zu machen. Es sollte nach der Schlacht bei Pultawa begonnen
und 1724 weiter ausgeführt worden sein. Der Kanzler Ostermann sollte ihm
seine endgiltige Gestalt gegeben haben. Der Chevalier d'Eon, der am Hofe
Elisabeth's als französischer GesandtschaftsSekretär fungirt hatte, war, wie weiter
behauptet wurde, in der glücklichen Lage gewesen, es für Ludwig den Fünf¬
zehnten abschreiben zu dürfen u. f. w. — lauter Gefasel im Romanstil, wovon
nichts auch nur den Schein der Wahrheit für sich hat.
, In welcher Verzerrung durch Parteisucht die Phhsiognomieen der Persön¬
lichkeiten, welche bei der ersten französischen Revolution die Hauptrolle spielten,
der Nachwelt vorgeführt worden sind, wie namentlich demokratische Schönfär¬
berei diese Robespierre, Danton u. s. w. mit edlem Sinn und reinem Eifer
für ihr Ideal ausgestattet hat, ist bekannt. Ebenso die Kette von unwahren
und schiefen Darstellungen, die Thiers in feinen Geschichtswerken entwickelt,
und die wir als die napoleonische Legende zu bezeichnen gewohnt sind, an der
sich aber noch hente Tausende von Franzosen patriotisch erbauen und begeistern.
In welchem Brillantfeuer in Geschichtswerken aus den dreißiger Jahren
Charaktere wie „Lafayette mit den weißen Haaren" und der Grieche Ipsilanti
strahlten, werden sich ältere Leser d. Bl. erinnern; heute wissen wir, daß jener
ein eitler, unklarer und nichts weniger als charakterfester Politiker war, und
daß dieser sein Schicksal durch ähnliche Eigenschaften reichlich verdiente.
Der Erzherzog Johann wurde 1848 von Vielen zum deutschen Reichs¬
verweser gewählt, auf Grund der Sage, daß er einige Jahre vorher bei fest¬
licher Gelegenheit den Toast ausgebracht habe: „Kein Oesterreich, kein Preußen
mehr, nur ein einiges Deutschland". Schon damals erhoben sich Zweifel an
dieser Aeußerung, und später wurde überzeugend nachgewiesen, daß der Habs¬
burgische Prinz nur ganz obenhin von der Nothwendigkeit eines Zusammen¬
gehens Oesterreich's mit Preußen im Interesse Deutschland's gesprochen hatte.
Geraume Zeit stand vielen guten Deutschen fest, daß England's Politik
eine ideale, auf Förderung der Freiheit des Menschengeschlechts und der ein¬
zelnen Volker abzielende und allerlei andere schöne Dinge bezweckende sei; hatte
es doch den Tyrannen Napoleon ausdauernd bekämpft, sich wiederholt, wenn
auch nur mit Worten, Polen's angenommen, seine Neger emanzipirt, seine
Städte zu Asylen für politische Flüchtlinge gemacht und das Freihandelsprinzip
in die Welt gehen lassen; war Palmerston doch der offene und geheime Gönner
aller liberalen Bestrebungen. Heute erkennt man in deutscheu Landen wohl
fast allgemein an, daß die englische Regierungskunst nach außen eine reine
Krämerpolitik und ohne irgend welche idealen Antriebe und Zwecke ist, freilich
aber solche zu heucheln versteht.
Besonders reich war die Geschichte bis auf die neueste Zeit an pikanten
Anekdoten von bedeutenden Männern und an witzigen oder prägnanten Aus¬
sprüchen von solchen, reich auch an Geschichten über kleine Dinge, die Großes
zur Folge gehabt haben sollten. Ein Glas Wasser, welches die Herzogin von
Marlborough boshafterweise der Königin Anna von England auf's Kleid ge¬
gossen, sollte — so erzählt noch Voltaire, der auch über Karl den Zwölften von
Schweden mehr Pikantes als Wahres geschrieben hat — über den Ausgang
des spanischen Erbfolgekrieges und somit über die Geschicke ganz West- und
Mitteleuropa's entschieden haben, während die Wendung, die damals die eng¬
lische Politik machte, in Wirklichkeit ihre Ursache im Ableben Kaiser Joseph's des
Ersten hatte. Unerwiesen ist, daß der Stallmeister Froben sich in der Schlacht
bei Fehrbellin durch Vertauschung seines dunklen Pferdes mit dem Schimmel des
Großen Kurfürsten für diesen seinen Herrn geopfert hat; die Schlachtberichte
wissen nur, daß er in der Nähe desselben gefallen ist. Unwahr ist ferner die
Angabe, Galilei habe, als ihn die römische Inquisition zu kniefülligem Wider¬
ruf seiner Lehre von der Umdrehung der Erde um sich selbst und die Sonne
gezwungen, den Ausruf gethan: „Und sie bewegt sich doch!" Nicht weniger
unwahr, daß Ludwig der Vierzehnte seinem Parlamente gegenüber das oft
zitirte Wort: „Il'sol o'sse moi" gesprochen; er hätte es sprechen können, da
er auf Grund seiner Erfolge als Autokrat von einem fast mystischen Glauben
an seine Staatsmajestät und sein Recht, Frankreich's Interessen mit den seinen
zu identifiziren, beseelt war. Dasselbe ist von der Art und Weise, wie der
Abbe Sieyes bei der Verurtheilung Ludwig's XVI. durch den Konvent abge¬
stimmt haben sollte, zu behaupten: sein Votum, das nach der Ueberlieferung
kurz und rund: „I^s. mort sans pdiAss" lautete, ist Erdichtung, er stimmte
einfach mit Ja.
Es ist wahr, daß mit all' diesen Sagen, Märchen und Anekdoten ein
Theil Poesie aus der Geschichte schwindet, aber die Geschichte soll ihre
Poesie nicht in Unwahrheiten, sondern in klarer, lebensvoller Darstellung der
Wahrheit, in lichten, warmen, plastischen Bildern der Vergangenheit, ihrer
Zustände, Ereignisse und Charaktere suchen. Uebrigens aber werden jene
hübschen Dinge durch ihre Verbannung aus der Geschichte ja keineswegs aus
der Welt hinaus getrieben. Soweit sie schön sind, bleiben sie Stoffe und The¬
mata für die Kunst, den Maler, den Bildhauer, den Dichter. Niemand wird
sich von den herrlichen Bildern Tintoretto's im Dogenpalaste von Venedig,
welche die Niederlage Friedrich Barbarossa's zur See und dessen Demüthigung
vor dem Papste Alexander dem Dritten darstellen, deshalb mit Mißfallen ab¬
wenden, weil sie keine historischen, sondern aus der Phantasie geschöpfte Gemälde
sind. Das Denkmal Winkelried's würde schön bleiben, wenn es auch keinen
Helden dieses Namens gegeben hätte. Wilhelm Tell hat nie gelebt, Don Carlos
war körperlich wie geistig ein Scheusal, Wallenstein dachte anders und handelte
in vielen Beziehungen wesentlich anders, als Schiller ihn denken und handeln
läßt. Aber werden wir uns deshalb von dem Dichter weniger erheben, rühren
und erschüttern lassen, als wenn wir mit dem naiven Glauben der alten Zeit
Alle für die Grenzboten bestimmten Zuschriften, Manuskripte ;c. wolle
man in Zukunft an die Verlagsbuchhandlung richten.
(Adresse: Leipzig, Königsstraße 18.)
Immer und immer wieder hört man in unseren Parlamenten den „Rechts¬
staat" rühmen und als das Ziel aller inneren politischen Entwickelung bezeich¬
nen, und doch ist dieses Ideal gewisser Parteien so, wie es in der Regel ge¬
meint wird, eine Einseitigkeit und weder wünschenswert!» noch erreichbar. Die
Rechtsstaatstheorie ist das Ergebniß einer rein rationellen Auffassung des ge¬
sellschaftlichen Lebens, sie verlangt ausschließliche Berechtigung der individuellen
Freiheit und absolute Gerechtigkeit, die durch materialistische Gleichheit ver¬
wirklicht werden und auch das sittliche und materielle Lebenselement umfassen
soll; dies ist aber eine Utopie, weil der Staatszweck nicht blos im Rechte liegt
oder blos auf dem Rechtswege erreicht werden kann.
Die Theorie vom Rechtsstaates ist in ihrer modernen Form ein Produkt
der Kant'schen Philosophie. Die ersten Versuche zu ihrer Verwirklichung aber
gingen von der französischen Revolution aus, die mit ihren nach dieser Seite
hin gerichteten Bestrebungen dem damaligen Despotismus, dem „Polizeistaate"
gegenüber bis zu einem gewissen Grade wohl berechtigt war. „Es gab," sagt
Tocqueville, „keine freien Institute mehr, also auch keine politischen Klassen,
keine lebensvollen politischen Körperschaften, keine organisirten Parteien mit
ihren Führern; in Ermangelung aller dieser Kräfte fiel die Führung der öffent¬
lichen Meinung, als diese wieder auflebte, den Philosophen zu, und die Folge
war, daß die Revolution nicht so sehr im Hinblick auf einzelne bestimmte
Fülle, als nach abstrakten, sehr allgemeinen Theorieen geleitet wurde." Bücher
hatten dem Volke die Theorieen geliefert, es übernahm seinerseits die Praxis
und machte die einseitigen Ideen der Schriftsteller mit seinem leidenschaftlichen
Begehren nach unbedingter Gleichheit und Freiheit noch einseitiger und un¬
gerechter.
Was versteht man unter dem Ausdrucke „Rechtsstaat"? Vähr, der
neueste wissenschaftliche Vertreter der hier berührten Idee, antwortet: eine
solche Gestaltung der Genossenschaft der Nation, in welcher dieselbe das Recht
zur Grundbedingung ihres Daseins erhoben hat, und alles in ihr sich regende
Leben, das der Individuen sowohl wie das der Gesammtheit, unbeschadet der
für dasselbe nöthigen Freiheit sich um die Grundangeln des Rechtes bewegt.
Der ideale Staat ist ihm „der juristisch entwickelte Begriff für die Genossen¬
schaft der Nation". Das ganze Streben der Neuzeit sei, meint er, von dem
Begehren durchdrungen, „daß der Staatsbegriff die Stellung der Obrigkeit in
dieser Gemeinschaft nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich beherrsche".
Nun ist das Recht gewiß eine der Grundlagen der Volksgemeinde, aber
nicht die einzige. Wo Alles im Staate sich „um die Grundangeln des Rechtes
bewegte", wäre dieses nicht, wie Held sehr richtig bemerkt, der weite Rahmen
des äußeren Lebens, innerhalb dessen eine freie und mannichfaltige Bewegung
zulässig sein würde, sondern „der spanische Stiefel, der jede Bewegung schon
im Voraus mit unerbittlicher Strenge einzwängte und allerdings ein Minderes
als die Erfüllung der Rechtsforderung nicht gestattete, aber auch ein Mehreres
nicht zuließe". Wenn die höchste obrigkeitliche Persönlichkeit, der Souverän,
die Pflichten seiner Stellung als Rechtspflichten anzusehen hat, er aber für die
Erfüllung derselben nie rechtlich verantwortlich gemacht werden kann, so werden
wenigstens bei ihm das rechtliche und das moralische Beherrschtwerden sich
kaum scheiden lassen. Und was soll geschehen, wenn die moralischen Elemente
des Staatsbegriffes, der die Stellung der Obrigkeit beherrscht, mit den recht¬
lichen in Kollision gerathen, oder wenn unter außerordentlichen Umständen die
Beherrschung der Obrigkeit durch das vorhandene Recht wegen dessen Unzu¬
länglichkeit unmöglich ist? Diese Fragen erledigt man nicht, wenn man Rechts¬
pflege und Regierung trennt, der ersteren die Handhabung der Gesetze, der
letzteren eine freie Thätigkeit innerhalb der Schranken des Rechtes anweist und
die Verwaltung wegen ihrer Stellung zum Gesetze einer Rechtsprechung unter¬
wirft, ihre Trennung von der Justiz äußerlich nach Möglichkeit durchführt
und auch für die verfassungsmäßigen politischen Berechtigungen der Staats¬
bürger, d. h. für die den letzteren zur Erfüllung der politischen Pflichten ver¬
liehenen Rechte eine unabhängige Rechtsprechung anordnet. Denn die Rechts¬
pflege ist selber eine Verwaltungsthätigkeit oder ein Walten der Staatskraft.
Sie mag eingerichtet sein, wie sie will, selbst bei den vollkommensten Gesetzen
und bei ununterbrochener Thätigkeit der Gesetzgebung wird das Leben des
Staates sich nicht in Gesetzgebung und Rechtspflege abgeschlossen finden, und
da dieses Leben ein einheitliches und in allen seinen Theilen zusammenhän¬
gendes ist, so kann das außerhalb der Rechtspflege und Gesetzgebung sich be-
wegeilte Leben von dem innerhalb jener sich regenden niemals ganz geschieden
werden.
Nie galt jemand aus dem Grunde sür einen großen Politiker, weil er
neue Gesetze ersann oder schon bestehende gewissenhaft beachtete. Die Völker
haben den Werth des Mannes stets in anderen Dingen gefunden, und das
Ansehen des Gesetzgebers selbst gründete sich nicht darauf, daß er sich mit den
bereits vorhandenen Gesetzen in Uebereinstimmung befand, sondern darauf, daß
er Gedanken, die bisher noch nicht Gesetz, also nicht Gegenstand der Rechtspflege
waren, wohl aber dringende Bedürfnisse einschlossen, dadurch zur Geltung
brachte, daß er sie zu Gesetzen erhob. Ferner hat der Staat oft vergebens
versucht, ihm gefährliche Dinge durch Gesetz und Gericht zu bewältigen. Wie
wenig können letztere gegen schwindelhafte Spekulationen und gegen den Wucher
und andererseits für glückliche Ehen, gute Kindererziehung und tüchtige Vor¬
mundschaften thun!
Wir geben mit Held zu, daß zwischen der Verwaltung und den beiden
anderen Zweigen der Staatsgewalt in der Aemterorganisation unterschieden
werden muß, und daß das Gebiet der eigentlichen Gesetzgebung im Verhältniß
zur administrativen Verfügung und das der Justiz im Verhältniß zur Erledi¬
gung der Dinge nach Verwaltungsrücksichten noch der Erweiterung fähig ist,
leugnen aber ebenso mit ihm, daß „in irgend einem Stadium der Staatsent¬
wickelung eine äußere Unterscheidung haarscharf durchgeführt werden kann, daß
ein entschiedener Fortschritt des Staates in der Erweiterung des Gebietes der
Gesetzgebung und Justiz ohne gleichmäßige Erweiterung des Verwaltungsge¬
bietes zu denken ist, und daß das Gebiet der Gesetzgebung so vollständig aus¬
gebildet zu werden vermag, daß in allen denkbaren Kollisionen zwischen dem
Staat und den Einzelnen eine reine justizielle Entscheidung gegeben wird."
Der Staat, in welchem nur der Gedanke an die individuelle Freiheit und
deren Schutz herrscht, ist ebenso verloren wie der, welcher nur von dem Macht¬
gedanken der Herrschenden erfüllt ist. Die Freiheit der Einzelnen und die
Macht des Ganzen müssen in gleichen Verhältnissen bestehen und gesteigert
werden; denn das Individuum nimmt aus der Gesellschaft so viel, als es in
dieselbe abgibt, und umgekehrt. Wenn sich also auch überall ein Unterschied
zwischen der Rechts- und der Verwaltungssphäre zeigt, so kann derselbe doch
niemals ohne die höhere Einheit beider in der Regierung gedacht werden.
Daher sind auch administrativ-kontentiöse Sachen unvermeidlich, weil viele
Sachen nur vorwiegend Rechts- oder Verwaltungssache sind, und weil selbst
da, wo sie dies vollständig sind, möglicherweise darüber gestritten wird, ob dies
wirklich der Fall, und ob also die Gerichte oder die Verwaltungsbehörden über
sie zu entscheiden haben.
„Im Wesentlichen ist das Gesetz stabil und allgemein," sagt Held, „die
Verwaltnngsnorm beweglich und individualisirend. Aber die Gesetzgebungs-
politik ist entschieden Verwaltung und die Verwaltung Gesetzesvollzug, Ge¬
setzesergänzung." Der Richter hält sich an das Gesetz, aber ohne daß er
geltende Verwaltungsnormen, die jenem nicht widersprechen, unbeachtet lassen
dürfte. Der Verwaltungsbeamte handelt nach Verordnungen, ohne — Fälle
des Staatsnothrechts ausgenommen — die Grenze des Gesetzes überschreiten
zu können. Begnadigungen und Amnestieen beweisen, wie unzulänglich das
starre Recht ist. Alles, womit man Revolutionen und Staatsstreiche zu recht¬
fertigen Pflegt, alles was für Reformen des geltenden Rechtes, für den Erlaß
provisorischer Gesetze und für die Anerkennung patriotischer, aber das formelle
Recht verletzender Thaten spricht, zeigt gleichfalls dahin. Zu allen Zeiten galten
für die größten Momente in der Geschichte diejenigen, wo Einzelne dadurch,
daß sie sich ganz für ihre That einsetzten und die volle Verantwortung dafür
übernahmen, unter Beseitigung aller formellen gesetzlichen Hemmnisse den Staat
retteten.
Die innere Einheit von Verwaltung und Justiz zwang im vorrevolutio¬
nären Frankreich bei der Beeinflussung der Gerichtshöfe durch die Krone und
bei dem ganzen Gange der Entwickelung der Parlamente die letzteren, sich in
Verwaltungssachen zu mischen, und unterhöhlte so endlich auch diese Tribunale,
da sie dem Absolutismus nicht widerstehen konnten. Eine Erweiterung der
Justizfphäre, wie sie die Apostel des Rechtsstaates befürworten, müßte bei der
in unseren Tagen herrschenden populären Strömung die Justiz zu eiuer Ein¬
mischung in die Verwaltung im liberalen Sinne verleiten, wodurch sie sicher
ebenso ruinirt werden würde, ohne daß der Staat dabei gewänne.
Die Uebel, die man mit der Rechtsstaatstheorie beseitigen möchte, sind ent¬
weder unvermeidlich, oder nur zu vermindern, wenn die wahre konstitutionelle
Idee zur Verwirklichung kommt. Ueber die Ausführung der in der Rechts¬
staatsidee liegenden berechtigten Gedanken läßt sich demzufolge auch nichts
Allgemeines sagen, und „selbst von der zweckmäßigsten Ausführung darf man
nie zuviel erwarten; denn es bleibt ewig wahr, daß mehr Staaten zu Grunde
gegangen sind, weil man die Sitten, als weil man die Rechtsgesetze verletzt hat,
und daß es in Zeiten großer politischer Erregung kaum möglich ist, zugleich
politisch thätig und vor dem Rechtsgesetze schuldlos zu bleiben, daß endlich
auch niemals mit juristischer Schärfe ausgemacht werden wird, wo die Grenze
des erlaubten Widerstandes anfängt." ^
Wie kann das positive Verfassungsrecht eines Landes rechtmäßig abge¬
ändert werden? Doktrinäre Verblendung nur kann von vollständiger Auf¬
hebung einer Verfassung und Ersetzung derselben durch eine völlig neue reden.
Die gründlichste Umgestaltung eines Verfassungsgesetzes ging nicht einmal
materiell so weit, daß das neue Gesetz nicht wichtige Dinge aus dem bisher
geltenden, aus Hausgesetzen der Dynastie, Ständerechten u. tgi. aufgenommen
hätte oder überhaupt hätte fortbestehen lassen. Da aber die ganze Verfassung
eines Volkes sich nicht in Gesetze fassen läßt, und da die Erfahrung lehrt, daß
ein Staat trotz aller Revolutionen und Staatsstreiche als Staat weiter existiren
kann, so müssen außerhalb der Verfassungsurkunde verfassungsmäßige Bestände
vorhanden sein, die durch Veränderung der letzteren nicht aufgehoben werden
können. Eine Verfassungsurkunde ist daher nicht gleichbedeutend mit der Ver¬
fassung eines Staates, sondern nur der Ausdruck einer Veränderung einzelner
Theile dieser Verfassung.
Wer entscheidet, ob in ooiuzrsto dem vorausgegangenen Bestände und zu¬
gleich der auf Anerkennung hindrängenden neuen Rechtsüberzeugung gebührend
Rechnung getragen ist? Was ist eine formell anerkannte Wirksamkeit, resp.
Giltigkeit der oder jener Verfassung? Die entgegengesetzten Ansichten hierüber
werden sich stets auf Rechtsgründe stützen, und mit der im Obigen charakteri-
sirten Rechtsstaatstheorie ist dabei um so weniger zu helfen, als die Grund-
Prinzipien ihrer Vertreter ebenso verschieden sein können wie ihre politischen
Ansichten vom Staat und von der Staatsgewalt selbst, als ferner der Zustand
eines Staates, in welchem Verfassungsstreitigkeiten ausgebrochen sind, bereits
ein ungeordneter, dem formellen Nechtsstaatsbegriff entrückter ist, und über
solche Streitigkeiten kein Gericht auf versöhnende Weise mit entscheidender
Autorität aburtheilen kann. Geschieht dies doch, so ist immer das Prinzip des
Kompromisses wirksam. Ist dies nicht der Fall, so werden in den Formen
eines Rechtsstreites die mächtigsten politischen Gegensätze hervortreten und einen
Richterspruch über sich nicht anerkennen.
Auf die Frage, wie konstitutionelle Gesetze und namentlich Verfasfungs-
urkunden authentisch zu interpretiren sind, antwortet Held: „nicht nach den
strengen Konsequenzen des Rechtsstaates, also nicht rein nach juristischen oder
gar nach zivilistischen Begriffen"; denn abgesehen davon, daß diese von den
Juristen selbst bestritten sind, „suchen die Anforderungen des erhaltenden und
verändernden Lebensdranges des Volkes, die Macht der politischen Parteien
Befriedigung und Geltung", und diese kann in streng juristischer Auslegung
niemals gefunden werden, wohl aber hat hier das große politische Prinzip der
Transaktion oder des Kompromisses den Ausschlag zu geben — eine An¬
schauung, über deren Richtigkeit in England niemand in Zweifel ist. Daß die
authentische Auslegung verfassungswidrig erlassener Gesetze oder der Erlasse
usurpatorischer Regierungen der Behandlung uach den Ideen des Rechtsstaates
entzogen sein muß, ergibt sich schon daraus, daß der Gegenstand der Interpre¬
tation in solchen Fällen nicht innerhalb der Rechtsgrenzen liegt.
Auch in die Frage von der Gesetzesinitiative hat sich der Gegensatz der
politischen Meinungen und Parteien gemischt, und auch hier erweist sich die
Rechtsstaatstheorie als unzulänglich. Gerade die Leidenschaft der politischen
Parteien hat nicht nur den wesentlichen Pflichtcharakter der Gesetzesinitiative,
sondern auch den Umstand übersehen, daß dieselbe weder blos gegen das Volk,
noch blos gegen die Regierung wirksam sein kann. Eine falsche Anschauung
vom Wesen der Monarchie kann die Meinung, die Gesetzesinitiative gehöre zu
den wesentlichen Prärogativen der Krone, ebenso wenig rechtfertigen, wie die
ebenfalls irrthümliche Lehre von der Volkssouveränetät in einem monarchischen
Staate die Gesetzesinitiative als wesentliches Recht der Volksvertretung zu be¬
gründen vermag. Auch die Behauptungen, dieselbe müsse der Krone gehören,
damit nicht eine zu große Veränderlichkeit in die Gesetze komme, oder sie müsse
der Repräsentation der Staatsbürger zustehen, damit der Fortschritt nicht zu
sehr aufgehalten werde, sind nicht stichhaltig. Der formelle Gesetzgebungsakt
ist lange nicht so wichtig, als die lebendige Kraft, die ihn veranlaßt, der for¬
melle Bestand von weit geringerer Bedeutung als jene Kraft, die ihn erfüllt.
Kein solcher Akt ruft abgestorbene Einrichtungen wieder in's Leben, und mit
der Aufhebung eines Gesetzes sind ebenso wenig dessen Wirkungen vernichtet,
als mit Erlaß eines neuen Gesetzes die damit beabsichtigten Wirkungen ge¬
sichert sind. Hatte das aufgehobene Gesetz Leben, so besteht dasselbe fort, hat
das neue kein Leben oder nur halbes, fo wirkt es nicht oder (man denke an
die wirtschaftlichen Neuerungen, mit denen uns die Manchesterschule und die
Apostel der „Humanität" beschenkt haben) in üblem Sinne. Ob die beantragte
Neuerung anderswo ohne Nachtheil, ja mit Nutzen besteht, ist an sich von ge¬
ringer Bedeutung und kann sogar gegen das Gesetz sprechen; denn es macht
einen großen Unterschied, ob eine Einrichtung da oder dort als gewohnt er¬
tragen oder ob sie für ein Land vorgeschlagen wird, wo für die durch sie ab¬
zuändernden Bestimmungen starke und gerechte Sympathieen herrschen. Oft
hört man die Ansicht äußern, daß der Umschlag der öffentlichen Meinung stets
sehr schnell erfolge, die Völker also wandelsüchtig seien, aber, wie Held nach¬
weist, ist das Gegentheil der Fall. „Zweckmäßige Gesetze binden und begründen
schnell so viele und so mächtige Interessen, daß sie noch lange Lebenskraft
haben, wenn sie schon mächtig von neueren Interessen bekämpft werden. (Man
denke an die Delbrück'sche Aera und die ihr vorausgegangene Gesetzgebung auf
wirthschaftlichem Gebiete.) Der größte Fehler in der Gesetzgebung, seit die
Welt steht, war der, sich von der Reform überholen zu lassen und ihr erst
nachzuhinken — ein Fehler, den nur die Faulheit oder die Ueberschwenglichkeit
des Neuerungstriebes mitunter entschuldigt. Haben aber die Völker oft Jahr¬
hunderte hindurch unzweckmäßig gewordene Gesetze ertragen, so hat sicher, ehe
endlich der Umschlag wie ein Blitz zündete, ein langes Wetterleuchten stattge¬
funden. Würde längst Beanstandetes oder gar Verworfenes lange ertragen,
(z. B. die Einmischung Rom's in staatliche Angelegenheiten, die Versuche zu einer
Doppelherrschaft des Papstes neben den Fürsten), so erträgt man es endlich
nicht mehr, wenn das bessere Prinzip einen entscheidenden Lichtstrahl auf die
bisher dunkel gebliebene Stelle wirft. Man reibt sich die Augen wie geblendet
nach langem Schlafe, und es wird klar, daß ein längst gehegtes dunkles Ge¬
fühl das Recht auf allgemeine Anerkennung habe. Daß der Mensch nach
solchem Erwachen thätig eingreift und sich nicht in den früheren Zustand
zurückversetzen lassen will, das ist die eigentliche vis viwlis alles Fortschrittes."
Das leidenschaftliche Streben nach schneller Aenderung der Gesetze ist
natürlich, aber als Erzeugniß der Ueberzeugung, daß die im Volke herrschend ^
gewordenen neuen Bedürfnisse und Gedanken mit dem bestehenden Rechte nicht
im Einklange stehen und Beseitigung oder Abänderung desselben erheischen,
juristisch abnorm. Uebrigens ist dieses leidenschaftliche Streben nach Reform
keineswegs eine ausschließliche Eigenschaft der Völker, sondern es hat auch
Monarchen erfüllt; denn es äußert sich bei diesen wie bei den Völkern stets,
wenn, das Vorhandensein des erwähnten Widerspruches zwischen dem neuen
Bedürfnisse und dem vorhandenen Gesetze angenommen, diese oder jene that¬
sächlich die stärkeren sind.
Somit ist auch hier von der formellen Rechtsstaatsidee nichts zu hoffen:
die Thatsachen sind eben stärker als das formelle Recht. „Mögen
sich das," so schließt Held seine Betrachtungen über diesen Gegenstand, „die
Volker und ihre Repräsentationen gesagt sein lassen. Die Monarchie hat ihre,
innere Berechtigung, ihre absoluten Konsequenzen, und zwar nicht blos im
Interesse der Dynastieen und Monarchen, sondern auch in dem der Völker.
Gesetze, welche in blinder Leidenschaft gegen diese Berechtigung und ihre Kon¬
sequenzen durchgesetzt werden, und zwar selbst dann, wenn niemand an die
Vernichtung der Monarchie oder die Auflösung des Staates denkt oder diese
Will, werden die oben erwähnte Kollision seiner Zeit nicht minder herbeiführen,
wie Gesetze, welche in tiefer Verblendung die Konsequenzen der menschlichen
Freiheit ignoriren. Zentrum und Peripherie bedingen sich gegenseitig. Ein
unsicheres, schlechtgeordnetes Zentrum hat ebensowenig eine sichere und wohl¬
geordnete Peripherie wie eine mangelhafte Peripherie ein wohlsituirtes Zentrum."
Großer Streit herrscht über die Beantwortung der Frage, ob der Richter
die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Verordnungen zu prüfen habe; man
geht dabei bald von dem Rechte des Richters zu solcher Prüfung, bald von der
Annahme aus, daß derselbe zu ihr verpflichtet sei. In der letzteren Auffassung
erblickt man gern eine hohe Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips und verweist
wohl auch auf die berühmten Kämpfe, die in England zwischen den Gerichten
und den politischen Gewalten stattfanden, sowie auf die Unabhängigkeit des
nordamerikanischen Richters, der an kein Gesetz gebunden ist, das er für ver¬
fassungswidrig hält (der aber in Wirklichkeit von der herrschenden Partei ab¬
hängt.) Man empfindet dabei zunächst ein gewisses doktrinäres Behagen, daß
man die Rechtsstaatstheorie möglichst vollendet durchführen kann, sodann aber
folgt man offen oder insgeheim dem Wunsche, in den Gerichten eine für alle
Fälle ausreichende Hilfe gegen jeden Versuch einer Verfassungsverletzung zu
gewinnen. Diese Auffassung ist aber eine utopische. Mit der Verfassungs¬
mäßigkeit der Richter allein ist nicht durchzukommen, die Verwaltungsbehörden
sind nicht zu entbehren, auch durch das Prüfungsrecht der Richter nicht vollständig
abhängig zu machen, und man ist sich bis heute noch nicht klar darüber ge¬
worden, daß die Frage, welche Erlasse der Staatsgewalt ein Beamter in einem
konstitutionellen Staate zu vollziehen berechtigt und verpflichtet sei, ganz anders
zu beantworten ist, wenn der Staat eine wahre Monarchie darstellt, als wenn
er auf der Theorie der Gewaltentheilung beruht.
Die Streitfrage zerfällt eigentlich in zwei Fragen: 1.) Hat der Richter zu
untersuchen, ob eine Norm, um deren Vollziehung es sich handelt, in vollzieh¬
barer Form veröffentlicht worden, ob diese Publikation echt und ob sie in
keiner Hinsicht formell falsch ist? 2.) Hat derselbe zu prüfen, ob die formell
echte Publikation auch dem Gegenstande derselben nach der bestehenden Ver¬
fassung entspricht?
Die erste Frage wird von Held unbedingt bejaht. „Eine Norm," sagt er,
„welche weder vom Minister unterzeichnet, noch, wo eine besondere Promnl-
gationsformel für die Verkündigung der Gesetze vorgeschrieben ist, mit dieser
versehen erscheint, kann kein Beamter vollziehen. Thut er es doch, so handelt
er pflichtwidrig. Natürlich hat er sich auch davon zu überzeugen, daß die
formell richtige Publikation echt ist, die Kontrasignatur also vom Minister her¬
rührt, und die Promulgationsformel dem wirklichen Zustandekommen des Ge¬
setzes entspricht."
In Betreff der andern Frage macht es einen großen Unterschied, ob sie
in politisch klaren oder getrübten Zeiten praktisch wird, und ob die Natur des
Gegenstandes, der auf dem Verordnungs- oder dem Gesetzgebungswege normirt
worden ist, als Gegenstand der Gesetzgebung Zweifeln unterliegt oder nicht.
Die Einsicht, daß der Staat in Lagen kommen kann, wo die Anwendung der
gewöhnlichen konstitutionellen Gesetzgebungsformen unmöglich oder nur zum
Schaden des Staates möglich, ein Gesetz aber dennoch nöthig wäre, hat dazu
geführt, daß viele Verfassungen die Regierungen berechtigen, in solchen Fällen
Gegenstände der Gesetzgebung sür einige Zeit giltig auf dem Verordnungswege
zu normiren. Dies sind die sogenannten verfassungsmäßigen Oktroyirungen,
die provisorischen Gesetze. Die Befugniß, sie zu erlassen, ist ein ausdrückliches
Zugeständniß der Verfassung, daß die ordentlichen Gesetzgebungsformen in kri¬
tischen Augenblicken unzureichend sind. Durch die provisorischen Gesetze sucht
dieselbe manchen sonst unvermeidlichen formellen Verletzungen ihrer eigenen
Bestimmungen zuvorzukommen. Allein dies rettet den Rechtsstaat keineswegs.
Denn einmal muß, wie Held ganz richtig geltend macht, die Befugniß zum
Erlaß provisorischer Gesetze dem Souverän unter allen Umständen zustehen,
weil er sonst der Pflicht der Erhaltung des Staates nicht nachkommen könnte;
sodann aber geht die provisorische Gesetzgebung schon über die Grenzen des
Rechtsstaates hinaus, indem sie sich nicht an die etwa für sie geschaffenen
verfassungsmäßigen Schranken zu halten braucht, wenn die Umstände davon
abzusehen zwingen. „Es gibt im Leben der Staaten Nothwendigkeiten, welche
jeder vorausgehenden gesetzlichen Normirung spotten. Die provisorische Gesetz¬
gebung muß natürlich sehr verschieden aufgefaßt werden, je nachdem man fest-
geschlossene, harmonisch-organische Staatszustände oder deren Gegentheil vor
sich hat. Im letzteren Falle kann überhaupt vom Rechtsstaat nicht die Rede
sein, im ersteren aber handelt die Regierung, wenn sie die bestehende Harmonie
nicht böswillig zu lösen trachtet, durch das provisorische Gesetz, gleichviel, ob
es von der Verfassung ausdrücklich für zulässig erklärt worden ist, und ob die
darüber gegebenen Verfassungsbestimmungen in dem konkreten Falle anwendbar
sind oder nicht, also mit oder ohne das formelle Recht, nach dem uralten
Grundsatze, daß die Noth kein Gebot kennt, wie ein charakterfester, in sich selbst
einiger, starker Mann, schnell und entschieden nach den Anforderungen des
Augenblickes. Daher ist auch für den Gebrauch dieses Staatsnothrechtes
weniger die blos provisorische Geltung des oktroyirten Gesetzes als das Motiv
und die Art seiner Anwendung entscheidend. Die Politik, nicht der
Rechtsstaat ist die Hauptsache."
Will man, daß der Richter die Verpflichtung habe, Publikationen, die
nicht in verfassungsmäßiger Form zu Stande gebrachte Normen enthalten,
nicht anzuwenden, und daß er befugt sei, zu entscheiden, ob die Verfügungen
nach ihrem Gegenstande verfassungsmäßig entstanden seien, so übersieht man,
daß mit der Publikation einer entschieden nicht verfassungsmäßig geschaffenen
Norm, sowie mit dem Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit derselben die Grenzen
des Rechtsstaates bereits überschritten sind, und man sich im zweiten Falle auf
dem Gebiete der Politik befindet, wo ein gewöhnlicher Gerichtshof, der außer¬
halb des Parteilebens steht, die Frage nicht entscheiden kann, während ein
politischer wieder nicht in den engen Rahmen des Rechtsstaates geht. „Aber
auch im ersten Falle," sagt Held, „wird keine Regierung unterlassen, die poli¬
tische Nothwendigkeit als Grund für die Verfassimgsverletzung anzuführen, und
so wird die Frage auch hier zu einer politischen. Man spricht in solchen
Fällen von Usurpationen. Während man bei diesen immer davon ausgeht,
daß diejenigen, welche im Staate bleiben wollen, sich dem Usurpator nach
vollendeter Gewaltthat zu unterwerfen haben, und daß die wieder eingesetzte
legitime Dynastie die Regierungshandlungen des Usurpators, soweit sie nicht
durch die Restauration selbst aufgehoben werden, anerkennen müsse, verlangt
man von dem Richter und nur von ihm, nicht auch von den übrigen Staats¬
beamten, daß er diese Verfügungen unbedingt verwerfe. Man vergißt hierbei,
daß die Stände die Wächter der Staatsverfassung sind, und daß auch eine
Minister-Verantwortlichkeit besteht. Hat aber ein Regierungserlaß die Verfassung
formell verletzt, so beweist dies, daß Gesetz und Verfassung nicht ausreichen,
oder daß die politische Wirksamkeit der Volksvertretung und die Kraft der
Minister-Verantwortlichkeit geschwächt sind. Wie könnte man dann einem Stande,
der vom Volke und dessen Vertretern verlassen und durch besondere Diensteide
gebunden ist, wie könnte man den richterlichen Beamten dann in Folge einer
Konsequenz des Rechtsstaates zumuthen, der Usurpation allein zu widerstehen!"
Die Bürgschaft für die Unverletzbarkeit der Verfassung besteht uicht darin, daß
sie zur Anwendung in Kollisionen komme, sondern darin, daß Kollisionen
überhaupt nicht entstehen, mit anderen Worten, die Organisation der Volks¬
vertretung und der Aemter und deren ganze Haltung soll Verfafsungsverletzungen
verhindern. Sobald diese einmal eingetreten sind, gibt es Parteigegensätze, und
diese werden durch Richtersprüche nicht beseitigt. So aber ist unsere Frage,
wenn man sie aus dem Gebiete doktrinärer Behandlung in das der realen
Erscheinungen versetzt, wiederum eine wesentlich politische. Nicht der Rechtsstaat,
sondern die wahre politische Bildung des Volkes und seiner Abgeordneten sowie
die der Beamten gewähren die größte Sicherheit.
Betrachten wir nun zum Schlüsse mit Held noch die Frage der Nichtig¬
keit und Anfechtbarkeit der Gesetze und namentlich der Verfassungsgesetze im
Ganzen und Einzelnen, so ist es unzweifelhaft, daß ohne den gesetzgeberischen
Willen auch kein Gesetz denkbar ist. Allein das reicht für abnorme, juristisch
nicht bestimmbare Fälle nicht aus. Wie der Souverän sich genöthigt sehen kann,
die verfassungsmäßige Form der Gesetzgebung durch ein proviforisches Gesetz
zu umgehen, so kann das Volk in gewissen Fällen, z. B., wenn sein Souverän
entflohen oder in dauernde Gefangenschaft gerathen ist, gezwungen sein, ohne
ihn, den verfassungsmäßigen eigentlichen Gesetzgeber, einstweilen Gesetze zu
erlassen. Was nützt es dann, wenn diese später von der einen Seite für
nichtig, von der andern für giltig erklärt werden? Und kann die Entscheidung,
wenn sie schließlich erfolgt, eine richterliche, muß sie nicht vielmehr stets eine
politische sein?
Ein Gesetz ist null und nichtig, wenn es in einer Form und mit einem
Inhalt erlassen wird, durch welche es nach ausdrücklicher Vorschrift des geltenden
Verfassungsrechtes ungiltig ist. Der Zweck solcher Vorschriften ist, gewissen
Grnndbestünmungen der Verfassung den Charakter des unbedingt Unver¬
änderlichen zu geben. Allein auch die Rechtsstaatsidee kann dem Rechte diese
Eigenschaft nicht verleihen. Alles Recht ist veränderbar, und so kann keine
rechtliche Einrichtung blos dadurch, daß ein Gesetz jede Abänderung derselben
nichtig nennt, unveränderbar werden. Das Bedürfniß kehrt sich an solche
Klauseln nicht, und die formellen Grenzen des Rechtes sind bei ernstlichem
Aufeinanderstoßen derselben mit der Macht der Umstände entweder schon zer¬
stört oder doch bald gebrochen. Unsterblich ist nur die Idee des Rechtes,
nicht die konkrete Verwirklichung desselben, die vielmehr immer von
neuem an anderen Bedürfnissen stirbt, um dann mit diesen verschmolzen, in
ihnen aufgehoben in anderer Gestalt und mit reicherem Gehalt wieder auf¬
zuleben.
Was endlich die Anfechtbarkeit der Gesetze betrifft, so läßt sich in den
meisten Fällen nicht feststellen, ob und wie weit der Wille des Gesetzgebers
oder der mitwirkenden Faktoren ein durch Gewalt, Furcht oder Irrthum
wesentlich bestimmter und in Folge dessen mangelhafter gewesen ist. „Gewalt
und Furcht vor moralischer oder äußerer Pression sind," wie der wiederholt
angeführte Staatsrechtslehrer bemerkt, „begrifflich sehr verschieden, obgleich sie
Praktisch oft gar nicht unterschieden werden können. Der Irrthum des Gesetz¬
gebers aber kann nicht nach privat- oder strafrechtlichen Grundsätzen über die
Folgen des Irrthums behandelt werden, da bei jenem das Interesse des Staates
und nicht die persönliche Meinung nur als solche entscheiden muß. Sind aber
in Fällen, wo von Vergewaltigung, Furcht oder Irrthum des Gesetzgebers
gesprochen wird, immer auch anormale Zustände gegeben, und haben sich die
Rechtsschranken bereits als unwirksam oder doch ungenügend erwiesen, so ist
überdies zu beachten, daß heute dasjenige rechtmäßige Einwirkung sein kann,
was gestern rechtswidriger Zwang war, und daß die Zurücknahme einer formell
giltig ertheilten Sanktion in der Regel für Krone, Staat und Volk mehr
Bedenkliches haben wird als das kluge Abwarten des zu einer verfassungs¬
mäßigen Abänderung geeigneten Augenblickes. Immer wird nicht sowohl dem
formellen Recht als der rechten Politik die eigentliche Entscheidung bleiben,
die dann allerdings auch zu Gunsten des ersteren ausfallen kann."
Noch vieles ließe sich anführen, woraus hervorgehen würde, daß der
Rechtsstaat, den die Juristen unter unseren Abgeordneten gewöhnlich meinen,
wenn sie den Ausdruck gebrauchen, nichts ist als das Ergebniß einer einseitigen
Auffassung, nichts als eine Utopie. Wir meinen aber, daß das Gesagte hin¬
reichen wird, ihn als solche erkennen zu lassen.
„Im Anfang war die That!" Diese Abänderung des bekannten Evan¬
gelientextes, bei welcher Goethe's Faust zuletzt „auf einmal Rath sieht", ist
mehrfach zum Motto der deutschen Philosophie der letzten Jahrzehnte geworden.
Die Systeme, welche auf Kant und Fichte folgten, also vorzüglich das des
jugendlichen Schelling und die Lehren Hegel's, waren Systeme einer fatalisti¬
schen Nothwendigkeit gewesen, welche dem Prinzip der „That" diametral ent¬
gegenstand. Die Gottheit, der Urgrund des Daseins, war ihnen entweder
Eins mit der logischen Vernunft, aus deren formeller Gesetzmäßigkeit sie den
gesammten Lebensprozeß des Universums zu begreifen suchten, oder es wurde
wohl ein etwas voller und realer bestimmtes Urwesen an die Spitze gehoben,
ohne doch in anderer Weise als durch inhaltleere logisch-metaphysische Noth¬
wendigkeit das Weltdasein und seinen Inhalt abzuleiten — vielmehr ableiten
zu wollen. Denn eben dieses Ableiten wollte niemals gelingen. Es mußte
eine Zeit folgen, welche dem „Ableiten" überhaupt gram wurde, am liebsten
aller logischen oder metaphysischen Nothwendigkeit den Rücken kehrte, wenigstens
ihr allein nicht mehr zutraute, der Atlas des Universums zu sein. Schelling
hatte, in die reiferen Mannesjahre getreten, im Jahre 1809 die Puppenschale
seiner Jugendphilosophie gesprengt; mit der Parole „Wollen ist Ursein" entflog
er den starren Fesseln der Nothwendigkeit. Langsam reiften von diesem Momente
an die „Philosophieen der That", und immer lauter erklang der Ruf nach
einem Systeme der Freiheit, während gleichzeitig die Systeme der Nothwendig¬
keit noch Jahrzehnte lang gepflegt, ausgebildet, verbreitet wurden und sich der
Herrschaft freuten. Endlich, nachdem diese Herrschaft durch Thatsachenforschung
und Gedankenkritik in der öffentlichen Meinung für völlig gebrochen gelten
konnte, da wäre die Zeit gewesen, mit den Philosophieen der That den sieg¬
reichen Einzug zu feiern.
Daß sie es hierzu nicht brachten, lag an gar mancherlei Ursachen; zum
nicht geringen Theile an ihrer eigenen Beschaffenheit, an ihrer Verquickung mit
den oder jenen unannehmbaren Elementen — so mit Orthodoxie oder Mystik,
wie bei dem späteren Schelling selbst, bei Stahl u. A. —, an der Einseitigkeit
und Schroffheit, mit der sie, im Kampfe mit der Nothwendigkeitslehre, auch
ihrerseits wieder in Extreme und Undenkbarkeiten verfielen. Und in der Zwi¬
schenzeit hatten ganz anderartige Denk- und Lebensrichtungen den „Schatten
breitgesessen" unter dem Baume, unter dem jene sich gern gelagert hätten. Die
auf praktisches Wirken und Schaffen sich immer entschiedener hinwendende Zeit
schien dem Idealismus, der das Leben im Denken und Dichten fand, für immer
den Athem zu versetzen.
Allein eben dieser letzterwähnte Umstand trug einen bis dahin über Ge¬
bühr vernachlässigten Denker an die Oberfläche des Zeitbewußtseins empor,
dessen Lehre gleichfalls zu den Philosophieen der freien That oder des an keine
Vernunft gebundenen „Willens" gehörte. Schopenhauer wurde für das
Jahrzehnt von 1850—1860 und darüber hinaus zum Messias der verstimmten
und zurückgedrängten Idealisten und Romantiker. In ihm verkehrte sich das
Wort „Im Anfang war die That" zu dem Sinne des Pessimismus, wonach
eine Unthat, eine Missethat es gewesen, welche die Welt in's Dasein rief. In
dieser Verkehrung allein sollte die Philosophie der freien That in der Ent¬
wickelung des deutschen Geistes zunächst — und sehr bald noch ein zweites
Mal — Epoche machen.
Das Auftreten des Schopenhauer-Enthusiasmus, in dem Zeitraume zwi¬
schen den bitteren Enttäuschungen des Jahres 1849 und dem Wiederaufbrechen
nationaler Hoffnungen gegen die Mitte der sechziger Jahre, ist eine nach allen
Seiten leicht begreifliche Erscheinung. Es war nicht nur der alte philosophische
Idealismus, sondern zugleich der poetische und der politische, der jetzt mit
Leidwesen einer neuen Zeit sich gegenübergestellt fand, vor der er sich genöthigt
sah, grollend zurückzuweichen. Die politischen Erhebungen der letzten vierziger
Jahre, selbst noch aus romantischer Jugendpoesie geboren, hatten den verzwei¬
felten Versuch gemacht, den Bund mit den realen Aufgaben der wirklichen
Menschengeschichte und mit dem praktischen Drange der Zeit dadurch zu schließen,
daß die Träume der Burschenzeit ohne Weiteres in Wirklichkeit umgesetzt wurden.
Zwar hatte es den Anschein, als bedeute das Scheitern dieser Bestrebungen
nur den Triumph einer andern Art von Romantik, der mittelalterlich konser¬
vativen und frommen; der Geist der Geschichte liebt die Ironie: in Wahrheit
bedeutete jenes Scheitern den unbedingten Sieg der verständigen Nüchternheit
und illusionsfreien praktischen Erwägung, — für den Idealisten und Roman¬
tiker, der sich nicht bekehren mochte oder konnte, den Sieg der Verzweifelung,
des Pessimismus. Gleichen Schritt mit den Niederlagen eines politischen
Idealismus hielt die Verdrängung des romantischen Geistes aus seiner eigent¬
lichen Heimat, aus der Poesie: auch im dichterischen Schaffen errang eine
Richtung immer mehr Beifall und Ausbreitung, welche die poetischen Elemente
an der „Arbeit", an der gefunden Kraft sittlicher Tüchtigkeit hervorhob. Endlich
hatte aus dem Bankerotte der alten Begriffsspekulation die der Naturwissen-
schaft verwandte Herbartische Schule hinübergeleitet zu immer unbedingterer
Herrschaft der Erfahrungsmethode und der Beschränkung auf sicher Feststell¬
bares. Alle diese sich jetzt endgiltig entscheidenden Wandelungen des deutschen
Geistes drängten den unheilbaren Schwärmer in eine pessimistisch brütende
Beschaulichkeit hinein, und wenn er in dieser Stimmung mit Begierde die
sinnesverwandte Lehre Schopenhauer's ergriff, so durfte er sich nicht einmal
sehr unmodern erscheinen; denn Schopenhauer redete bei Allem doch gar sehr
die derbe, anschauliche Sprache der Zeit, war ein Empirist trotz Einem und
hatte den Willen zum Prinzip, wenn er ihn auch dadurch, daß er sein Werk
in die bloße „Vorstellung", also in eine nichtige Gedankenwelt einschloß, so¬
gleich wieder entmannte.
Bekanntlich ist Ed. v. Hartmann, der zuerst im Jahre 1869 mit seiner
„Philosophie des Unbewußten" vor die Öffentlichkeit trat, zum Erneuerer des
Pessimismus für eine Zeitepoche geworden, in welcher die Ausbreitung und
beifällige Aufnahme einer solchen Denkweise zunächst weniger verständlich ist.
Umsomehr sind wir zum Nachdenken darüber aufgefordert und dürfen die
Aufrichtigkeit einer Selbstprüfung nicht scheuen, bei der die Mängel und ge¬
heimen Krankheiten des Zeitalters an's Licht zu kommen drohen.
Wir wissen es, jener Umwendung des deutschen Geistes zu einer verstan¬
desklaren und um so kraftvolleren Ergreifung realer Ziele, jener Wegwendung
von einem träumerischen Versinken in das Innenleben und von schwärmerischem
Hangen am Unerreichbarem, ihr verdanken wir die Erhebung zu einem reineren
und energischeren sittlichen Idealismus, und durch diesen die machtvollen gegen¬
wärtigen Daseinsformen unseres nationalen Lebens. Zunächst wird das hiermit
Errungene an sich selbst als ein Quell hoher Befriedigung, als unmittelbarer In¬
halt eines neuen nationalen Glückes empfunden. Das Hochgefühl bewährter Kraft
und erworbener Größe kann auf eine Zeit lang selbst als Zieles genug erscheinen
für jedes, auch das anspruchsvollste menschliche Wollen, erhebend über das
Heer der nun einmal unvermeidlichen Uebel des menschlichen Lebens. Das
Gefühl jener Genugthuung, meint man, habe sich nur eben von jetzt ab zu
verbinden mit den kleineren Befriedigungen durch Arbeit und Genuß, wie sie
in allen Zeiten dieselben bleiben, um in dieser Verschmelzung ein dauerndes
Ueberwiegen wahren Wohles zu schaffen. Allein eine solche Anschauung und
Empfindung kann nicht bestimmt sein, anzudauern. Das Leben pulsirt weiter,
so in der Nation Und im öffentlichen Thun, wie im Einzelnen und seinen ein¬
geschränkteren Strebenswegen. Rasch, unabwendbar, mit unerbittlicher Logik,
drängen sich die bis dahin zurückgeschobenen, noch unerledigten Aufgaben heran;
gerade von der Höhe des Erreichten herab und im Lichte seiner Lust fällt ein
geschärfter Blick auf die zurückgebliebenen Uebel und Schwächen und macht
ihren Kontrast fühlbarer als jemals. Ja, es brechen Wunden auf, deren Da¬
sein kaum geahnt wurde; tiefe Gruudgebrecheu der Menschennatur und unheil¬
volle Gewalten werden sichtbar, die jetzt als unüberwindlich erscheinen wollen,
nachdem die Nation alle Stadien der Geisteskultur und Kraftentfaltung durch¬
lief, ohne sie zu überwinden. Die Verstimmung erneut sich, aber gefährlicher
als vorher. Denn es sind jetzt nicht mehr nur die Nachwirkungen alter Ideale,
die zum Weltschmerz ausschlagen; es ist das realistische Wollen des Zeitalters
selbst, das in Verbitterungen sich eingräbt. Und jetzt fehlen ihm die Trö¬
stungen, die eine frühere Zeit in einer Welt dichterischer Phantasiegebilde und
lyrischer Stimmungen, in Poesie, Musik und aller schönen Kunst, in gefühlvoller
Lebenserfassung, in hochfliegenden philosophischen Gedanken und ihrer wiederum
künstlerisch geistvollen Aussprache, oder in der Nährung frommen Sinnes und
religiöser Anschauungen gefunden. Denn der Gegenschlag unserer realistischen
Tendenzen gegen alle diese Herrlichkeiten der Geisteswelt mußte etwas stark
wirken, um seinen Zweck zu erreichen, und vieles dadurch Zerstörte oder doch
Zurückgedrängte haben wir Mühe, neu zu beleben. So fehlt denn leider auch
jetzt noch dem verzagten Herzen keineswegs der Stoff zum Pessimismus: ja
der Pessimismus erscheint von Neuem als die Kulturkraukheit der Zeit, die ihre
bedeutsamsten Krisen begleitet.
Hartmann's Schriften und Lehren besitzen alle Eigenschaften, um dem
spezifisch modernen Sinne, wo er zum Pessimismus neigt, annehmlich zu sein.
Der Pessimismus, der die gegebene Wirklichkeit bekämpft und verurtheilt, haßt
und flieht, wird jederzeit sein Rüstzeug in den Anschauungen des Idealismus
suchen: so der Schopenhauer'sche, so der Hartmann's. Gern folgt ihm die
stimmungsverwandte Zeitgenossenschaft, wenn er im Uebrigen nur ihre Sprache
redet, in eine sonst als veraltet angesehene Ideenwelt. Diese gewünschte Ein¬
kleidung alter Gedanken in moderne Gewandung hoben wir bei Schopenhauer
in Bezug auf die Tage seines höchsten Ansehens hervor; Hartmann zeigt uus im
gleichen Maße für unsere Tage das angemessenste Kostüm, realistischer in Ansicht
der Dinge und Umfassung im Vergleich zu Schopenhauer, wie unser Jahrzehnt
weit über das vorige hinaus ist in der Entfernung vom Fichte'schen Ich-
Traum, von indischer Beschaulichkeit und von Abtödtung des thatlustigen
Willens durch Musik und Kunstschau, diesen drei Elementen der Schopen-
hauer'schen Weltflucht. Keine Rede mehr bei Hartmann von einer täuschenden
Vorstellungswelt, einer „Maja", in der sich das wahrhafte eine Sein nur
trügerisch in die Formen von Raum und Zeit hüllt. Keine Rede von einem
romantischen Flüchten in die Welt des Lichtes und des Tones, von einer Selig¬
keit der Kontemplation im reinen Aether der Idee. Nichts liegt Hartmann
serner als die Aesthetik und ein Schwelgen in Gefühlen. Er steht mitten im
Treiben unserer Alltagswelt; von Nichts erfüllt und angeregt, als von den
Sorgen und Fragen der unmittelbaren Gegenwart, in der Hingebung an die
aufregenden Probleme der Zeit und in der eingehendsten Beurtheilung der
schwebenden Parteikämpfe das völlige Widerspiel Schopenhauer's, ruft er uns
zu, völlig einstimmend in den allgemeinen Chor: Arbeiten! Ringen! Kämpfen!
Weiterdahinbrausen im Dampfzuge des „Fortschritts"! In der wissenschaft¬
lichen Methode sucht er ausdrücklich und geflissentlich Fühlung mit naturwis¬
senschaftlicher Empirie und verarbeitet in reichlicher Sachkenntniß die Lieblings¬
hypothesen heutiger Naturforschung, während Schopenhauer noch mit philoso¬
phischer suffisance den Physikern die Goethe'sche Farbenlehre als Evangelium
entgegenhielt. Schopenhauer's Schriften wuchsen noch ganz ans dem Schrift¬
stellerideal unserer dichterischen Periode heraus: sie strotzen von geistreichen
Pointen, blendenden Einfällen, göttlichen Grobheiten, glücklich gegriffenen Citaten
aus einer unübersehbaren Literaturkenntniß. Hartmann's Schreibweise kennt
von allen solchen Würzen nur — den Cynismus, in hin und wieder einge¬
streuten Ausbrüchen eiues Übeln Humors, die jeder originalen Kraft entbehren,
durch eine ungenirte platte Derbheit — in unverkennbarer Lokalfarbe —
lediglich aus dem Stil der sonst glatten, objektiven, verstandesklaren Darstellung
herausfallen und durch Gefühllosigkeit verletzen. Mußten wir endlich im großen
geschichtlichen Zusammenhange der philosophischen Systeme des Jahrhunderts
es völlig angemessen finden, daß den Lehren von einer unlebendigen, blinden
Nothwendigkeit Versuche von Willensphilosophie, von Philosophieen der freien
That folgten, so genügt auch dieser Forderung Hartmann, wie Schopenhauer,
aber wiederum angemessener als dieser, dem realistischen Sinne der Zeit. Dies
schon darum, weil Schopenhauer's Urwille nur eine geträumte Vorstellungs¬
welt schuf, Hartmann aber den Schöpferwillen seines „Unbewußten" in Raum-
und Zeitformen seinen Inhalt gießen läßt, die so wirklich sind, wie wir sie
vorstellen. Und nicht mehr in Kant, Fichte und in jener Keimgestalt der nen-
schelling'schen Lehre, wie sie im Jahre 1809 noch unerschlossen an's Licht ge¬
treten, findet Hartmann die Ansatzpunkte für die Einreihung seiner eigenen
Philosophie in den großen Strom deutscher Spekulation, sondern es ist die
entwickeltere, jüngere Ausgestaltung des Neuschellingianismus, an die er sich
anlehnt. Hier fand er eine Trennung vor zwischen dem Reiche der Vernunft
und dem Reiche der Wirklichkeit, die das letztere mehr, als jemals die Philo-
Sophie zugestanden, einer geschichtlichen Empirie überließ. Hartmann's Pessi¬
mismus steigerte diese Trennung bis zum Gegensatze von Vernunft und Un¬
vernunft. Er entfernte allerdings das Werk des Meisters zu seinem Vortheil
aus dem mystischen Farbenschimmer des byzantinischen Doms, worin jener es
aufgestellt, und entledigte es der Attribute christlicher Orthodoxie; aber auch
Arme und Haupt hat er der Statue abgeschlagen, die ihr allein den Ausdruck
eines hohen, edeln Jdealglaubens liehen. Wahrlich, sehen wir jetzt den Torso
stehen, zwar auf neuem „empirischen" Postament, aber traurig ergänzt, und
noch dazu beschmutzt und bestoßen vom Samstagsverkehr und Straßenstaube
der Großstadt — wir besorgen, Wenige werden es glaubhaft finden, daß wir
in ihm die geretteten Ueberreste einer Schöpfung besitzen, die den Geist von
Schelling's „Rede über die bildende Kunst" noch erkennen ließ, und deren
Stilformen wir aus dem Gespräch „Clara", aus den „Weltaltern" und so
manchen anderen, noch jüngeren Stücken des Schelling'schen Nachlasses kennen.
Das jüngste Werk Hartmann's, das uns zu diesen Betrachtungen den
Anlaß bot,nennt sich „Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins"*) —
ein Buch von nahezu 900 Seiten, bestimmt, die „Prolegomena zu jeder künf¬
tigen Ethik" zu enthalten. Es liegt ihm ein großartiger Plan zu Grunde,
und gern wird man zugestehen, daß derselbe auf tüchtige Studien aufgebaut
und mit Klarheit durchgeführt ist, ja daß das Werk, bei seiner Ausdehnung
doch aus einem Gusse, in frischem, energischem Festhalten des Tones geschrieben,
im Ganzen nicht ohne imponirende Wirkung bleibt. Seine Absicht ist, alle
Moralprinzipien, welche jemals aufgestellt worden sind oder etwa aufgestellt
werden könnten, in systematischer Folge die Revue passiren zu lassen,-um zu
zeigen, wie ein normaler Gedankenfortschritt aus dem schlechtesten und un¬
brauchbarsten dieser Prinzipien zu dem nächst besseren überleitet, und so fort,
bis das höchste und allein vollkommen wahre erkannt ist. Die durch diesen
Plan auffällig genug hervortretende Aehnlichkeit mit Hegel's „Phänomenologie
des Geistes" hat die Wahl des Titels veranlaßt. Auch die Gliederung zeigt
Aehnlichkeiten. Zuerst werden uns in einer Vorhalle die „Pseudo-Moralprin-
zipien" vorgeführt: das „individual-eudämonistische" Prinzip oder die Selbst¬
sucht, welche durch die pessimistischen Ueberzeugungen zum Bankerott getrieben
wird, und das „heteronome" oder „autoritative" Prinzip, d. i. die Abhängig¬
keit von fremdem Willen. Der nun folgende eigentliche Hauptkörper des
Werkes bringt die in Wahrheit erst so zu nennenden Moralprinzipien zur
Besprechung, und zwar 1.) die subjektiven, das sind die psychologischen Formen,
in welche sich die Motive unseres Willens kleiden, 2.) die objektiven, das sind
die vorgestellten Endziele des Wollens und Handelns, 3.) die absoluten Moral¬
prinzipien oder den „Urgrund" der Sittlichkeit, das sind diejenigen metaphysi¬
schen oder religiösen Grundansichten, durch welche sich die Reflexion in letzter
Instanz die Frage nach der Berechtigung und Nothwendigkeit sittlicher Forde¬
rungen beantwortet. Der hiermit bezeichnete Gedankenfortschritt weist allent¬
halben die verlassenen niederen Stufen oder unvollkommeneren Moralprinzipien
zugleich in ihrer relativen Berechtigung nach und kommt überall zu dem
Resultate, daß jene Prinzipien nur durch Einseitigkeit irren, ergänzt aber durch
die höheren und zu diesen emporgehoben einen wesentlichen Theil der Ge¬
sammtheit des ethischen Lebens und der ethischen Erkenntniß ausmachen. Die
Ergänzung macht sich schon formell aus dem Grunde nöthig, weil jede der
drei Klassen von Prinzipien eine ganz besondere Seite des ethischen Problems
beantwortet, so daß selbst das Wort „Prinzip" in Wahrheit für jeden der
drei Haupttheile etwas Anderes bedeutet. In der That finden wir, daß dem
entsprechend nicht blos ein Mal, sondern drei Mal nach jener Methode der
Anfstufung der Gipfel der höchsten Wahrheit erstiegen wird, in jedem Haupt¬
theile gleichsam eine andere Kuppe des Gipfels. So gelangt der erste Theil
— wir lassen das, was wir die Vorhalle nannten, ungezählt — in Beant¬
wortung der Frage nach den psychischen Motivirungsformen über die Stufen
der Geschmacksmoral und der Gefühlsmoral hinweg zur Vernunftmoral: letztere
bildet hier das Endresultat; die Form der Vernunfterkenntniß tritt als die
höchste, vollendetste Form der Willensbestimmung, wie als die einzige Wahr¬
heitsquelle der wissenschaftlichen Ethik, an das Ende dieser ersten Reihe von
Musterungen. Aber was nun ist das vernunftmäßig Gute? Welche Hand¬
lungen, also welche Ziele, gebietet die Vernunft unserm Willen? Die Ant¬
worten hierauf, obwohl sie von den Erörterungen des ersten Theiles nicht
völlig ausgeschlossen werden, bilden doch erst für den zweiten den eigentlichen
Gegenstand: wir lernen hier das „sozial-eudümonistische" Prinzip kennen, d. i.
das des Gesammtwohles, sodann das „evolutionistische" oder das der Kultur¬
entwickelung, zuletzt das Prinzip der sittlichen Weltordnung. Letzteres, in
welchem die versöhnende, einheitliche Zusammenfassung der beiden anderen
liegen soll, tritt eben deshalb hier als abschließendes Endergebniß hervor. Noch
weniger rein scheidet sich in der Ausführung der dritte Theil ab; allein die
Meinung ist doch auch hier, ein Problem zu stellen, das zu den vorher be¬
handelten neu hinzutritt, und nach einem „Prinzip" zu fragen in ganz anderem
Sinne als in den früheren Abschnitten. Es ist hier nicht mehr die Erkenntniß
des rechten Wollens, auch nicht mehr die des rechten Zieles, welche uns be¬
schäftigen soll — obwohl die letztere eingemengt ist —, sondern die Erkenntniß
des höchsten Warum? für sittliches Wollen und sittliche Zielsetzung nach In-
halt, wie Form. So gelangen wir denn in diesem Theile zunächst zu dem
„monistischen" Prinzip, welches in einer Wesenseinheit der Individuen, ja aller
Geschöpfe, den höchsten Grund der Moralität finden will, sodann zu dem reli¬
giösen Prinzip, durch welches diese Wesenseinheit näher bestimmt wird zu einer
Wesenseinheit der Geschöpfe mit dem Absoluten, mit Gott; es folgt in dritter
Stelle das „absolute" Prinzip oder das „der absoluten Teleologie als der des
eigenen Wesens", welches zu den vorigen die nöthige Spezifikation hinzufügt,
daß unser Einssein mit Gott sich des Näheren herausstelle als ein Einwohner
der göttlichen Zweckthätigkeit, des göttlichen Zielstrebens, in der innersten
Wesenstiefe der menschlichen Persönlichkeit. Der Abschluß wird hier erreicht
in dem „Moralprinzip der Erlösung", in welchem nach Hartmann alle die vor¬
her, auch in den früheren Theilen, einzeln auf ihre Leuchtkraft geprüften
Strahlen sich in die eine Sonne der erkannten sittlichen Wahrheit zusammen¬
fassen sollen. Hier wird deshalb auf die Zielfrage zurückgegriffen und die
Problemstellung nicht unwesentlich verschoben.
Selbstverständlich kommt hiernach Alles auf Beantwortung der Frage an,
was die Vernunft für den Zweck unseres Handelns, für das zu Setzende Ziel
unseres Wollens erkenne. Jener zweite Haupttheil, der die denkbaren Ant¬
worten in diesem Betracht zu prüfen hatte, endigte mit etwas Ungesagtem.
Denn der Begriff „sittliche Weltordnung" verräth uns nicht, was denn das
Sittliche sei, und die Anweisung auf den „Kulturfortschritt" verschweigt, um
welcher Ziele willen wir „Kultur" und „Fortschritt" zu loben haben und nicht
vielmehr zu verabscheuen. Wir hören dort nur, daß das Kulturprinzip über¬
zuordnen sei dem Prinzip des Gemeinwohles, daß die Steigerung der Kultur
keineswegs das Wohl steigere und verbreite, sondern die Uebel vermehre, und
daß man deshalb wohlthue, das Kulturprinzip aus Barmherzigkeit mit dem
immerhin niederen, minder berechtigten Prinzip des Gemeinwohles zu kombi-
niren, wie das schwache Weib gefühlvoll und lind dem starken Manne zu
Diensten steht, die harte Arbeit versüßend, die Wunden pflegend, wo möglich
heilend. Wir erfahren dort ferner, daß es eine Rangordnung der Zwecke gebe
in der sittlichen Schätzung und in der Verbindlichkeit für den vernünftigen
Willen: das Interesse der weiteren, umfassenderen Gemeinschaft — gleichsam
eines höheren Gesammt-Jndividuums — steht über dem Interesse der engeren,
das Interesse auch der engsten Gemeinschaft über dem des Einzelwesens;
Allem schlechthin überzuordnen ist der Zweck des Universums, der Gotteszweck.
Auf ihn hinaus geht die Kulturentwickelung, der wir dienen sollen, und um
deren willen wir Leiden schaffen und Leiden erdulden sollen. Wohl! Wir
sind dazu entschlossen; denn wir können nicht meinen, unsere Idee des Guten
sei sittlicher als Gott selbst; nennen wir Gott doch nur eben das Beste, das
wir lieben und kennen, und die ethische Vernunft, der uns Hartmann selbst
folgen lehrte, sollte sie einen anderen Inhalt haben als die Vernunft Gottes?
Aber welches ist dieser Inhalt, welches ist der Gotteszweck?
Unser Autor hält rin der Antwort zurück bis auf die letzten Seiten des
Werkes. Hier erst sinkt die letzte Hülle; hier erst kommen die Voraussetzungen
an den Tag, von welchen die gesammte Erörterung von Anbeginn getragen
war; erst hier sind wir bei Hartmann selbst, wie wir seit zehn Jahren ihn
kennen. Merkwürdig! Er macht auf diesen letzten Blättern einmal vorüber¬
gehend Miene, dieses allein ihm Eigene seiner Philosophie und diese wahren
Grundpfeiler seines ganzen Lehrgebäudes, wie im Besonderen der jetzt hervor¬
getretenen moralischen Seiten desselben, für eine bloße „persönliche Ansicht"
auszugeben, für eine „Zugabe", deren wissenschaftlichen Werth er sonach mit
wohlbegründeter Bescheidenheit in zweifelhafte Beleuchtung rückt. Allein diese
Anwandlung ist schnell vergessen, als er die letzte Krönung aufgesetzt hat und
mit einem dröhnenden Posaunenstoß der staunenden Mitwelt die Vollendung
des Werkes verkündigt:
„Vor der Erhabenheit dieser Entwickelungsstufe des sittlichen Bewußtseins
schwindet jede Möglichkeit des Einspruchs; der Einzelne mag behaupten, daß
er sich zum schwindelfreien Erklimmen einer solchen Höhe bislang untüchtig
und vielleicht für immer unfähig fühle, aber er soll sich nicht erdreisten, das
Erhabenste zu bemängeln, weil seine Kleinheit ihm zufällig die Hoffnung ver¬
wehrt, zu demselben hinaufzureichen. Wessen Magen nicht dazu gemacht ist,
um von Nektar und Ambrosia zu leben, den wird Niemand schelten, wenn er
sich von Schweinefleisch und Sauerkohl nährt, nur soll er nicht die Speise
schlecht nennen, weil seine Konstitution zu untergeordneter Art ist."
Niemand, der Etwas von Psychologie versteht, wird sich der Vermuthung
entschlagen können, es möchten wohl die schwächsten Seiten der Hartmann'schen
Lehre sein, die durch solche geschmackvolle Tiraden gepriesen werden. Wir finden
in dem Buche viele sehr scharfsinnige Erörterungen im Einzelnen, Unter¬
suchungen philosophischer Probleme, die am Wege lagen, von bestem wissen¬
schaftlichen Stil, und viele treffende Reflexionen über Lebens- und Zeitfragen.
Da wird man überall die Cynismen und Plattitüden vermissen.
Aber welches sind nun jene letzten Gedanken, die das neue Hauptwerk
unsers Autors dem moralischen Willen als dessen sicherste, erhabenste, wahr¬
hafteste Stützen empfiehlt? Die Antwort hierauf lenkt zurück zu den zeitge¬
schichtlichen Betrachtungen unsers Einganges.
„Im Anfang war die That." Diese That aber war eine Unthat, eine
Missethat. Gott, ihr Thäter, ist ein Wesen, dessen Einheit in sich zwiespältig
ist, bestehend aus zwei unbegreiflicher Weise in ihm zusammengeschweißten
Theilen, die sich feindlich gegenüberstehen, einem vernunftlosen, unlogischen, und
einem logischen, vernünftigen Theil. Und auch der Gegensatz von Freiheit und
Nothwendigkeit ist in schroffster Trennung auf diese beiden Seiten der Gottheit
vertheilt. Der vernunftlose Theil ist frei, er will und handelt ohne jeden
Grund, ohne Ursache, ohne Motiv, seine Entscheidung steht außerhalb des Ge¬
setzes der Kausalität, sie ist ein „absolut zufälliger Akt". Der Vernunfttheil
dagegen trägt in sich Nothwendigkeit: er kann zwar eben deshalb, weil er
nicht frei, nichts aus sich selbst anfangen, aber er enthält in sich mit unaus¬
weichlicher Gesetzmäßigkeit, fatalistisch, alles vorgezeichnet, was allein eintreten
und existiren kann, wenn es überhaupt zu einem Weltdasein kommt. Daß es
zu solchem Dasein kam, dies war keineswegs logisch gefordert, keineswegs
nothwendig, vielmehr war eben dies ausschließlich das Werk des unlogischen
Faktors, jenes blinden, grünt- und ursachlosen, thörichten Znfallwillens. Aber
das, was nun durch solchen überflüssigen und beklagenswerthen Akt zum Dasein
gekommen und fernerhin kommt, ist in allen seinen Einzelheiten, in Dingen
und Ereignissen, das einzig Mögliche, unbedingt Nothwendige, logisch Geforderte.
„Das Eine steht uns frei, im Andern sind wir Knechte" — so müßten hier
die Elohim sprechen. Daß aber eine That, der aller logische Gehalt fehlte,
schon darum allein mit logischer Nothwendigkeit zu Unheil führen mußte, liegt
Nahe. Ein Wollen, ein Zwecksetzen, das der Vernunft entspränge, würde
Glückseligkeit zum Inhalte haben: das Wohl, die höchstmögliche Förderung der
..Eudämonie", der Seligkeit, ist der allein logisch denkbare Zweck (S. 846).
Die That des unlogischen Willens wird demnach eine unheilvolle, eine Schmerz
und Leiden erzeugende sein. Ihr nächster Erfolg ist die Unseligkeit Gottes
selbst, der Schmerz seiner Vernunft über seine Unvernunft. „Dieser Annahme
kann man gewiß nicht den Vorwurf der willkürlichen Jdealdichtung machen;
ihre Zulässigkeit ist unbestreitbar, wenn dem Absoluten nicht die elementarste
psychische Funktion — die Unlustempfindung der Nichtbefriedigung des Willens —
entzogen werden soll." (S. 866, Anm.) Nun folgt alles Weitere von selbst:
die Vernunft kann nichts Anderes wollen, als das Geschehene thunlichst rück¬
gängig machen. Hierin liegt die in ihr ruhende und nunmehr wirksam
werdende Nothwendigkeit von der ethischen Seite. Die Vernunft der Gottheit
konnte sich jetzt nur „darauf richten, den Zustand der Unseligkeit zu beseitigen,
und zu dem Zustande des Friedens und der unlustfreien Stille zu gelangen;
dann wird es begreiflich, daß das Absolute sich in die unsäglichen Leiden des
Weltprozesses stürzt, wofern dieser Prozeß als das Mittel zur Beendigung
jenes Zustandes der Unseligkeit gelten darf; ... die endlose Unseligkeit würde
auf jeden Fall schlimmer zu ertragen sein, als eine noch so intensive endliche
Qual. Das Elend des Daseins in der Welt wäre also gewissermaßen wie
ein juckender Ausschlag am Absoluten zu betrachten, durch welchen dessen
unbewußte Heilkraft sich von einem inneren pathologischen Zustand befreit, oder
auch als ein schmerzhaftes Zugpflaster, welches das all-eine Wesen sich selbst
applizirt, um einen inneren Schmerz zunächst nach außen abzulenken und für
die Folge zu beseitigen" (866). Diesem Zweck der göttlichen Urvernunft
können wir unserseits natürlich „nur die tiefsten Sympathieen entgegenbringen.
Einem Gotte, der die schwersten Leiden auf sich zu nehmen genöthigt ist, um
ein noch schwereres Leiden wenn möglich abzukürzen und aufzuheben, einem
solchen Gott würden alle menschlich fühlenden Herzen entgegenschlagen, auch
wenn sie nicht sich selbst als das Wesen wüßten, das all' dieses Leiden trägt"
(867). Wie viel lieber noch und leichter werden wir entschlossen sein, an der.
Selbsterlösung Gottes mitzuarbeiten, wenn wir wissen, daß wir selbst es sind,
in welchen Gott leidet, daß Gottes Wesen unser eigenes innerstes Wesen ist!
Dies ist also unsere Moralität, daß wir den Weltprozeß im Sinne jenes
absoluten Gotteszweckes weiterführen. „Eudämonie" ist dieser Zweck, aber
nicht etwa die der Geschöpfe, sondern die Gottes selbst; an Gottes Seligkeit
allein sollen wir arbeiten, nicht an unserer, nicht an der unserer Mitgeschöpfe.
Darum wird nur aus Barmherzigkeit diesen Mitgeschöpfen soviel Leiden
erspart werden dürfen, als bei Festhaltung des höchsten Zweckes angeht; in
erster Reihe steht die zu diesem Zwecke führende „Kulturentwickelung"; ihr,
dieser Entwickelung ist Vorschub zu thun, möge noch soviel Wohl dabei zu
Grunde gehen und Schmerz erzeugt werden. Alle Opfer sind zu bringen,
um — Gott zu erlösen! Der „Gottesschmerz" ist das allein vollwahre Moral¬
prinzip; die Kulturentwickelung, wie sie im Kampfe um's Dasein zu immer
bestandfähigeren und intelligenteren Wesen, zu immer komplizirteren Verhält¬
nissen und immer umfassenderen und feineren Bedürfnissen, also auch zu immer
mannichfaltigeren und empfindlicheren Uebeln führt, sie dient — wir müssen
es glauben! — in ihrem unaufhaltsamen Fortgange der Linderung, ja Auf¬
hebung jenes Gottesschmerzes, d. i. der Aufhebung des Weltdaseins, der Zu-
rückbildung desselben in's Nichts. Wie und wodurch? — Gott mag es wissen.
Kaum wird es jemand entgehen können, wie sehr wir es hier mit einer
Philosophie zu thun haben von subjektiver, individueller Entstehung, deren
Verbindungsfäden mit den Stimmungen und Zuständen der Zeit wohl zu
untersuchen lohnte, aber die es fast verbietet, Maßstäbe und Gesichtspunkte rein
wissenschaftlicher Art auf sie anzuwenden. Dem einzelnen, aus dem Leben
geschöpften Probleme gegenüber, oder auch in der Kritik Anderer, zeigt sich der
Autor stets als tüchtiger Logiker, gründlich und scharf; allein in den Regionen
seiner eigenen Metaphysik versagt an allen Ecken und Enden die objektive
und logische Erwägung die Antwort, wenn wir erstaunt fragen: Warum?
Warum gerade so? — und nach allen Richtungen berstet das Gebäude aus¬
einander, von tiefgehenden Widersprüchen zersprengt.
Ganz dürfen wir es nicht unterlassen, auf diese UnHaltbarkeiten und Un-
soliditäten hinzudeuten. Wir wollen hierbei nicht bei Fragen verweilen, die uns
in schwebende metaphysische und erkenntnißtheoretische Probleme verwickeln
würden, z. B., ob es sich mit dem sonst festgehaltenen Kausalgesetze vertrage,
daß der göttliche unlogische Wille kausalitütslos wirkt, in der Weise eines „ab¬
soluten Zufalls". Wir wollen uns auch dabei nicht aufhalten, daß ein zwie¬
spältiges Urwesen, in sich verfeindet, an der Spitze des Universums steht, ohne
daß wir von einem übergreifenden einheitlichen Grundwesen desselben hörten,
das die Gegensätze zu beherrschen, auf einander zu beziehen und dadurch die
Einheit zu erhalten diente. Dieser Punkt wird uns sogleich noch in seinen
weiteren Folgen beschäftigen. Mit Staunen aber erfüllt uns vor allem, daß
die Philosophie des „Unbewußten" einen fühlenden, schmerzerfüllter Gott kennt,
der, wenn er auch erst nachträglich in diesen Zustand geräth, doch damit für
die ganze Zeit des Weltprozesses zu einem bewußten, ja persönlichen Gotte
wird, wie ihn der „Theismus", der von Hartmann so stark perhorreszirte, so
unbarmherzig gescholtene Theismus, immer nur wünschen kann. Steht Hart¬
mann selbst dem Theismus so nahe, wie sollen wir verstehen, daß er ihn als
Stütze der Unsittlichkeit verklagt und in Schopenhauer den „idealen Abschluß
eines großen kulturgeschichtlichen Zeitabschnittes und die Inauguration einer
neuen Kulturperiode" preist, lediglich darum, weil er aus sittlichen Gründen
den Theismus verworfen und damit dessen Uhr für immer für abgelaufen er¬
klärt habe? (S. 782.) Doch, wir hören es ja, das Unsittliche am Theismus
ist es, was unsern Autor in Aufruhr bringt; sein Theismus wird also wohl
ein sittlich gereinigter sein. „Den theistischer Pfaffen bleibt es überlasten, über
die sittliche Verruchtheit ihrer irregeleiteten Opfer Zeter zu schreien, während
sie selbst es sind, welche die Gottheit lästern, indem sie in ihrer theistischer
Metaphysik ein Bild derselben entwerfen, das nach allen Begriffen eines un¬
verfälschten sittlichen Bewußtseins nur verabscheuungswürdig genannt werden
kann... Unter den Gesichtspunkten des Theismus bleibt nichts als die Annahme
übrig, daß Gott trotz des vorhergesehenen Elends die Schöpfung nur darum
nicht unterlassen habe, weil er das Bedürfniß fühlte, ein Publikum zu haben,
das ihn lobpreisen und ehren konnte, mochte immerhin dieses Lobpreisen ein
Resultat verblendeter Dummheit oder eine aus sklavischer Furcht entspringende
Heuchelei sein." (781 mit Anmerkung.) Aber, wie ist uns? Sollte denn nicht
alles dieses noch viel mehr gelten, wenn Gott „trotz des vorhergesehenen Elends"
die Schöpfung nur darum nicht unterlassen hat, um sich „durch einen juckenden
Ausschlag" für immer von den Schmerzen zu befreien, die ihm sein eigener
dummer Wille in plumper Zufälligkeit zugezogen? Ist dies nicht ein empörend
grausamer Egoismus? Ist dies nicht ein tief unsittlicher Gott, der auf der unter¬
sten Stufe der „Pseudomoral" stehen geblieben? Doch unser Autor bemerkt den
selbstischen Charakter seines Gottes gar wohl; diesmal sollen diejenigen die
Irrenden sein, welche sich daran stoßen. Wie können wir nur nicht einsehen,
daß sür Gott der Egoismus kein Vorwurf ist! Gott — so belehrt uns Hart¬
mann — hat ja kein höheres Dasein über sich, hat keine übergeordnete Ge¬
meinschaft zu respektiren; wen sollte er durch Selbstsucht verletzen? Daß wir
so etwas übersehen konnten! Aber warum und woher dann der Groll gegen
den Theismus, gegen den „unsittlichen" Theismus Anderer? Warum ist dann
ein Gott so unsittlich, der zu seiner „Ehre" schafft, wenn ein Gott frei sein
soll von Vorwurf, der durch leidende Geschöpfe seine eigenen Schmerzen heilt?
Die Klagen der Gequälten soll es verstummen machen, daß sie die kahle Be¬
trachtung anstellen dürfen, ihr Wesen sei doch eigentlich Gottes eigenes Wesen,
und so sei ihr Leiden doch nicht Mittel für fremdes, sondern für eigenes Heil.
So wäre doch wohl zu wünschen, daß ihnen auch dieses Heil als eigenes em¬
pfindbar würde, und nicht nur die Qual. Aber die Seligkeit der Erlösung gilt
nicht ihnen, sie ist Gottes Seligkeit allein; ihr Theil ist die Qual. Diese göttliche
Selbstsucht — so belehrt man uns weiter — ist gänzlich unvermeidlich; aller Zweck
ist „Eudämonie", also ist Gottes Zweck nothwendig — seine eigene Eudümonie, seine
eigene Beseligung; alles andere ist Täuschung unlogischen Denkens. Auch die
Liebe Gottes zu Geschöpfen, deren Glück er wollte, wäre nichts als göttliche
Selbstsucht: „wenn Gott die Welt aus Liebe zu den Geschöpfen, d. h. um
Geschöpfe glückselig zu machen, geschaffen hat, so dient der Weltprozeß zur
Vermehrung der göttlichen Glückseligkeit" — und „immer ist die Erhöhung der
Glückseligkeit des Absoluten als das letzte Ergebniß gedacht, auf das es bei
diesem Prozesse eigentlich ankommt". M43 f.) Höher kann die Verwirrung
nicht steigen. Der göttliche Egoismus, lehrt Hartmann, ist unvermeidlich; auch
Liebe, die das Wohl der Geschöpfe will, ist Egoismus; ebenso ist Selbsterlösung
vom Schmerz durch Qual der Geschöpfe —Egoismus; aber nur eine Gottes¬
lehre, die deu letzteren, den grausamsten Egoismus, vorzieht, ist sittlich, jeder
andere theistische Gottesglaube ist tief unsittlich, verwerflich, mit Haß und Hohn
verfolgungswerth. Damit dieser Haß und Hohn Recht behalte, wird auch die
hingebende Liebe heruntergezerrt — zum Egoismus, und doch, der Egoismus
ist ja bei Gott unvermeidlich und kein Vorwurf! Wir können uns nicht mehr
verwundern, zu lesen, mit wie geringem Verständniß Hartmann dem Christen¬
thum und dem historischen Lebensbilde seines Stifters gegenübersteht, nachdem
wir gesehen, wie wenig er die Liebe versteht, die „nicht das Ihre sucht".
Es ist indeß nöthig, sich noch tiefer in die letzten Grundlagen dieser
Philosophie zu versenken, um die Risse zu erkennen, die sie unheilbar zerklüften.
Wir konnten die schwere Zumuthung eines Zufalles, an dem die ganze Welt
hängt, übergehen; dieser Ur-Sprung als Ursprung des Daseins begegnet uns
mehrfach in Philosophien der That und der Freiheit, und das Urtheil über
ihn hängt an noch schwebenden Kontroversen. Aber was sollen wir sagen,
wenn jene absolute Freiheit nicht einmal die Freiheit des einen Urwesens ist,
sondern die Freiheit nur eines Theiles dieses Wesens? Heißt „absolut" soviel
als „unabhängig", so wäre also dieser Theil des Absoluten das wahr¬
hafte, alleinige Absolute. Allein er ist dies doch wiederum nicht. Wir wissen
ja, er war abhängig, schlechthin abhängig von dem andern Theil, dem logischen
oder Vernunfttheil, in Bezug auf den Inhalt der Wirklichkeiten, für die er nur
Herr war über das „Daß" ihres Daseins. Die Vernunft wieder ist verknechtet
dem blinden, unlogischen Willen in Bezug auf dieses „Daß", und Herrin allein
rücksichtlich des „Was" alles Seins. So ist denn das „Absolute" oder die
Gottheit abhängig von ihren zwei, wieder von einander abhängigen Theilen,
und in diesen Abhängigkeiten allein lebt es! Was ist dann an ihm noch „ab¬
solut"? Aber unser verwundertes Fragen ist noch nicht am Ende. Jeder
Schritt, den wir in dieses Gedankenlabyrinth uns weiter einwärts wagen, ver¬
strickt uns in neue und rettungslosere Wirrsale. Die verhängnißvolle Ur- und
Unthat ist erfolgt; die „Vernunft" wird nun selbst zum Willen und Thatprinzip,
und es wird ihr voraussichtlich gelingen, durch Zurückführung des Gewordenen
in's Nichtsein endlich für immer „Frieden" und selige „Stille" in dem wieder
einsam gewordenen Urwesen zu realisiren. Würde ihr die Macht hierzu nicht
beigemessen, so wären die 900 Seiten des Hartmann'schen Buches nicht ge¬
schrieben worden, so wäre der „sittlichen" Vernunft ganz ebenso der Bankerott
Prophezeit worden, wie der selbstischen Pseudomoral, und die Phünomenologie
des sittlichen Bewußtseins hätte sich zur Aufgabe gesetzt, jedes Wollen, sittliches
wie unsittliches, als Ausfluß thörichter Illusionen nachzuweisen. Denn welches
Zwecksetzen wäre nicht thöricht, wenn eine absolute Zufallsmacht unbehindert
jeden Zweck zu kreuzen vermöchte? Die Vernunft Gottes muß die Macht
bleiben; sie gebietet uns, sie ist das Sittengesetz in uns, weil sie die Uebermacht
hat über den unlogischen Willen. Aber, fragen wir billig, — hat sie diese
Macht nach der That, warum fehlte sie ihr vor der That ihres unholden
und wahnwitzigen Genossen? Wo war sie, wo war ihre beschränkende Gewalt,
als jener Zufall einbrach, der aus tiefer, unvordenklicher Nacht eines unbewußten,
stummen Beisammenseins des feindlichen Zwiegespannes plötzlich den unheimlich
zuckenden Blitzstrahl des „Gottesschmerzes" aufleuchten ließ? Sie hat es nun
einmal nicht zu thun, hören wir, mit dem „Daß"; nur das „Was" zu bestimmen,
ist ihres Amtes. Wie doch aber? Hat sie wirklich das Was in ihrer Gewalt
als unerbittliche Nothwendigkeit, warum ist dieses „Was" nicht gleich von vorn¬
herein ein stiller Friede, einsame Eudämonie, welche — ohne alle Zwischen¬
fälle — von Ewigkeit zu Ewigkeit verwirklicht war und blieb? Ist denn nicht
das störende Dazwischenfahren des dummen Urwillens im Grunde auch ein
„Was" des Daseins, welches sonach nicht weniger in der Vernunft begründet
wäre, als seine speziellen Folgen und die Folgen dieser Folgen? Dann ver¬
schwindet aber völlig die Scheidung zwischen dem Daß und dem Was, die Vernunft
wird Alleinherrscherin, der Wille wird der Vollzieher ihrer Befehle, und die
Einheit des Absoluten ist wieder hergestellt, mit ihr — der Optimismus und
ein System ethischer That, ethischer Vernunftnothwendigkeit, welches ein System
der Freiheit nur noch heißen kann, sofern es eine ethische Kausalität an die
höchste Stelle hebt. Zu dieser Umwendung zum Besseren bedienen wir uns
dann mit Freuden der von Hartmann selbst dargebotenen Handhaben. In
der Vernunft findet auch er die Idee des Guten, die moralische Teleologie,
und die Idee des Guten ist ihm das Gegentheil alles selbstischen Wollens;
vernunftnothwendig, lehrt er, liegt im Zweckbegriffe der Begriff der Eudämonie;
also die selbstlose Zwecksetzung der Eudämonie, so müssen wir folgern, ist die
Idee des Guten, ist der göttliche Vernunftwille. Wohl zu schaffen, aber nicht
sein eigenes, sondern das Wohl einer Welt, nicht um seiner Beseligung willen,
sondern um der Beseligung seiner Geschöpfe willen — das ist das vernunft¬
nothwendige Gute in Gott, und durch Gott in uns; Gott, die absolute Urver-
nunft, wird durch den Inhalt dieser Vernunft selbst zur schöpferischen Liebe.
Aber Hartmann's Ausgangspunkt ist die Erfahrung, seine Methode die
induktive. Erfahrungsmüßig ist die Welt schlecht, das Leben eine Qual —
wie mag Gottes Liebe der Grund davon sein? Wunderlich! Nirgends mehr
zeigt sich die ganze subjektiv pathologische Begründung dieses Standpunktes,
als wo er sich der objektivster, der empirisch-exakten Methode rühmt. Wie
sollte es auch angefangen werden, um empirisch zu konstatiren, ob das Leben
eine Qual sei oder eine Lust? Die empirische Methode stellt Thatsachen fest,
die Induktion verallgemeinert die Thatsachen zu Gesetzen, soweit ihr nicht
Gegeninstanzen es verbieten, und nachdem sie alle Mittel erschöpft hat, um
Gegeninstanzen hervorzulocken. Was ist aber hier die festzustellende Thatsache?^
Ein Gefühl. Und nicht ein vereinzeltes, sondern die Gefühlssumme eines
ganzen Menschenlebens, nach Lust und Unlust. Direkt beobachten könnte ich
es nur in mir selbst. Aber mein Leben liegt noch nicht abgeschlossen vor
meinem Blicke. Und habe ich denn von allen abgelaufenen Gefühlsmomenten
noch heute ein sicheres Bild? Oder, soll ich mich an das gegenwärtige Ge-
sammtgesühl halten, wie es aus sämmtlichen Erinnerungen sich niedergeschlagen
hat als Gesammturtheil über mein Lebensglück, so fragt sich wieder: wann,
in welchen Momenten soll ich mich hierauf untersuchen? Ist nicht dieses Ge-
sammtgefühl bedingt durch psychische Zustände des gegenwärtigen Momentes
und mein in irgend einem Momente gegebenes Urtheil über die Summe
meines Lebens ein sehr trügerisches, das vielleicht meine glücklichsten Lebens¬
perioden fahrlässig ignorirt. unterschätzt, oder etwa die unglücklichsten in momen¬
taner Freude vergißt? Jetzt wende ich mich an die fremden Aussagen. Aber wie
Wenige kann ich abhören? Und die Wenigen, wer sind sie, in welchen Stim¬
mungen sprachen sie? Ist es nicht dem Menschen eigen, viel von seinen schlimmen,
wenig von seinen glücklichen Erlebnissen zu reden, jene renommistisch zu steigern,
diese nur obenhin zuzugestehen und leicht zu vergessen? Schließlich: was ist
in diesen Dingen überhaupt Thatbestand? Die Auffassung, das Hegen eines
Gefühles in Gedanken, die fortwährend auf bestimmte Gefühle gerichtete Ab¬
sicht, sie bringen selbst zu gutem Theile erst das Gefühl hervor. Fast nur
starke sinnliche Schmerzen und große Seelenaffekte, durch ungewöhnliche Schick¬
sale oder mächtige Leidenschaften erregt, sind hiervon ausgenommen. Doch
lassen wir auch eine genügende Unterlage von Thatsachen gegeben sein, und
sehen zu, wie das induktive Verfahren sich ihrer bemächtigen werde. Mögen
wir gefunden haben, daß die meisten Menschen aller oder der meisten Gene¬
rationen in den meisten Lebensmomenten zumeist unglücklich waren oder sich
doch so geberdeten: was macht der exakte Empiriker Hartmann mit der von
ihm doch selbst zugestandenen Minorität? Nach den Gesetzen der Induktion
bildet sie eine Gegeninstanz, die es unmöglich macht, den in der Mehrheit der
Fälle beobachteten Thatbestand zu einem allgemeinen Gesetze zu verwerthen.
Vielmehr beweisen die Minoritätsfälle — von welchen wir unsererseits übrigens
bis zur besseren Beweisführung glauben, daß sie die Majorität seien —, daß
generell das menschliche Leben nicht eine Qual ist, sondern die Möglichkeit des
Gegentheils zuläßt. Die induktive Methode gebietet ferner, durch Experiment
alle Mittel zu erschöpfen, um Gegeninstanzen hervorzulocken; das hieße in
unserem Falle alle Mittel erschöpfen, um Menschen glücklich zu machen. In
jedem Momente, in dem dies uns gelingt, an uns und an Anderen, lernen
wir von Neuem, daß das Leben keine Qual sei, und lernen die wahren Quellen
des Glückes kennen. Ist denn nun die bisherige Menschengeschichte hinreichend
gewesen, um alle Quellen zu versuchen? Wie groß konnte denn unser
Beobachtungsfeld sein? Wir beobachteten und experimentirten in einem ver¬
schwindenden Momente der unendlichen Zeit, an einem verschwindenden Punkte
des unendlichen Weltalls. Dennoch fanden wir zahllose Wege der Erzeu¬
gung intensivsten Glückes, durch Hegung und Austausch liebender Zuneigung,
durch liebreiche Opferthat, durch Pflichtgefühl, Größe der Kraftentfaltung,
durch poetisches Erfassen und nachfühlen von Natur und Leben, durch Reu-
gion, durch Wissen und Kunst, ja durch — Humor. Und es zeigte sich,
daß diese Quellen oft so lebendig sprudelten, daß sie über schwere Leiden
hinweg nur um so kraftvollere, lustigere Katarakte bildeten, deren Anblick
wieder Anderen zu gleichem Ergötzen gereichte, und daß die Liebe nie be¬
seligender war, die Kraft der Tugend nie herrlicher, als im Sorgen, Be¬
hüter, Dulden, Kämpfen, Verzeihen und Bessern. So lernen wir denn auch
aus diesen angeblichen Minoritätsfällen über die geringe beobachtete Erdenzeit
hinaus uns die Möglichkeit einer Zukunft denken, die alles Leid ausgleicht, und
die hieraus entspringenden Hoffnungen werden selbst wieder ein neuer Quell
gegenwärtigen Glückes. Was kann uns der Pessimist entgegensetzen, wenn wir
so denken wollen? Ein wissenschaftliches Hinderniß dagegen gibt es nicht.
Erzeugen wir denn durch innere Geistesthat, durch stetes Zusammennehmen
unserer besten Gemüthskräfte, in unserem Inneren ein Gefühl des Glückes,
das aus Glauben, Hoffen und Lieben seinen eisernen, Fonds gewinnt, und
suchen wir das gleiche Glück auch auszubreiten um uns her, soweit unser Ein¬
fluß reicht! Schwingen wir uns durch einen kräftigen inneren Ansatz zu der
That des Glaubens ans, daß Gottes Liebe „der Uebel grauenvolles Heer"
freilassen mußte, um den endlichen Sieg des Wohles in seiner Schöpfung zu
ermöglichen und zu steigern, und daß dieses Ziel hinreicht, um auch uns jedes
Opfer und jedes Leid zu versüßen oder doch ertragbar zumachen! Ist dieser
Glaube eine subjektive Willkür, warum nicht diese Willkür lieber, als jene?
Hartmann's Philosophie — so müssen wir unser Urtheil nochmals zu¬
sammenfassen — ist in ihrem Autor nicht wissenschaftlich, sondern individuell
bedingt, und ihr Erfolg ist bedingt dnrch eine Zeitstimmung. Sie ist ein,
dieser individuellen Entstehung und dieser Zeitstimmung angemessen, verstüm¬
melter Neuschellingianismus, aber befreit zugleich von den orthodoxen und
mystischen Elementen, welche dieses System namentlich in seinen letzten Erschei¬
nungsphasen entstellten. Mit Schelling setzt zwar auch die Hartmann'sche Lehre
den früheren logisch-metaphysischen Gestaltungen des Absoluten ein realeres
Urprinzip und die Forderung einer ursprünglichen Willensthat entgegen, und
anch Schelling kennt innerhalb seines Absoluten das feindliche Paar des blinden
Willens und der Vernunft; man hört Schelling, wenn Hartmann von dem
„Zurückwerfen des Unlogischen in den Zustand der Potentialität" redet. Aber
bei Schelling thront der eine göttliche Urwille, der das Gute will, über jenen
Gegensätzen, ihren Kampf und die Niederwerfung des Einen durch den Andern
nur benutzend als Durchgang, um über beide hinaus einem Dritten Platz zu
machen und seine Verwirklichung zu sichern. Dieses Dritte erst ist hier das
endgiltig Seinsollende; in ihm ist Vernunft und Willenskraft zu einer Wesen¬
heit verschmolzen; es ist die Liebe. Hartmann verstümmelt diese^ Lehre, indem
er ihre einenden und versöhnenden Elemente beseitigt. So bleibt ihm nur das
in sich zwiespältige, feindselige Paar ungleicher Söhne an Stelle des Vaters,
Unvernunft und Vernunft ohne Einheit, und ein Kampf zwischen den Söhnen,
der den langsamen Tod des Einen und Qual und Tod all' seiner Wasserträger
und Qual und Tod auch der Wasserträger des Andern will, nur damit der
Sieger im Anschauen des leeren Schlachtfeldes und im Gefühle seines eigenen
Nichts — selig sei.
Seit einiger Zeit tritt das schroffe Verhältniß zwischen dem Süden und
Norden der Vereinigten Staaten, welches sich durch die milde und gerechte
Regierungspolitik des Präsidenten Rutherford B. Hayes friedlicher und freund¬
licher zu gestalten schien, wieder in grellster Weise hervor. Schon bei den
letzten Kongreßwahlen, die im Herbste des verflossenen Jahres stattfanden,
gelang es der demokratischen Partei, in den Südstaaten fast ihre sämmtlichen
Kandidaten durchzubringen, allerdings in vielen Fällen nicht ohne Anwendung
von Betrug und Gewalt. Die Demokraten rühmten sich, daß der Süden in
geschlossener Phalanx als „FoliÄ Loutd" dem republikanischen Norden gegenüber¬
stehe, und in einzelnen Südstaaten, wie in Alabama und Virginien, faßten die
betreffenden Staatslegislaturen Beschlüsse, welche der Bundesregierung geradezu
Hohn sprachen, das 13., 14. und 15. Verfaffungsamendement für „null und
nichtig" (nM a,v,ä vola) erklärten und ganz wieder den rebellischen Geist der
Sezession von 1861 athmeten. Entsprechend dem Verhalten der Demokraten
in den Südstaaten war das Vorangehen der demokratischen Parteiführer in
der Bundesgesetzgebung zu Washington City. Senator Beck von Kentucky nahm
vollständig den Standpunkt der partikularistischen und unionsfeindlichen
Staatenrechtsdoktrin ein und erklärte, daß die Unionsregierung sich in keiner
Weise in die nationalen Wahlen zu mischen habe; den Einzelstaaten allein
stehe das Recht zu, diese Wahlen zu leiten und zu beaufsichtigen. Und als
am 3. März d. I., in der letzten Sitzung des 45. Kongresses, im Bundessenat
die auf Stimmenfang berechnete Pensionsbill zur Schlnßberathung kam, stellte
der Senator von Massachusetts, Hoar, das Amendement, daß der frühere
Rebellenpräsident Jefferson Davis, der den Krieg gegen Mexiko mitgemacht
hatte, von der Pensionsberechtigung ausgeschlossen werde, weil er weder durch
Wort noch That seine Theilnahme an der Rebellion bereut, niemals das ver-
torre volle Bürgerrecht wiederzuerhalten gesucht habe und allem Anscheine nach
noch jetzt der Union feindlich gesinnt sei. Dieses Amendement versetzte die
südlichen Senatoren in die äußerste Wuth, und namentlich war es Lamar, ein
früherer Rebellenoffizier, der Jefferson Davis mit Lobsprüchen überhäufte und
ihn mit den größten Helden der alten und der neuen Zeit verglich. Vergebens
entrollte der republikanische Senator Zacharias Chartier, der mit Jefferson Davis
vor zwanzig Jahren in den Bundessenat eintrat, in einer ergreifenden Rede ein
getreues Bild von dem landesverrätherischen ExPräsidenten der früheren südlichen
Konföderation, wie er „mit Verrath im Herzen und Meineid auf den Lippen
(^vier trsÄsou, in dis Ksarr ariÄ pkrjurz?- uxor dis lixs) der Regierung Treue
geschworen, auf deren Untergang er sann". Niemand vermochte ihn zu wider¬
legen, aber der Senat beschloß mit einer Mehrheit von 18 Stimmen, daß
Jefferson Davis pensionsberechtigt sei.
Die Demokraten im Repräsentantenhause und im Senate des Kongresses
verstanden es, das Ende des 45. Kongresses herankommen zu lassen, ohne daß
die zur Fortführung der Regierung und zum Unterhalte der Bundesarmee noth¬
wendigen Gelder bewilligt waren. Sie wußten wohl, daß dadurch eine kost¬
spielige Extra-Sitzung des Kongresses veranlaßt wurde; aber eine solche Sitzung
war gerade das, was sie erstrebten, weil die demokratische Partei in dem neuen,
dem 46. Kongresse in beiden Häusern der Bundesgesetzgebung, im Repräsen¬
tantenhause und im Senate, die Mehrheit hat und sich dadurch in den Stand
gesetzt glaubt, mit Erfolg die Vorbereitungen für den im Jahre 1880 statt¬
findenden Wahlkampf um die Präsidentschaft zu treffen. Vor allen Dingen
kommt es den Demokraten auf eine Schwächung der Nationalgewalt und eine
Herabminderung der ohnehin schon geringen, nur aus etwa 25000 Mann
bestehenden Bundesarmee an. Von jeher hat die Partei der Demokraten,
namentlich der südlichen Demokraten, eine mehr zentrifugale Politik verfolgt
und die Rechte der Einzelstaaten auf Kosten der Bundesgewalt auszudehnen
gesucht. Die partikularistische Lehre von den sogenannten „Staatenrechten"
(tlo LtÄts-IÜKdts voetrws) ist echt demokratischen Ursprunges. So lange die
demokratische Partei im Besitze des Präsidentenamtes war und das Heft der
Union in den Händen hielt, kam es ihr weniger auf die Stärkung der Union,
als auf die Stärkung der Partei und der Einzelstaaten an, in denen sie
herrschte. Die Basis ihrer Herrschaft war aber nicht die Freiheit, sondern die
Negersklaverei, und diese suchte sie so weit als möglich auszubreiten. Dieses
Streben brachte sie in der Präsidentenwahl vom Jahre 1860 zu Fall, es rief
die Sezession und den Bürgerkrieg hervor, der mit der Aufhebung der Neger¬
sklaverei endete und unter der Leitung der republikanischen Partei eine straffere
Zentralgewalt in's Leben rief. Unter Grant's Präsidentschaft herrschte in den
Südstaaten, den früheren Sklavenstaaten, vielfach eine Militärdiktatur, die den
sezessionellen Geist der Südländer niederhielt. Erst als Präsident Hayes 1877
in das „Weiße Hans" einzog, erhielt der Süden der Union seine volle Freiheit
wieder. Der Gebrauch aber, den die südliche Demokratie von der wieder¬
erlangten Freiheit bisher gemacht hat, ist kein weiser gewesen. Wie schon
angedeutet, leben die alten rebellischen Sezessionsgelüste wieder ans, die Lehre
von den „Staatenrechten" wird wieder mächtig, man will die Verfassungs-
amendements, die den Negern politische Bürgerrechte zugestehen, wieder aufheben,
man glorisizirt die niedergeworfene südliche Konföderation, man schreit über
Gewalt, wenn die Bundesregierung, nöthigenfalls mit Hilfe der Armee, die
Freiheit des Wahlrechtes zu schützen bemüht ist, man will das stehende Heer,
welches kaum hinreicht, die Indianer in Ordnung zu halten, die mexikanische
Grenze zu schützen und etwaige Pöbelaufstände niederzuwerfen, abschaffen, weil
es angeblich nicht konstitutionell sei, man läßt den alten sezessiouistischen Ruf:
„Laßt uns allein" (I^t n,s gloris) wieder ertönen, — kurz man ist auf dem
besten Wege, die blutig errungenen Resultate des Bürgerkrieges über den
Haufen zu werfen. Ganz könnte dies freilich, wenn es überhaupt möglich ist,
erst gelingen, wenn die demokratische Partei wieder die Zügel der nationalen
Herrschaft in den Händen hält, wenn sie Besitz von dem Präsidentenamte ge¬
nommen hat. Um dies zu erringen, scheut sie daher keine Anstrengungen; alle
Mittel dazu scheinen ihr recht und genehm. Sie hat die Majorität in beiden
Kongreßhäusern, und sie wird von diesem Umstände Gebrauch machen.
„Die südliche Konföderation", so schrieb kürzlich ein demokratisches
Journal in Washington City, der Hauptstadt der Union, „hat endlich Besitz
vom Kapitol und der nationalen Gesetzgebung genommen"; und mit Jubel
begrüßte ein demokratisches Blatt im Staate Missisippi diese Worte, indem es
hinzufügte: „Ja, Gott sei Dank, wir haben das Kapitol erobert und herrschen
in den Hallen der nationalen Gesetzgebung. Im Jahre 1880 wird unser Mann
in das „Weiße Haus" einziehen und Besitz von dem Präsidentenstuhl nehmen.
Dann erst wird unser Triumph vollkommen sein, dann werden wir die von
den Republikanern durchgesetzten Amendements aus der Bundesverfassung
herausreißen und in den Koth treten (trauixlk in tKs irnrs). Dann wollen
wir die Ketten brechen, die der Unabhängigkeit der Einzelstaaten angelegt sind.
Das Recht der Sezession wollen wir dann anerkennen, ein Recht, das nicht
todt ist, sondern nur schläft. Wir wollen das Kapitol schmücken mit den
Bildnissen von Jefferson Davis, Robert E. Lee, I. E. B. Stuart und allen
den heldenmüthigen Führern einer Sache, die nicht verloren ist, sondern noch
Leben hat. Ja,--Gott sei Dank, wir haben das Kapitol erobert, und von dort aus
wollen wir die Republik regieren in einer Weise, daß die Republikaner für
alle Ewigkeit in Amerika verhaßt werden."
Diese Ausbrüche südlichen Jubels klingen etwas wild und siegesberanscht,
aber sie dienen zur Charakteristik der Gefühle und Gesinnungen, welche gegen¬
wärtig einen großen Theil der Südstaaten der Union beseelen. Es kann daher
nicht Wunder nehmen, wenn man im Norden der Union von dem Herannahen
einer „neuen Rebellion" spricht. Die „New-Aork Times" warnt die „neuen
Rebellen." und ruft ihnen zu, sie sollen sich nicht dem Wahne hingeben, daß
der Geist von 1861 im Norden geschwunden sei. Wenn die Südländer so
fortführen, wie sie jetzt angefangen, dann würden sie mit Schrecken und zu
ihrem Schaden erfahren, wie rege jener Geist sei, nachdem sie ihn übermüthig
und leichtsinnig aus seinem Schlummer geweckt. Die „New-Dorr Tribüne"
aber freut sich über den Umstand, daß die „neue Rebellion" schon jetzt so
keck hervortritt und den Augenblick kaum erwarten kann, wo ihre Urheber auch
die Macht, sie glücklich durchzuführen, an sich gerissen haben werden. „Hätten
die Rebellenstaatsmänner," bemerkt das genannte Blatt, „von denen die Union
und die neuesten Verfassungsamendements nach dem Bürgerkriege anerkannt
wurden, noch eine Weile gewartet, so wäre es möglich gewesen, daß sie die
Resultate jenes schrecklichen Kampfes durch ihre Stimmen an der Wahlurne
hätten ungeschehen machen können. Nach allen unseren Opfern und Leide»
mochten die von uns im Felde besiegten uns um die Früchte des Sieges
betrogen haben. Zum Glück aber warnen sie uns täglich aufs neue. Der
loyale Norden sieht und erkennt die Gefahr, und er wird ihr zu begegnen
wissen, er wird keine zweite Sklavenhalter-Rebellion aufkommen lassen. Bevor
der Triumph der Südländer vollkommen ist, werden dieselben mit derselben
Partei zu rechnen haben, die mit ihnen bei Antietam und Gettysburg zusammen¬
traf, sie zu Boden warf und die Union rettete."
Als der 46. Kongreß am 18. März d. I. zu einer Extra-Sitzung zu¬
sammentrat, zeigte es sich, daß die Warnungen der unionstreuen republikani¬
schen Blätter nicht ungehört verhallt waren. Wohl hatten die Heißsporne der
demokratischen Partei am Tage vorher in einer Parteiversammlung den
energischen Versuch gemacht, für das wichtige Sprecheramt im Repräsentan¬
tenhaus« des Kongresses einen ihrer talentvollsten Führer, Blackburn aus
Kentucky, zu ernennen, allein der besonnenere Theil der Partei erkannte die
Gefahr, die aus einem solchen rücksichtslosen Vorgehen entstehen würde, und
entschied sich für den früheren Sprecher, Randall aus Pennsylvanien. Dem¬
nach hat der extreme Flügel der demokratischen Partei vorerst eine Nieder¬
lage erlitten. Wie lange aber die ruhiger denkenden Mitglieder ihre sich
überstürzenden Parteigenossen werden im Zaume halten können, ist sehr
zweifelhaft; irgend ein unvorhergesehener Umstand kann die kühleren Köpfe
bei Seite schieben und die heißblütigen „Feueresser" (WirssÄters) die Oberhand
gewinnen lassen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sich die Demokraten nicht
damit zufrieden geben, in der Extra-Sitzung der Regierung nur die zur Fort¬
führung der Geschäfte nöthigen Gelder zu bewilligen, sie werden politische
Maßregeln zur Sprache bringen, die auf die nächste Präsidentenwahl Bezug
haben, und hierbei wird und muß sich ein harter Kampf mit den Republikanern
entwickeln. Schon die Bewilligung der Gelder für die Erhaltung der Armee
wird zu den heftigsten Debatten Veranlassung geben. Das übermüthige und
herausfordernde Auftreten der extremen Südländer und ihrer nördlichen Bundes¬
genossen hat übrigens den Präsidenten Hayes der Masse der republikanischen
Partei näher gebracht, als dies früher der Fall war, und somit können die
Republikaner der Zukunft ruhigen Muthes in's Auge sehen. Die schlimmen
Beschlüsse der demokratischen Partei können durch ein Veto des Präsidenten
leicht illusorisch gemacht werden, da letztere im Kongresse nicht über eine Zwei¬
drittelmajorität verfügt. Jedenfalls darf man dem Resultate der jetzt lagerten
Extra-Sitzung des Kongresses mit Spannung entgegensehen; ohne Einfluß auf
die nächste Präsidentenwahl wird sie nicht bleiben.
Daß Bücher ihre Schicksale haben, das hat auch Murat's Griechische und
Römische Literaturgeschichte erfahren müssen. Die erstere ist zuerst 1849 er¬
schienen, dann in einer zweiten, vom Verfasser selbst noch besorgten Ausgabe
1863, und jetzt endlich, also volle 30 Jahre nach dem ersten Erscheinen des
Buches, kann die Verlagshandlung mit einer dritten, von fremder Hand be¬
arbeiteten Ausgabe hervortreten. Der Absatz von zwei Auflagen binnen drei
Jahrzehnten — in der That ein lächerliches, eigentlich unbegreifliches Resultat
einem so trefflichen, praktischen, brauchbaren Buche gegenüber! Murat's Dar¬
stellung ist der heutigen Generation fast unbekannt, und doch ist sie für den
weiteren Kreis der Gebildeten, wenn wir von Otfried Müller's schönem Torso
absehen, eigentlich das einzige Buch auf diesem Gebiete, das man mit gutem
Gewissen empfehlen kann. Wonach verlangt der gebildete Laie, wenn er den
Wunsch hat, sich eine eingehende, zusammenhängende Uebersicht über die Haupt¬
erscheinungen der althellenischer Literatur zu verschaffen? Kann ihm gedient
sein mit einer jener von dreisten Büchermachern mit Scheere und Kleister
zusammengepappten Anthologieen, wie sie neuerdings wieder mehrfach fabrizirt
worden sind? Was nützen ihm die wenigen oberflächlichen, vielleicht aus dein
ersten besten Konversationslexikon abgeschriebenen Notizen, die in solchen Mach¬
werken den Textesproben vorangeschickt werden? Oder kann ihm gedient sein
mit jenen Darstellungen in biographischer Form, in denen die wenigen sicheren
Nachrichten, die wir 'beispielsweise über das Leben der griechischen Dichter
haben, durch allerhand werthlosen, längst abgethanen Anekdotenkram zu einer
scheinbaren, auf die Urtheilslosigkeit der großen Menge berechneten Reichhaltig¬
keit aufgeputzt werden, und die Mittheilungen über die Dichterwerke, die doch
die Hauptsache bilden müßten, so nebenherlaufen? Ganz zu schweigen davon, daß
es in der Regel doch recht dilettantische Federn sind, die dergleichen Bücher
zusammenhauen, Federn, deren Mangel an Sachkenntniß für den Eingeweihten
oft in der handgreiflichsten Weise hervortritt! Was dem Laien einzig und
allein nützen kann, das ist eine zusammenhängende Literaturgeschichte, die in
schlichter, ansprechender, echt populärer Fassung die Summe unseres literar-
geschichtlichen Wissens zieht, dasjenige mittheilt, was als sichere Kunde über
das äußere Leben der alten Dichter und Schriftsteller gelten darf, und dies
verbindet mit eingehenden Analysen, Auszügen und charakteristischen Proben
aus den in der geschichtlichen Darstellung besprochenen Werken. Das aber,
gerade das ist es, was die Literaturgeschichten von Murat mit großem Geschick
und sicherem pädagogischen Takt leisten, und es ist wirklich schwer zu begreifen,
weshalb sie sich nicht eine größere Popularität errungen haben. Jedenfalls
gebührt der Verlagshandlung und dem jetzigen Herausgeber aufrichtiger Dank,
daß sie auch mit einer neuen, den heutigen wissenschaftlichen Anforderungen
entsprechenden Bearbeitung der griechischen Literaturgeschichte hervorgetreten
sind, nachdem die römische bereits von Moritz Seyffert neu bearbeitet war.
In den Kreisen solcher, die sür etwas Besseres als jene oben geschilderte leichte
Marktwaare Sinn haben, wird das Buch nach wie vor seine Liebhaber finden,
und hoffentlich in immer größerer Anzahl. Die literargeschichtlichen Partieen
sind von Volkmann überall mit den Ergebnissen der neueren Forschung in Ein¬
klang gesetzt, einzelne Abschnitte umgearbeitet, mancherlei, wie das Kapitel über
die „homerische Frage", neu hinzugefügt worden. Wo Zitate in griechischer
und lateinischer Sprache gegeben sind, ist dies meist in den Anmerkungen ge¬
schehen, während der Sinn derselben in den zusammenhängenden Text ver¬
arbeitet ist. Die Analysen und Auszüge sind, unter steter Benutzung gereinigter
Originaltexte, nach Inhalt und Form vielfach berichtigt, hie und da auch er¬
weitert worden, ebenso die mitgetheilten Uebersetzungsproben häufig durch
neuere, bessere ersetzt worden. Die ganze Darstellung ist einfach, verständlich
und liest sich im Ganzen recht gut. Zu tadeln wäre höchstens, daß in den
Inhaltsangaben von Dichterwerken vielfach Verse aus deutschen Uebertragungen,
ohne sie durch Anführungszeichen als solche zu kennzeichnen, ohne weiteres in
die prosaische Darstellung verwoben find. Wir sehen den weiteren Lieferungen
dieser Neubearbeitung mit Interesse entgegen und empfehlen dieselbe allen, denen
es um eine wirklich solide populäre Darstellung des Stoffes zu thun ist.
Dieser neue Band des hochinteressanter Werkes unterscheidet sich in litera¬
rischer Hinsicht wesentlich von dem ersten, der, wie wir s. Z. ausführlich in
d. Bl. gezeigt und mit Proben belegt haben, vorzüglich aus einer Reihe male¬
rischer Schilderungen der Sitten und Einrichtungen Frankreich's in den letzten
Jahrzehnten vor seiner ersten Revolution bestand und namentlich das maje¬
stätische und doch im Grunde wegen seiner Leere lächerliche Hofleben mit
seiner Frivolität, seiner greuelvollen Verschwendung, seinen glänzenden Parasiten
und seinem Schwarm knixender, tänzelnder, für geschäftiges Nichtsthun reich
besoldeter Höflinge gegenüber dem fort und fort wechselnden Elend des von
Steuern und hundert anderen Lasten schier erdrückten Volkes mit höchster An¬
schaulichkeit darstellte. Das „revolutionäre Frankreich" ist dagegen, soweit es
hier behandelt wird, d. h. etwa bis zum Herbst des Jahres 1792, weniger
künstlerisch, als in wissenschaftlichem, analytischen Tone gehalten. Meist reihen
sich nackte Thatsachen, mittelst psychologischer und philosophischer Bemerkungen
verknüpft, an einander. Zwar mangelt es nicht an jenen glänzenden, wenn
auch gewöhnlich etwas zu lang ausgesponnenen Metaphern (vgl. z. B. S. 419 ff.),
die dem Stil unseres Autors ein so eigenthümliches Gepräge verleihen, im
Allgemeinen aber haben wir es mit gutgruppirten Beispielen und Belegen zu
thun, die großentheils überzeugend für die Behauptungen und Folgerungen
des Verfassers sprechen. Großentheils; denn andererseits begegnen wir auch
Widersprüchen zwischen früher Gesagtem und später Behauptetem, Manches
klingt paradox, in Anderem scheint der Darsteller in den Fehler des Generali-
sirens zu verfallen. Eins aber steht fest: daß er sich allenthalben unparteiisch
zu sein bestrebt, und daß er ein außerordentlich reiches Quellenmaterial benutzt.
Mit seiner Unparteilichkeit aber wird er vor der bisherigen französischen
Geschichtschreibung bezüglich der Revolution geradezu zum Ketzer. Die Um-
wälzung von 1789 genießt vor jener hohe Verehrung, sie erscheint durchaus
rein und edel, wenigstens in ihren Anfängen. Die Konstituante war ihr ein
lichtes Wesen voll Weisheit und Großherzigkeit, und nur der Konvent war mit
seiner Art zu herrschen wie mit seiner Gesetzgebung zu tadeln und zu verab¬
scheuen. Unser Autor aber wagt, unbekümmert um die herkömmliche Ansicht
seiner Landsleute, offen heraus zu sagen, daß er derselben Meinung wie Burke
ist, er unternimmt es, diese Meinung durch einen stattlichen Band im Einzel¬
nen zu rechtfertigen, er besitzt den Muth, die «Ksüsetions» des Engländers, die
Michelet eine „armselige Deklamation" genannt, als „ein Meisterwerk und eine
Prophezeiung" zu bezeichnen und zu behaupten, daß der Grund alles Unheils
der Revolution schon deutlich im Jahre 1789 und keineswegs erst 1792 zu
Tage getreten sei. Taine, der liberale, den Klerikalen wie den politischen Re¬
aktionären gleich verhaßte Schriftsteller, faßt diese Revolution als eine Gruppe
historischer Thatsachen auf, „in der die schlimmen Leidenschaften, die thörichten
Gedanken und die unzweckmäßigen Handlungen den Edelmuth,. die Tiefe und
die Verständigkeit bei Weitem überwiegen." Geht er dabei in der einen und
der anderen Hinsicht zu weit, so ist er im Allgemeinen jedenfalls den Schön¬
färbern vorzuziehen. Er bekämpft seine Neigungen, er unterdrückt jede der¬
selben mit Ausnahme derjenigen, die ihn die Wahrheit zu suchen und zu sagen
treibt. Keine Parteifarbe tragend, fragt er sich lediglich, ob sein Vaterland in
den Zeiten, von denen er schreibt, gut regiert worden ist, und da seine For¬
schungen ihn lehren, daß Frankreich auch während der ersten Periode der
Revolution schlecht regiert worden ist, so macht er aus dieser Entdeckung kein
Geheimniß. Selbstverständlich hält er den Wunsch, daß die elenden Zustände,
die unter Ludwig XVI. herrschten, besseren Platz machen sollten, für gerecht
und billig, aber in der nach 1789 eingetretenen Aenderung vermag er eben
keine Verbesserung zu erkennen. Der „Gesellschaftsvertrag" erscheint ihm schön
und ideal, aber er begreift, daß derselbe für die Praxis nichts taugt, so lange
die menschliche Natur, die er nach seiner Kritik der Verfassung von 1791
gründlich kennt, sich nicht gänzlich umgestaltet. Seine Landsleute betrachten
ihn in Folge dieser Schrift als Abgefallenen, als Reaktionär. Mit Unrecht,
er verfährt nur als echter Historiker. „Ich schildere das revolutionäre Frank¬
reich," so sagt er im Vorworte, „ohne mich um die heutigen politischen Par-
teiungen zu bekümmern. Ich schreibe, als ob ich es mit den Revolutionen von
Athen oder Florenz zu thun hätte. Ich schreibe Geschichte und nichts Anderes,
um es kurz zu sagen; ich habe von der Ausgabe der Geschichtschreibung einen
viel zu hohen Begriff, um daneben noch einer anderen Aufgabe nachgehen und
den Historiker in mir verleugnen zu können."
Ueber die Regel, die er bei Sammlung und Benutzung seines Materiales
befolgte, sagt er: „Wo es sich um Aussagen handelt, werden stets die eines
Augenzeugen am glaubwürdigsten sein, zumal, wenn dieser ein ehrenwerther,
beobachtungsfähiger, verständiger Mann ist, wenn er seine Wahrnehmungen an
Ort und Stelle, ohne Verzug und unter dem Eindruck der Ereignisse nieder¬
schreibe, wenn sein einziger Zweck darin besteht, über das Beobachtete Bericht
abzustatten, wenn seine Arbeit keine zu Gunsten oder Ungunsten irgend einer
Sache geschriebene tendenziöse Polemik enthält, wenn sie keine auf die große
Masse berechnete Rhetorik zeigt, sondern eine gerichtliche Zeugenaussage, ein
geheimer Bericht, eine vertrauliche Depesche, ein Privatbrief oder etwas Aehn-
liches ist." Urkunden dieser Art hat Taine im französischen Nationalarchiv
in Menge gefunden, besonders in den handschriftlichen Korrespondenzen der
Minister, der Intendanten, der Richter, der Militärbefehlshaber, der Gensdar-
merie-Offiziere, der Kommissäre des Königs und des Parlamentes, der Depar¬
tements-, Bezirks- und Gemeindevorstände und anderer Beamten, sowie in den
Briefen von Privatleuten an den König, die Nationalversammlung und die
Ministerien. Zu diesen Dokumenten haben alle Schichten der französischen
Bevölkerung, alle Stände, Parteien und Bildungsgrade ihre Beiträge geliefert,
dieselben kommen aus den verschiedensten Gegenden Frankreich's, jeder Bericht¬
erstatter hat für sich, nicht im EinVerständniß mit Anderen geschrieben. Diese
Leute waren größtentheils in der Lage, sich genaue Nachrichten zu verschaffen.
Keiner dachte bei Abfassung seines Briefes oder Aufsatzes an literarischen Er¬
folg , denn keiner glaubte auch nur entfernt, daß seine Zuschrift jemals gedruckt
werden würde. Sie brachten ihre Mittheilungen unmittelbar unter dem Eindrucke
der örtlichen Vorkommnisse zu Papier. Ihr Zeugniß ist daher ein Beweismittel
ersten Ranges aus erster Hand, und mit ihm lassen sich alle anderen Aussagen
kontroliren. Taine thut dies, und um noch sicherer zu gehen, läßt er diese
Berichterstatter, soweit es thunlich, selbst reden, sodaß der Leser in den Stand
gesetzt ist, sich über Alles ein eigenes Urtheil zu bilden. Wenn wir daraus
zuweilen andere Schlüsse ziehen als der Verfasser und hie und da von seinem
Urtheil über Personen, Zustände und Ereignisse wesentlich abweichen zu müssen
glauben, wenn wir finden, daß er Manches übersieht, Manches größer oder
kleiner sieht, als es bei genauer Betrachtung erscheint, so müssen wir doch
immer sein redliches Streben nach Wahrheit anerkennen. Was auch die strenge
Wissenschaft an den Ergebnissen seiner Forschung auszusetzen haben mag,
niemand wird ihm zwei große Tugenden abzusprechen vermögen: Mbe zur
Gerechtigkeit und Sinn für Billigkeit/ und fo wollen wir auch diesen Band
seines Werkes angelegentlich empfohlen haben. Ueber den Werth der deutschen
Bearbeitung ist, wenn wir uns recht erinnern, schon früher bei Besprechung
des ersten Bandes das Nöthige bemerkt worden.
Von Anfang bis zu Ende eine Parteischrift, und doch sehr lesenswerth.
Der Verfasser ist ein Engländer, und er gehört der Partei an, welche die
russenseindliche Politik des jetzigen englischen Premierministers mit allen Mitteln
empfiehlt und unterstützt. Er beurtheilt in Folge dessen die gegenwärtigen
politischen und gesellschaftlichen Zustände nach vorgefaßter Meinung, er geißelt
die von ihm beobachteten Mängel und Gebrechen rücksichtsloser als billig, malt
vielfach schwärzer, als die Dinge wirklich sind, und schreibt der russischen
Politik schlimmere Pläne zu, als Unbefangene ihr zutrauen können. Aber,
indem bei ihm die Tendenz ganz offen und unverhüllt hervortritt, indem der
Standpunkt, den er einnimmt, sofort zu erkennen ist, wird das Buch lehrreich:
es zeigt uns deutlich, wie Beaconsfield und seine Partei die Russen ansehen,
und was sie im Großen und Ganzen von ihnen fürchten und gegen sie zu
thun gedenken. England soll den Plänen auf Indien nöthigenfalls mit ge-
waffneter Hand entgegentreten und das Uebrige dem Zersetzungsprozesse über¬
lassen, der nach der Ansicht des Verfassers in Rußland nicht blos begonnen
hat, sondern schon weit fortgeschritten ist. Die andere Seite des Werthes, den
die Schrift hat, ist die, daß ihr Verfasser Gelegenheit gehabt hat, Land und
Leute in Rußland aus eigener Anschauung kennen zu lernen, da er mehrere
Jahre hindurch dort als englischer Generalkonsul angestellt gewesen ist. Er
hat, wie es scheint, mehr Auge für das Trübe und Dunkle gehabt als für das
Helle und Erfreuliche, oder er hat es für gut befunden, Jenes in seiner Dar¬
stellung mehr zu betonen, als die Gerechtigkeit erlaubt, er generalisirt und
übertreibt; aber daß vieles von dem, was er mittheilt, auf Wahrheit beruht,
wird nicht zu leugnen sein. Man kann demnach sein Buch mit Nutzen lesen,
wenn man es mit Vorsicht und mit den nöthigen stillen Milderungen, Zusätzen
und Zweifeln liest.
In den ersten Kapiteln, die auf eine einleitende kurzgefaßte Geschichte
Rußland's, wie sie vom Standpunkte eines Tory aussieht, folgen, schildert die
Schrift die Verhältnisse des Grundbesitzes in Rußland und die unerfreulichen
Folgen, die aus der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Entwickelung des
sogenannten Mir - Systems hervorgegangen sind — ein Uebergangszustand, der
wie alle Uebergangszustände mit der Zeit besseren Verhältnissen Platz machen
wird. Dann kommt er auf die Korruption zu sprechen, die in allen Kreisen
der russischen Gesellschaft — sicher nicht in dem Grade, wie er glaubt oder
glauben machen will — verbreitet ist. Mehr pikant als zutreffend malt er
uns mit sarkastischen Farben die Bestechlichkeit, die im Militär- und Zivil-
dienst, bei Prozessen und Ehescheidungen allenthalben ihre Rolle spielt. Später
charakterisirt er den Kaiser, den Fürsten Gortschakoff, die Eroberungen in
Turkestan, sibirische Zustände, Schul- und Wohlthätigkeitswesen, die politischen
Agenten, die Engländer und Franzosen in Rußland und die russische Diplo¬
matie, um dann mit Prophezeiungen über die Zukunft zu schließen. Das
Charakterbild, das der Verfasser von Alexander II. entwirft, gehört zu den
besten Stellen des Buches, und wir wüßten nach dem, was uns von dem
Kaiser bekannt geworden ist, nichts daran auszusetzen. Auch Gortschakoff ist
im Ganzen richtig geschildert, nur der starken Portion von Eitelkeit, die er be¬
sitzt, ist nicht gedacht. Ueber Schuwalvff, jetzt den bedeutendsten russischen
Diplomaten, erfahren wir ebenfalls einiges Interessante. Ueber Oubril, den
Gesandten Rußland's am Berliner Hofe, äußert sich der Verfasser folgender¬
maßen: „Er ist ein Diplomat, der einem Soldaten als Muster aufgestellt
werden könnte, so steif, so preußisch (!) sieht er aus. Er und sein erster
Sekretär, E. v. Kotzebue, sind die Hauptbindeglieder in der Familienallianz
zwischen den Romanoff's und den Hohenzollern. Fürst d'Oubril fehlt nie bei
einer Revue oder Parade, er spricht mit den Attache's und der Bedienung
deutsch, er gibt an allen Jahrestagen, welche für die preußische Geschichte vou
Bedeutung sind, Diners, er hat in seinem Palais sogar die deutsche Küche
eingeführt." — „Ob Fürst Bismarck diesen preußisch gesinnten Russen gern
sieht, ist schwer zu sagen; auf alle Fälle übt dieser aber seinen Einfluß auf
andere Weise als durch den Reichskanzler aus; denn er ist weniger Botschafter
als Vertrauter und handelt als Vermittler der Beziehungen zwischen den beiden
regierenden Häusern. Er dinirt mit Kaiser Wilhelm an Tagen, wenn kein
anderer Diplomat eingeladen ist, und bei Hoffesten sieht man ihn oft eine halbe
Stunde lang mit Seiner Majestät sich unterhalten." Wir bemerken zu diesen
eigenthümlichen Mittheilungen: Man merkt die Absicht und man ist ver¬
stimmt — man merkt den Aerger des Tory's, und übrigens trifft nur ein Theil
dieser Charakteristik das Rechte. Fürst Bismarck würde keine Politik hinter
seinem Rücken machen lassen, wie es hier angedeutet zu sein scheint, und er
hat es nicht nöthig, sich dagegen zu verwahren.
Seit zum letzten Male in diesen Blättern der „Kunsthistorischen Bilder¬
bogen" gedacht wurde, hat das Unternehmen, das seine Entstehung unzweifelhaft
einer äußerst glücklichen Idee verdankt, seinen Abschluß gefunden. Von den
vier Sammlungen, die inzwischen noch erschienen sind, umfassen die siebente
und achte (Bogen 145—186) die Geschichte des Kunstgewerbes und der deko-
rativen Kunst, die neunte und zehnte (Bogen 187 — 246) die Geschichte der
Malerei. Wir glauben, daß namentlich die dem Kunstgewerbe gewidmeten
Bogen auf den Beifall der weitesten Kreise werden rechnen dürfen, nicht nur
wegen des lebhaften Interesses, das hente überhaupt den kunstgewerblichen
Produkten älterer Zeiten entgegengebracht wird, sondern namentlich auch wegen
der verhältnißmäßigen Reichhaltigkeit gerade dieser Sammlungen, die unseres
Wissens nirgends bisher in solcher Weise geboten worden ist, und wegen der
besonderen Güte der betreffenden Abbildungen. Zum guten Theil sind Cliches
französischer Prachtwerke benutzt worden. Den relativ am wenigsten befriedi¬
genden Eindruck dagegen dürften die letzten beiden Mappen hervorrufen. Ein¬
mal ist ja die Malerei dasjenige Kunstgebiet, über dessen Geschichte aus nahe¬
liegenden Gründen auch in Laienkreisen vergleichsweise die beste Kenntniß
verbreitet ist; sodann aber ist die Masse, aus der es hier auszuwählen galt,
eine so übergroße, daß in den meisten Fällen wirklich nicht viel mehr als ein
paar Kostebissen haben geboten werden können; und endlich sind hier, neben
zahlreichen neu hergestellten Holzschnitten von höchster Vortrefflichkeit, doch
eine recht erkleckliche Anzahl älterer Holzstvcke zur Verwendung gekommen, die
sich unter den jüngeren Genossen bisweilen etwas seltsam ausnehmen. Die
Billigkeit fordert, daß wir der großartigen Reichhaltigkeit des Ganzen gegen¬
über diesen Umstand nicht allzusehr betonen, die Gerechtigkeit aber, daß
wir ihn nicht ganz verschweigen, zumal da wir gerade aus Laienkreisen
über die letzten beiden Sammlungen mehrfach Urtheile gehört haben, in denen
sich eine leise Enttäuschung aussprach. Vielleicht ließen sich, wenn der Plan
einer Weiterführung der „Bilderbogen" in's 19. Jahrhundert herein, von dem
der Verleger auf dem Umschlage der letzten Sammlung spricht, sich verwirk¬
lichen sollte, für die Geschichte der Malerei bei dieser Gelegenheit noch eine
Anzahl Bogen gewinnen. Eine Erweiterung ist auf jeden Fall wünschenswert!).
Einem weitverbreiteten Wunsche ist der Verleger mit der Nachlieferung eines
„Textbuches" entgegengekommen, dessen erstes Heft soeben erschienen ist. Der
Verfasser desselben hat sich nicht genannt, wird aber, nach der Beherrschung
und Durchdringung des Stoffes zu urtheilen, die bei aller Knappheit der Dar¬
stellung aus jeder Seite des Büchleins spricht und die so gar keine Aehnlichkeit
hat mit der Art und Weise geschäftsmüßiger Popularisier, sicherlich unter den
ersten Fachmännern zu suchen sein. Der Text folgt übrigens nicht etwa Tafel
für Tafel und Nummer für Nummer den Abbildungen der Bilderbogen, sondern
schlägt den einzig richtigen Weg ein,, daß er faktisch eine Art Kunstgeschichte in.
riues gibt, in welche nur der Hinweis auf die Tafeln geschickt verflochten ist.
Daß der Verfasser dabei namentlich auch sein Augenmerk auf die Geschichte
des Kunstgewerbes richten zu wollen scheint, über welche das größere Publikum
bisher nirgends Gelegenheit hatte, sich ordentlich zu orientiren, heben wir aber
besonders dankenswert!) hervor, halten aber auch mit einem kleinen Desiderium
nicht zurück: dem nämlich, daß durch etwas reichlicheren Literaturnachweis
dem strebsamen Leser die Möglichkeit eingehenderen Studiums geboten werde.
Seitdem die lebensfrische Auffassung Winckelmann's lebendigeres Interesse
für das Studium der Antike in Deutschland erweckt hat, seitdem man das
Hellenenthum nicht mehr von dem nüchternen Standpunkte scholastischer Pedan¬
terie, sondern seinem Wesen, seiner wahren Natur nach zu erfassen versucht
hat, war es unablässig das Streben aller Forscher und Freunde des Alter¬
thums, die letzten Spuren jener Zeit, soweit sie sich auf klassischem Boden noch
erhalten haben, in ihrem natürlichen Zusammenhange zu studiren, aus ihnen
gewissermaßen die Antike zu rekonstruiren.
Um eine klare Vorstellung, ein richtiges Bild von Allem, was von Ueber¬
resten der Vergangenheit geblieben, im Zusammenhange mit dem Boden, auf
welchem es stand, zu erlangen, bedürfte es einer möglichst genauen Darstellung
des gesammten Territoriums. Eine Landesvermessung im gewöhnlichen Sinne,
wie die schon früher entworfene französische Generalstabskarte von Griechen¬
land, konnte jenen Anforderungen nicht genügen, noch viel weniger durfte eine
solche Arbeit in die Hände eines Technikers gelegt werden, dem kein Verständ¬
niß der Antike, keine Einsicht in die Verhältnisse damaliger Zeit zu Gebote
steht, um Wichtiges von Nebensächlichem, Antikes von späteren oder Modernen
unterscheiden zu können.
Der Anregung von Ernst Curtius ist es zu verdanken, daß von Deutsch¬
land aus in der angedeuteten Richtung die ersten Schritte gethan und im
Jahre 1862 von Seiten der preußischen Regierung eine Kommission zum
Zwecke wissenschaftlicher Erforschung und Aufnahme archäologisch wichtiger
Objekte nach Athen entsandt wurde. Das Resultat jener ersten Arbeiten be¬
schränkte sich im Wesentlichen auf die Vermessung Athen's und seiner nächsten
Umgebung und wurde im Jahre 1868 durch Curtius in sieben Karten ver¬
öffentlicht.
Damit war jedoch nur den nothwendigsten Bedürfnissen entsprochen. Die
Fortschritte der Ausgrabungen in und um Athen machten in den letzten Jahren
eine Ergänzung jener Arbeiten wünschenswerth, deren Erweiterung auch durch
andere Umstände dringend geboten erschien. In der That mußte die schonungs-
lose Art, in der man die letzten Spuren der Vergangenheit fast systematisch
hier vernichtet, durch Sprenggruben und Steinbrüche gerade diejenigen Stellen,
welche um ihrer antiken Bedeutung willen ein spezielles Interesse haben, ge¬
waltsam zerstört, dazu der mangelnde Schutz der Behörden auf dem Lande,
in Folge dessen jede Willkür hinsichtlich etwa vorhandener Alterthümer erlaubt
ist, es fast als Pflicht erscheinen lassen, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln
den Abschluß jener Arbeiten zu beschleunigen, bevor Alles vollständig zerstört
und vom Erdboden verschwunden sein würde. Im Jahre 1875 wurde daher
eine zweite Kommission, bestehend aus Ernst Curtius und dem königlichen
Vermessungs - Inspektor im Gr. Generalstab, Herrn Kaupert, nach Athen ent¬
sandt. Ihr Zweck war ein doppelter: zunächst eine genaue Spezial-Aufnahme
der Stadt und ihrer nächsten Umgebung, sodann eine Vermessung des ge¬
summten Thalbeckens der sogenannten attischen Ebene. Die letztere Arbeit konnte
jedoch erst im Jahre 1877 begonnen werden. Ich hatte das Glück, bei dieser
Expedition Verwendung und so die ersehnte Gelegenheit zu finden, den klassi¬
schen Boden zu betreten.
Der Schnee bedeckte die deutschen Fluren, als der Weg mich über die
eisstarrenden Gletscher der Hochalp den sonnigen Gefilden Italien's entgegen¬
führte. Brindisi war das nächste Ziel. Ein italienischer Dampfer trug uns
von da nach Corfu hinüber, der ersten Station, wo griechisches Leben beginnt.
Wer dächte nicht mit Entzücken an Corfu? Weithin über die See tragen
uns schon die Lüfte den Duft seiner Orangen entgegen. Eine Heimat ewigen
Frühlings, liegt sie im Sonnenglanze da. Die Vegetation fast aller Zonen,
die nordische Eiche, die Rosenfülle Persien's sieht man hier vereint neben den
Palmen Afrika's und den Cacteen der Sahara. Nur zu bald entschwand sie
wieder dem Blicke. Diesmal ist es ein griechischer Dampfer, der uns nach
Korinth trägt, damit wir auf kürzestem Wege über den Isthmus die Reise
fortsetzen. An Bord schon ganz orientalischer Charakter. Ein buntes Gemisch
phantastischer Trachten. Auf seinem Kasten, die Beine gekreuzt, sitzt ein Derwisch,
eifrig im Koran lesend, der ihm Nachts zugleich als Ruhekissen dient. In
tiefe Andacht versunken, hat er augenscheinlich längst die Pflicht der heiligen
Waschungen vergessen. Dort sehen wir einen Armenier mit geläufiger Zunge
seiner Umgebung Perlen und andere Kostbarkeiten anpreisen, bei allen Heiligen
ihre Echtheit versichernd. Inmitten der lärmenden Menge schreitet stolz, das
Ziegenfell nachlässig über die Schulter geworfen, ein griechischer Demarch, die
Uebrigen kaum eines Blickes würdigend. Er ist einer jener wenigen Neprä-
sentanten reinen Griechenthums, deren Echtheit die klassische Regelmäßigkeit der
Gesichtszüge, das rein griechische Profil, die stattliche Figur und die würdevolle
Haltung hinreichend zu erkennen gibt.
Bald tauchen Keffalonia und Zarte aus dem Meere auf, an denen vorbei
der Weg in das Herz von Hellas hineinführt. Die Gestade treten näher und
näher. Im Strahl der Morgensonne erglänzen die Gipfel des Parnaß. Nach
Süden hin zeichnen sich die blauen Linien der peloponnesischen Gebirgsland¬
schaft ab. Kahl, fast ohne jede Spur von Vegetation, sodaß in Folge des
starken Lichteffekts jede Schlucht, jede Terrainwelle, ja fast jeder Stein auf
meilenweite Entfernung deutlich erkennbar ist, bieten diese Berge in ihrem
mannichfachen Kolorit, das bald in duftiges Blau sie einhüllt, bald sie mit
rosigem Schleier überzieht, umrahmt von edeln, fast künstlerisch schönen Kon¬
turen, die sich mit wunderbarer Klarheit vom Himmel abheben, ein Bild, un¬
vergleichlich in seiner Art. Aber freilich keine Spur antiken Lebens, dort wo
zuerst der Fuß den klassischen Boden betritt. Das jetzige Korinth, ein paar
elende Baracken, befindet sich nicht einmal mehr an der Stelle der ehemaligen
Stadt. Einsam und verödet liegt das Land.
Vom jenseitigen Isthmus-Ufer bringt uns gegen Abend ein neuer Dampfer
an's Ziel der Reise. Die felsigen Klippen von Salamis und Aegina tauchen
auf. Noch eine kurze Strecke, und die ganze attische Landschaft, vom Hoch¬
gebirge rings umrahmt, im Vordergrunde der Piräus, liegt vor uns. Wiederum
buntes, orientalisches Gewühl beim Betreten des Strandes. Fremde Sprach¬
laute berühren das Ohr. Ist doch das moderne vom Altgriechischen so wesentlich
in der Aussprache verschieden, daß man im Anfang kaum einzelne Worte zu
verstehen vermag. Doch bei der Leichtigkeit der Auffassung, die auch heute
noch dem Griechen eigen, gelingt es ohne Schwierigkeit, sich über das Noth¬
wendigste zu verständigen. Vom Piräus aus führt die Eisenbahn, die einzige,
welche in Griechenland existirt, in wenigen Minuten nach Athen. Schon taucht
in der Ferne der uralte Oelwald aus, dessen knorrige, verwitterte Stämme wohl
Jahrtausenden getrotzt haben. Plötzlich, über dem dunkeln Grün hinweg, phan¬
tastisch beleuchtet vom Schimmer der Abenddämmerung, erheben sich die Säulen
der Mropolis. Wir glauben zu träumen, und doch ist es Wahrheit: da liegt
sie vor uns, die Stadt des Perikles!
Was den Zweck unserer Reise betrifft, so war die topographische Auf¬
nahme der Stadt selbst und ihrer nächsten Umgebung schon früher im Wesent¬
lichen vollendet worden und bedürfte nur einer nochmaligen Revision. Dennoch
bietet das Ergebniß, wie es vor Kurzem durch Curtius veröffentlicht worden ist,*)
gegen die früheren Arbeiten manches wesentlich Neue. Das erste Mal hatte
man sich im Allgemeinen damit begnügt, die Stadt in ihrer jetzigen Ge¬
stalt möglichst genau darzustellen. Altes und Neues erschien dabei gemischt, so
daß es unmöglich war, ein Bild von der antiken Stadt als solcher zu
gewinnen. Die diesmalige Arbeit stellte sich dagegen die Aufgabe, auf Grund
historischer Daten und gestützt auf die vorhandenen Ueberreste, die ehemalige
Stadt mit ihren Straßen, öffentlichen Plätzen, Bauten und Kanälen zur voll¬
ständigen Darstellung zu bringen, so daß gleichzeitig ihre Lage zur jetzigen
Stadt ersichtlich wird.
Das Terrain Athen's ist im Wesentlichen durch drei Höhengruppen charak-
terisirt, die man als Ausläufer einer Bergkette betrachten kann, welche von
Norden nach Süden die Ebene durchschneidet, die sogenannten Turko-vuni
(Türkenberge). Sie bilden die Wasserscheide der beiden Hauptgewässer der atti¬
schen Ebene, des Ilissos im Osten und des Kephissos auf der Westseite. Die
nördlichste jener Gruppen bildet zwei Kuppen, deren höhere, der Lykcibettos
mit seinen Südwest-Abhängen, das Stadtgebiet im Norden begrenzt. Durch
eine muldenförmige Thalsenkung werden sie mit der mittleren verbunden, die
den eigentlichen Kern der Stadt bezeichnet: die Höhe der Akropolis. Felsiges,
zerklüftetes Gestein mit Höhlungen und Grotten charakterisirt ihre Nordabhänge,
in deren westlichem Theil die altberühmte Klepsydra entspringt. Im Westen
sieht man die wilde Felsmasse des Areopag vorgelagert, den Sitz der alten
Blutgerichte. Noch bezeichnen 16 Stufen die Stelle, wo die Richter zu
ihren Sitzungen emporstiegen. Durch eine ähnliche, wenn auch weniger breite
Senkung hängt wieder die mittlere Gruppe mit der südlichsten der Pnyx-Ge¬
birge zusammen, welche die natürliche Begrenzung der Stadt im Südwesten
bildet. Diese letzte Gruppe gliedert sich abermals in drei Abschnitte. Den öst¬
lichsten bildet der Philopappos-Hügel, nach einem noch jetzt dort befindlichen
alten Monumente benannt. Ihm schließt sich, halbkreisförmig nach Süden hin
vorspringend, die eigentliche Pnyx, der alte Volksversammlungsplatz der Athener
an. Ein etwas ausgedehnteres Plateau, der Nymphenhügel, bildet den Ab¬
schluß im Westen.
Die Sage erzählt, daß Athene, als sie die Burg gebaut, von Pallene
kommend, den Lykabettos, den sie zu ihrer Befestigung herangetragen, unter¬
wegs habe fallen lassen. In der That scheint die ganze Terrainformation auf
eine» früheren Zusammenhang jener drei Gebirgsgruppen hinzuweisen, die von
Nord- wie von Süd-West her die Stadt einschließen. Im Süd-Osten bildet
das Flußbett des Ilissos die natürliche Begrenzung. Was jenseits lag, war
schon in ältesten Zeiten Sitz der Landbevölkerung. Zwei Höhen erheben sich
hier, von denen besonders die südlichere, der alte Ardettos oder Helikon als
Wohnstätte der Pelasger, der Ureinwohner des Landes, ein gewisses Interesse
hat. Ihm gegenüber, diesseits des Stromes, nimmt die berühmte Kallirrhoö
ihren Ursprung.
Wie die wasserreiche jenseitige Kephissos - Ebene zur Bodenkultur, zu
Straßenanlagen das geeignete Terrain bildete, so luden die trockenen, höher
gelegenen Ufer des damals wasserreichen Ilissos zur Anlage von Wohnungen
ein. Vier Perioden kann man von den Anfängen der städtischen Entwickelung
an bis zum Verfall unterscheiden. Während dieser verschiedenen Zeitabschnitte
sehen wir das eigentliche Zentrum der Stadt nach und nach um die Burg
herum verschoben, von der Südseite her allmählich nach Nordwesten, von da
mehr und mehr nach Osten gerückt, bis schließlich der Zentralpunkt wiederum
der Südostseite der Burg sich zuwendet, also dahin zurückkehrt, von wo er
ausgegangen.
Die erste Periode gehört der Tradition an. Von der See her erfolgten
die ersten Ansiedelungen. Zahlreiche Ueberreste antiker Bauten an der Süd¬
seite des jetzigen Piräus, besonders auf der kleinen Halbinsel Akte sind Zeugen
jener Zeit, wo auf der Höhe von Munychia phönikische Ansiedler das erste
Herakles-Heiligthum auf attischem Boden gegründet. Kein Ort bot günstigere
Gelegenheit für weitere Ansiedelungen, als die Umgegend von Athen. Die
Südostabhänge der Pnyx-Berge mit ihrer gesunden Lage und freien Aussicht
auf die See schienen ganz besonders zweckentsprechend. In der That zeigen
sowohl die Abhänge der eigentlichen Pnyx wie die des Nymphenhügels aus¬
gedehnte Spuren ältester Niederlassungen. Gewöhnlich bezeichnet man sie als
Felsenstadt, nach Curtius bildeten sie vielleicht das phönikische Meine. Der
Charakter jener Häuser ist sehr primitiv; gewöhnlich bestehen sie nur aus einem
einzigen Raume mit einfach in den Felsen gehauenen Ruck- und Seitenwänden.
Vielfache Spuren von Straßen, öffentlichen Plätzen und Opferstätten geben
Zeugniß von dem städtischen Charakter dieser Niederlassungen, insbesondere die
große Altarterrasse am AbHange der Pnyx, wo man in jenen Zeiten erster
Entwickelung dem höchsten Zeus (^-v? v?rttros) unter freiem Himmel Stier¬
opfer brachte. Uebrigens waren schon zu jener Zeit auch andere Theile, wie
die Westabhänge der Akropolis, die Südseite des Lykabettos, die Ufer des
Ilissos mehr oder weniger bewohnt. Wie später, nach Einwanderung der
Kekropiden, aus diesen verstreuten Niederlassungen die Stadt als solche, mit
dem Herrschersitz der Akropolis hervorgegangen, wie der Sage nach Athene
und Poseidon sich um den Besitz des Landes gestritten, bis schließlich jene die
Siegerin blieb und als alleinige Herrin der Burg anerkannt wurde, wie so¬
dann Athen Landeshauptstadt und, nach Herodot, aus Athenäern Jonier wurden,
von alledem zeugt keine Spur, kein Monument deutet darauf hin. Jedenfalls
zog sich in jener Zeit der Kern der Stadt näher um die Burg. Das soge¬
nannte Kydathenaion, der Sitz der Aristokratie, lag höchst wahrscheinlich in
der Mulde, die sich Mischen dem Südabhange der Burg und der jenseitigen
Pnyx-Höhe hinzieht. Hier waren zugleich die Staatsgebäude, das Prytaneion,
der Sitz der Könige, hier an den Abhängen der Pnyx der Ort der Gerichte,
der Volksversammlungen. Nur die Blutgerichte wurden schon von Alters her
auf dem Areopag gehalten, denn kein mit Blutschuld Beladeuer durfte den
Gemeindeplatz betreten.
Mit Solon beginnt die zweite Periode, der Abschnitt, wo die Stadt histo¬
rische Bedeutung gewinnt. Von jetzt an konzentrirt sich das öffentliche Leben
auf einem andern Punkte. Der Markt, bisher in der Pnyx, wird von Peisi-
stratos nach dem Kerameikos (dem „Töpfergau") an der Westseite der Burg
verlegt und bleibt von nun an, auch nach den Perserkriegen und während der
ganzen Blüthezeit Athen's, der Mittelpunkt des Verkehrs. Die Umrisse der
Stadt in dieser Periode sind deutlich gegeben durch die themistokleischen Mauern.
Ueber die Abhänge des Philopappos- und Nymphenhügels hinweg bis zum
Dipylon, dem Hauptthore der Stadt, in Westen sich erstreckend, lassen sich ihre
Spuren nach Osten die Ufer des Ilissos entlang an den Abhängen des Lyka-
bettos hin weiter bis zum acharnäischen Thore im Norden verfolgen, um sich
von da in fast geradlinigem Zuge dem Dipylon wieder anzuschließen. Noch
heute erkennt man an den Abhängen des Nymphenhügels deutlich die Reste
der langen Mauern, welche zu Themistokles' Zeiten die Stadtbefestignng mit
dem Hafen verbanden. Vier Hauptthore, den Himmelsgegenden entsprechend,
vermittelten den Verkehr. Das Dipylon, nach seinem doppelten Thor-Eingange
so benannt, war sowohl der Anlage wie seiner Bedeutung nach bei weitem
das Wichtigste, unzweifelhaft darauf berechnet, dem Fremden schon Angesichts
der Stadt ihre hervorragende Stellung zum Bewußtsein zu bringen. Hier am
Dipylon mündete die Hauptstraße, der sogenannten Dromos, zu Perikles' Zeiten
eine Prachtstraße im wahren Sinne des Wortes. Rechts und links von Kolon¬
naden eingefaßt, zeigte sie seitwärts, von den Meistern hellenischer Kunst aus¬
geführt, die Statuen der bedeutendsten Männer Athen's, während weiter dahinter
zur Linken der Blick auf eine Reihe glänzender, in dem edlen Kunstgeschmacke
der klassischen Zeit erbauter Heiligthümer fiel. Ueber den Dromos hinweg
gelangte man an die Nordseite des Kerameikos. Hier liefen alle Hauptstraßen
der Stadt wie in einem Zentrum zusammen. Von hier aus wurden die Ent¬
fernungen gezählt, hierher nach und nach die wichtigsten Staatsgebäude verlegt.
Metroon, Buleuterion und Tholos, die ältesten unter ihnen, nahmen die Süd¬
front ein. Zu beiden Seiten erhoben sich die kanonischen Prachtbauten, mit
den Siegesdenkmälern jener Zeit geschmückt: an der Westseite die Königshalle,
die Stoa des Zeus Eleutherios (des „Befreiers") mit dem kolossalen Stand¬
bilde des Gottes, gegenüber die Poikile oder Bildergalerie, welche wiederum
die Hermenhalle mit jener verband — anderer Anlagen, welche spätere Zeiten
hinzugefügt, wie der Attaloshalle, nicht zu gedenken.
Von den vielen vom Markte auslaufenden Wegen hat nur die Tripoden-
strciße (Dreifußstraße) eine besondere Bedeutung. In südöstlicher Richtung zur
Burg führend, theilt sie sich später in zwei Theile. Der erste Zweig biegt
scharf um die Ostecke der Burg: es ist der nähere Weg, die Feststraße der
Dionysien. Hier pflegte man Dreifüße als Weihgeschenke für errungene Siege
bei den Festspielen auf kleinen tempelförmigen Postamenten aufzustellen. Ein
solches Monument, vom Athener Lysikrates gestiftet, hat sich noch heute an
Ort und Stelle erhalten und wesentlich dazu beigetragen, die Richtung der
Straße unzweifelhaft festzustellen. Der andere Zweig umschließt die Burg
in weiterem Bogen. Es war,die Feststraße, welche die Prozessionen der
Panathenäen umwandelten, um auf der Akropolis der Athena Polias das
neue Gewand zu weihen. Denn seit dem Sturze der Tyrannen hatte die
Burg aufgehört, Festung zu sein. Sie war zu Penkles' Zeiten ausschließlich
Besitz des Zeus und der Athene. Eine Reihe glänzender Anlagen aus peri-
kleischer und späterer Zeit umfaßt ihren Südabhang. Das Dionysos-Theater,
mit seinen amphitheatralisch in den Burgfelsen gehauenen Sitzen, wohl an
30000 Zuschauer fassend, durch Kimon auf's reichste ausgestattet, und gegen¬
über das einer späteren Periode ungehörige Odeion des Herodes Attikos lassen
noch jetzt vielfache Spuren ihrer einstigen Pracht erkennen.
Wie schon das Dipylon dazu bestimmt war, dem Fremden gleich beim
Eintritte die hohe Bedeutung der Stadt empfinden zu lassen, so war dies in
noch erhöhtem Maße der Fall bei dem Eingange zur Akropolis. Die Pro¬
pyläen sind unzweifelhaft, sowohl was Großartigkeit der Idee, wie künstlerische
Ausführung betrifft, das Vollendetste, was griechische Baukunst je hervorgebracht
hat. Fünf Thoreingänge, von dorischen und ionischen Säulen getragen, füllten
fast die ganze Westfront der Höhe aus. Rechts und links sprangen doppelte
Säulenreihen vor. Breite Mormorstufen, die ganze Front umfassend, bildeten
den Aufgang, in der Mitte von der Fahrstraße durchschnitten, welche durch die
beiden Hauptportale auf die eigentliche Höhe der Burg führte. Oben trat,
alles überragend, durch seine Lage, wie durch den gewaltigen Bau dem
Blick zuerst der Parthenon entgegen. 48 dorische Säulen von mehr als zwei
Meter Durchmesser tragen die großartige Anlage, deren Dimensionen die des
älteren Hekatompedon bei weitem übertreffen. Zur Linken, getragen von den
weltberühmten Karyatiden, das Erechtheion, das älteste Heiligthum der Burg,
seiner Anlage nach zwar weniger imposant, aber auf die erlesenste Art mit
allen Mitteln damaliger Kunst dekorirt. Weiter nach der Südseite der Burg
fiel der Blick auf die Säulenfac/,abe des kleinen Niketempels. Inmitten dieser
Räume eine unabsehbare Schaar von Statuen, unter denen vor allen die
Schöpfung des Phidias, das Standbild der Athen« Promachos — der Vor¬
kämpferin Athene —, hervorragte, deren goldene Lanzenspitze weithin bis nach
Kap Sunion die Nähe der Heimat verkündete.
Von den Heiligthümern der unteren Stadt, welche dieser Zeit noch ange¬
hören, hat namentlich das Theseion Interesse. Streng dorisch, wie bei allen
Heiligthümern dieser Zeit, ist auch der Stil dieses Tempels, dessen Inneres
die Gebeine des Helden und Gründers der Stadt bergen sollte, welche Kimon
von der Insel Skyros hierher zurückgeführt, um sie in vaterländischer Erde zu
bestatten.
Dromos und Tripodenstraße sind die einzigen Straßen, die mit voller
Sicherheit bis jetzt bestimmt sind. Von den übrigen konnten nur solche an¬
nähernd festgestellt werden, deren Richtung durch die Lage von öffentlichen
Plätzen und Thoren, die sie mit einander verbanden, oder durch Bauten, welche
ihre Kreuzungspunkte bezeichnen, mit einiger Sicherheit gegeben ist. Die Stoa
des Attalos, das Diogeneion, das Serapeion und andere dienten dabei als
Anhaltepunkte.
Zur Zeit der Fremdherrschaft, welche die dritte Periode bezeichnet, und
besonders seit der Okkupation durch die Römer verlegte man den Zentralpunkt
des Verkehrs mehr und mehr nach Osten. Fremde, „Philhellenen", lassen es
sich jetzt angelegen sein, die Stadt mit Kunstwerken und Prachtbauten zu be¬
reichern. Der Kerameikos hört auf, Sitz des öffentlichen Lebens zu sein.
Oestlich davon, einige hundert Schritte entfernt, finden wir unter Augustus
einen neuen Markt, den eine Thor-Inschrift als Oelmarkt bezeichnet. Der Säulen¬
halle folgend, welche damals von hier aus westlich sich fortsetzte, gelangt man
zu einer ferneren Anlage dieser Zeit, dem Platz am Horologium. Marmor¬
säulen bildeten ehemals die Umfassung dieses Platzes, dessen Mitte der ebenfalls
aus Marmor erbaute Thurm der Winde schmückt. Er diente zugleich als Uhr¬
thurm; eine Kanal-Anlage jener Zeit zeigt noch jetzt, wie man das Wasser der
Klepsydra zur Speisung der Uhr benutzte. Ueberhaupt sind die Wasseranlagen
jener Zeit, deren Zusammenhang bis jetzt nur höchst unvollständig ermittelt
worden ist, und deren hauptsächlichste, von Kephisia und Chalandri her, noch heute
die Stadt mit Wasser versorgt, von großem Interesse.
Mit Hadrian endlich beginnt die vierte und letzte Periode. Im Osten
und Südosten erhebt sich ein ganz neuer Stadttheil. Die Inschrift am Hadrians-
tlzor bezeichnet sie als ^tlisnas novas oder als Stadt des Hadrian. Bereits
früher hatten hier, an den Ufern des Ilissos, vornehme Römer, unter diesen
auch Herodes Attikos, ihre Villen, von denen noch heute die vielfachen Uever-
reste der Mosaikboden Zeugniß geben. In dieser Gegend befand sich seit
Peisistratos der Tempel des Zeus, das Olympieion. Nach der Zerstörung
Athen's durch die Perser war zu verschiedenen Zeiten auch die Wiederherstellung
dieses Tempels versucht worden, jedoch nie vollständig gelungen. Erst Hadrian
war es vorbehalten, den Bau auf's prächtigste zu vollenden. Ueber 600 Meter
umfaßte der Umfang der Mauer, die den heiligen Raum umschloß. Der
Tempel selbst, von mehr als 120 korinthischen Säulen getragen, die ihn in
mehrfachen Reihen umgaben, war nächst dem zu Ephesus der größte seiner Zeit.
So war Athen in seinem Glänze. Und was ist jetzt aus alledem geworden?
Derselbe Raum wie ehemals bezeichnet noch heute das Gebiet der Stadt, aber
verfallen ist das glänzende Dipylon, der ehemalige Dromos jetzt nur ein un¬
scheinbarer Weg, das untere Ende der jetzigen Hermesstraße, dessen ehemalige
Bedeutung man kaum zu ahnen wagt. Wo einst der Mittelpunkt der Stadt,
der Kerameikos lag, ist jetzt ein vollständiges Stadtquartier meist ärmlicher
Hütten erbaut. Und fast dasselbe Geschick traf die übrigen Anlagen. Einsam
zwischen den modernen Bauten steht noch der Thurm der Winde, an die alten
glanzvollen Zeiten gemahnend. Verschüttet theils, theils verfallen sind die
Prachtbauten am Südabhange der Burg, ein weites Trümmerfeld die Fläche
der Akropolis.
Während es sich bei der topographischen Aufnahme der Stadt mehr um
eine Revision des bereits Geleisteten handelte, galt es bei der Vermessung der
attischen Ebene eine völlig neue Arbeit. Das ganze Territorium, ungerechnet
die Gebirgsränder, umfaßt etwa acht Quadratmeilen. Im Westen wird es
von den Gebirgszügen des Korydalos und Aigaleos, den sogenannten Daphni-
bergen, gegenüber vom Hymettos und Brilessos oder Pentelikon umsäumt; nach
Norden hiu bildet die Parneskette den Abschluß der Landschaft, deren südliches
Gestade das ägäische Meer bespült. Durch die rings umgebenden Gebirgs¬
ketten vor rauhen Wind, wie vor Kälte geschützt, nach Süden hin wiederum
erfrischenden Seewinden zugänglich, hat die Landschaft zu alleu Jahreszeiten
ein gemäßigtes Klima. Selbst im Winter unterbrach selten ein trüber Tag
den Fortgang unserer Arbeit. Trotz der Nähe der See ist der klimatische
Charakter vorwiegend der der Trockenheit. Die Luft ist reiner als in Italien,
wo man das tiefe Man des griechischen Himmels nicht kennt; plötzliche
Wechsel der Temperatur verhindert die geschützte Lage. Auf den Höhen da¬
gegen herrscht, selbst bei sonst vollkommen ruhigem Wetter, ein fortwährender
Wind, der nicht selten, namentlich im Frühjahr und Herbst, orkanartiger
Charakter annimmt, so daß mehrfach die Beobachtungen eingestellt werden
mußten, um nicht das Instrument der Gefahr auszusetzen, umgeworfen zu werden.
Jede Messung eines größeren Landestheiles beginnt bekanntlich mit den
sogenannten Triangnlations-Arbeiten. Eine Anzahl von Terrain-Punkten, deren
Abstände man durch Beobachtung und Berechnung bestimmt, werden zu einem
Dreiecksnetz verbunden, welches wie mit Maschen das ganze Land überzieht,
um so für die Detailausnahme die nöthigen Anhaltepunkte zu liefern. Zur
Bestimmung solcher Punkte, sowie um den allgemeinen Charakter des Terrains
richtig beurtheilen zu können, werden zunächst eine Reihe von Rekognoszirnngen
systematisch nach allen Richtungen hin vorgenommen. Dazu kam im vor¬
liegenden Falle noch der spezielle Zweck, alle irgendwie im Terrain vorhandenen
archäologisch wichtigen Objekte ihrer Art und Lage nach zu untersuchen und
zu verzeichnen.
Derartige Rekognoszirnngen sind mehr oder weniger mit Schwierigkeiten
verbunden. Das felsige, mit Geröll dicht übersäte Terrain gestattet keine anderen
Transportmittel als Esel oder deren Abarten. Das ununterbrochene Geschrei
der Treiber, welche, um die Kolonne in Gang zu halten, auf der ganzen Tour
zu Fuß nebenherlaufen, trägt nicht eben dazu bei, die Annehmlichkeiten der
Situation zu erhöhen, die an sich schon — man sitzt auf hartem hölzernen
Sattel — nicht sonderlich behaglich ist. Im Gebirge versagen übrigens auch
diese Transportmittel, und es helfen nur die eigenen Füße vorwärts. Dann
sind die Schnabelschuhe der Gebirgsbewohner zu empfehlen, welche, aus einem
Stück weichen Leders gearbeitet, sich in dem scharfkantigen Gestein von größerer
Haltbarkeit erweisen, als europäisches Schuhwerk, und zugleich größere Sicher¬
heit des Ganges und Leichtigkeit des Springens ermöglichen. In letzterem
seine Fertigkeit zu erproben hat man reichliche Veranlassung.
Wie schon die nächste Umgebung der Stadt durch einen gewissen Formen¬
reichthum gekennzeichnet ist, so setzt sich derselbe Charakter über das ganze
Terrain hin fort. Die bereits erwähnte Kette der Turko-vuni theilt die Landschaft
in zwei, ihrer Natur nach durchaus verschiedene Abschnitte. Diese Verschieden¬
heit ist wesentlich durch die angrenzenden Gebirge bedingt. Schroffe Fels-
partieen, Abgründe, Schluchten oder Riffe, die natürlichen Betten ehemaliger
Gebirgswässer, weit ausgedehnte Strecken von Felsstücken, die wie eine Mauer
die Berggipfel umlagern, dazu der gänzliche Mangel organischen Lebens, dies alles
gibt dem griechischen Hochgebirge schon einen Anflug von Wildheit. Besonders
tritt dies im Parnes hervor, wo zwei vollständig isolirte Riesenblöcke am Sttd-
abhange des Gebirges von ihren Höhen weit hinaus in die Landschaft schauen.
Wasserbäche, Gebirgsquellen, überhaupt alles, was sonst eine Gebirgslandschaft
zu beleben Pflegt, fehlt fast vollständig. Nur die Abhänge des Brilessos, deren
Schooße der nie versiegende Quell des Kephissos entspringt, bilden eine Aus¬
nahme. Aber die steilen Abhänge bergen nicht unbedeutende Schätze. Noch
heute sind die Marmorbrüche des Hymettos und Brilessos bei Karas und bei
Kloster Pentheli im Betrieb und bilden wie im Alterthume eine reiche Fund¬
grube kostbaren Materiales für künstlerisches Schaffen.
Hinsichtlich der Gebirgsformation fällt es auf, daß im Allgemeinen die
Westabhänge mehr terrassenartige oder durch Zwischenglieder vermittelte Ueber-
gänge in die Ebene zeigen, die Ostseiten hingegen sich durch steile, oft unmittel¬
bar vom Gebirgsstock nach der Niederung hin abfallende Felsen und Klippen
auszeichnen. Darum stellt sich auch die Ilissos-Landschaft wesentlich als
Hügelland dar. Aber während die Ausläufer des Brilessos in einzelnen
Terrassen nach der Niederung abfallen, dann in leichte Terrainwellen sich
verlieren, durchziehen die Vorberge des Hymettos noch weithin das ganze
Terrain und erstrecken sich bis in die nächste Umgebung der Stadt. In ihren
vielfach gegliederten Formen, bald isolirte durch Querthäler getrennte Kuppen,
bald langgestreckte Bergrücken oder Höhenkämme bildend, bald wieder zu aus¬
gedehnteren Hochebenen sich erweiternd, tragen sie wesentlich dazu bei, den
Charakter jener Mannich sättigten zu erhöhen, die im Ganzen wie im Einzelnen
sich hier zu erkennen gibt.
Eine breite Thalsenkung trennt die östlichen Hochgebirge. Sie wird quer
durchschnitten von einer Straße offenbar antiken Ursprungs, die nach der Ebene
der Paralia führt. Antike Straßen sind noch heutiges Tages vielfach im
Gebrauch. Trotz des verwahrlosten Zustandes, in dem sie sich augenblicklich
befinden, sind sie immer noch den Anlagen späterer Zeit vorzuziehen. Mit
größter Sachkenntniß finden wir sie stets dem Terrain angepaßt; im Gebirge
folgen sie dem Laufe der Gewässer, steile Erhebungen sind durch Umwege ver¬
mieden, plötzliche Abfälle durch Rampen und Einschnitte für die Kommunikation
bequem gemacht. An und für sich würden jene Wege nur wenig Anhalt zur
Feststellung ihres antiken Charakters gewähren. Allein anderweitige Umstände
kommen hinzu, die uns denselben unzweideutig offenbaren. In einer Zeit, wo
andere Verkehrsmittel mangelten, wo man größere Reisen nur mit mehrfacher
Unterbrechung machen konnte, war es iiatürlich und nothwendig, hin und
wieder geeignete Ruheplätze zu finden. schattige, vor Wind geschützte Stellen,
unmittelbar in der Nähe der Straße, insbesondere solche Orte, wo sich Trink¬
wasser befand, eigneten sich dazu am besten. Wo keine Brunnen vorhanden,
legte man Zisternen an; anch künstlich in den Fels gehauene Ruhesitze finden
sich mitunter. Gräber, nicht selten auch kleine Heiligthümer pflegte man eben¬
falls in die Nähe der Straßen zu legen. In christlicher Zeit verwandelte
man die letzteren in Kapellen. In der That finden sich, wo solche Kapellen
am Wege stehen, fast immer Spuren älteren Mauerwerks, welches der Bauart
wie dem Material nach als unzweifelhaft antik erkannt wurde. Die alten
Ruheplätze bilden, wohl hauptsächlich des Trinkwassers wegen, noch jetzt das
Rendez-vous des reisenden Landvolkes.
Von der Stadt aus nahmen alle Hauptstraßen ihren Anfang. Doch schou
im Alterthum war augenscheinlich die östliche Landschaft weniger dem Verkehr
geöffnet. Der wasserarme Fels bot zu wenig Aussicht auf Erfolg für Boden¬
kultur. Noch weniger ist dies heute der Fall. Der Ilissos, der einst mit dem
Gebirgswasser des Hymettos die Gärten der Athener getränkt, ist nur noch ein
Abzugskancil für Regenwasser. Ringsum kahles, unbebautes Land. Kein
Wunder, wenn selbst die wenigen Straßen, die nach Sunion im südöstlichsten
Theile Attika's und die nach Marathon im nördlicheren Theile, fast ganz in
Verfall gerathen. Bebautes Terrain findet sich nur in der Nähe der Ort¬
schaften. Diese letzteren tragen natürlich bis auf wenige Ausnahmen alle den¬
selben Charakter. Die Häuser siud, der Mehrzahl nach armselig, wie in den
Zeiten erster Entwickelung aus Lehm gebaut, im Innern nur mit einem ein¬
zigen Raume versehen, vielfach verfallen und unbewohnt. Vereinzelt trifft man
größere Gehöfte, die dann wie Oasen plötzlich aus dem unabsehbaren Felsen¬
meere hervortreten und für einen Augenblick die rauhe Umgebung zurückdrängen;
so unter andern das Kloster, welches, in wilder Bergschlucht des Hymettos
gelegen, mit seinem schattigen Olivenhain, seinem frisch sprudelnden Quell einen
überaus romantischen Eindruck macht.
Aber trotz der allgemeinen Verwüstung haben sich gar manche Spuren alter
Zeit noch erhalten. Grundmauern antiker Bauten finden sich sowohl innerhalb
der Ortschaften, wie im freien Terrain. Größere Monumente, Befestigungs¬
anlagen, Wachtthürme auf den Vorsprüngen der Gebirge wurden ebenfalls hie
und da angetroffen. Mancherlei Gegenstände antiken Ursprungs zeigten sich
oft da, wo man sie am wenigsten vermuthete. Säulenstücke aus Marmor,
Kapitäle sind nicht selten als bloßes Baumaterial in die Wände späterer Bauten
eingemauert. Grabstelen, Hermen, sogar vollständige Skulpturen antiken
Charakters finden sich oft in den unscheinbarsten Gehöften. Wie wenig Auf¬
merksamkeit diesen Dingen bisher zugewandt ist, zeigt der eine Umstand, daß
von den Grabhügeln an der Südostseite des Hymettos, in der Nähe des Dorfes
Trachoms, verschiedene eröffnet, ihres Inhaltes beraubt, eines auch noch mit
Marmordeckel versehen angetroffen wurde.
Ganz entgegengesetzten Charakter, wie das östliche Terrain, zeigt die jen¬
seitige Landschaft, ein weites Thalbecken, dnrch welches der Kephissos, der größte
Fluß Attika's, seine Gewässer dem saronischen Golf zuführt. Nur vereinzelt
treten hier Terrain-Erhebungen wie im Osten ans. Die altberühmte Höhe von
Munychia, der als Schauplatz des sophokleischeu „Oedipus" bekannte Hippios
Kolonos, weiter nach Norden hin die Höhe von Acharnae sind die hervor-
ragendsten und interessantesten. Doch zeigt die Niederung keineswegs den
Charakter absoluter Ebene. Sie ist von leichten Terrainwellen in größerer
oder geringerer Ausdehnung durchfurcht, so daß auch hier wiederum ein ge¬
wisser Formenwechsel hervortritt/
Im Thale des Kephissos lag von Alters her das Hauptstraßen- und Ver¬
kehrsnetz. Nach der Paralia hin war der Verkehr wohl nie sehr bedeutend.
Hier im Gegentheil durchkreuzen Wege nach allen Richtungen, nach dem Piräus
im Südwesten, nach Phyle, Achcirnae und Dekeleia im Norden und Nordosten
die Landschaft. Bei weitem die wichtigste ist aber die heilige Straße, welche
vom Dipylon aus durch den Daphni-Paß nach Eleusis führt. Vielfache Spuren
des Alterthums, Gräber, Reste ehemaliger Heiligthümer, vor allem das alters¬
graue, verwitterte Gemäuer des Venustempels in tiefer Schlucht des Daphni-
Passes, weisen noch jetzt deutlich genug auf ihre einstige Bedeutung hin.
Den vielen Rissen und Erdspalten nach zu urtheilen, die ganz besonders
den nördlichen Theil der Ebene durchziehen, muß auch hier ehemals ein viel
größerer Wasserreichthum geherrscht haben, als jetzt, wo außer dem Kephissos
selbst nur wenig kleine Bäche den Abhängen des Parnes und Brilessos ent¬
quellen. Aber die Bewässerung ist verhältnißmäßig reich, das Land fruchtbar.
Reichlich ist der zu Wein- und Oelbau geeignete Humus vorhanden. Der
alte Oelwald, der sich im Westen der Stadt von den Nordabhängen des
Turkv-vuni bis in die Gegend von Piräus zieht, zeigt deutlich, daß der Segen
der Athene dem Lande bis heute verblieben ist. In der That braucht man
blos die Musterfarm Pyrgos, eine Meile vor der Stadt, oder die Umgebung
von Schloß Tatoi in Augenschein zu nehmen, um sich zu überzeugen, wie
produktiv der Boden ist, sobald man seiner Kultur nur die nöthige Sorgfalt
zuwendet. Auch die Ortschaften der Kephissos-Ebene sind wohlhabender, statt¬
licher. Gar manche unter ihnen sind nicht ohne historische Bedeutung. Kephisia
selbst wurde ja im Alterthum als Sommerresidenz von den Vornehmen Athen's
geschätzt. Schon die uralte Platane, deren Aeste den ganzen Markt überschatten,
weist auf das hohe Alter der Stadt hin, deren antiker Charakter sich noch in
vielen Spuren offenbart. Ueberhaupt sind die Ueberreste alter Zeit hier bei
weitem zahlreicher, als drüben. Hier lagen ja jene Distrikte, die im Alterthum
recht eigentlich des Landes Wohlstand und Blüthe bedingten. Gar manche
von ihnen gingen im Laufe der Zeit zu Grunde. Herakleia, Achcirnae, zur
Zeit der Peisistratiden einer der wehrhaftesten Gaue, traf solches Geschick. Nicht
einmal ihre Lage vermochte man bis jetzt mit einiger Sicherheit zu bestimmen,
da die vielfach im Terrain verstreuten Spuren ehemaliger Niederlassungen zu
wenig Anhalt dazu bieten. Trümmerhaufen und Fundamente zerstörter Bauten
bezeichnen wenigstens die Stätte, wo Dekeleia, die alte Zwingburg der Spar¬
taner, einst Jahrelang das attische Land beherrschte.
Mitte März waren sämmtliche Vorarbeiten beendigt und ergaben in ihrem
Zusammenhange die für die Triangulation geeigneten Punkte, das gesammte
Dreiecksnetz. Eine kaum durchführbare Arbeit würde es nun sein, wollte man
zur Bestimmung eines solchen Netzes alle Winkel und zugleich auch alle Seiten
direkt messen. Dessen bedarf es aber auch nicht. Die Trigonometrie lehrt ja, wie
man die sämmtlichen Seiten und somit alle Netzpunkte bestimmen kann, sobald
man nur die Länge einer einzigen Seite und außerdem die Winkel kennt, welche
die einzelnen Dreiecke einschließen. Dadurch reduzirt sich die Arbeit der Netz¬
bestimmung auf zwei Aufgaben. Die erste, die sogenannte Basismessung, be¬
steht darin, eine für den beabsichtigten Zweck geeignete Strecke auf dem Terrain
direkt zu messen. Diese, beiläufig eine der schwierigsten und heikelsten Auf¬
gaben, welche die Praxis bietet, muß mit allen Mitteln, welche die Wissenschaft
jetzt an die Hand gibt, ausgeführt werden, damit strengste Genauigkeit erreicht
wird. Fehler in der Basismessung können, selbst wenn sie nur Bruchtheile
eines Meters betragen, das Endresultat so beeinflussen, daß die ganze Arbeit
wissenschaftlich werthlos und praktisch unbrauchbar wird. Bereits im Jahre 1875
war eine solche, etwa 1 Kilometer lange Basis, unweit der Stadt an der
Eisenbahn gelegen, durch Herrn.Kaupert persönlich gemessen worden, die den
Winkelmessungen zu Grunde gelegt wurde. Die letztere Aufgabe blieb noch
zu erledigen.
Zu Winkelmessungen pflegt man bekanntlich den Theodolith zu benutzen,
ein Instrument, welches, mit Fernrohr und fein getheilten: Kreise versehen, und
mit allen den Vorrichtungen ausgestattet, welche die moderne Technik zur Er¬
langung größter Schürfe der Beobachtung gewährt, sowohl in horizontalem
wie in vertikalen Sinne die Winkel verschiedener Objekte, vom jedesmaligen
Standpunkte aus zu bestimmen gestattet. Um nun die gewählten Dreiecks¬
punkte auf dem Terrain kenntlich zu machen, wurden genau über ihnen Stein¬
pyramiden errichtet, deren Spitzen als Signale dienten. Diese, mit Kalk be-
strichen, gaben selbst auf meilenweite Distanzen deutlich erkennbare Visirpunkte.
Der Bau solcher Pyramiden würde wegen Mangel an geeignetem Material
auf Schwierigkeiten gestoßen sein, wenn nicht die Geschicklichkeit eines Spar¬
taners ausgeholfen Hütte. Bei den fortwährenden Reibereien der aus christ¬
lichen und mohammedanischen Elementen gemischten Bevölkerung jener Gegenden,
die selbst mitten im Frieden oft in offene Fehde ausarten, mochte er Gelegen¬
heit gefunden haben, sich in der Kunst der Feldverschanzung, insbesondere im
Bau von Pyramiden, die man gelegentlich zur Deckung benutzt, eine besondere
Fertigkeit anzueignen. „Welcher Spartaner verstände nicht, eine Pyramide zu
bauen?" gab er auf die Frage, wie er diese Kunst erlernt, zur Antwort, und
in der That wußte er sie mit solcher Meisterschaft und Schnelligkeit auszu¬
üben, daß schon gleichzeitig mit den Rekognoszirungs-Arbeiten sämmtliche Punkte
mit Signalen versehen werden konnten. Weit schwieriger als der Bau war
die Erhaltung derselben während der Dauer der Beobachtungen. Von Seiten
der Regierung war kein Schutz zu erwarten. Wie sollte man also die einzelnen
Stationen, namentlich die entlegeneren oder solche im Gebirge überwachen, um
Beschädigungen oder Zerstörung rechtzeitig verhindern zu können? Wirklich
ließen auch Exzesse, besonders da, wo die Signale in der Nähe der Ortschaften
lagen, nicht lange auf sich warten. Die Neuheit der Sache reizte die Neugier
des Landvolkes. Man kam, man erkundigte sich und fragte: „Was bedeutet
das? warum baut man die Pyramide?" Jedenfalls mußte ein Schatz da
vergraben liegen. Denn die Kunde von den Funden von Mykenä ist längst
auch unter das Landvolk gelangt und hat auch da nicht geringe Aufregung
hervorgerufen. Abends in der Stille zog also Jung und Alt mit Hacken und
Spaten hinaus, um in größter Eile alles zu zerstören, was die mühsame Tages¬
arbeit geschaffen, und uach allen Richtungen hin das Erdreich zu durchwühlen.
Man hätte verzweifeln mögen. Ohne Signale war es absolut unmöglich, die
Arbeit fortzusetzen. Schließlich gelang es, durch einen kleinen Kunstgriff die
Behörden in's Interesse zu ziehen. Dem Vorsteher des Bezirks oder des
nächsten Orts, dem Demarchos, wie er sich nennt, wurde im Vertrauen ange¬
deutet, daß die fraglichen Signale keineswegs schon die wahren Fundorte, son¬
dern nur gewisse Stellen bezeichneten, deren man zur Ermittelung jener auf
Grund der anzustellenden Beobachtungen bedürfe. Jetzt leuchtete selbstver¬
ständlich die Wichtigkeit der Erhaltung der Pyramiden ein. Gewöhnlich wurde
auch ein gewisser Antheil am Gewinn in Aussicht gestellt und zur Stärkung
gegenseitigen Vertrauens eine kleine Geldsumme gezahlt. Dies hatte regelmäßig
den gewünschten Erfolg. Schließlich würden alle zum Schutz der Signale er¬
griffenen Maßregeln auf die Dauer unzulänglich gewesen sein, wenn nicht
anderweitige Merkmale unter dem Erdboden angebracht worden wären, so daß
man jederzeit, auch wenn die Pyramiden wirklich zerstört wurden, im Stande
war, den trigonometrischen Punkt, welchen sie bezeichneten, wiederzuerkennen.
Fast noch wichtiger aber war die Frage hinsichtlich des Transportes des
Instrumentes nach und von der jedesmaligen Station. Wer sollte es über¬
nehmen, über die Felsen und Klippen hinweg ein Instrument zu transportiren,
welches bei der geringsten Erschütterung derart beschädigt werden kann, daß
alle Beobachtungen illusorisch werden? Auch in dieser Verlegenheit bot sich
unverhoffte Hilfe in der Person eines Sulioten. Im Allgemeinen pflegt man
ja das Räuberhandwerk nicht gerade als Empfehlung anzusehen, doch wurden
im vorliegenden Falle alle Vorurtheile bei Seite gelegt. Johann war nämlich
Klephte seines Zeichens, ein echter Sohn des Hochgebirges. Muskulös und
von starkem Körperbau, hatte er durch seine frühere Beschäftigung zugleich
jene Geschmeidigkeit und Elastizität der Glieder erlangt, wie sie nur dem Ge¬
birgsbewohner eigen ist. Einen komischen Eindruck machte es trotzdem, zu
sehen, wie der Sohn der Wildniß mit einer Sorgfalt und Zartheit, die er
seinem früheren Berufe schwerlich zu verdanken hatte, das Instrument bald
durch das lose Geröll hindurch, bald über Klippen und Felsen hinweg trug,
so daß bei allen diesen halsbrechenden Expeditionen nicht der geringste Unfall
vorkam. „Fürchte Nichts, Herr, Johann kennt jeden Stein", Pflegte er zu
antworten, wenn ihm bei schwierigen Stellen besondere Vorsicht anempfohlen
wurde.
Noch andere Schwierigkeiten bot die Aufstellung des Instrumentes auf
der Station. Unter normalen Verhältnissen würde man zu diesem Zwecke
gemauerte Pfeiler statt der aus losem Gesteine aufgeführten Pyramiden er¬
richtet haben, die dann zugleich als Basis des Instrumentes gedient hätten.
Bei der Kürze der Zeit war dies unmöglich. Es wurde daher ein hölzerner
Dreifuß zur Aufnahme des Instrumentes genau über dem Zentrum der Station
aufgestellt, nachdem vorher die Pyramide abgebrochen war, um uach Beendigung
der Arbeit wieder errichtet zu werden. Die Schwierigkeit hinsichtlich der Auf¬
stellung bestand nun darin, in dem losen Geröll, welches oft mehrere Fuß tief
in den Boden hinein reicht, überhaupt eiuen festen Stand zu gewinnen. Viel¬
fach blieb thatsächlich nichts anderes übrig, aM außerhalb des Zentrums von
geeigneteren Punkten aus die Beobachtungen zu machen, um sie nachher durch
Rechnung auf dasselbe zu reduziren.
Weitere Abnormitäten entstanden durch die Beleuchtung, deren Jntensivität
ohnehin nur mit farbigen Gläsern zu beobachten gestattete. Mitunter nämlich war
das eine oder andere Signal auf unerklärliche Weise verschwunden, nachdem es
kurz vorher noch sichtbar gewesen war, so daß anfangs der Verdacht böswilliger
Zerstörung nahe lag. Doch war derselbe unbegründet, nach Verlauf einiger
Zeit trat das Objekt wieder hell hervor. Diese auffallende Erscheinung erklärt
sich einfach durch den wechselnden Stand der Sonne. Die Pyramiden waren,
wie bemerkt, durchgehends weiß gestrichen. Wird ein solches Objekt von vorn
beleuchtet, so erscheint es hell, dagegen dunkel bei entgegengesetzter Beleuchtung.
Es wird also, während die Stellung der Sonne sich ändert, ein Moment ein¬
treten, wo die vordere Seite dieselbe Lichtmenge empfängt, wie der Hintergrund
oder Horizont, auf welchem das Objekt erscheint. Dann müssen natürlich seine
Umrisse vollkommen verschwinden, und sie treten erst dann wieder hervor, wenn
die Sonne ihre Stellung geändert hat.
Endlich waren auch die meteorologischen Verhältnisse, Wind und Feuchtig¬
keit nicht ohne Einfluß. Insbesondere mußte die Temperatur berücksichtigt
werden, insofern durch die Sonnenhitze die Anwendung des hölzernen Stativs
beeinträchtigt wurde. Der aus starkem Stoffe gefertigte Feldschirm, welcher
während der Arbeit stets darüber ausgespannt wurde, that indeß seine Schuldig¬
keit so vollkommen, daß auffallende Unterschiede der einzelnen Beobachtungen,
soweit sie sich auf denselben Gegenstand bezogen, nicht vorkamen. Denn prin¬
zipiell wurden, wie es stets zu geschehen Pflegt, die Beobachtungen eines Objektes
nicht einmal gemacht, sondern in systematischer Folge auf jeder Station wieder¬
holt. Gegen Mittag mußten dieselben übrigens für einige Zeit unterbrochen
werden, weil bei der Hitze die Lust derartig zitterte, daß die Bilder zu schwanken
begannen und es unmöglich war, einen Punkt zu fixiren. In solchen Momenten
bot dann die landschaftliche Umgebung Gelegenheit zu anderen Beobachtungen.
Denn ganz verschieden von dem, wie er in der Ebene sich ausspricht, ist ihr
Charakter im Gebirge. Mehr noch als dort unten fühlt man hier die tiefe
Einsamkeit, die über der ganzen Gegend ruht. Kein Laut bewegt die Luft,
kein lebendes Wesen regt sich in dem unabsehbaren Felsenmeere. Nur hoch in
den Lüften zieht der Adler seine Kreise. Doch von neuem ruft die Arbeit.
Noch ehe der letzte Sonnenstrahl über den Bergen im Westen erglänzt, muß
das Tagewerk beendigt, das Instrument in Sicherheit gebracht sein. Die
Dämmerung ist kurz, und ein Transport im Dunkeln im unwegsamen Gebirge
unmöglich. Auch der Unsicherheit wegen ist ein nächtlicher Marsch durch's
Gebirge nicht rathsam.
Es würde zu weit führen, in die Details unserer Beobachtungen hier
näher einzugehen. Es genüge, das Resultat anzudeuten, daß, nachdem auf
allen Stationen die Winkel gemessen und daraus durch Rechnung die Seiten
des Dreiecksnetzes ermittelt waren, das Endergebniß trotz der erwähnten
Schwierigkeiten so genau war, wie es der vorliegende Zweck nnr irgend er¬
forderte, denn die Abweichungen der einzelnen Beobachtungen unter einander,
soweit sie sich auf dasselbe Objekt bezogen, betrugen noch nicht die Größe eines
Zirkelstichs in dem für die Karte projektirten Maßstabe (1:25000). Noch
größer womöglich waren die störenden Einflüsse hinsichtlich der Höhenwinkel.
Hier kam es bei weitem mehr auf richtige und genaue Horizontalstellung des
Instrumentes an, als im ersten Falle. Wie sollte man aber bei dem fort¬
währenden Winde die Libelle zur Ruhe bringen, die schon bei der leisesten
Berührung des Stativs zu schwanken beginnt? Auch hier konnte nur das
Mittel helfen, aus einer größeren Anzahl von Beobachtungen desselben Ob¬
jektes den geeignetsten Werth zu bestimmen. Die Abweichungen zeigten sich
indeß auch hier so gering, daß der erwünschte Grad von Genauigkeit vollkommen
erreicht wurde. Als Ausgangs- oder Nullpunkt diente dabei der mittlere
Wasserstand im Hafen von Piräus, von wo ein doppeltes Nivellement bis zur
athenischen Sternwarte bereits früher ausgeführt worden war. Jene Höhen¬
bestimmungen haben insofern ein besonderes Interesse, als sie zum ersten Male
exakte Daten über die Höhen der Gebirge liefern, wenn man nicht etwa die
durch Barometer-Beobachtungen schon früher gemachten Bestimmungen als
solche ansehen will, deren Genauigkeit jedoch den jetzigen gegenüber erheblich
zurückstehen dürfte.
> Gegen Ende des Frühjahres war die Arbeit in ihrem ganzen Umfange
beendigt. Der Vergleich der Resultate hatte nach doppelter Kontrole alle noch
vorhandenen Zweifel soweit aufgeklärt, um auf Grund der vorliegenden Daten
jederzeit die Detail-Aufnahme vornehmen zu können. An einem herrlichen
Frühlingstage — spiegelglatt lag der saronische Golf — führte mich der
Dampfer wieder dem fernen Norden zu. Zum letzten Male glitt der Blick
über die wohlbekannten Fluren, zum letzten Male über die Berge, die der Fuß
so oft durchstreift hatte. Lange noch zeichneten sich ihre charakteristischen Formen
am Horizonte, und das spähende Auge -verfolgte im fernen Osten ihre Spur,
bis sie, matter und matter werdend, wie leichtes Gewölk im duftigen Aether
entschwanden.
Das ausgezeichnete Werk Zöckler's*), dessen erste Abtheilung wir im
vorigen Jahre in diesen Blättern angezeigt haben, liegt jetzt vollendet vor; ein
Zeugniß musterhaften Fleißes, ein werthvoller Beitrag nicht blos zur Geschichte
der Theologie und der Naturwissenschaften, sondern zur Kulturgeschichte über¬
haupt, und deshalb anziehend auch für weitere Kreise.
Ein höheres Interesse noch als die erste bietet die zweite Abtheilung des
Werkes, indem sie ihrem größten Theile nach uns in die Entwickelung der ein¬
schlagenden wissenschaftlichen Bestrebungen im Laufe des letzten Jahrhunderts
einführt und schließlich das Bild der Gegenwart zeichnet.
Das erste Buch bezieht sich allerdings auf eine Zeit, in der die Probleme
die uns gegenwärtig beschäftigen, noch nicht in's Bewußtsein getreten sind oder
doch eben erst für dasselbe auftauchen. Zöckler charakterisirt sie als die Zeit
des Stillstandes der experimentirenden Forschung und des naturtheologischen
Dogmatismus. Die Werthschätzung der Naturwissenschaften, und zwar der aus
der Quelle selbst schöpfenden, wird immer allgemeiner. So erklärt Spener in
den „Theologischen Bedenken": „Aller Fleiß und Arbeit, so hieran (nämlich
an der Erkenntniß des Schöpfers aus seinen Werken) gethan wird, wird wohl
und tausendmal besser angelegt sein als alle in ?IiMois unnützliche Aristote¬
lische Metaphysische Grillen, damit unsere xKMc lang gantz verdorben geblieben;
und ob sie vor einiger Zeit durch mehrere Beobachtung der Experimenten anstatt
voriger sxoerüation in einen besseren Stand ist gesetzt worden, annoch diesen,
Mangel an sich haben muß." Ebenso äußert sich der große Württemberger
Theologe Bengel. Naturwissenschaft und Naturphilosophie halten die Ueber¬
einstimmung mit dem kirchlichen Bewußtsein fest. Und auch da, wo dieser Zu¬
sammenhang gelöst ist, wird doch das allgemein religiöse Element in der
Naturanschauung bewahrt. In den beiden Koryphäen des Jahrhunderts, in
Newton und Leibniz, stellt sich diese sympathische Beziehung beider Gebiete
vorbildlich dar; sie sind maßgebend für ihr Zeitalter. Doch tragen die Arbeiten
der Männer, die in ihre Fußtapfen treten, weniger ein schöpferisches, neue
Bahnen der Forschung eröffnendes oder ungeahnte Gebiete erschließendes, als
ein reproduktives und der Fortbildung und Durcharbeitung des früher ent¬
deckten im Detail gewidmetes Gepräge.
Besonders eigenthümlich diesem Zeitalter und bezeichnend für seine Stim¬
mung sind die zahlreichen physiko-theologischen Systeme, die es hervorgebracht
hat; in's Kleinliche fallende Verzerrungen des richtigen Gedankens, daß in der
zweckmäßigen Organisation der Natur die göttliche Intelligenz sich bezeuge.
Da verfaßte man Astro-, Bronto-, Chiono-, Hydro-, Jchthyo-theologieen u. s. w.,
Darlegungen der göttlichen Weisheit, wie sie sich in der Beschaffenheit der
Gestirne, des Donners, des Schnees, des Wassers, der Fische offenbart. Ja
auch eine Akrido(Heuschrecken)-Theologie erblickte das Licht der Welt. Nicht
selten bestieg die Physiko - Theologie auch den Pegasus, und oft im Sinne der
eben genannten Bestrebungen, wofür des Hamburger Rathsherrn Heinrich
Brockes „Irdisches Vergnügen in Gott" einen typischen Beleg gibt. Den Geist
dieses Reimwerkes charakterisirt es, daß es sogar über den Nutzen der Nase
reflMrt und denselben darin findet, daß alle Wohlgerüche der Welt
könnte kein Geschöpf gebrauchen,
müßten ungenützt verrauchen,
wär die Nase nicht geschickt,
daß sie sich dadurch erquickt.
Werthvvlleres auf dem Gebiete der physiko-theologischen Dichtung leistete der
Engländer Thomson in den „Jahreszeiten", Albrecht v. Haller in den „Alpen"
und Ewald Christian v. Kleist im „Frühling".
Am Schlüsse dieser Periode tritt aber eine Aenderung ein; die kritische
Strömung der Zeit richtet sich gegen den biblischen Schöpsungsbericht und
sucht den Gegensatz desselben gegen die naturwissenschaftlichen Ergebnisse bald
durch allegorisirende oder mythisirende Auslegung zu beseitigen, bald, wie Herder,
der ihn als „morgenfrisches Gedicht der ältesten Menschheit" auffaßte, vom
aesthetischen Gesichtspunkt aus zu würdigen.
Auch Anklänge an den Darwinismus zeigen sich jetzt, in beschränktem
Maße bei dem Benediktiner Calmet und den großen Naturforschern Buffon
und Linnäus, sehr entwickelt bei de Maillet, Maupertuis, Robinet. Kant hat
nur hypothetisch die Erzeugung aller Organismen von einer gemeinsamen
Urmutter ausgesprochen, dieser Hypothese aber eine streng wissenschaftliche Form
zu geben als ein gewagtes Abenteuer der Vernunft bezeichnet. Herder dagegen
ist an der Schwelle einer evolutionistischen Betrachtungsweise zögernd stehen
geblieben.
Die folgenden beiden Bücher zeichnen die Entwickelung der Naturwissen¬
schaften und ihrer Beziehungen zur Theologie bis auf die Gegenwart und in
derselben. Es ist die Zeit der großen Entdeckungen, die Hochfluth der Be¬
wegungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete. Zöckler entwirft ein farbenreiches
Gemälde der Mannichfaltigkeit von Arbeiten und Bestrebungen, durch welche
diese hohen Triumphe errungen wurden. Auf einzelne Partieen hinzuweisen,
versagen wir uns nur ungern, aber die Ueberfülle des Stoffes und der Reiz,
der fast gleichmüßig allen Theilen eigen ist, nöthigen uns dazu. Dagegen
glauben wir auf den Dank unserer Leser rechnen zu dürfen, wenn wir der
Darstellung des Verfassers im letzten, dem Darwinismus gewidmeten Buche
etwas näher folgen.
„Charles Lyell. — Die moderne Chronologie der Geologen in ihrer
grundlegenden Bedeutung für die Darwinischen Lehren" ist das Thema des
ersten Kapitels. Auf induktiven Wege, durch analogische Erschließung der Zeit¬
dauer der urweltlichen Bildungsprozesse, namentlich der auf niederschlugen
sowie auf Vulkanwirkungen beruhenden, gemäß der noch jetzt an der Oberfläche
der Erde vor sich gehenden Veränderungen, suchte die Evolutionstheorie festen
Boden zu gewinnen. Mit Milliarden von Jahren zu operiren, trägt sie kein
Bedenken. Allmählich ist freilich eine größere Besonnenheit eingetreten, und
man fängt an, sich mit kleineren Zahlen zu begnügen. Und in der That
unterliegt die ganze nach dem Maßstab der Gegenwart die Urzeit und ihre
Entwickelungen beurtheilende Theorie gewichtigen Bedenken. Hat doch Göppert
in Breslau durch Anwendung von Wasserdämpfen und nahezu siedendem
Wasser verschiedene Vegetabilien, schwarze Wollenstoffe u. dergl. binnen zwei
Jahren in Braunkohle und binnen sechs Jahren in glänzend schwarze Stein¬
kohle zu verwandeln vermocht. Fehlt es doch in der Gegenwart nicht an Er¬
scheinungen, deren Analogie es nahe legt, beschleunigende Katastrophen als
bedingend für das Entwickelnngstempo der Urzeit vorauszusetzen. Die vielbe¬
sprochene Fischerhütte zu Svderfelgte am Mälar-See, aus deren allmählichem
Versunkensein man ein 80000jähriges Alter der frühesten Bewohner Schweden's
folgern zu dürfen glaubte, gilt jetzt ziemlich allgemein als durch einen einstigen
Bergrutsch verschüttet. Dem Niagara hat man früher gewisse Anhaltepunkte
für chronologische Bestimmungen abzugewinnen versucht, indem man ein jähr¬
liches Zurückweichen seines berühmten Falles um 1 Fuß, wegen Abspüluug
seiner Felsgrundlage, als feste Thatsache konstatiren zu können meinte. Allein
in dem einen Winter 1868/69 betrug dieses Zurückweichen des Niagarafalles
in Folge eines mächtigen Gesteins - Einsturzes mehr als 30 Fuß auf einmal.
Und ähnliche Belege finden sich auch sonst noch.
Den Gegenstand des zweiten Kapitels berühren wir nur kurz; es betrifft
den Großvater Darwin's, Erasmus Darwin, dessen Naturanschauung an die
seines Enkels anklingt, und Goethe, der bekanntlich Häckel u. A. als Vorläufer
Darwin's gilt, schwerlich mit Recht, da Goethe wohl für einen Grundtypus
aller Organismen, eine ideale Einheit eintritt, nicht aber für eine reale, durch
Deszendenz vermittelte. Auch über den Inhalt der folgenden Abschnitte gehen
wir rasch hinweg, es sind zuerst die französischen Naturphilosophen der Revolu¬
tionszeit, die uns hier vorgeführt werden, darunter Lamarck, der wie kein
anderer als Darwin's Vorläufer zu bezeichnen ist; sodann die Naturphilosophen
aus der Schelling'schen Schule, die ihre pantheistische Gesammtanschauung zur
Evolutionstheorie hinziehen mußte, und unter denen Link in einigermaßen
wissenschaftlicher Gestalt seine Ideen dargestellt hat; es ist ferner eine Anzahl
exakt wissenschaftlicher Forscher, die sich mit Darwin berühren, unter denen
namentlich E. K. v. Baer hervorragt. Baer kommt hier insofern in Betracht,
als er ein Durchlaufenwerden ähnlicher Daseinsformen wie die der niederen
Thierstufeu durch die Embryonen der höheren Thiere als Ergebniß seiner Be¬
obachtungen feststellte, und insofern ex eine gewisse Wandelbarkeit der organi¬
schen Formen, freilich nur innerhalb beschränkter Grenzen und zugleich mit der
Annahme eines ursprünglich verschiedenen Geschaffenseins vieler Arten, behaup¬
tete. Endlich werden wir auf die unmittelbaren Vorläufer Darwin's hinge¬
wiesen, die in großer Zahl seit den vierziger Jahren erstehen, deren bedeutendster
der englische Philosoph Herbert Spencer ist, zu welchem Darwin nach seinem
eigenen Bekenntniß in einem Abhängigkeitsverhältniß steht.
Das Thema des folgenden Abschnittes lautet: „Charles Darwin. Vor¬
bildung und Aufbau seines Systems bis zum Betreten des anthropologischen
Gebiets (1831 — 1868)". Es ist vor allem das epochemachende Buch „Vom
Ursprung der Arten in Folge von Naturzüchtung oder die Erhaltung der be¬
günstigsten Racen im Kampfe um's Dasein" 1859, auf das hier unsere Auf¬
merksamkeit gelenkt wird. Dasselbe will unter Berücksichtigung der unbegrenzten
Naturgesetze der Vererbung, der Variirungs- und Differenziirungstendeuz, der
Ueberproduktion mit ihrer unvermeidlichen Folge eines Zugrundegehens eines
beträchtlichen Theiles der überzähligen Individuen, endlich des Uebrigbleibens
der lebensfähigsten und zumeist begünstigten neue und gründliche Wege zum
Ziel einer rein mechanischen Erklärung des Werdeprozesses der organischen
Natur einschlagen. Die Voraussetzung ungeheuerer Zeiträume, die Hoffnung,
später vorhandene Lücken auszufüllen, fehlende Mittelglieder aufzufinden, muß
über die Mängel der Theorie hinweghelfen. Das Endergebniß Darwin's
lautet: „Ich glaube, daß die Thiere von höchstens vier oder fünf Stammeltern
abstammen, die Pflanzen von der gleichen oder einer noch geringeren Zahl. Ja
an der Hand der Analogie möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und
annehmen, daß alle Thiere und Pflanzen von einem Prototyp entsprungen
sind." Diese wenigen Urformen, auf welche Darwin den gefammten vielmil-
lionenjährigen Entwickelungsprozeß zurückführt, denkt er als direkte Schöp¬
fungsprodukte Gottes. Dieser epochemachenden Schrift folgte 1868 das Werk:
„Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation".
Hier ist die Hypothese der Pangenesis entwickelt, nach welcher das Sichvererben
ähnlicher Züge und Eigenschaften von den Vorfahren auf ihre Nachkommen
darauf beruht, daß sämmtliche Zellen oder einfachste Formeinheiten des thieri¬
schen und pflanzlichen Organismus in Wahrheit doch wieder zusammengesetzt
und theilbar, d. h. zur Entlassung zahlreicher kleinster Keimchen aus sich be¬
fähigt seien. Diese winzigsten Keimchen vermöchten durch den ganzen Körper
der Pflanze oder des Thieres frei zu zirkuliren und im Falle des Zusammen¬
treffens mit anderen schon entwickelteren Keimchen von ihnen nahe benachbartem
Ursprünge sich zu eigentlichen Zellen zu entwickeln. Aus dem gehäuften Zu¬
sammentritt solcher sich neu bildenden Zellen von nahe aneinander grenzender
Abkunft erkläre sich einerseits die Reproduktion verloren gegangener Organe,
andererseits, wenn ihre Anhäufung mit einer Knospen-, El- oder Keimbildung
zusammenfalle, die Reproduktion des gefammten Organismus als eines dem
Mutterorganismus ähnlichen, also die Vererbung der Eigenschaften und des
Aussehens der Vorfahren auf ihre Nachkommen. Diese Hypothese hat Darwin
selbst als provisorische bezeichnet; da aber jene Zeittheilchen nie experimentell
sich werden nachweisen lassen, so wird sie nie aus dem Provisorium heraus-
kommen können. Sie ist denn auch von den Anhängern Darwin's skeptisch
beurtheilt worden.
Der weiteren Entwickelung des Darwinismus sind die folgenden Kapitel
gewidmet. Hier ist es zuerst auch vor allem die Anwendung der Theorieen
Darwin's auf den Menschen, die uns interessirt. Nicht von Darwin selbst,
fondern von anderen Forschern wurde diese Erweiterung seiner Hypothese voll¬
zogen. So von Huxley, der die anatomischen Verschiedenheiten, welche den
Menschen vom Gorilla und Schimpanse scheiden, nicht so groß fand wie die,
welche den Gorilla von den niederen Affen trennen; von K. Vogt, der sich
beistimmend dahin äußerte, daß der Mensch der Repräsentant einer mit den
Affen gleichwerthigen Ordnung sei, aber mit den Affen selbst zu einem gemein¬
schaftlichen Typus, zu einer Reihe innerhalb der Säugethiere gehöre; von den
verschiedenen Hauptarten der Affen seien die Hauptinenschenarten entstammt,
von den amerikanischen Affen die amerikanische Menschheit, von den afrikanischen
die Neger. Die Mikrokephalen als Produkte eines Rückschlages oder Atavismus
wurden ebenfalls herangezogen; eine Argumentation, deren Nichtigkeit übrigens
Vogt selbst später anerkannt und zurückgenommen hat. Auch Lyell, Schleiden,
Snell und Perty, die letzteren beiden unter gewissen Beschränkungen zu Gunsten
einer idealen Auffassung des Menschen, traten bei, vor allen Häckel, der die
Darwinische Theorie als unumstößliches Dogma verkündete. Wallace bildete
sie durch supranaturalistische Elemente um; eine höhere göttliche Zuchtwahl habe
dem Menschen zum Dasein verholfen, eine überlegene Intelligenz seine Ent¬
wickelung zu einem bestimmten Zwecke und nach einer bestimmten Richtung
hin geleitet; höhere Geisteswesen, dienende Mittelsmächte Gottes, ausgestattet
mit jener Intelligenz und Willenskraft, womit man sich ohnehin den ganzen
Raum erfüllt zu denken habe, müßten hier gewaltet haben. Der große Anatom
Owen, im Allgemeinen mit der Deszendenzlehre einverstanden, lehnte doch ihre
Anwendung auf deu Ursprung des Menschen ab, ebenso John Herschel, Page und
Broca. Untergeordnete Naturforscher dagegen, wie Tuttle, Büchner, Thomassen,
Spiller leisteten der Deszendenzlehre ohne Vorbehalt Heerfolge. 1871 erschien
Darwin selbst als Vertreter der Anwendung derselben ans den Menschen in
der Schrift: „Die Abstammung des Menschen u. s. w.", der als Ergänzung
1872 das Werk: „Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen beim Menschen und
bei den Thieren"i folgte. Drei Detailarbeiten zur Befestigung des Systemes
aus den Jahren 1875, 76, 78 übergehen wir. Es sind wesentlich die An¬
schauungen Häckel's, zu denen sich hier Darwin bekennt; alle Erscheinungen
des menschlichen Leibes- und Seelenlebens werden mechanisch erklärt, der
Gegensatz zwischen Thier und Mensch wird aus einem spezifischen zu einem
graduellen herabgesetzt, auch das ethische Leben des Meuscheu wird feinen An-
fangen nach schon im Thiere aufgewiesen; dabei wird der Gottesbegriff nicht
verneint, aber in ihm nnr die Idee einer geheimnißvollen Urkraft des Univer¬
sums, die schlechthin unerkennbar sei und in keiner Weise in den Gang des
Natur- und Menschenlebens fürsorgend und regierend eingreife, hineingelegt.
Verfolgen wir die Aufnahme, die der Darwinismus in den verschiedenen
Ländern gefunden hat, so gelangen wir zu dem Ergebniß, daß in England
die hervorragendsten Kapazitäten auf der Seite Darwin's stehen, dagegen
in Nordamerika eher die Gegner desselben das Uebergewicht besitzen, eine That¬
sache, die namentlich ans dem großen Einfluß von Agassiz, dem Vertreter der
UnVeränderlichkeit der Arten, sich erklärt. Auch in Frankreich fand der Dar¬
winismus mehr Widerspruch als Beifall. Die am tiefsten eingreifenden Be¬
wegungen hat er in Deutschland hervorgerufen. Vier Hauptgruppen lassen
sich hier unterscheiden.. Zu den entschiedensten Gegnern gehört eine Anzahl
von Forschern, die, aller naturphilosophischen Spekulation abgeneigt, schon des¬
halb der Deszendenzlehre abhold sind, weil sie in ihr eine Rückkehr zu den
Philosophieen der Schelling'schen Schule zu erkennen glauben; so Burmeister,
Giebel, Ehrenberg, Griesebach, Schimper, Wappäus, Bastian, Göppert, Barcmde,
v. Dechen, Fraas, Pfaff. Sodann finden wir Vertreter einer philosophisch
gemilderten und mildernden Arteukonstanzlehre in N. Wagner, Wigand, Kölliker,
Heer, v. Baer, Braun, Quenstedt, Vvlkmann, Bischofs. Als Darwinianer mit
Vorbehalt erscheinen Virchow, Carus, Leuckart, Semper, His, Goette, Henke,
Möbius, Dohre, Weismann, H. Hofmann in Gießen, Helmholtz, M. Wagner,
Nägeli, Hofmeister, Sachs, Askenasy. Weiter gelangen wir zu den Dogma¬
tikern des Darwinismus oder richtiger zu den Männern, die, ihn überbietend,
sich von allen religiösen und teleologischen Bestandtheilen, die derselbe noch in sich
trug, frei gemacht haben und eine rein mechanische Naturerklärung vertreten,
den Verkündern des sogenannten „Monismus". An der Spitze dieser Bewegung
steht Häckel, der übrigens neuerdings dem Monismus eine spiritualistische
Färbung gegeben hat, indem er jeder Zelle eine besondere Seele zuerkennt.
Die Phantasie, die in seinem System eine große Rolle spielt, hat ihm schon
viele Zurechtweisungen von exakten Forschern eingetragen. K. Vogt hat seine
Thierstammbäume mit den an die Helden von Troja anknüpfenden Adels-
genealogieen des Mittelalters verglichen. Dubois-Reymond hat spöttisch ihm
zugerufen: „Will ich einmal einen Roman lesen, so weiß ich mir etwas
Besseres als Schöpfungsgeschichte", und Virchow hat erklärt: „Es ist noch nicht
gelungen, die Gesellschaft Kohlenstoff und Kompagnie bei der Gründung der
Ptastidnlenseele auch nur als Problem bestätigt darzustellen."
Mit Uebergehung der folgenden, weniger wichtigen Themen gewidmeten
Abschnitte wenden wir uns endlich zu den die Kritik des Darwinismus ent-
haltenden Schlußkapiteln des ganzen Werkes, Es ist zuerst die Frage nach der
Entstehung der Organismen, deren vom Standpunkte des Darwinismus ge¬
gebene Beantwortung einer sorgfältigen Beurtheilung unterzogen wird. Vier
Erklärungsversuche liegen vor: 'die Theorie der Urzeugung, die im Laufe der
Zeit immer mehr Boden verliert in Folge fortgesetzter exakter Experimente,
die sie widerlegen; sodann die Hypothese eines Herübergekommenseins der
frühesten Lebenskeime aus anderen Weltkörpern mittelst auf die Erde gefallener
Asteroidentrümmer, eine Annahme, über die sich Liebig und Helmholtz nicht
ungünstig ausgesprochen haben, die aber doch wenig Eingang gefunden hat;
drittens die Allbeseelungslehre, die Annahme eines ursprünglich organisch-belebten
Zustandes unseres Planeten, als des fruchtbaren Mutterschooßes, aus dem alles
jetzt auf seiner Oberfläche existirende Leben unmittelbar hervorgeboren sei;
endlich die Behauptung einer immerwährenden Existenz thierischen und pflanz¬
lichen Lebens neben anorganischen auf der Erde, eine evolutionistische Kreis¬
laufstheorie. Unter diesen vier Theorieen erscheint Zöckler die der einstigen
ersten Urzeugung am wenigsten bedenklich, natürlich immer unter der Voraus¬
setzung, daß dieselbe nicht ans blinde Naturkräfte, sondern auf den Machtwilleu
des persönlichen göttlichen Schöpfers zurückgeführt werde.
Eine zweite Frage betrifft die Entwickelung des organischen Lebens bis
zur oberen Thierwelt aus wenigen Grundtypen. Hier hat das religiöse Be¬
wußtsein keinen Einspruch zu erheben, wenn nur jene Grundtypen auf göttliche
Kausalität zurückgeführt werden. Die Wissenschaft freilich hat diese Hypothese
noch keineswegs für giltig erklärt, viele Forscher haben ihr Schranken gezogen,
deren Berechtigung Darwin selbst anerkennen mußte, andere haben sie völlig
abgelehnt und halten an der Cuvier-Agcissiz'schen Theorie von der UnVeränder¬
lichkeit der Arten fest.
Die dritte wichtigste Frage bezieht sich auf den Ursprung des Menschen.
Mit Recht wird hier von Zöckler hervorgehoben, daß keine Instanzen vorliegen,
die zu der 'Annahme thierischer Abstammung nöthigen. Die Mikrokephalen
erscheinen immer allgemeiner nicht als Beweise für den Atavismus, für ein
Zurücksinken auf ein früheres thierisches Niveau, sondern als krankhafte Mi߬
bildungen; genaue Schädelmessungen haben gezeigt, daß die höchst stehenden
Affen von den niedrigsten Menschen durch eine viel weitere Distanz getrennt
sind als von allen vorausgehenden niederen Thierarten. Die geschwänzten, die
am ganzen Körper behaarten Menschen, die Zwergvölker, die Waldmenschen
haben sich theils als vereinzelte pathologische Erscheinungen, theils als sagen¬
hafte Existenzen erwiesen. Das fossile Mittelwesen zwischen Thier und Mensch
ist bis jetzt vergeblich gesucht worden. Die Theorie von dem rohen Urzustande
der Menschen hat von Linguisten wie Wilhelm v. Humboldt, Whitney, Max
Müller, von Ethnologen wie Peschel Widerspruch erfahren. Wallace hat es
für wahrscheinlich erklärt, daß wenn nicht alle, so doch die meisten jetzt exi-
stirenden Wilden „die Nachfolger höher stehender Reinen seien". Peschel ist zu
dem Ergebniß gelangt: „Noch soll der Bruchtheil des Menschengeschlechtes erst
entdeckt werden, bei dem nicht ein mehr oder weniger reicher Wortschatz mit
Sprachgesetzen, bei dem nicht künstlich geschärfte Waffen und mannichfaltige
Geräthe, sowie endlich die Kenntniß der Feuerbereitung angetroffen worden
wäre." So hat die Ansicht W. v. Humboldt's von den Wilden als degradirten
Kulturmenschen neue wissenschaftliche Chancen gewonnen; wie ja auch A. v.
Humboldt es unentschieden lassen wollte, ob die Volksstämme, die wir gegen¬
wärtig Wilde nennen, alle im Zustande natürlicher Rohheit, ob nicht vielmehr
viele unter ihnen, wie. der Bau ihrer Sprachen es oft vermuthen läßt, ver¬
wilderte Stämme, gleichsam zerstreute Trümmer aus den Schiffbrüchen einer
früh untergegangenen Kultur seien.
Bei solcher Sachlage ist Zöckler's Warnung an die Theologen, vor über¬
eilten Zugeständnissen an den Darwinismus sich zu hüten, gewiß begründet;
nur möchten wir sie noch durch eine nach der anderen Seite gerichtete Mah¬
nung ergänzen. Der Inhalt der Theologie soll nicht von der Entwickelung
anderer Wissenschaften, sondern einzig und allein von dem, was das christliche
Bewußtsein bildet, in Abhängigkeit stehen. Daraus folgt, daß alles, was durch
die Veränderungen, die in der Erkenntniß der Welt sich vollziehen, in Frage
gestellt wird, nicht zum Inhalte der Theologie gehören kann. Gleichgiltig sollen
jene allerdings nicht für diese sein, aber es ist nur die Theologie als wissen¬
schaftliche Form, die davon berührt wird. Und so kann die Fragestellung" für
die Theologie dem Darwinismus gegenüber nur so lauten: Nöthigt derselbe,
die unveränderliche christliche Wahrheit in anderer als der bisher giltigen
wissenschaftlichen Vermittelung darzustellen oder nicht? Auf diese Frage kann
die Theologie jetzt noch keine definitive Antwort geben, sie kann nur die Be¬
dingungen bestimmen, unter welchen sie den Darwinismus, falls er allgemeinere
wissenschaftliche Geltung gewinnen sollte, für die Lösung ihrer Aufgaben zu
verwenden fähig ist.
Es sind jetzt gerade zehn Jahre verflossen, seitdem der §. 32 der Ge¬
werbeordnung, welcher die Theaterfreiheit sanktionirte, vom Reichstage des
norddeutschen Bundes mit großer Majorität angenommen wurde. Am 13. April
1869 fanden jene denkwürdigen Debatten statt, aus denen folgender Paragraph
der Gewerbeordnung hervorging: „Schauspiel-Unternehmer bedürfen zum Be¬
triebe ihres Gewerbes der Erlaubniß. Dieselbe ist ihnen zu ertheilen, wenn
nicht Thatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Nachsuchenden in
Bezug auf den beabsichtigten Gewerbebetrieb darthun. Beschränkungen auf
bestimmte Kategorieen theatralischer Darstellungen find unzulässig." Am Schluß
der Debatten sprach der Abgeordnete Braun, der sich gern in Prophezeiungen
zu ergehen Pflegt, das denkwürdige Wort: „Die Neigung zu vaterländischen
Dingen ist da; geben Sie nur einmal Theaterfreiheit, wir werden dann viel¬
leicht in fünf Jahren eine Aristophanische Komödie in Berlin haben,
worin auch Sie und wir vorkommen."
Die Hoffnung des Abgeordneten Braun, der von Theater-Angelegenheiten
ungefähr soviel zu verstehen scheint wie von — Rumänien, hat sich leider nicht
erfüllt. Als ob in fünf Jahren eine Aristophanische Komödie so mir nichts,
dir nichts aus der Erde wüchse! Zehn Jahre sind verflossen, und wir find
weiter als je zuvor von einer „Aristophanischen Komödie" entfernt. Zehn
Jahre sind verflossen, in denen sich die Theaterfreiheit, deren Einführung Anno
1869 als eine reformatorische That ohne Gleichen gepriesen wurde, zur Ge¬
nüge erproben konnte. Und heute? Heute sehnt man sich ebenso herzlich nach
dem alten Konzessions- und Monopolwesen zurück wie nach dem Zunftzwang,
nach der Aufhebung des Freizügigkeitsgesetzes, nach der Wiedereinführung der
Mahl- und Schlachtsteuer und nach anderen „tyrannischen Beschränkungen",
die vor zehn Jahren auf's lebhafteste bekämpft wurden.
Durch die Aufhebung der „Beschränkungen auf bestimmte Kategorieen
theatralischer Darstellungen" wollte man einerseits den Privatbühnen Gelegen¬
heit zur Aufführung klassischer Stücke geben, von denen man sich eine Hebung
der allgemeinen Volksbildung und des sittlichen Bewußtseins im Volke ver¬
sprach, andererseits wollte man durch eine solche Konkurrenz die Hofbühnen
anspornen, „ihre Leistungen höher und höher zu spannen". Mit einem Elan
ohne Gleichen stürzten sich denn nun auch die Leiter der neu erstandenen
„Volksbühnen" dem hohen, ihnen von den Parlamentsrednern gezeigten Ziele
entgegen. Während früher nur das „Vorstädtische Theater" die Schaulust des
Volkes durch Vorführung einheimischer und französischer Schauerdramen be¬
friedigte, wuchsen bis zum 1. Oktober 1869 in allen Vorstädten Musentempel
aus der Erde, welche sich die Pflege des klassischen Dramas zur Aufgabe ge¬
stellt hatten: das Nationaltheater, das Belle-Allianeetheater, das Louisenstädtische
Theater, das Reuniontheater, das Walhalla-Volkstheater u. s. w. Das letztere
war übrigens vorsichtig genug, sich eine Hinterthür offen zu halten, um im
gegebenen Augenblicke sich mit Ehren rückwärts konzentriren und zu seinem
früheren Berufe, dem eines VaK czdg.mes.in, zurückkehren zu können. Schiller,
Goethe, Lessing, Shakespeare und kein Ende — das war die Parole, welche
von den meisten dieser Theater ausgegeben wurde. In zweiter Linie kamen
dann die Birchpfeiffer, Benedix und andere Vertreter unseres „klassischen" Lust¬
spiels, welche in den Pausen zwischen den hochklassischen Dramen für die
Unterhaltung des Publikums, das sich ja schließlich an der derben, gesunden
Kost den Magen verdarb, sorgen mußte. Und heute? Was ist nach zehn
Jahren aus diesen stolzen Musentempeln geworden?
Das Nationaltheater, welches seine Aufgabe noch am ernstesten nahm, sich
wirklich von der leichten Waare der Tagesliteratur fern hielt und sich überdies
der lebhaften Protektion des Hofes erfreute, hat vier Mal Bankerott gemacht.
Der letzte Direktor legte nach halbjähriger Geschäftsführung seinen Stab nieder,
nachdem er noch in hellster Verzweifelung den Versuch gemacht hatte, durch die
Aufführung eines — französischen Ausstattungsstückes mit kostspieligen Deko¬
rationen und Maschinerien die brechenden Stützen seines Kunsttempels im
Sturze aufzuhalten. Das Belle-Allicmcetheater hat das Defizit, welches ihm
die Aufführung der klassischen Dramen verursacht hat, durch Anlage eines
reizenden Sommergartens zu decken gesucht, und in der That gelang es ihm,
während der Sommersaison tausende in diesen Garten zu locken, in welchem
. allabendlich italienische Nacht bei feenhafter Beleuchtung gefeiert wird. Für die
Unterhaltung des Publikums sorgen zwei bis drei Musikchöre, tyroler und
schwedische Sänger und Sängerinnen, und in der vorigen Sommersaison ist
die Direktion schließlich ganz zu den Traditionen des Va>to <ZQantg,ur, ont^o
Tingeltangel zurückgekehrt, indem sie zu mehrerem Amüsement des Publikums eng¬
lische Grotesktänzer, Phoites genannt, engagirte. Nebenbei wurden freilich leichte
Lustspiele und schwanke aufgeführt; aber auf die Dauer vergnügte sich das
Publikum dieses Volkstheaters auch an diesen einfachen Späßen nicht mehr,
und so mußte denn in der Wintersaison, als selbst die Volksstücke Anzengruber's
nicht mehr zogen, das „Pariser Leben" helfend in die Bresche treten. Im
Walhalla-Volkstheater produziren sich japanische Taschenspieler, chinesische
Messerschlucker, englische Gymnastiker und Velocipedekünstler, französische Chan¬
sonettensängerinnen und spanische Tänzer, lauter staunenerregende Spezialitäten,
die tausend bis fünfzehnhundert Mark monatliche Gagen erhalten. In den
Pausen, welche diese „Spezialitäten" zur Erholung brauchen, werden — und
das ist der schmähliche Rest des „Volkstheaters" — einaktige Lust- und Sing¬
spiele aufgeführt, von ganz untergeordneten Kräften, welche für ihre Mühe
mit vierzig bis fünfzig Thalern monatlich honorirt werden. Und in dieses
Theater drängt sich allabendlich eine Menge, die im Durchschnitt auf 2000
Köpfe täglich anzuschlagen ist!
Auf einer ähnlich abschüssigen Bahn haben sich die übrigen Volks-'
theater bewegt. Die klassischen Bestrebungen wurden schon nach Ablauf eines
Jahres über Bord geworfen, und gegenwärtig wird in diesen Mnsentempeln
dem Publikum eine sinnen- und nervenerregende geistige Kost geboten, die am
Ende ebenso verderblich wirkt wie der sittenloseste Tingeltangel. Wenn noch
ab und zu ein klassisches Drama aufgeführt wird, so gleicht eine solche Auf¬
führung einer Hinrichtung, von welcher Musen und Grazien schaudernd ihr
Haupt abwenden. So hat denn die Theaterfreiheit nicht blos den Geschmack
des Publikums in Grund und Boden verdorben, sie hat auch, was in seinen
materiellen Folgen vielleicht noch trauriger ist, ein Schauspieler-Proletariat
herangezogen, welches an die schlimmsten Zeiten der Stegreifkomödie und der
wandernden Komödianten erinnert. Als im Sommer 1869 aller Orten die
Volksbühnen wie Pilze aus der Erde schössen, und die Nachfrage von Tag zu
Tag wuchs, warf jeder kunstbegeisterte Barbiergehilfe das Schaumbecken bei
Seite und widmete sich der dramatischen Kunst. Mit dem Einbruch des wirth¬
schaftlichen Rückganges, der selbstverständlich von größtem Einfluß auf den
Verfall der neu entstandenen Theater gewesen ist, wurde ein großer Theil dieser
Stegreifkomödianten brodlos, und da diese Mimen schon zu viel von dem süßen
Schaum des Bühnenlebens gekostet hatten, um wieder zu ihrer ehrenwerthen,
bürgerlichen Beschäftigung zurückzukehren, ist allgemach über sie wie über höher
talentirte Kunstgenossen, die ohne ihr direktes Verschulden in die allgemeine
Katastrophe gezogen wurden, eine Misere hereingebrochen, die sich jeder Schil¬
derung entzieht. Was die dramatische Kunst unter solchen Verhältnissen ge¬
winnt, bedarf keiner näheren Beleuchtung. Die Geschichte dieser kleinen Volks¬
theater ist eine Reihe von Katastrophen. Eine Direktion weicht, meist ohne
ihre Verbindlichkeiten gelöst zu haben, der anderen, und eine jede hat natürlich
ihre eigenen Ansichten über die „Hebung der dramatischen Kunst".
Zu den Knnstinstituten, welche der Theaterfreiheit ihr Dasein verdanken,
gehört auch das Stadttheater, eine Schaubühne, die sich vermöge ihrer
^age in einem volkreichen, vorwiegend von Beamten bewohnten Stadttheile,
durch weise Führung und Pflege des Repertoires ein verläßliches Stamm-
Publikum hätte schaffen können. Als aber diese Möglichkeit noch vorhanden
war, das heißt in den ersten siebziger Jahren, waren gute schauspielerische
Kräfte so theuer, daß sich die Direktion auf so gewagte Spekulationen nicht ein¬
lassen konnte. Und als die Zeit des wirthschaftlichen Rückganges begann, als
der Theaterbesuch spärlicher wurde, als Jeder für sein Geld nur das Beste
sehen wollte, sah sich die Leitung dieser Bühne veranlaßt, ihre Zuflucht zu
berühmten Gästen zu nehmen, welche das Haus zeitweilig füllten, aber den
Löwenantheil der Einnahme in der Regel mit nach Hause führten und im
Uebrigen nnr dazu beitrugen, den Abstand zwischen sich und dem heimischen
Personal dem Publikum auffällig fühlbar zu machen und dadurch die beschei¬
denen heimischen Kräfte gründlich zu diskreditiren. Nach dem Ruin zweier
Direktionen versucht jetzt eine dritte ihr Heil mit diesem gründlich verfahrenen
Thespiskarren. Der gegenwärtige Leiter, ein alerter Geschäftsmann, hat wenig¬
stens den Vorzug, daß er in den trostlosesten Situationen den Kopf oben be¬
hält. Er wird von einem Optimismus beseelt, der ihn selbst darüber hinweg
sehen läßt, daß gegenwärtig in seinem Theater die dramatische Kunst von der
hoffnungslosesten Gesellschaft von Anfängern, neben denen allerdings auch
einige verdiente Theaterveteranen zu wirken verurtheilt sind, vertreten wird.
Im Grunde genommen dient diese Gesellschaft auch nur den Gästen als Folie.
Der Direktor des Stadttheaters hat es nämlich zu Wege gebracht, daß das
Gastiren einzelner Schauspieler und Schauspielerinnen zu einem überwundenen
Standpunkt geworden ist. Seiner glühenden Beredtsamkeit und seinem hoff-
nungsfreudigen Optimismus gelingt es stets, eine kleine Schaar von zug¬
kräftigen Gästen zu bewegen, sich seinem lecken Fahrzeuge für eine kurze Fahrt
anzuvertrauen. Heute gastirt der Direktor des Wallnertheaters mit einem
Theile seines gerade unbeschäftigten Personals in einem derben schwanke,
morgen seine erste Soubrette in einer alten Lokalposse, übermorgen ein beliebter
Bonvivant in einer feinen französischen Komödie und am vierten Tage eine
anderswo verkannte Tragödin als Medea oder Judith. Kann man sich eine
hübschere Musterkarte wünschen? Ist der Direktor aber einmal gezwungen,
mit seinem eigenen Personale zu operiren, so muß er zu Novitäten greifen,
denen eine ganz besondere Anziehungskraft innewohnt. Da bleibt ihm aber
keine große Auswahl. Da die deutsche Bühnenliteratur momentan nur über
fünf bis sechs produktive Talente verfügt, welche kontraktlich an gewisse
Bühnen gebunden sind — es werden ja förmliche Kontrakte auf jährliche
Lieferungen abgeschlossen —', so bleibt dem Beklagenswerthen nur der eine
Ausweg, sein Heil bei der französischen Literatur zu suchen. Die englische
Bnhnenproduktion kommt, nebenbei bemerkt, nicht in Betracht, da sie sich un¬
gefähr auf dem Niveau unserer Zirkuspantomimen bewegt, nur mit dem Unter¬
schiede, daß die Laune des Zuschauers noch durch einen begleitenden Text
verdorben wird. Die französische Bühnenliteratur ist aber bei uns ein sehr
gesuchter Artikel, der überdies von zwei oder drei Theateragenten vollkommen
monopolartig ausgebeutet wird. Der eine exploitirt die Stücke von Dumas
und Sardon, der andere die Dramen von Angler, der dritte die Schwänke von
Hennequin, und da das Residenztheater, von dem später die Rede sein wird,
sich fast ausschließlich auf den Import französischer Bühnenstücke gelegt hat,
so bleibt dem Stadttheater nur der Abhub, nur dasjenige übrig, was das
Residenztheater oder gelegentlich auch das Wallnertheater als unbrauchbar oder
bedenklich abgelehnt hat. Das Stadttheater liebt nnn vorzugsweise die Be¬
denklichkeiten. Aber es befindet sich, wie bemerkt, nicht im Besitze eines Per¬
sonals, welches die Fähigkeiten hat, durch Grazie und Eleganz des Tones die
Cochonnerieen der Franzosen zu übertünchen und dem deutschen Ohre an¬
nehmbar zu machen. So ging die über alle Maßen ausgelassene, aber boden¬
los frivole Posse „Bebe"", glücklicherweise, muß man sagen, an dem Berliner
Publikum vorüber, ohne einen merklichen Eindruck zu hinterlassen. Einen
besseren Erfolg hatten die auch neuerdings wieder vielbesprochenen „Rosa
Dominos", die freilich durch die musterhafte, durch Munterkeit und Witz über
alle sittlichen Bedenken hinweghelfende Aufführung im Wallnertheater über
Wasser gehalten wurde.
Die Direktion des Stadttheaters wollte sich anch das zweifelhafte Ver¬
dienst erwerben, das jüngste und erfolgreichste Werk Hennequin's, „Niniche",
in Berlin einzuführen. Aber das Polizeipräsidium konnte sich nicht entschließen,
seine Erlaubniß zur Aufführung eines Stückes zu ertheilen, deren Hanptakteurs
und -aktricen in Schwimmhvsen und Badekostümen auf die Szene treten. Im
Grunde genommen durchweht diese Boulevardposse ein so spezifisch Pariserisches
Parfüm, daß sie eben nur in Paris das volle eingehende und warme Ver¬
ständniß finden kann, welches zu ihrem Genusse unumgänglich nöthig ist. Man
weiß, daß die Aufführungen dieses skandalösen, aber von der ersten bis zur
letzten Zeile diabolisch witzigen und amüsanten Stückes während der Weltaus¬
stellung von Paris von höchst achtbaren deutschen Frauen und Männern und
selbst von sehr hochgestellten Personen besucht worden sind, welche um keinen
Preis ihren Fuß in das Theater setzen würden, wenn auf dem Zettel des
Wallnertheaters oder des Stadttheaters „Niniche" angekündigt wäre. Nun,
glücklicherweise wird es nicht so weit kommen. Der arme Direktor des Stadt¬
theaters, welcher seine ganzen Hoffnungen auf die Schwimmhosen gesetzt und
schon ein glänzendes Luftschloß gebaut hatte, in dessen Mitte eine bekannte
internationale Soubrette, allerdings die denkbar beste Vertreterin einer „Niniche",
thronen sollte, mußte seine Zuflucht wieder zu Gastspielen und alten Stücken
nehmen und ist im Augenblicke, wo diese Zeilen geschrieben werden, bei einer
abgespielten, faden Lokalposse angelangt.
Das Residenztheater, in seiner jetzigen Spezialität, die sich auf die
Aufführung französischer Sittendramen beschränkt, eine Schöpfung des gegen¬
wärtigen Stadttheater-Direktors, ist ebenfalls ein Schößling der Theaterfreiheit.
Es hat uns seit acht Jahren die Bekanntschaft mit allen irgendwie bemerkens-
werthen Erzeugnissen der französischen Bühnenliteratur des letzten Vierteljahr¬
hunderts vermittelt, daneben aber auch deutsche Schau- und Lustspiele, die
sich aus irgeud einem Grunde für das Hoftheater nicht eigneten, zur Auf¬
führung gebracht, ohne jedoch einen nachhaltigen Erfolg mit den letzteren
zu erzielen. Das französische Sittendrcima mit allen seinen Ablegern ist
und bleibt feine Spezialität. Bis vor zwei Jahren noch konnte sich das
Theater einer auserlesenen Zahl schauspielerischer Kräfte rühmen, welche ein
Ensemble vou solcher Präzision und Harmonie bildeten, daß damals keine
zweite Bühne Berlin's, die Hofbühne nicht ausgeschlossen, mit dem kleinen
Residenztheater rivalisiren konnte. Unter dem gegenwärtigen Leiter ist das
leider anders geworden. Er hat nichts gethan, um das vortreffliche Ensemble
zu erhalten, und heute sind von dem alten Stamm nur noch zwei Schauspieler
übrig geblieben, welche den Theaterhabitue wehmüthig nu die alte Zeit des
Glanzes erinnern. Trotzdem weiß der Leiter des Residenztheaters, dem das
Utilitätsprinzip über alles geht, seine Kasse zu füllen, indem er sich das mo¬
derne Virtuosenthum zu Nutze macht. Er hat die Wohlfahrt seines Theaters
ausschließlich auf das Gastspielwesen oder vielmehr -Unwesen gestellt. Nur
gelingt es ihm, Gäste von stärkerer Zugkraft zu gewinnen als der Direktor
des Stadttheaters. Statt, wie ein weiser Feldherr, die Kerutruppen in's
Hintertreffen zu stellen und mit der Reserve erst im Falle der Noth in's Feld
zu rücken, operirt er bereits mit Gästen, wenn die Theatersaison sich noch ans
ihrem Höhepunkte befindet. Freilich kann er mit feinem eigenen Personal, drei
oder vier Ausnahmen abgerechnet, keinen Staat machen. Es ist nur eben gut
genug, den Gästen Relief zu verleihen, und zu diesem Zwecke wird es je nach
Bedarf verringert oder vermehrt. An die Neubildung eines guten Ensembles ist
unter solchen Umständen nicht zu denken. Der Direktor ist ein kluger Rechner,
der seine Pachtfrist nach Kräften ausnutzt und im Grunde seines Herzens denkt:
^.xrös ruoi 1ö ckvIiiAS.
Trotzdem hat das Residenztheater in der verflossenen Saison wenigstens
einen künstlerischen Erfolg ohne Mitwirkung von zugkräftigen Gästen zu ver¬
zeichnen gehabt, und den verdankte es den „Fourchambault" von Emil Angler,
die selbst in das Heiligthum unseres Abgeordnetenhauses, das sich doch sonst
nicht viel um Theater-Angelegenheiten kümmert, ihren Reflex warfen. Seit
dreißig, feit fünfzig Jahren ist in Frankreich kein Stück von so streng sittlichem
Charakter geschaffen worden wie die „Fourchamvault", und gerade dieses
Schauspiel mußte von dem Verdikte eines kurzsichtigen Exekutivbeamten ge¬
troffen werden, welcher das Stück nach seinem eigenen Zugeständnisse vor dein
Verbote nicht einmal gelesen hatte, aber der durch ganz andere Ereignisse vor¬
bereiteten und hervorgerufenen Zeitströmung in seiner Art Rechnung tragen zu
müssen glaubte. Die Verwirrung aller sittlichen Begriffe, welche das Wachs¬
thum der Sozialdemokratie zur Folge hatte, steht in absolut keiner Verbindung
mit dem Import französischer Dramen in Deutschland, nicht einmal mit dem
frivolen französischen Operettenkram. Die tumultuarischen, unreifen Gesellen,
die sich um die Fahne raffinirter Parteiführer schaarten und dem verlockenden
Flötenspiel dieser Rattenfänger folgten, hat man niemals im Residenztheater
bei den Dramen eines Dumas, Sardon oder Angler, niemals im Friedrich-
Wilhelmstüdtischen Theater bei den Operetten eines Offenbach und Lecoq ge¬
sehen. Sie bildeten vielmehr und bilden noch das Publikum jener Volkstheater,
von deren Einwirkung die Parlamentsredner einen neuen „Aufschwung" der
Nation erwarteten. Sie bildeten und bilden das Publikum jener vulgären Tingel¬
tangel, in denen der Besucher an einem Abende mehr Geld vergeudet, als ein
anständiger Platz in einem guten Theater kostet. Der Beamte in Stettin ist
inzwischen, wie es zu erwarten war, von seiner obersten Behörde rektifizirt
worden. Indessen gibt es noch immer Leute genug in Deutschland, die das
Stück als grenzenlos unsittlich und innerlich unwahr verdammen. Das könig¬
liche Schauspielhaus beabsichtigte ursprünglich die Ausführung dieses Dramas.
Aber es fand vor den Augen des dort gewissermaßen als vorbereitende Instanz
fungirenden Lesekomites keine Gnade. Mit der Fernhaltung der „Fourcham-
bault" von der ersten Bühne des deutschen Reiches wird Jedermann im Prinzip
einverstanden sein, der etwas auf nationale Ehre hält. Ein modernes deutsches
Stück auf dem IdüAtrk trg,mya.i3 in Paris würde einen Sturm der Entrüstung
in ganz Frankreich hervorrufen. Der wohlbegründete Ruf dieses in eminenten
Sinne nationalen Institutes, das sich jede auswärtige Bühne in seiner einzigen
Verfassung zum Muster nehmen könnte, wäre durch ein solches Unterfangen
auf immer befleckt. Das dortige Lesekomite würde nicht einmal auf den Ge¬
danken kommen, die Arbeit eines modernen deutschen Bühnendichters einer
ernstlichen Prüfung zu unterziehen. Daß man sich im Berliner Schauspielhause
überhaupt mit den „Fourchambault" befaßt hat, war schon an und für sich
ein Zugestündniß der Schwäche. Eines Urtheils hätte man sich aber völlig
enthalten sollen. Freilich ist dieses Urtheil uicht offiziell abgegeben worden,
sondern nur in offiziöser Form, d. h. durch einen Artikel in einem dem Hof¬
theater ergebenen Blatte, der augenscheinlich von der Hand einer Dame ge¬
schrieben war, und in dem auch mit echt weiblichen Gründen gefochten wurde.
Wir wollen so galant sein, den schriftstellerischen Versuch dieser Dame, welche
Emil Angler's Drama nur uach einer jammervollen deutschen Uebersetzung
beurtheilte, nicht einer Kritik zu unterziehen. Einer Dame kann man es am
Ende nicht verargen, daß sie nicht die Fähigkeit besitzt, sich auf den historisch¬
kritischen Standpunkt zu erheben, von welchem allein ein objektives Urtheil
möglich ist. Selbst Männer, denen es sonst durchaus nicht an Urtheilskraft
gebricht, steifem sich am Ende, als alle Pfeile an dem ehernen Gefüge des
Angler'schen Meisterwerkes machtlos abprallten, darauf, daß das Unsittliche
dieses Dramas darin läge, daß die auf legitimer Grundlage aufgebaute Familie
von dem Dichter als moralisch schwach und verkommen dargestellt werde,
während alle moralischen Kräfte sich 'in dem szenischen Gegenbilde dieser
Familie, der Musiklehrerin, einer büßenden Magdalena, und ihrem unehelichen
Sohne, konzentrirten. Aber diese Sittenrichter haben dabei völlig die ideale
Absicht dieses strengen, unerbittlichen Moralisten verkannt, dem es gerade darauf
ankam, an drastischen Beispielen voller Kontraste zu zeigen, daß das in den
französischen Familien der besseren Gesellschaft übliche Erziehungssystem das
Familienleben in seinem innersten Nerv angreift und zerstört, daß die Jagd
nach dem Glück, welcher der Mann ohne Rast obliegt, und die Pflichten gesell¬
schaftlicher Repräsentation, welche die Frau auf sich nimmt, um das Firmen¬
schild des Gatten zu lackiren, den verderblichsten Einfluß auf die ohne strenge
Zucht heranwachsenden Söhne und Töchter ausüben. Er wollte zeigen, wie
auf der einen Seite alle edlen Regungen des Herzens in dem rauschenden
Strudel einer oberflächlichen, gefall- und vergnügungssüchtigen Gesellschaft er¬
stickt werden, und wie auf der andern Seite gemeinsam ertragenes Unglück
die Herzen prüft und die Charaktere stählt und wetterfest macht. Die Sünderin
büßt ihren einzigen Fehltritt durch ein langes freudloses Leben, auf dessen
Abend nur ein einziger Lichtstrahl geheimen Glückes fällt, und an ihrer Seite
büßt ihr Sohn den Fehltritt der Mutter durch ein Leben selbstloser Aufopferung
und Entsagung. Als Angler sein Drama schrieb, hatte er spezifisch französische
Verhältnisse im Auge, gegen welche er die Schärfe seines Schwertes kehren
wollte. Wenn man derartige in nationalen Eigenthümlichkeiten wurzelnde
Schauspiele auf fremden Boden überträgt, darf man sie nicht von der Um¬
gebung trennen, aus der sie erwachsen sind, darf man sie nicht auf ihren ab¬
soluten Werth prüfen, sondern man muß sie eben mit dem Maßstabe ihrer
Umgebung messen. Wenn bei uns in Deutschland Verhältnisse nicht existiren
und Situationen nicht möglich sind, wie sie Angler schildert, so hat man vollauf
Ursache, sich darüber zu freuen, aber noch lange nicht das Recht, solche Stücke
innerlich unwahr zu schelten. Auf der Suche nach ihrem allgemeinen, idealen
Werthe hat man in Deutschland häufig die literarische und ethnographische
Bedeutung der „Fourchambault" übersehen. Es ist ein unübertreffliches
Sitten- und Zeitbild, und als solches ein Meisterwerk ersten Ranges. Wenn
aber ein unverbesserlicher Idealist und Utopist nach dem Ewigen, Bleibenden
fragt, das in diesem wie in jedem Drama enthalten sein muß, um es zu einem
echten Kunstwerke zu stempeln, so schicken wir den neugierigen Frager mit
seiner Frage heim und fordern ihn auf, uns ein Kunstwerk der Gegenwart
zu nennen, aus dem ein Jeder der Zeitgenossen das Ewige herausfinden kann.
Etwa aus Wilbrandt's „Arria und Messalina" oder aus Anzengruber's
Bauernkomödien oder aus Nissel's „Agnes von Meran", die außer den Mit¬
gliedern der Schillerpreiskommission kein Mensch gekannt hat? Oder steckt das
Ewige in den Dramen des gleichfalls Schillerpreis-gekrönten Heinrich Kruse
oder in den phantastischen Tendenzromanen Friedrich Spielhageu's oder in den
nach Form und Inhalt gleich unnatürlichen Erzählungen Auerbach's „Ans der
Höhe", „Waldfried"^ „Landolin von Reutershofen", „Forstmeister" und Kon¬
sorten?
Mit einem zweiten französischen Drama, das im vorigen Jahre während
der Weltausstellung in Paris viele Schaulustige anzog, mit Sardon's „Bürgern
von Pont-Arcy", hat das Residenztheater trotz einer Aufführung, die in vielen
Stücken die Pariser übertraf, weniger Glück gehabt. Das zerfahrene Stück,
halb politische Satire, die bei einem deutschen Publikum natürlich nur ein
sehr oberflächliches Verständniß finden konnte, halb Familiendrama voll ebenso
Peinlicher wie überflüssiger und unmotivirter Konflikte, erregte nur durch die
Mitwirkung des immer originellen und fesselnden Friedrich Haase ein vorüber¬
gehendes Interesse.
Auch im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, welches den Bedarf
seines Operettenrepertoires fast ausschließlich aus Paris, neuerdings auch aus
Wien bezieht, übte der „kleine Herzog" von Lecoq, der im Nenaisscmcetheater
in Paris länger als sechs Monate hindurch vor vollem Hause dominirte, nicht
die erwartete Zugkraft. Das Theater ist augenblicklich so arm an Gesangs¬
kräften, daß selbst das in dieser Hinsicht gewiß nicht verwöhnte Berliner
Publikum der schmucken und sonst sehr beliebten Bühne den Rücken gekehrt hat.
Ein verwerfliches Cliquen- und Protektionswesen sucht dem Publikum s. tout
xrix Sängerinnen aufzuzwingen, die keinen Ton in der Kehle haben, und so
bewegt sich auch dieses in allen übrigen Dingen vortrefflich geleitete Theater
auf derselben abschüssigen Bahn, wie die meisten anderen Berliner Bühnen. Die
Kunst würde freilich durch seinen Fall nicht viel verlieren, denn dieses Operetten¬
theater steht im Grunde genommen nicht viel höher als das Viktoriatheater,
dessen künstlerischer Schwerpunkt bekanntlich im Ballet, in den Dekorationen,
den Maschinerien und dem elektrischen Lichte liegt. Zwischen dem weiblichen
Chorpersonal der französischen Operette und dem Corps de Ballet des Aus¬
stattungsstückes ist kein großer Unterschied, namentlich wenn man Operetten
aufführt, wie Strauß' „Blindekuh", in der viel mehr getanzt als gesungen
wird. Die Beliebtheit des Walzerkönigs vermochte das totale Fiasko, welches
seine Operette erlitt, nicht im geringsten aufzuhalten, und dabei hatte sich das
Friedrich-Wilhelmstädtische Theater noch nicht einmal von dem künstlerisch wie
finanziell gleich empfindlichen Mißgeschick erholt, welches ihm die Vorführung
einer absolut stimmlosen französischen Operettensüngerin vierten oder fünften
Ranges verursacht hatte.
Das Woltersdorff- und das Kroll'sche Theater haben in der ver¬
flossenen Saison ihre Pforten geschlossen. In dem ersteren hatte die Kunst
seit geraumer Zeit ein jammervolles Dasein gefristet. Zum Glück litt das
Publikum wenig darunter, da es sich von diesem Kunstinstitute, dessen Betrieb
mehr eine Art Sport seines Besitzers war, konsequent fern hielt. Opern waren
ebensowenig im Stande, die Räume zu füllen, wie Possen und Operetten, und
so wurde das Theater schließlich nach dem Tode seines Besitzers seiner Be¬
stimmung entzogen. Bis jetzt hat noch niemand gewagt, die Gruft wieder zu
öffnen. Das Kroll'sche Theater fiel der Unfähigkeit seines Leiters zum Opfer,
der lauge Zeit in einem Possentheater den Kapellmeisterstab geschwungen hatte
und nun auch einmal Lust verspürte, das Direktionsszepter zu führen. Eine
grenzenlose Mißwirthschaft führte das Theater, in welchem schließlich italienische
Operngesellschaften ihr Wesen trieben, schnell seinem Ruin entgegen. Die un¬
vermeidliche Katastrophe wurde am Ende nur durch ein Gastspiel der Adelina
Patti und des famosen Signor Nieolini aufgehalten, welches unter so uner¬
hörten Bedingungen abgeschlossen wurde, daß nur ein verzweifelter
Spieler auf dieselben eingehen konnte, nachdem die Verwaltung des Hoftheaters
sie vernünftiger Weise abgelehnt hatte. Der Ruin des Kroll'schen Theaters
erfolgte bald nach Schluß des Patti-Gastspieles, und eines Tages erfuhr man,
daß der direktionslustige Pächter das unbehagliche Klima Berlin's mit einem
Asyl jenseits des Ozeans vertauscht hatte. Mit Beginn der Sommersaison hat
wieder der rührige Besitzer des Kroll'schen Etablissements die Leitung desselben
in die Hand genommen, im Vereine mit dem Direktor des Wallnertheaters,
der den gerade unbeschäftigten Theil seines großen Personales dort auftreten läßt.
Das Wallnertheater selbst lebt seit einigen Jahren nicht mehr aus¬
schließlich seinem Beruf und der Absicht seines Gründers, die Berliner Lokal¬
posse zu pflegen. Die derben Lustspiele und Schwänke eines G. v. Moser,
Rosen, L'Arronge, die durch Kontrakte an diese Bühne gebunden sind, haben
dort eine Heimstätte und zugleich eine Interpretation gefunden, welche als
mustergiltig in ihrer Art bezeichnet werden kann. Ein lebendiges frisches Zu¬
sammenspiel, ein halbes Dutzend ausgezeichneter Schauspieler im Vordergrunde,
darunter der Direktor selbst, und eine vortreffliche Regie vereinigen sich, um
edem halbwegs leidlichen Stücke zu einem freundlichen Erfolge zu verhelfen.
Der Haupttreffer der letzten Saison war der „Doktor Klaus" von L'Arronge,
der jetzt wohl die Runde über sämmtliche Bühnen Deutschland's gemacht hat
und der nur vou neuem beweist, wie wenig doch in Deutschland dazu gehört,
um Bühnenerfolge zu erringen. Das Stück ist nicht um ein Haar besser als
die Trivialitäten und Philisterkomödien eines Benedix und einer Birch-Pfeiffer.
Von dem Hauch des modernen Lebens empfindet man in dieser Alltagskomödie
keine Spur. Nur die geschickte Kombination von Motiven und Situationen,
die von anderen Autoren als wirksam erprobt worden sind — wir erinnern
nnr an Emil Angler's „Asnärs as Nonsisur?oirisr" —, hat dem „Doktor
Klaus" zu einem Erfolge verholfen, durch den das Stück ganz mit Unrecht-zu
einer literarischen That aufgebauscht worden ist. Dem Autor fehlt jedwede irgend¬
wie greifbare literarische Physiognomie, jeder vornehmere literarische Zug, der selbst
noch die unbedeutendsten Produkte eines G. v. Moser adelt. Sein Machwerk
ist roh, die Gesellschaft, die er schildert, ist nicht diejenige, in der wir zu ver¬
kehren wünschten, aber was verschlägt das? Possenhafte Momente sind mit
sentimentalen Episoden geschickt zu einem pikanten Brei zusammengemischt, der
von dem darbenden Publikum mit Heißhunger verspeist worden ist. Nachdem
der „Doktor Klaus" seine Schuldigkeit gethan hatte, folgte auch für das
Wallnertheater eine Kette von Katastrophen, die erst in den letzten Tagen durch
den günstigen Erfolg einer keck und lustig hingeworfenen Lokalposfe von
E. Jcicvbson, „die Lachtaube", unterbrochen wurde.
Den heikelsten Punkt unseres Themas haben wir uns bis zuletzt ver¬
spart — die Besprechung des Antheils, welchen das Hoftheater in der
letzten Zeit an der Hebung und Pflege der dramatischen Kunst in Berlin ge¬
nommen hat. Jeder gesinnungstüchtige Theaterkritiker in Berlin hält es für
seine Pflicht, wenigstens an dem königlichen Schauspielhause kein gutes Haar
zu lassen, und wer es in der Presse wagt, ein freundliches Wort für dieses
beklagenswerthe Kunstinstitut einzulegen, der wird als verächtlicher „Offiziosus"
gebrandmarkt, wenn man ihm nicht noch schlimmere Motive unterlegt. In
Wahrheit ist jedoch die Berliner Presse, insbesondere die Theaterkritik, unab¬
hängiger, wenigstens materiell unabhängiger, als allgemein geglaubt wird. Nur
zwei Tageszeitungen behandeln aus persönlichen Gründen das Hoftheater mit
zartester Schonung, die eine, weil sie das Organ der Intendantur ist, die
andere, weil ihr Theaterreferent in irgend einer Form an dem komplizirten
Verwaltuugs- oder Berathungsorganismus des Hoftheaters betheiligt ist. Daß
die Berliner Theaterkritik im Großen und Ganzen materiellen Einflüssen, vulxo
Bestechungen zugänglich sei und danach ihre Urtheile einrichte, ist — wie wir
bei dieser Gelegenheit ein für allemal bemerken wollen — ein Märchen, das
zwar von Schauspielern und von gewissen Schichten des Publikums gern ge¬
glaubt und kolportirt wird, thatsächlich aber jeder Grundlage entbehrt. Ab
und zu taucht wohl ein räudiges Schaf auf, aber ohne die ganze Heerde zu
affiziren. Schon die finanziellen Verhältnisse der Bühnendirektoren verbieten
eine „Bestechung" in einem so umfangreichen Maßstabe, wie sie bei der nu¬
merischen Stärke der Berliner Theaterkritik nothwendig sein würde, um ein
entsprechendes Resultat zu erzielen. Ob jedoch nicht persönliche, gesellschaftliche
Beziehungen zwischen Theaterdirektoren, Schauspielern und Kritikern auf das
Urtheil der letzteren von Einfluß sein mögen, wollen wir nicht untersuchen.
Am Ende ist auch der Theaterkritiker nur ein Mensch. Im Ganzen und
Großen wird man aber der Berliner Theaterkritik in eorxors nur wenig
Ehrenrühriges nachsagen können.
Das Opernhaus entzieht sich um seines mehr kosmopolitischen Charakters
willen unserer Besprechung. Die deutsche Oper ruht angeblich heute auf den
Schultern Richard Wagner's, und dieser findet bei der Leitung unseres Opernhauses
nicht dasjenige „liebevolle Verständniß", welches seine fanatisirten Anhänger tumul-
tuarisch genug verlangen. Der Generalintendant der königlichen Schauspiele hat
jedenfalls die schätzenswerthe Eigenschaft, daß er ein rechnender, nüchterner
Beamter ist, der nicht nach Phantasmen jagt, sondern mit greifbaren Faktoren
operirt. Er strauchelt oft dabei, und mancher Erfolg wird durch manchen
Mißerfolg getrübt, aber schließlich hat er es doch seit länger als fünfundzwanzig
Jahren verstanden, sein schwerbemanntes Fahrzeug durch die beiden gefähr¬
lichen Klippen, Hof und Publikum, glücklich hindurchzubugsiren. Die Oper ist,
obgleich sie von viel mehr Zufälligkeiten abhängig ist als das Schauspiel,
immer noch leidlich im Stande. Daß von den beiden Tenoristen, die der
Generalintendant seit Jahren dem Publikum als besondere Zugmittel vorführt,
der eine, Wachtel, nicht spielen kann, sondern nur singt oder vielmehr nur
Kehlkunststücke zu Wege bringt, während der andere, Niemann, nicht singen,
sondern nur noch spielen kann, das kann man schließlich dem Generalinten¬
danten nicht zum Vorwurf machen.
Weniger tröstlich steht es mit dem königlichen Schauspielhause. Ver¬
glichen mit den anderen Musentempeln der Residenz, hat es sich freilich immer
noch auf einer ganz achtbaren Höhe erhalten. Aber eine Bühne, welche die
erste des deutschen Reiches sein will und soll, darf nicht mit einem relativen
Maßstabe gemessen werden. Wir messen sie nach den ersten und besten Mustern,
und da fällt allerdings das Resultat unserer Messungen nicht gerade günstig
aus. Das Geldfieber in den ersten siebziger Jahren hat unser Schauspiel¬
haus um eine Anzahl seiner tüchtigsten Kräfte gebracht, und bis heute ist es
ihm noch nicht gelungen, diese Kräfte zu ersetzen. Es fehlt ihm augenblicklich
z. B. eine erste Heldin und Liebhaberin, und alle Versuche, diese Lücke aus¬
zufüllen, sind bis jetzt mißlungen. Ungefähr die Hälfte des nicht sehr zahl¬
reichen Personals, über welches das Schauspielhaus gegenwärtig verfügt, ent-
spricht nicht den Anforderungen, die man billigerweise an eine Bühne von
solchem Range zu stellen berechtigt ist. Aber man darf nicht vergessen, daß
die Engagements von Schauspielern und Schauspielerinnen an einem Hoftheater
nicht immer vom Belieben des Intendanten abhängen. Nur zu oft machen
sich Einflüsse geltend, denen der Intendant nicht zu begegnen .im Stande ist.
Nichtsdestoweniger ließe sich auch mit untergeordneten Kräften mehr erreichen,
als thatsächlich erreicht worden ist. In der verflossenen Saison vom 1. Oktober
bis 1. April sind sechs einaktige und vier zwei-, drei- und vieraktige Stücke
zum ersten Male gegeben worden. Die sechs Einakter stiegen klanglos zum
Orkus hinab, und von den übrigen Novitäten scheint sich nur eine — die
„Frau ohne Geist" von Hugo Bürger — zu einer zeitweiligen Bereicherung
des Repertoires gestalten zu wollen. Aber selbst an dieses ganz amüsante und
fesselnde Lustspiel darf man keinen strengen aesthetischen Maßstab anlegen.
Mit einem architektonisch meisterhaft gegliederten Drama wie die „Fourcham-
bault" läßt es sich nicht vergleichen, und von Tiefe oder Originalität der
Charakteristik ist auch nicht viel zu spüren; es ist nur eine leichte Abendunter¬
haltung, die sich mit dem Abende verflüchtigt, ohne den geringsten Stoff zum
Was ist nicht alles in die Welt geschrieben worden über die Eilfertigkeit,
über die Planlosigkeit, mit welcher die Kommission zur Zollreform gearbeitet
haben sollte. Als der neue Tarif vorlag, behauptete man noch, die alten Posi¬
tionen seien Stück für Stück je nach dem Andrängen derjenigen betheiligten
Interessenten, die ihre Wünsche gerade am lautesten zum Gehör der Kommission
gebracht, erhöht worden, ohne Umblick, ohne Rücksicht auf die Beschädigtem.
Man behauptete, zusammenhängende Motive, einen Gesammtplan der Reform
werde die Kommission gar nicht aufzustellen vermögen, weil sie kein anderes
Material besitze als eine stückweise Begründung für die Erhöhung bald dieses
bald jenes Artikels.
Seit dem 19. April liegen nun diese Motive der Oeffentlichkeit vor, die
man für dürftig und belanglos ausgab, ohne sie zu kennen. Man darf ge-
spannt sein, ob eine solche Charakteristik sich auch jetzt noch hervorwagen wird.
Wir glauben, jeder Unbefangene, auch der überzeugte Freihändler, wenn er
überhaupt noch ernsten Gründen zugänglich ist, wird aus dem Studium dieser
Begründung den Eindruck gewinnen müssen, daß, wenn die vorgeschlagene
Maßregel wenigstens prinzipiell für das deutsche Volk eine der wichtigsten
Entscheidungen enthält, anch der deutschen Volksvertretung, sei es im Reich,
sei e s in Preußen, noch keine Entscheidung unter dem Gewicht gleich dringender
und gleich tiefgehender Gründe angesonnen worden ist.
Die Sprache dieser Motive ist von derselben gleich schwer abzuweisenden
Beredtsamkeit in ihrem allgemeinen wie in dem besonderen Theile. Im allge¬
meinen Theile wird ein Rückblick geworfen auf die Entwickelung des deutschen
Tarifs während des Zollvereins. „Die Verfassung des Zollvereins," heißt es,
„mit dem vertragsmäßigen Erforderniß der Uebereinstimmung sämmtlicher Ver¬
einsmitglieder, stand einer autonomen Fortbildung des Tarifs entgegen. Es
ist deshalb erklärlich, daß wesentliche Aenderungen des Tarifs erst auf dem
Wege des Abschlusses von Zoll- und Handelsverträgen mit fremden Staaten
zu Stande kamen." Ferner: „Die frühere Organisation des Zollvereins
Hütte den Versuch aussichtslos erscheinen lassen, vor dem Abschluß der Han¬
delsverträge durch autonome Vereinsgesetzgebung eine,sür die Verhandlungen
günstigere Grundlage zu schaffen. Es erübrigte daher nichts Anderes, als auf
Grund des aus älterer Zeit überkommenen Tarifs mit den fremden Staaten
in Unterhandlung zu treten. Da letztere Gewicht auf vermehrte Erschließung
des deutscheu Marktes legen mußten, so war es unvermeidlich, daß die auf
Handelsverträge gegründete Tarifentwickelung des Zollvereins zu allmählicher
Abänderung des früheren Schutzes der einheimischen Produktion führte." Es
ist eine der vielen Variationen des alten deutschen Elendes, die hier treffend
vor Augen geführt wird. Die widerstrebenden Interessen im deutschen Volke,
größtentheils durch souveräne Vereinsglieder repräsentirt, waren allenfalls dazu
zu bringen, durch Majoritätsbeschlüsse ein Interesse nach dem andern im Stich
zu lassen. Sie wären nie dahin zu bringen gewesen, ein Interesse vor dem
anderen zu schützen, was doch unvermeidlich gewesen wäre, um überhaupt zum
Schutz zu gelangen, da man nicht alles auf einmal und in gleicher Weise
schützen konnte. So erklärt es sich denn, weshalb die Tarifpolitik des Zollvereins
unaufhaltsam den Weg dessen wandelte, was man in Deutschland Freihandel
nannte, nämlich die zunehmende Oeffnung der Einfuhr bei zunehmender Sper¬
rung der Ausfuhr. schlagend führen die Motive nun weiter aus, wie die
zunehmende Oeffnung der Einfuhr ohne Rücksicht auf die einheimische Produk¬
tion nur unter zwei Voraussetzungen dem Interesse der deutschen Nation hätte
entsprechen können. Erstens mußten die übrigen Staaten, dem von Deutsch-
land gegebenen Beispiele folgend, das Exportinteresse mehr und mehr über die
Sicherung des einheimischen Marktes stellen. In der That war diese Hoffnung
bis vor wenigen Jahren weit verbreitet. Heute besteht nach der Lage der
fremden Zollgesetzgebung und den Tarifprojekten verschiedener Staaten kein
Zweifel, daß die erste Voraussetzung der seit 1865 maßgebenden deutschen
Tarifpolitik nunmehr hinfällig ist. Von höchster Bedeutung ist aber die jetzt
folgende Ausführung der Motive. Die zweite Voraussetzung nämlich, unter
welcher die Beibehaltung der auf den einheimischen Schutz mehr und mehr
verzichtenden Tarifpolitik gerechtfertigt werden konnte, bestand darin, daß keine
für Deutschland ungünstige Aenderung in den wirthschaftlichen Machtverhült-
nisseu der Nationen gegenüber dem Zustande bei Abschluß der Handelsverträge
in den sechziger Jahren eintrat. Aber diese Voraussetzung ist völlig ge¬
schwunden. Die Entwickelung der Verkehrsanstalten hat die Prvduktionsstätten
und Absatzgebiete ganz anders gelagert, als vor zehn oder zwanzig Jahren.
Der einheimische Absatz der wichtigsten deutschen Produkte, der Land- und
Forstwirthschaft wie der Industrie ist durch eine Massenproduktion des Aus¬
landes und durch die erleichterte Ableitung derselben auf den deutschen Markt
in einer Weise bedroht, wie noch vor kurzer Zeit nicht vorausgesehen werden
konnte. Dazu kommt, daß umgekehrt die fremden Nationen gelernt haben,
durch die Schaffung einer eigenen Industrie mittelst der Zollgesetzgebung die
Einfuhr aus Deutschland immer mehr zu entbehren.
Man sollte denken, diese Sprache wäre hinlänglich beredt. Es handelt
sich bei der jetzigen Zollreform weit mehr noch um eine Präventiv- als um
eine Repressivmaßregel, weit mehr noch um Sicherung vor den Gefahren der
Zukunft als um Beseitigung bereits eingerissener Schäden. Aber auch das ist
nicht zu verkennen, daß der bereits gestiftete, schon zu heilende Schaden groß
genug ist. Unter den Staaten, welche die deutsche Einfuhr bereits gesperrt
haben oder auf dem Wege dazu sind, führen die Motive zuerst die Vereinigten
Staaten an, sodann Rußland, welches seit dem 1. Januar 1877 durch die
Erhebung der Zölle in Gold die deutsche Einfuhr noch höher als bisher be¬
lastet, während Oesterreich-Ungarn und Italien bei dem Ablauf der Handels¬
verträge Anlaß genommen haben, die Waareneinfuhr durch neu festgestellte
allgemeine Tarife beträchtlich zu erschweren, und in Frankreich, welches auch
unter dem System der Handelsverträge den Schutz der nationalen Arbeit fest¬
zuhalten gewußt hatte, weitere Erwägungen über die Anpassung des Zollsystems
an die Bedürfnisse der einheimischen Erwerbsthätigkeit im Gange sind.
bedürfen jedenfalls der Erwähnung. Dahin gehören vor allem die Getreidezölle.
Durch den Wegfall der früheren Getreidezölle in Verbindung mit der Er¬
weiterung der Eisenbahnnetze und den zu Gunsten der ausländischen Produktion
eingeführten Differentialtarifen ist das massenhafte Einströmen fremden Getreides
zur Regel geworden. Galizien, Polen, Ungarn, Rumänien, das südliche Ru߬
land, sogar die Türkei und Amerika, fast ausschließlich Länder mit noch un¬
begrenzter Produktionsfähigkeit und geringen Produktionskosten, überschütten
mit ihren Bodenerzeugnissen gerade diejenigen Märkte, welche bisher die Haupt¬
absatzgebiete der deutschen Landwirthschaft waren. Erwägt man, daß die
Produktionskosten in Deutschland seit zehn Jahren in demselben Maße ge¬
stiegen, wie die Getreidepreise durch das Angebot aus billiger produzirenden
Gegenden gefallen sind, daß ferner ungefähr gleichzeitig mit der Aufhebung der
Getreidezölle der inländische Grundbesitz mit 10 bis 14 Prozent seines Ertrages
durch Staatsanflagen belastet worden, zu welchen noch die Kommunalzuschläge
in fortwährend steigender Höhe hinzukommen, so wird es erklärlich, daß der
Getreidebau seit den sechziger Jahren in Deutschland wesentlich zurückgegangen
ist. In Preußen hat die bebaute Ackerfläche seit jener Zeit um 8 Prozent
der Gesammtackerfläche des Staates abgenommen, in Bayern um 90830 Hektare.
Es wird nicht mehr so viel Getreide produzirt, als produzirt werden könnte,
wenn gegenüber der ausländischen Konkurrenz die Garantie eines größeren Ab¬
satzes vorhanden wäre. Zahlreiche Pächter und kleine Besitzer haben ihre Wirth¬
schaften aufgeben müssen. Die Ertragsfähigkeit der Grundstücke ist in Folge
der zahlreichen Subhastationen vermindert, und dem Acker werden ans Mangel
an Mitteln nur ungenügend die nothwendigen Düngstoffe zugeführt. Die
Ernteerträge sind daher vielfach fast um 20 Prozent heruntergegangen. Die
Gefahr liegt nahe, daß Deutschland bei fortschreitender Entwertung von Grund
und Boden hinsichtlich seiner Ernährungsverhältnisse vollständig abhängig
vom Auslande wird. Da nun Mißernten in Ländern wie Rußland, Rumänien,
Amerika häufiger, und wenn sie eintreten, allgemeiner sind als bei uns, so
würden dieselben unter Umständen eine vollständige Stockung der Zufuhr
hervorrufen können. Die gleiche Wirkung könnte ein Krieg oder eine Blokade
haben. Auf der anderen Seite wäre ein Aufhören der inländischen Getreide¬
produktion gleichbedeutend mit der Zahlungseinstellung des größten Theiles
aller Landwirthe, und in Folge dessen mit einem Zusammenbruch unseres ganzen
Kreditsystemes. Die vorgeschlagenen Getreidezölle kommen nun im Vergleich zu
den gewöhnlichen Preisschwankuugeu gar nicht in Betracht, aber sie versprechen
gleichwohl, der einheimischen Landwirthschaft wenigstens nach einer Richtung zur
Hilfe zu kommen. Denn Deutschland ist durch die absolute Freiheit der
Getreideeinfuhr der Ablagerungsplatz für die Ueberproduktion anderer Länder
geworden. Die Ueberfüllung des deutschen Marktes mit unverkäuflichen aus¬
ländischen Ueberschüssen ist das eigentliche Leiden unserer Landwirthschaft.
Nicht darauf kommt es an, die Preise des Getreides höher zu schrauben,
sondern darauf, für das inländische Produkt einen Abnehmer zu finden, welcher
wenigstens so viel zahlt, daß das Produziren überhaupt noch lohnt. Ist im
Inlande ein sicherer Absatzmarkt vorhanden, so wird es an inländischen Pro¬
dukten nicht fehlen, selbst wenn die Preise, absolut betrachtet, noch unter die
jetzigen geringen heruntergehen sollten. Die relative Preiserhöhung, welche
in der Erweiterung des gesicherten Absatzes liegt, wird immer die Hauptsache
bleiben.
Wir sind in der That gespannt, welche Antwort man auf diese Ausfüh¬
rung haben wird, nämlich, wenn die Antwort sich nicht schämen muß, vor die
Ohren denkender Menschen gebracht zu werden.
Aehnlich schlagend ist die Ausführung zu Gunsten der Holzzölle. Es
handelt sich ganz einfach um die Aufrechthaltung einer deutschen Forstwirth¬
schaft. Kann dieselbe nicht aufrecht erhalten werden durch die Erträge der
Forsten, so muß sie aufrecht erhalten werden durch Beiträge der Steuerzahler,
oder der deutsche Wald muß zu Grunde gehen. Das Letztere bedeutet die
Unbewohnbarkeit des deutschen Bodens für ein selbständiges Volk. Gegen die
gewaltige Sprache dieses Argumentes verschwindet fast das andere, daß die
große Masse der Bewohner des deutschen Waldgebietes von rund 2500 Quadrat-
Meilen, welche an das Gedeihen der Forstwirthschaft gekettet find, denn doch
eine größere Zahl repräsentirt als die sämmtlichen Interessenten am Handel
mit fremdem Holz.
Auch bei dem deutschen Viehbestand zeigt sich seit der Ermäßigung resp.
Aufhebung der Viehzölle ein wesentlicher Rückgang. Der Einwand, daß mit
den jetzt vorgeschlagenen Zöllen nothwendige Lebensmittel der ärmeren Klassen
besteuert würden, ist hinfällig, weil auf Kühe, Jungvieh und Schafe ein ganz
niedriger Satz beantragt wird, bei den Schweinen von einer nennenswerthen
Erhöhung der bisherigen Sätze abgesehen worden, und weil Ochsenfleisch nur
ausnahmsweise von den unbemittelten Volksklassen verzehrt wird. Auch bei
der Viehzucht arbeitet das konkurrirende Ausland unter so viel günstigeren
Boden-, Abgaben- und Arbeiterverhältnissen, daß eine ungehemmte Konkurrenz
den Fortbestand der deutschen Viehzucht ausschließt.
Wir verzichten auf die auszügliche Begründung der Sätze für die Industrie-
Artikel, desgleichen der Finanzzölle. Wenn die in den Motiven gegebene Be¬
gründung nicht bei jedem Artikel von demselben, den Widerspruch zermalmen¬
den Gewicht ist, wie bei den zumeist angefochtenen Getreide-, Holz- und Vieh¬
zöllen, so ist sie doch überall beachtenswert!) und von hohem Interesse.
Es wird sich bei den bevorstehenden Verhandlungen des Reichstages um
nichts geringeres handeln, als um die physische Lebensfrage der deutschen
Nation. Es ist außerordentlich thöricht, eine solche Frage banausisch zu
schelten. Die Individuen, welche dem Gewerbebetrieb obliegen, können durch
Verengung des Blickes und des Sinnes banausisch werden. Die Frage der
materiellen Lebensbedingungen eines ganzen Volkes ist es niemals. Möchte
diese Frage, welche allerdings nicht die höchste, aber die unmittelbarste aller
Lebensfragen ist, mit dem Ernst der Betrachtung und mit der Lauterkeit der
Waffen behandelt werden, wie sie allein der Vertretung des deutschen Volkes
würdig sein können. Dann wird das die größte Verhandlung werden, die das
deutsche Volk in seiner parlamentarischen Geschichte bisher erlebt hat. Keine
Frage geht so auf das unmittelbarste Interesse jedes Einzelnen und zugleich
auf den Bestand der höchsten Güter, auf den Fortbestand der nationalen Existenz
selbst. Hier gibt es keine Exklusivität der Bedeutung, keine nur mittelbare
Beziehung durch den nationalen Lebenszweck auf die Einzelnen. Aber hier ist
auch jeder Einzelne, wie er mit seiner Existenz unmittelbar in Frage ist, ebenso
verpflichtet, an die unmittelbare Gefahr des Ganzen zu denken. Mögen wir
denn verschont werden mit den allzu oft gehörten Tiraden, daß man Niemand
wehren dürfe zu kaufen, wo er es am billigsten kann u. s. w., Tiraden, deren
Trivialität kaum ihrer Schädlichkeit gleich kommt. Es handelt sich um die
Nation, nicht um den Einzelnen, der seine Sache auf Nichts gestellt hat.
Von der „Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz",
herausgegeben von I. Baechtold und F. Vetter, einer Sammlung, die durch
das, was sie bringt, für die Schweiz eine ähnliche Bedeutung erlangen wird,
wie sie die bekannte Quedlinburger Sammlung und die des Stuttgarter Lite¬
rarischen Vereins für Deutschland erlangt haben, dadurch aber, wie sie es
bringt — in vornehmer, geschmackvoller und deshalb einzig würdiger Aus¬
stattung nämlich —, die deutschen Sammlungen entschieden in Schatten stellen
wird, ist vor kurzem der zweite Band ausgegeben worden, der die Werke des
genialen schweizerischen Dramatikers aus dem 16. Jahrhundert, Niklaus
Manuel enthält (Frauenfeld, I. Huber, 1878). Wir kommen auf diesen Band
und die werthvolle biographische und literarhistorische Arbeit, welche der Heraus¬
geber, I. Baechtold, dem Neudruck der Texte vorausgeschickt hat, noch aus¬
führlicher zurück.
Wenn schon seit mehreren Jahren in Deutschland neben den politischen
Fragen auch die wirthschaftlichen mit großer Lebhaftigkeit behandelt wurden,
so stieg das Interesse an denselben noch wesentlich, als das Darniederliegen
von Handel, Gewerbe und Industrie deutlich zu zeigen anfing, daß das Wohl¬
befinden eines Staates durch Entfaltung militärischer Macht und politischen
Einflusses allein nicht aufrecht erhalten werden kann, sondern vor allem auf
jenen anfangs in ihrer Wichtigkeit nicht genug erkannten Faktoren beruht.
Zunächst freilich waren es Klagen und immer nur wieder Klagen über die
»schlechten Zeiten", von denen man hörte und las; ein Vorwurf wechselte mit
dem andern, mit steigender Heftigkeit und Bitterkeit beschuldigten sich gegenseitig
die Parteien, als ob eine einzelne derselben das Sinken unseres wirthschaft¬
lichen Lebens hätte veranlassen können, und nicht vielmehr viele und verschie¬
denartige Ursachen dieses eine, das ganze Land in Mitleidenschaft ziehende
Ergebniß hervorgebracht hätten. Seitdem ist wenigstens der eine nicht zu
unterschätzende Fortschritt gemacht worden, daß das unerquickliche Gezänk und
die schließlich doch unnützen Anklagen einigermaßen zum Schweigen gekommen
und statt dessen Untersuchungen angestellt worden sind, wie den theils schon
vorhandenen, theils noch drohenden Uebelständen abgeholfen werden könne,
welche Mittel zu ergreifen, welche neue Bahnen etwa zu betreten seien. Daß
dabei manch' abenteuerlicher Gedanke aufgetaucht ist, braucht uns nicht Wunder
zu nehmen; auf der anderen Seite zeigte sich auch manches recht beachtens-
werthe. Unter anderm ist seit Wochen ein Schriftchen von Dr. Friedrich Fabri
Gegenstand vielfacher Erörterungen geworden, worin zur Beseitigung der be¬
stehenden Mißstände die Anlegung von Kolonieen angerathen wird.*) Daß dieser
Vorschlag wenn auch nicht überall Beifall gefunden, so doch vielseitiges Inter¬
esse für die Sache hervorgerufen hat, geht schon daraus hervor, daß binnen
kurzem sich eine zweite Auflage des Schriftchens nothwendig gemacht hat. Die
hohe Wichtigkeit der Frage, die für uns möglicherweise Lebensfrage ist, recht¬
fertigt es denn wohl auch, wenn wir auch unsererseits — wiewohl die meisten
Zeitschriften sich bereits über die Sache ausgelassen haben, und sie den Reiz
der Neuheit nicht mehr sür sich hat — auf dieselbe zurückkommen. Einerseits sind
wir der Ansicht, daß eine Angelegenheit von so tiefgreifender Bedeutung, wie
diese es ist, nicht in wenigen Wochen veralten kann, andererseits glauben wir,
daß ein längeres Festhalten an ihr um so nothwendiger sein dürfte, je ferner
sie bisher nicht nur dem großen Publikum, sondern selbst den leitenden poli¬
tischen Kreisen gestanden hat.
Im vorigen Jahrhundert hat schon Justus Möser und in den vierziger
Jahren unseres Jahrhunderts Friedrich List darauf hingewiesen, welche wichtigen
Dienste Kolonieen ihrem Mutterlande leisten können, und seitdem ist die An¬
regung, daß Deutschland darauf ausgehen solle, sich Kolonialbesitz zu erwerben,
noch wiederholt aufgetaucht, immer aber kurzer Hand mit der Bemerkung ab¬
gewiesen werden, daß Deutschland als kontinentaler Staat sich auf derartige
Unternehmungen nicht einlassen könne, daß man erst die innere Organisation
des vorhandenen Länderbesitzes vollziehen müsse, ehe man an auswärtigen Er¬
werb denken dürfe, daß die Lage Deutschland's im Zentrum und der Mangel
an ausgedehnter Küste es auf eine zentralisirte Stellung hinwiese, und der
Mangel an guten natürlichen Grenzen es zu einer Militär-, nicht zu einer
Kolonialmacht bestimme.
Nun ist es ja richtig, daß die Bewohner von Küstengebieten, durch das Meer
frühzeitig zur Seefahrt erzogen, zu allen Zeiten als Hauptkolonisatoren aufge¬
treten sind, und die transmarinen Kolonieen zeigen sich als die häusigsten und
wichtigsten; aber man faßt den Begriff der Kolonie entschieden zu eng, wenn
man darunter nur überseeische Unternehmungen versteht. Kolonieen schickten anch
die Sabiner aus, wenn sie ein ?ör sa.vrri.iri gelobten, wenn eine jugendkräftige
Schaar die karge, bergige Heimat verließ, um sich in fruchtbaren Niederungen
eine neue Heimat zu suchen. Wenn so von rauhen, aber lebensfrischen Berg¬
völkern Landschaften für die Dauer in Besitz genommen und die Ureinwohner
derselben verdrängt oder vergewaltigt wurden, was war es anders als Kolo¬
nisation? In diesem Sinne aber hat die deutsche Nationalität schon frühzeitig
kolonisatorische Aufgaben ergriffen und vielfach glücklich gelöst. Ein Vergleich
der Sprach- und Nationalitätenkarte von 800 u. Chr. mit der von heute kann
lehren, ein wie großes Gebiet das deutsche Volk seitdem sich neu errungen und
größtentheils behauptet hat. Aber uicht nur in der alten, auch in der neuen
Welt, wo es leider fremden Völkern Handlangerdienste leistete, hat es seine
Befähigung für kolonisatorische Thätigkeit unzweifelhaft an den Tag gelegt.
Daß Fabri diese Frage, wenn auch nicht erschöpfend und in allen Einzel¬
heiten richtig, doch mit dem ersichtlichen Streben nach Sachlichkeit wieder auf¬
gefrischt hat, ist ein unleugbares Verdienst, und es erscheint als eine unab¬
weisbare Pflicht der Presse, seinen Ansichten, soweit sie richtig sind, zur mög¬
lichsten Verbreitung zu verhelfen, soweit sie falsch sind, zu verbessern, und wo
sie lückenhaft erscheinen, zu ergänzen, weiter auszuführen und tiefer zu be¬
gründen. Sicherlich würde man den größten Fehler begehen, wenn man sie,
weil manches nicht den Nagel auf den Kopf trifft, wieder wie früher bei Seite
schieben wollte.
Der Titel: „Bedarf Deutschland der Kolonieen?" erschöpft den Inhalt
von Fabri's Schriftchen nicht, denn an die bejahende Beantwortung der von
ihm aufgeworfenen Frage schließt sich eine Auseinandersetzung über die Haupt¬
formen der Kolonieen, sowie eine Aufsuchung derjenigen Gebiete ans der Erde,
denen sich etwa die deutsche Kolonisation zuwenden könnte. Nebenbei werden
noch manche andere Punkte in den Bereich der Betrachtung gezogen, die zum
Theil nebensächlich sind und vielleicht ganz hätten wegbleiben können, zum
Theil aber, sogar eine breitere Ausführung verdient hätten.
Die Dreizahl der Haupteintheilung tritt uns auch in der Begründung
der Kardiualfrage entgegen. Daß Deutschland der Kolonieen bedürfe, wird
bewiesen im Hinblick auf unsere wirthschaftliche Lage, auf die Krisis unserer
Zoll- und Handelspolitik und auf unsere mächtig sich entfaltende Kriegs-Marine.
Die Grundlage zur Entwickelung der in wirthschaftlicher Beziehung besser
gestellten Staaten wurde zumeist in den letzten zwei oder drei Jahrhunderten
gelegt. Deutschland aber wurde gerade in dieser Periode von zwei Kata¬
strophen, dem dreißigjährigen Kriege, der allen Wohlstand vernichtete, und der
napoleonischen Fremdherrschaft, so hart getroffen und hatte in unserm Jahr¬
hundert soviel mit seiner politischen Entwickelung zu schaffen, daß es sich erst
in allerneuester Zeit etwas zu heben begonnen hat. Von denjenigen Staaten
dagegen, die wir zunächst zum Vergleich heranziehen möchten, Frankreich und
England, erfreute sich das erstere nach seiner territorialen Einigung einer
mehrere Jahrhunderte andauernden friedlichen Entfaltung seiner Kräfte, so daß
selbst das furchtbare Gewitter der großen Revolution den Wohlstand der Nation
nicht ganz erschöpfen konnte; England vollends befand sich von Elisabeth's
Zeiten an in der Bahn einer ruhigen und stetigen Arbeitsthätigkeit, häufte
Schätze auf Schätze und blieb von schwereren Schicksalsschlägen gänzlich ver¬
schont. Dazu kommt, daß Frankreich in Folge seiner südlicheren Lage, England
durch seine insulare Abgeschlossenheit Deutschland um ein Beträchtliches über¬
traf. Gerade aber als unser Vaterland in einer Besserung seiner wirthschaft¬
lichen Lage begriffen schien, brach die Krisis der jüngsten Jahre mit um so
größerer Wucht herein und nahm es um so ärger mit, weil es eben als ein
in dieser Beziehung noch junges und nicht genügend gefestigtes Wesen sich viel
empfindlicher zeigte als andere Staaten. Die Verluste, die wir bei dieser Krisis
erlitten, sind so bedeutend, daß man sie nach Abrechnung der französischen
Kriegskosten-Entschädigung auf 2700 Millionen Mark anschlägt.
Nun geht aber durch die Auswanderung, theils in andere Staaten, theils
in fremde Kolonieen, Deutschland nicht nur ein bedeutendes Quantum vor¬
züglicher Arbeitskräfte verloren — denn diejenigen, welche ihr Schicksal den
Wogen anzuvertrauen wagen, um sich in einem ihnen völlig fremden Lande
mit Muth, Kraft und Ausdauer eine neue und bessere Existenz zu gründen,
gehören gewiß nicht zu den schlechtesten Gliedern des Volkes —, sondern es
folgt ihnen auch ein beträchtliches Kapital über den Ozean nach. Die Anzahl
der deutschen Auswanderer in den letzten 50 Jahren schätzt man auf etwa
4 Millionen, den Kapitalverlust dagegen — allerdings mit Einrechnung der
verlorenen Arbeitskraft— schlägt F. H. Moldenhauer") auf 15 Milliarden Mark
an. Dies sind Summen, wie sie selbst ein so reiches Land wie England kaum
einbüßen könnte, geschweige denn das viel ärmere Deutschland. Und zu diesen
jährlichen Opfern tritt der bedauerliche Umstand hinzu, daß die Auswanderer
auch in Sprache und Sitte ihrer angestammten Heimat meist entfremdet werden
und sich bald mit den anderen Nationen amalgamiren. Die griechischen Kolo¬
nisten breiteten mit ihren Ansiedelungen auch ihre Sprache aus und setzten dadurch
zu einer Zeit, wo es nicht nur nicht Sitte, sondern auch fast unmöglich war,
fremde Sprachen zu erlernen, ihre Stammverwandten in den Stand, an den
von ihnen angebauten Küstenstrecken mit Leichtigkeit Handelsbeziehungen arm--
knüpfen und von da aus in das Innere vorzudringen. Die römischen Kolo¬
nisten schufen die romanischen Sprachen, die sich in wenig Jahrhunderten so
gefestigt hatten, daß selbst die Stürme der Völkerwanderung wirkungslos an
ihnen vorüberbrausten; die auf Raubbau ausgehenden Spanier und Portu¬
giesen verpflanzten ihre heimatlichen Idiome dergestalt in die neue Welt, daß
sie ihren eigenen Aufenthalt daselbst lange überdauern werden; die englische
Sprache endlich hat sich mit Ausdehnung des englischen Kolonialbesitzes ein
so großes Gebiet erobert, daß sie als die verbreitetste Sprache bereits von
94 Millionen Menschen gesprochen wird, und die Stellung als Weltsprache ihr
nahezu gesichert erscheint. Nur die deutsche Sprache, die doch eine so reiche
und vielseitige Literatur besitzt, die Sprache derjenigen Nation, die sich ohne
Ueberhebung rühmen darf, die gebildetste, die gelehrteste zu sein, die Sprache
der modernen Grammatiker und Philologen, sie hat in der neuen Welt keine
Heimstätte gefunden, wo sie ausschließlich und anerkanntermaßen herrschte, sie
ist auf die alte Welt beschränkt geblieben, und selbst hier beginnt sie an ihrer
Peripherie Einbuße zu erleiden. Man halte den Schmerz über diese Erschei¬
nung nicht für einen Ausfluß nationaler Eitelkeit; es ist ein positiv materieller
Nachtheil mit ihr verbunden. Da wir nirgends außerhalb Europa's unser
Idiom herrschend antreffen, so sind wir genöthigt, sobald wir unsere Grenzen
überschritten haben, uns fremder Sprachen zu bedienen; das Erlernen fremder
Sprachen, das jetzt schon einen großen Theil der unserer Jugendbildung ge¬
widmeten Zeit aufzehrt, wird immer größere Dimensionen annehmen und zwar
wiederum auf Kosten unserer Muttersprache und anderer wichtiger Unterrichts¬
zweige, und die Hoffnung, daß unsere Jugendbildung endlich einmal eine
nationale werde, wird immer mehr schwinden.
Und doch, bei all' diesen Nachtheilen, hat es fast den Anschein, als hätte
die Auswanderung wenigstens den einen Vortheil für Deutschland gehabt, daß
sie ihm die überschüssige Bevölkerung entführte und es so vor einer Über¬
völkerung schützte, die möglicherweise vielleicht noch viel schlimmere Erscheinungen
hervorgerufen haben würde — ein Gesichtspunkt, der besonders in jüngster
Zeit hervortrat, wo die Auswanderung nicht nur beträchtlich nachließ, sondern
auch eine nicht unbedeutende Rückwanderung erfolgte. Die letzten Zählungen
haben ergeben, daß die Bevölkerung des Deutschen Reiches rapid wächst und
ihre Zunahme sich in Progressionen bewegt, welche die Besorgniß wach rufen,
daß Deutschland in nicht allzuferner Zeit nicht mehr im Stande sein möchte,
seine Einwohner genügend zu beschäftigen und zu ernähren, und daß mit dem
steigenden Pauperismus auch die soziale Frage in ein immer bedenklicheres
Stadium treten möchte. In den Jahren 1367 —1875 war die Bevölkerungs¬
ziffer von 40,093279 auf 42,727 360 gestiegen, so daß die jährliche Zunahme
im Durchschnitt 326 760 oder 0,83 Prozent betrug, wobei jedoch zu berück¬
sichtigen bleibt, daß die Nachwirkungen der beiden Kriege von 1864 und 1866
sowie die Ereignisse der Jahre 1870—1871 einer schnellen Vermehrung hinder¬
lich waren. In den letzten beiden Jahren, 1875—1877, machte der Ueberschuß
der Geborenen über die Gestorbenen je 650000 Köpfe aus, sodaß nach Abrechnung
einer Auswanderung von jährlich etwa 50000 Seelen die jährliche Zunahme
600000 betragen würde. Denkt man sich diese Vermehrung in entsprechenden
Proportionen fortgesetzt, so wäre — schlecht gerechnet — in 50 Jahren die
Verdoppelung der Bevölkerung eingetreten, im Jahre 1933 Hütte Deutschland
eine Seelenzahl von 86 Millionen, im Jahre 1900 bereits eine Zahl von
mindestens 60 Millionen aufzuweisen. Bietet sich keine Möglichkeit, durch
Hebung und Wiederbelebung aller vorhandenen wirthschaftlichen Faktoren und
durch Auffindung neuer Erwerbszweige für eine so große Bevölkerung Beschäf-
tigung und Unterhalt zu schaffen, was alles um so ergiebiger sein müßte,
als selbstverständlich auch die Anforderungen der Staaten und Gemeinden für
Verwaltung, Militär und Marinewesen, Jugendbildung, kommunale Anlagen
u. dergl. sich proportional steigern werden, so ist es klar, daß im Gefolge einer
so große Dimensionen einnehmenden Verarmung auch noch andere Gefahren
erscheinen werden, die wir hier gar nicht zu berühren wagen. Aber selbst
angenommen, daß obige Zahl zu hoch gegriffen sei, und 1900 die Bevölkerung
nur auf etwa 55 Millionen gewachsen sein würde, müßte man nicht trotzdem
darauf bedacht sein, für die theils schon bestehenden, theils, und in noch größerem
Umfange, drohenden Mißstände geeignete Abhilfe zu schaffen? Wohin anders
soll es kommen, wenn die Anforderungen der Staaten und Gemeinden von
Jahr zu Jahr steigen, die Steuerkraft des Volkes aber, anstatt zu wachsen,
abnimmt, als zu einem allgemeinen Bankerott? Welche bessere Auskunft aber
könnte es andererseits geben als die der Kolonisation? Das Mutterland bliebe
vor Uebervölkerung geschützt, die Zurückbleibenden fänden lohnenderen Erwerb,
und die meisten der Uebelstände, welche der jetzigen Auswanderung anhaften,
würden verschwinden; die Kolonisten würden der Nationalität nicht verloren gehen,
sondern für sie Propaganda machen, für die deutsche Industrie wäre ein natür¬
liches Absatzgebiet geschaffen, der Handel fände vielseitige Thätigkeit und könnte
sich nach und nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit erringen, endlich aber
würde der deutschen Marine, die bisher nicht recht wußte, was sie eigentlich
thun sollte, eine würdige Aufgabe werden: nämlich der Schutz der deutschen
Kolonieen und ihrer Interessen. Denn vorläufig, hierin dürfte Fabri Recht
haben, sind die hohen Ausgaben für unsere Marine als ein Luxus anzusehen,
den sich ein so armes Land, wie Deutschland es ist, eigentlich nicht erlauben
dürfte.
Gesteht man die Nothwendigkeit der deutschen Kolonisation zu, so würde
es sich zunächst darum handeln, in welcher Form Kolonieen angelegt zu werden
pflegen. Fabri unterscheidet drei Hauptarten: Ackerbau-, Handels- und Straf-
kolonieen. Die letzteren bringt er allerdings nicht ohne eine gewisse Reserve in
Vorschlag. Eine vierte Art, die er Ausbeutungskolonieen nennt, und für die
man auch den Namen Raubkolonien einsetzen könnte, ist hauptsächlich von den
Spaniern und Portugiesen in Anwendung gebracht worden, verdient aber kaum
den Namen Kolonieen, da es jenen gar nicht auf regelrechte Besiedelung und
Kultivirung des Bodens ankam, sondern hauptsächlich aus Aneignung der vor¬
handenen mineralischen Schätze. Dafür sind sie freilich anch gestraft worden,
denn sie haben nicht nur ihren Kolonialbesitz verloren, sondern ihre Länder
selbst sind von ihrer einstigen Höhe bedeutend herabgesunken.
Ackerbau- und Handelskolonieen sind schon durch klimatische Verhältnisse
streng von einander geschieden. Erstere sind wohl im Stande, eine große
Menge Einwohner aufzunehmen und dauernd an sich zu fesseln, können aber
für Deutsche nur in gleichen Zonen oder in den subtropischen Gegenden ange¬
legt werden, da das tropische Klima unserm Organismus die anstrengende
Arbeit des Ackerbaues nicht gestattet. Die Gebiete, welche dafür in Betracht
kommen können, sind: Nordamerika, die südliche Hälfte Südamerika's, Süd¬
afrika, Australien, Neuseeland und einige Inselgruppen des stillen Ozeans,
Distrikte, die übrigens um so eher von den Europäern in Besitz genommen
werden können, als erfahrungsgemäß die Ureinwohner an ihrem primitiven
Kulturzustande als Jäger- und Fischervölker mit Zähigkeit festhalten und, abge¬
sehen von Einzelheiten, den Schritt zu der höheren Stufe des Ackerbaues nicht
thun wollen. Was die Rentabilität derartiger Anlagen anlangt, so gedeihen
in ihnen alle Kulturpflanzen Südeuropa's vortrefflich; die Erfahrungen der
letzten Jahrzehnte haben aber den Beweis geliefert, daß es nicht der Reichthum
an Gold und Edelsteinen ist, welcher dem Lande zu dauernder Prosperität ver-
hilft, sondern die Fruchtbarkeit und Ergiebigkeit des Bodens. Die Goldfelder
Kalifornien's und die Diamantgruben Südafrika's, die nur für kurze Zeit
hastigen Abbaues den Menschen an sich fesselten, nehmen jetzt, wo sie erschöpft
sind, eine jährlich steigende Zahl von Ackerbauern auf, die einen langsam aber
stetig zufließenden Reichthum sich erwerben, den Boden nicht berauben, sondern
einer erhöhten Ertragsfähigkeit zuführen und zum Sitz einer nach allen Seiten
sich ausbreitenden Kultur macheu. Handelskolonieen finden ihre Stelle in den
Tropen, würden sich aber für den Abzug unserer Bevölkerung nur von ge¬
ringem Werthe erweisen, da auf Bewohner unserer Zonen ein längerer Aufent¬
halt in ihnen erschlaffend und schließlich degenerirend wirkt. Dagegen sind sie
wichtig für die Erwerbung der für unsere Bedürfnisse unentbehrlich gewordenen,
aber nur den Tropen eigenthümlichen Naturprodukte, die wir jetzt vielfach erst
aus zweiter Hand empfangen. Dadurch würde zugleich die einheimiMe In¬
dustrie den nöthigen Stoff zur Verarbeitung zugeführt erhalten, um wiederum
eine große Bevölkerungszahl genügend beschäftigen zu können. Ein derartiges
Kolonialsystem verlangt allerdings, daß die Ureinwohner, wenn sie nicht schon
arbeitsam sind, zu stetiger Thätigkeit erzogen werden, eine Aufgabe, welche die
Anlegung von Handelskolonieen wesentlich erschwert. Daß sie indeß, mit Einsicht
und Vorsicht unternommen, gelingen kann, lehren die Erfolge der Engländer
und Holländer. Nicht nur Kaufleute und Seefahrer würden durch ein solches
System ein lohnendes Feld der Thätigkeit finden, sondern auch andere Berufs¬
zweige würden in großer Anzahl nöthig werden, der Gesichtskreis der ganzen
Nation würde sich erweitern, die allzusehr zum Theoretisiren hinneigende Natur
des Deutschen würde durch die wesentlich praktischen Aufgaben eine heilsame
Korrektur erfahren und die Freude am Erwerb vor dem Aufstapeln unnützer,
die Begriffe nur verwirrender Kenntnisse bewahren.
Aber selbst die Strafkolonieen können, in richtiger Weise angelegt, gute Er¬
folge erzielen und dem Mutterlande wichtige Dienste leisten, wie denn z. B.
Sibirien durch die dahin Verbannten wohnlicher geworden ist, und die jetzt
blühenden australischen Kolonieen englischen Verbrechern ihre Anlegung ver¬
danken. Nur darf man sich nicht den Vorgang Napoleon's zum Beispiel
nehmen, der die Verurteilten an die Fieberküste von Cayenne deportiren ließ,
denn das bedeutete doch nichts anderes, als sie einem gewissen Tode zu über¬
liefern. Ohne irgendwie die Anlegung solcher Kolonieen für das Deutsche
Reich empfehlen zu wollen, sei doch auf den einen Umstand hingewiesen, daß
mit Vermehrung der Bevölkerung und der in ihrem Gefolge sich ausbreitenden
Armuth leider auch die Zahl derjenigen Vergehen und Verbrechen sich steigert,
die mehr oder weniger in der Noth und dem Elend ihre Ursachen haben. Die
Beobachtungen der letzten Jahre gewähren auch dafür einen gewissen Anhalt.
Die Zahl der in den acht älteren Provinzen Preußen's wegen Vergehen und Ver¬
brechen neu eingeleiteten Untersuchungen stieg von 88 233 (1871) auf 145587
(1877), und in ganz Preußen belief sich die Anzahl der in Haft befindlichen
Personen 1871 auf 68 006, wogegen sie 1876 schon die bedenkliche Ziffer von
101952 erreicht hatte. Schritte auch diese Progression entsprechend weiter, so
ist es einleuchtend, daß die Unterbringung der Gefangenen dem Staate endlich
erhebliche Schwierigkeiten und Kosten bereiten würde.
Der dritte Hauptpunkt, die Frage nach dem Wie und Wo der Kolonieen,
ist bei weitem der schwierigste und bildet auch den schwächsten Theil von
E. Fabri's Erörterungen. Selbst wenn wir es unterlassen, die Frage zu stellen,
ob sich unsere Regierungen zu solchen ihnen bisher ganz ungewohnten Aufgaben
bereit zeigen werden*), bleibt es noch ein gewaltig schwieriges Werk, diejenigen
Theile der Erde ausfindig zu machen, welche die für Kolonialanlagen günstigen
Verhältnisse noch besitzen; die besten Gebiete — das kann und darf nicht ver¬
schwiegen werden — sind bereits mit Beschlag belegt. Jedenfalls bedarf dieser
Punkt noch einer sehr sorgfältigen Prüfung. Auch müssen die Stimmen der¬
jenigen gehört werden, welche verlangen, daß erst die Sumpf- und Moor¬
gegenden Deutschland's kulturfähig gemacht werden, wodurch ein nicht unbe¬
trächtliches Areal für den Landbau gewonnen werden könne. Aber einmal ist
ja damit nicht gesagt, daß mit der Anlegung von auswärtigen Kolonieen die
Besserung des Mutterlandes unterbleiben solle, im Gegentheil: das soll erst recht
geschehen, da erst dann die nöthigen Kapitalien flüssig werden würden, anderer¬
seits würde das ja immer nur ein Nothbehelf für die nächste Zukunft sein
und der Ruf nach Kolonieen später um so kräftiger erschallen, und dann viel¬
leicht in einer Zeit, wo die Bedingungen dafür noch ungünstiger liegen würden
als jetzt. Gänzlich frei für Kolonisation sind eben gegenwärtig nur noch
einige der Südsee-Inselgruppen, sowie die neu erschlossenen Theile von Süd¬
afrika. Wenn aber einmal die Reichsregierung für den Gedanken der Koloni¬
sation erwärmt wäre, dann würde auch die Schwierigkeit der Aufsuchung des
geeigneten Terrains sich mindern, denn eine politisch einflußreiche Macht würde
rasch diejenigen Hindernisse aus dem Wege räumen, die dem Privaten unter
den gegenwärtigen Verhältnissen unübersteiglich sind. Was aber etwa unsere
Nachbarn jenseits des Rheines und des Kanales zu solchen Unternehmungen
sagen würden, darüber brauchen wir uns kein graues Haar wachsen zu lassen.
Hat man sich bei der straffen Durchführung politischer Ideen nicht um ihre
Scheelsucht gekümmert, so braucht man sich erst recht keine Skrupel zu machen,
wo es sich darum handelt, eine Lebensfrage des deutschen Volkes und der
deutschen Nationalität zu entscheiden. Vielleicht könnte ihnen die kolonisatorische
Thätigkeit mehr als alles andere die Ueberzeugung nahelegen, daß die deutsche
Regierung durchaus friedliche Zwecke verfolgt.
Keine Weltanschauung hat gegenwärtig in den Kreisen wissenschaftlich
Gebildeter, die mit dem Christenthum gebrochen haben, in einem solchen Maße
Eingang gefunden, wie der Pantheismus. Die Ursachen dieser Thatsache sind
nicht schwer aufzufinden. Der Pantheismus hat, oberflächlich betrachtet, etwas
Bestrickendes. Das Weltbild, das er zeichnet, ist einheitlich und geschlossen;
eine unabänderliche Nothwendigkeit verkettet durch den Zusammenhang von
Ursache und Wirkung die Dinge mit einander; alles Einzelne ist im Ganzen
und das Ganze in allem Einzelnen. Jede Erscheinung und alle besonderen
Kundgebungen derselben sind Bethätigungen von Kräften, die einem unüber-
schreitbaren Gesetze folgen.
Wie empfiehlt sich ein solches System einer Zeit, welche den unbestreitbaren
Vorzug besitzt, Zufall und Willkür aus ihrer Gesammtauffassung der Welt
entfernt und sie auf Regel und Ordnung begründet zu haben! Aber die Stärke
des Pantheismus ist auch seine Schwäche. Die Einheit des Systems ist theuer
erkauft, der Begriff des Zwecks und der Freiheit ist verloren gegangen. Das
sittliche Leben erscheint nur als eine höhere Form des Naturlebens, und in
Folge dessen verwandelt sich der sittliche Gegensatz von Gut und Böse in den
physischen Gegensatz von Kraft und Ohnmacht, von Gesundheit und Krankheit;
die Persönlichkeit des Menschen stellt nur eine vergängliche Gestalt des All¬
lebens dar, die in jenes zurückgenommen wird; ein schöpferischer, vorsehungsvoll
waltender Gott, der eins ist mit der Idee des Guten, hat hier keine Stelle, er
wird zum unbewußten Urgründe der Dinge oder zum Prozeß der Weltent-
wickelung herabgesetzt.
Aber muß dieser Verlust nicht einer Zeit als Gewinn erscheinen, die, wie
sehr sie sich auch auszeichnet durch die erfolgreichste Bearbeitung der sichtbaren
Welt, doch arm ist an sittlichen Idealen und jener sittlichen Energie entbehrt,
die sich hingebend nach ihnen ausstreckt?
Der Einfluß des Pantheismus ist auch da wahrnehmbar, wo er als
System abgelehnt, vielleicht mit Entrüstung abgelehnt wird. Blicken wir in
unsere belletristische Literatur, wie häufig drängt sich uns da die Beobachtung
auf, daß die Verfasser von der Voraussetzung sich leiten lassen, das Thun und
Lassen der Menschen sei nichts anderes als das nothwendige Ergebniß der so
oder so gearteten Persönlichkeit und das Bewußtsein der Freiheit nur ein
leerer Schein.
Es liegt auf der Hand, daß eine solche Beurtheilungsweise unserer Hand¬
lungen sittlich entnervend, ja demoralisirend wirken muß; daß der, welcher ein¬
mal dahintergekommen ist, daß unsere Freiheit nur eine Selbsttäuschung, ein
Wahngebilde ist, seinen Neigungen und Trieben keinen Widerstand entgegen¬
setzen, sondern willig ihnen Folge leisten wird.
Es gibt freilich eine Ueberspannung des Freiheitsbegriffes, die der Er¬
fahrung widerstreitet, und der wir nicht das Wort reden möchten. Zweifellos
sind wir nicht in der Lage, unser sittliches Sein als eine unbeschriebene Tafel
anzusehen, auf die wir nach unbedingt freier Wahl diese oder jene Zeichen
auftragen könnten; vielmehr finden wir beim Erwachen des sittlichen Bewußt¬
seins dieses schon als bestimmt und keineswegs nur als normal bestimmt vor.
Wir treten ein geschichtliches Erbe auch in sittlicher Beziehung an. Die Orga-
uisation unseres seelischen Lebens ist durch die sittliche Eigenthümlichkeit be¬
dingt, wie sie unsere Eltern in sich gestaltet haben. Und wieviel Faktoren
haben auf diese gewirkt, bis ihr individueller Charakter seine definitive Richtung
empfing! Und nun die Atmosphäre, die wir einathmen, der Einfluß, den
unsere häusliche Umgebung auf uns ausübt — wir sind ihrer Macht unter¬
worfen, noch bevor wir die Kraft besitzen, dagegen zu reagiren. Und wenn
wir uns vergegenwärtigen, wie in diesen Einflüssen sich das Ergebniß des
ganzen Verlaufs der Geschichte der Menschheit darstellt, so wird sich die Frage
gewiß begreifen lassen, ob einem so gewaltigen Faktor die einzelne Persönlichkeit
Widerstand zu leisten vermöge. Man könnte dem Gedanken Raum geben, daß die
menschliche Freiheit, in den Anfängen der geschichtlichen Entwickelung eine kräf¬
tige Potenz, im Laufe derselben sich doch mehr und mehr verringert habe, um
schließlich völlig zu verschwinden; und die Erfahrung würde, leichthin befragt,
vielleicht keine verneinende Antwort geben. Denn wieviele Persönlichkeiten zeigt
sie uns, die in der That nichts anderes zu sein scheinen als der Kreuzungs¬
punkt mannichfaltiger Einflüsse, welche bald ans der inneren Beschaffenheit des
Psychischen Mechanismus, bald von außen her auf das Ich eindringen, so daß,
wer sie zu übersehen vermöchte, auch das Thun und Lassen der einzelnen Per¬
sönlichkeiten mathematisch genau zu bestimmen im Stande wäre.
Aber allerdings, zu diesem Resultate könnte man eben nur gelangen, wenn
man die Erfahrung leichthin befragte, wenn man nur auf die Summe mittel¬
mäßiger Existenzen den Blick lenkte. Wer aber die Persönlichkeiten großer
Männer in's Auge faßt, wird zu anderen Schlüssen genöthigt werden. Denn
hier sehen wir den Einzelnen maßgebend werden für das Ganze, sehen ihn
seine Zeitgenossen auf Bahnen führen, die sie bis dahin nicht betreten hatten,
ja die sie als verderblich gemieden. Solche Persönlichkeiten geben ihrer Zeit
das Gepräge und bleiben auf lange für das Gebiet bestimmend, das sie zu
ihrem Arbeitsfelde gewählt haben. Und von hier aus füllt auch ein Licht auf
die Individuen, die, weniger glänzend ausgestattet, in kleinerem Kreise wirksam
sind. Auch hier sind doch die Persönlichkeiten nicht selten, die unter den un¬
günstigsten Umständen, im Kampf gegen drückende Verhältnisse, körperliche Ge¬
brechlichkeit, trübe Stimmungen, leidenschaftliche Erregtheit Sieger bleiben.
Und auch da, wo wir die Thätigkeit individueller Freiheit nicht wahrzunehmen
Pflegten, werden wir plötzlich durch Aeußerungen derselben überrascht, so daß
wir an ihrem Dasein nicht zweifeln können. Gewiß, wir können die Menschen in
zwei Gruppen sondern, in Persönlichkeiten, die vorwiegend spontan, aktiv, be¬
stimmend sind, und in andere, denen vorwiegend Rezeptivität, Passivität, Bestimm¬
barkeit eigen ist; aber dieser Unterschied ist ein relativer, kein absoluter. Wie die
Individuen, die durch Initiative sich auszeichnen, doch wie in einem Brennpunkte
die Bestrebungen ihrer Zeit sammeln, um ihnen neue Wege zu weisen, so
lenken auch die Persönlichkeiten, die nur Durchgangspunkte verschiedener Strö¬
mungen zu sein scheinen, doch, wenn auch in beschränktem Maße, diese Strö¬
mungen ab und bewähren so ihre Selbständigkeit.
Nur eine solche Anschauung, welche der menschlichen Persönlichkeit die
Freiheit, wenn auch eine gradweise abgestufte Freiheit, zuerkennt, rettet den
Begriff der Geschichte als einer von der Natur, ihren Gesetzen und Bedingungen
wesentlich verschiedenen Entwickelung.
Freilich bedürfen wir noch eines anderen Begriffes, um diese in ihrer
Eigenart zu verstehen; des Begriffes des Zweckes, des objektiven Zweckes, der
durch alle subjektiven Absichten hindurch sich verwirklicht, wenn die Geschichte
nicht in eine Vielheit von Ereignissen sich auflösen soll, die wohl durch das
Kausalitätsgesetz, aber nicht durch innere Einheit mit einander verknüpft sind,
die wohl durch den Zwang äußerer Nothwendigkeit, aber nicht durch die Macht
einer Idee, welche den Entwickelungen Sinn und Bedeutung verleiht, zusam¬
mengehalten werden. Es ist die Welt der Ideen, deren Verwirklichung wir als
den objektiven Zweck der Geschichte betrachten müssen, wenn sie uns nicht als
gleichgiltiges Spiel wechselnder Naturkräfte erscheinen soll. Diese Ideen sind
es, welche der Einzelne, wie die Menschheit als Ganzes sich aneignen muß,
damit ihre Freiheit inhaltvoll, eine sittliche werde. Denn die Freiheit als leere
Fähigkeit der Willkür und Wahl hat um ihrer selbst willen keinen Werth; ein
solcher kommt ihr nur insofern zu, als sie allein das Werkzeug ist, durch
welches die Ideen innerlich angeeignet werden.
Diese Ideenwelt ist inbegriffen in den drei fundamentalen Prinzipien des
Guten, Wahren und Schönen, von denen das erste dem Wollen und Handeln
die Richtung gibt, das zweite das Ziel des Erkennens bildet, das dritte der
gestaltenden Phantasie als Objekt erscheint. Und diese drei Ideen stehen nicht
nebeneinander, sondern ergänzen sich zur Einheit.
Das Gute wird durch das Wahre bedingt; auch die beste Gesinnung kann
Irrwege einschlagen, wenn ihr nicht die Fackel der Wahrheit, von der Erkennt¬
niß entzündet, voranleuchtet; und die Erkenntniß der Wahrheit leuchtet, aber
wärmt nicht, wenn sie nicht in der mit dem Guten geeinten Gesinnung Wirk¬
lichkeit gewonnen hat.
Schwerer ist die Beziehung des Wahren und Guten zum Schönen zu be¬
stimmen, da dasselbe vorhanden ist, auch ohne daß die bewußte Arbeit des
Menschen es hervorgebracht hat, und auch da, wo dies der Fall ist, dasselbe
theils als ein von der menschlichen Persönlichkeit lösbares Gebilde, theils als
eine mit ihr verknüpfte, an ihr sich kuudthuende Erscheinung uns entgegentritt
und so eine verschiedene Beurtheilung fordert.
Betrachten wir zuerst das Schöne, insofern es durch das bewußte Thun
des Menschen entsteht, also den Inhalt der Kunst und Dichtung bildet. Hier
ist es leicht, den Zusammenhang des Schönen mit dem Guten zu erkennen, so
lange wir in der Sphäre der Dichtung verweilen; denn mag sie uns im Drama
und Epos die Geschicke des Menschenlebens vergegenwärtigen in seinen Kämpfen
und Siegen, in seinen Schmerzen und Leiden, mag sie in der Lyrik die innersten
Gefühle der Seele, ihre Trauer und ihre Freude ausklingen lassen, nie wird
die echte Poesie die Empfindungen und Anschauungen des blos sinnlich be¬
stimmten Menschen feiern, sondern das Ewige in ihm, seinen Zusammenhang
mit der unsichtbaren ewigen Weltordnung, die sittlichen Gesetzen gehorcht, zum
Ausdruck bringen. Und die Verknüpfung des Lyrischen mit dem Ethischen ist
auch zugleich der Schlüssel des Verständnisses für das Verhältniß, das die
Musik zu diesem einnimmt, die Musik, in der die unaussprechbaren Gefühle
des Menschen zum Ausdruck gelangen. Lofer geschürzt ist das Band, das die
bildende Kunst mit dem Guten verknüpft, aber doch auch nicht schwer zu er¬
kennen. Denn das ist ihr ja in allen Gestalten eigen, auf das Harmonische,
gerichtet zu sein und das Disharmonische nur insoweit in die Darstellung auf¬
zunehmen, als es von einem höheren Gesichtspunkt aus in die Harmonie eines
Ganzen sich einfügt. Hier ist der Punkt, wo sich die bildende Kunst mit der
Idee des Guten berührt. Denn diese verwirklicht sich nur unter der Bedingung
harmonischer Lebensgestaltung, hat diese zum Zweck und den Frieden der Seele,
d. h. harmonische Gesammtstimmung zur Folge; wie denn auf der andern
Seite das sittlich Böse durch disharmonische Lebensgestaltung entsteht, eine
Steigerung derselben hervorbringt und von disharmonischer Gesammtstimmung
begleitet wird.
Nach diesen Ausführungen wird es eines Nachweises der Beziehungen
zwischen der Idee des Guten und der Auffassung des Naturschönen nicht be¬
dürfen, und wenige Worte werden genügen, um den Zusammenhang zwischen
dem Schönen und Wahren zu zeigen. Einmal ist derselbe ein mittelbarer, in¬
sofern das Gute mit dem Wahren unlösbar verknüpft ist, dann aber auch ein
unmittelbarer, indem die Erzeugung des Schönen an die Erkenntnisse der Ge¬
setze geknüpft ist, denen die Wirklichkeit gehorcht. Denn nur, was innerhalb
dieser Schranken möglich ist, kann den Gegenstand künstlerischer Thätigkeit bilden.
Diese Ideenwelt, die in den drei Prinzipien des Guten, Wahren und
Schönen sich zusammenfaßt, ist es, welche den Inhalt der menschlichen Freiheit
bilden soll. Die Verwirklichung derselben in allen Gebieten, durch alle Be¬
thätigungsweisen des menschlichen Geistes ist der Zweck der Geschichte. Hier
erhebt sich nun aber die schwierige Frage, welche, zumal in der christlichen Zeit,
die größten Denker beschäftigt hat: Ist eine Entwickelung der Menschheit denk-
bar, durch welche die Verfehlung der Ziele, die Abweichung von der rechten
Bahn, auch eine nur zeitweise oder theilweise, hätte ausgeschlossen werden können?
Oder ist der Gedanke einer solchen nur da möglich, wo mit Phantasiegebilden,
aber nicht mit realen Größen gerechnet wird?
Im Sinne der letzteren Alternative ist diese Frage sowohl vom Stand¬
punkte des religiösen Determinismus, wie er in der Prädestiuationstheorie
Platz gegriffen hat, als auch von dem des philosophischen Determinismus, wie
er in den pantheistischen Systemen maßgebend ist, beantwortet worden. Nur
vereinzelt ist auch da, wo weder diese noch jene Voraussetzung vorhanden war,
einer solchen Entscheidung Raum gegeben worden. Im Allgemeinen aber geht
beides Hand in Hand, der Determinismus und die Behauptung der Unver¬
meidlichkeit der Sünde für die sittliche Entwickelung der Menschheit auf der
einen, die Freiheitslehre und die Behauptung der Vermeidlichkeit der Sünde
für dieselbe auf der andern Seite.
In diese Untersuchungen schlägt eine kleine Schrift ein, mit deren Ge¬
dankengang wir unsere Leser um so lieber bekannt machen, als wir uns im
Wesentlichen mit ihr in Uebereinstimmung wissen: „Das Problem des Bösen"
von A. L. Kym, Professor der Philosophie in Zürich.«) Mit Recht wird
hier die Theorie von der Sinnlichkeit als dem Ursprung des Bösen zurückge¬
wiesen. Die Sinnlichkeit als solche ist nicht böse, vielmehr ihrem innersten
Wesen nach dazu bestimmt, der Verwirklichung des Guten zu dienen. Nur
dann fällt sie unter den Gesichtspunkt des Bösen, wenn sie die Herrschaft im
Leben des Menschen gewonnen hat, und zwar nicht in Folge des Uebergewichtes,
das ihr in den Anfängen unserer Entwickelung naturgemäß zukommt, sondern
vermöge einer freien Entscheidung des Willens für sie. Denn die Bestimmt¬
heit des Kindes durch sinnliche Begehrungen ist nicht böse, sondern verträgt
sich sehr wohl mit Reinheit und Unschuld. Da, wo die geistig sittliche Instanz
nach den Gesetzen der göttlichen Weltordnung noch so schwach ist, daß sie dem
sinnlichen Faktor keinen erfolgreichen Widerstand zu leisten vermag, kann der
Begriff des Bösen nicht zur Anwendung kommen. Fichte hat in der Trägheit
den Grund des Bösen gesucht, und soweit diese nicht leiblich bedingt ist, sondern
im Mangel an sittlicher Energie ruht, ist sie in der That eine Eigenschaft des
Bösen, denn das Gute ist Thätigkeit. Aber als eine ausreichende Bestimmung
des Bösen können wir auch die Trägheit nicht ansehen, denn sie ist nur ein
negativer Begriff und umfaßt deshalb nicht diejenigen Gestaltungen desselben,
in denen es als Positivität und Energie erscheint. Ebenso wenig können wir
Spinoza zustimmen, der, nach dem Vorgange der griechischen Philosophie, in
der Reflexion, in dem Mangel an rechter Erkenntniß, im Irrthum die Quellen
des Bösen sucht. Denn wenn es auch richtig ist, worauf wir vorher hinge¬
wiesen haben, daß das Gute an die Erkenntniß der sittlichen Idee als an die
Bedingung seiner Verwirklichung geknüpft ist, so schließt doch die Erkenntniß
des Guten noch keineswegs das Vollbringen desselben ein; und ein Irrthum
oder ein irrthümliches Handeln, das mit keiner falschen Willensrichtung sich
verbände — wir lassen vorläufig dahingestellt, ob ein solcher Fall möglich
ist —, fiele auch nicht unter den Begriff des Bösen.
Wir müssen aber noch einmal auf die Theorie von der Sinnlichkeit als
der Ursache des Bösen zurückkommen. Ist es auch richtig, daß die Sinnlichkeit
als diese Ursache nicht angesehen werden kann, wenn wir sie in ihrer Beziehung
Zum sittlichen Faktor betrachten, insofern derselbe als gleichzeitig und von
gleicher Stärke im Subjekt vorausgesetzt wird, so gewinnt diese Theorie doch
eine andere Beleuchtung, wenn wir die successive Entwickelung des Menschen
in das Auge fassen. Vergegenwärtigen wir uns, daß diese zuerst unter der
Herrschaft der Sinnlichkeit, dann erst unter der Herrschaft des Geistes sich
vollzieht, vergessen wir ferner nicht, daß die sinnlichen Triebe als solche, isolirt
von dem geistigen Einfluß, selbstischer Natur sind, so liegt es nahe anzunehmen,
daß, wenn das geistige Element die ihm gebührende Stellung in Anspruch
nehmen will, es schon einen kräftig gewordenen Egoismus im Menschen vor¬
findet, der ihm Widerstand leistet,, und daß aus diesem Gegensatze des durch
die Herrschaft der Sinnlichkeit hervorgebrachten Egoismus und des nun erst später
sich bezeugenden geistigen Faktors mit Nothwendigkeit das Böse sich bildet.
Aber die Voraussetzung ist unzutreffend, auf welche dieser Einwand, den wir
bei hervorragenden Theologen und Philosophen der neueren Zeit wie Hegel
und Schleiermcicher finden, begründet wird. Es ist thatsächlich nicht so, daß
die Abhängigkeit des Menschen von der Sinnlichkeit, wie sie längere Zeit hin¬
durch seine Entwickelung bestimmt, als eine so unbedingte zu betrachten wäre,
daß dieselbe nothwendiger Weise die Wirksamkeit aller geistigen und sittlichen
Einflüsse ausschlösse. Mau kann nur von einem Ueberwiegen des sinnlichen
Faktors in diesem Stadium reden.
Anders stände es, wenn die Kenntniß der sittlichen Idee Nur als eine
erworbene, durch die Erfahrung gewonnene zu begreifen wäre, wie der Sen¬
sualismus behauptet; wenn also in Folge lang anhaltender Unkenntniß der
sittlichen Forderungen dem egoistischen Begehren einer ungezügelten Sinnlichkeit
weiter Raum gegeben wäre. Aber diese Voraussetzung bestreiten wir, ebenso
freilich den unmöglichen Gedanken des Spiritualismus, daß die Kenntniß der
sittlichen Idee vor jeglichem Handeln dem Bewußtsein als angeborenes Erbe
gegenwärtig sei.
Vielmehr stimmen wir Kym völlig bei, wenn er das Sittengesetz nicht
zeitlich, sondern nur begrifflich als dem Handeln vorangehend bezeichnet, un¬
mittelbar durch die Handlung aber auch in das Bewußtsein des Handelnden
treten läßt. Der Charakter der Allgemeinheit, welcher der sittlichen Norm eigen
ist, verbietet es, sie als von außen stammend anzusehen, er nöthigt, in der
Seele selbst ihren Ursprung zu suchen; dagegen ist die Entwickelung der sitt¬
lichen Idee im Bewußtsein durch eine Reihe von Erfahrungen bedingt, wie
sie allmählich im zeitlichen Verlause gemacht werden. Durch die einzelnen
Akte, in welcher das Subjekt das von außen gegebene Material unter die
allgemeine Idee subsumirt, erweitert sich das sittliche Bewußtsein, das wir
also als ideal begründet, aber empirisch bedingt zu betrachten haben; es er¬
weitert sich, aber es vertieft sich auch, indem, was ursprünglich nur durch
ein instinktartig wirksames Gefühl vernommen wurde, immer mehr in das
klare Licht der Erkenntniß tritt.
Es gibt allerdings auch eine ausschließliche Herrschaft der Sinnlichkeit über
den Menschen, aber diese währt zu kurze Zeit, als daß daraus der sittlichen
Entwickelung Schaden erwachsen könnte. Wir denken an die dem Erwachen
des Selbstbewußtseins vorangehende unbedingte Thätigkeit des sinnlichen Be¬
wußtseins. Sehen wir aber von diesem Entwickelungsstadium ab, so findet
sich immer beides mit einander verbunden, das sinnliche und das geistig-ethische
Element, und jenes zeigt sich keineswegs in einer Stärke, durch welche es den
Einfluß dieses gefährden müßte. Vielmehr fällt die Machtentfaltung der
Sinnlichkeit in eine Zeit, in welcher bei normaler Entwickelung sich schon ein
kritisches sittliches Bewußtsein gestaltet hat. Man wird daher auf einen Vor¬
sprung des sinnlichen Bewußtseins, der so kurz bemessen ist, keinen Werth
legen dürfen.
Wenn wir nun die unmittelbar darauf folgende Bildungsperiode des
Menschen ebenfalls als eine durch die Sinnlichkeit bestimmte charakterisiren,
so geschieht das nicht in der Meinung, daß während derselben der Einfluß des
sittlichen Faktors unzureichender sei und dieses Stadium selbst der sittlichen
Norm widerspreche, sondern nur, um die Bestrebungen, Interessen und Ge¬
sichtskreise, die für das Denken und Wollen dann maßgebend sind, zu bezeichnen.
Diese bilden aber eine normale und naturgemäße Entwickelungsstufe, die dem
kindlichen Alter angemessen und entsprechend ist. Die sittliche Reinheit des
Kindes wird ja nicht dadurch gestört, daß es überwiegend sinnlichen Begeh-
rungen zugewandt ist, sondern nur dadurch, daß es den regelnden Schranken
sich entzieht, welche die sittliche Norm in Bezug auf die Befriedigung dieser
Begierden aufrichtet.
Eine andere Frage ist es, ob wir den Irrthum auf sittlichem Gebiete
ebenfalls als vermeidlich bezeichnen dürfen. Kym geht schnell über diese Frage,
die er verneinend beantwortet, hinweg. Und doch ist sie keineswegs so leicht
zu entscheiden. Schon in dem theoretischen Irrthum sieht Schleiermacher eine
fehlerhafte Gesinnung thätig. „Aller Irrthum, sagt er, ist Uebereilung."*) Und
so verhält es sich auch. Der theoretische Irrthum entsteht aus der Trägheit
der Selbstsucht, die eine Untersuchung zu früh abschließt, sei es, um überhaupt
der Anstrengung zu entgehen, welche ihre weitere Fortsetzung mit sich führen
würde, sei es in dem Vorgefühl, dadurch im Besitz einer lieb gewordenen Vor¬
stellung gefährdet zu werden. Beides aber erscheint als ein Uebel, das geflohen
werden muß. Es kommt hierzu, daß tief im menschlichen Gemüthsleben das
Bedürfniß nach einer Gesammtanschanung der Dinge begründet ist, das
schleunige Befriedigung fordert. Wie soll diese aber gewonnen werden? Auf
dem Wege wissenschaftlicher Erkenntniß? Er ist lang, unsicher das Ziel, und
das Gemüth will nicht warten. Nun stehen ihm allerdings zwei Quellen
offen, aus denen es schöpfen kann: einmal die Religion, die ja das gerade als
Eigenthümliches besitzt, auf ein Ganzes gerichtet zu sein, eine in sich zusammen¬
stimmende Erkenntniß zu gewähren; sodann die Poesie, in welcher die Phantasie
die Lücken des Erkennens mit frei geschaffenen Gebilden ausfüllt. Und wir
können uns denken, daß bei Kräftigkeit der Religion und reger Thätigkeit der
Phantasie die Gefahr des Irrthums geringer werde. Wenn nur nicht gerade
hier die Trägheit neue Stützpunkte fände, indem sie bald im Namen der
Religion der Wissenschaft hemmend in den Weg tritt oder, um die begriffliche
Arbeit sich zu erleichtern, sich selbst täuschend, diese durch die Thätigkeit der
Phantasie unterbricht und deren Erzeugnisse in die Erträge des Gedankens
mischt, bald nach einem beschränkten Maßstab, von Gesichtspunkten aus, die
auf einem kleineren Arbeitsfelde sich bewährt haben, die wissenschaftliche Er¬
kenntniß der gestimmten Welt zu gewinnen wähnt. Auch hier zeigt es sich: der
Irrthum erwächst aus der Trägheit, der Selbstsucht. Ist diese vermeidlich,
dann auch der theoretische Irrthum. Wie steht es aber nun mit dem
praktischen Irrthum?
Wir halten ihn allerdings für unvermeidlich. Denn das normale Handeln
ist von zwei Faktoren abhängig, einem idealen, der auf das Gute gerichteten
Gesinnung, und einem empirischen, der Erkenntniß der Beschaffenheit, welche
der äußeren Welt eigen ist. Ist beides in fehlerloser Gestalt vorhanden, so
kann das Handeln normal, d. h. objektiv zweckmäßig sich vollziehen. Daß
keine Nothwendigkeit einer abnormen Entwickelung für die Gesinnung vorliegt,
haben wir gesehen, aber verbürgt diese auch eine fehlerlose Erkenntniß der
Wirklichkeit? Der theoretische Irrthum ist vermeidlich, denn das erkennende
Subjekt ist nicht genöthigt, die vorhandenen Schranken des Erkennens zu über¬
schreiten; aber wie, wenn die Pflicht des Handelns vorliegt, und die Sphäre
desselben ein noch nicht erkanntes Gebiet bildet, wenn der Nichtwissende handeln
muß? Hier ist ein irrthümliches, fehlerhaftes Handeln unvermeidlich; aber es
ist auch klar, daß dasselbe in keiner Hinsicht unter den Begriff des Bösen fällt.
Wir kommen also zu dem Endergebniß, daß auch die Bedingungen, an
welche die menschliche Entwickelung geknüpft ist, uns nicht zu der Annahme
berechtigen, das Böse habe, wenn auch nur als Durchgangspunkt, geschichtliche
Wirklichkeit werden müssen. Und das wird uns um so begreiflicher erscheinen,
wenn wir die Autorität in's Auge fassen, welche das Sittengesetz begleitet, und
welche sich unmittelbar dem Bewußtsein bezeugt. Diese Autorität ist eine un¬
bedingte und versetzt in vollkommene Abhängigkeit. Man kann ihr den Gehorsam
versagen, aber auch so wird ihre uneingeschränkte Hoheit gefühlt. Wir haben
ihr gegenüber ein religiöses Verhältniß; noch mehr, in der Beziehung zu ihr
liegen die Wurzeln der Religion. Im Sittengesetz offenbart sich Gott als der
Absolute, und die populäre Bezeichnung des Gewissens als der Stimme Gottes
hat metaphysische Wahrheit.
In der sichtbaren Natur thut sich uns die Macht Gottes kund; aber erst,
wenn die Natur als Einheit erkannt ist, begreifen wir diese Macht als eine
und deshalb unbedingte. Zugleich ist hier die Stätte, an welcher sich die
göttliche Weisheit enthüllt; aber welcher langen Entwickelungen bedarf es, um
die Zweckmäßigkeit der Organisation im irdischen Dasein wahrzunehmen, und
wieviel Lücken werden hier immer unausgefüllt, wieviel Widersprüche unbehelligt
bleiben! Im Sittengesetz dagegen erscheint uns Gott als das oder richtiger als
der absolut Gute und zugleich als Macht und Weisheit; als Macht vermöge
der Gewalt, die das Sittengesetz über uns ausübt, als Weisheit, weil dasselbe
die harmonische Regulirung des menschlichen Lebens vermittelt.
Ist auf diesem Boden das Gottesbewußtsein, die Religion, gepflanzt, dann
ist die Möglichkeit gegeben, unmittelbar auch in der äußeren Welt einen Spiegel
göttlicher Gedanken zu erkennen, noch bevor die eingehende Untersuchung der¬
selben das Recht dazu verliehen hat. Denn im Sittengesetz tritt der Gegensatz
eines unbedingt Bedingenden und eines unbedingt Bedingten in das Bewußt¬
sein, und wenn sich der Mensch nach allen seinen Beziehungen einem Absoluten
untergeordnet weiß, so muß er auch die Welt außer ihm, die er nach der
Analogie mit sich beurtheilen darf, weil er sich mit ihr zu einem Ganzen
verflochten weiß, als von derselben Autorität abhängig voraussetzen. Es liegt
auf der Hand, daß die religiöse Gestaltung der Beziehung zum Sittengesetz
und die dadurch vermittelte religiöse Auffassung der wirklichen Welt für die
Möglichkeit einer normalen Entwickelung der Menschheit neue Stützpunkte
darbietet.
Wir halten daher daran fest: das Böse stammt ausschließlich aus der
Freiheit, es ist kein Schicksal, dem der Mensch nicht entgehen könnte, es ist
seine That, für die er verantwortlich ist. So müssen wir über das Böse
urtheilen, wenn wir sein Entstehen in der Menschheit in das Auge fassen.
Anders erscheint es uns allerdings, wenn wir, nachdem das Böse geschichtliche
Wirklichkeit geworden ist, die Beziehung des Individuums zu demselben zu
begreifen suchen. Wenn wir die einzelne sittliche Selbstentscheidung des Menschen
als ein für sein inneres Sein indifferentes, nur flüchtige Spuren hinterlassendes
Thun betrachten dürften, wenn wir ferner die sittliche Richtung, die der Einzelne
einschlägt, als ein die menschliche Gemeinschaft, ihren sittlichen Werth nicht,
oder doch wenig berührendes Ereigniß ansehen könnten, müßten wir freilich
anders urtheilen. Aber weder dies noch jenes ist der Fall. Jede That, die
unter die Norm des Sittengesetzes fällt, übt einen Einfluß auf unsern sitt¬
lichen Gesammtzustand aus; wir sind nachher nicht mehr dieselben wie vorher.
War unsere Handlung der sittlichen Idee entsprechend, haben wir in ihr diese
prinzipiell, wenn auch dies letztere unbewußt, bejaht, so hat unsere Gesinnung
eine Richtung auf das Gute erhalten, die das Ausüben desselben für die fol¬
gende Zeit erleichtert. Auf der andern Seite: war unsere Handlung der sitt¬
lichen Idee widersprechend, haben wir in ihr dieselbe prinzipiell, wenn auch
dies letztere unbewußt, verneint, so hat unsere Gesinnung eine Richtung vom
Guten weg auf das Böse hin erhalten, welche für die folgende Zeit die Aus¬
übung jenes erschwert, die Vollbringung dieses erleichtert.
Aber noch weiter müssen wir die Spuren unseres Thuns für das sittliche
Leben verfolgen; ist dieses doch nicht zu verstehen, ohne daß wir den Zusam¬
menhang uns vergegenwärtigen, in dem es sich mit unserm gesummten Sein,
dem geistigen und dem sinnlichen, befindet. Hier stellt sich uns jedoch eine
Aufgabe, die sich nur erledigen läßt, indem wir das Wesen des Bösen begrifflich
bestimmen.
Die Erkenntniß des Bösen ist an die Erkenntniß des Guten geknüpft, als
dessen Widerspruch es sich bildet. Hat das Gute zu seinem Inhalt die Unter¬
ordnung des selbstischen unter das Allgemeine, so das Böse die Unterordnung
des Allgemeinen unter das Selbstische. Die entgegengesetzte Stellung dieser
beiden Mächte bringt die Differenz zwischen dem Guten und Bösen hervor.
Aber diese Differenz kann nicht auf die ethische Sphäre beschränkt bleiben, sie
ist von metaphysischer Bedeutung. Denn die Verwirklichung des Guten ist die
Bedingung für die Organisirung, für die harmonische Ausgestaltung des mensch¬
lichen Lebens; die Ausübung des Bösen ist Hemmung dieses Prozesses, Des-
organisation, disharmonische Ausgestaltung des menschlichen Lebens. Durch
die einzelne böse Handlung, mag ihr Gegenstand noch so geringfügig sein, wird
das zur Unterordnung unter das Allgemeine bestimmte selbstische Prinzip frei,
autonom, und dadurch ist die innere Einheit des geistigen Lebens zerstört, es
klafft in den Widerspruch zweier sich entgegengesetzter Potenzen auseinander.
In Folge dessen tritt eine Entfremdung zwischen der in sich gespaltenen Per¬
sönlichkeit auf der einen und dem Sittengesetz und Gott, der sich durch dasselbe
offenbart, auf der andern Seite ein; eine Entfremdung, die eine Verdunkelung
der sittlichen und religiösen Erkenntniß und eine Schwächung der religiösen
und sittlichen Kraft nach sich zieht. Mit der Entfesselung des selbstischen
Prinzips zugleich wird aber auch das sinnliche Element frei, in welchem dieses
seine organische Basis hat, und damit vollzieht sich der Prozeß der Zersetzung
und Auflösung.
Vergegenwärtigen wir uns endlich die Folgen, welche die Verwirklichung
des Bösen im Individuum für das Ganze der Menschheit hervorbringen muß.
Es handelt sich hier um eine Frage, deren Beantwortung verschieden ausfallen
wird, je nachdem ein einheitlicher oder ein vielfacher Ursprung des Menschen¬
geschlechts und je nachdem die geschichtliche Verwirklichung des Bösen im An¬
fange oder im Fortgange desselben vorausgesetzt wird. Die Frage läßt sich
also nicht rein metaphysisch beantworten, sondern nur von einer bestimmten
geschichtlichen Gesammtanschauung aus. Vom rein metaphysischen Standpunkte
aus läßt sich nur ein zweifaches behaupten: einmal daß die Verwirklichung
des Bösen im Individuum den sittlichen Zustand der Mitlebenden gefährden
muß, insofern die Versuchung zum Bösen kräftiger an sie herantritt; sodann,
daß die aus dem Bösen hervorgehende Desorganisation des inneren Lebens,
welche die Keime für eine nothwendig weitergehende Entwickelung des Bösen
in sich schließt, durch Zeugung und Geburt sich fortpflanzt.
Es liegt außerhalb der Absicht dieses Aufsatzes, die Berechtigung einer
bestimmten geschichtlichen Gesammtanschauung zu erweisen, er wollte sich auf
das metaphysische Gebiet beschränken; daß es aber in der Konsequenz der hier
entwickelten Auffassung liegt, die geschichtliche Verwirklichung des Bösen in den
Anfängen des Menschengeschlechts zu suchen und dies auf einen einheitlichen
Ursprung zurückzuführen, wird leicht erkennbar sein.
Seitdem Gustav Freytag in seinen „Bildern aus der deutschen Vergangen¬
heit" gezeigt hat, welche Fülle kulturgeschichtlichen Materials in den von ihm
in ausgiebigerem Maße zuerst benutzten Hauschroniken, Reisetagebüchern, Briefen
und Selbstbiographieen des sechzehnten und der ersten Hälfte des siebzehnten
Jahrhunderts verborgen liegt, hat es sich die deutsche Forschung angelegen
sein lassen, immer mehr von jenen interessanten Dokumenten aus dem Staube
der Archive und Bibliotheken an das Tageslicht zu ziehen. Es gehören hierher,
außer den schon länger bekannten Selbstbiographieen des Götz von Berlichingen,
des Sebastian Schärtlin, des Hans v. Schweinichen, insbesondere die Auto-
biographieen des Johannes Butzbach (1526), der Thomas und Felix Platter
(1518 und 1557),*) des Bartholomeus Sastrow (1540), die Reisetagebücher
des Pellicanus (1516), Albrecht Dürer's (1521), des Ulrich Schmiedt (1534),
des Hans Ulrich Kraft (1573), des Samuel Kiechel (1585), des Ritters Breu-
ning (1579), des Grafen von Waldeck (1548), des Herzogs Friedrich von
Wirtenberg l1592,, des Benediktiners Reginbald Möhner (1651), die Brief¬
sammlungen Dürer's, die Zimmern'sche Chronik u. v. a. In diese Kategorie
gehört auch die Selbstbiographie des Augsburger Juristen Lucas Geizkofler.^)
In schlichter, schmuckloser Weise erzählt uns der Verfasser sein reichbewegtes,
von den mannichfachsten Eindrücken erfaßtes Leben. Den Hauptinhalt des
Buches bildet die Schilderung seiner Jugend, seiner Lehr- und Wanderjahre.
Ohne kunstvolle Gruppirung, in losem Zusammenhang führt er uns hier seine
eigenen Erlebnisse vor, herab bis zu den kleinsten Unfällen. Die Urtheile, die
er ausspricht, sind hänfig einseitig, die Anekdoten, die er erzählt, gewiß vielfach
zweifelhaft, aber überall zeigt er ein warmes Herz, einen edlen Sinn, einen
offenen und feinen Blick. Seine Schrift stellt uns zugleich mitten hinein in
das sechzehnte Jahrhundert, denn der Verfasser berichtet auch über die Refor¬
mationsversuche in Italien, über die Anfänge des Protestantismus in Tyrol,
über die Pariser Bluthochzeit, über die Universitäten von Straßburg und Paris,
über den Welthandel des Fugger'schen Hauses und über eine Menge von
Personen, mit denen er im Verkehr gestanden. Leider bricht die Erzählung
mit der Verheirathung und dauernden Niederlassung Geizkofler's in Augsburg
ab. Wie ein echter deutscher Bürger betrachtet er mit der Heirath und der
Gründung eines Hausstandes sein Leben innerlich und äußerlich für abge¬
schlossen. Was weiter sich ereignet, ist Geschäft, Arbeit oder gehört in das
innere Leben der Familie, das vor dem Einblick der Außenwelt sorgfältig ver¬
schlossen bleiben muß.
Lucas Geizkofler wurde am 18. März 1550 zu Sterzing in Tyrol ge¬
boren, als der zwölfte und jüngste Sohn seines Vaters, der dort als Bürger,
Gutsbesitzer und Gewerke ansässig war. Die Geizkofler gehörten zu den alten
Geschlechtern des Landes. Zwar machten sie später, als sie sich zu dem Stande
der Ritterbürtigen hinaufgearbeitet hatten, den Versuch, diesem ihren neuen
Adel eine solidere geschichtliche Basis zu geben, indem sie ihr Geschlechtsregister
bis in's zwölfte Jahrhundert, wo sie als ritterliche Mannen in der Oberpfalz
und im Nordgau seßhaft gewesen sein wollten, hinaufrückten: für den Einge¬
weihten hat ein solches Verfahren ungefähr denselben Werth wie jene An¬
nahme der Augsburger Chronisten des fünfzehnten Jahrhunderts, daß ihre
Vaterstadt in direkter Linie von den Amazonen oder gar von Paris dem
Trojaner herrühre. Die Wahrheit ist die, daß die Vorfahren der Geizkofler
einfache, ehrenwerthe Bauern der Stadt Sterzing gewesen sind. Hierauf deutet
schon ihre Name hin, dessen erste Silbe ja nichts anderes als „Ziege" bedeutet.
Schon während des fünfzehnten Jahrhunderts mögen sie dann allgemach ans
der Stufenleiter der gesellschaftlichen Rangklassen höher emporgestiegen sein:
die alten Sterzinger Stadtbücher nennen mehrere ihres Namens als Kirchen¬
pröpste, Rathsherren und Bürgermeister, bis sie dann im Jahre 1518 von
Kaiser Maximilian I. einen Wappenbrief — eine springende Gemse, zu der
später in einem zweiten Felde ein schreitender Löwe hinzukam — erhielten.
Es war dies zu der Zeit, als unseres Lucas Vater, Hans Geizkofler (1498
bis 1563), noch minderjährig sich des Studirens halber in Padua und Bologna
aufhielt. Als er in seine Vaterstadt zurückgekehrt war, Heirathete er im Jahre
1525 die reiche Erbin Barbara Kugler.
Dieser Hans Geizkofler wird uns in den Familienaufzeichnungen als ein
kluger, fleißiger und charakterfester Mann geschildert. Als ihm seine Frau
den ersten Sohn gebar, gelobte er, die folgenden auf die Namen der vier
Erzengel, der vier Evangelisten und der heiligen drei Könige taufen zu lassen,
und er hatte die Genugthuung, daß er diesem Gelöbniß genau auf die Zahl
nachkommen konnte: nicht weniger als zwölf Söhne und vier Töchter ent¬
sprossen nach und nach der gesegneten Ehe. Lucas war der jüngste. Bei dem
großen Kinderreichthum mochte den Eltern die Unterbringung der Söhne schwer
auf dem Herzen liegen, und so ist es leicht erklärlich, daß bei den Verwandten
der Gedanke laut wurde, einen von ihnen für den geistlichen Stand zu be-
stimmen. Aber der Vater warf einen solchen Gedanken weit weg, weil er die
Gefahren des damaligen geistlichen Lebens fürchtete. Nicht etwa, daß Hans
Geizkofler — wie dies von seinem Sohne Lucas bekannt ist — insgeheim der
lutherischen Lehre angehangen hätte. Für eine solche Annahme fehlen uns alle
Zeugnisse. Nur so viel läßt sich mit Gewißheit sagen, daß er allerdings, wenn
auch nach außen ein Glied der alten Kirche, in seinem Innern bis an seinen
Tod ein Freund der reformatorischen Ideen gewesen ist. Schon während
seiner Studienjahre in Italien hatte er wegen seiner Hinneigung zu den Lehr¬
sätzen des kühnen Wittenberger Mönches manche Anfechtungen von Seiten
seiner Kommilitonen zu erdulden gehabt; nach seiner Rückkehr und Niederlassung
in Sterzing scheint sein Haus einer der Mittelpunkte geworden zu sein, von
denen aus, wenn auch nicht eine Trennung von der alten Kirche, so doch eine
freiere Gestaltung des kirchlichen Lebens angestrebt wurde. Auch in Tyrol
hatte der reformatorische Gedanke zeitig Wurzel gefaßt. Die Träger desselben
waren hier namentlich die zahlreichen fremden Bergknappen, welche der gute
Verdienst aus allen Gegenden Deutschland's dorthin gelockt hatte. Zu Anfang
des sechzehnten Jahrhunderts arbeiteten an 30000 Knappen — darunter in
Sterzing und Gossensaß allein über 10000 — in jenem damals noch reichen
und wohlkultivirten Lande, Leute von fröhlichem Gemüth, sangesfreudig und
empfänglich für alles Gute und Schone. Allein nicht blos die Knappschaft,
auch viele Bauern, die Bürger in Klausen, Sterzing, Meran, Kitzbüchel u. a.
zeigten sich der Reformation geneigt. In Sterzing reichte Pfarrer Pfaufer
das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Im Hause des Hans Geizkofler wurde
die deutsche Bibel gelesen, das deutsche Kirchenlied gesungen und mannichfach
über religiöse Gegenstände verhandelt.
Unter diesen Einflüssen wuchs der Knabe Lucas heran. Seinen ersten
Unterricht erhielt er in der Stadtschule zu Sterzing. Von den Zuständen der¬
selben entwirft er uns in seiner Selbstbiographie kein sehr anmuthendes Bild;
viel war, wie es scheint, in der Sterzinger Schule nicht zu lernen. „Mkrasnw
TlÄMios-tiLÄs", das ist der ganze Lehrstoff, den uns Lucas nennt. Dazu kam,
daß die Methode des Unterrichts die denkbar unbehilflichste war. Die Lehr¬
bücher waren überall noch schwer zu erwerben, ein Buch war den Knaben ein
Schatz, und oft schrieben sie den Text selber für sich ab. Noch kläglicher waren
die sozialen Verhältnisse der Schüler. Wo eine lateinische Schule war, bei
einem Stift oder im reichen Kirchspiel einer großen Stadt, dahin schlugen sich
die Kinder des Volks, oft unter den größten Leiden und Entbehrungen, ver¬
wildert und entsittlicht durch das mühevolle Wandern auf der Straße, wie
durch die Unsicherheit ihres Lebens in dem Bereich der Schule. Denn die
Stifter, welche die Schule eingerichtet hatten, oder die Bürgerschaften der Städte
gaben solchen Fremden zwar zuweilen Obdach und Lager in besonderen Häusern,
aber ihren Lebensunterhalt mußten sie sich ^zum größten Theile erbetteln.
Die Aufsicht, die über sie geübt wurde, war sehr gering; nur darauf hielt man
streng, daß in der Zügellosigkeit ihres Lebens Methode war; nur unter be¬
stimmten Formen und nur in gewissen Stadttheilen war zu betteln erlaubt.
Wenn der fahrende Schüler an einen Ort kam, wo eine lateinische Schule
bestand, war er verpflichtet, in die Genossenschaft der Schüler einzutreten, damit
er nicht zum Schaden des Schulmeisters und der vorhandenen Schüler die
Mildthätigkeit der Einwohner in Anspruch nahm. Wie überall, wo sich Deutsche
im Mittelalter zusammenfanden, so bildete sich auch unter diesen Schülern eine
Organisation aus, ein Pennalismus, der eine Menge von Bräuchen und un¬
sittlichen Gesetzen hatte, dem aber jeder einzelne verfiel, daneben die rohe Poesie
eines abenteuerlichen Lebens, welche viele verdarb und nur von guten Naturen
ohne Schaden für ihr späteres Leben überwunden wurde. Die jüngeren Schüler,
Schützen genannt, waren, wie die Lehrlinge der Handwerker, ihren älteren Kame¬
raden, den Bacchanten, zu erniedrigenden Diensten verpflichtet, sie mußten für
ihre Tyrannen betteln, oft stehlen, und genossen dafür den Schutz, den die
Fäuste der Stärkeren geben konnten.
Solche Zustände waren es auch nach dem eigenen Zeugnisse Geizkofler's,
welche seine Mutter und seine Brüder — der Vater war inzwischen gestorben —
daran denken ließen, Lucas nach auswärts auf eine andere Schule zu bringen.
Aber noch einen anderen Grund deutet Lucas an, der feinen Weggang von
Sterzing wünschenswert!) erscheinen ließ: Er hatte „etliche Tractätlein und
Betbüchlein", die sein ältester' Bruder Georg, kaiserlicher Einnehmer und
Münzmeister in Joachimsthal', nach Sterzing geschickt hatte, unter seine Mit¬
schüler ausgetheilt und sich dadurch den Haß und die Verfolgung der papistischen
Schnlhalter und Geistlichen seiner Vaterstadt zugezogen. Die Wahl der neuen
Schule fiel auf Augsburg, und von dem Augenblicke an, wo der junge Lucas
zum ersten Male nach der alten, mächtigen Stadt kam, bleiben seine Geschicke
aus's engste mit dieser verbunden. Hier lebte sein älterer Bruder Michael in
den Diensten des Fugger'schen Hauses. Von seiner tüchtigen Geistes- und
Charakterbildung gibt der Umstand Zeugniß, daß er während seiner Studien¬
jahre die persönliche Bekanntschaft von Luther, Melanchthon und Bugenhugen
gemacht hatte. Später focht er, ein treuer Anhänger des evangelischen Bekennt¬
nisses, wacker im schmalkaldischen Kriege mit und war mit in Leipzig, als
dieses von Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen belagert wurde. Nach
Beendigung des Krieges wurde er Hofmeister des jungen Hans Fugger, be¬
gleitete diesen nach Italien und trat 1556 als Oberamtmann und Rentmeister
jn den Dienst des reichen Anton Fugger. In dieser Eigenschaft verwaltete er
alle Güter des Fugger'schen Hauses. Nach dem Tode Anton's vollzog er die
Theilung des Vermögens unter die drei Söhne Marx, Hans und Jakob Fugger,
blieb jedoch als Gutsverwalter und oberster Rentmeister in ihrem Dienste und
hatte einen solchen Einfluß im Fugger'schen Hause, daß die wichtigsten und
geheimsten Geschäfte durch seine Hand gingen. Nach dem Tode seines Vaters
galt er unbestritten als das Haupt der Familie, wie er denn auch Zeit seines
Lebens seinen Brüdern mit Rath und That zur Seite stand. An ihn wurde
jetzt Lucas geschickt, damit er ihn an der damals weitberühmten humanistischen
und evangelischen Schule zu Se. Anna unterbringe. Diese war vom Rathe
der Stadt im Jahre 1531 in dem von seinen Bewohnern verlassenen Karme¬
literkloster Se. Anna als „lateinische" Schule errichtet worden, hatte sich
jedoch bald über diese engen Grenzen hinaus zu einem vollständigen Gymnasium
umgebildet. Seit dem Jahre 1557 — also wenige Jahre vorher ehe Lucas
nach Augsburg kam — hatte sie in dem bis dahin als Bibliothekar in Fugger-
schen Diensten gewesenen, ebenso durch Gelehrsamkeit wie durch praktische
Tüchtigkeit ausgezeichneten Hieronymus Wolf v. Oettingen einen gründlichen
Reformator erhalten. Die ganze Schule war in fünf Klassen getheilt. Die
unterste zerfiel wieder in drei Abtheilungen, die der Buchstabirenden, Lesenden
und Schreibenden, denen aber auch bereits die Elemente der lateinischen
Grammatik nach Rivius beizubringen waren. In der vierten Klasse wurde der
Unterricht im Lateinischen fortgesetzt, das Sprechen und Schreiben des Latei¬
nischen versucht und das Büchlein des Erasmus von der Feinheit der Sitten,
sowie eine Auswahl von Cicero's leichteren Briefen gelesen. Die dritte Klasse
vermittelte bei fortdauernder Behandlung der lateinischen Grammatik die erste
Bekanntschaft mit den römischen Dichtern nach der Mustersammlung des
Murmelins (Rektor des Gymnasiums zu Münster, f 1517) und begann mit
Erlernung des Griechischen. Fortgesetzte Bildung in den beiden klassischen
Sprachen mit Lektüre von ausgewählten Stücken des Ovid, Virgil und Ari¬
stoteles war die Aufgabe der zweiten und endlich hauptsächlich Dialektik, Rhe¬
torik und Poetik die der ersten Klasse. Hierauf folgte, aber mehr in selbständiger
Stellung, das sogenannte ^näiwrwin Mdlieum, eine Art von Hochschule,
worin außer den mathematischen Disziplinen und der Lektüre der schwierigeren
Klassiker eine ausführlichere Erklärung der Dialektik und Rhetorik gegeben wurde
und den Zöglingen, die mehr als Studenten denn als Schüler behandelt
wurden, ein freieres Leben gestattet war. Für den Aufenthalt in ein und
derselben Klasse waren 18 Monate bestimmt, so daß, wenn der Eintritt mit
7 Jahren erfolgt war, der Uebergang in das Auditorium gewöhnlich mit 16
Jahren stattfand.
In diese Schule brachte Michael Geizkofler den jüngeren, damals ungefähr
1v Jahre alten Bruder. Wohnung und Verpflegung fand er in dem Hause
des obersten Schulmeisters bei Se. Anna, Mathias Schenck, wo neben ihm noch
mehrere Schüler untergebracht waren. Seine in Sterzing erworbenen Vor¬
kenntnisse scheinen nicht von Belang gewesen zu sein, da er nur in die vierte
Klasse aufgenommen wurde. Wie lange er in Augsburg blieb, läßt sich nicht
sagen; sein Aufenthalt mag ungefähr sechs Jahre gedauert haben, denn Lucas
erzählt, daß er noch das ^.uäiroriuin xrMiouw, des Hieronymus Wolf besucht
habe. Noch vor dem Jahre 1570 treffen wir ihn dann auf der Universität Stra߬
burg, um juristischen Studien obzuliegen. Wie er mittheilt, fand er hier
namentlich bei dem berühmten Pädagogen Johann Sturm, an den ihn Hiero¬
nymus Wolf mit empfehlenden Briefen gewiesen hatte, eine seinem Studium
förderliche Aufnahme.
Im Mai 1572 wandte er sich zur Fortsetzung seiner Studien mit 26
anderen Genossen nach Paris. Ueber diese Zeit seines Aufenthaltes in der
französischen Hauptstadt geben seine Memoiren eine Reihe der wichtigsten Auf¬
schlüsse; insbesondere berichtet er über Veranlassung und Verlauf des großen
Hugenottenmordes in der Bartholomäusnacht aus eigener Anschauung in aus¬
führlicher und völlig objektiver Weise. Die öffentliche Unsicherheit aber, welche
der Bartholomäusnacht gefolgt war, verleidete Geizkofler den Aufenthalt in
Paris. Ende des Jahres 1572 reiste er mit mehreren Augsburgern über Troyes
und Besauyon nach Dole, wo er längere Zeit studirte.
Von Dole ging Geizkofler nach Straßburg, wo er in eine gefährliche
Krankheit verfiel: doch half ihm sein junges, gesundes Blut bald wieder heraus,
und nach seiner Genesung machte er sich zur Rückkehr nach Augsburg auf.
Unterwegs kehrte er in dem schon damals vielbesuchten Badeorte Baden im
Wirthshause zum goldenen Engel ein, dessen Besitzer er durch die wenige
Tage vorher erfolgte Verbrennung seiner Frau, die in dem Gerüche der
Hexerei gestanden hatte, aufs tiefste niedergedrückt fand. Von da stieg
er über den Schwarzwald in's Wildbad herunter, „so sonderlich den poda-
grcnschen und schwachen gliedern guet und nüzlich sein soll". Die warmen
Quellen, erzählt er, entspringen in der Stadt Wildbad selbst, welche nur aus
zwölf, jedoch sehr geräumig, gut und bequem gebauten Häusern besteht. In
diesen wohnen die Gastwirthe, welche mit Fischen und anderen Speisen wohl
versehen sind, so daß sie die Badegäste bei mäßigen Preisen vortrefflich zu
bewirthen im Stande sind und es anch zu thun pflegen, denn der Fürst von
Württemberg und die Obrigkeit jener Stadt setzte den Wirthen den Preis der
einzelnen Gerichte fest, welcher für die Gäste, die des Badens halber zu kommen
pflegen, ganz erträglich ist. Deshalb geschieht es auch, daß sehr viele zu diesen
Heilquellen reisen, eines Theils weil sie ungemein heilkräftig sind und in einer
zur Sommerszeit reizenden Gegend liegen, andern Theils weil die Lebens¬
weise angenehm ist und von Seite jenes Staates für die fremden Gäste viele
humane und gute Gesetze eingeführt sind. Und so erscheint es mir nicht
wunderbar, daß selbst aus den entferntesten Gegenden zahlreiche Gäste zu jenen
Heilquellen kommen, so unter anderen auch Tyroler, auch einige Cramer, deren
Abzeichen ich in oben beschriebener Stadt aufgehängt gesehen. Die Wildquellen
fließen zwischen Felsen und Gestein hindurch, sind bei ihrem Hervorsprudeln
mit einer hochgewölbten und mit Galerieen versehenen pyramidenförmigen Halle
bedeckt und sind in Gemächer abgetheilt, sodaß die Gemeinen von den Vor¬
nehmen getrennt sind, sowie die Männer von den Frauen, wenngleich mehrere
am selben Platz zu baden pflegen. Es gibt nur drei Abtheilungen: die erste
für den Fürsten, die zweite für die Adelichen und die dritte für den Bürger¬
stand. Von diesen abgesondert sind die Bäder für die Frauen, welche in
ähnlicher Weise abgetheilt sind, so daß die adelichen Frauen von den gemeinen
getrennt erscheinen.
Im Jahre 1575 ging Geizkofler von Augsburg nach Padua, um dort
noch ein oder zwei Jahre zu studiren. Aber die Pest, welche damals in
ganz Oberitalien herrschte, trieb ihn bald wieder in's Vaterland zurück. Da er
in Straßburg und Padua Gelegenheit gefunden hatte, den Fuggern in einigen
Rechtssachen gute Dienste zu leisten, so boten ihm diese, als er nun nach
Augsburg zurückkehrte, an, noch eine Zeit lang in Speier bei dem Reichskammer¬
gerichte zu praktiziren und dann als Anwalt in ihre Dienste zu treten. Mit
dieser Hoffnung zog Geizkofler 1577 nach Speier, ließ sich in die Matrikel des
Reichskammergerichtes eintragen und arbeitete sich in die Fugger'schen Prozesse
ein, deren nicht weniger als 56 damals bei dem Reichskammergerichte anhängig
waren, und ging im Sommer 1578 auf den Rath seiner Freunde und um
seiner künftigen Stellung Ehre zu machen, nochmals nach Dole, wo er zum
Doktor beider Rechte promovirt wurde.
Als er im Juli 1578 wieder nach Speier kam, war sein Ruf schon so
begründet, daß er Antrüge erhielt, in österreichische oder Salzburgische Dienste
zu treten. Aber er fürchtete für die Freiheit seiner religiösen Ueberzeugung
und zog die einfache Stellung eines Fugger'schen Rathes und Anwaltes der
glänzenden Laufbahn vor, die ihm in kaiserlichen und fürstlichen Diensten ge¬
boten wurde. Nach fünfjähriger Abwesenheit kehrte er nach Augsburg zurück,
das er als seine zweite Vaterstadt und von nun an als seine eigentliche Heimat
ansah. Doch führte er auch jetzt noch ein fortwährendes Wanderleben, denn
er war unaufhörlich in Fugger'schen Geschäften auf Reisen, bald in Prag
und Wien, bald in Sachsen und Bayern. Nachdem der alte Rechtsfreund der
Fugger, Dr. Laimann, gestorben war, wurde Geizkofler der erste Anwalt des
Hauses, und als solcher, hat er sich um die Familie hochverdient gemacht; die
meisten Rechtssachen hat er glücklich verfochten, und nur seinen Bemühungen
war es zuzuschreiben, daß den Fuggern der reiche Besitz der Herrschaft
Mindelheim zugesprochen wurde. Im Jahre 1590 verheirathete er sich mit
der Tochter des Herrn Hörmann v. Gutenberg, der Nichte des obersten Ver¬
walters der spanischen Handelsangelegenheiten, „einer züchtigen und klugen
Jungfrau". Die Herren Fugger selbst hatten ihn auf die wohlhabende
Patrizierstochter, die ihrem Manne eine einflußreiche und weitverzweigte Ver¬
wandtschaft mitbrachte, aufmerksam gemacht und ihn reichlich mit Geld und
Gut ausgestattet. Am 27. Juni 1588 fand die Verlobung und Unterzeichnung
des Heirathsbricfes statt. Der Abschluß der Ehe mußte indeß noch verschoben
werden, bis der Bräutigam von eiuer Kommission an den kaiserlichen Hof in
Prag zurückgekehrt war. Das hatte aber gute Weile: Volle anderthalb Jahre
mußte Geizkofler am Hoflager der Erledigung seiner Angelegenheit harren —
eine kleine Ewigkeit für einen Bräutigam, der gerade alt genug zum hei-
rathen war. Und doch hätte er vielleicht noch länger warten müssen, hätte
er nicht den allmächtigen Kammerdiener des menschenscheu in den Gemächern
des Hradschin hausenden Rudolf II. durch Gold auf seine Seite gebracht.
Für die Braut, die inzwischen bei ihrer verheirateten Schwester in Nürnberg
lebte, ließ es der Bräutigam an zarten Aufmerksamkeiten nicht fehlen. Gleich
anfangs schickte er ihr eine goldene Kette, zu Neujahr ein Barer mit Gold
und Perlen gestickt, und als er zu Weihnachten nach Nürnberg kam , brachte
er ihr abermals eine goldene Kette mit, „welche neunmal um den Hals geht"-
Zu Anfang des Jahres 1590 führte er seine Braut und ihre Schwester mit
drei Kindern in zwei Kutschen nach Augsburg. Dort kamen ihnen die Ver¬
wandten und Gäste in acht Kutschen mit vierzig Pferden entgegen, und am
3. Januar hielten die Brautleute ihren feierlichen Einzug in die Stadt. Die
Landsknechte und Wächter am Thore versäumten nicht, die Schranken vorzu¬
stoßen, bis sich die Brautleute mit einem Trinkgelde gelöst hatten. Zwei Tage
nachher, am 5. Januar, wurde die feierliche Verlobung, „das Hinschwören oder
der Handschlag" genannt, gefeiert. Geizkofler verehrte dabei seiner Braut einen
Smaragdring und eine goldene Haube mit Perlen gefaßt. Mehr als fünfzig
Gäste waren geladen, und sie aßen und tranken in dem Hause des Anton
Hörmann an fünf großen Tischen, während das „Junggesinde" in den unteren
Stuben gespeist wurde. Nicht weniger denn 12 Kapaune, 8 Jndiane, 2 Hennen,
18 Rebhühner, 33 Pfund Kalbfleisch, 20 Pfund Rindfleisch, 10 Pfund Würste
wurden außer dem „Mandelbackenen und Zetteln", dem Marzipan und Obst
dabei verzehrt. An Getränken gingen auf: 28 Maß Rothwein, 24 Maß
Reinfal, 2 Maß Malvasier, 1 Faß guten Neckarweines und für die Dienstleute
ein Faß schlechteren Neckarweines.
Die Vorbereitungen zur Hochzeit dauerten monatelang. Geizkofler lud
inzwischen seine Braut und ihre Verwandten bei seinem Bruder zu Gaste und
speiste wiederum bei ihrem Bruder und anderen Verwandten. Zur Zeit des
Faschings fuhr er sie öfters mit ihrer Schwester im Schlitten aus; die Stadt¬
musikanten fuhren dabei in einem eigenen Schlitten Woraus und spielten lustige
Weisen auf. Dann mußte ihnen der Bräutigam noch außer der Bezahlung
einen Nachttrnnk auf der Bürgerstube geben, wobei sie die ganze Nacht zechten
und Reinfal tranken. Eine besondere Feier vor der Hochzeit war das „Bräutl-
bad" und das „Bräutigamsbad" — eine uralte Augsburger Sitte, bei der
schon im Stadtbuche vom Jahre 1276 die einschränkende Bestimmung getroffen
ist, daß Braut und Bräutigam nicht mehr als je fünf Personen mit sich in's
Bad führen sollen. Während die Braut mit den Kranzeljungfern im Bade
war, ließ der Bräutigam außen Musik spielen; anch war es üblich, der Braut
die damals vorzugsweise gebrauchten wohlriechenden Wasser, Lavendel und
Rosenwasser, mitzugeben. Ueberdies erhielten die Frauen und Jungfrauen der
Verwandtschaft vom Bräutigam kostbare Kleiderstoffe geschenkt: die Braut ein
Stück Atlas zu einem Hochzeitsrock, ein Stück Kailasas zu einer „Kasacken"
und ein Stück Damast zu einem Nachhochzeitsrvck; die Schwägerin ein Stück
des besten Florentiner Atlas zu einem Rock, ihre Tochter ein Stück Scharlach¬
tuch; die Tochter des Bruders 17 Ellen veilchenbraunen Kailasas zu einem
Rock, und ähnliche Gaben die übrigen. Am 5. März 1590 fand endlich die
Vermählung statt. Das Hochzeitsessen wurde im Hause des Bruders der Braut
abgehalten. Nach der Aufzeichnung Geizkvfler's wurden dabei verzehrt: 355
Pfund Rindfleisch, 205 Pfund Kalbfleisch, 3 Pfund Karpfen, 345 Vögel,
7 Hasen, 20 Rebhühner und Haselhühner, 2 Fasanen, 7 Pfauen und 6 Jndiane;
an Getränken: 1 Faß Bier, 1 Faß Rothwein, 7 Faß gewöhnlicher Wein,
4 Läglein Reinfal und 14 Maß Malvasier. Bei dem Festessen spielten die
Stadtmusikanten auf, und die Stadtsoldaten hielten vor dem Hause Wache,
damit das „fremde Gesindel" nicht eindringe. Gegen Abend zog die Gesellschaft
in das Haus der Fugger, die ihren schönen Saal zum Tanz überlassen hatten
Auch hier stand die Scharwache vor dem Hanse, um Unordnung zu verhüten.
Um 8 Uhr zogen Gäste und Hochzeiter fröhlich heim. Am ersten Morgen
nach der Hochzeit verehrte Geizkofler seiner Frau zwei Mahlringe mit Rubinen
und Diamanten, einen Ring mit Safiren, ein goldenes Armband und ein paar
Armbänder mit „Gesundsteinen".
Eine Nachfeier zur Hochzeit bildete damals in ganz Süddeutschland der
„Eierschmalztag". Am dritten Tage brachten Koch und Köchin zur Erinnerung
an ihre Mühen in einem großen Kessel die Eier und das Schmalz, das von
dem Hochzeitsessen übriggeblieben war, und so gab es denn Veranlassung zu
einem nachessen. Das erste Gericht dabei war immer ein „Eierschmalz", von
dem die Neuvermählten zuerst kosten mußten. Auch der Armen wurde im
Hochzeitsjubel nicht vergessen. Geizkofler ließ im Spital und Waisenhaus, im
Pilger- und Blatternhaus 100 Gulden austheilen. Er verzeichnet ferner die
Geldspenden an einen Prädikanten, der ihm ein gedrucktes Hochzeitslied ver¬
ehrte, und an einen deutschen Schulmeister, welcher sein und seiner Frau
Wappen malte und Verse auf die Hochzeit hinzufügte. Die Gesammtkosten
der Heirath beliefen sich auf die stattliche Summe von 6200 si. 16 kr.
Zur Charakteristik der Ehe selbst, die wie fast alle Ehen jener Zeit weniger
auf leidenschaftlicher Liebe als auf gegenseitiger Achtung der Gatten beruhte,
dient ein prächtiger Brief, auf dessen Mittheilung wir leider hier verzichten
müssen, aus dem uns aber der ganze Charakter des Schreibenden mit über¬
zeugender Treue entgegentritt. Der Grundzug seines Wesens bildet jene ge¬
müthvolle Hingabe an das Göttliche, die unsern Vätern als ein Erbstück aus
den Tagen des großen Glaubenskampfes geblieben war. Auch sonst tritt dieser
fromme Sinn noch mehrfach hervor. Schon während der ersten Jahre ihres
Ehestandes z. B. hatten sich die Gatten vier Begräbnißstätten auf dem neuen
Friedhof bei Se. Anna gekauft und ein Grabmal herrichten lassen. Dabei ist
es merkwürdig, wie trotz der geläuterten Gottesanschauung, welche die Refor¬
mation ihren Anhängern gebracht hatte, dieselben doch vielfach noch im alten,
überlieferten Aberglauben stecken blieben. Wie Geizkofler als Student in Paris
die Meinung vertheidigte, daß es wirklich Gespenster gebe, nur über gottes-
fürchtige Personen hätten sie keine Gewalt, oder wie er darüber stritt, daß der
Teufel zwar nicht den menschlichen Körper, wohl aber die Gestalt eines Engels
oder eines Poltergeistes annehmen könne, so glaubte er noch in späteren Jahren
an Ahnungen, Vorbedeutungen, an Alchimie und Astrologie. Daß Mond und
Sterne die Schicksale der Menschen im Großen wie im Kleinen bestimmen, und
sich dafür bestimmte Regeln aufstellen lassen, gilt ihm für ausgemacht. In den
Geschlechtsregistern finden wir mit ängstlicher Sorgfalt aufgezeichnet, in welchem
Zeichen des Thierkreises, ob bei zu- oder abnehmendem Monde ein Kind ge¬
boren sei. Freilich hatte damals jeder kleine deutsche Hof, jede Reichsstadt
ihren besonderen Astrologen, und kein angesehener Mann unterließ es, sich von
ihnen die Nativität stellen zu lassen oder für ein wichtigeres Unternehmen be¬
stimmte Weisungen einzuholen. In Augsburg wirkte um 1560 als Astrolog
der schon genannte Philologe Hieronymus Wolf und am Anfange des sieb¬
zehnten Jahrhunderts ein Dr. Johann Maier. Geizkofler ließ sich 1569
als neunzehnjähriger junger Mann von seinem ehemaligen Lehrer Wolf und
1606 in einem Alter von 56 Jahren nochmals von Maier die Nativität stellen.
Der letztere hatte dabei natürlich die leichtere Aufgabe, aber die Regeln und
Kombinationen beider stimmten in der Hauptsache überein.
Der Unstätigkeit des äußeren Lebensganges setzte erst das Jahr 1595 ein
Ziel. Erst von da an kam Geizkofler mehr zur Ruhe und nahm nun seinen
ständigen Aufenthalt in Augsburg. Sein Leben wird nun geordneter, innerlich
thätiger, er beginnt zu sammeln, sein Haus zu bestellen und den Wohlstand
seiner Familie zu gründen. Aus den Papieren, die er gesammelt, läßt sich
erkennen, daß er auch einen Anlauf zum Schriftsteller genommen. Als junger
Mann, nachdem er 1576 wegen der Pest aus Padua geflohen war, schrieb er
in Sterzing eine Abhandlung „Von den Leiden der Studenten" und beschrieb
darin all' das Ungemach, das einen Studirenden in der Fremde treffen kann:
die öffentliche Gefahr, das Geldborgen, die Verführung durch Frauen, Schlä¬
gereien u. a. Als sein Sohn Hans später auf Reisen ging, übergab er ihm
die Schrift. Auch zur „Poeterei" hatte er in seinen jungen Jahren Lust und
hatte von Freunden und Lehrern eine gute Anleitung dazu erhalten. Später
versuchte er sich in der lateinischen Dichtung, ohne sich jedoch hierin über die
Mittelmäßigkeit zu erheben. Besser sind die deutschen Sinnsprüche, welche er
1596 auf seinem prachtvollen Grabmal zu Se. Anna neben allegorischen Figuren,
Reliefbildern und Gemälden anbringen ließ. Am liebsten aber kehrte er immer
wieder zu geschichtlichen Studien zurück. Nachdem er den Inhalt seiner Tage¬
bücher in der vorliegenden umfangreichen Selbstbiographie niedergelegt, fing
er, obwohl schon in vorgerückten Jahren, ein geschichtlich-geographisches Werk
über Tyrol zu schreiben an. Mehrere Abhandlungen dazu sind noch vorhanden,
so ein kurzer Auszug der Geschichte Tyrol's.
Das eine bleibt bei seiner Vielschreiberei zu bedauern, daß er uns so gut
wie nichts über das innere Leben seiner zweiten Heimat Augsburg mittheilt.
Wie dankbar könnten wir ihm sein, wenn er uns, statt der mageren Tyroler
Studien, eine Schilderung des Augsburger Stadtlebens, seiner Verfassung,
seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Schöpfungen hinterlassen hätte!
Nimmt doch unter den deutschen Städten, welche als Kultur- und Kunststätten
vergangener Jahrhunderte gerühmt werden, Augsburg einen der ersten Plätze
ein! Augsburg vornehmlich ist die Stadt der deutschen Renaissance. Noch
stellt sich uns bei einem Gange durch die Straßen in der Bauart der Hauser,
in den Resten der Wandmalereien, in Brunnen und Thürmen das Augsburg
des sechzehnten Jahrhunderts in seinem vollen Glänze dar. Seit dem späteren
Mittelalter war es die bedeutendste Handelsstadt und der eigentliche Stapel¬
platz für das südliche Deutschland. Und neben dem Handel ein reiches, stetig
entwickeltes Gewerbewesen, welches der Stadt noch über die Zeit des dreißig-
jährigen Krieges hinaus ahren Wohlstand sicherte. Die ganze deutsche Ge¬
werbegeschichte spiegelt sich in der Ordnung, Fortbildung und Thätigkeit des
Augsburger Bürgerthums ab. Der Ruf seiner Weber und Sticker, Drechsler
und Tischler, Gold- und Silberarbeiter, seiner Waffenschmiede und Stückgießer,
seiner Drucker, Kupferstecher und Maler war weltbekannt. Und Lucas Geiz¬
kofler lebte in der Zeit in Augsburg, in welcher Handel und Gewerbe ihre
höchste Blüthe erlangt hatten, in welcher die Stadt ihr mittelalterliches Gewand
ablegte und sich mit den Formen der wiedergeborenen Antike schmückte. 1593
wurde der Augustusbrunnen auf dem Perlach, 1596 der Herkulesbrunnen auf
dem Weinmarkt errichtet. Elias Holl, der Meister der Spütrenaisscince, baute
danach das Bäcker-, Gieß- und Zeughaus und das imposante Rathhaus; das
letztere wurde im Todesjahre Geizkofler's, 1620, vollendet. Die edlen Ge¬
schlechter wetteiferten in der Anlegung von Kunstkammern, Museen und Biblio¬
theken. Wie oft war Geizkofler in dem reich geschmückten Hause der Fugger!
In dem Saale, in welchem man nach dem Bericht eines Zeitgenossen „mehr
Gold als Farbe" sah, hatte er seinen Hochzeitstanz gehalten. Wie oft hatte
er die Bibliothek der Fugger, ihre Gemälde- und Antiquitäten-Sammlungen
besucht! Gewiß war ihm die Bibliothek des Markus Welser bekannt, der da¬
mals Stadtpfleger war, und dessen Name noch auf dem Herkulesbrunnen steht.
Der religiöse Friede war hier seit 1555 nicht mehr gestört und die geistige
Bildung durch treffliche Schicken in jeder Weise gefördert worden. Nicht wenige
Persönlichkeiten, welche in jener Zeit für das geistige Leben Deutschland's be¬
deutsam geworden, gehören Augsburg an. Von seinen alten Geschlechtern
waren zwar in der Mitte des 16. Jahrhunderts nur wenige mehr vorhanden
wie die Herwart, Welser, Rehlingen, Langenmantel, aber durch Heirathen und
freie Aufnahme waren neue Kräfte dazugekommen, wie die Hörmann, Jmhof,
Peutinger, Stecken u. a. Die Volkszahl war seit dem Mittelalter im steten
Steigen begriffen; beim Ausbruch des dreißigjährigen Krieges zählte die Stadt
über 100000 Einwohner. In den Straßen drängte sich eine lebensvolle, heitere
Bevölkerung, thätig und geschickt in der Arbeit, sinnlich frisch und kräftig im
Genuß, dabei voll treuer Anhänglichkeit an die alten Sitten und Einrichtungen.
Lucas Geizkofler ist ein getreuer Typus dieses altaugsburgischen Bürger¬
thums. Nach seinem öffentlichen Wirken gehört er in die Reihe der römischen
Juristen, Beamten, Kanzler und Richter, welche den erstarrten Feudalismus
brechen halfen und den neuen Staat wie die neue Gesellschaft vorbereitet haben.
Geizkofler erlebte den gewaltsamen Tod Heinrich's III. und Heinrich's IV. von
Frankreich, die Herrschaft der protestantischen Elisabeth von England, die böh¬
mische Revolution von 1618 und den Beginn des Religionskrieges, welcher die
Selbständigkeit und den Wohlstand des deutschen Volkes vernichtete. Hie und
"da klingt aus fewer Schriften eine leise Klage über den wilden Haß der
Religionsparteien heraus, denn bei all' seiner protestantischen Ueberzeugung ist
er zeitlebens der treuherzige, wohlwollende, mildgesinnte Mann geblieben, als
welcher er sich in seiner Selbstbiographie darstellt. Es war ihm nicht, wie
mehreren seiner Freunde, vergönnt, in's Große zu wirken; keine geschichtliche
That ist von ihm ausgegangen. Was sein Buch uns werth macht, ist auch
nicht oder wenigstens nicht vorzugsweise die Persönlichkeit des Schreibers, son¬
dern das, was er in einer an gewaltigen Kämpfen überreichen Zeit mit schlichter,
überzeugender Einfachheit dem Gedächtniß späterer Geschlechter überliefert hat.
Dagegen ist ihm Alles zu Theil geworden, was das Leben reich und glücklich
macht: eine Heimat, die er liebte, ein Wirkungskreis, der ihm entsprach, ein
friedliches Familienleben und ein hohes Alter.
Unser heutiges Thema wurde bereits im ersten dieser Briefe behandelt.
Heute läßt sich prüfen, ob wir damals eine richtige Voraussicht bewährt. Den
letzten Prüfstein können ja erst die Verhandlungen im Reichstage geben, an
deren Schwelle wir jetzt stehen. Aber an dieser Schwelle ist beides lohnend,
ein Rückblick und ein Vorblick, denn viel hängt von der Fassung ab, in welcher
der Reichstag wie die öffentliche Meinung die Schwelle überschreiten.
Im ersten Briefe schrieben wir: „Für die Entscheidung über die Zoll- und
Steuerreform im Reichstag kommen die drei großen Parteien in Betracht, das
Zentrum, die vereinigten Konservativen und die Nationalliberalen." Was wir
damals vom Zentrum gesagt, hat seitdem eine durchgehende Bestätigung ge¬
funden. Die Herren vom Zentrum nehmen die Schutzzölle an, sie haben mit
sichtlichem Vergnügen eine offiziöse Auslassung aufgenommen, welche ihnen
bestätigte, daß sie nicht um der Kirchenpolitik, sondern um ihrer Wähler willen
schutzzöllnerisch sind. Desto eifriger erklären sie, sich den Finanzzöllen gegen¬
über volle Freiheit wahren zu müssen. Die Bewilligung der Finanzzölle
wollen sie abhängig machen von dem Nachweis des Bedürfnisses, von Bürg-
schaften für die Macht des Reichstages, für die Macht der Landesvertretungen,
für die Selbständigkeit der Bundesregierungen und sogar für den Einfluß der
letzteren auf die Reichsregierung. Kein geringer Preis ist es, schon mehr eine
Art Preiskourant, ans Grund welches die Herren mit sich handeln lassen
wollen, denn glücklicherweise haben sie noch keine festen Preise aufgestellt.
Aber ob das wohl alles so ernsthaft gemeint ist? Es ist schwer, an diesen
Ernst zu glauben, wenn man Folgendes erwägt.
Es steht fest, daß die Verhandlungen zwischen Berlin und dem Vatikan
zur Beilegung des Kirchenkonfliktes dem Ende noch nicht entgegengehen, weder
dem Ende des Abbruches noch dem Ende der Vereinbarung. Die Entscheidung
der deutschen Finanzreform im Reichstage wird für diese Verhandlungen unter
allen Umständen einen wichtigen Zwischenfall bilden; das kaun man sich sagen,
ohne ein tiefer Politiker zu sein. Nehmen wir an, das Zentrum träte für
den ganzen Finanzplan des Reichskanzlers ein und verhälfe diesem damit zum
Siege, so wäre es fortan unmöglich, das Zentrum eine reichsfeindliche Partei
zu nennen. Welches immer die Rechnung des Zentrums bei einem solchen
Verhalten gewesen sein möchte, die Thatsache bliebe bestehen, daß die folgen¬
reichste Maßregel zur Sicherung des Deutschen Reiches dem Zentrum verdankt
werden müßte. Wie wäre es möglich, die Partei, welche den festesten Bau¬
stein zum Reiche gelegt zu beschuldigen, daß sie noch auf die Zerstörung des¬
selben sinne? Welche Rechnung man immer dem Zentrum unterschieben
wollte, niemand könnte leugnen, daß in dieser Rechnung das Deutsche Reich
als positive und als beständige Größe, nicht aber als wegzuschaffende figu-
riren muß. Demzufolge könnte bei den Verhandlungen mit Rom die Existenz
der Zentrumspartei nicht mehr als Friedenshinderniß, nicht mehr als Ursache
des Bedenkens gegen Einräumungen an die katholische Kirche in Betracht
kommen. Dies ist ein Thatbestand, den unseres Erachtens Jeder sehen kann,
der Augen zu sehen hat. Nehmen wir aber jetzt den entgegengesetzten Fall,
den Fall, daß das Zentrum die Finanzreform im jetzigen Reichstage vereitelt,
so wird es die Nothwendigkeit von Neuwahlen herbeiführen. Die Hauptprobe
aufrichtigen Willens zum Frieden, welche die Reichsregierung von dem Vatikan
alsdann verlangen muß, ist daß der Klerus bei den Neuwahlen sein Ansehen
nicht zu Gunsten des Zentrums, sondern zu Gunsten nicht reichsfeindlicher
Abgeordneten in die Wagschale werfe. Ob die Herren vom Zentrum ernstlich
die Absicht haben, sich zwischen die beiden Feuer der vatikanischen Verleugnung
und der neuen Popularität des Reichskanzlers auch bei den katholischen Wähler¬
massen zu stellen, muß man sehr bezweifeln. Wir können daher nur wieder¬
holen, was wir im ersten dieser Briefe gesagt: Das Zentrum ist nicht nur
bei den Schutzzöllen, sondern auch bei den Fiuauzzöllen kein gefährlicher d. i.
kein ernsthafter Gegner; setzen wir hinzu: möglicherweise sogar ein unerwarteter
Helfer.
Soviel vom Zentrum. In der Stellung der Konservativen hat sich nichts
geändert, sie sind mit wenigen Ausnahmen eine zuverlässige Streitschaar für die
Finanzreform. So bleiben noch die National-liberalen. Die Plage dieser Partei,
von rechts und links gescholten zu werden, hat in der letzten Zeit noch immer
zugenommen. Diese Art Plage ist lästig, aber ehrenvoll, wenn der Gescholtene
zwischen den Extremen den Siegergang schreitet. Aber so ist es leider nicht.
Das Mißgeschick der Partei, welche trotz alledem die größte Theilnahme ver¬
dient, ist ihr Ungeschick. Sie entzweit sich immer.wieder mit dem Reichskanzler,
ohne daß der Riß bis jetzt unheilbar geworden. Das letztere ist noch nicht
eingetreten, weil es zu widersinnig ist, daß die Partei, deren ganzes Ziel die
nationale Größe ist, den Staatsmann bekämpfen soll, der für diese Größe das
nie Geglaubte gethan hat und täglich zu vollbringen fortfährt. Aber die
Partei entzweit sich bei jedem Anlaß von neuem mit dem Schöpfer der
nationalen Größe, nicht darum, wie eine kindische Auffassung die Thatsache
manchmal erklärt, weil der Staatsmann sie nicht genug in seine Gedanken
einweiht, sondern darum, weil die Partei bei dem edelsten Willen für das
nationale Werk nie dahin gelangt ist, die Bedingungen dieses Werkes zu ver¬
stehen. Zur Zeit des Militärkonfliktes verstanden die nationalen Liberalen —
die Komposition „National-liberal" war damals noch nicht üblich geworden —
nicht die elementarste Voraussetzung für die Schaffung der deutschen Einheit,
nämlich ein feldtüchtiges preußisches Heer im Sinne der modernen Kriegs¬
bedingungen, und so ist es fortgegangen, und so geht es fort bis zum heutigen
Tage. Wir können dieses politisch und moralisch traurige, psychologisch höchst
merkwürdige Kapitel heute uicht genügend erörtern. Genug, die National¬
liberalen sind eben wieder dabei, dem Reichskanzler bei einer seiner großen
Patriotischen Arbeiten in den Arm zu fallen. Sie meinen, das Reich brauche
nicht so viel Geld, gerade wie sie 1860 meinten, Preußen brauche nicht so
viel Soldaten. Sie waren kürzlich schon im Begriff zu meinen, man könne
dem Reich die Finanzzölle bewilligen, wenn es auf die Schutzzölle verzichte,
aber heute meinen sie wieder, man dürfe auch die Finanzzölle nicht bewilligen.
Woher dieser Wechsel? Die „konstitutionellen Garantien" spielen ihre Rolle
seit dem Besuch, den Herr v. Bennigsen im Dezember 1877 in Varzin ab¬
stattete. Aber wohl gemerkt, damals handelte es sich nur um Garantieen für
den Einfluß der Landesvertretungen auf die aus neuen Reichseinnahmen den
Einzelstaaten vielleicht zufließenden Ueberschüsse. Wie man weiß, hat der
Preußische Finanzminister gegen den Schluß der letzten Landtagssession im
Februar 1879 dem Abgeordnetenhause eine königliche Ordre zur Kenntniß ge-
bracht, worin der König sein EinVerständniß erklärt, daß bei Einnahmen,
welche durch eine Steuerreform des Reiches dem preußischen Staate zufließen,
sogar bei einer Herabminderung der Matrikularbeiträge unter den im Haus¬
haltsplan von 1879 vorgesehenen Satz, die Klassen- und klassifizirte Einkom¬
mensteuer um einen entsprechenden Betrag vermindert werde, falls nicht über
die Mehreinnahme durch Einverständniß der gesetzgebenden Faktoren anderweitig
disponirt wird. Der Finanzminister fügte sogar das Versprechen hinzu, diesen
Willen der Staatsregierung durch die Vorlage eines Gesetzes nach Abschluß
der Steuerreform des Reiches als einen dauernden zu binden. Damit war
nach der damaligen allgemeinen Voraussetzung, insbesondere nach allen Erklä¬
rungen der national-liberalen Partei, die Frage der konstitutionellen Garantieen
bis zur Ausführung der verheißenen gesetzgeberischen Maßregel erledigt. Mit
einem Male besinnt sich jetzt die national-liberale Partei, daß sie Garantieen
zu fordern habe nicht blos für das Steuerverminderungsrecht der Einzelland¬
tage bei dem Fall erhöhter, den Einzelstaaten zu gute kommender Reichsein¬
nahmen, sondern auch für das periodische Einnahme-Bewilligungsrecht des
Reichstages, welches bisher in den Matrikularbeiträgen enthalten gewesen sei
und mit dem Wegfall dieser nicht in Wegfall kommen dürfe.
Woher so plötzlich dieser neue Gedanke? Es ist schwer, die Vermuthung
abzuweisen, daß die Ankündigung des Zentrums, gegen die Finanzzölle Oppo¬
sition zu machen, an der in Aussicht genommenen Strategie der national-liberalen
Partei ihren Antheil hat. Man ist ärgerlich über die Aussicht, bei den Schutz¬
zöllen durch die Stimmen des Zentrums und der Konservativen geschlagen zu
werden, man ist gegen die Schutzzölle nicht einmal der eigenen Reihen sicher.
Aber man will dem Reichskanzler nicht folgen, man will ihm noch weniger in
allen Punkten unterliegen, also greift man mit beiden Händen nach der Aussicht,
ihm eine theilweise Niederlage durch die Hilfe des Zentrums beizubringen.
Trauriges und gefährliches Auskunftsmittel einer Partei, die aller wahren
politischen Leitung gänzlich ermangelt! Der Gedanke ist vor Allem unlogisch.
Die Disposition über die Reichsüberschüsse, welche sich aus natürlich wachsenden
Einnahmen ergeben, kann nicht zugleich dem Reichstage und den Einzellandtagen
zugewiesen werden. Wenn das Reich seine Bedürfnisse befriedigt hat, dann
müssen Reichsregierung und Reichstag den Einzelstaaten die Ueberschüsse zur
freien Verwendung nach Vereinbarung der Regierungen mit den Landtagen
gönnen, oder aber das Reich führt keine Ueberschüsse an die Einzelstaaten ab,
sondern ermäßigt, sobald es Ueberschüsse erzielt, seine Einnahmen. Wollte das
Reich seine Einnahme-Ueberschüsse nach Gunst entweder zurückhalten oder den
Einzelstaaten zufließen lassen, das eine Jahr so, das andere Jahr anders, nach
den Launen der Majoritäten, so müßte die heilloseste Verwirrung entstehen.
Eine sichere Finanzpolitik wäre weder im Reiche noch in den Einzelstaaten
möglich. Man sieht also deutlich, wie dieser unlogische Gedanke nicht aus
den Anforderungen der Sache erwachsen ist, sondern aus der Aussicht, an der
Seite des Zentrums ein erfolgreiches Manöver ausführen zu können. Die
Künstler, welche dieses Manöver ausgedacht, sind traurige Patrioten und
traurige Strategen. Die Rechnung auf das Zentrum kann gewaltig trügen,
der moralische Schaden aber, der aus diesem Plan erwächst, selbst wenn er
nicht über den Versuch hinauskommt, kann unermeßlich sein. Mögen die Abge¬
ordneten, deren Stimmen in der national-liberalen Fraktion Gewicht haben,
auf der Hut sein für die Zukunft ihrer Partei. Daß man übrigens diesem
periodischen Einnahme-Bewilligungsrecht des Reichstages auch eine harmlose
Gestalt geben kann, welche der national-liberalen Partei von dem jetzt unvor¬
sichtig betretenen Weg einen leidlichen Rückzug läßt, wollen wir schon heute
anzudeuten nicht unterlassen. Davon vielleicht im nächsten Briefe mehr.
Die moderne, vom besten Erfolge gekrönte Bewegung zur Verbesserung
der Kunstgewerbe und der Kunst-Industrie Deutschland's ist im Wesentlichen
das Verdienst von Theoretikern. Zwei große literarische Werke sind es vor
Allem, welche diese tiefgehende und nachhaltige Bewegung angeregt und in die
richtige Bahn geleitet haben: Carl Bötticher's „Tektonik der Hellenen" und
Gottfried Semper's Werk „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten".
Ganz unabhängig von einander entstanden, unternahmen es beide, vor dreißig
Jahren zum ersten Male mit Nachdruck auf den innigen Zusammenhang
zwischen Kunst und Technik hinzuweisen und in das wahre Verständniß der
gewerblichen Kunstwerke alter Zeit, die sie als mustergiltig auch für unsere
Tage bezeichneten, einzuführen. Beide fanden, wie alles Bedeutende, anfangs
nur in wenigen Kreisen Beachtuug; die Meisten verstanden sie nicht, ließen sie
unbeachtet oder bekämpften sie. Und in der That war das Verständniß dieser
Werke nicht leicht. Das System, welches diese Männer aufgestellt, erschien
vollständig neu und stand in direktem Gegensatz zu den allgemein als richtig
erkannten Grundsätzen; die Sprache, deren sie sich bedienten, war schwerfällig;
es bedürfte einer gewissen Energie und vollen Ernstes, um in diese Werke sich
hineinzuarbeiten. Erst nachdem die Aelteren, welche in diese neue, epoche¬
machende Lehre sich nicht mehr finden konnten, meist dahingegangen sind, und
eine jüngere Generation zur Herrschaft gelaugt ist, sind diese Werke zu den
verdienten Ehren gekommen. Heutzutage sind die von Bötticher und Semper
zuerst vorgetragenen, grundlegenden Lehrsätze, durch viele andere gelehrte Hände
bearbeitet und einem größeren Publikum mundgerecht gemacht, durch verständige
Künstler praktisch in die Kunst eingeführt, zum Gemeingut aller Gebildeten
unserer Nation geworden. Trotzdem kann Niemand, der auf den Gebieten der
Kunst und Kunst-Industrie das Recht haben will mitzusprechen, des Studiums
der Originalwerke entbehren. Bötticher's nur die ewig mustergiltige Baukunst
der alten Griechen behandelndes Werk ist schon vor Jahren in zweiter Auf¬
lage erschienen. Semper's ganz allgemein gehaltenes, die Grundzüge aller
Kunstbildung in allen Einzelheiten darlegendes Werk war, obgleich noch
nicht vollendet, seit einiger Zeit im Buchhandel vergriffen. Der hochbetagte
Verfasser, durch mehrere größere Bauansführungen beschäftigt, war leider ver¬
hindert, den dritten Band abzuschließen und zu publiziren. Da er jedoch
seine Grundsätze nicht geändert hat, hat die Verlagsbuchhandlung, dem vor¬
handenen Bedürfnisse entsprechend, sich entschlossen, die ersten beiden Bände
des Werkes, welche ja in sich ein abgeschlossenes Ganzes bilden, allein in zweiter
verbesserter Auflage herauszugeben. Der Sohn des Verfassers, Dr. Hans
Semper, Dozent der Kunstgeschichte an der Universität Innsbruck, hat es über¬
nommen, diese neue Auflage zu redigiren, d. h. den Text mit Rücksicht auf
einige neuere Resultate der kunstgeschichtlichen Forschung zu berichtigen.*) Sie
erscheint in einzelnen Heften von trefflichster Druckausstattuug (Druck von
Kröner in Stuttgart), mit vielen erläuternden Holzschnitten und Farbendrucken
ausgestattet und ist bereits bis zum zweiten Bande vorgeschritten. Hoffentlich
ist die Aussicht auf den sehnlichst erwarteten dritten Band nicht ganz abge¬
Der Winter liegt wieder einmal hinter uns, und sein Kunst- und künst¬
liches Leben ebbt zurück. Die Musikanten haben nach dem letzten Kouzert ihre
Geigen und Flöten eingepackt; im Theater will es uns schwül werden, und
treten wir aus dem Museum heraus, so lacht uus der helle Himmel ganz
anders an, als auf der gemalten Leinwand, die uns den Winter über entzückt
hat. Es lockt uus hinaus in die freie Gvtteswelt, Sonnenschein und junges
Grün reden ihre eindringliche Sprache und wecken in unserm Herzen die urger¬
manische Sehnsucht nach Wald- und Strvlchleben — da greifen wir wieder
in den Winkel des Bücherschrankes, in dem die rothen Bünde stehen. Wenige
Wochen noch, und die herrliche Zeit ist da, die der Leipziger in die vielsagenden,
friedlichen Worte „nach der Messe" zusammenfaßt, und wir genießen sie schon
im Voraus, indem wir anfangen, in froher Hoffnung Reisepläne zu schmieden.
Im kommenden Sommer werden auch viele von denen, die sonst die be¬
quemere Hvtelstraße durch die Schweiz vorgezogen, die Gelegenheit zu einem
Ausflug in unser einfacheres deutsch-österreichisches Bergland wahrnehmen, weil
sie die Münchener Ausstellung in seine nächste Nähe führen wird. Wir
möchten deshalb allen unsern Lesern, welche vorhaben, in die Kunststadt zu
Pilgern und damit einen Ausflug in die Sommerfrische zu verbinden, und
denen dabei an einem verläßlichen Reisehandbuche gelegen ist, als den trefflich-
sten Führer den nun in 6. Auflage vorliegenden „Wegweiser" von Th. Traut¬
wein angelegentlich empfehlen. Das Buch kann ein in feiner Art klassisches
genannt werden. In knappster Form ist hier eine immense Zahl von Notizen,
die — man kann wohl sagen — von absoluter Zuverlässigkeit sind, zusam¬
mengetragen. Das Register des kompressen Bandes von wenig über 400 Seiten
enthält etwa die zehnfache Anzahl von Namen. In 108 Routen führt das
Buch durch das gesammte Gebiet der Ostalpen, des bairischen Hochlandes,
Tirol's, des Salzkammergutes, Oberösterreich's, Obersteiermark's, des Allgäu,
des Vorarlberg, bis hinab zu den italienischen Seen, Mailand und Venedig,
und dokumentirt auf jeder Seite die gewissenhafteste Arbeit, die ihre Daten,
wo sie nicht auf eigener Beobachtung und Erfahrung des Verfassers beruhen,
aus denen anderer sorgfältiger Forscher des Alpengebietes geschöpft hat. Der
größte Vorzug des Buches aber ist der, daß es nicht für den „Salontiroler"
gemacht ist, sondern für den wirklichen Touristen; es ist ein Wegweiser im
besten Sinne des Wortes, der die Landstriche, durch welche er führt, auf Schritt
und Tritt kennt, und weiß, wie man seine Zeit auszunutzen hat. Dabei ist es
aber durchaus nicht allein für den Gletscherfresser xar sxesllsnes berechnet,
fondern auch für diejenigen praktikabel, die sich die Berge in der Hauptsache
lieber von unter ansehen. An Geschichts- und Kunstnotizen bringt es alles,
was für den Touristen, der die Städte nur flüchtig berühren wird, wünschens-
werth ist und Noth thut. Daß das Format härtlich und bequem ist, der
Druck leserlich und gut arrangirt, die Eintheilung einfach und übersichtlich (der
Raum ist z. B. so weit ausgenutzt, daß zur Zusammenstellung der hauptsäch¬
lichen Reiserouten das Vorsatzpapier verwandt wurde), braucht bei einem Werke,
das in allen Stücken mit solcher Sorgfalt und Umsicht hergestellt ist, kaum
besonders erwähnt zu werden. Wir zweifeln nicht, daß „das Wohlwollen der
Touristen, welches dem Buche bisher in so reichem Maße zu Theil wurde",
— verdientermaßen, setzen wir hinzu — ihm auch in Zukunft tren bleiben wird.
Diese Blätter befassen sich nicht mit der Anzeige und Kritik von Koch¬
büchern. Hier aber haben wir eine völlig neue Idee, sozusagen ein Phänomen
vor uns, über das der alte Brillat-Savarin sich, wenn er noch lebte und
deutsch verstände, von ganzem Herzen freuen würde. Denn hier verbindet sich
gründliche Wissenschaftlichkeit mit anmuthiger Rede, Belehrung mit Unterhaltung,
Klarheit mit Eleganz, unerhörte Reichhaltigkeit mit Knappheit und Kürze im
Einzelnen zu einem Ganzen, das auch den strengsten Anforderungen der Meister
von der Kunst, den Geschmackssinn zu befriedigen, in vollem Maße entsprechen
dürfte. Ein Kochbuch der Kochbücher liegt vor uns, und bei einer solchen
Leistung dürfen wir wenigstens mit ein paar Zeilen eine Ausnahme von unserer
Regel machen. Das gesammte Gebiet der Gastronomie von den einfachsten
und geringsten Speisen und Getränken bis hinauf zu den komplizirtesten und>
vornehmsten erschließt sich vor uns in diesem Buche, über kaum weniger als
zehntausend Rezepte zur Vergnügung von Gaumen und Zunge schweift unser
Auge, bald die Menge der Erfindungen bewundernd, welche der Phantasie von
Genies der Küche in alter und neuer Zeit entsprossen sind, bald mit Andacht
sich in einzelne besonders edle Gerichte versenkend. Selbstverständlich behandelt
das Werk als universales auch die Nationalspeisen fremder Völker und die
ihnen eigenthümlichen Getränke, und auch hier begegnen wir ausgebreiteter
Kenntniß und interessanter Behandlung der betreffenden Gegenstände. Selbst
der russische Kwas, die griechischen Kurabiedes, das spanische Ajo blanco und
der amerikanische Mink Julep sammt seiner Verwandtschaft werden sorgfältig
beschrieben. Daneben sind die Biographieen der berühmtesten Gourmands,
Brillat-Savarin's, Carsme's, Griinod de la Reyniere's, Rumohr's, Vaerst's u. A.
eingestreut, sodaß man die Philosophen der Bratpfanne gleich neben ihren
Werken hat. Den Rezepten, bei denen auch die jüdische, die vegetarianische
und die Kräuterkunde Berücksichtigung gefunden haben, gehen eine wohlgeschriebene
Abhandlung über den Geist der Kochkunst und ein Küchenzettel für alle Tage
des Jahres voraus, der höhere wie geringere Ansprüche zu berathen und zu
befriedigen sucht, und dem Anweisungen für besondere Gelegenheiten, Frühstücke,
Damenkaffees, Soupers, Büffels bei Familienbällen, russische Voressen, Jagd-
frühstllcke u. tgi. beigegeben find. Den Schluß bildet eine Abhandlung über
die Tranchirkunst, die mit Illustrationen erläutert ist. Kurz und gut: das'>
Buch hat Alles bedacht und für Alle bestens gesorgt, und der Verfasser kann
von seiner Arbeit getrost sagen, was der englische Dichter Shirley in der Vor¬
rede zu einem seiner Werke zum Leser sagte: „Lies und fürchte nicht, daß'
dieses Buch deinem Verständniß zu Schwieriges zumuthen werde. Es soll dir
im Gegentheil Alles klar und leicht machen, und wenn du deinen Einkauf
näher ansiehst, so wirst du den dafür bezahlten Preis als eine Mildthätigkeit
gegen dich selbst betrachten." Mit diesen Worten sei das Lexikon, mit dem
wir Deutschen selbst die Franzosen in den Schatten stellen, allen Lesern, nament¬
lich aber den Leserinnen d. Bl. als in Theorie und Praxis gleich ausgezeichnet'
bestens empfohlen.
Der letzte Wille des großen Königs in Bezug auf die Erhaltung, Aus¬
bildung und Verwendung seines Heeres entstand in den bewegten Herbsttagen
des Jahres 1768. Schon sechzehn Jahre vorher hatte Friedrich ein Testament
gemacht und, dem Brauche seiner Vorgänger folgend, einen Anhang hinzuge¬
fügt, in welchem er feine Gedanken über die äußere und innere Politik nieder¬
legte. Jene „at8xo8itioQ tkstanieQwirs" wurde 1769 durch eine andere ersetzt,
dagegen gelangte das „et8es.in,6in xotitli^us" schon zwei Monate früher zum
Abschluß, und zwar im Hinblick einerseits auf die Unruhen, welche den Zer¬
setzungsprozeß des Königreichs Polen begleiteten und die Nachbarmächte schlie߬
lich nöthigten, die Lösung der polnischen Frage selbst in die Hand zu nehmen,
andererseits auf den zwischen, Rußland und der Pforte ausgebrochenen Krieg.
Am Schlüsse seines, die Angelegenheiten des königlichen Hauses regelnden
Testamentes ruft Friedrich aus: „Meine letzten Wünsche im Augenblicke, wo
ich sterbe, werden auf das Wohl dieses Reiches gerichtet sein. Möge es immer
Mit Gerechtigkeit, Weisheit und Stärke regiert werden, möge es von allen
Staaten der glücklichste sein in Bezug auf die Menschlichkeit seiner Gesetze, am
besten verwaltet in feinen Finanzen und am tapfersten vertheidigt durch ein
Heer, welches nur der Ehre und dem Ruhme lebt." In diesem Sinne sind
denn auch die Rathschläge gehalten, welche Friedrich hinsichtlich der weiteren
Leitung des preußischen Kriegswesens hinterlassen hat, und welche vor kurzem
in einer von dem Major A. v. Tapfen besorgten kommentirten Ausgabe ver¬
öffentlicht worden sind.*) Sorgfältig und gewissenhaft werden alle Punkte
erörtert, die dabei von Wichtigkeit sind. Klar überschaut der König zunächst
sämmtliche Glieder des komplizirten Organismus seiner Armee, prüft jedes
einzelne und weist die Mittel zur Pflege und zur weiteren Durchbildung des-
selben nach. Verpflegung, Bekleidung und Ausrüstung, Ersatz der Truppen,
Organisation und Ausbildung der einzelnen Waffen, die Festungen — Alles
wird mit genauester Sachkenntniß durchgegangen, und so gestaltet sich die erste
Abtheilung des Testamentes zu einer umfassenden Uebersicht des gesammten
preußischen Heerwesens im ersten Jahrzehnt nach dem siebenjährigen Kriege.
Der König legt dar, in welcher Verfassung sich alle einzelnen Theile des
Kriegsapparates befinden, und welche leitenden Gedanken in Betreff desselben
bisher von ihm befolgt worden sind und fernerhin maßgebend sein sollen.
Einen besonderen Reiz hat es dabei, zu sehen, daß das Ganze trotz des vielen
Details doch als aus der Königs-Perspektive betrachtet erscheint. Selbst da
fehlt dieser weite Ueberblick nicht, wo, wie bei der Artillerie und dem Festungs¬
wesen, auf besonders viele Einzelheiten einzugehen war, die aber dann wieder
den Vortheil gewähren, daß man hier, wie kaum anderswo, vollen Einblick in
die schöpferische Thätigkeit Friedrich's auf diesen Gebieten gewinnt.
Der erste, mehr administrative Theil des Testamentes schließt mit den
Invaliden-Angelegenheiten, die der weiteren Fürsorge des Nachfolgers mit
warmen Worten empfohlen werden. Dann redet der König als Feldherr. Fünf
Jahre sind verflossen, seit er als Sieger aus dem Kampfe mit halb Europa
hervorgegangen ist. So oft er sich während dieses Kampfes bemüht hat, zu
Nutz und Frommen seiner selbst und Anderer die in demselben von ihm ge¬
machten Erfahrungen zusammenzustellen: jetzt zum ersten Male nach dem Frieden
untersucht er, welche Veränderungen seine Grundsätze in Folge jener Erfah¬
rungen etwa erleiden müssen. Diesmal aber wendet er sich nicht an seine
Generale, sondern an den, welcher nach ihm Szepter und Schwert tragen soll.
Dabei erhalten die strategischen und taktischen Lehren, die hier vorgetragen
werden, noch ein besonderes Gepräge dadurch, daß ein ganz bestimmter Kriegs¬
fall in's Auge gefaßt ist, und sodann war König Friedrich dabei offenbar auch
von dem Gedanken beeinflußt, daß er die überkühnen Wege, die er früher zu
gehen genöthigt gewesen, jetzt, wo es mehr auf Erhalten als auf Wagen und
Gewinnen ankam, nicht mehr empfehlen zu dürfen glaubte. Die im Testamente
enthaltenen Fundamentalgrnndsätze des Krieges können daher nur im Zusam¬
menhange mit den übrigen, der Umgebung des Königs bereits geläufigen
„Generalprinzipien des Krieges", die dem Testamente beigefügt sind, richtig
begriffen werden. Sie sind nicht die Quintessenz der letzteren, sondern deren
Ergänzung, und zwar eine für den Militär sehr wichtige Ergänzung, da hier
über eine bisher weniger beachtete Entwickelungsstufe der Taktik, nämlich den
Uebergang von der linearen zur Tirailleur- und Kolonnentaktik der späteren
Zeit ganz neues Licht verbreitet wird.
Besonders werthvoll ist endlich die den Beschluß des Testamentes bildende
Charakteristik der damaligen Führer des preußischen Heeres. Allerdings fehlen
darin viele von den Koryphäen des siebenjährigen Krieges, wie der Dessauer,
Zieten, Schwerin, Keith, Winterfeldt und Fouqui; doch begegnen wir noch
Männern wie Prinz Heinrich, Seydlitz, Anhalt, Ramin, dem Jnfanteriegeneral,
den der König „^ärairabls" nennt, Wunsch, der sich im siebenjährigen Kriege
mehrmals bei selbständigen Unternehmungen ausgezeichnet hatte, Wolffersdorff,
dem tapferen Vertheidiger von Torgau, dem Generalmajor v. Dalwig, einem
Reiterführer, von dem der König außerordentlich viel hielt, obwohl ihm sein
absprechendes Wesen nicht gefiel, und mehreren Anderen, namentlich den Husaren¬
generalen v. Losfau und v. Werner; der letztere entsetzte 1760 durch seine Energie
das von den Russen hart bedrängte Colberg.
Das Testament ist in französischer Sprache abgefaßt. Der deutsch ge¬
schriebene Kommentar dazu war nöthig, denn das dort Gesagte ist erstens vom
rein praktischen Standpunkte aus und nicht zum Zwecke geschichtlicher Darstel¬
lung niedergeschrieben. Der, für welchen die Arbeit bestimmt war, der dama¬
lige Prinz von Preußen, war mit dem Leben der Armee völlig vertraut und
verstand somit leicht jede Andeutung; bei dem heutigen Leser wird dies nicht
der Fall sein. Auch war es nicht überflüssig, gelegentlich auf den Unterschied
zwischen damals und jetzt hinzuweisen, namentlich aber wird man dem Her¬
ausgeber dafür dankbar sein, daß er wiederholt auf die vielen für alle Zeiten
Geltung behaltenden Wahrheiten aufmerksam gemacht hat, die von dem großen
König auch in dieser Arbeit niedergelegt worden sind.
Wir stehen im September 1812. Ein eherner Druck liegt auf unserm
Lande. Bis zum Rhein, seit 1810 bis Lübeck reicht die Grenze des französi¬
schen Empire; von dem, was noch Deutschland heißen darf, umfassen die
Gebiete der Rheinbundsfürsten die gute Hälfte; Preußen ist bis auf vier
Provinzen zusammengebrochen, in denen eine verarmte Bevölkerung von nicht
5 Millionen wohnt; der österreichische Südosten gehört einem Reiche, das eine
deutsche Politik nicht führen kann und jetzt am wenigsten führen will, und
im Osten umklammert die preußische Grenze das napoleonische Herzogthum
Warschau, das Schattenbild eines Polenstaates. Wenige Monate erst sind
vergangen, da haben sich durch das nördliche Deutschland die ungeheueren
Massen der „großen Armee" gegen Rußland gewälzt, eine halbe Million
Soldaten aller Länder West- und Mittel-Europa's mit 80000 Pferden; über¬
wältigend ist der Eindruck aller Orten gewesen, hat die einen mit staunender
Bewunderung vor der Größe des Imperators, die andern mit dumpfer Hoff¬
nungslosigkeit erfüllt. Noch einmal hat sich Napoleon in Dresden, umgeben
von den Fürsten des Rheinbundes, gesonnt im Strahlenglanze seiner Welt¬
macht, und nur einer hat ihm den kalten Stolz gezeigt, der ihm gegenüber
allein gebührte, König Friedrich Wilhelm III. Unendlich aber sind die Lasten
gewesen, die er seinen „Bundesgenossen" auferlegt hat für einen Krieg, der die
Vollendung seiner Weltherrschaft bringen sollte. Ueber 20000 Mann wohl¬
gerüsteter Truppen hat ihm Sachsen zur Verfügung stellen müssen, ebenso
diensteifrig hat der ganze Rheinbund sich erwiesen, und auch Oesterreich, halb
genöthigt, halb eigenem Interesse folgend, hat sich diesmal den Vasallen Napo¬
leon's angereiht. Gezwungen, den Untergang vor Augen, wenn es sich nicht
fügte, hat auch Preußen sein Bündniß mit Frankreich geschlossen, die Hälfte
seines kleinen Heeres, 20000 Mann, zur „großen Armee" gesandt, erdrückende
Lieferungen übernommen: 3600 bespannte Wagen, Verpflegung für 20000
Kranke, 15000 Pferde, 44000 Stück Ochsen, 900000 Pfund Pulver und Blei;
aber die Grenzen dieser Lieferungen sind längst weit überschritten, bis Ende
September sind 78000 Pferde, 13000 Wagen für französische Transporte
verwendet worden; die furchtbare Kontribution an Frankreich — eine Milliarde
Francs bekannte Napoleon selbst aus dem ausgesogenen, fast seines ganzen
Seeverkehrs durch die Kontinentalsperre beraubten Lande gezogen zu haben —
ist längst in Geld und Lieferungen getilgt, ja Frankreich schuldet an Preußen
fast 90 Millionen Franes, und doch zahlt es keinen Pfennig, doch verweigert
es höhnend die vertragsmäßige Räumung der Oderfestungen Stettin, Küstrin
und Glogau; in seiner eigenen Hauptstadt muß der König eine französische
Besatzung, den Uebermuth französischer Offiziere dulden, und lächelnden Mundes
muß man es ertragen. Noch erträgt man es, noch! Aber in dem verhöhnten,
ausgeplünderten, bis auf's Blut gereizten Volke frißt ein unversöhnlicher Groll,
ein furchtbarer Haß, wie ihn Deutsche nie wieder empfunden, tiefer und tiefer.
Doch es ist ein treues, monarchisches Volk und ein' deutsches Volk. Nicht in
leidenschaftlichem Ansturm will es sich erheben, den unmenschlichen Volkskrieg
führen, wie die Spanier, es harrt der Weisung seines Königs und arbeitet in¬
zwischen in der Stille mit allen seinen Gedanken, Gefühlen und Kräften an der
Erneuerung seines Staates und seiner eigenen Sitte. Denn den Glauben
an seinen Staat, die Treue gegen die Hohenzollern, kein napoleonischer Frevel,
keine Rheinbündische Verlockung hat sie ihm zerstört. Da schenkt der freie
Entschluß der Krone den Bauern die Freiheit, den Städten die Selbstverwal-
tung, da arbeiten Scharnhorst und seine Genossen an der Umbildung und Ver¬
mehrung des Heeres, da hält Fichte seine stolzen und tiefen Reden an die
deutsche Nation, da sammelt sich an der neugegründeten Universität Berlin ein
Kreis unsterblicher Geisteshelden. Und als der Feldzug gegen das Czarenreich
eröffnet wird, da geht auch das Gefühl durch die Massen: das sei die Wende
im Schicksal des Gewaltigen, so frevelhafter Uebermuth fordere die göttliche
Vergeltung heraus.
Und doch, wie konnte man eben im September 1812 glauben, daß die
Katastrophe so nahe sei? Nur rasches, ungestörtes Vorrücken der Franzosen,
unaufhörliches Weichen der Russen wurde gemeldet. Da war es wohl erklär¬
lich, wenn der Staatskanzler v. Hcirdenberg, der 1810 die Leitung des tief
gebeugten preußischen Staates übernommen, überzeugt, daß der völlige Sieg
Frankreich's kaum abzuwenden sei und auch eine etwaige Niederlage die furcht¬
baren Lasten Preußen's nur steigern könne, in einem eigenhändigen Schreiben,
durch welches die volle Trostlosigkeit der Lage hindurchklang, am 3. September
dem Grafen Metternich eine Verständigung über möglichst übereinstimmendes
Vorgehen beider Mächte anbot. Nun erhielt aber Metternich kurz nachher die
Nachrichten vom Siege bei Borodino (7. Sept.), vom Einzuge Napoleon's im
heiligen Moskau (14. Sept.); wie konnte er, der niemals an die Ausdauer
des Czaren geglaubt, jetzt etwas anderes aus allem sehen, als die Bestätigung
seines Pessimismus! Umsomehr war er geneigt, Hcirdenberg zuzustimmen;
aber er ging einen Schritt weiter; er entwickelte ihm den Plan einer gemein¬
schaftlichen Vermittelung des allgemeinen Friedens, dessen schleuniger Abschluß
allein die beiden zwischen Frankreich und Rußland eingekeilten Mächte Preußen
und Oesterreich vor gänzlichem Verderben zu retten vermöge (5. Oktober).
Als Hcirdenberg dies Schreiben aus Wien empfing, wußte er schon um
den Brand von Moskau. Der erste Hoffnungsschimmer stieg ihm auf; das
konnte der Anfang des Endes sein, wenn anders Kaiser Alexander fest blieb,
den Frieden nicht schloß, den Napoleon in Moskau zu finden gewähnt. Und
der Czar, von Stein's gewaltiger Energie getragen, blieb fest; „nach dieser
Wunde," hatte er gesagt, „sind alle anderen nur Schrammen", und als Napo¬
leon's Generaladjutant Lauriston in Tarutino dem Fürsten Kutusow Smo-
lenskoj den Frieden bot, da hatte ihm dieser echte Altrusse entgegnet: „Mit-
und Nachwelt würden mich verfluchen, wollte ich die Hand zu einem Vertrage
bieten." Jetzt, als die heilige Czarenstadt ein Raub der Flammen geworden,
jetzt erwachte in voller Stärke der religiöse Patriotismus des russischen Volkes.
Und jetzt — es war Anfang Oktober — erhielt man auch in Berlin die posi¬
tive Versicherung des Czaren: er sei zur Fortsetzung des Krieges fest entschlossen,
und zugleich seine Aufforderung, sich mit Oesterreich zu verständigen zum Ab¬
falle von Frankreich.
Jetzt durfte man zu hoffen wagen; Hardenberg fand den Muth, neue
Forderungen Napoleon's auf eine ansehnliche Verstärkung des preußischen
Hilfskorps mit dem Hinweis ans die völlige Erschöpfung des Landes abzu¬
lehnen. Noch ahnte man aber nichts von dem erbarmungslosen Verderben,
das schon über die „große Armee" hereingebrochen war. Am 18. und 19.
Oktober hatte Napoleon die Hauptstadt geräumt, war nach dem unglücklichen
Versuche, in südlicher Richtung über Malo - Jaroslawez nach Kaluga durchzu¬
brechen, zurückgegangen auf die alte entsetzlich verwüstete Straße über Smolensk,
die keine Möglichkeit der Erhaltung sür seine Tausende bot. Als er — am
9. November — das verödete Smolensk erreichte, da hatte der russische Winter
sein Werk vollbracht: kaum 40000 Mann hielt der Imperator noch von
100000 Mann des Zentrums, die Moskau verlassen, unter Waffen, alles
andere bestand aus wehrlosen Haufen ohne jede militärische Ordnung; 350
Geschütze waren seit Moskau verloren, und wie der Donner einer großen
Schlacht hallte auf der ganzen Rückzugsstraße der Schall der Explosionen,
welche die verlassenen Munitionswagen zerstörten. Noch hoffte man in Wilna,
dem diplomatischen Hauptquartier, der strategischen Basis des ganzen Zuges,
wo der Herzog von Bassano den Kaiser vertrat, umgeben von den Gesandten
aller verbündeten Staaten, die Armee werde sich an der Dura und am Dujepr
halten können, und der preußische Gesandte General v. Krusemark sah aus
dieser Möglichkeit nur neue furchtbare Lasten für fein armes Vaterland her¬
vorgehen (Bericht vom 21. Nov.). Aber schon am 8. Dezember wußte man in
Berlin, auch Smolensk sei nicht zu halten gewesen, ja selbst der Rückzug auf
Wilna über die Beresina bedroht. Wenige Tage später — am 14. — meldete
der Postmeister in Glogau, Napoleon habe auf der Reise nach Paris die
Stadt passirt.
Ja, der Allgewaltige war auf der Flucht. Er hatte sein geopfertes Heer
verlassen, nachdem er es über die Beresina geführt und unbewegt den unaus¬
sprechlichen Jammer mit angeschaut (26. und 27. November). Am 10. Dezember
war er in Warschau eingetroffen, im Englischen Hofe abgestiegen. Wer fühlte
nicht das sprachlose Entsetzen jener Szene mit, die damals sich dort abspielte!
Der außerordentliche französische Gesandte für das Herzogthum Warschau,
de Pratt, Erzbischof von Mecheln, sitzt ohne Ahnung des Geschehenen in seinem
Zimmer; da tritt eine bis zur Unkenntlichkeit in Pelze gehüllte Gestalt herein.
„Sie sind es, Caulaincourt? Wo ist der Kaiser?" so ruft nach einer stummen
Pause der Gesandte, der weiß, daß dieser Getreue seinem Herrn niemals von
der Seite wich. „Im Englischen Hofe," erwiedert der Gefragte. „Und die
Armee?" „Sie ist todt." Und als der Minister vor den Kaiser tritt, noch
bebend unter der Wucht des Furchtbaren, da gesteht ihm der Imperator
rund heraus: „Bis zum 6. November war ich Meister von Europa; ich
bin es nicht mehr." Aber Meister von Frankreich wenigstens wollte er
bleiben, er wollte nach Paris, dort „einschlagen wie eine Bombe". In flie¬
gender Eile ging es vorwärts; am 12. Dezember war er in Glogau, am 14.
Abends hielt sein Bauernschlitten im Hofe des Schlosses zu Dresden, kaum
nahm der Kaiser sich die Zeit, zwei Briefe nach Berlin und Wien zu richten;
vier Tage später, am 18. Nachts 11 Uhr, langte er in den Tuilerien an. Ganz
Paris und mit ihm Frankreich war in namenloser Bestürzung, denn am Tage
vorher hatte der Moniteur das berufene Bulletin von Malodetschno publizirt,
das, nachdem man seit Monaten von nichts anderem als von Siegen ver¬
nommen, die Vernichtung des glänzendsten Heeres, welches die Welt noch ge¬
sehen, mit dürren Worten eingestand. Kaum ein Haus war in dem weiten
Reiche, das nicht seinen Todten hatte. Aber Napoleon kannte seine Franzosen;
er ließ ihnen keine Zeit, über das Entsetzliche nachzudenken, eben deshalb war
das Bulletin erst einen Tag vor seiner Ankunft veröffentlicht worden, und der
Eindruck, den es hervorgebracht, verschwand beinahe vor dem der unerwarteten
Kunde, der Kaiser sei in Paris. Ja, Frankreich athmete auf bei dieser Nach¬
richt; drohte doch in des Kaisers Abwesenheit Alles aus den Fugen zu gehen
in diesem straff zentralisirten Staate, der nur zu leben vermochte, wenn eine
übermächtige Kraft ihn lenkte, und — so paradox es klingt — den ärgsten
Schrecken hatte nicht das Bulletin von Malodetschno hervorgerufen, sondern
die Furcht, der Kaiser werde neue, unabsehliche Opfer an Geld und Menschen
fordern. Und er verlangte sie nicht, er erklärte, bis zum September 1813
keiner neuen Leistungen zu bedürfen. Es setzt uns jetzt nicht mehr in Erstaunen,
wenn wir sehen, daß er damit eine bewußte Lüge aussprach; er war von vorn¬
herein entschlossen, im Frühjahr den russischen Krieg wieder aufzunehmen mit
riesigen Streitkräften; aber er verstand es, die Aufmerksamkeit von seinen
Rüstungen abzulenken durch das dröhnende Getöse, mit dem seine offizielle
Presse den hirnlosen Pulses des Generals Mallet behandelte, der ein Gerücht
von des Kaisers Tod benützt hatte, um sich vorübergehend selbst in den Besitz
der Gewalt zu setzen, und durch pomphafte Vorbereitungen zur Krönung der
Kaiserin und ihres Sohnes. So spurlos war das ungeheuere Gottesgericht
an diesem Manne vorübergegangen; nicht die leiseste Ahnung war in ihm
lebendig, daß er die Sonnenhöhe seines Ruhmes überstiegen habe, dem Ab¬
grunde zutreibe. Denn nie hat er etwas geahnt von den Kräften des Gemüths.
Die auch noch etwas Anderes als eine straffe Verwaltung, ein schlagfertiges
Heer und wohlgeordnete Finanzen für nothwendig hielten, damit ein Staat
bestehe, die schalt er thörichte Schwärmer. Und noch war er Herr über Frank¬
reich, noch wagte Niemand unter seinen Verbündeten auch nur die Wimper zu
zucken; sein Zauber schien ungebrochen, und wenige Monate später — so
wähnte er — führte er sein Heer von neuem gegen Rußland.
Doch in eben dem Staate, den er mit seinem unversöhnlichsten Hasse ver¬
folgt hatte, den er gebrochen meinte, den noch seine Regimenter besetzt hielten,
in Preußen, da brach jetzt der Gedanke zum Abfall durch. Nicht eine leiden¬
schaftliche, plötzliche Erhebung war es; vorsichtig, zögernd, schrittweise hatte
die Regierung des Königs den Krieg vorbereitet mit einer diplomatischen Meister¬
schaft, die wir erst jetzt vollständig zu übersehen vermögen. Das entsprach der
Lage und dem Charakter der leitenden Männer. König Friedrich Wilhelm
war kein Mann des raschen, kühnen Entschlusses, und Hardenberg, ein feiner
Diplomat von nur müßiger Tiefe der Empfindung, weder an Genialität des
Blickes noch an großartiger Leidenschaft seinem Vorgänger Stein entfernt zu
vergleichen; aber es ist nicht wahr, daß nur die Volkserhebung sie mit sich
fortgerissen; sie setzte nur ein im rechten Momente, um der längst vorbereiteten
Aktion eine unwiderstehliche und — wer könnte es leugnen! — auch von den
Regierenden ungeahnte Wucht zu verleihen. Als jener Brief Napoleon's von
Dresden her, der die Verstärkung des preußischen Hilfskorps auf 30 090 Mann
verlangte, am 16. Dezember eingegangen war, traten die vertrauten Räthe des
Königs, Albrecht, Knesebeck, Ancillon, Hardenberg, zu jenen Verhandlungen zu¬
sammen, die der ganzen Aktion den Plan entwarfen. Sie zweifelten nicht, daß
der Augenblick der Befreiung gekommen sei. Aber man war weit davon entfernt,
sich blindlings und unbedingt in die Arme der Russen zu werfen, man fürchtete
ihre Pläne auf Polen, ja auf Ostpreußen, und ebendeshalb sollte Preußen nur
im festen Bunde mit Oesterreich vorgehen, zunächst mit demselben sich zur be¬
waffneten Vermittelung verbinden, erst nach Ablehnung derselben den Krieg
erklären, vor der Hand aber, um diese Verhandlungen und die sofort zu be¬
ginnenden Rüstungen zu decken, den Schein des französischen Bündnisses wahren.
Noch ahnte keiner der treuen Patrioten, welche ungeheure Kraft in dem still
vor sich hinlebenden Volke schlummere; noch im Januar 1813 hat Oberst
Knesebeck die verfügbaren preußischen Streitkräfte auf nur 30000 Mann
berechnet.
Demgemäß ging am 3. Januar 1813 General v. Krusemark mit der Ant¬
wort des Königs auf den Dresdner Brief Napoleon's nach Paris ab: Preußen
sei bereit zu rüsten, sei bereit, ein Korps um Graudenz zu sammeln, nur müsse
Frankreich ihm durch Rückzahlung der gemachten Vorschüsse zu Hilfe kommen.
Während man so gegenüber Napoleon den Schein des Bündnisses wahrte, eilte
Oberst v. Knesebeck, schon früher zu diplomatischen Sendungen verwandt und
der entschiedenste Anhänger des österreichischen Bündnisses, nach Wien (4. Jan.).
Er sollte zunächst den Beitritt Preußen's zur österreichischen Friedensvermitte¬
lung ankündigen, für den Fall, daß sie mißlinge, den engen Anschluß beider
Mächte vorschlagen, war ein solcher für jetzt nicht durchzusetzen, die positive
Erklärung fordern, welche Haltung Oesterreich einem — vielleicht bald nöthi¬
gen — Bündnisse Preußen's mit Rußland gegenüber zu beobachten gedenke.
Als Ziele des Krieges hatte er die Erlangung der Rheingrenze, die Auflösung
des Rheinbundes, die militärische Hoheit Preußen's über den Norden, die
Oesterreich's über den Süden Deutschland's zu bezeichnen. Von der territo¬
rialen Neugestaltung Preußen's war keine Rede, eine Unklarheit, die auch durch
die späteren Verhandlungen hindurchgeht und sich bitter gerächt hat.
Hatte man in Berlin wirklich ein Recht, so unbedingt auf Oesterreich zu
zählen, wie Knesebeck es für rathsam hielt? Man schien fast vergessen zu haben,
daß in der Hofburg der alte Groll gegen den nordischen Nebenbuhler noch
keineswegs verschwunden war, daß Metternich zwar ein lebensfähiges, keines¬
wegs aber ein ebenbürtiges Preußen wünschte. Meisterhaft war Metternich's
Spiel; aber diejenigen irrten, die etwas anderes darin sahen, als eine spezifisch
österreichische Politik. Schon am 9. Dezember hatte er seinen Gesandten Floret
in Wilna angewiesen, bei dem Herzoge v. Bassano die Vermittelung Oester¬
reich's zur Herstellung des allgemeinen Friedens anzubieten, und General Bubna,
der dann die kaiserliche Antwort auf den Dresdener Brief Napoleon's nach
Paris überbrachte, hatte denselben Auftrag erhalten. Kein Zweifel, daß es
Metternich mit dieser Vermittelung zunächst Ernst war. Seine ganze Natur
war nichts weniger als kriegerisch, stets vermittelnd, „kalmirend"; und ihm wie
Kaiser Franz I. galt jede Erregung der Völker als „jakobinisch". Aber er
sicherte durch sein Auftreten seinem Staate auf jeden Fall eine hervorragende
Geltung. Denn so gewiß er für jetzt die diplomatische Leitung in die Hand
nahm, so gewiß mußte seinem Oesterreich auch die Oberleitung des Krieges,
wenn er doch ausbrach, zufallen. Trat es im rechten Augenblicke gerüstet
zwischen die Streitenden, so entschied sein Beitritt zu der einen oder andern
der kümpfenden Parteien den Krieg, und jede mußte deshalb bereit sein, ihn
durch die Unterwerfung unter Oesterreich's Leitung zu erkaufen. So hat Met¬
ternich die entscheidende Rolle vorbereitet, die Oesterreich seit dem Juni 1813
gespielt hat. Daß die Schlacht bei Leipzig ein österreichischer Feldherr kom-
mandirte, daß der Kongreß, der Europa neu gestaltete, in Wien sich versam¬
melte, war sein Werk. Und was er aus Paris erfuhr, das mußte ihm aller¬
dings beweisen, daß der Weltkrieg, nicht der Weltfrieden komme. Denn von
ungeheuren Rüstungen hatte Napoleon zu Bubna gesprochen (31. Dezember);
nicht ein Dorf wollte er abtreten, weder vom Empire noch vom Herzogthum
Warschau; weder Spanien noch Neapel sollte den napoleoniden entrissen werden.
Das war sein „Friedensprogramm"! Und prahlend, fast drohend entwickelte
er in seinem Schreiben vom 7. Januar dem verehrten Schwiegervater seine
immer noch riesigen Mittel und seine noch riesigeren Pläne; mit 400000 Mann
dachte er den Feldzug gegen Rußland im Frühjahr 1813 zu eröffnen, wenn
es seine Bedingungen nicht annehme; so gar nichts ahnte er von den Plänen
der Wiener Hofburg, daß er noch 30000 Mann mehr von Oesterreich forderte
und dagegen nicht eine Scholle Landes, nur einen elenden Subsidienvertrag in
Aussicht stellte. Damit war Oesterreich's Stellung gegen Frankreich entschieden.
Doch „wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit".
Da ging die Kunde von einer ungeheuren That „wie ein Erdbeben" durch
Europa. Ein preußischer General hatte es gewagt, auf eigene Hand von den
Franzosen abzufallen; am vorletzten Tage des scheidenden Jahres 1812 hatte
Dort mit den Russen die Konvention von Tauroggen geschlossen mit dem
vollen Bewußtsein dessen, was er that, und davon, daß sein Beginnen der
Anfang sei zum Kampfe auf Leben und Tod. Auch Napoleon schien einen
Augenblick die Binde von den Augen zu fallen: „Dies unselige Beispiel wird
dem russischen Kabinette den Kopf schwindeln machen," sagte er am 15. Januar
zu Krusemark, der im Namen seiner Regierung die That Jork's aus seiner
militärischen Zwangslage zu entschuldigen suchte; „es ist ein großes politisches
Ereigniß. Wir stehen vielleicht am Vorabend großer Dinge. Es ist ein Sturm,
durch den wir hindurch müssen." Und in der That, die kleine schwarze Wolke,
die dort in dem fernsten Winkel preußischer Erde zwischen Haff und Njemen
sich erhob, sie sollte zu einem Unwetter anschwellen, das Napoleon und alle
seine Macht verschlang.
Das preußische Korps, 20000 Mann, hatte, mit der 7. Division (Grand¬
jean) der „großen Armee" vereinigt, das 10. Korps gebildet, das als linker
Flügel unter Marschall Macdonald's Führung durch Samogitien und Kurland
gegen Riga vorging. Die Stärke der Russen in Riga und der Mangel eines
Belagernngsparks hatten den Angriff auf diese Festung verhindert, und so
standen die Preußen neben Bayern, Westphalen und Polen um Mitau und
längs der Aa, ihre Stellung oft nur unter blutigen Gefechten behauptend und
ihre alte Tapferkeit auch in diesem Kriege bewahrend, so wenig Sympathie sie
auch für die Bundesgenossen fühlten. Eben dort, unter Rheinbündnern und
Polen, wahrten sie den schroffen Preußenstolz. Keiner mehr, als ihr General,
David Ludwig v. Dorr, ein schneidiger Soldat, ein sicherer Führer noch aus
der Schule des großen Friedrich, der auch den unseligen Feldzug von 1806
ruhmvoll durchgefochten, streng und hart gegen sich wie gegen andere, und doch
väterlich besorgt um das Wohl seiner Untergebenen, deshalb ihrer unerschütter-
lichen Treue und Liebe gewiß, auch ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle,
der groß dachte vom Adel und zornig auf die „Neuerungen" Stein's und
Scharnhorst's schalt, vor allem ein treuer Preuße, ein loyaler Diener seines
Königs. So hatte er sein Korps geführt, den Preußenstolz in ihm stets
lebendig erhalten, dem Marschall Macdonald, vielleicht dem liebenswürdigsten
der Napoleonischen Granden, nie etwas anderes als strenge Pflichterfüllung
und kalte Höflichkeit bewiesen. Da trafen Anfang November die ersten Nach¬
richten vom Rückzüge der „großen Armee" in Mitau ein, zugleich mit ihnen
die erste Aufforderung der Russen — des Generals Essen in Riga — zum
Abfall. Aork gab keine Antwort, wandte seine volle Aufmerksamkeit seiner
Stellung zu, die der plötzlich eintretende Frost höchst unsicher machte. Aber
der General, der in kühler Ruhe die Selbständigkeit seines Korps wahrte, war
den Franzosen des Hauptquartiers längst ein Dorn im Auge; sehr berechtigte
Klagen, die preußische Befehlshaber über die ganz ungenügende Verpflegung
erhoben, wies man mit kränkenden Worten ab und schärfte die Abweisung durch
den Vorwurf, Jork sei ein Feind Frankreich's und des Kaisers. Wollte mau
ihn dadurch zu heftiger Entgegnung reizen, ihn auf diese Weise unmöglich
machen, so mißlang das; er blieb kühl, besonnen wie immer. Die Franzosen
ahnten nicht, wie gefährlich es vielleicht eben jetzt sei, dem General ein unver¬
dientes Mißtrauen zu zeigen. Denn auf's neue drängten die Russen. Der
neue Gouverneur Riga's, Paulucci, forderte ihn direkt zum Abfall, mindestens
zur Trennung von den Franzosen auf; im Auftrage des Czaren wandte sich
Wittgenstein, Befehlshaber der russischen Nordarmee, in demselben Sinne an
ihn. Welche Lage für den treuen Preußen und den loyalen Soldaten! Er
wich aus, erklärte nichts ohne Weisung seines Königs thun zu können, und
sandte am 5. Dezember seinen treuen Adjutanten Seydlitz nach Berlin, „um
die Entschließung Sr. Maj. zu erbitten". „Los von Frankreich!" das war
seine Losung als Preuße, „Nichts ohne den König!" sein Grundsatz als Soldat.
Die Nachrichten, die ihm am 8. Dezember Lieutenant v. Canitz brachte — er
hatte voll Entsetzen die jammervollen Trümmer der „großen Armee" in Wilna
gesehen —, bestärkten Jork in der Ansicht, die Stunde der Erhebung sei da.
Denn hatte bisher das preußische Korps — damals noch etwas über 17 000
Mann stark, darunter 15000 Dienstfähige — neben den ungeheuren Massen
des Hauptheeres wenig bedeutet, jetzt, da dies vernichtet war, beruhte auf Dort
und seinen Tapfern die einzige Hoffnung der Franzosen, die Russen an ihrer
Grenze zurückzuhalten. Sein Verhalten entschied das Geschick des Feldzuges.
Wie, wenn er sich ihnen versagte? Und auf's neue drängt Paulucci und
schlug am 7. Dezember eine persönliche Zusammenkunft vor. Doch wiederum
verwies ihn Dorr auf die zu erwartenden Weisungen seines Herrn. Aber diese
kamen nicht; nur das vermochte er aus einer königlichen Kaninetsordre vom
6. Dezember und aus einem Schreiben Hardenberg's zu erkennen, daß man
in Berlin sein Verhalten Macdonald gegenüber nicht mißbillige.
In der That war erst am 13. Dezember früh Seydlitz in Berlin ange¬
kommen. Es waren die Tage jener entscheidenden Berathungen. Aber was
die Russen von Jork verlangten, das eilte den Plänen des Hofes weit voraus,
hätte den Bruch des noch völlig ungerüsteten Staates mit Frankreich bedeutet,
wenn die Regierung es anordnete. Sie konnte nicht anders handeln, als sie
dann that. Erst am 21. Dezember ging Seydlitz wieder ab; neben der Er¬
nennung Jork's zum Generalgouvemeur von Ostpreußen — gewiß ein bedeut¬
sames Zeichen königlichen Vertrauens — überbrachte er ihm die mündliche
Weisung des Monarchen: er solle nach den Umständen handeln, nicht über die
Schnur hauen. Damit war dem General gewiß eine große Freiheit gelassen,
aber die volle Verantwortung fiel eben deshalb auf seine Schultern; eine In¬
struktion waren diese Worte nicht.
Doch ehe noch Seydlitz ihn wieder erreichte, war die Lage völlig verändert.
Am 18. Dezember hatte Macdonald die Gewißheit, die „große Armee" sei ver¬
nichtet, auch Kowno am Njemen bereits geräumt, die Russen — hinter seinem
Rücken — im Marsche auf Tilsit. Da befahl er den Abmarsch auf der
großen Straße durch Samogitien nach Memel und Tilsit, er selbst voraus mit
der Division Grandjean und den Preußen Massenbach's; nach ihm — mehr
als 36 Stunden später, nach des Marschalls Weisung — brach Jork auf. Es
war ein schrecklicher Marsch durch das öde, dünnbevölkerte, mit tiefem Schnee
bedeckte Land, auf spiegelglatter Straße, bei einer Kälte, die bis 24 Grad
stieg; oft glitten und stürzten Mann und Pferd, nur schrittweis kam man vor¬
wärts. So ging es Tage lang in ununterbrochenem Zuge, oft des Nachts.
Es war am Weihnachtsabend dieses schrecklichen Jahres, und mancher mochte
seufzend seiner Lieben daheim gedenken, da langte Jork in Kelmi an, etwa
halbwegs nach Tilsit. Dort fand er den Befehl Macdonalo's vor, auf Tau¬
roggen und Tilsit zu gehen, den letzten, den er von ihm erhielt. Aber wie
nun der Zug am ersten Weihnachtsfeiertage weiter geht, voran Kleist, nach
ihm Jork, zwischen beiden die stundenlange Wagenkolonne, bei tiefem Schnee,
eisigem Winde, unter grauem Wolkenhimmel sich wie eine endlose dunkle
Schlange durch die weiße Landschaft windend, da trifft in der Dämmerung
Nachmittags gegen 4 Uhr Kleist's Vorhut auf den Feind. Ein starkes russisches
Korps hält die vorliegenden Höhen besetzt, es ist Generalmajor v. Diebitsch
von Wittgenstein's Armee. Und gleichzeitig kommt von der Nachhut die
Kunde, sie werde heftig gedrängt. Man war von hinten und von vorn gefaßt,
von Macdonald abgeschnitten! Wollte Jork nicht durch einen nutzlosen Kampf
für fremde Zwecke sein Korps anf's Spiel setzen, so mußte er die Hand an¬
nehmen, die Diebitsch — ein Deutscher wie er — ihm bot. Spät Abends trafen
sich die beiden Männer zwischen ihren Vorposten; mit Diebitsch war Karl
v. Clausewitz, der genialste militärische Theoretiker der Zeit, den das preußisch¬
französische Bündniß in russische Dienste getrieben. Diebitsch bot eine Neu¬
tralitätskonvention für das York'sche Korps. Noch schloß York nicht ab, aber
er lehnte auch nicht ab, der Kampf sollte sofort aufhören, die Preußen in den
nächsten Tagen ungehindert vorwärts gehen, scheinbar um den Russen auszu¬
weichen. So geschah es; mühselig zog man weiter, kam am 28. Dezember in
Tauroggen an, unweit der Grenze. Von hier sandte Aork den Grafen Henkel
v. Donnersmark nach Berlin mit dem letzten Briefs Paulucci's vom 22.
Dezember, dem ein Schreiben des Czaren an den General vom 18. beigelegt
war, und einer Darstellung seiner Lage.
Die Entscheidung war nicht länger hinauszuschieben. Denn am Abend
des 29. brachte Clausewitz ein Schreiben aus Wittgenstein's Hauptquartier,
des Inhalts: ein weiteres Zögern Jork's werde ihn zwingen, jede Unterhand¬
lung abzubrechen; aber am 31. werde er auch zwischen Tilsit und Königsberg
den Weg verlegen. Er traf Jork in höchster Erregung; Seydlitz war da, aber
ohne Instruktion, mit einer allgemeinen Weisung, die Aork's Verantwortlichkeit
nur schärfte; von Macdonald war doch ein Bote durchgekommen, mit der
Kunde, der Marschall erwarte ihn in Tilsit. Er wußte genau, daß die Russen
viel zu schwach seien, um ihm den Weg wirklich zu sperren. That er jetzt
seine formale Pflicht, schlug er sich durch, wer mochte ihn darum schelten? ja,
er wagte seinen Kopf, that er sie nicht. Aber die einzige Möglichkeit, die
Russen aufzuhalten, d. h. den Franzosen Zeit zu Rüstungen zu verschaffen,
bot Jork's Korps; hielt er sie auf, so verspielte er den nie wiederkehrenden
Moment der Befreiung, schmiedete die Ketten Preußen's noch fester. Für
Aork's eisernes Pflichtgefühl eine furchtbare Wahl! — Er traf sie ganz allein;
auf sein Haupt allein nahm er die ganze Verantwortung und alle Folgen. Er
läßt den Stabschef Oberst Roter rufen, vernimmt seine Zustimmung zu dem
beabsichtigten Schritt. Dann, nach einigen schweigenden Augenblicken wendet
er sich an Clausewitz: „Ihr habt mich! Sagt dem General Diebitsch, daß
ich morgen früh mich bei den russischen Vorposten einfinden werde. Aber ich
werde meine Sache nicht halb thun, ich werde Euch auch noch den Mcifsenbach
verschaffen." Er fragt den Lieutenant Wernsdorf, der eben von Mcifsenbach
gesandt worden: „Was sagen Eure Leute?" und als der junge Offizier be¬
geistert ihre Zustimmung versichert, da meint der General: „Ihr habt gut
reden, Ihr jungen Leute, mir Alten aber wackelt der Kopf auf den Schultern."
Dann beruft er seine Offiziere; in kurzen, ergreifenden Worten schildert er
ihnen, was er gethan; ein begeisterter Jubel ist die Antwort; er aber schließt
die Szene mit den frommen Worten: „So möge denn unter Gottes gnädigem
Beistand das Werk der Befreiung beginnen und sich vollenden."
Ausschließlich Deutsche waren es, die in den Morgenstunden des nächsten
Tages, des 30. Dezember, in der Poscherun'schen Mühle bei Tauroggen sich
versammelten: Diebitsch und Clausewitz von russischer, Jork, Roter, Seydlitz
von preußischer Seite; der letztere schrieb die Paragraphen der Konvention.
Sie erklärte Jork's Korps für neutral, wies ihm den Landstrich nördlich der
Memel an, gestattete ihm, salls der König die Abkunft verwerfe, den freien
Abmarsch gegen das Versprechen, zwei Monate lang nicht die Waffen gegen
Rußland zu führen. Jubelnd vernahmen die Truppen, was geschehen; mit
endlosen, donnernden Hurrahs — sie hatten das Wort von den Russen gelernt —
begrüßten sie am Sylvesterabend den preußischen Grenzadler und die Bataillone
Massenbach's, der auf den direkten Befehl Aork's Tilsit verlassen hatte, über
das Eis der Memel gegangen war und ihm entgegen kam. Jede Brust athmete
auf: der verhaßten Bundesgenossenschaft war man ledig; mit dem Neujahrs-
morgen von 1813 war auch der Morgen des Befreiungstages angebrochen.
Die so hofften, ahnten wenig von der peinlichen Lage ihrer Regierung.
Der König hatte am 2. Januar die Meldung Aork's, er werde sich zu einer
Konvention verstehen müssen, mit den beigelegten Schreiben Paulucci's und
des Czaren erhalten; er war von dem letzteren, welches das Anerbieten eines
Bündnisses zur Wiederherstellung Preußen's in dem Umfange von 1806 enthielt,
freudig überrascht, er billigte Jork's Entschluß und suchte diplomatisch das
Ereigniß den Franzosen gegenüber vorzubereiten. Hardenberg entwickelte des¬
halb dem französischen Gesandten Se. Marsan, wie schwierig des Generals
Lage sei, und wie an alledem nur sein auf Macdonald's Befehl erfolgter ver¬
späteter Abmarsch die Schuld trage. Doch als am 4. Januar gegen Abend
ein Adjutant Macdonald's — Hardenberg war eben mit Fürst Hatzfeld, Se.
Marsan u. a. bei General Augereau, dem Kommandanten Berlin's, zu Tische —
das wirklich Geschehene meldete, das Schreiben Aork's an den Marschall über¬
brachte, welches unverhüllt das Schicksal des Korps von den.Verhandlungen
der kriegführenden Mächte abhängig machte und damit indirekt zugestand, die
Konvention sei nicht aus militärischen, sondern aus politischen Gründen ge¬
schlossen, da bemächtigte sich der Franzosen tiefe Bestürzung, und auch der
König erschrak. Wie oft und wie bitter hat man nachmals dem Monarchen
dies zum Vorwurf gemacht! Wir übersehen jetzt besser, wie begründet es war.
Erkannte der König die Konvention an, so brach er in einem Momente mit
Frankreich, wo Preußen militärisch noch unvorbereitet, politisch völlig isolirt
war, wo die Russen noch kaum die fernste Grenzlandschaft des Staates er-
reicht hatten, obendrein sich selbst kaum weniger schwach fühlten als die Fran¬
zosen — sie zählten damals alles in allem keine 50000 Mann —, wo ans
der andern Seite die Franzosen an der Weichsel fast ebensoviel zur Verfügung
hatten, 12 000 in Berlin und Spandau standen, gegenüber wenigen Tausend
Preußen in Potsdam und Charlottenburg, 24000 im Marsche von Magdeburg her
waren, wo ein Wink Augereau's genügte, um den König in seine Hand zu bringen.
Die Freunde fern, schwach, unsicher, die Feinde nahe, stark, entschlossen, das
ließ keine Wahl. Der König beschloß also, die Konvention thatsächlich anzu¬
nehmen, den Franzosen gegenüber zu verleugnen. So ging am 5. Januar
Major v. Rechner nach Elbiug an König Murat ab, der an Napoleon's Stelle
das Kommando der „großen Armee" führte. Das königliche Schreiben an ihn
meldete, Jork sei entsetzt und werde vor ein Kriegsgericht gestellt; sein
Kommando solle Kleist übernehmen, die Konvention sei kassirt, das Armeekorps
stehe zu Murat's Verfügung. Auch an Jork sollte der Major — so hieß es
gegenüber Murat — diese Ordre bringen, aber ein geheimer mündlicher Befehl
des Königs, im Beisein Hardenberg's gegeben, wies ihn an, statt nach Tilsit zu
Kaiser Alexander zu gehen und diesem im Namen des Königs zu erklären,
Preußen sei bereit, sich zu erheben, an Rußland sich anzuschließen, sobald sein
Heer die Weichsel überschreite. Das bedeutete: Aork sollte offiziell seine Absetzung
gar nicht erfahren, und der sie ihm überbrachte, die ersten Fäden des russisch-
Prenßischen Bündnisses schlingen. Nach Paris aber eilte am 12. Januar Fürst
Hatzfeld, um dort ein Entweder-Oder vorzulegen, das aus dem Munde dieses
erklärten Anhängers der französischen Allianz doppelt bedeutsam klang. Denn
er eröffnete dem Kaiser, die Erbitterung in Preußen und ganz Deutschland
sei ungeheuer, die Negierung kaum noch Herr ihres Volkes und schlechterdings
außer Stande, neue Lasten zu übernehmen sür Frankreich. Wolle Napoleon
ihre Treue sichern, so müsse er seine finanziellen Verpflichtungen erfüllen. Das
war eine Sprache, wie sie Preußen ihm gegenüber seit Jahren nicht zu führen
gewagt hatte. Doch er vermaß sich noch immer, dies tief empörte Volk nieder¬
zuzwingen mit seinen Legionen und seinem Genie. Aber weshalb hatte ihn
denn Aork's Abfall, den die Regierung mit der Entsetzung des ungehorsamen
Generals beantwortete, so tief erregt, ihn, der zwar zornig aufgebraust
war, als ihm Kaiser Franz einfach mittheilen ließ, ans seinen Befehl habe
der Führer des österreichischen Hilfskorps, Fürst Schwarzenberg, das Herzog-
thum Warschau geräumt, um die eigenen Grenzen zu decken, d. h. es den
Russen preisgegeben, aber dann den Groll über dieses bundesfreundliche
Verfahren des Schwiegervaters tief in seine Brust verschloß? Ahnte er in¬
stinktiv, daß die Einstellung der österreichischen Heeresfolge eine That des Wiener
Kabinettes sei, und Jork's Konvention ans dem tiefsten Grunde des preußischen
Volksbewußtseins erwachsen?
Bald sollte auch dem Imperator der letzte Zweifel daran schwinden. Am
20. Januar Morgens war Natzmer wieder vom Czaren in Potsdam einge¬
troffen, hatte gemeldet, die Russen würden über die Weichsel gehen. Die
Nachrichten Knesebeck's aus Wien lauteten nicht ungünstig, und als nun vollends
die für sicher gehaltene Kunde kam, Augereau wolle sich der Person des Königs
bemächtigen, da beschloß der Hof, was längst geplant war, auszuführen. Am
22. Januar Morgens verließ Friedrich Wilhelm mit seinen Söhnen Potsdam,
am 25. zog er in dem jubelnden Breslau ein. Er war in Sicherheit und frei.
Seine treuen Preußen verstanden, was das bedeute: ihr König war ent¬
schlossen zum Bruche mit Frankreich. Frohlockend trugen sie die Kunde von
Ort zu Ort, von Haus zu Haus. Sie hatten die jammervollen Reste der
„großen Armee" gesehen, zerschmettert war die Macht des „Korsen", des namen¬
los verhaßten; sie hatten jubelnd die kühne That Aork's vernommen und
trauernd ihre Verwerfung durch den König, aber sie warteten seines Befehles,
sie stellten sich ruhig und geräuschlos als Reservisten und Rekruten, als er die
Verstärkung seiner Regimenter anordnete, mit Musik und Gesang zogen die
Schaaren aller Orten ein. Die stille Hoffnung flog von Herz zu Herz und ließ
sie höher schlagen, das alles könne doch nicht für Frankreich, es müsse gegen
Frankreich sein. Und nun kam die Kunde von Breslau, nun umdrängten die
Schlesier mit stürmischem Jubel den geliebten Herrscher, und auch der kühle
Rechner, Freiherr v. Hardenberg, ward ein verwandelter Mensch unter dieser
elektrischen Berührung.
Aber noch ahnte er nicht, was dies Volk zu leisten gewillt und fähig sei.
Ost-Preußen war in voller Bewegung. Keine andere Provinz hatte in den
letzten entsetzlichen Jahren so furchtbar gelitten, wie dies arme Land. Der
blutige Krieg von 1806/7 hatte ihren Viehstand, die Grundlage ihres
Reichthums, zerrüttet, die Bevölkerung um ein Fünftel vermindert, die Konti¬
nentalsperre ihre blühende Getreideausfuhr vernichtet. Eine völlige Mißernte
im Jahre 1811 kam hinzu, und was an Wohlstand noch übrig war, das fraßen
die ungeheuren Einquartierungen und Durchmärsche des nächsten Jahres.
Aller Orten traf der Blick auf verbrannte Höfe, verödete Felder, kummervolle
Gesichter. Und an all' dem Verderben war doch nur der Eine Schuld; ihn
und sein Volk traf ein furchtbarer Haß, um so unversöhnlicher, je langsamer
er um sich griff in diesen nüchternen, phlegmatischen Menschen, die gewöhnt
waren, ihre Gefühle zu beherrschen. Nirgends war der Eindruck des furcht¬
baren Gottesgerichtes in Rußland tiefer als hier, wo man den ganzen blen¬
denden Glanz und den ganzen frechen Uebermuth der Franzosen mit Trauer
Und mit verhaltenem Groll wenige Monate vorher geschaut hatte. Und NUN
sah man seit dem 10. Dezember die elenden Reste dieses Heeres zurückkehren,
vereinzelt, unbewaffnet, halb erfroren, den Keim des Todes in sich tragend.
Und hinter ihnen her brausten die Kosaken über die Grenze; bald, noch ehe
das Jahr zu Ende ging, folgten die Truppen Wittgenstein's. Sie hielten
treffliche Mannszucht, denn sie kamen als Freunde, als Befreier; so verkün¬
deten es ihre Aufrufe, so bekannte es laut jeder Offizier und jeder Soldat,
und wieviele Deutsche, treffliche Namen, waren doch unter ihnen! Und end¬
lich, am Neujahrstage, flog die Kunde von Tauroggen durch das Land.
Unendlich war die Erregung, sie wuchs täglich, stündlich. Kein Mensch wollte
mehr den Franzosen dienen; nur die Barmherzigkeit wahrlich des gutartigen
Volkes rettete die Reste der „großen Armee" vor elendem Tode, und doch kam
es schon zu gewaltsamen Auftritten: in Königsberg wurde ein französischer
Gensdarm, der einen preußischen Rekruten thätlich beleidigt, von der erbitterten
Menge auf der Stelle erschlagen, im Angesichte der französischen Schloßwache,
vor den Augen König Murat's. „Jetzt oder nie!" so klang überall die Losung.
Ader wo waren die Führer für dies in seinem Innersten erregte und zu
jedem Opfer bereite Volk?
Von Berlin konnte man damals noch nichts erwarten. Und Aork — er
war zunächst nicht der Mann dazu, eine Volkserhebung zu leiten. Ihn quälten
pessimistische Zweifel, denn seine Rechnung, die Russen würden die Reste des
Macdonald'schen Korps — etwa noch 6000 Mann — vor Königsberg' ab¬
schneiden, vernichten, so seine Kapitulation militärisch rechtfertigen helfen, damit
zugleich den Franzosen die Weichsellinie entreißen, hatte ihn betrogen: Macdo¬
nald war glücklich in Danzig angelangt. Und nun kamen am 10. Januar die
Berliner Zeitungen in Königsberg an mit der Nachricht, die Konvention sei
verworfen, er selbst seines Kommandos entsetzt! Da stiegen schwarze Bilder
vor ihm auf: er sah sich entehrt, verurtheilt, erschossen. Er wollte den Befehl
über fein Korps an Kleist übertragen, aber dieser nahm ihn nicht und erklärte,
Niemand werde sich finden, der ihn nähme. Da raffte sich Aork auf. Noch
wußte er offiziell von nichts, und die Ereignisse trieben vorwärts; schon am
6. Januar hatte Königsberg, das am vorigen Tage die Franzosen verlassen,
den Russen Wittgenstein jubelnd begrüßt; seit dem 8. war York selbst in
Königsberg, und der eiserne Soldat wurde weich, als die Studenten der Uni¬
versität ihn begeistert umringten. Er beschloß, die Befehle des Königs zu
ignoriren, den Krieg auf eigene Hand zu beginnen. Aber zum Volksführer
geschaffen war der schroffe Militär, der stolze Edelmann, der obendrein jetzt
ganz isolirt stand unter diesen reservirten Ostpreußen, mit nichten, und der
Laudhofmeister und Regierungspräsident Auerswald, der gewissenhafte, aber
ängstliche und bedenkliche Beamte, noch weniger. Die Provinz verzehrte sich
vor Ungeduld: schon warben Edelleute und hohe Beamte auf eigene Faust im
Stillen, und verzweifelnd meldete Auerswald nach Berlin, er werde bald „den
Ausbrüchen eines lange verhaltenen Rachegefühls" nicht mehr wehren können.
In vereinzelten, nutzlosen Erhebungen drohte die edle Kraft des Landes sich
zu erschöpfen.
Da faßte eine festere Hand die Zügel. Am 16. Januar war Freiherr
von Stein, von Ernst Moritz Arndt als feinem Sekretär begleitet, im Haupt¬
quartiere des Czaren eingetroffen. Am 22. kam er nach Königsberg. Eine
kaiserlich russische Vollmacht wies ihn an, die Verwaltung des Landes zu führen
und feine Kräfte der guten Sache dienstbar zu machen, bis eine Vereinbarung
mit Berlin erfolgt sei. Rasch verständigte er sich mit dem Präsidenten Theodor
v. Schön in Gumbinnen und mit Jork und Auerswald in Königsberg dahin,
daß der ostpreußische Landtag, den er selber einst reformirt, sofort einzuberufen
sei, um die Bewaffnung des Landes auf Grundlage des Landwehrgesetzentwnrfs
von 1808 zu beschließen. Schon am 23. Januar ergingen die Wahlschreiben
in alle Kreise. Aber die am nächsten Tage angekommenen Berliner Zeitungen
vom 19. enthielten ja die königlichen Verfügungen gegen Aork; der ängstliche
Auerswald schwankte, wollte nur von einer „privaten Versammlung der Stände",
nicht einem Landtage wissen, und obwohl Stein's großartige Natur voll Gluth
und Leidenschaft diese Bedenken nicht begriff, gab er doch in der Form nach.
Da wirkte wahrhaft erlösend die Ankunft des Majors v. Thile aus Berlin;
er brachte an Aork, als Generalgouvemeur der Provinz, neue Befehle und die
Nachricht, der König gehe nach Breslau. Jetzt erkannte der treue Mann, daß
sein Monarch seine Verfügungen gegen ihn stillschweigend zurücknehme; jetzt
athmete er auf, befreit von der schwersten Last. Schon war auch seit dem
24. Januar sein Korps im Vormärsche gegen die Weichsel im Verein mit den
Russen: es war keine Wahl mehr.
Am 5. Februar eröffnete der Landtag seine Sitzungen, eine durchaus
königstreue, konservative Versammlung adlicher Großgrundbesitzer, städtischer
Deputirter, freier Bauern, besonnener Männer, nicht stürmischer Enthusiasten.
Das Erste, was er beschloß, war, den Vorsitz und die Leitung an Jork zu
übertragen als den Stellvertreter des Königs. Denn Preußen wollten sie
bleiben, nicht ein Jota der Autorität ihres Königs vergeben. Eine Deputation
wurde an Jork gesandt, er kam, übernahm das Amt mit kurzer, tief erregter
Ansprache, die mit den Worten schloß: „Ich hoffe die Franzosen zu schlagen,
wo ich sie finde; ich rechne hierbei auf die kräftige Theilnahme Aller; ist die
Uebermacht zu groß, nun, so werden wir ruhmvoll zu sterben wissen!" Ein
jubelndes „Es lebe Jork!" begleitete ihn, als er den Saal verließ; er aber
wandte sich um, gebot ernst Schweigen und sagte: „Meine Herren, auf dem
Schlachtfelde bitte ich mir das aus." Die von den Ständen niedergesetzte
Kommission verständigte sich rasch mit ihm; er forderte von der Provinz, einem
armen Lande von 1 Million Einwohner, außer den regulären Verstärkungen,
die sie schon zum Heere gestellt hatte oder noch stellen mußte (30000 Mann),
noch 20000 Mann Landwehr, 10000 Mann Reserven, ein freiwilliges Natio-
nalkavallerieregiment, Alles auf Kosten der Provinz. Und das Alles bewilligte
der Landtag, ohne einen Posten zu streichen, und mit stolz gehobenem Herzen
verließen seine Mitglieder Königsberg am 9. Februar, um daheim an.der
Ausführung zu arbeiten. Graf Ludwig Dohna eilte (13. Februar) nach Breslau,
er überbrachte dem König die Beschlüsse seiner treuen Ostpreußen und bat um
ihre Genehmigung. Wenige Tage vorher war Stein abgereist; sein Werk war
vollbracht. Ostpreußen starrte in Waffen, und wohin auch Dohna auf seiner
Reise kam, er fand das ganze Land in ein riesiges Heerlager verwandelt. Am
3. Februar war Knesebeck von Wien her in Breslau eingetroffen; er meldete,
Oesterreich werde vorerst seine Neutralität uicht brechen, da es durchaus noch
nicht bereit sei, aber Preußen sei seiner Zustimmung gewiß, wenn es mit Ru߬
land sich verbinde. Was man vom Czciren erfuhr, gestattete keinen Zweifel
mehr an seinem Ernste, den Krieg fortzuführen bis zur völligen Wiederherstel¬
lung Preußen's. Da entschloß sich der König: am 8. Februar publizirte die
Schlesische Zeitung, damals das amtliche Organ der Regierung, den Aufruf
zur Bildung freiwilliger Jügerdetachements (datirt vom 3. Februar), um auch
die gebildeten Elemente zum Dienste heranzuziehen; am 10. erfolgte die Auf¬
hebung der bisher bestehenden Befreiungen vom Heeresdienst. Die Wirkung
war blitzartig, zauberisch. Jeder fühlte, das sei das Signal zur Erhebung
gegen den verhaßten Feind; zu Tausenden und wieder zu Tausenden strömten
aus allen Stünden, aus den Komptoirs und den Schreibstuben der Behörden,
aus den Hörsälen der Universitäten und Gymnasien die Freiwilligen herbei.
Unter den Angen der Franzosen meldeten sich in Berlin binnen wenig Tagen
ihrer 9000; das einzige Wort, mit dem der Philosoph Fichte am 19. vor seine
Zuhörer trat: er schließe seiue Vorlesungen, weil ihm trotz vieler Uebung in
der Selbstbesinnung jetzt die Kraft dazu zu fehlen beginne, genügte, um sie in
die Reihen der Streiter zu führen. Fassungslos stand der Regierungskom¬
missar von der Goltz vor diesem Sturme der Begeisterung; wie sollte er den
Franzosen gegenüber dies vertreten! Verzweifelungsvoll schrieb er nach Breslau,
doch ein königlicher Befehl (vom 14. Februar) wies ihn an, „dem Enthusias¬
mus der jungen Leute kein Hinderniß in den Weg zu legen". Und wie in
Berlin, so in ganz Brandenburg, so im ganzen Staate; aus den altpreußischen
Theilen des Napoleonischen Königreichs Westphalen eilten schaarenweise die
jungen Leute aus den besten Familien herbei; die Universität Halle hörte auf,
denn die Studenten strömten in hellen Hansen zu den alten geliebten Fahnen.
Und wer nicht selber eintreten konnte, der gab, was er hatte, zur Ausrüstung
der Unbemittelten her: Waffen, Pferde, Getreide, Leinwand, Tuch, Geld,
Silberwerth; Beamte verzichteten auf einen Theil ihres Einkommens; das kleine
Stolpe in Hinterpommern zahlte damals sofort 1090 Thaler, jeden folgenden
Monat 100 Thaler, Stargard hatte am 20. März über 6000 Thaler und
1170 Loth Silbers gesammelt; Kinder schütteten ihre Sparbüchsen aus; in
Menge wurden die goldenen Trauringe geopfert und eiserne dafür eingetauscht
mit dem Bildniß der Königin Luise und der Aufschrift: Gold gab ich für
Eisen 1813. Ein junges armes Edelfräulein, Ferdinande v. Schmettau, schenkte
ihren einzigen Schmuck, ihr reiches goldenes Haar. Ja, es war ein armes
Volk, das sich da erhob in beispiellosem Opfermuth, und was das Größte in
dieser unvergleichlichen Bewegung war — das Alles that es so still und ge¬
faßt, als thue es nur das Alltägliche, des sittlich allein Mögliche. Ein ener¬
gischer, tiefer Haß lebte in allen, und doch, keine Ausschreitung, keine Rohheit
schändete die reinste Erhebung aller Zeiten.
Nach Breslau strömte Alles, was Waffen tragen konnte; dort arbeiteten
unermüdlich Scharnhorst und Hake. Und als der König, der vor kaum drei
Jahren sein Liebstes, seine Gemahlin verloren, der seitdem oft in düsterer
Resignation sich als zum Unglück geboren betrachtete, vom Fenster seines
Schlosses aus die endlosen Wagenzüge sah, welche die Berliner Freiwilligen
brachten, und den ^ tausendfachen, jauchzenden Zuruf hörte von allen Straßen,
und als nun Scharnhorst ihn fragte, ob er jetzt glaube an sein Volk, da
stürzten dem Monarchen die Thränen aus den Augen; er hatte den Glauben
an seine Preußen wiedergefunden. Gestützt auf das Volk wagte der König die
letzten Schritte. Schon war Knesebeck auf dem Wege zum Czaren, um das
Bündniß abzuschließen; eine Ordre vom 12. Februar hatte Hort zum Befehls¬
haber der Truppen in Pommern und Preußen ernannt; jetzt wies ihn eine
zweite an, mit den Russen gegen die Oder vorzugehen. Nach Paris aber ging
das Ultimatum Preußen's (13. Februar). Fürst Hcchfeld forderte sofortige
Zahlung von 47 Millionen Fras. auf die preußischen Vorschüsse, die Räumung
Danzig's, Pillau's und der Oderfestungen. Nach der Antwort des Kaisers
werde die Regierung des Königs ihre weiteren Schritte bemessen. Als Harden-
berg dies Alles Se. Marsan mittheilte, und dieser erregt bemerkte, das sei der
erste Schritt zum Bruche des Bündnisses, Preußen möge sich hüten, den
Kaiser zu reizen, da fand der Staatskanzler den Muth zu der Entgegnung:
wenn Napoleon die Absicht habe, Preußen zu vernichten, so werde er ein zweites
Spanien finden, der König, umgeben von seinen treuen Unterthanen, werde sich
bis auf den letzten Blutstropfen vertheidigen.
Aber der Abschluß mit Rußland ließ auf sich warten. Denn der Czar
wünschte ganz Polen als ein selbständiges Königreich mit Rußland zu ver¬
binden, und der preußische Unterhändler bestand auf der Herausgabe der alt-
Preußischen Theile Polen's. Endlich, am 28. Februar, wurde zu Kalisch der
Bundesvertrag zwischen Preußen und Rußland unterzeichnet. Der Czar ver¬
pflichtete sich, den Krieg zu führen, bis Preußen auf den Umfang von 1806
gebracht sei; zu seiner Entschädigung sollten alle eroberten Gebietstheile in
Norddeutschland mit Ausnahme Hannover's verwendet werden, und für die
territoriale Verbindung zwischen Schlesien und Preußen ein noch näher zu
bestimmender "Theil Polen's. Die Unklarheiten dieses Vertrages haben sich
gerächt, aber in diesem Momente gab es keine Wahl mehr. Der Rücken war
gedeckt, nun „los von Frankreich!"
Am 15. März kam der Czar in Breslau an, am 16. überreichte Harder-
i'erg dem französischen Gesandten die formelle Kriegserklärung, am 17. zog
Aork ein in das befreite Berlin. Wie schlugen die Herzen dem „Alten" ent¬
sagen, wie hallten die Zurufe, wie flatterten die wehenden Tücher aus jedem
Fenster! Er aber ritt vor seinen Tapferen her wie immer, streng und kalt,
das blaue, scharfe Auge geradaus gerichtet, das weiße Haar flatternd im Winde,
er schaute sich nicht um. Zwei Tage später langte der König in Potsdam an;
ihm voraus war der „Aufruf an Mein Volk" (vom 17. März) geflogen; er
stand an allen Straßenecken zu lesen, als der König kam.
So begann der Befreiungskrieg. Und als der König und die Seinen nur
ein Jahr später hinabschauten auf das bezwungene Paris, um das noch der
Pulverdampf der letzten Schlacht sich ballte, da war Preußen und Deutschland
gerettet und gerächt.
Die empörenden meuchelmörderischen Anschläge auf königliche Häupter,
die unsere Tage gesehen, auf Fürsten, die nicht etwa als Tyrannen gehaßt oder
gefürchtet, sondern von ihrem Volke geliebt und verehrt sind, haben die ganze
gesittete Welt Europa's erschüttert und das öffentliche Denken angeregt, nach
den Ursachen dieser Erscheinung zu forschen. Dieselbe steht aber nicht allein
da. Man nehme die täglichen Lokalnachrichten unserer Zeitungen zur Hand:
die Selbstmorde, die Verbrechen, namentlich die gewaltthätigen, starren uns in
erschreckender Anzahl entgegen. Und doch — die Erfahrung der Vergangenheit
bürgt uns dafür — die Kurve der Verbrechen mag in der Kriminalstatistik
unserer Tage noch so hoch steigen: sobald wir einen größeren Zeitraum, ein
größeres Land betrachten, wird sich die Prozentzahl der Verbrechen in einem
bestimmten Lande, unter einer bestimmten Bevölkernngszcihl ziemlich gleich
bleiben. Das Gesetz der großen Zahlen erzählt uns hier merkwürdige Dinge.
Wie roh oder gesittet, wie arm oder reich, wie gebildet oder ungebildet die
Bevölkerung eines bestimmten Landes sein mag, bei einer großen Zahl von
Beobachtungen lehrt uns die Statistik, daß im Laufe eines Jahres eine ganz
bestimmte Anzahl von Verbrechen, von den leichtesten Diebstählen und Betrü¬
gereien bis zu den Selbstmorden und Morden begangen werden. Wir können
die Zahl mit ziemlicher Sicherheit auch für die Zukunft angeben, wir können
sagen, wie sie sich auf die verschiedenen Lebensalter, die verschiedenen Ge¬
schlechter, die verschiedenen Lebensumstände und Bildungsgrade, die verschie¬
denen Bezirke eines Gebietes, die verschiedenen Monate des Jahres vertheilen
werden, wie viele Verbrechen bestraft, wie viele unentdeckt und unbestraft
bleiben werden.
Quetelet hat dieses Gesetz' der gleichen Zahl der Erscheinungen in einer
bestimmten Bevölkerung nicht nur für die physischen, sondern auch sür die
geistigen und sittlichen Eigenschaften und Thätigkeiten des Menschen nachgewiesen.
Das Bewußtsein sittlicher Freiheit, daß unsere eigene innere Erfahrung be¬
zeugt, empört sich vergebens gegen dies unbeugsame Schicksal, gegen das Vor¬
handensein von bestimmten Gesetzen der Wiederkehr und der Zahl der Ver¬
brechen; es hilft ihm auch nichts, die Erscheinungen in die Kreise der niederen
Klassen, in die Sphären der Rohheit und des mangelnden Bewußtseins zu
verweisen und aus diese sittlichen Defekte zu exemplisiziren; wie wir unter den
Königsmördern gebildete Männer, wie Orsini, Nobiling u. a. finden, so auch
unter den anderen Verbrechern; Cattaneo bemerkt mit Recht, „daß die Ver¬
brechen nicht allein Ausbrüche träger und verirrter Naturen sind, sondern
häufiger in gewissen Zeiten und an gewissen Orten aus dem inneren Zustande
der Gesellschaft Nahrung schöpfen". Es gehören hierher gewisse psychologi¬
schen Massenwirkungen, wie wir sie nach großen Kriegen beobachten. Wie
diese einerseits den Muth und das Bewußtsein männlicher Kraft und Würde
steigern, so lockern sie auf der anderen Seite auch die Achtung für das mensch¬
liche Leben, die Achtung für das Eigenthum und mindern die Kraft zu dulden,
Unglück und Unbill ohne gewaltthätige Selbsthilfe zu tragen. Aber auch ohne
solche tiefere allgemeine Impulse bleibt die regelmäßige Zahl der Wiederkehr
der Verbrechen in größeren Zeitläuften und in einer bestimmten Gesellschaft
bestehen, und sie bleibt ein ernstes Problem, das mit der Freiheit des mensch¬
lichen Gewissens im schneidendsten Widerspruche zu stehen scheint. Denn wie
könnte diese bestehen, wenn die Entschließungen des menschlichen Willens zu
Recht oder Unrecht der Herrschaft und dem Mechanismus prädestinirter Gesetze
unterworfen sind, wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnung, gestützt auf eine Reihe
von Beobachtungen, uns befähigt, die Gedanken und die Thaten der Menschen
vorauszusagen, die Zahl der Unthaten und ihre Modalitäten vorauszube-
stimmen? Die ckirs. Qscsssiws, die rauhe Nothwendigkeit, träte an die Stelle
der freien Wahl und der Verantwortlichkeit; mit demselben Schwämme würde
das Verdienst der Tugend und die Schuld des Lasters von der Tafel des
Lebens weggelöscht; der Zufall des Looses, das wir aus der sozialen Urne
ziehen, würde unsern Lebenslauf bestimmen.
Und doch ist die Prädestinationslehre weiter uuter der Menschheit ver¬
breitet, als man gemeinhin glaubt; sie beherrscht nicht nur den ganzen Orient,
sie findet nicht nur in dem Fatalismus ihren Ausdruck, der in Rußland selbst
in gebildeten Kreisen dominirt, sie ist ja auch geradezu in der Lehre der Kal-
vünsten enthalten, und man könnte nnr fürchten, daß die Wissenschaft der
sozialen Statistik ihre Gewalt und Verbreitung unter den Geistern ver¬
mehren werde.
Wollen wir die großen hier auftauchenden Gegensätze eines sozialen Pro¬
blems wie in einem Plaidoyer einander gegenübertreten lassen, so kann dies
nicht kürzer und schlagender geschehen, als wenn wir für die allgemeinen Ge¬
setze der Kriminalstatistik einen ihrer Hauptgegner und einen ihrer Hauptver¬
theidiger einander gegenüberstellen. ,
Zu den ersteren gehört Laurent, ein Gegner des Fatalismus sowohl, wie
der Lehre von der christlichen Vorsehung. „Wo bleibt," sagt er, „jener instink¬
tive Mahnruf des Gewissens gegen den Fatalismus des Verbrechens, wenn
einige tausend Delinquenten in unwiderstehlicher Weise zu den sie erwartenden
Gerichtshöfen und Strafurtheilen hingetrieben werden? Die menschliche Frei¬
heit ist nur ein Spott, ein Hohn, wenn es nothwendiger Weise alljährlich eine
Vom Verhängniß bestimmte Anzahl von Verbrechen gibt. Diejenigen, welche
die Verbrechen begehen, bezahlen die Schuld der Gesellschaft, und diese Un¬
glücklichen sind mehr zu bemitleiden, als zu verabscheuen. Daher gibt es ja
auch logisch denkende Schriftsteller, welche mit allen ihnen zu Gebote stehenden
Mitteln die Uebelthäter für unschuldig erklären. Das heißt, es gibt eben keine
Verbrecher mehr, und die Menschen loofen eben nur alle Jahre, um eine
Bestimmung darüber zu treffen, wer von ihnen ein Fälscher, ein Mörder, ein
Dieb sein wird, ebenso, wie sie darüber das Loos bestimmen lassen, wer von
ihnen Kriegsdienste thun soll."
Hören wir dagegen Buckle. Denn es gilt natürlich auch von den übrigen
Verbrechen, was er vom Selbstmorde sagt: „In einem bestimmten Zustande
der Gesellschaft muß eine gewisse Anzahl von Menschen ihrem Leben selbst ein
Ende machen. Dies ist das allgemeine Gesetz. Die besondere Frage, wer nun
das Verbrechen begehen soll, hängt von besonderen Gesetzen ab, welche natür¬
lich in ihrer Gesammtwirksamteit dem allgemeinen Gesetze gehorchen müssen,
dem sie alle unterworfen sind. Die Macht des höheren Gesetzes ist so un¬
widerstehlich, daß weder die Liebe zum Leben noch die Furcht vor dem Jen¬
seits den geringsten hemmenden Einfluß auf seine Wirksamkeit auszuüben
vermag .... die Thatsache der Regelmäßigkeit ist jedem geläufig, der mit
der ethischen Statistik vertraut ist. In den verschiedenen Ländern, von denen
wir den Nachweis haben, finden wir Jahr für Jahr das nämliche Verhältniß
von Personen, die ihrem Leben ein Ende machen, und wenn wir die Unmög¬
lichkeit, einen vollständigen Nachweis zu habe», mit in Betracht ziehen, können
wir in der Grenze eines sehr geringen Irrthums die Zahl der freiwilligen
Todesfälle für jede folgende Periode voraussagen, natürlich uuter der Vor¬
aussetzung, daß der Zustand der Gesellschaft nicht irgend eine bedeutende Ver¬
änderung erleide."")
Die letztere Einschränkung, die sich, wie schon Guerry hervorgehoben
hat, auf Krieg, Theuerung, Revolution bezieht und eine höhere Kurve be¬
stimmter sittlicher Erscheinungen ergeben kann, ist zugleich die Erklärung, die
Buckle dem allgemeinen Gesetze gibt, welches er eben nur als allgemeines, nicht
als ewiges und unveränderliches, wie Laurent, auffaßt; er sucht sie in dem
allgemeinen Kulturzustande eines Volkes und einer Zeit. naturalistischer und
im Sinne Darwin's hat es Botin als Typus der menschlichen Race und des
Landes aufgefaßt, wenn er sagt: „Der mittlere Mensch ist nicht blos der
Quotient einer Division; er ist allerdings eine Abstraktion, aber er ist gleich¬
sam ein Urbild, nach welchem die Menschen von der Natur geformt sind, ein
Typus, welcher von Race zu Race, von Gegend zu Gegend variirt, der aber
in gewissen Grenzen , sich unverändert erhält. Die Natur macht die Bewohner
eines Landes nicht alle einander gleich, aber sie bemüht sich offenbar, sie nach
einem bestimmten Vorbilde zu gestalten, gleich einem geschickten Schützen, der
immer den nämlichen Zielpunkt vor Angen hat, ihn bald trifft, bald verfehlt,
zuletzt aber doch feine Geschosse derart um das Zentrum seiner Zielscheibe an¬
gebracht hat, daß sie immer vereinzelter und seltener zu finden sind, je mehr
sich die Ringe auf der Scheibe erweitern."
Unabhängig von den naturphilosophischen Erklärungen Darwin's und
seiner Nachfolger hat die deduktive Philosophie die Freiheit des menschlichen
Willens nicht als absolute, sondern als eine von allgemeinen Gesetzen abhängige
dargestellt; in Kant's blindem Geschick, in Montesquieu's, Herder's und Renan's
Prädispositionen und natürlichen Anordnungen wie in Hegel's Pantheismus
sind diese Gesetze, wie Molpurga richtig bemerkt, deutlich ausgesprochen. Die
neuere Philosophie, namentlich die große Geistesverirrung Schopenhauer's, hat
diese Wahrheiten vollständig verrückt. Bei allem Geist und Scharfsinn, bei
aller feinen Lebensbeobachtung ist der treibende Punkt von Schopenhauer's
ganzem System, sein schöpferischer „Wille", von vornherein ein psychologischer
Irrthum. Der menschliche Wille ist seinem innersten Wesen nach keine primi¬
tive und einfache Kraft; das Primitive ist die Erzeugerin des Willens, die
Vorstellung, das erste Zeugniß der Einheit unseres Bewußtseins, das aus dem
Chaos der Empfindungen, Wahrnehmungen und Triebe entspringt. Der Wille
ist die Freiheit^und der schöpferische Trieb; aber, losgelöst von den Schranken
der Natur, zerstört er sich selbst, wie Euphorion, der über die Berge nach der
Sonne fliegt und in den Abgrund stürzt. Die Vorstellung ist aber die Sphäre
der Gebundenheit; sie ist die Frucht des Landes, der Erziehung, der Kultur,
der besonderen Lebenserfahrung, sie ist das Faktum, das bestimmende Schicksal.
Ist sie auch das unabwendbare? Ist sie auch das, was zum großen und
guten Menschen oder zum Verbrecher macht? Diese Frage greift in unsere
obige Betrachtung ein. In unserm Plaidoyer entscheidet sich Molpurga für
den Richterspruch Stuart Mill's. Dieser erklärt sich dafür, daß das Gesetz
der Kausalität auch auf die menschlichen Handlungen ihre Anwendung finde;
doch ist er weit davon entfernt, in irgend einer Weise zuzugestehen, daß die
Lehre von der philosophischen Nothwendigkeit eine Wirkung des Fatums auf
den Willen des Menschen bedinge. So unbedingt meint dies Stuart Mill
offenbar nicht; eine Wirkung auf den Willen muß er zugestehen; aber diese
Wirkung ist ihm keine unabwendbare. Die Nothwendigkeit, auf den Willen
bezogen, „bedeutet nur so viel, daß auf die gegebene Ursache die Wirkung in
der Weise erfolgt, daß sie allen Möglichkeiten ausgesetzt ist, vou anderen Ur¬
sachen aufgehoben zu werden". Diese anderen Ursachen liegen nnn allerdings
nicht in dem Willen, als einem einzelnen Akte innerlicher Entschließung, sondern
in seinem Urgründe, dem Charakter des Menschen. Wo ein solcher nicht ge¬
bildet ist, wird auch der gute Wille ein Kind der Laune bleiben und nicht
widerstandskräftig genug sein, verhängnißvollen äußeren und inneren Bedin¬
gungen der Lebenslage zu widerstehen. „Ein Bekenner der Nothwendigkeits¬
lehre," sagt Stuart Mill, „wird, da er glaubt, unsere Handlungen gehen
aus unserm Charakter hervor, und unser Charakter sei eine Folge unserer
Organisation, unserer Erziehung und unserer Umstände, in Beziehung auf seine
eigenen Handlungen leicht und mehr oder weniger zum Fatalisten und glaubt,
seine Natur sei von der Art, oder seine Erziehung und seine Umstände hätten
seinen Charakter so geformt, daß ihn nun nichts mehr verhindern könne, auf
eine besondere Weise zu fühlen und zu handeln, oder daß ihn wenigstens seine
eigenen Bemühungen nicht daran verhindern Können. Mit den Worten der
Sekte, welche diese bedeutungsvolle Lehre in unseren Tagen am beharrlichsten
gepredigt und am verkehrtesten aufgefaßt hat, wird sein Charakter für ihn und
durch ihn gebildet; es steht nicht in seiner Macht, ihn zu ändern." Man
glaube nicht, daß diese Anschauung wenig verbreitet sei; wir haben sie einmal
auf einer Reise an einem Tage von zwei sehr verschiedenen Kapazitäten höchst
originell vertheidigen hören. Ein geistreicher und aufgeklärter Gelehrter wollte
uns beweisen, daß die Gesellschaft den Lastern und Verbrechen gegenüber von
keiner moralischen Schuld sprechen könne; sie habe sich nur dagegen zu wehren;
die Verbrecher handelten „nach der Vollmacht ihrer Natur". Eine einfache
Frau aus den niederen Ständen aber entschuldigte ein weibliches Vergehen
damit, daß sie sagte: „Das Feuer sitzt drinnen; die Natur will's haben." Hören
wir, was Stuart Mill auf solche Irrthümer entgegnet. „Bis zu einem ge¬
wissen Grade," sagt er, „hat der Mensch die Macht, seinen Charakter zu ändern.
Wenn er auch in letzter Instanz für ihn gebildet ist, so ist dies doch damit
nicht unverträglich, daß er zum Theil durch ihn, als durch eines der unmittel¬
baren Agentien gebildet werde. Sein Charakter wird durch seine Umstände
gebildet (unter diesen seine besondere Organisation inbegriffen), aber sein eigener
Wunsch, ihn in einer besonderen Weise zu bilden, ist einer dieser Umstände
und keineswegs einer von denen, die am wenigsten Einfluß haben. Wir können
zwar nicht direkt anders sein wollen, als wir sind; aber diejenigen, von denen
angenommen wird, sie hätten unseren Charakter gebildet, wollten auch nicht
direkt, daß wir das sein sollten, was wir sind. Ihr Wille hat nur über ihre
eigenen Handlungen eine direkte Gewalt. Sie machten uns zu dem, wozu sie
uns machen wollten; und wenn unsere Gewohnheiten nicht zu sehr eingewurzelt
sind, so können auch wir, wenn wir die erforderlichen Mittel wollen, uns anders
machen. Wenn jene uns unter dem Einfluß gewisser Umstände bringen konnten,
so können wir uns unter dem Einfluß anderer Umstände bringen. Wir sind
genau so gut im Stande, unsern eigenen Charakter für uns zu machen, wenn
wir wollen, wie andere ihn für uns machen können."
Hier liegt der springende Punkt des ganzen Problems, und dieses wird
die Statistik auf dem bisherigen Wege nicht lösen. Wie ist über „die eingewur¬
zelten Gewohnheiten" hinwegzukommen? Wie soll man den größten Theil
der Menschen, selbst in zivilisirten Ländern, dazu bringen, daß sie wollen
können, das heißt sittlich wollen? ' Das ist die Frage. Und diese Frage kann
wohl sür den Einzelnen, der noch auf den Appell an die sittliche Freiheit
hört, aber nicht für ganze verkommene Generationen, für schon so gewordene,
wie im Werden begriffene, durch moralphilosophische Deduktion gelöst werden.
Man sagt, „Thatsachen seien brutal"; das ist aber nur das subjektive Urtheil
dessen, der nicht mit der Arbeit des Denkens die Thatsachen zu begreifen be¬
müht ist. Es stehen hier zwei unerklärte Thatsachen einander gegenüber: das
kontinuirliche Zahlengesetz der Verbrechen, wie es die Statistik ergeben hat,
und die Freiheit des menschlichen Willens. Wir glauben, die Wurzeln der ersten
Thatsache und damit die Möglichkeit, sie virivus Hallis gesellschaftlich zu bewältigen,
liegt im Bereiche unseres untersuchenden und forschenden Könnens. Die Frei¬
heit des menschlichen Willens an sich bleibt aber unerklärt, vielleicht unerklärlich.
Die Jahrhunderte lang dauerndes Arbeit der Philosophie, die psychologische
Forschung der neueren Zeit, auf den exakten Untersuchungen der Nervenphysio¬
logie begründet, alle diese ernsten Bestrebungen von Denkern ersten Ranges
sind, wie vor einem verschleierten Bilde, vor dem Mysterium der Einheit des
menschlichen Bewußtseins stehen geblieben, in welcher die Freiheit des mensch¬
lichen Willens begründet liegt — sei es, daß der Grund noch in einer letzten
Entdeckung liege, die den Schleier zerreißt, sei es, daß es, wie ein deutscher
Philosoph gesagt, unmöglich ist, „daß das Vorgestellte zugleich Vorstellendes
sei". Aber die Thatsache des freien menschlichen Willens soll man nicht des¬
halb leugnen, weil man sie nicht erklären kann. Eben weil es bisher nicht
gelungen ist, das innere Bestimmtsein in seinem räthselhaften Werden, durch
äußeres Bestimmtsein zu erklären, trägt die Erscheinung des menschlichen Willens
in seinen schönsten sittlichen und heroischen, wie in seinen wildesten dämonischen
Momenten die Signatur der Freiheit an sich. Ja es scheint die Erkenntniß,
die aus der Erfahrung fließt, welche Lessing mit den Worten Emilia's in der
„Emilia Galotti" ausgedrückt hat: „Ich will doch sehen, wer der Mensch ist, der
einen Menschen zwingen kann", die Erkenntniß, daß die Heilung unserer sozialen
Uebel im letzten Grunde doch nur von einer Erziehung des sittlichen Willens
abhängt, eine so allgemeine zu sein, daß sie z. B. bei Gelegenheit des Erlasses
des Sozialistengesetzes eben so bestimmt in den Motiven der Regierung, wie
in denen der gegnerischen Presse ausgesprochen worden ist. Damit ist aber
nicht gesagt, daß hier die Freiheit des menschlichen Willens allein helfen könne.
Die bestimmenden äußeren Ursachen, Geburt, Erziehung, Lebenslauf und die
ganze umgebende Welt des Einzelnen können sich zu einer Macht häufen,
welche wie ein bestimmendes Schicksal erscheint, welche ganze Generationen zu
Wohlstand und Bildung oder zu Elend, Verkommenheit und Verbrechen zu
prüdestiniren scheint, und dies wirklich bis zu einem gewissen Grade thut.
Diesem Schicksal Richtung und Inhalt zu geben, liegt wiederum im Be¬
reich der Kraft des freien menschlichen Willens. Hier setzt die große refor¬
matorische Kraft, wie sie.von einzelnen großgesinnten Geistern oder oft nur
von einem hervorragenden gewaltigen Manne ausgeht, die intellektuellen Hebel
ein; hier erscheint die große kulturschaffende Kraft der Individualität. Diese
ist eben nicht mehr zu erklären, und das sollte man offen gestehen; aber es ist
wichtig, sie in ihrer Tragweite zu würdigen. Die Erscheinungen, in denen sie
sich in Zeit und Raum der Geschichte erweist, gehören zu den überraschendsten.
Man vergleiche unsere Zeit mit der der italienischen Renaissance. Dort sehen
wir die ungünstigsten äußeren Bedingungen für die menschliche Kultur, die
man sich denken kann. Despotische Gewalt großer und kleiner Fürsten, unauf¬
hörliche blutige politische Kämpfe von Land zu Land, von Stadt zu Stadt,
größte Rohheit und Versunkenheit in Aberglauben beim niederen Volke, Fri¬
volität, rassinirteste Genußsucht, rücksichtsloseste Bereitschaft zu jedem Verbrechen
um des Vortheils willen bei den höheren Klassen, dem Adel, der Geistlichkeit
und den reichen Bürgern — und bei alledem und trotz alledem eine erstaun¬
liche Fülle an großen gewaltigen Geistern in Wissenschaft und Kunst, bahn¬
brechende Kapazitäten auf allen Gebieten, Leistungen der höheren Kultur,
welche noch heute als Fundamente und Muster der unsrigen gelten. Nun ver¬
gleiche man die äußeren, also die, wie man annimmt, Charakter und Geist
bildenden Verhältnisse jener Zeit mit den unsrigen, mit der Sicherheit der
Person und des Eigenthums, der geordneten Staatsverwaltung, der Ausbildung
des Schulwesens für alle Zweige menschlicher Thätigkeit, der hohen Entwicke¬
lung unserer Technik und unseres Verkehrswesens, der allgemeineren Herrschaft
menschlicher Gesittung — und wo sind die großen Resultate in der Erzeugung
bedeutender, allen diesen bildenden Agentien entsprechender Individualitäten?
Wenn wir einzelne große Gelehrte, Staatsmänner und Künstler, wenn wir die
großen Erfolge namentlich in den Naturwissenschaften nicht aufzuweisen hätten'—
eine im Verhältniß zu jener Zeit und jenen kleinen Ländern recht bedenkliche
Armuth an hochstrebenden geistigen Kräften, an gewachsenen großen Indivi¬
dualitäten, an Begabungen von Gottes Gnaden. Unsere erfahrensten und
hochgebildetsten Schulmänner bekennen es offen, daß trotz der Fülle des der
Jugend zugeführten Lehrstoffes die geistige Strebsamkeit, die schöpferische Kraft
unserer Jugend sich zu verringern scheine, daß die Schablonenmenschen zuneh¬
men, die Individualitäten abnehmen.
Man sucht auch diese Erscheinung zu erklären. Aber die Entstehung
mächtiger Individualitäten in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten
Lande wird damit nicht erklärt. Wenn uns auch die Wissenschaft Vieles, was
uns vordem als sreie Bewegung, als freies Wachsthum erschienen ist, als
Resultat vielverzweigter und sich ursachlich bedingender Kräfte erkennen läßt:
die Entstehung der Einheit des menschlichen Bewußtseins aus den Zusammen¬
setzungen erkannter physischer und seelischer Kräfte, den dunklen Mutterschooß,
aus dem der freie Wille und die Entschließungen des Menschen, aus dem die
einzelnen, Neues schaffenden geistigen und künstlerischen Kräfte emporsprießen,
kann keine Wissenschaft uns zeigen. Hier stehen wir noch immer vor dem
dunklen Räthsel der Sphinx: „Was ist der Mensch?" Eines ist klar: daß
auch für die eigenartigste und gewaltigste individuelle Kraft die in ihrem
Schooße ihn bergende und ihn erzeugende Gesellschaft zum theilweise bestim¬
menden Schicksal, zum stärksten Bildungsmoment des Charakters, wenn auch
allerdings nicht zum einzigen wird. Daraus folgt aber, daß mit den in der
Richtung des Schönen, Edlen und Guten, in der Richtung geistiger Gesundheit
und geistiger Kraft des Wachsthums veränderten Bedingungen der Gesellschaft
auch eine bestimmende Macht über den freien menschlichen Willen des Einzelnen
geschaffen werden kann, daß man es dahin muß bringen können, daß nicht das
numerische Gesetz der Gesellschaft die Zahl der Verbrechen beherrscht, sondern
daß die Gesellschaft dies numerische Gesetz beherrsche, das heißt umändere in
„Ich möchte gern meinem Sohne zu seinem siebzehnten Geburtstage eine
Geschichte der deutscheu Literatur schenken, einen ruhigen, Vorurtheilsfreien
Wegweiser, der, ohne das jugendliche Gemüth zu verwirren oder zu einseitiger
Parteinahme zu verleiten, ihm in objektiver, aber anregender Weise das Ver¬
ständniß für die geistigen Schätze unseres Volkes eröffnet. Können Sie mir
ein solches Buch empfehlen?" Ich gerieth bei dieser, kürzlich an mich gerich¬
teten Frage in peinliche Verlegenheit. Ich kramte unablässig in meinem Ge¬
dächtniß umher, eine Menge von Namen ging über meine Lippen, aber jedem
mußte ich irgend ein „Aber" anhängen, welches mit einer gewissenhaften Em¬
pfehlung nicht vereinbar war. Das große Sammelwerk von Heinrich Kurz,
welches vier Großoktavbände umfaßt, ist unbeschadet seiner sonstigen Verdienste
eine pedantische Kompilation, welche im Stande ist, in einem jugendfrischem,
eines begeisterten Aufschwunges fähigen Gemüthe jedes Gefühl für Poesie im
Keime zu ersticken. Dabei hat der letzte Band in der Aufnahme und Glori-
fizirung von Lebenden gegen Geister sechsten und siebenten Ranges eine Konni-
venz geübt, die für ein noch nicht gefestigtes aesthetisches Urtheil entschieden
höchst bedenklicher Natur ist. Karl Goedeke's Werk ist weniger eine Literatur-
geschichte, als eine Bibliographie, die für den Gelehrten von unschätzbarem
Werthe, für das größere Publikum aber absolut ungenießbar ist. Auch Kober-
stein wendet sich mehr an die Gelehrten, als an das Volk. So bleiben noch
A. F. C. Vilmar und Otto Roquette. Aber das Werk des Zeloten geizt nur
nach dem Beifall einer kleinen Gemeinde. Die Arbeit des liebenswürdigen,
feinsinnigen Dichters ist allerdings auf alle Kreise berechnet, welche die poeti¬
schen Erzeugnisse der deutschen Nationalliteratur mit Vorurtheilsfreien, unbe¬
fangenen Blicken betrachten; mit der Feinheit eines maß- und einsichtsvollen
Urtheils paart sich leichtflüssiger, durchsichtiger Stil, welchem der Leser mit
Vergnügen folgt. Aber Roquette schließt seine Literaturgeschichte mit Goethe's
Tode ab. Er vermied es, eine Epoche zu berühren, in welcher er selbst unter
den Ersten arbeitet und kämpft. Seine eben gerühmte Unbefangenheit ging
nicht so weit wie die eines poetischen Kollegen, der eine Literaturgeschichte der
Neuzeit geschrieben hat, in welcher der Geschichtschreiber dem Dichter ein für
letzteren ungemein ehrenvolles Denkmal gesetzt hat. In dieser Zurückhaltung
Roquette's liegt ein Mangel, den unser heutiges Geschlecht, welches sich im
Großen und Ganzen für Spielhagen, Paul Heyse und Emanuel Geibel mehr
interessirt als für die Nibelungen und Walther von der Vogelweide, nur un¬
gern empfindet.*)
Diesem Mangel ist freilich durch Spezialgeschichten der neuesten Epoche
abgeholfen worden. Unter diesen ist Julian Schmidt's Literaturgeschichte, an
der sich der überspannte Demagog, dessen Exzentrizitäten durch den bei Brockhaus
veröffentlichten Briefwechsel mit einer Russin und erst neuerdings wieder durch
die Herzensergüsse der famosen Komödiantin Helene v. Racovitza in das
gehörige Licht gerückt worden sind, mit Unrecht schwer vergangen hat, im
Grunde mehr für vornehmere geistige Kreise geschrieben, die eine kritische Ana¬
lyse vertragen können, ohne an einem großen Genius irre zu werden, als für
die große Masse des Publikums. Rudolf Gottschall's „Nationalliteratur in der
ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts" aber ist nur Lesern zu empfehlen,
deren Nervensystem auch gegen die ärgsten Trompetenstöße der ästhetischen
und politischen Phrase gefeit ist. Einem etwas nervösen Menschen summt der
Kopf, wenn er hinter einander ein Dutzend Seiten Gottschall'scher Prosa liest.
Ueberdies wahrt dieser Literaturhistoriker nicht den objektiven Standpunkt des
echten Geschichtschreibers. Nicht Jedermann wird die politische Meinung
theilen, welche den Verfasser, namentlich in den ersten Auflagen seines Werkes,
beseelte. Neuerdings hat sich freilich jenes Feuer, welches den Autor in jedem
Kapitel mindestens einmal zum Barrikadenbau hinriß, etwas abgekühlt.
Fast hätte ich Edmund Hoefer's „Deutsche Literaturgeschichte sür Frauen
und Jungfrauen" vergessen. Aber darf man ein Buch empfehlen, das, obgleich
es sich an eine so hehre Adresse wendet, ganz unbefangen seinen Leserinnen
die laseive Lektüre anpreist, welche der Verfasser des „Neuen Tanhciuser" zu
höchlichem Ergötzen gewisser hier nicht näher zu charakterisirender Kreise auf
den Büchermarkt geworfen hat?
Neuerdings sind nun wieder zwei Literaturgeschichten erschienen, die mich
im Verein mit jener oben zitirten Frage zu den nachstehenden Zeilen veran¬
laßt haben: Die „Deutsche Literaturgeschichte" von Robert Koenig") und
Karl Barthel's „Vorlesungen über die deutsche Nationalliteratur der Neuzeit".**)
Das letztere Werk ist freilich bereits 1850 zum ersten Male erschienen. Da
aber der Verfasser drei Jahre darauf starb, wurde es in den späteren Auflagen
bis zur achten von seinem Bruder Emil herausgegeben, und jetzt ist die neunte
Auflage erschienen, bearbeitet und bis auf die unmittelbarste Gegenwart fort¬
geführt von Professor Dr. Georg Reinhard Röpe. Mithin darf man auch
dieses, vielfach in Familien eingebürgerte Buch in seiner jetzigen Gestalt als
^n neues betrachten.
Die Koenig'sche Literaturgeschichte präsentirt sich in einem Gewände, welches
^den Kunst- und Literaturfreund außerordentlich bestechen muß. Der Gedanke,
Proben aus berühmten Handschriften altdeutscher Werke, Faksimilekopieen von
drucken des fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhun¬
derts mitzutheilen, ist ein ebenso origineller wie glücklicher. Es wird Jedem
das höchste Interesse einflößen, ein Blatt aus dem Voäsx arKöntsus der Bibel¬
übersetzung des Ulfila in prächtiger Nachbildung durch den Farbendruck oder
das Wessobrunner Gebet in der Urschrift oder eine mit Miniatur geschmückte
Seite aus dem Marienleben Wernher's von Tegernsee zu sehen. Von nicht
geringerem Interesse sind die Nachbildungen alter Druckwerke, die getreu durch
Photolithographie hergestellt sind fliegende Blätter des sechzehnten Jahrhun¬
derts, Titelblätter von einer Bibelübersetzung Luther's, von Fischart's Gar-
gantua und Pantagruel u. s. w. Daneben nehmen sich freilich die Nachbil¬
dungen alter Holzschnitte durch moderne Xylographen, die für den Charakter
des alten Holzschnittes nicht das geringste Verständniß gehabt haben, abson¬
derlich genug aus. Auch die Porträts unserer klassischen Dichter — besonders
Goethe nach May, Leasing nach Tischbein, Charlotte von Schiller —, unter
den modernen Rückert und Freiligrath, sind durch die Behandlung der Xylo¬
graphen charakterlos geworden. Das ist Dutzendware, die man sich in illu-
strirten Famüienjvurnalen gefallen läßt, aber nicht in einem Buche, das mit
solchem Pomp auftritt und zum größten Theil ja auch feine künstlerische An¬
sprüche befriedigt.
Wenn nur der Text nicht wäre! Ohne ihn würde man das instruktive
Bilderbuch jedesmal mit Vergnügen zur Hand nehmen und mit Befriedigung
durchblättern. Aber dieser Text! Fast auf jeder Seite eine Unbeholfenheit,
eine Geschmacklosigkeit, ein schiefes Urtheil! Wenn man der Vorrede trauen
darf, sucht Koenig freilich jede Selbständigkeit von sich abzulehnen. Er will
nur wiedergegeben habe«, was er bei Lachmann und Gelzer gelernt, was die
„Forschungen unserer hervorragenden Germanisten und Literarhistoriker" ihm
geboten. Und in der That hat er, besonders für die Behandlung der älteren
Epoche, von den Forschungen der Germanisten den ausgiebigsten Gebrauch ge¬
macht, einen so ausgiebigen, daß er, statt uns ein lebendiges, farbenreiches
Bild von einer jeden Epoche im Rahmen der Kulturgeschichte zu entwerfen,,
vielmehr nur trockenen Notizenkram gesammelt hat, der sich an dürftige und
meist schwunglose Auszüge aus den alten Schriftdenkmälern anlehnt. Wie
lebendig, wie fein poetisch nachempfindend hat dagegen Otto Roquette die alten
Heldensagen nacherzählt!
Ich habe Rezensionen der Koenig'schen Literaturgeschichte gelesen, welche,
von Germanisten geschrieben, gerade auf die Mängel in der Behandlung der
ältesten Zeit hinwiesen. Um dann aber einigen Balsam auf die dem Autor
geschlagenen Wunden zu träufeln, wurde die Darstellung der modernen Zeit,
namentlich der klassischen Epoche, herausgestrichen. Ich kann mich dieser
Ansicht uicht anschließen. Gerade in der Behandlung der ersten Epoche, an
welcher die Germanisten wegen ihres unwissenschaftlichen Charakters Anstoß
nahmen — ob mit Recht oder Unrecht, lasse ich hier dahingestellt —, waltet
noch eine gewisse kühle Objektivität vor, die uns den Genuß der Lektüre zwar
nicht erhöht, aber doch auch nicht verdirbt. Sobald sich der Verfasser dagegen
der modernen Zeit nähert und anfängt, Tendenzen zu wittern, die den seinigen
zuwiderlaufen, fällt er einer schrankenlosen Subjektivität anheiln, welche jeden
unbefangenen Leser verstimmen und jeden, der aus einer höheren Warte steht,
als der Dorfkirchthum den Herrn Koenig ist, auf's tiefste empören muß. Von
dem ersten Erforderniß eines Historikers, der klaren Ruhe des Urtheils, welches
die Erscheinungen einer jeden Zeit aus ihr selbst heraus erklärt ^und nicht
durch die Tendenzbrille ansieht, ist bei Koenig keine Spur zu finden. Man
wende nicht ein, daß Mangel an Raum oder Beschränkung durch den Verleger
den Autor verhindert habe, die kulturhistorische Perspektive zu erweitern und
zu vertiefen. Ich könnte dagegen eine unverantwortliche, zum Theil geradezu
lächerliche Raumverschwendung, theils an ganz unnütze, theils an Dinge nach¬
weisen, die Jedermann geläufig sind. Daß der Verfasser den Inhalt von
Thümmel's „Wilhelmine" erzählt, ist nicht blos überflüssig, sondern auch un¬
gehörig für ein Werk, welches die Prütensionen auf den Rang eines „Erb¬
buches" macht, das sich einen Platz „in dem Bücherschranke des deutschen
Hauses neben der Hausbibel und der Familienchronik" zu erwerben wünscht.
Koenig scheint das grenzenlos lascive Machwerk Thümmel's nur aus den Aus¬
zügen anderer „hervorragender Literarhistoriker" zu kennen. Sonst würde er
sicherlich die volle Schale seines Zorns über diese frivole, mit sichtlichem Be¬
hagen ausgemalte Schilderung sittlicher Verkommenheit ausgegossen haben.
Was soll man aber von einem Literarhistoriker sagen, der seinen Lesern einen
ausführlichen, ziemlich unbehilflichen Auszug aus Lessing's „Minna von Barn¬
helm" vorsetzt? Folgende Probe mag genügen: „Nach dem Friedensschluß
aber wird er (Tellheim) unter die ehrenrührige Anklage gestellt, daß er sich
habe von den sächsischen Ständen bestechen lassen, während er im Gegentheil
eine Kontribution, die sie nicht hatten erlegen können, aus seiner eigenen
Tasche vorgeschossen hatte." Man glaubt einen Satz aus der Stilübung des
Mitgliedes einer Tertia oder Sekunda zu lesen, in der die Lehrer solche
Themata — Inhaltsangaben klassischer Dramen — zu stellen pflegen. Kein
Wort über die meisterhafte, unerreicht knappe und wahre Charakteristik der
Personen! Kein Wort über das eherne Gefüge der dramatischen Handlung,
welche Zug für Zug den souveränen Beherrscher der Technik verräth! Kein
Wort über die Einwirkung dieses ersten deutschen Lustspiels auf die Literatur
unserer Zeit!
Daß König in Lessing's „Nathan" „keineswegs" ein Drama sieht, welches
„Duldsamkeit gegen Andersgläubige" lehrt, sondern „Gleichgiltigkeit (!) in Glau¬
benssachen", ist bei seinem einseitigen, orthodoxen Standpunkte nicht zu ver¬
wundern. Aber es ist doch traurig, daß unsere Literaturgeschichte von so
kleinen Geistern geschrieben wird, denen jedes Organ fehlt, um größere zu be¬
greifen oder auch nur unbefangen zu würdigen.
Ausdrücklich will ich bei diefer Gelegenheit erklären, daß ich kein Jude
bin und nicht die Neigung fühle, das Judenthum gegen das Christenthum zu
vertheidigen. Ich bin keineswegs indifferent in Glaubenssachen, aber ich ver¬
trete mit aller Entschiedenheit die Ueberzeugung, daß die Literaturgeschichte
ebensowenig der Boden ist, um religiöse, wie um politische Streitigkeiten auszu-
fechten. Wer seine Leidenschaftlichkeit nicht soweit zügeln kann, daß sie nicht
die ruhige Erwägung der Thatsachen verwirrt und verdunkelt, der überlasse
das Werk,'der Geschichtschreibung andern Leuten. Für bestimmte Konfessionen
schreibt man weder Geschichte noch Literaturgeschichte. Durch solche unbefugte
Versuche kann die deutsche Geschichtschreibung allmählich um ihren edelsten
Ruhmestitel, den der Objektivität, gebracht werden.
Ich verkenne keineswegs den verderblichen Einfluß, welchen Heine, weniger
auf die Literatur seiner Zeit, als auf die der unsrigen ausgeübt hat. Ich
weiß, daß aus dem Boden, den er bereitet hat, jene Schmarotzerpflanzen er¬
wachsen find, welche die Feuilletons unserer großen und kleinen Zeitungen
mit dichtem Gestrüpp durchzogen haben, jene Gesellschaft rücksichtsloser Witz¬
bolde, die um den Preis eines „guten Witzes" ihren Bruder verrathen würden,
jene seichten Büchermacher, die ihre siebenmal in Zeitungen abgedruckten litera¬
rischen Nichtigkeiten alljährlich unter pikantem Titel und mit schreiend buntem
Umschlag zum achten Male in Buchform herausgeben. Ich verkenne keines¬
wegs den verderblichen, zersetzenden Einfluß, den diese aller Orten vertretene,
fest zusammenhaltende Clique auf die urtheilslose Menge ausübt. Jeder
Autoritätsglaube wird durch schonungsloser Spott und Hohn vernichtet, alles
Edle und Schöne wird mit Behagen in den Staub gezogen, und am Ende
aus den Trümmern ein Piedestal errichtet, auf dem der neue Herostrat im
Bewußtsein einer literarischen Mission thronen kann. Aber diese Erwägungen
halten mich keineswegs zurück, in Heinrich Heine den größten Lyriker des
neunzehnten Jahrhunderts zu sehen, dem die zweite Stelle nach Goethe gebührt.
Die Sünden ungezogener Schüler darf man nicht an dem Lehrer heimsuchen,
der in seine Zeit reinigend wie ein Gewitter hineinfuhr. Die Kulturgeschichte
aller Zeiten hat sich in Strömungen und Gegenströmungen bewegt, die ein¬
ander diametral gegenüberstanden; sonst wäre die Kulturgeschichte niemals
weitergekommen. Statt uns diese Strömungen unbefangen zu schildern, wie es
Hettner für die Literaturgeschichte des achtzehnten und Brandes für die des
neunzehnten, jeder in seiner Weise meisterhaft, gethan haben, behelligen uns
Koenig und die Literarhistoriker seines Schlages mit einer auf rein individuellen
Empfindungen beruhenden Polemik. In der Beurtheilung Heine's stellt sich
Koenig ganz auf den Boden der christlichen Religion. Sein Standpunkt
charakterisirt sich darin als ein so einseitiger, so maßlos intoleranter, daß sich
jeder Jude, der das Buch zur Hand nimmt, auf das Tiefste verletzt fühlen
muß. Ein Mann, der folgenden Satz schreiben kann: „Es ist ... nicht zu
verwundern, daß dieser unglückliche Mensch seit seiner Taufe noch rücksichts¬
loser gegen alles, was uns heilig ist, höhnend loszog und die christliche
Religion insbesondere mit Füßen trat" —, ein solcher Mann hat überhaupt
nicht das Recht, Literaturgeschichte zu schreiben. Was er mit sehr geringem
Talent und mit noch geringerem Geschmack kompilirt hat, ist nur sür die
kleine Gemeinde genießbar, welche den beschränkten Standpunkt des Ver¬
fassers theilt.
Noch ein Wort über Gutzkow. Ich las die Verunglimpfungen, die
sich Herr Koenig gegen den genialen Mann erlaubt hat, gerade in den Tagen,
als die Kunde von seinem Tode Deutschland durcheilte. Es ist begreiflich,
daß mir damals die Zornröthe in's Gesicht stieg, aber auch heute vermag ich
noch nicht diese verächtlichen Randglossen durchzulesen, ohne den tiefsten In¬
grimm gegen eine so schmähliche Behandlung eines edlen Mannes zu empfinden.
Gutzkow hat ebenso seine Wandlungen durchgemacht wie viele hochachtbare
Leute, die 1848 auf der Liste der Proskribirten standen und heute die höchsten
Stellen im Staatsdienste einnehmen. Gutzkow hat diese Wandlungen in seinem
letzten Romane, „Die neuen Serapionsbrüder", unumwunden ausgesprochen
und sich zu einem Parteistandpunkte bekannt, der von dem des Herrn Koenig
gar nicht so weit entfernt ist. Ich weiß nicht, ob Herr Koenig diesen Roman
nicht gelesen hat oder ob er ihn geflissentlich ignorirt, weil er nicht in das
Charakterbild passen würde, welches ihm von Gutzkow zu entwerfen beliebt.
In seiner Schilderung des Dramatikers Gutzkow sagt er: „Gutzkow's Dramen
sind durchweg Tendenz - Dichtungen ... etwas Spannendes und die große
Menge, vornehmlich das weibliche Publikum, Rührendes haben sie meistentheils,
und das hat ihnen einen vorübergehenden Erfolg auf unseren Bühnen ver¬
schafft." Man traut seinen Augen nicht: „einen vorübergehenden Erfolg"? —
„Uriel Acosta", „Das Urbild des Tartüffe", „Zopf und Schwert" gehören
zum eisernen Bestand unserer Bühnenrepertoires, und kein Stück eines neueren
Dichters ist so oft gespielt worden wie Gutzkow's „Königsleutnant". Aber
— ist es Unwissenheit oder Absicht? — Herr Koenig erwähnt dieses meister¬
hafte Lustspiel mit keiner Silbe, obwohl er selbst die weniger gelungenen
Bühnenarbeiten Gutzkow's aufführt. Etwa weil der „Königsleutnant" nicht
unter den „Tendenz-Dichtungen" unterzubringen war, für welche Herr Koenig
alle Dramen Gutzkow's Krsvi wann erklärt hat? —
Mit einem noch ungleich gröberen Geschütz als Herr Koenig rückt der neue
Herausgeber der Barthel'schen Nationalliteratur, Herr Professor Dr. Röpe,
weiland Lehrer an der Realschule des Hamburger Johanneums, vor. Er sagt
rund heraus: die Vertreter des „jungen Deutschland" hätte man „mit noch
größerem Rechte die deutschen Jungen" nennen können, und damit ja Niemand
über die Bedeutung dieses Epitheton im Unklaren bleibe, hat Herr Röpe es
fett drucken lassen. Trotzdem urtheilt er im Ganzen mit größerer Achtung
von Gutzkow als Herr Koenig; er läßt ihm sogar als Dramatiker volle Ge¬
rechtigkeit widerfahren, aber auch er ignorirt — vielleicht ein stillschweigendes
Abkommen dieser beiden Herren — den „Königsleutnant", in dem sich doch
sicherlich keine Spur von Antichristlichem oder staatsgefährlichen vorfindet.
„Die neuen Serapionsbrüder" kennt Herr Röpe auffallenderweise ebenfalls
nicht. Gleichwohl verfolgt er die neuesten literarischen Erzeugnisse bis in
unsere Tage herein, wie folgende naive Bemerkung zu Spielhagen — risum
tsQSÄtis! — lehrt: „Gegenwärtig bringt das Feuilleton des Hamburger Korre¬
spondenten sein neuestes Werk ,Das platte Land^." Wer darauf angewiesen
ist, seine literarhistorischen Kenntnisse ausschließlich aus dem Hamburger Korre¬
spondenten zu schöpfen, kann freilich zu keiner umfassenden Literaturkenntniß
durchdringen. Herr Röpe hätte aber den Hamburger Korrespondenten wenig¬
stens richtig ausschreiben können. Der Spielhagen'sche Roman heißt „Platt-
Land". Professor Röpe ist ein alter Herr, mit dem wir um seiner Flüchtigkeit
willen nicht allzu strenge in's Gericht gehen wollen. Aber er hätte genug
Selbsterkenntniß besitzen sollen, um eine Arbeit abzulehnen, der seine Kräfte
nicht mehr gewachsen sind. Er urtheilt mit größter Seelenruhe über Freytag's
„Journalisten", aber ich wette, er hat sie nie gelesen. „Dem gesinnungslosen
Literaten Bellmaus steht die prächtige Gestalt des Bolz gegenüber", sagt er
S. 915. Der gesinnungslose Literat heißt aber nicht Bellmaus, sondern
Schmock, Herr Röpe! und Bellmaus ist Bolzens bester Freund. „Die Kon¬
servativen werden allein durch den intriganten Gutsbesitzer Senden vertreten."
Das ist nicht wahr, Herr Röpe! das Haupt der Konservativen ist der edle,
ritterliche Oberst Berg, auf den Freytag auch nicht den leisesten Schatten ge¬
worfen hat. Auch die Romane der Marlitt muß Herr Röpe gar nicht oder
doch nur sehr unaufmerksam gelesen haben; denn er ist, soviel ich weiß, der
einzige, der sich zu der kühnen Behauptung verstiegen hat: „ihr Stil ist frei
von jeder Künstelei und Uebertreibung"!
Nichtsdestoweniger finden sich in dem Buche viel mehr treffende und
unbefangene Urtheile als in der unselbständigen Kompilation Koenig's. Was
Röpe über Geibel, Heyse, Lingg, Noquette sagt, wird jeder Vorurtheilsfreie
Beurtheiler im Ganzen unterschreiben können. Aber der einseitige theologische
Standpunkt des Verfassers und seine subjektive Willkür waltet doch derartig
vor, daß man auch dieses Buch nur mit Mißbehagen aus der Hand legt.
Der Herausgeber schimpft auf die Juden in einer Weise, daß man das Werk
einer gebildeten christlichen Dame schlechterdings nicht empfehlen kaun. Ja,
er entblödet sich sogar nicht, gewisse Eigenthümlichkeiten deutscher Stämme
zu verspotten. So heißt es z. B. S. 82. von den Mitarbeitern der von
Theodor Hell begründeten Dresdner „Abendzeitung", ihre literarischen Er¬
zeugnisse wären „so poesielos, so schwammig und breiweich wie der sächsische
Dialekt". Um das würdige Opus vollends zu charakterisiren, zitire ich zum
Schlüsse nnr noch eine Expektoratiou, von der sich Herr Röpe anläßlich des
herrlichen Anastasius Grün'schen Gedichtes von der „Poesie des Dampfes"
auf S. 657 entledigt: „Eisenbahnen und Dampfschiffe," sagt der alte Herr,
»können der Menschheit reichen Nutzen bringen, so lange nur dieselbe dabei noch
an der Religion festhält; denn denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum
Besten dienen. Sie nehmen ja den Menschen ein gut Theil Arbeit ab und
ersparen ihnen Zeit. Das muß durch die Liebe frommer Reicher auch den
Armen zu gute kommen. An und für sich haben Eisenbahnen und Dampf¬
schiffe mit der Religion nichts zu thun. Den Weg zum Himmel bahnen und
verkürzen können sie unbedingt nicht; das kann nur die wahre Poesie und der
wahre Glaube." Herr Röpe ist also doch wenigstens so aufgeklärt, die Eisen¬
b
Die Einführung der Gemeinde- und Synodalordnung von 1873 bezeichnet,
wie alle kirchlichen Parteien anerkennen, einen Wendepunkt in der Geschichte
der preußischen Landeskirche. Bis dahin lag der Schwerpunkt der kirchlichen
Entwickelung in der bischöflichen Machtfülle des Regenten des Landes und
unter ihm in der Ansicht und dem Willen der von ihm ernannten Kirchenbe¬
hörden. Jetzt aber sind neben den Landesherrn als den obersten Träger des
Kirchenregiments und seine Beamten die freigewählten Abgeordneten des evan¬
gelischen Volkes Preußen's getreten, um mit dem König und seinen Beamten
zusammenwirkend verfassungsmäßig die Geschicke der Landeskirche zu bestimmen.
Damit ist für den Geschichtschreiber der Union die Grenze gegeben, bis zu
der er mit seinem Bericht gehen kann; denn die Verhältnisse, die sich seitdem
herausgebildet haben, sind noch zu flüssig, noch zu sehr im Werden begriffen,
als daß sie sich für eine objektive Betrachtung und Darstellung eigneten. Mit
Recht macht der Verfasser daher an jener Grenze Halt; dagegen sieht man
nicht recht ein, warum er die Muster'sche Zeit, die doch noch in die Jahre
des nichtkonstitutionellen Kirchenregiments gehört, von seinem Bericht ebenfalls
ausschließt. Im Uebrigen verdient sein Buch, wenn wir von der bisweilen
salbungsvoll weitschweifigen Form absehen, alles Lob. Der Verfasser beherrscht
das weitschichtige Material und nimmt unseres Erachtens den richtigen Stand¬
punkt ein.
Der erste Abschnitt behandelt die Unionspolitik Friedrich Wilhelm's III.
von seinem Regierungsantritt an bis 1813 und die gleichzeitigen Unionsbe-
strebungen Schleiermacher's und Sack's. Der zweite schildert die Vorbereitung
einer Synodalordnung für beide Konfessionen der Evangelischen und die Arbeit
der liturgischen Kommission. Weiterhin wird über die Stiftung der Union
und ihre Feier am Reformationsfeste von 1817 berichtet. Dann wirft der
Verfasser einen Blick auf die ersten Gegner des Werkes und auf deren Zurück¬
weisung, um dann den Stillstand der synodalen Entwickelung, den Fortgang
der Union auf dem Kabinetswege vorzuführen und das Recht des Königs zu
seiner Reformation darzuthun. Darauf werden Unionsstiftungen außerhalb
Preußen's betrachtet. Ein ferneres Kapitel beschäftigt sich mit der Entstehung
der preußischen Agende; das nächste und das übernächste fassen die liberale
Opposition der Schleiermacherianer und die der von scheidet geführten Alt¬
lutheraner in's Auge; vom 11. Abschnitt an bis zum 17. wird die Kirchenpolitik
Friedrich Wilhelm's IV. besprochen, sein Kirchenideal, die Generalsynode von
1846, die Entstehung des deutschen Kirchentags und der Eisenacher Konferenz,
die zweite lutherische Separation und der neue Aufschwung des lutherischen
Konfessionalismus unter dem Einfluß der Restauration von 1852, die Konfes¬
sionsordre dieses Jahres, die Gegenordre vom 12. Juli 1853 und die Mon-
bijou-Konferenz vom November 1856, endlich der Beginn eines Umschwungs
mit der Versammlung der evangelischen Allianz, die in Berlin stattfand. Die
nächsten vier Abschnitte schildern die Entwickelung der Synodalverfassung unter
Wilhelm I., das erneute Ankämpfen der Konfession wider die Union nach Ein¬
verleibung der neuen Provinzen und die Niederlage der Gegner des Unions¬
werks. Mit einem Rückblick auf das landeskirchliche Gesammtwerk Friedrich
Wilhelm's III., die Organisation einer einheitlichen Landeskirche und die
Regeneration des evangelischen Gottesdienstes, schließt das Buch.
Das vorstehende Werk ist eine umfassende, sehr sorgfältig und sauber ge¬
arbeitete Darstellung des sogenannten empirischen Realismus, eines philosophi-
^chen Systems, das in der vorliegenden bestimmten Gestalt I. H. v. Kirchmann
zum Urheber hat. Wer sich über dasselbe orientiren will, dem kann die Schrift
Wolfs's durchaus empfohlen werden, zumal da sie durch Klarheit, Faßlichkeit
und Leichtigkeit der Schreibweise sich auszeichnet. Vor dem System selbst frei¬
lich können wir nicht dringend genug warnen, weil es die Grundlagen der
Philosophie zerstört. Eine kurze Charakteristik desselben wird die Berechtigung
Zu diesem scharfen Urtheil erhärten. Der Punkt, von dem aus der empirische
Realismus mit einem Blick überschaut werden kann, ist die Beantwortung der
Frage Kant's: Wie sind synthetische Urtheile (d. h. Urtheile, in welchen der
Prädikatsbegriff nicht im Subjektsbegriff enthalten ist und doch mit ihm in
einer nothwendigen Verknüpfung steht) a xriori möglich. Kant hatte die Lösung
dieses Problems darin gefunden, daß er reine, von jeder Erfahrung unabhän¬
gige und diese erst ermöglichende Vernunftformen annahm, wie Raum und
Zeit für äußere und innere Anschauung, wie den Begriff der Kausalität und
die davon abhängigen Begriffe. Der empirische Realismus setzt nun ebenfalls
solche apriorische Vernunftformen voraus, gibt ihnen aber keinen konstitutiven,
sondern nur einen regulativen Werth, indem er nicht durch sie, sondern dnrch
äußere und innere Wahrnehmung die Erfahrung entstehen läßt. Und jene
Formen sind ihm nur dazu da, über dem Wahrgenommenen schwebenden Gei¬
stern vergleichbar, diesem reinen Erfahrungsinhalt eine idealere Weihe zu geben.
In der Natur aber gibt es keine Kausalität als gegenständliche Eigenschaft der
Dinge, sie ist nichts Wirkliches und Seiendes, sondern nur ein subjektives Jn-
beziehungsetzen zweier regelmäßig auf einander folgender Naturereignisse. Die
aus diesen Formen hervorgehenden allgemein giltigen Urtheile sind daher auch
keine Naturgesetze im strengen Sinne des Wortes, da alles, was Naturinhalt
lst, nur durch die Wahrnehmung angeeignet wird. Es ist die Wahrnehmung,
die das Seiende in Raum und Zeit in sich aufnimmt, der sich das körperliche
und seelische Sein erschließt. Das körperliche Sein wird durch die Empfin¬
dungen der Sinne wahrgenommen.
Machen wir hier einen Augenblick Halt, um die Frage auszuwerfen, welche
Bürgschaft wir haben, daß die Summe von Affektionen der Sinne, durch welche
un'r das körperliche Sein erfassen, in der That mit demselben-identisch ist.
Wir können, streng denkend, nicht weiter kommen, als bis zu dem Satze: Ver¬
möge der eigenthümlichen Organisation unserer Sinne stellt sich uns dies be¬
stimmte Weltbild dar? mit anderen Worten: es ist eine Erscheinung, über deren
Sinn und Bedeutung uns der empirische Realismus keine Aufklärung geben
kann. Aber wir gehen weiter. Wie steht es mit der Wahrnehmung des seeli¬
schen Seins? Dieselbe ist eine eigene Selbsterkenntniß, ein Eigenbewußtsein
der im Bewußtsein auftretenden Qualitäten, das bei gehöriger Intensität
— Aufmerksamkeit — sich bildet. Also von einem einheitlichen Selbstbewußt¬
sein der Seele, ja von der Seele als Einheit, weiß der empirische Realismus
nichts, das seelische Leben ist eine Vielheit selbstbewußter Elemente. Wo kommt
denn aber die erfahrungsmäßige Einheit her? Dieser Auffassung entspricht es
denn auch, daß das Denken als Bewegungsprozesse der einzelnen Gestaltungen
bezeichnet wird, die von selbst und ohne nachweisbare Anstrengung unsrerseits
sich vollziehen. Man sieht, dieser Theorie fehlt das Subjekt seelischen und gei¬
stigen Handelns und das zusammenfassende Band. Seele und Geist sind ihm
nur der Schauplatz, auf dem eigenthümliche Elemente und Vorgänge ihr bald
zufälliges, bald geregeltes Spiel treiben. Und was nimmt denn nun die Seele
wahr? Es ist dies einmal eine Fülle von Vorstellungen und Denkprozessen,
es ist dies sodann eine Vielheit von Gefühlen, es ist dies endlich eine Mannich-
faltigkeit von Begehrungen. Unter den Gefühlen findet Wolff auch das sitt¬
liche Gefühl, das er beschreibt als Gefühl der Achtung vor der Menschheit im
Einzelnen und Allgemeinen und vor den Regeln, die aus dieser Achtung zur
Regulirung des Handelns für den Einzelnen hervorgequollen sind. Dieselben
fordern, daß wir jeden Menschen als eine eigene, selbständige, selbstbewußte,
eigene Ziele und Zwecke verfolgende Persönlichkeit schützen. — Ganz recht, Ach¬
tung kann nur eine Persönlichkeit und was von ihr geleistet ist, in Anspruch
nehmen, aber der empirische Realismus hat nicht einmal Raum für den Be¬
griff eines Subjekts, geschweige denn für die Idee der Persönlichkeit. Wolff
redet freilich in einem besonderen Abschnitte von Jchbewußtsein, aber wie das¬
selbe zu Stande kommt und was es leistet, bleibt dunkel. Es ist charakteristisch,
daß dieser so wichtige Gegenstand nur so kurz und skizzenhaft behandelt wird.
Wir werden auch nicht klüger, wenn wir an einer anderen Stelle belehrt
werden, daß wir das verschmolzene einheitliche Ganze der verschiedenen durch¬
aus eigenartigen und von einander nicht ableitbaren Qualitäten des Bewußt¬
seins mit dem Worte „Seele" zu bezeichnen pflegen. Es ist eben von den
Voraussetzungen des empirischen Realismus aus völlig unerklärbar, wie diese
Qualitäten einheitlich verschmelzen können.
Wir enthalten uns, weiter die Haltlosigkeit des empirischen Realismus
nachzuweisen; es ist klar, wie verhängnißvoll es ist, wenn den apriorischen
Formen der Vernunft nur eine regulative, nicht eine konstitutive Dignität für
Am 15. Mai, an dem Tage, wo diese Nummer unseres Blattes hin¬
ausgeht, wird in Leipzig eine Kunstgewerbe-Ausstellung für Sachsen und
die thüringischen Lande eröffnet werden. Während wir diese Zeilen schreiben,
werden von allen Seiten die größten Anstrengungen gemacht, um mit dem
Ausbau und der Dekoration des Ausstellungsgebäudes wie mit der Anordnung
der Ausstellungsgegenstände rechtzeitig zu Ende zu kommen. Noch vor zwei
Wochen hätte kein Mensch es für möglich gehalten, daß der Eröffnungstermin
würde eingehalten werden können, alle Welt glaubte zum Aufschub rathen zu
müssen. Sieht man die Riesenfortschritte, die inzwischen der Wetteifer un¬
zähliger fleißiger Hände zu Wege gebracht, fo steigt die Hoffnung, daß wenigstens
im Großen und Ganzen die Ausstellung zur bestimmten Stunde „fertig" sein
wird, wenn auch im Einzelnen die letzten Maiwochen noch gar manches nach¬
zuholen haben werden.
Einen Glanzpunkt der Ausstellung wird nach allem, was man hört, die
Abtheilung der „graphischen Künste" bilden, der Buchdruck und alle mit ihm
zusammenhängenden und verwandten gewerblichen Branchen. Als der Zentral¬
sitz des deutschen Buchgewerbes wird Leipzig alles aufbieten, um seine Führer¬
rolle auf diesem Gebiete wie die dominirende Stellung dieses Gebietes selbst
im Kreise der übrigen Leipziger und sächsischen Gewerbe eindringlich vor Augen
zu führen. Hat es doch im vorliegenden Falle noch eine ganz besondere
Veranlassung hierzu: denn wie schon das Zirkular hervorhob, welches zu
Anfang des Jahres an die betheiligten Kreise versandt wurde, gilt es zugleich,
die 400j ährige Feier der Einführung des Buchdruckes in Leipzig
festlich zu begehen.
1479 und 1879! — Das Datum scheint allerdings, wenn man ehrlich
sein will, nicht ganz festzustehen. Die Angaben darüber, in welchem Jahre
zuerst in Leipzig gedruckt worden ist, schwanken zwischen 1479 und 1481.
Was soll man für das Richtige halten? In der gewöhnlichen lokalgeschicht¬
lichen Literatur ist nirgends Rath über dergleichen zu holen — wird es doch
kaum eine zweite deutsche Stadt von der Bedeutung Leipzig's geben, um deren
Lokalgeschichte es so jämmerlich bestellt wäre, wie um die Leipziger —, aber
auch in den Schriften zur Geschichte des Buchdruckes fehlt es an sicheren und
begründeten Nachrichten. Ueberblicken wir in Kürze das Material, das für
die Beantwortung der Frage in Betracht kommt, so läßt sich dasselbe etwa
in Folgendem zusammenfassen.*)
Nach der gewöhnlichen Annahme wäre der Buchdruck im Jahre 1479
durch Andreas Frisner von Nürnberg nach Leipzig gebracht worden. Gerade
diese Nachricht aber scheint auf schwachen Füßen zu stehen. Andreas Frisner
stammte aus Wunsiedel im Fichtelgebirge — dem Geburtsorte Jean Paul's —
und war der Sohn des dortigen Rathsherrn Johann Frisner. Nachdem er
von 1465 an in Leipzig studirt hatte, war er in den siebziger Jahren in Nürn¬
berg in der Druckerei von Johann Sensenschmidt als „Korrektor" thätig —
eine Stellung, die damals etwas wesentlich anderes besagen wollte als gegen¬
wärtig. Obgleich es auch heutzutage nicht an tüchtigen, kenntnißreichen Kor¬
rektoren fehlt, deren Thätigkeit den Manuskripten gegenüber eine halb und halb
redaktionelle ist, und die sich keineswegs blos um die orthographische und inter-
punktionelle, sondern auch um die stilistische und sachliche Korrektheit von
Büchern wie von Zeitschriften oft größere Verdienste erwerben, als das Publi¬
kum ahnt (notabene das Publikum, welches überhaupt die Fähigkeit hat, der¬
gleichen zu würdigen), so beschränkt sich doch die eigentliche Aufgabe des
Korrektors heutzutage darauf, die Versehen des Schriftsetzers, nicht die des
Schriftstellers gutzumachen. Anders im 15. und 16. Jahrhundert. Da¬
mals war der Korrektor der gelehrte Kompagnon des in der Regel ungelehrten,
handwerksmäßigen Druckers, und wo es sich um Neudrucke älterer Texte, im
humanistischen Zeitalter namentlich um die Texte der alten Klassiker handelte,
vertrat er durchaus die Stelle des heutigen „Herausgebers". Und wie sich
jetzt auf den Büchern der Herausgeber, der Verleger und der Drucker nennen,
so nannte sich damals der Drucker, welcher Anfangs mit dem Verleger in der
Regel identisch war, und — der Korrektor. Eine ganze Reihe von Nürnberger
Drucken aus den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts sind in dieser
Weise von Sensenschmidt und Frisner gemeinsam unterzeichnet. In der
Schlußschrift einer Ausgabe des Thomas von Aquino vom Jahre 1474 rühmt
sich Frisner ausdrücklich, daß es sein Bestreben sei, die lateinische Orthographie
aus der bisherigen Verwilderung wieder zu den Regeln der alten Grammatiker
zurückzuführen.
Im Jahre 1479 trennten sich beide Genossen, wahrscheinlich weil sie neben
dem mehr und mehr aufblühenden berühmten Druck- und Verlagsgeschäfte der
Koberger nicht recht bestehen konnten, und verließen Nürnberg. Sensenschmidt
zog nach Bamberg und trat dort in eine andere Druckerei ein, Frisner aber
kehrte nach Leipzig zurück, wo seit dem Jahre zuvor, seit 1478, ein junger
Verwandter, wahrscheinlich ein Neffe von ihm, Erasmus Frisner, und Sensen-
schmidt's Sohn Lorenz studirten, wurde hier — Professor der Theologie und
erhielt 1482 das Rektorat der Universität. Im Jahre 1491 ging er nach Rom,
wo ihn Papst Alexander VI. zum Primarius ordinarius des apostolischen
Stuhles ernannte, und wo er 1504 starb.
Woher stammt nun die Kunde, daß dieser gelehrte Theolog, der Rektor
der Leipziger Universität, Leipzig's erster Drucker gewesen? — Frisner hinter¬
ließ 1504 in Rom ein Testament, worin er, außer anderen zahlreichen Legaten
an Geld, Büchern, Kleidern und Geräthschaften, auch seiner Vaterstadt ein
Kapital vermachte, dessen Zinsen denjenigen Nachkommen der Frisner'schen und
der mit ihr verschwägerten Pachelbel'schen Familie gereicht werden sollten,
welche studiren würden, außerdem einen großen Theil seiner Bücher, mit denen
er den Grund zu der im vorigen Jahrhundert durch eine Feuersbrunst zer¬
störten Stadtbibliothek von Wunsiedel legte. Seine Presse aber mit dem ge-
sammten Druckerzeug und zwanzig rheinischen Gulden bestimmte er dem
Dominikanerkloster in Leipzig, wofür ihm die Konventualen alljährlich Seelen¬
messen lesen sollten. In diesem Kloster war 1497 der oben erwähnte Ver¬
wandte von ihm, Erasmus Frisner, als Magister im Alter von 27 Jahren
gestorben. Das ist alles, was wir wissen.
Frisner's Testament, dessen Original lange Zeit in der Familie Pachelbel
aufbewahrt wurde, ist bereits 1677 in einer lateinisch geschriebenen Chronik
des Vogtlandes und speziell Wunsiedel's seinem ganzen Wortlaute nach ver¬
öffentlicht worden. Außer ihm gibt es über Frisner's Presse nirgends eine Nach¬
richt, und alles, was über seine Druckerei berichtet wird, kann nur auf dieses
Testament zurückgehen. Nun ist nirgends darin gesagt, daß Frisner die
Presse, von der er redet, bereits in Leipzig besessen habe, nirgends, daß er
1479, als er von Nürnberg nach Leipzig kam, sie mit dahin gebracht habe.
Diese Annahme ist nichts als eine Vermuthung, für die es an jedem Zeugniß
fehlt. Aber zugegeben, daß diese Vermuthung viel Wahrscheinliches hat, daß
es sehr nahe liegt, anzunehmen, daß Frisner bei der Auflösung des Sensen-
schmidt'schen Geschäftes in Nürnberg eine der vorhandenen Pressen übernommen
und mit nach Leipzig gebracht habe, daß er sie vielleicht sogar 1491, als er nach
Rom ging, oder auch früher schon den Leipziger Dominikanern leihweise über¬
lassen und eben deshalb später testamentarisch vermacht habe — ans der
ganzen Zeit von 1479 bis 1491 ist unter allen erhaltenen Leipziger Drucken
nicht ein einziger nachweisbar, der Frisner's Namen trüge. Weshalb hätte er
sich aber in Leipzig nicht ebensogut auf seinen Drucken nennen sollen, wie auf
denen, die er früher in Nürnberg in Gemeinschaft mit Sensenschmidt gedruckt
hatte? Aber selbst das noch zugestanden, daß hierbei der Zufall die Hand
im Spiele haben kann, und Frisner's sämmtliche Leipziger Drucke vernichtet
sein können, müßten dann nicht wenigstens Exemplare davon in seinem eigenen
Besitz gewesen sein? In seinem Testamente aber, in welchem er weit über
hundert Bücher aufführt und zu einzelnen Titeln ausdrücklich die Bemerkung
hinzufügt, daß die Bücher „von ihm gedruckt" oder daß sie „von ihm in
Nürnberg gedruckt" seien, ist nicht ein einziges Buch erwähnt, welches er als
Erzeugniß seiner Leipziger Druckerthätigkeit bezeichnete.
Es ist also wohl kaum ein Zweifel: von einer gewerbsmäßigen Drucker¬
thätigkeit Frisner's in Leipzig und davon, daß er „den Buchdruck nach Leipzig
gebracht" habe, kann nicht gut die Rede sein. Hatte Frisner in Leipzig eine
Presse, so gehörte er eben zu den zahlreichen Gelehrten jener Zeit, die eine
Druckerei zu ihrem Privatgebrauch besaßen, dann und wann kleinere, von
ihnen selbst verfaßte Schriften zur Vertheilung an ihre Freunde darauf druckten,
aber nimmermehr fremde Druckaufträge ausführten. Frisner war ein Ge¬
lehrter, aber kein Drucker; am Setzkasten wird er sich schwerlich viel zu schaffen
gemacht haben.
Nun, und dennoch gegenwärtig ein 400jähriges Jubiläum des Leipziger
Buchdruckes? Wenn die Frisner-Legende schwindet, wo soll dann noch das
Recht zum Jubiliren herkommen? Der erste erhaltene Leipziger Druck, der
eine Jahrzahl, leider aber keinen Druckernamen trägt, stammt aus dem Jahre
1481. Es ist eine lateinisch geschriebene, auf die Unterwerfung der Türken
bezogene Auslegung der Offenbarung Johannis, verfaßt von einem italienischen
Dominikaner Anilins von Viterbo. Sie war zuerst 1480 in Genua erschienen,
das Jahr darauf wurde sie in Leipzig nachgedruckt, vermuthlich von einem
der zahlreichen damals mit ihrer Presse wandernden Drucker, denn die Typen der
Schrift stehen, wie eine Vergleichung mit zahlreichen andern Leipziger Wiegen¬
drucken ergeben hat, völlig vereinzelt da. Wäre es da nicht das Einfachste,
sich an dieses Datum zu halten? Was nöthigt uns, bei dem Jahre 1479
stehen zu bleiben?
Es hat sich neuerdings ein positives Zeugniß dafür gefunden, daß es bereits
im Jahre 1479 eine gewerbsmäßige Druckerei in Leipzig gegeben haben muß.
Auf einem losen Zettel, der in den Leipziger Stadtkassenrechnungen von
1480 liegt, wird unter denen, die im Dezember 1479 mit dem „Wächter¬
geld" in Rückstand geblieben waren, auch erwähnt ein „lang Nickel puchtrucker,
zwey oder drei wechtergeld". Nun wurde das Wächtergeld in Leipzig alle Viertel¬
jahre eingetrieben und war eine so geringfügige Steuer, daß nur der Aermste
damit in Rückstand bleiben konnte. Der genannte Säumige wird also schwer¬
lich der Besitzer einer Presse, wahrscheinlich wird er ein armer Druckergesell
gewesen sein. Als solcher aber muß er doch im Jahre 1479 in Leipzig in
Arbeit gestanden haben. Eine müßige Frage ist es, wem die Druckerei gehört
haben mag, in welcher dieser treffliche „lang Nickel", der als Retter der Jahres¬
zahl 1479 aufgetaucht ist, arbeitete. Doch läßt sich auch auf diese Frage viel¬
leicht noch eine Antwort geben. Die drei frühesten Leipziger Drucker, die sich
auf ihren Preßerzeugnissen in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts mit
Namen nennen, sind Marcus Brandis und Moritz Brandis, wahrscheinlich ein
Brüderpaar, und außerdem Kunz Kachelofen. Der erste ist seit 1484, der
letzte seit 1485, Moritz Brandis seit 1488 mit Drucken nachweisbar. Von
den beiden Brandis ist wenig bekannt; sie scheinen einer nicht sehr seßhaften,
damals auch noch anderwärts vorkommenden Druckerfamilie angehört zu haben;
Moritz Brandis ging 1490 wegen Schulden von Leipzig weg und wandte sich
nach Magdeburg. Eine größere Bedeutung hat Kachelofen. Er war ein wohl¬
habender und angesehener Mann in Leipzig und der erste Drucker, der hier
eine dauernde und bemerkenswerthe Thätigkeit entfaltete. Aus seinen Pressen
sind Drucke hervorgegangen - wie das Missale für das Bisthum Meißen
vom Jahre 1495 —, die an einfacher Schönheit, Solidität und Akkuratesse
mit den besten süddeutschen Drucken jener Zeit den Vergleich aushalten. Noch
1528 erscheint er als Senior an der Spitze der Leipziger Buchdrucker. ^Das
Bürgerrecht von Leipzig aber hatte Kachelofen erhalten bereits im Jahre
^- 1476! Sollte es da so fern liegen, ihn für den ersten Leipziger Drucker
M halten? Allerdings stammt, wie schon erwähnt, der erste datirte Druck von
ihm erst aus dem Jahre 1485. Aber könnte das nicht Zufall sein? Ist es glaub¬
lich, daß Kachelofen 1476 auf ein anderes Gewerbe hin das Leipziger Bürger¬
recht erworben habe und erst später zur Druckerei übergegangen sei?
So viel wird aus dem Vorstehenden klar werden, daß, wenn der Leipziger
Buchdruck im Verein mit den übrigen graphischen Künsten sich in diesem Augen¬
blicke rüstet, in der glanzvollen Schaustellung, die er dem Publikum zu bieten
gedenkt, zugleich in der Stille ein Fest zu begehen, das ihm selber gilt, acht
eigentlich von einer Jubelfeier der Einführung des Buchdruckes in Leipzig die
Rede sein kann sondern streng genommen nur von der des frühesten Zeug¬
nisses seiner Existenz in Leipzig. Aber gleichviel. Mag auch die Feier in
Wem ersten Sinne eine imaginäre sein: wie manches Fest ist schon geräusch¬
voller und weniger ideell gefeiert worden, dessen Beglaubigung eine nicht minder
legendäre war! Das Bedürfniß, bedeutungsvolle geschichtliche Ereignisse und Vor-
gänge wie zur eignen Beruhigung auf feste Daten zu bringen, ist fo alt wie
der historische Sinn der Menschen überhaupt. Vorausgesetzt, daß unsre Frage
vor der Wissenschaft ehrlich als eine offne betrachtet wird, halte man nur
getrost an der traditionellen Zahl bis auf Weiteres fest.
Der Leipziger Buchdruck hat alle Ursache, mit freudigem Stolze auf die
vier Jahrhunderte seines Bestehens zurückzublicken. Eine lange Reihe von
Städten, die in der Geschichte der deutschen Typographie einst zu den glän¬
zendsten Namen zählten, steht heute fast bedeutungslos auf diesem Gebiete da.
Leipzig hat sich von den kümmerlichsten Anfängen im Laufe der Jahrhunderte
zum Haupt- und Mittelpunkte des deutschen Buchdruckes und Buchhandels
emporgerungen. Wenn es den Anschein hat, als sollte es ganz neuerdings
von Stuttgart überflügelt werden, so scheint es doch eben auf den ersten Blick
nur so. Der großen Anzahl „illustrirter Prachtwerke", die der Stuttgarter
Buchhandel im Laufe des letzten Jahrzehntes in rascher Folge auf den Markt
geworfen, hat Leipzig allerdings wenig Gleichartiges an die Seite zu setzen.
Was Leipzig fehlt, und worin Stuttgart augenblicklich unleugbar einen Vor¬
sprung hat, das ist eine tüchtige Schule für Xylographie, ein tüchtiges Institut
für Lichtdruck — empfindliche Mängel, auf deren Beseitigung mit allen Mitteln
wird hingearbeitet werden müssen. Im Buchdruck aber, vor allem auch im
Holzschnittdruck behauptet Leipzig nach wie vor den ersten Rang, und die
Leipziger Kunstgewerbe-Ausstellung wird sicherlich zeigen, daß Leipzig gewillt
ist, diesen Rang auch in Zukunft zu behaupten und nicht in unthätiger
Siegesgewißheit die Hände in den Schooß zu legen.
Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 hatte die Gemüther
auf eine uns ganz unverständliche Weise erschüttert. In dem stolzen Gefühl
der immer wachsenden Aufklärung hatte man sich allmählich eingeredet, die
Weltgeschichte gehe in gerader Linie vorwärts, und nicht blos die Wolffianer
glaubten an eine weise und stetig wirkende Vorsehung für das Ganze der Welt.
Nun tauchte plötzlich die Macht des Zufalls auf, in ihrer grauenvollsten ver¬
haßtesten Gestalt, und gerade die Führer der Aufklärung, Voltaire voran,
legten sich die Frage vor, ob nicht vielleicht der blinde Zufall die Welt regiere.
Diese Frage sollte den Philosophen bald näher treten. Ein größeres
Unglück kam über die Welt, als das Erdbeben von Lissabon, ein Unglück für
drei Welttheile: der siebenjährige Krieg.
„Europa hat keine schöneren Tage gesehen, als die Jahre nach dem
Aachener Frieden, 1748 bis 1756. Der Handel blühte von Se. Petersburg
bis Cadix, und die schönen Künste standen überall in Ehren, alle Völker ver¬
kehrten mit einander; Europa glich einer großen Familie, die sich nach ihren
Zwistigkeiten geeinigt hat." So Voltaire in seiner „Geschichte Ludwig's XV."
Klopstock und Winckelmann hatten, indem sie auf Ziele hinwiesen, die
über das gemeine Wirkliche hinausgingen, den deutschen Idealismus begründet.
Nun aber trat ein Mann in den Vordergrund, der die Deutschen wieder aus
dem Lande der Träume und Ideale zu verdrängen schien, dessen gewaltiges
Leben alles verdunkelte, was sonst in Deutschland vorging: Friedrich
der Große.
Friedrich hatte sich wohl sagen müssen, daß mit dem Frieden von 1745
seine Eroberung noch nicht perfekt geworden sei; mit gespannter Aufmerksam¬
keit beobachtete er alle Schritte seiner Gegner.
Im Herbst 1755 trat das Ungeahnte ein: die beiden Großmächte Frank¬
reich und Oesterreich, deren Rivalität seit nahezu drei Jahrhunderten die Sig¬
natur der Weltstellung gewesen war, traten durch die Vermittelung des öster¬
reichischen Ministers Kaunitz in einen engen Bund, dem sich auch Rußland
anschloß.
Friedrich kam auf die Spur, und wenn er auch von dem Umfange der
Gefahr keine Vorstellung hatte, so erkannte er doch, daß für ihn die Rettung
nur in der äußersten Verwegenheit liege: er mußte den Feinden zuvorkommen.
Zwischen Frankreich und England stand ein Entscheidungskampf über die
Hegemonie in Asien und Amerika bevor; Preußen war demnach auf England
gewiesen. Ohne daß es in der Absicht der Fürsten lag, wurde die Konstella¬
tion so, daß zwei protestantische Mächte gegen zwei katholische den Kampf auf
Leben und Tod unternahmen. Am 5. Juli 1756 wurde in Berlin der Ver¬
trag mit England abgeschlossen.
In Dresden verzweigten sich alle Fäden der Verschwörung; dorthin rich¬
tete sich der erste Sturm. Am 28. August rückte Friedrich aus; am 9. Sep¬
tember zog er in Dresden ein, zwang am 15. Oktober die sächsische Armee
zur Kapitulation und bezog dann seine Winterquartiere in Dresden. Sachsen
kam sich vor wie eine eroberte Provinz, die Preußen ergriff ein wahrer Taumel
des Sieges.
Die Verhältnisse aller Männer, die bis dahin am Aufbau der deutschen
Literatur gearbeitet, wurden durch diese Ereignisse aufgerüttelt.
Lessing hatte mit einem Leipziger Patrizier einen Vertrag abgeschlossen,
ihn auf einer längeren Reise zu begleiten: im Mai 1756 waren sie von Leipzig
abgereist und bis Amsterdam gekommen. Da rief der Krieg sie im September
zurück. Um die versprochene Entschädigung, die ihm nicht ausgezahlt wurde,
mußte Lessing einen achtjährigen Prozeß führen.
In Leipzig war eine entsetzliche Noth; der Buchhandel stockte; die Schau¬
spieler wanderten aus; Winckelmann hätte beinahe seine Pension verloren;
Käfer er nahm einen Ruf nach Göttingen an.
„Warum fliehen Sie nicht diesen Ort der Unruhe, Betrübniß und allge¬
meinen Verzweifelung?" schreibt Moses Mendelssohn an Lessing. Dieser hatte
freilich in Leipzig zugleich die Geschäfte seiner Berliner Freunde zu besorgen:
er machte die Korrekturen zur „Bibliothek der schönen Wissenschaften", die „zur
Beförderung des guten Geschmacks" von Mendelssohn und Nicolai her¬
ausgegeben wurde: auch in Paris hatte man Korrespondenten für die Biblio¬
thek gewonnen, und Winckelmann schickte zahlreiche Beiträge aus Rom.
Am 14. Januar 1757 fordert Sulz er feinen Freund Ewald Chr.
v. Kleist auf, dafür zu forgen, daß der Krieg nicht wieder von einem Fran¬
zosen beschrieben werde, der ihn zu einer Episode des englisch-französischen
Krieges herabsetzen würde. „Die Thaten der deutschen Helden müssen von
deutscher Feder beschrieben werden. Sammeln Sie nur zuverlässige Nachrichten
und hinlängliche Pläne, so wird sich wohl unter Ihren Freunden ein Kopf
finden, der sie in eine würdige Geschichte bringt. Wenn ich es thun könnte,
so sollte mir weder Gefahr noch Mühseligkeit zu groß sein, überall selbst zu
sehen, ich würde mich entschließen, die Kriegskunst durch alle Stufen zu lernen,
um mich dazu geschickt zu machen."... „Mich dünkt, daß ganze Armeen gewisser¬
maßen persönlichen Charakter haben: so werden sie erzogen, so denken, so
handeln sie, wie einzelne Personen. Den Charakter unserer Armee möchte ich
so geschildert sehen, wie Labruyere einzelne Personen geschildert hat. Der ver¬
nünftigste Theil des hiesigen Publikums bewundert und verehrt diese Armee;
ein Theil aber, hauptsächlich der Adel, ist unzufrieden, undankbar, furchtsam."
Im März 1757 kam Kleist als preußischer Major nach Leipzig, die
Umwandlung sächsischer Soldaten in preußische zu besorgen; nicht mehr von
Friedenssehnsucht verzehrt, sondern stolz auf den Ruhm seines Königs. „Auch
ich, ich werde noch — vergönn' es mir o Himmel! -— einher vor wenig Helden
ziehn; ich seh' dich, stolzer Feind! den kleinen Haufen fliehn, und find' Ehr
oder Tod im rasenden Getümmel."
Lessing lernte ihn gleich nach seiner Ankunft kennen, da Kleist einige
Tage bettlägerig war, und es entspann sich zwischen den beiden lebensfroher
und tüchtigen Männern eine Freundschaft, wie sie Lessing nicht wieder gekannt
hat. Aber der Umgang mit preußischen Offizieren machte ihn den Leipzigern
verdächtig, er galt als leidenschaftlicher Anhänger Friedrich's.
Am 6. Mai erfocht der König den neuen großen Sieg bei Prag. Nun
waren auch die Kaiserlichen geworfen, das Ziel des Krieges schien sich zu er¬
weitern.
„Sie verlangen von mir," schreibt Lessing am 10. Mai 1757 an Gleim,
»eine Ode auf Ihren König?" Er will sie versuchen.
„Dir fehlt weder die Gabe, den Helden zu singen, noch der Held. Der
Held ist dein König. — Zwar sang deine frohe Jugend, bekränzt vom rosen-
wangigen Bacchus, nur von feindlichen Mädchen, nur vom streitbaren Kelch¬
glas; doch bist du nicht fremd im Lager, nicht fremd vor den feindlichen
Wällen, unter brausenden Rossen. Was hält dich noch? — Singe ihn, deinen
König! deinen tapferen doch menschlichen, deinen schlauen doch edel denkenden
Friedrich. Sing' ihn an der Spitze seines Heers, an der Spitze ihm ähn¬
licher Helden, soweit Menschen den Göttern ähnlich sein können. Singe ihn
im Dampf der Schlacht, sowie die Sonne unter den Wolken ihren Glanz,
aber nicht ihren Einfluß verliert. Sing' ihn mit dem Kranze des Siegs,
tiefsinnig auf dem Schlachtfeld, mit thränenden Augen unter den Leichnamen
seiner Gefährten!"
„Ich will indeß mit äsopischer Schüchternheit, ein Freund der Thiere,
stillere Weisheit lehren. — Ein Mährchen vom blutigen Tiger, der, als der
sorglose Hirt mit Chloris und der Echo scherzte, die arme Heerde würgte und
zerstreute. Unglücklicher Hirt! wann wirst du die zerstreuten Lämmer wieder
um dich sammeln! wie rufen sie so ängstlich im Dorngeheck nach dir!" —
Gleichviel! — „Wie froh werde ich sein," setzt er in Prosa hinzu, „wenn
ich wieder in Berlin bin, wo ich nicht länger nöthig haben werde, es meinen
Bekannten nnr in's Ohr zu sagen, daß der König von Preußen dennoch ein
großer König ist!"
In einer andern Ode, an Kleist, parodirt er Klop stock's Elegie an
Ebert. — „Wenn auch ich nicht mehr bin, ich, deiner Freunde spätester, der ich,
mit dieser Welt weit besser zufrieden als sie mit mir, noch sehr lange zu leben
gedenke . . . dann erst, o Kleist! geschehe mit dir, was mit uns allen ge¬
schieht! Dann stirbst du, aber eines edlern Todes: für deinen König, für
dein Vaterland, und wie Schwerin. O des beneidenswürdigen Helden! Als
die Menschheit in den Kriegern stutzte, ergriff er mit gewaltiger Hand das
Panier: folgt mir! Und alle folgten ihm zum Ziel des Siegs. Ihn aber
trieb allzuviel Muth bis zum Tode; er fiel, und es floß das breite Panier
zum leichten Grabmal über ihn her."
Am 22. Mai 1757 schreibt Sulzer an Kleist, er gehe damit um, Lessing
wieder für Berlin zu gewinnen: „Es ist billig, daß wir jetzt suchen, so groß
in Wissenschaften und Künsten zu werden als wir in Waffen sind. Ich hätte
große Lust, den Ton der Superiorität über die andern Deutschen anzunehmen,
der dem der Franzosen nicht unähnlich wäre. Dazu haben wir Männer wie
Lessing nöthig." So wirkt der Zauber des aufstrebenden Staates auf das
Selbstgefühl des geborenen Schweizers!
„Die öffentlichen Angelegenheiten nehmen meine ganze Seele ein. Ich
kann keinen Augenblick aufhören, an Friedrich zu denken und sein Heer . . .
Die Trommel geht. Ich muß auf die Parade, die seit dem Kriege das für
mich ist, was in Athen der Porticus oder die Academie für die alten Philo¬
sophen war."
Diese Stimmung war nicht blos in Berlin. „Wir leben hier," schreibt
Geßner am 18. Juni aus Zürich an Kleist, „in einer glücklichen Ruhe, aber
alles nimmt Antheil am Waffenglück des Königs; man interessirt sich für die
gerechte Sache, die so trefflich gerettet wird. Wie bedächtig und klug ist er in
seinen Unternehmungen, wie kühn und groß in der Ausführung!"
„Denken Sie einmal," schreibt Lessing am 19. Juni an Gleim, „was
sich Ihres Königs Soldaten alles unterstehn! Bald werden sie auch die
besten Verse machen wollen, weil sie am besten siegen können! Da bekomme
ich von Berlin vor einigen Tagen einen Schlachtgesang, mit dem Zusatz, daß
ihn ein gemeiner Soldat gemacht habe, der noch für jedes Regiment einen
machen wolle."
„Krieg ist mein Lied! weil alle Welt Krieg will, so sei es Krieg! Berlin
sei Sparta!" Der kräftige Marschrhythmus ist wohl das Beste an diesen Liedern.
Gleim, der alte Liebesdichter, schrieb sie mit vollster Ueberzeugung; er hatte
den Krieg 1743 gemeinsam mit seinem Freunde Kleist kennen gelernt und
betete seinen Helden an. Auch das war Ueberzeugung, daß er alle Schuld
auf Friedrich's Feinde schob und Gottes Hilfe in Anspruch nahm. - Die Lieder
gewinnen ungemein, wenn man sie neben Ramler's hochtrabende Oden hält;
eigentlich volksmäßig waren sie nicht, und Lessing selbst deutet auf den tieferen
Gehalt in dem alten Volksliede hin: „Kein sel'ger Tod ist in der Welt, als
wer vom Feind erschlagen auf grüner Haid' im freien Feld darf nicht hör'n
groß Wehklagen!"
„Ich und der König von Preußen," schreibt Lessing am 18. Juni 1757
an Ramler, „werden eine gewaltige Rechnung mit einander bekommen! Da
nur Er, Er allein die Schuld hat, daß ich die Welt nicht gesehn habe: wär'
es nicht billig, daß er mir eine Pension gäbe, wobei ich die Welt vergessen
könnte? Sie denken, das wird er bleiben lassen! Ich denke es auch, aber
dafür will ich ihm wünschen, daß nichts als schlechte Verse auf seine Siege
mögen gemacht werden!"
An demselben Tage, am 18. Juni 1757, verlor Friedrich seine erste
Schlacht. Die Folgen der Niederlage bei Kollin waren noch furchtbarer als
die Niederlage selbst, alle Feinde brachen los. Die Russen überschwemmten
Preußen, die Franzosen den Rhein; jene siegten am 30. August bei Jägern¬
dorf, diese veranlaßten die Engländer am 8. September zu dem schimpflichen
Vertrage von Kloster Sivern und besetzten das mittlere Deutschland; auch
Gleim in Halberstadt lernte sie kennen.
„Li j'avais ses ins Z, Oolliv," schreibt Friedrich, ,^s ssrais a xrs3fut
ÄAQ8 All. port on ^'s us srainÄrg.is plus Iss oraASs."
Der Nimbus des Unbesieglichen war geschwunden. Dem Sieger von
Kollin schickte der Papst einen geweihten Degen, und nicht mit Unrecht schrieb
Friedrich am 13. Juli an seine Schwester: „Voisi 1a livsrts Ah 1'^llsniaSns
^t sslls <1s estts Samsö vrotsstants pour Ig-Hnslls on a taut vsrsö Ah sanA,
voUZ, öff Äsnx AranÄs intörsts su ^su!" Er hatte früher nicht daran gedacht,
aber die Konstellation war wirklich so.
„I^Ä vis," schreibt er am 17. September an seine Schwester, „nous » ses
Äonnös var ig, naturf somilis um disnkait; Ass c^n'fils vssss Ah 1'fers, 1's.esorÄ
nun. . . Fi vous prsns?: 1a rssolntion <zns ^'al xriss, raa Äivins sosur! nous
Luissons sussindls ne»s maldsurs."
Doch hinderte ihn das nicht, sich in Leipzig nach seiner Art zu unter¬
halten. ,,^s suis ist Aauh 1s vaz^s latin. -s'al, xonr in'ainussr, xassö su
rsvus tous Iss xrotssssurs Ah estts univsrsito. .. ^'su al Ästsrrs im cM
u'Mrait pas öetiÄvvs s. Uoliörs, s'it avait vösn Ah soo, tsmvs. Ost Qc>mirs
^Ämirabls in'a An avso uns Ar^vns inaAistrals <^n'i1 s-van aseonsQs Ah
6V. vol. jn-tolio, se <^n'it su avait ortus Äsux tous heff trois raois. —
^s lui (jjg : Nais, Nonsisnr, vous vosssÄss Apus 1a ssisnss nnivsrsslls? —
^ussi faig-js! rsvartit-it. — Na,is, Nonsisnr, tous los trois mois Äsux
volumss! 7 psusssi-vous bien? ^s n'^urais pas 1s tsravs Ah Iss ssrirs;
se esminsnt Äonv x>.of?:-vous xn Iss sonivossr? — Vsla. parlait Ah 1Z>! ins
An-11, instta-ut 1s ÄoiKt für son krönt. — IIr Ah öff eontrörss ajonw: se
An Äistionnairs Ah La^is, se Ah tons Iss Äieticnmg.irss ^us Nonsisur A konÄns
su86lud1s. — 0ni, ^s 1s8 al rskonÄus snssinvls, An 1s savant: mais ^js Iss
»i rsnÄus sxssllsnts, var ^js Iss al eorriZLs tous."
Dieser Gelehrte war Gottsched, damals 57jährig, der am 31. Oktober
1757 zum König befohlen war. Die Unterhaltung hatte übrigens vier Stunden
gewährt und war in der größten Hitze geführt wurden; sie hatten sich auch
gegenfeitig angesungen. Gottsched hatte bemerkt, die deutschen Dichter fänden
zu wenig Aufmunterung, weil der Adel und die Höfe zu viel Französisch
und zu wenig Deutsch verständen; darauf erwiederte Friedrich: „Das ist
wahr, denn ich habe von Jngend auf kein deutsch Buch gelesen, se ^s xarls
somnus no, soodsr; jetzt aber bin ich ein alter Kerl von 46 Jahren und habe
keine Zeit mehr dazu." — „Weil er," berichtet Gottsched, „mir nun soviel
Regeln der Poesie gegeben hatte, die größtentheils vollkommen richtig waren,
so sagte ich beim Abschied: ,,^is ins og-ntsrai g. 1'g,vsuir 6'g,voir Äpxris Iss
loix Ah 1s, posZls an, 1sAi3ig,tsur as taut Ah psuxlss!" — Im Allgemeinen
war es den Gelehrten, die der französischen Sprache mächtig waren, angenehmer,
sich in ihr mit den Fürsten zu unterhalten, denn es gab darin kein „Er".
„Gottsched," schreibt Lessing sehr ergrimmt an Kleist, „wird mit dem
Gesalbten unsers Gleim immer vertrauter. Es hat wieder französische Verse
gesetzt, nebst einer goldenen Tabatiere und einem Ring. Er hat die ganze
Unterredung mit dem König abdrucken lassen. Gott wolle nicht, daß Gottsched
unserm Gleim durch diese Bekanntschaft respektabler wird! Jetzt ist vielmehr
die rechte Zeit, neue und blutigere Satiren wider ihn zu machen als je."
Am 5. November schlug Friedrich die Franzosen bei Roßbach. Nichts
hat so stark dazu beigetragen, seinen Namen populär zu machen. Ganz Deutsch¬
land jubelte auf, als die preußischen Husaren mit den Putzsachen der zierlichen
Marquis das bekannte Possenspiel trieben. Der Zopf hatte über das Rokoko
gesiegt. Der Haß gegen die Franzosen war mehr und mehr gewachsen. In
der Berliner Akademie hielt Premontval eine Vorlesung über die Gallomanie
und nannte die Deutschen „un palpis <mi kalt oas An, msrits clss edosss se
ass Stoffs soliäss". Friedrich selbst machte ein Spottgedicht auf den Prinzen
Soubise. Am derbsten sprach sich Winckelmann in Rom aus: „Alle Fran¬
zosen hier," schreibt er an einen Freund, „sind lächerlich, und ich kann mich rühmen,
daß ich mit keinem von der verachtungswürdigsten Art zweibeiniger Kreaturen
Gemeinschaft habe. Solltest Du nach Paris gehn, so schreibe ich keine Zeile
an Dich .. Ich muß aber gestehn, daß fast alle Deutsche, die Hieher kommen,
französische Meerkätzchen sein wollen, und es gelingt ihnen nicht einmal, denn
man muß von Mutterleibe ein Narr sein. Ein Franzose ist ungeschickt, ein
großer Künstler, ein gründlicher Gelehrter zu werden, eine fremde Sprache zu
lernen, ein ehrlicher Mann zu sein."
Ein neuer Sieg des Königs, bei Leuthen, über die Oesterreicher, am
8. Dezember 1757, schien seine Stellung völlig zu sichern; freilich rückten die
Nüssen am 29. Januar 1758 in Königsberg ein und ließen sich dort huldigen.
„Schade," schreibt Boden er am 19. Februar 1758 an Zimmermann,
»daß ein Schweizer den König nicht loben darf! Wir sind so neutral, daß
Reineke zwischen dem Guten und dem Bösen nicht unparteiischer ist. Wir
müssen aus tieser Politik zu Kindern werden, die zwischen der Rechten und
Linken den Unterschied nicht wissen. Ich kann es Lessing und Ramler nicht
verzeihe daß sie ihn nicht loben. Ein Mensch, der Genie hat, ein Branden¬
burger muß es nothwendig brauchen, den neuen Cyrus zu singen." Und am
8. Juli: „Wenn ich Shakespeare's Heinrich V. lese, so bedaure ich Friedrich,
daß seine Poeten allzuschwach sind, in seine erhabnen Entwürfe durchzuringen.
Es ist das Schicksal großer Geister! Göttliche Kühnheiten bringen die Kurz¬
sichtigkeit auf."
Als die Russen weiter vordringen wollten, schlug sie Friedrich am
23. August in der blutigen Schlacht bei Zorndorf zurück.
Nun aber gab die Niederlage bei Hochkirch dem Kriege eine neue, sehr
bedenkliche Wendung. An demselben Tage starb Friedrich's Schwester Wil¬
helmine, die ihm doch immer noch am nächsten stand; der Mann, den er am
höchsten achtete, der Einzige vielleicht, den er achtete, sein Bruder Prinz
Heinrich, wurde ihm mehr und mehr entfremdet und begegnete ihm mit
kalter Abneigung; man liest es in den Briefen, wie weh das dem harten
Manne that.
Lessing hatte indeß Gleim's Grenadierlieder herausgegeben, die dem
König nicht vor die Augen kamen. Ganz war Lessing nicht damit einver¬
standen. „Es wäre besser," schreibt er am 16. Dezember 1758, „wenn der
Grenadier das Verfluchen den Priestern überließe. Gesetzt, es wird über kurz
oder lang Friede: was meinen Sie, daß alsdann die kälteren Leser, und viel¬
leicht der Grenadier selbst, zu so mancher Uebertreibung sagen werden, die sie
jetzt in der Hitze des Affekts für ungezweifelte Wahrheit halten? Der Patriot
überschreit den Dichter noch zu sehr, und noch dazu so ein soldatischer Patriot,
der sich auf Beschuldigungen stützt, die nichts weniger als erwiesen sind! Viel¬
leicht zwar ist der Patriot auch bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob
eines eifrigen Patrioten nach meiner Denkart das letzte ist, nach dem ich geizen
würde: des Patrioten nämlich, der mich vergessen lehrte, daß ich ein Welt¬
bürger sein sollte ... Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (zu
meiner Schande muß ich es gestehn!) keinen Begriff, und sie scheint mir auf's
höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre."
Was er hier Liebe des Vaterlandes nennt, bezeichnet man heute als Parti¬
kularismus. Diesen, der in den kleinen deutschen Staaten wesentlich durch
die Livree bestimmt wurde, ernsthaft zu bekämpfen, hielten damals die besten
Männer für ihre Pflicht: freilich wußten sie ihm nichts anderes entgegenzu¬
setzen, als das farblose Weltbürgerthum.
In der Schrift „Ueber den Nationalstolz" (1758) geißelt Zimmer¬
mann in einem Tone, der stark an die damaligen Franzosen erinnert, die
Schwächen des spezifischen Nationalgefühls; bezeichnend ist es, daß der Schweizer
die republikanischen Formen verhöhnt: „Der Freiheitsgeist eines Montesquieu
und so vieler anderen Franzosen ist die größte Satire auf die Denkart der
angeblichen Republikaner.....Wir leben in der Dämmerung einer großen
Revolution. Des langen Zwangs müde, wirft man die Ketten der alten Vor¬
urtheile ab, um vou den Verlornen Rechten der Vernunft wieder Besitz zu
nehmen. Freilich artet diese Dreistigkeit im Denken oft in eine strafbare Frech¬
heit aus."
Das Buch wurde ein Lesebuch der ganzen gebildeten Gesellschaft. „Die
Alten," schreibt Mendelssohn, „haben uns vortreffliche Schriften der Art
hinterlassen; die deutschen Weltweisen schränken sich in den engen Bezirk der
Ideen ein, die sie zwischen den Mauern der Universität, ohne einen Blick in
die große Welt, schöpfen können. Nur die freigebornen Schweizer versuchen
seit einiger Zeit dergleichen."
Wir haben im vorhergehenden Artikel das Spiel der Kräfte darzustellen
versucht, in welchem die Gesellschaft und der freie Wille des Einzelnen sich
gegenseitig bedingen und bestimmen. Wenn die Statistik der Gesellschaft uns
die regelmäßig wiederkehrende Zahl bestimmter sozialer Erscheinungen, wie der
Verbrechen, aufzeigt und damit der Nothwendigkeit des Schicksals, wie es in
den Bedingungen der Gesellschaft in Zeit und Raum gegeben ist, die bleibende
Herrschaft über den freien Willen zu garantiren scheint, so haben wir versucht,
da die Gesellschaft doch eben kein Abstraktum, sondern eine aus Individuen
zusammengesetzte Gemeinschaft ist, die Wirkungen des freien Willens des Ein¬
zelnen als Thatsache, wenn auch als unerklärte, zu retten und loszulösen.
Gewiß ist ja mit der gleichen Zahl von Menschen nicht eine Summe von
gleichen Bestandtheilen der Gesellschaft gegeben; bei gleicher Zahl werden die
verschiedenen Gesellschaftskörper die verschiedenste Natur aufweisen; auch wächst
mit der Zahl der Bevölkerung nicht blos die gerade Zahl der Kräfte, sondern
zugleich der Reichthum und die Mannichfaltigkeit der Individualitäten. Es
wird also auch hier die Quantität von der Qualität bestimmt. Bei dem Um¬
fange der statistischen Forschungen über die Erscheinung der menschlichen Ge¬
sellschaft drängt sich uns aber doch mehr und mehr die Ueberzeugung auf, daß
eine gewisse Anhäufung bedingender äußerer Ursachen, eine gewisse Dauer be¬
stimmter sozialer Bedingungen die physischen Gesetze der Erblichkeit in Thätig¬
keit setzen und in ganzen Geschlechtern, bis auf wenige Ausnahmen, die Kraft,
das Virus des freien menschlichen Willens auslöschen können. Es gilt auch
hier in moralischer Beziehung, was Virchow in naturwissenschaftlicher sagt,
daß „die Pathologie die Physiologie erleuchtet".
Angesichts solcher Erscheinungen hat die svzialbiologische Statistik ganz
neue Wege einzuschlagen. Es genügt nicht, wie Stuart Mill es thut, zu kon-
statiren, daß der menschliche Wille auch gegen eine „See von Plagen" noch
widerstandsmächtig sei und den Charakter bilden könne. Der ernste und
scharfsinnige Moralphilosoph kann in den Arbeitshäusern seines eignen Landes
erfahren, daß es dort „Paupers" gibt, das heißt ganze Geschlechter von Fami¬
lien, welche die wirthschaftliche Kraft verloren haben, für ihren eignen Erwerb
zu sorgen, welche thatsächlich eine herabgekommene niedrigere Race konstituiren.
Welche Wege hat nun die Statistik hier einzuschlagen? Die Autwort ist nicht
leicht. Das Hauptgewicht liegt in der richtigen Fragestellung, und zu dieser
ist nur' der Berufene befähigt. Der Statistiker als solcher kann aber nicht
die Befähigung aller Berufsarten in sich vereinigen; und zur Fragestellung
auf diesem Gebiete der gesellschaftlichen Forschung gehört, was die Befähigung
betrifft, gewiß mehr als eine Berufsart. Es ist ja auch der Mißbrauch nicht
ausgeschlossen, der von einseitiger Parteinahme mit der Statistik getrieben wird,
und den ein geistreicher Arzt drastisch so ausgedrückt hat: „Die Statistik ist
eine öffentliche Dirne, oder eine reine Jungfrau; es kommt nur darauf an,
in welche Hände sie kommt." Die richtige Fragestellung ist auf diesem Felde
der Statistik so wichtig, weil die Antworten zugleich die Heilmittel der Uebel
anzeigen. Drei hervortretende Faktoren werden hier zu beachten sein, die Erb¬
lichkeitsgesetze, die Erziehung von Haus und Schule in den ersten Dezennien
des Lebens und die Einflüsse der sozialen und wirthschaftlichen Lebenslage.
Zur richtigen Fragestellung berufen wären danach, was Kenntniß und Er¬
fahrung betrifft, vor allem Aerzte und Physiologen, Lehrer und Verwaltungs¬
beamte.
Um das. worauf wir hinzielen, klar zu machen, wollen wir ein Beispiel
anführen, das unserer Ansicht nach viel zu wenig Beachtung und Nachfolge
in den statistischen Forschungen gefunden hat. Es ist in einem in New-York
erschienenen Buche „1b.s ^ukss" gegeben, worin die Untersuchungen niedergelegt
sind, welche R. S. Dugdale mit Beihilfe eines Arztes, E. Harris, einerseits
über den Stammbaum und die Lebensläufe einer weitverbreiteten Verbrecher¬
familie, andererseits über die Lebensgeschichte und die Verhältnisse von einer
großen Anzahl von Verbrecher» in den New-Iorker Staatsgefängnissen im
Auftrag der „?ris0n-^8S0<zia,lion" von New-Iork angestellt hat.
Mit der Findigkeit und dem Scharfsinn eines Historikers, der die Genea¬
logie eiues Herrschergeschlechts im Dunkel der Vergangenheit aufsucht, werden
hier alle Wurzeln und Zweige der Verbrecherfamilie, die den fingirten Namen
„^rckss" erhält, „weil noch anständige Glieder dieser Familie leben", dargelegt
und durch sieben Generationen verfolgt. Aber es bleibt nicht bei trockenen
statistischen Tabellen. Die beiden Hauptziele der Untersuchung, die Erforschung
der erblichen Anlagen und die des Einflusses der Erziehung und der äußeren
Lebensumstände haben mit den richtigen Fragestellungen zu einer ingeniösen
Methode geführt, welche die Fehlerquellen der rein numerischen Statistik aus¬
schließt. Die Daten werden nicht einfach in Tabellen registrirt, sondern durch
biographische Einzelstudien beleuchtet und individualisirt. Hier kamen dem
Verfasser die ärztlichen Kenntnisse seines Assistenten trefflich zu Statten. Der
Ahnherr dieser Verbrecherfamilie war ein Abkömmling der ersten holländischen
Ansiedler, ein Jäger und Backwoodman in den amerikanischen Wäldern ge¬
wesen, Jäger und Fischer, ein starker Trinker, lustig und umgänglich und jeder
stetigen Arbeit abhold, oft. hart mit einem Anlauf arbeitend und dann wieder
dem Müßiggang ergeben. Er hatte zahlreiche Kinder, darunter illegitime. Die
Zahl der registrirten Abkömmlinge umfaßt 540 Individuen, blutsverwandt und
verwandt untereinander durch Heirath und wilde Ehen. Die Frauen waren
meist lüderlich. Hervorragend unter ihnen war Ada Jule, bekannt unter dem
Namen „Margarethe, die Mutter von Verbrechern". Die Geschichte der Familie
beginnt im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts.
Wichtig ist hier schon die Lebensweise der ersten Glieder. Die Wohnungen
dieser Familien waren elende Hütten und Blockhäuser im bewaldeten Gebirge,
wo die Familienglieder ohne Unterschied des Alters und des Geschlechts in
einem Raume vereinigt wohnten und schliefen, die Männer bald mit Jagd,
Fischerei und Holzfällen beschäftigt, bald müßig umherschweifend, die Mädchen
und Frauen dies halbwilde Leben theilend und zügellos in ihren Sitten. Wir
sehen im Verlauf dieser Lebensgeschichten, wie eine der Hauptbedingungen für
die Entstehung eines weitverbreiteten Geschlechts von Armen und Verbrechern
die Ausschweifung und die Prostitution bei den Frauen war. Die Erblich¬
keitsgesetze wirken hier offenbar, wie aus zahlreichen Fällen hervorgeht, in der
kausalen Richtung von Prostitution zum Verbrechen. Die ersten Lebensmn-
stände, Ernährung, Erziehung, Wohnung, Umgang u. s. w. verstärken die
Wirkung der erblichen Anlage. Nun tritt aber eine wichtige Erscheinung zu
Tage. Wo die ersten Lebensumstände günstige waren, werden diese Erblich-
keitswirkuugen nicht nur abgeschwächt, sondern auch ausgehoben; es treten
fleißige und redliche Familien in der Abkommenschaft auf. Ueber die Macht
der Wirkung, welche die Prostitution auf die Entstehung von Verbrecherfami¬
lien ausübt, spricht sich der Verfasser folgendermaßen aus: „Wenn die Prosti¬
tution nur ein privates Laster wäre, beschränkt auf das Individuum, das ihm
fröhnt, so wäre es keiner besonderen allgemeinen Untersuchung werth. Aber
die Wirkung, die das Subjekt damit auf die Vermehrung und die Fortdauer
der Verbrechen ausübt, entsteht dadurch, daß es zu vernachlässigten und schlecht
erzogenen Kindern sührt, die, wenn sie erwachsen sind, jedes Sinnes für sitt¬
liche Pflicht und Selbstachtung entbehren; bald werden Diebe aus ihnen;
immer wieder in die Gefängnisse kommend, gerathen sie hier in die Schule
für schwerere Verbrechen, werden dort als Meister befördert und bilden zu¬
letzt die Führer und Lehrer einer neuen Generation, geboren, genährt und
erzogen unter denselben Bedingungen, wie sie selbst."
Als zweite wirkende Ursache des Pauperismus und des Verbrechens tritt
die Krankheitsanlage hervor. Die Aerzte, die in großen Gefängnissen zahl¬
reiche Obduktionen an verstorbenen Verbrechern gemacht, staunen über die
Schwere und Menge der Krankheiten, unter deren Wirkungen und Zerstörungen
die Verbrecher jahrelang leben konnten. Mit der Krankheit sind eine Reihe
sittlicher Folgen gegeben. Die nächsten Folgen sind gesunkene Lebenskraft,
Trägheit und Unfähigkeit zum Erwerb, Prostitution bei den Frauen, Trunk¬
sucht bei den Männern, dann nach Gelegenheit Hingabe an Betrug und kleinen
Diebstahl, oder Leben auf Kosten der Gemeinde. Diese Beobachtungen und
Erfahrungen hat der Verfasser namentlich aus den mündlichen Verhören der
Verbrecher in den Staatsgefängnissen geschöpft, die er für nothwendig hielt,
da die offiziellen Erhebungen der Gefängnißstatistik, von neun eigens dazu
vom Staate angestellten Beamten besorgt, vollkommen unbrauchbar, konfus
und lückenhaft waren. Namentlich haben die Aussagen der Gefangenen er¬
geben, wie verderblich und entscheidend für ihre Verbrecherkarriere der Auf¬
enthalt in jungen Jahren in Gefängnissen mit gemeinsamer Haft gewirkt hat;
solche Gefängnisse waren die hohe Schule des Verbrechens.
Aus den zahlreichen und vorurteilsfrei unternommenen Untersuchungen
geht hervor, daß die beiden großen fördernden Momente des Verbrechens die
Erblichkeit und die Umgebung, namentlich die in den Jugendjahren sind; ihre
Wechselwirkung und ihre meritorische Bedeutung für die Frage der Abhilfe
hat der Verfasser in folgenden Erfahrungssätzen zusammengefaßt, die des
Nachdenkens und weiterer Forschungen im höchsten Grade werth erscheinen.
1. ) Wo die Organisation schon in der Struktur leidet, wie bei Blödsinn,
Wahnsinn und organischer Schwäche, wie bei vielen Krankheiten, da ist die
Erblichkeit der vorherrschende Faktor für die Bestimmung des Lebenslaufes,
aber sie ist selbst dann fähig, einschneidend zum Bessern oder schlimmern
dnrch den Charakter der Umgebung verändert zu werden. Mit anderen Worten:
die körperliche und die geistige Fähigkeit wird nur durch Erblichkeit beschränkt
und bestimmt, wahrscheinlich, weil diese Bedingungen im Gehirn schon in der
Entwickelung vor der Geburt befestigt worden sind.
2. ) Wo die Aufführung von der Kenntniß der sittlichen Pflichten abhängt
(mit Ausschluß von Wahnsinn und Blödsinn), da hat die Umgebung mehr Ein¬
fluß als die Erblichkeit, da die Entwickelung der sittlichen Kräfte hauptsächlich
nach der Geburt stattfindet und nicht in einer Gehirnbildung vor der Geburt
begründet ist.
3. ) Das Streben der Erblichkeit ist darauf gerichtet, eine die Erblichkeit
fortsetzende Umgebung zu schaffen: ausschweifende Eltern geben ein Beispiel,
das wesentlich zur Befestigung ausschweifender Gewohnheiten bei den Kindern
beiträgt. Die Besserung liegt im Wechsel der Umgebung. Wo erbliche Diebs¬
sucht vorhanden, wird dann, wenn die Umgebung als anregende Ursache wirkt,
das Individuum zum unverbesserlichen Diebe; wo es vor der Versuchung
geschützt bleibt, kann es ein ehrliches Leben führen mit einiger Aussicht, die
Erblichkeit mit sich selbst abzuschneiden.
4. ) Die Umgebung strebt, Gewohnheiten zu erzeugen, welche erblich werden
können, besonders bei Pauperismus und Ausschweifung, in dem Falle, daß
diese dauernd genug einwirken, um eine Veränderung des Gehirns hervorzu¬
bringen. Sind aber diese Schlüsse richtig, so wird die ganze Frage einer
Beherrschung des Verbrechens und der Armuth in weiten Grenzen eine mög¬
liche, insofern nur die nöthige Zucht über zwei bis drei Generationen erstreckt
werden kann. >,
5. ) Die logische Schlußfolgerung aus den obigen Betrachtungen scheint
hiernach die zu sein, daß die Umgebung der letzte kontrolirende Faktor für die
Bestimmung der Lebensläufe sei, da man Erblichkeit als solche als organisirtes
Resultat der Umgebung ansehen muß. Die Dauerhaftigkeit vorelterlicher Typen
ist nur ein anderer Beweis für die Befestigung der Einflüsse der Umgebung,
welche mit Nothwendigkeit zur Entwickelung typischer Charaktere sühren.
So weit unser Statistiker. Wo die Quellen der Abhilfe für die sozialen
Uebel zu suchen find, welche mitten im Schooße zivilisirter Volksgemeinden
immer mächtiger anwachsende Geschlechter von verkommenen Armen und ver-
brecherischeu Wilden, von Menschen einer inferioren Race erzeugt haben, ist
hiernach klar angezeigt; sie liegen auf dem Gebiete der Erziehung, namentlich
der häuslichen, auf dem Gebiete einer Reform des Gefängnißwesens und auf
dem der öffentlichen Gesundheitspflege. Das letzte und höchste Wort der Reli¬
gion der Liebe ist Erbarmen, das Gebot der Humanität Erziehung zum men¬
schenwürdigen Dasein. Die Resultate objektiver wissenschaftlicher Untersuchungen,
von keinem Gefühl geleitet, zeigen denselben Weg. Aber auch die Wege der
Volkswirthschaft, die bei öffentlichen Reformen eine fo wichtige Rolle spielt,
führen, obschon von anderen und entgegengesetzten Punkten ausgehend, als die
der Ethik, doch an gleicher Stelle mit dieser zusammen. Der Furcht gegenüber,
welche namentlich kommunale Behörden vor den Kosten reformatorischer Ein¬
richtungen haben, stellt der Verfasser eine bis in's Einzelne gehende Berechnung
über die thatsächlichen Kosten der Gemeinde für 1200 Mitglieder der Juke-
Familie in 75 Jahren gegenüber; sie belaufen sich nach den geringsten An¬
sätzen auf 1308000 Dollars!
Die Lehre der Prädestination führt zur Erbarmungslosigkeit, zur Aus-
löschung alles Sinnes für öffentliche Wohlfahrt, zur Verzweifelung an allem
Fortschritt der menschlichen Gattung. Es ist die Lehre ungenügender Beob¬
achtungen und Erfahrungen des Lebens und falscher Schlüsse aus denselben;
es ist nicht die Lehre der Wissenschaft, weder der der Kulturgeschichte, noch der
der Kriminalstatistik und der Forschungen über die sittlichen und wirthschaft-
lichen Lebensbedingungen der Gesellschaft. Usus assit^t inolsin. Die Intelli¬
genz und der freie Wille haben eine Macht über die natürlichen Wirkungen
gesellschaftlicher Uebel, sobald sie deren Gesetze begriffen haben. Wie sie aus
natürlichen Bestimmungen entspringen, so sind sie auch befähigt, natürliche
Bestimmungen neu zu schaffen und umgestaltend auf die Gesellschaft einzu¬
wirken.
Kehren wir nun zu dem Problem zurück, dessen scheinbar unlösbare
Gegensätze wir einander gegenüber gestellt haben, so wird sich jetzt vielleicht
herausstellen, daß dieselben nicht so unvereinbar sind, wenn man mit der
Statistik der großen Zahlen statistische Untersuchungen vergleicht, die. wie die
obigen amerikanischen, individualisirend auf die Entstehung der Zahlen ein¬
gehen und damit ihren Werth für Schlußfolgerungen feststellen. Denn ohne
die schärfste Beobachtung der Thatsachen und Ergründung der Erscheinungen
nicht nur, wie Molpurga meint, im Großen und Ganzen und mit Hilfe
von Wahrscheinlichkeitssätzen über die wichtigsten Fragen des Lebens, sondern
so viel wie möglich im Einzelnen und in biographischer Forschung — wird
uns der Mechanismus der Statistik gewiß kein Gesetz des Lebens enthüllen.
Die Statistik und ihre mathematische Methode kann uns eben nur die Wahr-
scheinlichkeit bestimmter Erscheinungen in Zeit und Raum, aber nicht das Gesetz
ihrer Triebkräfte lehren. Dies wird vom Denker auch eben so oft durch die
Anregung eines Zufalls erforscht. Nicht die Zahlen der astronomischen Beob¬
achtungen, der Fall eines Apfels vom Baume in windstiller Luft hat Newton
dazu geführt, das Gesetz der Gravitation zu entdecken.
Wir können einerseits Quetelet zugestehen, daß die individuellen Eigen¬
thümlichkeiten, seien sie physischer, intellektueller oder sittlicher Art, aufgehoben
werden und den Kreis von allgemeinen Thatsachen, kraft deren die Gesellschaft
besteht und sich forterhält, prädominiren lassen, je größer die Anzahl der
Individuen ist, an denen die Beobachtungen angestellt werden; wir können zu¬
gestehen, daß die Gesellschaft der Keim aller Verbrechen, die begangen werden,
in sich trägt, daß sie es selber ist, die sie gewissermaßen vorbereitet, und der
Schuldbelastete nur das Werkzeug, das sie zur Ausführung bringt, daß jeder
soziale Zustand eine bestimmte Anzahl und eine bestimmte Ordnung von Ver¬
brechen voraussetzt, welche als nothwendige Folge aus seiner Organisation,
seiner Einrichtung hervorgehen. Wir müssen aber auch Laurent in der Ver¬
theidigung des freien menschlichen Willens zustimmen, wenn er vom sittlichen
Fortschritt der Gesellschaft sagt: „Wer ist denn der Urheber dieses Fort¬
schritts? Es ist der Mensch. Wenn die Materie besiegt und die Natur be¬
zwungen ist, wenn die Wissenschaft die Unendlichkeit der Himmel erforscht,
wenn sie die Geheimnisse der Schöpfung offenbart, wenn die Staaten auf der
Grundlage der Freiheit und Gleichheit organisirt werden, so werden diese Fort¬
schritte sicherlich nur der Thätigkeit des Menschen verdankt." Ja, Laurent hat
gar nicht nöthig, so abstrakt vom Menschen zu sprechen; dieser Fortschritt wird
meist einzelnen hervorragenden Menschen verdankt, den Bahnbrechern des Fort¬
schritts. Aber eine Bedingung darf dabei nicht verschwiegen werden, diejenige
nämlich, daß der einzelne Mensch gemeinnützig wirken muß, wenn seine indi¬
viduelle Superiorität der Gesellschaft zu gute kommen soll. Die Verbreitung
sittlicher und geistiger Bildung ist, wie das Licht, das Prometheus vom
Himmel geholt: Wir theilen es Anderen mit, ohne selbst davon etwas zu ver¬
lieren. Die tiefe Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft, in der er
lebt mit allen Wurzeln seines Seins, sollte Jeden abhalten, in einsiedlerischer
Selbstentwickelung nur sich selbst zu genügen. Ein hoher geistiger Aristokra¬
tismus, sich abschließend in harmonischer Ausbildung der eigenen Individua¬
lität, kann ausnahmsweise große Normalmenschen erzeugen, wie Goethe. Einpfeh-
lenswerth als Beispiel ist dies Verhalten aber nicht. Mag Rückert es mit
den Worten zu entschuldigen scheinen:
Wenn die Rose selbst sich schmückt.
Schmückt sie auch den Garten,
wenn aber unterdeß der Garten verwildert, wird er bald auch die geschmückte
Rose überwuchern und ihr Luft und Licht zum Leben entziehen. Es tritt
hier eben in Betreff des Wohles des Einzelnen, wie des der Gesellschaft die
große Bedeutung der Umgebung für das Erblichkeitsgesetz des Fortschritts in
ihr Recht. Die Umgebung bildet und bestimmt den Einzelnen vom ersten bis
zum letzten Athemzuge und legt Keime des Heils oder des Unheils in den
Schooß der Gesellschaft. Die Folgen befestigen sich als Zustände der Gesell¬
schaft; die Zustände werden konkret in numerischen Verhältnissen sittlicher Er¬
scheinung und schrecken uns dann mit dem Bilde eines Fatnms, eines unab¬
wendbaren Schicksals. Solche Zustände zu ändern, das sittliche Niveau der
Gesellschaft zu erhöhen - und das ist das Beruhigende —, wird um so
sicherer gelingen, je mehr Einzelne innerhalb der Gesellschaft in gemeinnütziger
Thätigkeit dahin streben, die Gewohnheiten, die Kenntnisse, die Bildung und
das sittliche Bewußtsein aller Volksklassen, mit denen sie in Berührung kommen,
zu bessern und zu vervollkommnen. Die Zukunft wird dann mit den Zahlen
der Kriminalstatistik bezeugen, was der freie menschliche Wille geschaffen hat.
Wenige Wissenschaften haben im Laufe der letzten hundert Jahre eine so
tiefgehende Umgestaltung erfahren, wie die Medizin, und zugleich hat sich die
Ausübung der ärztlichen Kunst außerordentlich verbessert. Namentlich bezeich¬
nen die letzten drei oder vier Dezennien einen Fortschritt, wie nie zuvor. Die
Heilkunde unserer Tage sieht von aller philosophischen Spekulation ab, läßt
sich möglichst wenig auf Hypothesen ein, vermeidet vorschnelles Systematisiren
und hält sich in allen Fragen, vor die sie gestellt wird, einzig an das, was
die gesunden fünf Sinne und eine nüchterne Ueberlegung zeigen und anrathen.
In der alten Zeit war ungefähr das Gegentheil die Regel. Aber die Ge¬
sammtheit der philosophischen Richtungen, die von den Tagen des Hippokrates
an bis auf die Glanzperiode der Schelling'schen Naturphilosophie sich mit der
Kunde vom gesunden und kranken Menschen zu schaffen machten, ist nicht
halb so fruchtbar an bleibenden Ergebnissen gewesen, wie die wenigen klaren
Geister, welche sich in unserer realistischen Zeit bei ihren Versuchen, die Medizin
zu vervollkommnen, lediglich auf eine unbefangene Beobachtung der Natur
gestützt haben. Alle Zweige der Heilkunde haben durch die innige Verbindung,
welche dieselbe mit den Naturwissenschaften eingegangen ist, wesentlich gewonnen.
Die Anatomie hat mit Hilfe verbesserter Mikroskope den Bau auch der kleinsten
Körpertheilchen in's rechte Licht gestellt. Die Physiologie hat sich an die Er¬
gebnisse dieser Untersuchungen gemacht und ist mit Benutzung der physikalischen
Wissenschaften dahin gelangt, Lebensvorgänge, die man früher mit der oder
jener geheimnißvollen Triebkraft zu erklären bemüht war, auf chemische und
physikalische Gesetze zurückzuführen. Die Pathologie ist seit allgemeiner Ein¬
führung der Perkussions- und Auskultationskunst um ein höchst werthvolles
Untersuchungsmittel bereichert, das unsern Gesichtskreis erheblich erweitert hat.
Die pathologische Anatomie trägt der praktischen Medizin eine Leuchte voran
und verspricht über das Wesen der Krankheiten noch bedeutsame Aufschlüsse zu
ertheilen. Chirurgie und Geburtshilfe sind durch verbesserte Methoden und
Instrumente, sowie durch geläuterte Anschauungen von den Erkrcmkungs - und
Heilnngsprozessen auf eine Höhe gebracht worden, die man vor Beginn unseres
Jahrhunderts, ganz zu schweigen von früherer Zeit, kaum geahnt hat. Die
Spezialfächer der Medizin, wie Augen- und Ohrenheilkunde, haben sich gleich¬
falls an diesen mächtigen Fortschritten betheiligt. Von der inneren Medizin
gilt Aehnliches: sie baut nicht mehr nosologische Systeme auf, huldigt aber
um so eifriger einer gründlichen und allseitigen Untersuchung der Kranken. Am
wenigsten befriedigt noch der Zustand der Therapie innerer Krankheiten, wo
noch allen Richtungen, selbst den sich geradezu widersprechenden, gehuldigt wird,
und ohne festes Prinzip sowie ohne genügende Unterlagen aus der Erfahrung
die allerverschiedensten Hebel zur Beseitigung körperlicher Uebel angesetzt werden.
Indeß ist, wenn wir den Gang in's Auge fassen, den die medizinische Theorie
und Praxis als Ganzes in unserer Zeit eingeschlagen haben, auch nach dieser
Seite hin Gutes zu hoffen und mit Sicherheit zu erwarten, die Wissenschaft
vom Leben und die Kunst, es zu vertheidigen und zu verlängern, werde in
ihren Leistungen von Jahr zu Jahr mehr den Anforderungen entsprechen, die
wir an sie zu stellen berechtigt sind.
Wie es hiermit sowie mit den übrigen Disziplinen der Heilkunde zur Zeit,
wo unsere Urgroßväter geboren wurden, also etwa um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts und in den unmittelbar vorhergehenden Dezennien stand, soll
im Folgenden an einigen Beispielen gezeigt werden.
Das Mittelalter hatte sich in der Medizin, soweit es sie wissenschaftlich
zu treiben bemüht war, fast ausnahmslos an die Araber gehalten, die ihrer¬
seits sich sklavisch an das Dogmengebäude Galen's anlehnten und es nur mit
dialektischen Spitzfindigkeiten aufbauten, welche man damals höher schätzte als
alle Beobachtung. Daneben hatte die hauptsächlich von Mönchen und Nonnen
geübte Heilkunde einen geistlichen Charakter angenommen: der religiöse Glaube
war gewissermaßen Universalmittel, die ärztliche Kunst zu einer christlichen
Magie geworden, die vorzüglich mit den Heilapparaten der Kirche: Gebeten,
Beschwörungen und Weihwasser operirte. So folgte die mittelalterliche Medizin
einerseits der trostlosesten Verstandesrichtung, während sie andererseits von dem
Glauben an Wunder und die Wirksamkeit geheimnißvoller Mächte überzeugt
war. Anatomische Studien waren lange Zeit mit dem Kirchenbanne bedroht.
Bei Prognosen und Kuren ließ man sich vom Staude der Gestirne leiten.
Beinahe die ganze Diagnostik beruhte auf Pulsfühlen und Harnbeschauen.
In der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts wurde es mit der
Wiederbelebung des Studiums der griechischen Literatur wie auf dem Gebiete
anderer Wissenschaften so auch auf dem der Heilkunde etwas besser, indem
man das Joch Galen's und der Araber abzuwerfen und zu Hippokrates zurück¬
zukehren begann, der vorurteilsfrei sich rein auf die Beobachtung gestützt hatte.
Indeß hielt man sich nicht sowohl an dessen Geist, als an dessen Buchstaben,
und so verfiel man in neue Sklaverei. Dem gegenüber bestrebten sich Para-
celsus und seine Schule, die Medizin auf den rein künstlerischen Standpunkt
zurückzuführen, den ihr jener altgriechische Arzt angewiesen. Dieser Stand¬
punkt konnte indeß um so weniger genügen, als ihn die Paracelststen mit den
mystischen Wolken der Neuplatoniker umgeben hatten. Es galt, mit Benutzung
der Naturkunde die Medizin zur Wissenschaft zu erheben. Diese Aufgabe
wurde von den Chemiatrikern und Jatromechanikern mit Eifer in Angriff ge-
nommen, aber ungenügend gelöst. War den Paracelststen der Mensch die Natur
im Kleinen, der Mikrokosmus gegenüber dem Makrokosmus, die Wassersucht
eine mikrokosmische Überschwemmung, die Atrophie eine Dürre, der Schlagfluß
ein Blitz im Mikrokosmus gewesen, so saßte die chemiatrische Schule den ganzen
Lebensprozeß als eine Reihenfolge von chemischen Vorgängen, von Gährungen
und Aufwallungen der Galle, des Speichels und anderer Säfte auf und grün¬
dete die gesammte Pathologie auf deu Konflikt dieser „Schärfen". Ihre
Therapie stand damit im Einklang: sie stellte den Schärfen die chemisch neu-
tralisirenden Mittel entgegen und trieb mit Abführungen, flüchtigen Salzen,
giftwidrigeu Tränkchen, säurebindenden und schweißtreibenden Arzeneien den
ärgsten Mißbrauch, dem Tausende zum Opfer fielen. Die Jatromechaniker da¬
gegen sahen, von der Entdeckung des Kreislaufs des Blutes durch Harvey
ausgehend, alle Funktionen des Lebens nur als räumliche Veränderungen und
jedes Organ als mechanisches Werkzeug an und ließen höchstens noch einiges
Gähren und Aufbrausen des „Nervensaftes" als Lebenszeichen gelten. In den
Zähnen erblickten sie Scheeren, im Magen eine Flasche, in den Adern hydrau¬
lische Röhren, im Herzen den Stempel einer Wasserkunst, in den Eingeweiden
Siebe, in den Muskeln Hebel. Die Empfindungen waren Schwingungen der
gleich Saiten gespannten Nerven, die Absonderungen Folge des Drucks der
Gefäße auf das Blut, die meisten Krankheiten nichts als Stockungen der Säfte.
Alles wurde durch Zahlen ausgedrückt, durch mathematische Formeln und
Figuren erläutert und mit Maß und Waage bestimmt. Doch blieb man mit
diesen wunderlichen Ansichten auf dem Gebiete der Theorie und schlug in der
Praxis den von Hippokrates empfohlenen empirischen Weg ein, sodaß die
Menschheit von den Dogmen dieser Schule wenig zu leiden hatte.
So war die praktische Medizin um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts
ein Wirrsal von Wahrheit und Dichtung, von Erfahrungen und phantastischen
Vermuthungen. Es galt, sie der Herrschaft der Physiologie zu entreißen, die
damals ein Gewebe von richtigen Beobachtungen und überkühnen Hypothesen
war, und sie in die Arme der wahren Erfahrung zu führen. Dies geschah
durch Sydenham, doch auch nur bis zu einem gewissen Grade. Derselbe glaubte
zwar, nur durch genaue Erforschung sämmtlicher Krankheitserscheinungen zum
Ziele gelangen zu können, gestattete sich aber doch gewisse Voraussetzungen, die
zu seiner Zeit als feststehende, keines Beweises bedürfende Wahrheiten galten,
und damit gerieth auch er nicht selten in bedenkliche Irrthümer. Dennoch hat
er sich große Verdienste erworben, die hauptsachlich in dem Zurückgreifen auf
den Geist der hippokratischen Beobachtung, in der Darstellung der Krankheit
als eines durchaus gesetzmäßigen Lebensvorganges, in der Begründung der
wissenschaftlichen Epidemiographie, in der Lehre von den Krankheitsprozessen
und in der Wiedereinsetzung der Naturheilkraft als des obersten Grundsatzes
der Therapie bestehen, wozu noch kommt, daß er die Nothwendigkeit der spezi¬
fischen Heilmethode nachwies und den Arzeneimittelvorrath beträchtlich ver¬
einfachte.
Einen weiteren Fortschritt in der Entwickelung der Medizin bezeichnet zu
Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Kleeblatt von Aerzten deutschen Stammes:
Boerhave, Hoffmann und Stahl. In den Schulen der Chemiatriker und Jatro-
mechaniker hatte der Wunsch nach wissenschaftlich er Begründung der Heilkunde
seinen Ausdruck gefunden, aber man war hierdurch fast nur reicher an Hypo¬
thesen geworden. Vertreter der Reaktion gegen den unleidlichen Zustand, der
sich daraus gestaltete, war Sydenham gewesen, der auf dem Wege wissenschaft¬
licher Erfahrung aus den künstlerischen Standpunkt des Hippokrates zurück¬
gekehrt, dabei aber ungerecht gegen die Fortschritte der Physiologie und Ana¬
tomie geworden war. So kam es darauf an, der praktischen Heilkunde bei
aller Anerkennung ihrer künstlerischen Aufgabe die Vortheile zu sichern, die jene
Fortschritte ihr gewähren konnten. Dieses Ziel setzte sich Boerhave, welcher
mit voller Ueberzeugung von dem Werthe der Therapie und mit der größten
Verehrung vor Sydenham gründliche mathematische und physiologische Kennt¬
nisse verband. Während er aber bei dem Versuche, deu Hippokratismus mit
der physiologischen Medizin in Einklang zu bringen, noch ganz den Stand-
Punkt der Jatrophysiker einnimmt, verwandelt sich derselbe bei Hoffmann und
Stahl mehr und mehr zum Dynamismus, indem bei jenem die eigentlich thä¬
tige Substanz sich zu den feinsten Lebensgeistern verflüchtigt, während dieser
der immateriellen Seele alles Thun und Leiden des Körpers zuschreibt.
Hoffmann schreibt unter dem Einfluß der Leibnitz'schen Monadenlehre den
Körpern als solchen Kräfte zu, die sich auf die mechanischen Eigenschaften der
Kohärenz und des Widerstandes zurückführen lassen. In den thierischen Körpern
bilden sich nach ihm diese Eigenschaften zum Tonus aus; der eigentliche Träger
des Lebens aber ist ihm der im Blut und Gehirn enthaltene „Aether", welcher
bei den Thieren durch die Nerven strömt und bei den Menschen außerdem mit
Lymphe gemischt ist. Da diese Nervenflüssigkeit sich aber, um wirken zu können,
ebenfalls bewegt, und zwar nach mechanischen Grundsätzen, und da diese Be¬
wegung wieder einer Ursache bedarf, so schrieb Hoffmann — ohne zu be¬
merken, daß er damit die Einheit seines Systems untergrub — der Lehre von
der Beseeltheit der Monaden folgend, jedem Theilchen des Blut- und Gehirn¬
äthers eine Idee von seinem Zwecke, also eigenen Bewegungstrieb zu. Durch¬
aus folgerichtig dagegen baute er auf diese Annahmen seine Pathologie und
Therapie auf. Das Wesen der Krankheit ist ihm Störung des physiologischen
Tonus der festen Theile, Erschlaffung, Anspannung und übermäßige Bewegung.
In empfindlichen Theilen erscheint die letztere als Schmerz, in beweglichen als
Krampf. Diese Zustände beruhen nach ihm auf dynamischen Grunde, nämlich
auf Schwankungen des Nervenprinzips. Das Vorkommen von Krankheiten
der Säfte erklärt er mit einer durch Erschlaffung oder Spannung der Gefäße
entstandenen Stockung und Verderbniß. Die wahren Verdienste Hoffmann's
um die Pathologie liegen aber nicht hierin, sondern in seiner Lehre von den
Krankheitsursachen, die er sehr sorgfältig bearbeitete, und als deren wichtigste
er Ueberfülle von Säften und abnorme Mischung der atmosphärischen Luft
bezeichnete. Die Arzeneien Hoffmann's richten sich theils gegen seine allge¬
meinen Krankheitslategvrieen, Krampf und Erschlaffung, theils gegen die Krank¬
heitsursachen, Fehler der Säfte n. tgi. Sie bestehen ans wenigen Mitteln,
und er meint, daß der Arzt außer gewissen diätetischen Vorschriften, auf die
er großes Gewicht legt, deren nicht mehr als etwa ein Dutzend bedürfe. Lieb¬
lingsmittel sind ihm Wein, ätherische Oele. Gewürze, China, Kampfer, Eisen
und das Wasser von Heilquellen; mit besonderer Vorliebe aber wendete er
seinen lac^or anock^nus roirlöralis, sein Lalsamrun vitas und das Dlixir
vjsvMÄls an; dabei verschmähte er es, der damaligen Sitte gemäß, nicht, sich
durch Verkauf von Geheimmitteln zu bereichern.
Die Einfachheit und praktische Verwendbarkeit des Hoffmann'schen Systems
und der Umstand, daß es sich mit dem Hippokratismus und der um die Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts auftretenden und epochemachenden Jrritabilitäts-
lehre Haller's vereinigen ließ, verschafften ihm nicht allein eine große Zahl
von Anhängern, sondern erhielten es auch sehr lange Zeit bei vielen Praktikern
in Ansehen. Ein Irrthum aber wäre es, wenn man meinen wollte, es sei in
der Zeit, die wir im Nachstehenden charakterisiren wollen, von allen, die sich
Aerzte nannten, anerkannt und befolgt worden. Wir haben auf den letzten
Seiten nur von der Theorie, von der ärztlichen Wissenschaft und deren Fort¬
schritten gesprochen. Die Praxis nahm hiervon in weiten Kreisen keine oder
doch nur wenig Notiz. Ein großer Theil, ja wahrscheinlich die Mehrzahl der
Aerzte kurirte zu der Zeit, wo der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm, noch
nach Vorschriften älterer Methoden, nach Anweisungen der Chemiatriker, nach
den Rezeptbüchern der Paracelsisten oder nach Brocken und Resten von aller
dieser Schulen Tischen zusammengenommen, und die neben ihnen arbeitenden,
von keiner Gesundheitspolizei überwachten und beschränkten Medikaster, Volks¬
ärzte, Marktschreier und Wunderdoktoren operirten, wenn sie überhaupt etwas
wußten und nicht bloße Schwindler waren, sogar mit Nachklängen aus der
Medizin des Mittelalters. Man kann sich diese Zustände nicht schlimm genug
vorstellen. Selbst manche Hof- und Leibmedici waren nicht viel besser als
Ignoranten und Charlatane, und was sich der Bürger und Bauer in seiner
Leichtgläubigkeit bieten ließ, übersteigt alle Grenzen.
In den beiden Reden „von der Charlatanerie oder Marktschreierei der
Gelehrten", die Johann Burkhardt Mencke, Professor der Geschichte und kur¬
fürstlicher Historiograph zu Leipzig, 1713 und 1715 bei Magisterpromotionen
hielt"), lesen wir unter Anderem Folgendes:
„Man erzählet sonst von Carolo Patino, daß, als sich selbiger zu Basel
bei einem Medico aufgehalten, er von ungefähr dessen Sohn, einen jungen
Studiosum Medicinae gefraget, wie viel Theile der Arzeneikunst wären. Da
nun dieser der gemeinen Ordnung nach geantwortet: viere, nämlich die Phy¬
siologie, die Pathologie, die Semiotik und die Therapie, so hat Patinus den
fünften Theil, welchen er zugleich vor den vornehmsten ausgegeben, nämlich die
Marktschreierei oder Charlatcmsgriffe hinzugesetzt, weil derjenige, so diese nicht
verstünde, nimmermehr den Namen eines geübten Medici verdienen könne. Und
zwar hat Patinus nicht übel geurtheilet. Denn daß ich derer Herumläufer
und Marktschreier nicht einmal gedenke, welche auf öffentlichen Straßen und
Gassen auf ihre Gerüste treten, damit sie den Pöbel betrügen und ihm Ziegel¬
staub vor goldne Pulver verkaufen mögen, so frage ich, wie viel wohl auch
rechte Medici seien, welche nicht allenthalben ein großes Sehet ihr, meine
Herren ausschreien und von ihren Seel- und Lebenskräfte bringenden Herz¬
stärkungen, Groß- und Kleinwelt-Geisterischen Säften, Indianischen Wunder-
ölen, hochheiligen Paracelsistischen Panaceen, unschätzbaren Goldtränken, sera-
Phinischen Latwergen, siebenundsiebzigerlei Pulvern, Gottes Wundergüte prei¬
sender Otternschmalze und weiß nicht wie viel hundert andere dergleichen mit
viel fürchterlicheren arabischen und abracadabrischen Benennungen ausstaffirter
Hülfsmitteln großes Wesen machen."
Und in der zweiten Rede heißt es:
„Ich eile demnach zu den Aerzten, bei denen vornehmlich die Charlata-
nerie so gewöhnlich und einheimisch ist, daß es sehr schwer fällt, einen rechten
ehrlichen Medicum von einem Marktschreier und Betrüger zu unterscheiden.
Denn es ist bekannt, daß viele der vornehmsten und berühmtesten selbst bekennen,
es sei diese Kunst sehr ungewiß, schlüpfrig und mangelhaft, da nicht nur die
rechten Ursachen der Krankheiten größtentheils unbekannt bleiben, sondern oft
auch ihre bewährtesten Mittel die gehoffte Wirkung versagen. Daher man
beinahe auf diese deuten könnte, was ehemals Cato von den Wahrsagern ge¬
urtheilet hat: er wundere sich nämlich, daß einer den anderen ohne Lachen
könne ansehen. Die bekannte Formel bleibt doch ihr gewöhnlichstes Rezept:
81 vis Ls,us,ri as raorbo vssoio pus,1i,
^eoixias Kerdam, seil gu»in oft nsseio ynaleinz
?vus,s vesoio <zuo, hö,us,t>ers nesoio qug,v<Z,o.
Denn ob sie gleich in allen Dingen unerfahren sind, so pflegen sie nichtsdesto¬
weniger ihre Pillen, Siruppe, Tropfen und andere köstliche Sachen als große
Geheimnisse und allgemeine Hülfsmittel jedermann dermaßen einzuloben, daß
man meinen sollte, sie wären vermögend, die Todten selbst aufzuwecken. In¬
dessen bringen sie aber doch ihrer ungezähnten Freiheit nach viel Menschen
recht liederlich um das Leben und sind darinnen glücklich, daß die angeschla¬
genen Kuren von der Sonne erleuchtet und bekannt gemacht, die unglücklichen
Zufälle aber mit Erde bedeckt werden."*) — „Weil sie auch wohl wissen, was
die Einbildung vermag, so erheben sie bald wie Kenelm Digby ihr sympathe¬
tisches Pulver, bald sammeln sie wie Leonhard Turneißer*) die Kräuter unter
gewissen Himmelskonstellationen ein, bald erfinden sie wie Johann Floyer neue
Pulsuhren, womit sie desselbigen Bewegung untersuchen, oder kosten auf gut
marktschreierisch den Urin und beurtheilen aus dessen Farbe, Beschaffenheit und
Geschmack die Krankheit."
Selbstverständlich trifft diese Schilderung der Aeskulapspriester jener Zeit
nicht alle Mitglieder der Zunft. Aber wo ein solcher Arzt nicht andere täuschen
wollte, täuschte er vielfach sich selbst; denn die medizinischen Kenntnisse, die er
besaß, waren mit krassen Irrthümern gemischt, und überall ging neben dem
Wissen der Aberglaube her. Noch um das Jahr 1720 gab es, wie wir aus
der Doktordissertation „Vs suxorstitions rosÄiog." ersehen, trotz der inzwischen
erfolgten Entdeckungen eine große Anzahl von Heilkünstlern, welche den selt¬
samsten Meinungen vom Leben, von der inneren Einrichtung des Menschen,
vom Wesen der Krankheiten und den Mitteln zu deren Hebung huldigten, und
nicht selten fanden gerade diejenigen neuen Lehren den meisten Beifall und
die ausgebreitetste Anwendung, welche den wenigsten Anspruch darauf hatten.
Noch um das obengenannte Jahr glaubten deutsche Aerzte, daß das Leben im
Blute zu suchen, daß es, wie Paracelsus verkündet, ein „subtiler astralischer
Balsam", eine „eingeschlossene Luft" oder ein „eindringender Salzgeist" sei.
Selbst gelehrte Mediziner wollten die Meinung nicht von sich weisen, daß
Krankheiten angezaubert werden könnten und mit dämonischen Mächten zusam¬
menhingen. In der Praxis begannen fast alle Aerzte ihre Kur mit einer
„Vorbereitung" des Kranken durch Abführungsmittel und Blutentziehungen,
zu denen sein Zustand durchaus keinen Anlaß bot. Es gab ferner eine
Menge von Arzeneien, die Alles kuriren sollten, und zwar nach fester Ueber¬
zeugung dessen, der sie verordnete. Nicht wenige lebten der Ansicht, der Angel¬
punkt, um den sich jedes Heilverfahren zu drehen habe, sei das Herz, und
dieses müsse mit besonders kostbaren Medikamenten, Perlen, Edelsteinen, Silber
und vor Allem mit Gold verwahrt und gestärkt werden. Das ^uruin. xota-
Kils galt lange Zeit für ein Universalmittel. Nach einer Quittung von Fer-
rault de Bonnet, dem Hofalchymisten Ludwig's XI. von Frankreich, war dies
schon im fünfzehnten Jahrhundert und nach einem Dispensatorium der medi¬
zinischen Fakultät von Paris noch zu Ende des achtzehnten unter gelehrten
Aerzten der Fall. Zahlreich waren die Heilmittel, welche man dem Thierreich
entnahm: Fuchslunge sollte in Schwindsuchtsfällen, die Eingeweide des Wolfs
sollten bei Kolik, Elenthierklauen und Menschenblut bei der Fallsucht, Theile
vom Hirsche bei Vergiftungen gute Dienste leisten. Man schrieb den Mumien
Heilkräfte zu, man bereitete „magnetische" Salben, und man nahm bei seinen
Kuren — vorzüglich bei chirurgischen — Rücksicht auf einen vermeintlichen
Einfluß der Gestirne. Der Leipziger Arzt Michaelis heilte mit einem in seinem
Besitze befindlichen Stück Narwalzahn, das er für ein Stück vom Horne des
fabelhaften Einhorns hielt, alle erdenklichen Gebresten. Wie andere Wunder¬
doktoren der Zeit unserer Urgroßväter verfuhren, mag uns Gotthelf Greiner,
der Erfinder des Thüringer Porzellans, erzählen"), der von 1732 bis 1797
lebte. Derselbe berichtet, wie es scheint aus dem ersten oder zweiten Jahre
des siebenjährigen Krieges:
Ich war zu eifrig in der Arbeit (als Glasfabrikant) und strengte mich
Zu sehr an, hatte wohl auch in der Erhitzung einen kalten Trunk gethan. Ich
wurde zwar nicht bettlägerig, aber krank war ich doch. Meine Beine ge¬
schwollen, und Wasser drang mir in die Nase und die Augen, wenn ich mich
niederbückte. Auch bekam ich kurzen Athem. Da wurde meiner Frau recht
bange und mir auch. Alle glaubten, ich hätte die Wassersucht, und obgleich
ich kein Bier- und Weintrinker war, so glaubte ich es endlich selber. Mir war
Zu Muthe, als arbeitete ich am Rande meines Grabes. Kein Arzt der Gegend
konnte mir helfen. Da traf sich's, daß ein berühmter Doktor, Neß genannt,
auf die Steinheide kam. Dem schickte ich durch einen meiner Glasmacher ein
Gläslein voll von meinem Urin, ging aber voraus zu ihm, blos um zu hören,
was er dazu sagen würde, und ließ ich nicht wissen, daß ich selber der Kranke
War. Als mein Glasmacher ihm das Glas übergeben und wörtlich ausge¬
richtet hatte, was ich ihm aufgetragen, sprach'der Doktor: „Lieber Freund,
sag' Er diesem Manne, es wäre schade um seine Frau und Kinder. Er soll
sich vor seinem Ende noch ordentlich was zu Gute thun; denn länger als un¬
gefähr noch einen Monat wird er nicht mehr leben. Der arme Mensch hat
w zu großer Erhitzung einen kalten Trunk gethan, das Wasser steht ihm an
der Lunge, und die muß deßwegen verfaulen. Doch ich will ihm ein Glas
Arzenei geben, diese mag er brauchen; er wird aber wohl kein Medicament
mehr begehren."
Ich blieb noch bei ihm in seinem Laboratorium, nachdem mein Glas¬
macher fort war, und sagte zu ihm, ich wäre ein guter Bekannter dieses kranken
Mannes, und er möge ihm doch etwas bessere Arzenei als die gewöhnliche
geben, damit er womöglich am Leben erhalten würde. Da sprach er zu mir:
„Ich wüßte keine andere bessere Arzenei als die in der großen Flasche da vor
Ihm, damit könnte er sich wohl noch etliche Wochen hinflicken." nunmehro
gestand ich ihni, daß ich der Patient selber sei und nur hätte hören wollen,
was er von meiner Krankheit hielte. Da fiel er mir um den Hals und rief:
„Wahrhaftig, Sie sein am Ende Ihres Lebens, aber noch ist einige Rettung
möglich. Hier, dieses ist das einzige Mittel. Da Sie noch jung sein, so müssen
Sie täglich drei bis viermal Menschenfett essen. Ich will Ihnen gleich ein
Glas voll zurecht machen. Gehen Sie einstweilen in die Stube." Ich ging
dann in die Stube, und dort überbrachte er mir ein Glas und sagte: „So,
das gebrauchen Sie gehörig, und dann sagen Sie mir, ob Sie Besserung
spüren." Darauf ging ich mit meinem Glasmacher nach Hause. Dieser Doktor
war auch ein Brucbschneider, von dem die Leute behaupteten, daß jeder Mensch,
den er knrire, genese, ausgenommen allemal der neunte, der müsse sterben.
Auch führe er nur zweierlei Arzenei mit sich.
Mein Menschenfett mußte ich vor dem Einnehmen jedesmal erwärmen.
Dabei blieb es mir immer an den Lippen hängen. Nachdem ich es mehrere
Tage hintereinander eingenommen hatte, wurde mir ekel; denn ich dachte an
die Menschen, von denen das Fett herkam. Ich ging also wieder zu dem
Doktor und klagte ihm meine Noth mit der Arzenei, und daß mir davor graute,
weil Menschenfett drin wäre. „Ja, ja," erwiederte er, „es ist auch Menschen¬
fett, Sie brauchen sich aber nicht davor zu ekeln, ich habe es selbst ausgekocht
und zwar aus einem jungen Frauenzimmer, und es ist ganz reinlich damit
umgegangen worden. Die Person hatte ihr Kind umgebracht, dafür wurde
ihr der Kopf abgeschlagen. Der Herzog von Gotha hat mir sie geschenkt, und
ich habe seinen Prinzen, der vom Pferde gestürzt war und sich die Brust ein¬
gedrückt hatte, mit dem nämlichen Fette kurirt. Dasselbige ist eben jetzo auch
vor Ihnen recht passend. Ich kann Ihnen übrigens die Haut von jenem
Frauenzimmer zeigen, auch das Skelett hängt oben in meiner Kammer." Ich
wollte mich doch gerne überzeugen, ob das alles wahr sei, und so bat ich ihn,
mir die Haut zu zeigen. Da brachte er mir dieselbe getragen, und ich erschrak
ordentlich darüber. Sie war fein gahr gemacht, auch waren die Brüste, Warzen,
Finger und Fußzehen daran noch ganz deutlich zu fehen. Das Skelett mochte
ich nun nicht mehr in Augenschein nehmen; denn ich war nun erst recht ekel¬
haft geworden und sagte ihm, daß ich jetzt gar nicht mehr im Stande wäre,
von jenem Menschenfett einzunehmen. Da antwortete er: „Nun, so lassen
Sie es bleiben, wenn Sie lieber sterben wollen." Ich bat ihn, sich zu be¬
sinnen, ob er mir nicht etwas Anderes geben könnte, das mir hülfe. Nach
einigem Besinnen meinte er: „Na, Sie könnten es einmal mit Muttermilch
Probiren." Das sollte ich alle Tage fünf bis sechs Mal einnehmen. Ich könnte
mir ja eine Amme halten, und übrigens hätte meine Frau ein säugendes Kind
so ginge es am Ende, daß ich an ihr tränke. Darauf erklärte ich ihm, daß
ich auch darin ekelhaft wäre, und daß es mir schwer fallen würde, mich dazu
zu verstehen. Ob er mir denn weiter gar nichts anrathen könnte. „Nein,"
sprach er, „dieß ist das Allerletzte. Sie könnten indessen wohl noch Kräuter¬
wein Probiren, doch damit geht die Genesung zu langweilig vor sich." Ich
sagte, daß ich's mit dem Wein versuchen wollte, und er schrieb mir die Species
dazu auf, und diese ließ ich mir dann aus der Apotheke holen. Ich goß wohl
fünf Maß Wein darüber, mochte aber dieses Getränk auch nicht; denn es ekelte
Mich gleichfalls an. Was sollte ich nun thun? Meine Frau hatte wohl
Milch, aber mir graute davor. Endlich, da es sein mußte, entschloß ich mich
doch dazu. Ich probirte es also, nahm von meiner Frau Milch und trank
sie. Meine Sophie bekam dann immer mehr Milch, und ich trunk alle Tage,
was sie von der Säugung des Kindes erübrigte. Als sie dasselbe entwöhnt
hatte, trunk ich ihre Milch allein wohl zwei Monate lang. Ich wurde davon
auch uach und nach wieder gesund. Da nun meine Frau Muhme Lauterbachin
w Alsbach auch Gelegenheit bot, mir Milch von ihr abzulassen, so machte ich
davon ebenfalls Gebrauch. Sie schickte mir alle Tage beinahe ein Maß voll,
und so trank ich Muttermilch, bis auch sie keine mehr hatte. Ich aber war
davon ganz gesund geworden, sodaß ich wieder arbeiten konnte wie früher. —
"
Im zweiten Anhang zu Grimmelshausen's „Simplicissimus erzählt der
Held, wie man ihn zu einem reichen Kranken ruft, dem man vergeblich das
Nasenbluten durch — Blutentziehung zu stillen versucht hat. „Denselben fand
ich mehr todt als lebendig; denn er sah schon bleich, grün und bleifarben aus.
Es stund ein Kübel voll Blut dort, das ich auf fünfunddreißig Wetzen schätzte,
ohne dasjenige, so allbereits anders wohin verschüttet worden." Man hatte
ihn erschreckt, ihn mit kaltem Wasser begossen, ihm kühlende und zusammen¬
ziehende Sachen eingegeben, ihm Brust, Arme und Schenkel zusammengeschnürt
und ihn dann wieder mit Aderlässen und Schröpfköpfen bearbeitet. Alles
vergeblich, „er fiel aus einer Ohnmacht in die andere". Da hilft ihm endlich
Simplicissimus „vermittelst der Sympathia", indem er dem Kranken aus dessen
eigenem Blute einen „köstlichen Schnupftabak" bereitet. Diese Kur wird um
die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts vollzogen, sie wäre aber auch in der
Zweiten Hälfte des achtzehnten nichts Ungewöhnliches gewesen.
Den meisten Schaden thaten wohl die wandernden Charlatane, die das
Lied vom Doktor Eisenbart verspottet, und die vorzüglich als Bruch-, Stein-
und Wurmschneider, dann als Zahnbrecher und Verkäufer von wunderwirkenden
Theriaken, Latwergen, Pillen und Elixiren von Markt zu Markt zogen und
vorzüglich den kleinen Mann um sein Geld und seine Gesundheit betrogen.
Ein solcher Doktor Eisenbart oder Wurmbrand ist gewöhnlich ein gravitä¬
tischer Herr mit einer stattlichen Wolkenperücke und einer großen Hornbrille,
die den grundgelehrten Mann verkündete. Er trägt einen scharlachrothen, oder
zeisiggrünen Rock mit Goldtressen, einen Dreispitz und einen Galanterie-Degen.
Aus den Aermeln schauen ihm Spitzenmanchetten, aus der langschößigen
Weste drängt sich ein anspruchsvoller Busenstreif hervor. Die Finger zieren
Ringe mit blitzenden Steinen, die unecht sein können wie seine Medikamente.
An den Schuhen blinken dicke silberne Schnallen. Er kündigt sich als der
weltberühmte Medikus und Chirurgus Puffnuzius Bombastus oder Schnauzius
Rapuntius von Neapolis, mehrerer Fakultäten Doktor, als weitgereister, auch
in den geheimen Wissenschaften erfahrener Mann in Reden an, die zuweilen
mit lateinischen und griechischen Floskeln gespickt sind, und sieht mit unver-
holener Geringschätzung auf die niederen Branchen des Geschäftes, die kleinen
Theriakkrämer, herab, denn er kann sich einen oder mehrere Bediente halten
und zieht wohl gar in eigenem Fuhrwerk zu Markte.
Ein anderer Unterschied freilich besteht zwischen ihm und den weniger
anspruchsvoll auftretenden Kollegen von der Kunstgenossenschaft der Quacksalber
in der Regel nicht. Er ist gewöhnlich derselbe Gauner, nur schneidet er im
höheren Stile auf, und während jene ihre Waare auf einem einfachen Tische
oder in einer unscheinbaren Bude ausbreiten und mit ein paar Taschenspieler-
stückchen oder dem einen und dem andern wenig Geschick und Kenntniß er¬
fordernden chemischen Experiment die Menge anlocken und fesseln, perorirt er
von einer prunkhaft ausstaffirteu Bühne zu den Massen oder führt, um die
Augen der Leute auf seine Leistungen und seinen Handel zu lenken, förmliche
Komödien, in denen seine Diener, mitunter auch seine Frau oder sonst ein
Kompagnon mit ihm auftreten, als Vorspiel der Anpreisung seiner eigentlichen
Künste auf. Bilder mit Wunderkuren, die seine Panaceen verrichtet haben sollen,
mit ungeheuerlichen Operationen, die seine angeblich stets glückliche Hand voll¬
zogen, Gläser mit Schlangen, Skorpionen, Bandwürmern oder Mißgeburten in
Spiritus müssen ihm wirthschaften helfen. Häufig läßt er sich durch Trommel¬
schlag in den Gassen oder durch Trompetenschall von seinem Gerüst herab der
staunenden Welt der Markt- und Meßleute als der große, Alles heilende,
kaiserlich, königlich, kurfürstlich, desgleichen päpstlich privilegirte Magus an¬
kündigen.
Viele von diesen Industrierittern sind Italiener, die das Deutsche nur
radebrechen, aber sich auf bezeichnende Geberden verstehen und das, was in
ihrer Rede undeutlich ist, durch einzelne pomphafte und eindrucksvoll dahin-
rollende Sätze auszugleichen wissen. Andere nennen ein deutsches Dorf oder
Städtchen ihre Heimat und waren vordem Schweineschneider oder Barbiere.
Ein solcher Marktschreier war ein gewisser Fuchs, der 1742 während des
Hamburger Herbstmarktes als „Augen-, Bruch-, Stein-, Wurm- und Wundarzt
mit Kopf-, Brust- und Magnetrisineth und spanischem Laxirbrod" erschien und
mit seinem Hanswurst und drei Haiducken allerlei Possen und Schwänke
aufführte.
Manche von diesen fahrenden Medikastern verkauften neben ihren angeb¬
lichen Arzeneien — unter denen der Theriak, ein Gemisch aus Opium, spanischem
Wein, Honig, Baldrian, Angelikawnrzel, Meerzwiebel, Zittwer, Zimmt, Karda¬
mom, Myrrhe und Eisenvitriol, lange Zeit die erste Stelle einnahm — auch
Liebestränke, Schönheitsmittel, Brillen und Amulete. Der eine hatte Wurm¬
samen, der andere Bilsensamen gegen Zahnweh feil, ein dritter „Philosophen-Oel"
oder „die Quintessenz, womit man bald reich werden kann". Wieder ein anderer
Schwindler pries eine Salbe zur Stärkung des Gedächtnisses oder Mückenfett
gegen die Schwindsucht an, alle aber fanden mehr oder weniger Liebhaber für
ihre Raritäten. Die meisten trieben dabei die Kunst des Aufziehens schadhafter
Zähne, die mittelst Kneipzange oder Schlüssel delikat entfernt wurden, was
natürlich unter freiem Himmel auf der Schaubühne vorgenommen wurde. Nur
ernstere Arbeiten der Chirurgie, z. B. Steinoperationen, wurden im Hinter¬
grunde des Gerüstes in einem Verschlage vollzogen, und der Possenreißer, der
den Doktor als Famulus begleitete, mußte dann durch Bockssprünge und grobe
Späße das Publikum bei schallendem Gelächter erhalten, so daß es das Angst¬
gestöhn und Schmerzgeheul des gepeinigten Patienten nicht zu hören bekam.
Anatomische Kenntnisse hatten diese Bruch- und Steinschneider nur in seltenen
Fällen. Die Regierungen aber störten sie in ihrem Gewerbe nicht. Und so
blieb es bis nahe an unser Jahrhundert heran, namentlich in den Zwergstaaten
Franken's und Schwaben's, und groß war das Unheil, welches diese Ninxirioi
mit ihrer dreisten Unwissenheit, die unbefangen sich an die schwierigsten Opera¬
Sie wollen nach langer Zeit wieder einmal etwas aus dem Reichslande
hören? Gern, das heißt eigentlich nicht gern, denn der Kern der Frage wird
von so zahlreichen Staubwirbeln umgeben, daß es nicht immer angenehm ist,
sich mit derselben zu befassen. Immerhin sollen Sie etwas aus dem schönen
Vogesenlande hören, doch unter der Voraussetzung, daß Sie keinen Stimmungs-
bericht im gewöhnlichen Sinne von mir erwarten. Politische Stimmung ist
nicht wie eine Spargelpflanze, die so üppig schießt, daß sie ein geduldiger
Beobachter beinahe wachsen sehen kann. Wo sie ja üppiger wuchert, da läßt
sich allerdings auf die Mistbeetnatur des Bodens ein Schluß ziehen, aber aus
dem einzelnen Vorkommniß ein Vegetationsgesetz nicht ableiten. Unter manchem
Unrecht, das unsere Berichterstatter dem Elsaß angethan haben, ist das nicht
das kleinste, daß sie in ihrer kindlichen Freude über manche deutsche Spur,
die sich noch auffinden ließ, dem gebildeten elsässtschen Mittelstand so oft den
Puls gefühlt haben, ob derselbe nicht endlich einen regelmäßigen Gang verriethe.
Oefteres Pulsfühlen kann aber einen Patienten schauderhaft quälen und macht
ihn doch nicht gesund. Wir sollten uns dabei beruhigen, daß der Kern unserer
ländlichen Bevölkerung uns gehört, daß aber alles, was Anspruch auf Bildung
macht unter den altheimischen Einwohnern, so tief von französischer Bildung
durchdrungen ist, daß diese Leute sich sehr schwer umdenken können, und wenn
das Umdenken auch gelingt, so ist es doch dafür mit dem Umändern der
Empfindung um so übler bestellt. Nos skutiuWiits alsALlöns sind allerdings
bei der Beamtenwelt im Elsaß beinahe sprichwörtlich geworden, denn diese
inkommensurable Größe erscheint in der Regel dann, wenn die Praxis des
Lebens eine klipp und klare Antwort auf eine klare Frage fordert, aber die
Empfindung gehört nun einmal auch zu dem Menschen. Das beste darüber
hat jedenfalls der Reichskanzler gesagt, als er aufforderte, doch nicht in den
Bibliotheken aufzustöbern, was vor längerer Zeit einmal gesagt worden sei;
aber sehr berechtigt war daneben der Wunsch, daß Aeußerungen, die einer
vorübergegangenen Periode der ersten Erregung angehören, sich nicht in zu
später Zeit wiederholen mögen. Die Stimmungen selbst ließ der Reichskanzler
unberührt: Empfindungen sind zollfrei. Anders aber steht die Frage, ob man
mit empfindsamen Leuten in der schneidenden Luft des öffentlichen Lebens etwas
anfangen kann. Herr v. Stauffenberg würde es mit Freuden begrüßen,
wenn es dem Reichskanzler gelänge, aus dem Lande selbst und aus den Reihen
der im Lande voranstellenden Männer bei der Rekonstruktion der Regierung
in Straßburg Kräfte zu gewinnen, welche in diese hineingezogen werden können.
Wir auch, aber — wenn! Die Liebe zum Mutterlande, zur Heimat, zur Scholle
ist bei dem Elsässer in reichem Maße vorhanden (der Abgeordnete Schneegans
hat in der Presse ausdrücklich darauf hingewiesen, was er unter dem Mutter¬
lande verstanden wissen wolle, um jeder Mißdeutung seiner Rede im allzudeutschen
Sinne zu entgehen), aber der Begriff des Vaterlandes, d. i. der Heimat mit
all' den Institutionen staatlicher Art, die sich auf dem theuern Boden entwickelt
haben, der ist im Elsaß noch wenig vorhanden. Und gesetzt, es fänden sich
die weißen Raben, die, ohne dem persönlichen Ehrgeiz zu fröhnen, nicht blos
als Kritiker, sondern als Arbeiter oder Künstler an der deutschen Arbeit im
Elsaß mitwirken wollten, so würde ihr Eintritt in die Verwaltung im besten
Falle ein Kunststück, ein Kunstwerk nie zu Stande bringen. Treten sie in
die unteren oder mittleren Schichten unserer Bureaukratie, so wird ein gewandter
Mann zwar die Routine der äußeren Geschäftsbehandlung den Kollegen bald
abgucken, aber innerlichst wird doch die Kluft bestehen bleiben, die dem Zu¬
sammenwirken hinderlicher ist als jetzt der Unterschied zwischen Nord- und
Süddeutsch, mit dem der echte und gerechte Altpreuße und Altbayer koquettirt.
Ich rede natürlich von dem Eintritt der „im Lande voranstehenden Männer",
nicht etwa von dem jungen Nachwuchs, dessen Erstlinge jetzt gerade in die
Reihen der Beamtenschaft eintreten können. Treten die ersteren aber gar in
leitende Stellen ein, wo soll da das Vertrauen der Subalternen zu 1)em Chef
herkommen, der, wenn er überhaupt etwas vom Verwaltungsfache versteht,
aufgewachsen ist mit den Vorstellungen zentralisirtester Verwaltung?
Selbst die Liberalen kommen nur mit den allbekannten schablonenmüßigen
Forderungen des Selfgovernments im Allgemeinen; im Kern sind sie so durch¬
drungen von zentralistischen Anschauungen der Verwaltung, daß sie nicht wissen,
was sie mit dem Gegentheil anfangen sollen. Man vergleiche nur die Ver¬
handlungen des Landesausschusses über die Forstverwaltung. Es wäre, wie
gesagt, ein Kunststück, wenn etwas Rechtes dabei herauskäme. Nein, für lange
Zeit ist der Platz der elsässischen Mitwirkung an der Verwaltung in die Ver¬
tretung der Kreise und Bezirke und in den Landesausschuß gelegt, nicht in die
eigentlich verwaltenden Bureaux. Dort lernt man bei sachlicher Kritik den
Gegner kennen und lernt ihn achten, lernt auch die Unmöglichkeit des Cliquen¬
wesens einsehen, das sich unter dem Schutze der Präfekten in die französischen
Generalräthe und in die französische Verwaltung eingeschlichen hatte. Das ist
der Platz, auf dem die für lange Zeit getrennten Elemente der deutschen
Beamten und der reichsländischen Bevölkerung sich befehden und befreunden
können. Wir sind nicht so sanguinisch wie Herr v. Puttkammer, der wünscht,
daß die Zeit nicht allzufern sei, in der gegenseitiges Vertrauen und gemein¬
schaftliche Vaterlandsliebe sich zu einem untrennbaren, inneren Bande ausbilde
zwischen Elsaß-Lothringen und dem Reiche. Als Wunsch, als Schluß einer
Rede macht sich das ja recht schön, aber an eine baldige Verwirklichung glauben
wir nicht.
Es erscheint aber überhaupt als ein Fehler, da, wo es sich um Verfassung,
um grundlegende Fragen handelt, von administrativen Verhältnissen zu reden.
Man sagt gewöhnlich, man solle nicht mit Kanonen nach Spatzen schießen,
aber sich so an den Eintritt der Elsässer in die Beamtenkreise klammern und
davon den Anfang der Gewinnung des Landes erhoffen, das heißt Vogeldunst
abschießen, wo es des schweren Geschützes bedarf. Das ist aber offenbar
nöthig, wenn wir aus den Halbheiten der öffentlichen Zustände in Elsaß-
Lothringen die Elsässer und uns selbst befreien wollen. Auf diesem Boden,
der halb wie ein verwaltetes Territorium, halb wie ein selbständiger Staat
aussieht und keines von beiden voll und ganz ist, kann sich eine Partei¬
bildung in voller Klarheit gar nicht vollziehen. Hier werden staatsrechtliche
Fragen von solcher Subtilität erörtert, daß sie sich dem Verstände der Masse
in noch weit höherem Grade entziehen als sonstige politische Fragen. Gerade
darum, weil die Gegenwart auf dem Gebiete des Staatslebens keine Fragen
von lebendiger Bedeutung stellt, treiben sich hier noch die Trümmer der alten
französischen Parteien auf der Oberfläche umher, in deren Tiefe die nationale
Sympathie und Antipathie nach dem ^großen Sturm des Krieges noch immer
wogt. Für die große Menge der Bevölkerung bleibt das öffentliche Leben,
wie es sich bisher gestaltet hat, unverstanden. In ihren Kreisen herrscht blos
ein Bedürfniß, das der Ruhe, der Gewißheit.
Wie sich diese Gewißheit gestalte, ist für den Moment weder mit Hoffnung
noch mit Furcht zu erfassen. Was aber auch kommen mag, es wird eine stark
leitungsbedürftige Bevölkerung vorfinden. Gegenüber diesen Zuständen sollte
man nicht mit leichtem Herzen das Palliativ Mittel einiger Gesetzesparagraphen
anwenden, die in kurzer Zeit neue Aenderung, neue Unruhe bedingen, insofern
sie sich allein auf die Verwaltungsform beziehen. Was noth thut, das ist
die ganz bestimmte Bezeichnung des Zieles, zu dem sich in dem nächsten
Menschenalter die Bevölkerung der Reichslande hinbewegen soll. Folgerichtig
kann es hier nur ein Entweder-Oder geben: Annexion an Preußen oder Er¬
richtung eines Bundesstaates. Das erste ist 1871 nicht geschehen, und auch
jetzt scheinen sich ihm starke Bedenken in allen Partikularistischen Kreisen ent¬
gegenzustellen. So wenig aussichtsvoll ist eine Erlösung von dieser Seite, daß
eifrige Verfechter der Annexionsidee wohl davon sprechen, nur der nächste
Krieg könne mit seinem Schwerte diesen gordischen Knoten durchhauen. So
gordisch ist der Knoten der sogenannten elsässischen Frage nun doch nicht
vor einem Kriege wollen wir bewahrt werden, so lange er uns nicht aufge¬
drungen wird. Wir haben auch im Frieden Mittel und Wege, um den Elsässern
die definitive Richtung zu geben, wenn wir sie auch nicht gleich an das defi¬
nitive Ziel versetzen. So bleibt also die Errichtung eines Bundesstaats, aber
doch wohl eines solchen, dem partikulare Gelüste gegenüber der Zentralgewalt
von vornherein vergehen, der genau so, wie jetzt das Reichsland an die Ge¬
sammtheit des Reiches gebunden ist, auf das Engste mit der Zentralgewalt des
Reiches verbunden sei. Wie man ihn einrichten, wann man das Einzelne aus-
führen wolle, das entscheide die Einsicht, die bis jetzt die Geschicke dieses Landes
in ihre Bahn gebracht hat, Reichsregierung und Reichstag im Einvernehmen.
Nur möge man dafür sorgen, daß eine entschiedene und definitive Antwort
gegeben werde auf die fragende Bitte um eine Regierung im Lande. Auch da
gilt es, was von dem deutschen Volke auf dem wirthschaftlichen Gebiete gilt:
die Elsässer wollen „Gewißheit über ihre Zukunft, und alles andere ist besser
als das Hinziehen der Ungewißheit, in der Niemand weiß, wie die Zukunft
Es ist vielleicht der richtige Eindruck, wenn man die erste Lesung der
Zollreformvorlage, mit welcher der Reichstag in sechs langen Sitzungstagen
sich beschäftigt hat, als die größte Debatte in der parlamentarischen Geschichte
Deutschland's nach Ausdehnung, Gehalt und praktischer Bedeutung schätzt.
Unser erstes wirkliches Parlament war der Vereinigte Landtag von 1847, dessen
Verhandlungen mit Recht noch heute unvergessen sind. Es war die erste Ver¬
lautbarung unserer politischen Sehnsucht in den geregelten Formen parlamen¬
tarischer Diskussion, auf einem verfassungsmäßigen Boden, gerichtet auf ein
mäßiges, durch feierliche Versprechungen gewiesenes Ziel. Die Diskussion be¬
wegte sich mit einem Anstand und in einem patriotischen Ton ohne Gleichen.
So bleibt diese Verhandlung das Ehrendenkmal, welches der Parlamentaris¬
mus bei seinem Eingang in unser Staatsleben sich errichtet, in einiger Bezie¬
hung das Gegenstück zur ersten französischen Nationalversammlung. Aber eben,
daß dieser begeisterten, drei Viertheile der Versammlung beseelenden Offensive
nur eine verlorene, sich von Anfang, wenigstens geistig, verloren gebende Defen¬
sive gegenüberstand, daß das Ziel der Offensive andererseits, abgesehen von
dem formell sogar eng begrenzten Rechtsinhalt, nach seiner politischen Bedeu¬
tung ein so allgemeines und unbestimmtes war — das waren die natürlichen
Mängel jener mit Recht gefeierten Verhandlungen.
Auch die deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche hat unverge߬
liche Verdienste und große dramatische Momente gehabt. Aber alle Ziele, nach
denen die rednerischen Geschosse sich richteten — damals kam das Wort Trag-
weite für politische Gedanken und Beschlüsse zuerst auf — waren luftig, um
nicht zu sagen chimärisch. Es waren nur Spiegelbilder von den Wünschen der
Schützen. Wen die Versammlung zum König des Schießens erklärte, der
konnte das Ziel sich doch nicht aneignen, dessen Verwirklichung von ganz anderen
Kräften und Mächten außerhalb der Versammlung abhing. Dieser Umstand,
daß die Versammlung schließlich nnr einen moralischen Einfluß üben konnte,
dagegen einer organisirten Macht weder zu gebieten, noch dieselbe mittelbar in
Bewegung zu setzen vermochte, raubte allen Berathungen die sichere Berechnung
der ernstlichen Folgen, damit aber auch die Sicherheit der eigenen Schritte.
' Im Grunde stritt man nur über politische Wahrheiten, nicht über politische
Maßregeln. Daher so viele Unvereinbarkeiten in dem Werke, das man schlie߬
lich zusammenfügte, und das zur praktischen Anwendung erst den Meister be¬
durft hätte, der es umgestaltete.
Der preußische Landtag, vor dem Scheitern der Paulskirche gleichzeitig
mit derselben lagert, zeigte noch einige denkwürdige Momente des Ausflackerns
einer idealen, aber zum hoffnungslosen Niedergang verurtheilten Bewegung.
Dann verloren seine Berathungen bis zum Jahre 1858, ganz vereinzelte glück¬
liche Momente weniger Redner abgerechnet, alle Bedeutung.
Die scheinbar liberale Aera von 1858 brachte keine Besserung. Die liberale
Majorität verfiel gegenüber einem politisch gleichartigen, aber unfähigen Mini¬
sterium in die seltsame Verlegenheit, nicht zu wissen, was sie beginnen sollte,
und sich deshab mit dem Ministerium um Nichtigkeiten zu schlagen, bis die
Forderung der Militär-Reorganisation kam, aus welcher sich der Verfaffungs-
konflikt entspann. Leidenschaft und Talent wurden auch hier zuweilen in un¬
gewöhnlichem Maße aufgeboten, aber die Konfliktsepoche ist, auch rein parla¬
mentarisch betrachtet, eine traurige. Das Parlament konnte nicht nur aus
Mangel an Macht keine thatsächlichen Lorbeeren pflücken: indem es, lediglich
auf einem formellen Schein bestehend, den gröbsten politischen Fehler verlangte,
eine große politische Aktion ohne wirksames Heer, schlug es moralisch sich selbst;
während anch auf der anderen Seite das geistige Uebergewicht der Regierung
parlamentarisch nicht zur Geltung kam, wo man nicht von politischen Zwecken,
sondern nur von technischen Verbesserungen redete und reden durfte.
Das Parlament des norddeutschen Bundes durchschritt eine Epoche, wo
es sich in einem Theil der Fragen dem leitenden Staatsmanne fast wider¬
standslos fügte und von demselben dafür freie Bahn auf dem Felde der kon¬
kreten Gesetzgebung erhielt, die nach längst festgestellten Doktrinen ebenso aus¬
giebig als unvorsichtig benutzt wurde.
Das Reichsparlament, kaum in's Leben gerufen, sah alsbald den Kultur¬
kampf. Auch hier gab es leidenschaftliche Gegensätze und rhetorische Kunst.
Zur wahren Größe konnten sich gleichwohl diese Debatten nicht erheben, denn
auch sie standen unter dem eigenthümlichen deutschen Schicksal, daß der eigent¬
liche Inhalt der Frage nicht zum Ausdruck gelangen konnte. Weder durften
die klerikalen Redner mit dem Weltherrschastsgedanken der Kirche hervortreten,
noch die Vertheidiger des Staats mit dem Inhalt der Reformation. Auf
klerikaler Seite berief man sich auf das subjektive Gewissen, eine Instanz, die
der Katholizismus nicht kennt — auf staatlicher Seite berief man sich aus
Gesichtspunkte der Vereinspolizei, der bürgerlichen Eintracht und andere noth¬
wendige, aber untergeordnete Dinge dieser Art. Die sittlichen Lebensbedingungen
des deutschen Reiches, um welche es bei dem Kulturkampf sich im letzten
Grunde handelte, traten nicht in das Bewußtsein, jedenfalls nicht in das aus¬
gesprochene Bewußtsein der Kämpfenden und konnten es nicht.
Allem Anschein nach werden die Wogen des Kulturkampfes, der für
beide Theile sein Ziel verloren, zum Ablaufen gebracht werden, wenn
wir auch noch nicht genau wissen, durch welchen Kanal. Aber der Schöpfer
des deutschen Reiches, nachdem er mit einer Kunst, von der kaum ein
geringer Theil durch einzelne Zeitgenossen geahnt wird, seiner Schöpfung
auf eine gewisse Periode Sicherheit vor äußeren Störungen verschafft, sieht
nunmehr die höchste Zeit gekommen, der deutschen Staatsbildung die inneren
Physischen Lebensbedingungen zu sichern. Er legte die Hand an diese Arbeit
schon 1869, aber vergebens bei dem kurzsichtigen Widerstande der öffentlichen
Meinung, welchen der Reichstag noch steigerte. Alsdann haben der französische
Krieg und die Milliarden, die Gründung des Reiches und der Kulturkampf,
die orientalische Krise und die Aufgabe des ehrlichen Makkers die Fiuanzreform
verzögert. Mit einem gewaltigen Anstoß, wie nur er ihn zu geben vermag/
hat Fürst Bismarck jetzt die Reform der deutschen Staatswirthschaft und
Volkswirthschaft in Schwung gebracht. Um seine Pläne drehte sich die Ver¬
handlung vom 2. bis 9. Mai. Hier durfte sich das Ziel zum ersten Male in
seiner eigentlichen Gestalt enthüllen. Hier mußten anch die Gegner die Trieb¬
feder zeigen, welche sie leitet; hier wohnt der Entscheidung eine unmittelbare,
ja eine akute praktische Bedeutung bei. Hier handelt es sich um materielle
Fragen, um den Physischen Lebensunterhalt, aber damit zugleich um die
Grundsteine der politischen und sozialen Existenz bis zu entfernten Zeiten, um
die Bahnen für den Unternehmungsgeist der Nationen, um die unentbehrlichen
Hilfsmittel, um den Boden auch des moralischen Lebens. Einen Gegenstand
von solcher Faßlichkeit und solcher Größe, vou so unmittelbar gegenwärtiger
und zugleich weittragender Bedeutung hat noch nie ein deutsches Parlament
verhandelt. Es verdankt denselben in doppelter Weise dem Fürsten Bismarck:
nämlich es verdaut ihm die Möglichkeit, daß die Nation als Einheit ihrer
materiellen Lebensbedingungen und der'Verantwortlichkeit für die Behandlung
derselben sich bewußt wird; es verdankt ihm den aus der eindringendsten
Diagnose geschöpften großartigen Vorschlag, die Heilung derselben zu unter¬
nehmen.
An dieser einleitenden Betrachtung möge es für heute genug sein. Aus
den reichen sechs Tagen den Gehalt erschöpfend und durchsichtig und kurz
herauszuziehen, ist ein Versuch, der am zweiten Tage nach dem Schluß einer
so mannichfaltigen Debatte nicht gelingen könnte. Der Stoff wird diesmal
weder veralten noch bis zum nächsten Briefe durch bedeutendere Ereignisse
überholt sein. Wir versparen uns den Versuch für den nächsten Brief.
Rechts- und Staatsphilosophie von Dr. Wilhelm Fischer. Leipzig,
Verlag für moderne Sprachen und Literatur. 1879.
Der Verfasser meint es mit seinen Betrachtungen, die zuletzt zu Prophe¬
zeiungen werden, augenscheinlich gut, aber der «Staat, den er sich ausspintisirt
hat, die Organisation der Menschheit, von der er träumt, haben nie bestanden
und werden nie entstehen, wenigstens nicht, so lange Menschen Menschen sind.
Es ist eine Menschheit ohne Fürsten und ohne Gott. „Wenn alle Staaten
Republiken geworden sind (S. 174), ist auch an deren Stelle schon die Mensch¬
heit getreten. Dann wird kein Krieg mehr sein, sondern ewiger Friede. Die
Menschen werden den letzten Rest feudaler und kirchlicher Gesinnung verloren
haben, sie werden froh sein, nicht Aristokraten oder Unterthanen, nicht Juden
oder Mohammedaner, sondern freie Menschen zu sein im vollsten und edelsten
Sinne. Es wird keine Knechtschaft mehr sein, sondern Freiheit; den Glauben
wird das Wissen, den Wahn die Wahrheit besiegen; statt der Religionen wird
die Liebe herrschen, der Gott der Menschheit, und weil die Liebe der Mensch
selbst ist, so ist der Mensch sein eigener Gott" u. s. w. Der Buddhismus,
„die höchste Religion", „der das Mitleid, die schönere und innigere Seite der
Liebe, als Inhalt und Richtschnur alles gläubigen Handelns hinstellt", wird
die Welt umgestalten, zunächst seine Anhänger (dann, dürfen wir hinzusetzen,
auch alle klebrigen) „ohne gewaltsames Umstürzen des Bestehenden auf un¬
merklichen Pfaden leise zur reinen Menschlichkeit hinüberführen und zu Buddha's
machen". Offenbar hat der Verfasser seine Studien auf einer Universität in
Utopien gemacht, und wir sind froh, daß sein goldenes Zeitalter in den nächsten
zehntausend Jahren noch keine Aussicht auf Verwirklichung hat.
Die Aufgabe, eine Darstellung der gegenwärtigen politischen Lage im
Orient, in allgemeinen Umrissen und unter Ausschließung unbedeutenderer
Einzelheiten zu geben, ist keine ganz leichte. Einmal schon deshalb, weil
die Situation als keine feste und die sie bestimmenden Tendenzen der
Mächte kaum als unveränderliche anzusehen sind. Sodann aber namentlich
darum, weil Manches, was an und für sich wichtig und für die Weiterent¬
wickelung der Dinge mitbestimmend ist, sich der näheren Beobachtung entzieht.
Selbst die Ziele der russischen Politik, von der man im Allgemeinen annimmt,
daß die Initiative sich auf ihrer Seite befinde, und daß sie, eben um deswillen,
den Vortheil genieße, das positivste Programm zu besitzen, haben in verschie¬
denen Augenblicken sichtlichen Schwankungen unterlegen. Im Besonderen kann
darüber kaum ein Zweifel bestehen, daß seit Einstellung der Feindseligkeiten
die Bestrebungen des Se. Petersburger Kabinetes in Betreff des zwischen ihm
und der Pforte in Zukunft herzustellenden Verhältnisses sich zwischen zwei
Polen bewegten. Der eine derselben wird durch den Gegensatz der türkischen
und moskowitischen Interessen, der ein alter und von der Tradition getragener
ist, bezeichnet. Der andere dagegen war in der Chance gegeben, die man,
namentlich im April 1878, also etwa vor Jahresfrist, zu besitzen meinte, die
Türkei in den Kreis der russischen Beeinflussung hineinzuziehen und für die
Dauer darin fest zu halten. Im Falle des Gelingens dieses letzteren Planes
würde sich die politische Machtsphäre des Czarenreiches wie durch einen
Zauberschlag erweitert haben, und zwar bis zu den fernsten für sie überhaupt
in Aussicht zu nehmenden Grenzen. Das waren russische Hoffnungen, die
seitdem, wie es scheint, begraben wurden und nur unter der Voraussetzung, daß
ganz besondere Umstünde eintreten, wieder auferstehen könnten. Immerhin
haben sie den Eindruck zurückgelassen, daß es für die russische Politik dem
osmanischen Reiche gegenüber zwei sehr verschiedene Wege gebe, um zum Ziele
zu gelangen: den der direkten und brutalen Gewalt, und einen andern, der
die sich entgegenstellenden Hindernisse zu umgehen sucht. Und worin auch immer
der Mißerfolg der Versuche gelegen haben mag, auf dem letzteren vorwärts
zu kommen, sicher hat man ihn nicht vollkommen aufgegeben. In dieser Hin¬
sicht besteht ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen derjenigen russischen
Politik, welche ihren Abschlußpunkt in dem Präliminarfrieden von San
Stefano (3. März 1878) gefunden hat, und der heutigen. Jene befand sich
durchaus in der ersteren Richtung engagirt. Ihr entschiedenster Leiter und
Wortredner war General Jgnatieff, der bekannte russische Diplomat, welcher
vor dem letzten Kriege lange Jahre hindurch als Botschafter des Czaren bei
der Pforte maßgebenden Einfluß auf die Stellung Rußland's im Orient aus¬
geübt und schließlich seinerseits wesentlich den Ausbruch des Konflikts herbei¬
geführt hat. Ein Verbleiben auf dieser Bahn nach dem Vertrage von San
Stefano hätte unfehlbar zum europäischen Kriege, zunächst zu einem russisch¬
britisch-türkischen, geführt. In dieser Voraussicht lag für das Se. Petersburger
Kabinet damals das bestimmende Motiv zur Umkehr. Dabei bleibt es schwer,
auch nur annähernd sicher zu ermitteln, wie Rußland hente zu der Weiter¬
entwickelung der hiesigen Dinge Stellung zu nehmen gedenkt, und namentlich
in welcher Weise es glaubt gewissen Forderungen Nachdruck geben zu können,
über deren Berechtigung, so weit sie durch den Traktats-Wortlaut allein be¬
dingt ist, nicht füglich irgend ein Zweifel bestehen kann. Es gehört dazu vor
Allem die in voller Form Rechtens für den Czaren stipulirte Befugniß, auf einer
ihm durch die Türkei zu zahlenden Kriegsentschädigung im Betrage von 300
Millionen Franks zu bestehen. Daß man diese Bedingung in den definitiven
Friedensvertrag vom 8. Februar dieses Jahres aufgenommen hat, obgleich
beide Theile im voraus wissen und sich darüber vollkommen klar sein mußten,
daß sie unter keinen Umständen von der Pforte erfüllt werden könne, ist
allermindestens sehr bezeichnend. So weit sich die Sache heute absehen läßt,
wird Rußland zunächst nichts thun, um seiner formell berechtigten, aber zu
dem Leistungsvermögen des osmanischen Finanzwesens außer allem Verhältniß
stehenden Forderung Nachdruck zu geben. Allein augenscheinlich behält es sich
vor, die Angelegenheit in einem späteren, geeigneteren Moment zur Sprache
zu bringen, wie sie ihm denn überhaupt als ein Hebel gilt, den es gelegentlich
anzusetzen nicht versäumen wird. Daß man bis jetzt alle Vereinbarungen in
Betreff der Verzinsung dieser Schuldsumme umgangen, diese hochwichtige
Frage unerledigt gelassen hat, dürfte sich nicht mit der Unmöglichkeit allein
erklären lassen, in der die Pforte sich befindet, einer derartigen Verbindlichkeit
nachzukommen. Da den früheren, durch den osmanischen Staatsschatz kontra-
hirten Schulden eine Priorität vor der russischen Forderung zugestanden wor¬
den ist, so erstreckt sich dieses Vorrecht derselben auch auf die Zinszahlungen,
und Rußland kann wegen der letzteren einen Anspruch auf Befriedigung nicht
erheben, wenn nicht zuvor die Pforte dem von früher her datirenden Genüge
geleistet hat. Der Eindruck, den man aus einer eingehenderen Ueberlegung
dieser Dinge gewinnt, ist der, daß es sich dabei wesentlich um Fiktionen
handelt, weil, in Anbetracht der vollkommenen Aussichtslosigkeit auf Be¬
friedigung, auch selbst dem der Form nach wohl begründetsten Anrecht keine
reale Bedeutung inne wohnt. Andererseits aber bleibt zu erwägen, daß die Nicht¬
erfüllung einer finanziellen Leistung seitens der Pforte an Rußland diesem
das Recht sichert, später eine anderweitige Entschädigung zu beanspruchen,
und eben in diesem hochwichtigen Umstände dürfte der eigentliche Kern der
Frage enthalten sein. Ob man in Se. Petersburg entschlossen ist, die bezüg¬
lichen Stipulationen des Irnitö äöünitik vom 8. Februar d. I. schon dem¬
nächst zu einer nachdrücklichen Einmischung in die inneren türkischen Ange¬
legenheiten zu benutzen, darüber laßt sich heute kein bestimmtes Urtheil auf¬
stellen — wahrscheinlich ist es nicht. Am wenigsten unterstützt die Haltung
der gegenwärtigen russischen Vertretung zu Konstantinopel eine solche An¬
nahme. Im Unterschied von anderen tritt sie den osmanischen Staatsmännern
gegenüber entschieden minder brüsk, in entscheidenden Augenblicken sogar behut¬
sam, mit vorbedachter Rücksicht und in glatten, schmiegsamen Formen auf.
Sie faßt die streitigen Dinge mit Sammethandschuhen an und nicht mehr
rauh und hart wie ehedem. Wenn es sich dennoch darum handelt und es
sich als unvermeidlich herausstellt, dem Divan eine bittere Pille einzugeben, so
weiß die hiesige russische Diplomatie sie sorgsam zu überzuckern und zu ver¬
golden. Das Alles ist augenscheinlich ebensowohl auf die Nothwendigkeiten
des Augenblickes, die Rußland darauf anweisen, jede neue Verwickelung zu
vermeiden, wie namentlich auch auf die Zukunft berechnet, für die man sich die
Alternative wahren will, je nach Umständen den einen oder anderen der beiden
vorerwähnten, so sehr von einander verschiedenen Wege nach dem Endziel hin
einzuschlagen. Auch scheint unter Bezugnahme hierauf, unmittelbar nach den
Präliminarien von San Stefano, die Wahl des neuen Repräsentanten des
Czaren getroffen worden zu sein. Fürst Lobanoff Rostowski ist nicht nur in
seinem äußeren Wesen und Auftreten von seinem Vorgänger, dem General
Jgnatieff, sehr verschieden. Unter allen in der Schule des auswärtigen diplo¬
matischen Dienstes gebildeten russischen Staatsmännern war er entschieden der¬
jenige, welcher für die eben bezeichnete Aufgabe als der bei weitem geeignetste
erschien. Schon früher, zu Ende der fünfziger und zu Anfang der sechziger
Jahre, als Botschafter bei der Pforte verwendet, kennt er aus der Periode
dieser längeren Amtsthätigkeit die hiesigen Verhältnisse ziemlich genau. Seit¬
dem sind allerdings neue Persönlichkeiten hier emporgekommen, und die
damals leitend und einflußübend gewesenen sind abgetreten. Allein den
eigentlichen Typus der türkischen Dinge verändert solcher Wechsel kaum auf
der Oberfläche, und wer einmal in die bezüglichen Verhältnisse sich eingelebt
hat, wird für alle eintretenden Fälle der Orientirung nicht ermangeln. Mit
einer gewissen Milde im Auftreten verbindet Fürst Lobcmoff eine den hohen
russischen Beamten nicht häufig eigene Urbanität. Er kann sehr verbindlich
sein und nimmt keinen Anstand, diese seine Eigenschaft selbst da, wo er formelle
und ganz kategorische Forderungen zu stellen hat, nach Möglichkeit noch vorwiegen
zu lassen. Dies war unmittelbar nach dem Februar-Verträge der Fall. Seine
damals in der Angelegenheit der Kriegsentschädigungs-Frage eingereichten Noten
gaben den ihm gewordenen Aufträgen augenscheinlich den bestimmtesten Ausdruck,
aber immer doch in einer Art und Weise, welche alles Verletzende sorgsam
vermied.
Unter den, den gegenwärtigen Repräsentanten des Kaisers Alexander bei
der Pforte umgebenden Persönlichkeiten nimmt, wenn auch nicht dem Range,
so doch der eigentlichen Bedeutung nach, Staatsrath Onon die hervor¬
ragendste Stellung ein. Seit etwa zwanzig Jahren bereits in Konstantinopel
und unausgesetzt im dortigen diplomatischen Dienst in der Branche des Drago-
manats verwendet, für welche er die trefflichste Vorbereitung als ehemaliger
Zögling der orientalischen Akademie zu Se. Petersburg erhalten hatte, war er
der beste Gehilfe, den General Jgnatieff, als es sich um die Präliminarien
handelte, auswählen konnte, und wenn bei diesen Verhandlungen Fehler be¬
gangen worden sind, so kommen sie auf Onon's Rechnung am allerwenigsten.
Entschiedener noch traten seine eminenten Fähigkeiten bei Einleitung und
Durchführung der in jeder Beziehung höchst schwierigen Negoziation her¬
vor, welche er an der Seite des Fürsten Lobanoff und wohl eigentlich als
dessen rechte Hand, im letztvergangenen Winter zu führen hatte, und deren
Endergebniß der Traktat vom 8. Februar war. Wenn die Angabe be¬
gründet wäre, wonach der heutige russische Vertreter demnächst vou seinem
hiesigen Posten abberufen werden würde, um in London an die Stelle des
Grafen Peter Schuwaloff zu treten, so könnte unter allen Umständen des Staats¬
rathes Onon Bedeutung dadurch nur gesteigert werden, weil jeder neue czarische
Botschafter zu Konstantinopel, wer es auch immer werden möge, bei Erle¬
digung der an ihn übergehenden Hauptfragen der Beihilfe eines Mannes nicht
entbehren könnte, der so wie jener heute als die bedeutendste russische Autorität
in orientalischen Dingen angesehen werden muß.
Der Augenblick, in dem ich dies schreibe, ist einer der wichtigsten für die
Weiterentwickelung der Beziehungen Rußland's zur Türkei. Seit dem 3. Mai
Abends weilt der General-Adjutant des Czaren, Obrutscheff, hier und hatte
bald danach eine Audienz beim Sultan, um demselben ein autographes
Schreiben seines Gebieters zu übergeben. Man mißt demselben einen konzi-
liatorischen Inhalt bei. Wie weit die Regelung der ostrumelischen Frage ihrem
Ziele dadurch entgegengeführt werden wird, kann zur Stunde noch nicht fest¬
gestellt werden. Die türkischen Blätter ließen im Widerspruch mit anderen
Nachrichten durchblicken, daß die Pforte in Betreff der von ihr beanspruchten
Okkupation des Passes von Jchtiman kaum nachgeben dürfte. Wie dem auch
sein mag, einer Lösung treiben diese Dinge gleichwohl entgegen, und zwar ist
anzunehmen, daß dieselbe noch in den laufenden Monat fallen werde.
Man hat sich daran gewöhnt, der russischen Politik im Osten als schärfsten
Gegensatz die dortigen britischen Bestrebungen gegenüber zu wissen. Aber
auch letztere sind Schwankungen unterworfen gewesen und haben am wenigsten
in der jüngsten Zeit mit Konsequenz an ein und derselben Richtlinie festgehalten.
Wenn hierbei im Allgemeinen das Temperament des leitenden britischen Staats¬
mannes, Lord Beaconsfield's, im Besonderen seine Neigung, sich durch plötzliche
Eingebungen des Augenblickes bestimmen zu lassen und Phantasiegebilden nach¬
zugehen, verantwortlich gemacht werden muß, so fällt daneben ein Theil der
Schuld wohl auch seinem, nächst ihm selber einflußreichsten Amts-Kollegen, dem
Marquis von Salisbury zu, dessen Anschauungen über die letzten Ziele der
englischen Interessen in dieser Weltgegend ebenfalls der Stetigkeit entbehren,
wie denn auch die Illusionen, denen sich namentlich im vergangenen Jahre
der eben jetzt von seinem langen Urlande aus England hierher zurückkehrende
englische Botschafter, Sir Austin Layard, hingegeben hatte, innerhalb des be¬
züglichen Kausal-Nexus nicht zu übersehen sind.
Es darf als ein Fundamentalsatz der britischen Orient-Politik angesehen
werden, daß England unter allen Umständen danach zu streben habe, einen
dominirenden Einfluß auf die Pforte auszuüben. Auf dieser prinzipiellen
Grundlage baut sich das auch heute uoch immer schwankende und luftige Ge¬
bäude der englischen Stellung im Osten auf. Dieselbe ist durch die Voraus¬
setzung bedingt, daß, da England das osmanische Reich unter keinen Umständen
jemals seinen Besitzungen wird einverleiben können, mindestens dem britischen
leitenden Willen dort die Vorhand zu sichern sei, und zwar vor allem um der
Raumstellung willen, welche die türkischen Lande auf dem Wege von Europa
nach Hindostan einnehmen. Am entschiedensten würde dieses englische Interesse
durch eine Theilung der Türkei durchkreuzt und gefährdet werden. Umgekehrt
wäre es am sichersten und nachdrücklichsten gewahrt, wenn die Integrität der
Besitzungen des Sultans nach Möglichkeit aufrecht erhalten werden könnte.
Auf dieses letztere Ziel laufen mithin durchaus logisch die englischen Bestre¬
bungen hinaus. Namentlich als die orientalische Krisis im Jahre 1875 aus¬
brach, ließ es sich England angelegen sein, der anders gewendeten Tendenz der
Politik der drei europäischen Ostmächte mit Entschiedenheit entgegen zu treten;
auch der dabei gleich anfangs und in den nachfolgenden Jahren geerntete
entschiedene Mißerfolg ist nicht im Stande gewesen, die britische Politik auf
die Grundlage Verzicht leisten zu lassen, auf der sie von allem Anfang an
Stellung genommen hatte, wie schwankend und unsicher dieselbe auch seitdem
geworden war. Eine der charakteristischsten Eigenheiten britischer Staatsmänner
besteht, neben den Schwankungen, denen sie beim Verfolgen ihrer Aufgaben
unterliegen, und deren ich in Bezug auf das heutige Kabinet und dessen orien¬
talische Politik bereits Erwähnung gethan habe, in einer gewissen Ehrfurcht vor
dem, was seither bestanden hat, mag es auch aus der Rumpelkammer längst
ausgelebter Zeiten stammen, und in der Zähigkeit, mit der sie daran festhalten.,
Nachdem die Länder im Norden des Balkan's definitiv für die Pforte verloren
gegangen waren, wollte das Londoner Kabinet mindestens diese Gebirgskette
als eine nicht nur politische, sondern namentlich zugleich militärische Grenze
des osmanischen Reiches gewahrt wissen. Es handelte sich mithin, im recht
eigentlichen Sinne, um das Festhalten einer türkischen Vertheidigungsfront.
Dabei ließ man sich durch die Ueberlegung bestimmen und leiten, daß die os¬
manischen Besitzungen nicht füglich auf einen geringeren Raumumfang reduzirt
werden könnten, ohne daß sich gleichzeitig und in unmittelbarer Folge davon
in der betreffenden Weltgegend die Sphäre des dominirenden englischen Ein¬
flusses und der entschiedenen Geltung des britischen Prestige's ebenfalls ver¬
enge. In diesem Falle haben wir, ähnlich wie in der Angelegenheit der dnrch
die Pforte vertragsmäßig an Rußland zu leistenden Kriegsentschädigung, noch
einmal eine erwiesene Unmöglichkeit vor uns, doch mit dem Unterschiede, daß
die Illusion sich nicht wird auf längere Dauer aufrecht erhalten lassen, weil
andere, den britischen entgegenlaufende Interessen darauf angewiesen sind, den
Thatsachen zu ihrem Reckte zu verhelfen. Ich nehme Anstand, hier auf die
Details einzugehen. Die in Rede stehende Frage macht den Gegenstand von
Verhandlungen aus, die, augenscheinlich noch nicht zum Schluß gediehen, sich
gleichwohl demselben nähern. Hier wird und muß England schließlich nach¬
geben, wenn es nicht in unüberlegter und nicht zu rechtfertigender Weise auf's
neue schwere Verwickelungen heraufbeschwören will. Daß eine solche Gefahr
thatsächlich noch besteht, ist indeß kaum wahrscheinlich, vielmehr macht Alles,
was man jüngst beobachten konnte, den Eindruck, als ob die beiden rivalistrenden
Kabinette, das Londoner und das Se. Petersburger, am Vorabend eines^Kom-
promisses ständen, dessen endliches Zustandekommen nicht verfehlen kann, be¬
ruhigend auf die allgemeine Lage einzuwirken.
Einen viel bedeutenderen und in seinen Konsequenzen weiter reichenden
Mißgriff, als bei Aufstellung der Balkan-Linie als neue Grenze für das
osmanische Reich und als eine Defensivfront desselben, beging die britische Politik
bei Einleitung der Unterhandlungen, die, zunächst auf die Erwerbung der Insel
Cypern bezugnehmend, die schließliche Unterstellung der asiatischen Türkei
unter das britische Protektorat als Endziel verfolgten. Was man in der
denkwürdigen, vor Jahresfrist (Mai 1878) anhebenden und gegen Ende vorigen
Jahres (Dezember 1878) abschließenden Negoziation über die im osmanischen
Reiche unter den Auspizien England's einzuführenden Reformen erstrebte, unter¬
schied sich sehr wesentlich von alledem, was die britische Politik bis dahin sich
vorgesetzt hatte, wie es denn auch von dem anderen durchaus verschieden sein
dürfte, was sie seitdem sich zur Aufgabe stellte. Lord Beciconsfield ließ sich
von seiner lebhaften Einbildungskraft nichts Geringeres vorspiegeln, als die
Möglichkeit, den Sultan der Osmanen und Chef des Islam auf den Stand-
Punkt eines indobritischen Vasallenfürsten herabzudrücken. Einem solchen Plane
gegenüber mußte unausbleiblich das türkische Selbstgefühl und der musel¬
manische Stolz elastisch emporschnellen. Befremden darf es einigermaßen, daß
von der englischen Oppositionspresse die allerschwerste Berirrung, in welche
damals das englische auswärtige Amt hineingerathen war, nicht in ausreichen¬
der und gebührender Weise hervorgehoben worden ist. Die Erklärung dafür
dürfte darin zu suchen sein, daß an dem bezüglichen Rechnungsfehler nicht die
beiden leitenden Lords, Beaconssield und Salisbury, ja die Tory-Partei selber
nicht ausschließlich die Schuld tragen, sondern daß sie dieselbe mit der um jene
Zeit erregten und sich übertriebenen Erwartungen hingebenden ganzen britischen
Nation zu theilen haben. Namentlich hatte anfänglich über den reellen Werth
der Erwerbung der Insel Cypern für England das britische Volk im All¬
gemeinen sich durchaus falschen und viel zu weit gehenden Voraussetzungen
überlassen. Niemand schien in den Juli-Tagen des vorigen Jahres eine
Ahnung davon zu haben, daß dem Vertrage vom 4. Juni ein höherer Werth
nicht inne wohne, und daß er im Grunde genommen die Bestimmung haben
dürfte, eine taube Nuß zu bleiben. Allerdings hatte er Folgen und selbst
ziemlich weit reichende. Allein dieselben sollten nicht entfernt den britischen
Interessen zu statten kommen, sondern sich ganz im Gegentheil mit Ent¬
schiedenheit wider dieselben wenden.
Für diese unerwartete Wandlung in der Gestaltung der türkisch-britischen
Beziehungen ist es entscheidend geworden, daß Frankreich bereits im Januar
1878 einen damals, mindestens im Auslande, noch ungekannten oder doch nicht
nach Gebühr gewürdigten, wenn auch neuerdings über Verdienst hinaus in
der öffentlichen Meinung erhobenen Staatsmann von unbestreitbar großer und
hervorragender Befähigung nach Konstantinopel gesendet hatte. Henry Four-
mer, obgleich damals im Grunde genommen noch Neuling auf dem Felde der
praktischen Politik, bekundete dennoch beim unmittelbaren Anfassen und-Be¬
handeln der an ihn herantretenden Fragen sofort eine in die Augen fallende
Meisterschaft, die ihn alsbald in der Reihe der hervorragenderen europäischen
Staatsmänner würde haben Platz nehmen lassen, wenn er minder empfänglich
für den berauschenden Einfluß erster Erfolge gewesen wäre. Sein Hauptver¬
dienst in der Anfangs-Epoche seines hiesigen Auftretens dürfte darauf zurück¬
zuführen sein, daß er, durch die Auffassung, von der sich seine Chefs in Paris
damals beherrschen ließen, unbeirrt, mit scharfem Blick die Schwäche der bri¬
tischen Position im Orient heraus erkannte und — allerdings ohne dafür sofort
die verdiente Beachtung zu finden — die Mittel vorschlug, durch welche derselben
beizukommen sei. Namentlich wußte er es hervorzuheben und nachdrücklichst
zu betonen, daß innerhalb der Leere, welche die ehrgeizigen und herrschafts¬
lüsternen Pläne des englischen Kabinettes zwischen diesem und der Pforte er¬
zeugt hatten, der Raum für Frankreich sich bieten dürfte, um sich zwischen
beide trennend einzuschieben und die vorwiegenden Sympathieen des Sultans
und seiner Räthe für eine Macht zu gewinnen, die besser als England den
türkischen Empfindlichkeiten Rechnung zu tragen und sie zu schonen verstände.
Sein eigentliches diplomatisches Debüt leitete Herr Fournier im Monat
Juli des vorigen Jahres ein unter Benutzung der soeben erwähnten vor¬
theilhaften Umstünde, und unter gleichzeitiger Verwerthung der Kenntniß hiesiger
Verhältnisse, die er sich seit Januar 1878 zu verschaffen verstanden hatte, ohne daß
irgend Jemand vorher seine Absichten zu errathen vermochte. Ueber manche
Vorfälle, die der bezeichneten Periode angehören, und die man im Allgemeinen
geneigt sein möchte, mit den Plänen des französischen Botschafters in Ver¬
bindung zu bringen, ist, auch bis zum gegenwärtigen Augenblick, noch kein
klares Licht verbreitet worden. Diese Bemerkung bezieht sich namentlich auf
die bereits um jene Zeit sich vorbereitende Berufung des ehemaligen Premier-
Ministers des Beys von Tunis, Khaireddin Pascha, nach Konstantinopel. Ging
die Anregung dazu von Frankreich aus? War es namentlich der Einfluß
seines unternehmenden Botschafters, der die bezügliche Entschließung des Sul¬
tans zu Wege brachte? Es sind dies Fragen, auf welche eine sichere Antwort
heute noch nicht gegeben werden kann. Mit mehr Aussicht, nicht in Irrthum
zu verfallen, kann man andere damalige Vorgänge beurtheilen. Ende Sep¬
tember erschien hier in Konstantinopel ein ehemaliger Ordonnanz-Offizier des
Kaisers Napoleon III., der französische Ingenieur-Major Dreyssö (der Name
ist genau der des Erfinders der preußischen Zündnadelgewehre), der vor 11 Jahren
1867, als der jetzt regierende Sultan, und zwar damals noch als Prinz und
im Gefolge seines Oheims, des Sultans Abdul Assiz, sich in Paris befand,
dort demselben als Ordonnanz-Offizier beigegeben worden war. Er nahm
anfangs im hiesigen Hotel de Bysance sein Quartier, wurde aber bald danach
aufgefordert, ein Logis im Palais von Dolma Bagdsche zu beziehen, bis man
ihm endlich Zimmer in Tildis Kiosk, dem Residenzschlosfe des Sultans selber,
zur Verfügung stellte. Augenscheinlich war es die Hand Fournier's, die dies
alles arrangirt hatte. Es handelte sich darum, den französischen Ingenieur-
Offizier die Stelle eines militärischen Sekretärs des osmanischen Souve¬
räns und in dessen unmittelbarster Umgebung einnehmen zu lassen, wobei es
wiederum auf die Gewinnung von direktem Einfluß zu Gunsten und für die
Zwecke der französischen Botschaft auf die Person Abdul Hamid's abgesehen war.
Im Januar d. I. mochte die damit eingeleitete Wendung der Dinge auf
ihren Höhepunkt gediehen sein. Mit richtigem Blick hatte Fournier heraus
erkannt, daß er seinen damals mit Entschiedenheit bereits in den Vordergrund
getretenen und in gewissem Sinne herrschend oder doch mindestens vorwiegend
gewordenen Einfluß nur dann auf eine durchaus feste und Gewähr bietende
Grundlage werde stellen können, wenn es ihm gelingen würde, dem osmanischen
Reich über die seine Regierung am meisten bedrückenden inneren Verlegen¬
heiten, die finanziellen, hinweg zu helfen. Zu diesem Zwecke hatte er selber,
im November 1878, eine Reise nach Frankreich antreten wollen; allein dem
Plane waren damals unüberwindliche Hindernisse in den Weg getreten, und
schließlich begnügte sich der Vertreter der französischen Republik damit, die
bezüglichen Anknüpfungen auf dem Korrespondenzwege zu bewirken. So geschah
es denn, daß um Neujahr der Marquis de Tocqueville als Delegirter des
Pariser Comptoir d'Escompte in Konstantinopel erschien, mit Vorschlägen und
Versprechungen, denen allerdings die eigentliche Basis einer vollkommenen Ver¬
ständigung über ihre eventuelle spätere Ausführung mit den Auftraggebern
selbst noch fehlte, und denen in Folge davon ein ganz ähnliches Fiasko, wie es
England kurz zuvor mit seinen Reformvorschlägen erlebt hatte, mit unaus¬
weichlicher Nothwendigkeit nachfolgen mußte.
Dieser Fehlschlag mußte natürlich, auf die hiesige Stellung des fran¬
zösischen Botschafters um so nachtheiliger zurückwirken, als derselbe, durch
seine seitherigen Erfolge kühn gemacht und in gewissem Sinne verblendet, sich
an die ihm aus Frankreich durch den leitenden Minister Waddington übersendete
Instruktion nicht streng gebunden hatte und namentlich in Hinsicht auf die
Zur Bekämpfung des hiesigen britischen Einflusses unternommenen Schritte
weiter gegangen war, als es in Paris gutgeheißen werden konnte.
Fürst Bismarck hat vor Jahren den treffenden Ausspruch gethan, daß,
sobald ein diplomatischer Neuling als Chef einer großen politischen Mission
nach Konstantinopel komme, er starke Gefahr laufe, an seinem gesunden Menschen¬
verstand Schaden zu nehmen. Dieses schneidende Wort läßt sich auch auf den jetzigen
hiesigen Repräsentanten Frankreich's, ungeachtet mancherlei bedeutender Eigen¬
schaften, die ihn auszeichnen, in seiner vollen Schärfe anwenden. Herr Fournier
glaubte offenbar hier nicht nur auf eigene Hand französische Politik machen, sondern
mittelst derselben vornehmlich auch seinen eigenen persönlichen Interessen, die er
mit den hochfliegendsten Projekten in Verbindung gestellt haben soll, dienen
zu können. Indem er auf so exzentrischen Bahnen vorwärts zu kommen bemüht
war, konnte es nicht ausbleiben, daß er sich schließlich auf Abwege verirrte,
ähnlich wie die englische Politik vordem von ihren Zielen abgewichen und zum
Opfer der Fata Morgana trügerischer Phantasiegebilde geworden war. Bereits
Ende Februar, nachdem Sir Austin Layard von hier nach London abgereist war,
wurde die Eventualität einer von dem französischen Botschafter anzutretenden
mehrmonatlichen Urlaubsreise nach Paris besprochen, und nachdem der vorerwähnte
Major Dreyssi am 12. März Konstantinopel verlassen hatte, folgte ihm sein
diplomatischer Chef am 21. April nach. Daß es sich dabei nicht wesentlich
um Geschäfte handeln konnte, die in Frankreich feine Gegenwart erheischt
hätten, wurde aus der Langsamkeit ersichtlich, mit der Herr Fournier sich auf
sein Reiseziel zubewegte. Er nahm seinen Weg über Smyrna und hielt sich
dort mehrere Tage auf. Erst Mitte vorigen Monats traf er in Marseille ein.
Wie jetzt verlautet, dürfte er seine Rückreise nach Konstantinopel nicht vor dem
25. Mai antreten und eben noch rechtzeitig hier eintreffen, um der Eröffnung
der in der griechisch-türkischen Grenzrektifikationsfrage zu führenden Unter¬
handlungen beiwohnen zu können.
Unser Ueberblick über die jüngsten Bestrebungen der russischen, britischen
und französischen Orient-Politik läßt erkennen, daß alle drei nicht das
erreicht haben, was sie sich anfänglich als Ziel vorgesteckt. So versuchen sie
sich jetzt auf neuen Wegen, in Betreff deren man gespannt sein darf, welcher
Theil den anderen am ehesten den Vorsprung abgewinnen wird. Frankreich
hatte die vergleichsweise bedeutendsten Chancen in den Händen, seinen Einfluß
für längere Dauer zum herrschenden zu machen. Wie die Dinge aber gegen¬
wärtig liegen, will es scheinen, als ob dem augenblicklich zurückerwarteten
britischen Botschafter sich überwiegende Aussichten auf eine erfolgreiche Wirk¬
samkeit eröffneten.
Bei der Spannung, mit welcher man die politischen Ereignisse verfolgte,
konnte die eigentliche Literatur nicht wohl aufkommen; es zeigt sich eher ein
Rückgang.
Lessing war im besten dramatischen Schaffen. Nicolai hatte gleich bei
Begründung der „Bibliothek" einen Preis für ein gutes Trauerspiel ausgesetzt.
Lessing rieth im Sommer 1758, ihn dem „Kodrus" zu ertheilen, einem freilich
schwachen Versuch des jungen Herrn v. Cronegk, eines Freundes von Gellert.
Dieser, ein vermögender Mann, hatte gewünscht, daß für diesen Fall der Preis
zu dem des folgenden Jahres geschlagen werden solle; mittlerweile, hofft
Lessing, werde ein junger Dichter mit einer besseren Tragödie fertig werden, „von
dem ich mir nach meiner Eitelkeit viel Gutes verspreche. Er arbeitet ziemlich
wie ich: er macht alle sieben Tage sieben Zeilen; er erweitert unaufhörlich
seinen Plan, und streicht unaufhörlich etwas von dem schon Ausgearbeiteten
wieder aus. Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel
Emilia Galotti gegeben hat. Er hat nämlich die Geschichte der römischen
Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interes¬
sant macht; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem
Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist als ihr Leben, für sich
tragisch genug und fähig sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch kein
Umsturz der Staatsverfassung daraus folgte. Seine Anlage ist nur von drei
Acten, und er braucht ohne Bedenken alle Freiheiten der englischen Bühne."
Ob aus Cronegk, sowie aus dem noch jüngeren v. Brawe, der gleichfalls
ein Stück „Der Freigeist" geliefert hatte, im Laufe der Zeit etwas geworden
wäre, läßt sich nicht ausmachen; sie starben beide rasch nach einander. An
dem, was sie bis dahin geleistet, war eigentlich nur der gute Wille zu loben.
Da Kleist aus Leipzig abging, so kehrte Lessing im Mai 1758 zu
seinen Freunden nach Berlin zurück. Diese hatten sich immer enger an ein¬
ander geschlossen; wöchentlich kamen sie zusammen, um freie Vorträge zu halten:
Sulzer, Ramler, Mendelssohn, Nicolai, Resewitz, Premontval und
viele Andere, darunter auch die Musiker Marpurg und Fnsch und der
Zeichner Chodowiecky, damals 30jährig, aus Danzig, der eben Holzschnitte
für den Berliner Kalender arbeitete, und aus dessen Bildern man mehr von
dem damaligen Leben erfährt, als aus vielen poetischen Versuchen.
In diesem Kreise, der sich in gewissen Sinn an die französische Kolonie
anlehnte, überwog die kritische Richtung; es war entscheidend für Lessing, der
freilich Allen weitaus überlegen war, daß er in einer Periode hineinkam, wo der
Charakter sich zu bilden pflegt. Aus dieser Wechselwirkung entsprang die Be¬
deutung Berlin's für die deutsche Literatur. Lessing kam nach Berlin mit
der Idee, an Fruchtbarkeit mit Lope de Vega zu wetteifern; er erkannte bald,
daß seine Aufgabe zunächst eine kritische war.
Die Geschichte der modernen deutschen Literatur hat das Eigene, daß sie
nicht mit der Produktion, sondern mit der Kritik beginnt, daß sie nicht ursprüng¬
lich bildet, sondern nach Bildung strebt. Sie geht nicht aus einem Ueberreich¬
thum entwickelter und gebildeter nationaler Kräfte hervor, sondern aus einem
Gefühl des Mangels: den unbeholfen sich drängenden Kräften fehlt es an
Sättigung. Sie beginnt mit dem Gefühl von der Hohlheit des bisherigen poe¬
tischen Treibens, mit dem leidenschaftlichen Abscheu gegen leere Worte und
behagliche Spielereien, mit dem Hunger nach Realität, mit dem wilden Umsich¬
greifen nach dem Wahren und Schönen. Die Kritik ruft in der deutschen Poesie
einen ähnlichen Prozeß hervor, wie der preußische Staat im deutschen Reiche.
Im Januar 1759 erschien in Berlin das erste Heft der „Briefe die neueste
Literatur betreffend", an einen verwundeten Offizier gerichtet. „Die zwei ge¬
fährlichen Jahre," schreibt Lessing hier, „die Sie der Ehre, dem König und dem
Vaterland opfern müssen, sind reich genug an Wundern, nur nicht an gelehrten
Wundern gewesen. Gegen hundert Namen, die alle erst in diesem Krieg als
Namen verdienstvoller Helden bekannt geworden, gegen tausend kühne Thaten,
an welchen Sie Theil hatten, kann ich Ihnen nicht ein einziges neues Genie
nennen, kann ich Ihnen nur sehr wenig Werke schon bekannter Verfasser an¬
führen, die mit jenen Thaten der Nachwelt aufbewahrt zu werden verdienten."
Das Inventar fällt in der That nicht glänzend aus, Lessing muß einen
Augiasstall auskehren. Unwissenheit, Halbheit, Trivialität, Unsinn werden
schonungslos gegeißelt; im Aufsuchen des corpus vns, an dem er seine Sonde
übt, spielt oft der Zufall seine Rolle; bramarbasirende Schreihälse und Viel¬
schreiber greift er am liebsten heraus; am eifrigsten fällt er über sie her, wenn
sie sich durch schlechte Uebersetzungen an der deutschen Sprache oder an den
Alten versündigen. Denn überwiegend philologisch ist die ganze Kritik, und
nicht selten glaubt man ein „Vademecum" zu lesen.
Daneben tritt das dramatische Interesse in den Vordergrund. Lessing
hatte seine Ideen in einer Korrespondenz mit Nicolai dargelegt; sie sind um
so interessanter, da sie einen sehr entschiedenen Gegensatz gegen Winckelmann
aussprechen: dieser sucht das Schöne in der Ruhe, Lessing in der Bewegung.
„Die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mit¬
leid zu fühlen, erweitern. Wer uns mitleidig macht, macht uns besser und
tugendhafter. Das Trauerspiel soll soviel Mitleid erwecken als es kann; folg¬
lich müssen alle Personen, die man unglücklich werden läßt, gute Eigenschaften
haben; folglich muß die beste Person die unglücklichste sein. Der Dichter darf
keinen von allem Guten entblößten Bösewicht aufführen. Der Held muß nicht
gleich einem Gott seine Tugenden ruhig und ungekränkt verüben. Bewunderung
ist das entbehrlich gewordene Mitleid; da aber Mitleid das Hauptwerk ist, so
muß es so selten als möglich entbehrlich werden; der Dichter muß seinen
Helden nicht zu auffallend der bloßen Bewunderung aussetzen ... Er soll
seinem Helden nur soviel Standhaftigkeit geben, daß er nicht auf eine unan¬
ständige Art unter seinem Unglück erliege. Empfinden muß er ihn sein Unglück
lassen, sonst können wir es auch nicht fühlen; nur dann und wann muß er
ihn lassen einen Effort thun, der auf wenige Augenblicke eine dem Schicksal
gewachsene Seele zu zeigen scheint, welche große Seele den Augenblick darauf
wieder ein Raub ihrer schmerzlichen Empfindungen werden muß."
„Der Heldendichter läßt seinen Helden unglücklich sein, um seine Voll¬
kommenheiten an's Licht zu setzen; der Tragöde setzt seines Helden Vollkommen¬
heiten an's Licht, um uns sein Unglück desto schmerzhafter zu machen. Er
wartet nicht bis zuletzt: er vertheilt das Mitleid durch das ganze Trauerspiel;
er bringt überall Stellen an, wo er die Vollkommenheiten und Unglücksfälle
des Helden in einer rührenden Verbindung zeigt. Da wir aber ein starkes
Mitleid nicht lange aushalten, unterbricht er diese Stellen durch Ruhepunkte,
in denen wir uns zu neuem Mitleid erholen. Das Trauerspiel soll das Mit¬
leid überhaupt üben: der ist ohne Zweifel der beste Mensch, der die größte
Fertigkeit im Mitleiden hat."
„Freilich muß an dem Helden ein gewisser Fehler sein, durch welchen er
sein Unglück über sich gebracht hat, weil ohne diesen sein Charakter und sein
Unglück kein Ganzes ausmachen würden. Entsetzen und Abscheu ohne Mitleid
würde es erregen, wenn kein Zusammenhang zwischen der Güte des Helden
und seinem Unglück wäre."
Auch die „Literaturbriefe" nehmen die dramatische Frage auf. Lessing
will erweisen (Februar 1759), daß Gottsched dem deutschen Theater eine ganz
falsche Richtung gegeben habe, indem er es zur Nachahmung der Franzosen
verleitete. „Er hätte aus unseren alten Stücken, die er vertrieb, hinlänglich
merken können, daß wir mehr sehn und denken wollen, als das furchtsame
französische Trauerspiel zu sehn und zu denken giebt; daß das Große, Schreck-
liebe, Melancholische besser auf uns wirkt als das Artige, Zärtliche, Verliebte
daß uns die zu große Einfachheit mehr ermüde als die zu große Verwickelung.
Er hätte auf dieser Spur bleiben sollen, und sie würde ihn graden Wegs auf
das englische Theater geführt haben. Wenn man die Meisterstücke des Shake¬
speare mit einigen bescheidenen Veränderungen unsern Deutschen übersetzt
hätte, es wäre von bessern Folgen gewesen, als daß man sie mit Corneille
und Racine bekannt gemacht hat. Erstlich würde das Volk an Shakespeare
weit mehr Geschmack gefunden, und zweitens würde er ganz andre Köpfe
unter uns erweckt haben. Denn ein Genie kann nur von einem Genie ent¬
zündet werden, und am leichtesten von so einem, das alles blos der Natur zu
danken zu haben scheint, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst
nicht abschreckt."
Shakespeare war seit 1741 fast ganz in Vergessenheit gerathen; die
Bodmerianer wollten ebensowenig von ihm wissen als die Gottschedianer.
Nicolai hatte 1755 auf Shakespeare's Werke hingewiesen: „freilich, ihre
Wildheit, ihre Unregelmäßigkeit, ihr übel geordneter Dialog ist nicht nachzu¬
ahmen." In Jöcher's „Gelehrtenlexikon" (1751) steht folgender Artikel:
„Shakespeare, Wilh., ein englischer Dramaticns, geb. zu Stratford 1564,
ward schlecht auferzogen und verstand kein Latein, brachte es aber in der Poesie
sehr hoch. Er hatte ein Scherzhaftes Gemüth, konnte aber auch sehr ernsthaft
sein, excellirte in Tragödien, und hatte viel subtile Streitigkeiten mit Ben
Johnson, wiewohl keiner von beiden viel damit gewann."
Warmer hatte sich Zimmermann im „Leben Haller's" ausgesprochen.
„Ein himmlisches Feuer leuchtet aus Shakespeare's Werken hervor. Der
war geboren, ein Dichter zu sein; die englische Nation setzt ihn mehrentheils
über alle Sterbliche hinauf. Allein der Mangel des wahren Geschmacks und
der Regeln des Trauerspiels verstellt seine Schönheiten und macht sie einem
Strohfeuer ähnlich, das eine große Flamme auswirft, die uns wohl erleuchtet,
aber keine Wärme zurückläßt."
„Ich liebe diesen außerordentlichen Menschen," schreibt Wie land im
April 1758, „mit all seinen Fehlern. Er ist fast einzig darin, die Menschen
nach der Natur zu malen. Seine Fruchtbarkeit ist unerschöpflich. Er scheint
nie etwas Anders studirt zu haben als die Natur; ist bald der Michel Angelo,
bald der Correggio der Dichter. Wo fände man mehr kühne und doch richtige
Entwürfe, mehr neue, schöne', erhabne, treffende Gedanken, mehr lebendige,
glückliche, beseelte Ausdrücke als bei diesem unvergleichlichen Genie! Zum Geier
mit dem, der einem Genie von solchem Rang Regelmäßigkeit wünscht!"
Nun sprach Lessing das entscheidende Wort. „Auch nach den Mustern
der Alten die Sache zu entscheiden, ist Shakespeare ein weit größerer tragt-
scher Dichter als Corneille, obgleich dieser die Alten sehr wohl und jener fast
gar nicht gekannt hat. Corneille kommt ihnen in der mechanischen Einrichtung
und Shakespeare in dem Wesentlichen näher. Der Engländer erreicht den
Zweck der Tragödie fast immer, so sonderbare und ihm eigne Wege er auch
wählt, und der Franzose erreicht ihn fast niemals, ob er gleich die gebahnten
Wege der Alten betritt. Nach dem Oedipus des Sophokles muß in der Welt
kein Stück mehr Gewalt über unsre Leidenschaften haben, als Othello, König
Lear, Hamlet u. s. w."
Dies Wort ist vielleicht das bedeutendste, das die „Literaturbriefe" ge¬
sprochen haben: es signalisirte, Allen kenntlich, den Dichter, der berufen war,
der deutschen Poesie eine neue Wendung zu geben.
Lessing's eigene dramatische Versuche jener Zeit folgen freilich durchaus
nicht der Fährte des britischen Dichters: sie gehen fast durchweg auf Verein¬
fachung der Fabel aus. Darin leistet z. B. der „Philotas" (März 1759) das
Unglaubliche; es kommt keine unnöthige Figur, keine unnöthige Rede vor, das
Mitleid geht ganz in Bewunderung unter. Ein junger Prinz, der, in die Ge¬
fangenschaft des Feindes gerathen, bringt sich selber um, um nicht gegen den
gleichfalls gefangenen feindlichen Prinzen ausgewechselt zu werden und so seinem
Vater die Gelegenheit zu entziehen, den Frieden zu diktiren. Gleim gegen¬
über eiferte Lessing gegen solche heroische Schwachheit, aber fast alle seine da¬
maligen Entwürfe hatten einen heroischen Stoff: Brutus, Kodrus, Spartacus :c.
Von „Faust" ist nur ein Fragment veröffentlicht, eine geistreiche Verbesse¬
rung des Prologs im Puppenspiel. Das Schnellste ist nicht der Gedanke des
Menschen, sondern der Uebergang vom Guten zum Bösen. „Ich habe es wohl
erfahren!" ruft Faust. Das schmeckt nach einem tragischen Ausgang, obgleich
die Freunde von einem versöhnlichen Schluß zu erzählen wußten.
Auf äußerste Simplifikation sind auch seine „Drei Bücher von der Fabel"
gerichtet. Gegen Breitinger erweist er, daß die Thiere nicht um des Wunder¬
baren (Wunderlichen) willen eingeführt werden, sondern weil sie einfache typische
Charaktere ausdrücken. „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf
einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Fall die Wirklichkeit er¬
theilen (weil man in einem wirklichen Fall mehr Beweggründe und deutlicher
unterscheiden kann als in einem möglichen), und eine Geschichte daraus dichten,
in welcher man den allgemeinen Satz anschaltend erkennt, so heißt diese Er¬
dichtung eine Fabel." Es sollte also alles ausgemerzt werden, was nicht zur
Verdeutlichung des Lehrsatzes gehörte, während bei Lafontaine und Gellert
gerade in der breiten, humoristischen Ausführung das Hauptinteresse lag. Gegen
das Einseitige dieses Versuches mußte die deutsche Bildung sich endlich empören:
Gerade die deutsche Fabel ist stets auf epische Anschaulichkeit und humoristische
Wendungen ausgegangen. Lessing's eigene Fabeln sind geistreich, aber ohne
Poesie. Bezeichnend bleibt der Versuch für die allgemeine Richtung jener
Periode, die Dichtung auf das knappste Maß einzuschränken.
Ein merkwürdiges Beispiel für diese Richtung ist ferner Kleist's Helden¬
gedicht „Cissides und Paasch", im Mai 1759 in den „Literaturbriefen" be¬
sprochen; es sieht fast wie eine Geschichtstabelle aus. Zugleich ist es Merk¬
würdig für Kleist. Die elegische Stimmung, die Sehnsucht nach Ruhe, ist ganz
verschwunden und hat einem kriegerischen Feuer Platz gemacht; die Begeisterung
für Friedrich überträgt sich auf die Generale Alexander's des Großen, und
gegen alles Herkommen werden die griechischen Republikaner als Wichte
dargestellt.
„Endlich wird nach unserm Namen ein Gestirn benannt ... Wo Perseus
und Orion leuchten, dort wird Alexander, unser Gott, mit uns vom Himmel
auf die Menschenkinder sehn." — „Der Tod fiir's Vaterland ist ewiger Ver¬
ehrung werth . . . Wie gern sterb' ich ihn auch, wenn mein Verhängniß ruft!
Ich, der ich dieses sang im Lärm des Kriegs, als Räuber aller Welt mein
Vaterland in eine Wüstenei verwandelten; als Friedrich selbst die Fahn' mit
tapferer Hand ergriff."
Kleist's Drama „Seneca" ist eben so knapp gehalten wie der „Philotas";
das Interesse freilich, das es erregt, ist noch geringer.
Wo ein Dichter jener Zeit nicht nach Konzentration strebt , macht sich der
roheste Naturalismus breit. Weiße's „Beiträge zum deutschen Theater"
(1759) enthielten die beiden Trauerspiele „Eduard III." und „Richard III.", das
Lustspiel „Die Poeten nach der Mode" und die Operette „Der Dorfbarbier".
Greuel genug kamen in jenen Tragödien vor, die noch in Alexandrinern geschrieben
sind; aber weder Mitleid noch Furcht wird erregt. Weiße selbst scherzte in
seineu Briefen darüber, daß wenn die Helden in seinen Trauerspielen über
einen Entschluß oder eine Begebenheit räsonniren sollten, sie sich mit ihren
Gedanken ebenso brouillirten als er selbst. Sein Sohn erzählt: „Die
Empfindungen und Leidenschaften, die am wenigsten in seinem Charakter lagen,
und die ihn nur durch Anstrengung der Einbildungskraft in Bewegung setzten,
stellte er am lebhaftesten dar."
„Ein unglückliches Schicksal," schreibt Weiße in der Vorrede, „hat bisher
über der deutschen Schaubühne gewaltet. Einige dieser Lieblinge der Musen
sind in der Morgenröthe ihres Witzes verblüht; andere lassen, wir wissen nicht
aus was für unglücklichen Ursachen, die Jahre des Genies vorüberfliehen, bis
sie die Geschäfte des Lebens überhäufen."
„Sind es wirkliche Genies," sagt Lessing dagegen, „so verspreche ich
mir von der Verzögerung mehr Gutes als Schlimmes. Die Jahre der Jugend
sind die Jahre nicht, von welchen wir tragische Meisterstücke erwarten dürfen.
Alles was auch der beste Kopf unter'dem dreißigsten Jahr — Lessing war
eben 31 Jahre alt geworden — leisten kann, sind Versuche. Je mehr man
versucht, je mehr verdirbt man sich oft. Man fange nicht eher an zu arbeiten,
als bis man seiner Sache gewiß ist, d. h. wenn man die Natur und die Alten
genugsam studirt hat. Wie gut ist es einem Tragiker, wenn er das wilde
Feuer, die jugendliche Fertigkeit verloren hat, die so oft Genie heißen und es
so selten sind."
„Die Bühne des Franzosen ist doch wenigstens das Vergnügen einer
großen Hauptstadt, da in den Hauptstädten des Deutschen die Bude der Spott
des Pöbels ist. Der Franzose kann sich doch rühmen, einen prächtigen Hof,
die größten und würdigsten Männer des Reichs, die feine Welt zu unterhalten,
da der Deutsche zufrieden sein muß, wenn ihm ein Paar Dutzend ehrliche
Privatleute, die sich schüchtern nach der Bude geschlichen, zuhören wollen. Was
sollten auch die Großen bei unsern Schauspielern suchen? Leute ohne Erziehung^
ohne Welt, ohne Talente; ein Meister Schneider, ein Ding, das noch vor ein
Paar Monaten Wäschermädchen war u. s. w. Was können die Großen in
solchen Leuten erblicken, das ihnen im Geringsten ähnlich wäre?"
An Weiße's Versuchen ließ Lessing nicht viel Gutes. „Die Oekonomie
ist die gewöhnliche der französischen Trauerspiele, an welcher wenig auszusetzen,
aber selten auch viel zu rühmen ist."
Lessing selbst wurde durch eine äußere Anregung auf die dramatische
Form geführt, die seinem Talente die angemessenste war. Kurz zuvor waren
Diderot's bürgerliche Schauspiele erschienen, „I^s üls os-tru-si" und „I^s xörs
Ah tauMs", zugleich mit Grimm's Abhandlung über die dramatische Poesie.
Es war ein rücksichtsloser Kampf gegen die bisherigen Typen der französischen
Kunst, also mittelbar gegen die Resultate der bisherigen sozialen Entwickelung.
Schon darum hieß sie Lessing willkommen, aber auch das Einzelne war
ganz in seinem Sinn. Die Verachtung prahlerischer Tugend und Großmuth,
die Ausmerzung alles Heroischen und Historischen, die Rückkehr zum Natür¬
lichen und Gemeinmenschlichen. Die Zeit der Renaissance und des Prunkstils
war abgelaufen.
Lessing studirte diese Arbeiten gründlich und gab eine Uebersetzung
heraus, die einen durchschlagenden Erfolg hatte. „Diderot," schreibt er
20 Jahre später, „hat auf das deutsche Theater weit mehr Einfluß gehabt
als auf das französische. Wir hatten es längst satt, nichts als einen alten
Lassen im kurzen Mantel und einen jungen Geck in bebänderten Hosen unter
einem Halbdutzend alltäglicher Personen auf der Bühne herumtoben zu sehen;
wir sehnten uns längst nach etwas Bessern, ohne zu wissen, wo dies Bessre
herkommen sollte, als der „Hausvater" erschien. In ihm erkannte sogleich der
rechtschaffene Mann, was ihm das Theater noch um so theurer machen mußte,
das allgemein Menschliche. Auch der Schauspieler lernte von ihm: er solle
nichts ausdrücken als was jeder ausdrücken konnte, der es verstand und fühlte;
und daß jeder seine Rolle verstand und fühlte, dafür hatte Diderot gesorgt."
Wo Lessing nicht durch Prätensionen gereizt wird, geht er in den „Literatur¬
briefen" im Ganzen glimpflich zu Werke. So läßt er sich die Nymphen im
Reifrock und die galanten Marquis im Schäferkostüm gefallen, die in Gleim's
und Weiße's „scherzhaften Liedern" sich breit machen; für die „Tändeleien"
v. Gerstenberg's, der damals in Jena studirte, wird er sogar warm: und
doch waren diese kleinen, halb poetischen, halb prosaischen Bilderchen von
Faunen, Nymphen, Amoretten, Schäfern und Schäferinnen eigentlich den
Franzosen abgesehen.
Dagegen ist die Anzeige, die Lessing im Januar 1759 über Wieland
gibt, bis zur Grausamkeit hart; er zählt sein ganzes Südenregister auf und
geht bis zu seiner Knabenzeit in Klosterbergen zurück! Er nennt ihn einen
bedeutenden Dichter, aber zählt nur seine Schwächen auf, hauptsächlich spottet
er über seine verhimmelnden Bilder.
„Wieland ist ein erklärter Feind von Allem, was einige Anstrengung
des Verstandes erfordert, und da er alle Wissenschaften in ein artiges Geschwätz
verwandelt wissen will, warum nicht auch die Theologie? . . . Die christliche
Religion ist bei ihm immer das dritte Wort: man prahlt oft mit dem, was
man gar nicht hat!... Er beschreibt Empfindungen eines Christen: eines Christen
nämlich, der zugleich ein witziger Kopf ist, der die Geheimnisse der Religion
zu Gegenständen des schönen Denkens macht, der sich in die Ausschweifungen
seiner Einbildungskraft verliebt, und darin die Religion zu haben glaubt; der,
um mit seinen geistlichen Schriften zugleich zu amüsiren, die Religion weg¬
witzelt."
Ans Wie land mußte diese Kritik einen seltsamen Eindruck machen: er
wurde gescholten wegen eines Standpunktes, den er bereits völlig überwunden
zu haben glaubte. Seine Werke aus dem Jahre vorher, ein Epos in Hexa¬
metern, nach der Cyropädie bearbeitet, und eine Tragödie „Johanna Gray"
in fünffüßigen Jamben predigen freilich ein leeres Tugend-Ideal und sind ganz
Grandison, bewegen sich aber doch nicht mehr im Aether. Und weit mehr noch
als in seinen Dichtungen spricht sich seine Sinnesänderung in den Briefen an
Zimmermann vom Jahre 1758 aus.
„>1c> suis xas Mssi ?lÄtorli^ii6 <zus vous ins vroz^W, Ur. 1s Dootsur.
^hö Lorlurrsnos als xlus su xlns Z. ins ta-nMÄrissr A?«ZL Iss Zeus us es das
Mvnäo. Plato war einst mein Liebling, jetzt ist es Xenophon. Und doch
nennt selbst Plato den Anakreon weise, der alle Mädchen liebte, nicht mit der
transcendentalen Liebe eines irrenden Ritters oder Mystikers."
„Die Zeit, wo Aoung mich entzückte, ist vorbei. Ich habe keine Lust mehr,
vor der Zeit in die unsichtbaren Sphären zu reisen; ich verlange nicht mehr,
daß jeder Mensch ein Cato sein soll, und gebe mich nicht mehr damit ab,
junge Mädchen in den Mysterien der platonischen Philosophie zu unterrichten.
Man kann ein artiges Mädchen lieben, ohne sich gleich den Kopf zu verdrehn...
Liebenswürdige Mädchen sind doch ein recht schöner Theil dieser Welt, was
auch ihr Aerzte davon glauben mögt: ihr wißt zuviel, um in Hinsicht auf das
schöne Geschlecht so zarte Gedanken und so angenehme Thorheiten unterhalten
zu können, wie wir andern Künstler, die wir in der Natur nur das Schöne
suchen."
„Mein Absehn ist auf den Charakter eines Virtuoso gerichtet, den Shaftes-
bury so bewundernswürdig gezeichnet hat. Der Weise, der alle seine äußern
und innern Sinne ausbildet, alle seine Vermögen übt, versteht allein die
Kunst zu leben."
„Ich werde mich nach und nach so zeigen wie ich bin: der Schleier wird
fallen, der Fanatiker, der Bodmerianer werden zu dem werden, was aus alleu
Phantomen wird. Ich sehe ein, daß ich als unbegreiflicher Mensch, als Heuchler,
inconsequent, mondsüchtig habe erscheinen müssen. Ich sehe alle meine Ver-
irrungen, ich werde sie vermeiden. Kurz, ich habe 25 Jahre hinter mir."
(26. April 1759.)
Da seine Erziehungsanstalt sich allmählich auflöste, so verließ Wieland
am 13. Juni 1759 Zürich und siedelte sich in Bern an. Dort hatte er schnell
wieder Gelegenheit, sein Herz zu verschenken. Diesmal war es an Julie
Bordell, die Tochter eines Pastors; sein Verhältniß zu ihr hat eine ganze
Geschichte.
Am 4. Juli schreibt er: „Mlle. Bordell ist ein schreckliches Mädchen! Sie
redete mir in einem Zug von Plato und Plinius, Cicero und Leibnitz,
Aristoteles und Locke, von gleichschenkligen Dreiecken — sie redete von Allem!
Sie spricht so schnell, daß es nicht möglich ist, ihr mit den Gedanken zu folgen;
sie hat Geist, Lectüre, Philosophie, sphärische Trigonometrie, aber — es giebt
kein Mädchen im Oberland, das ich dieser gelehrten Bordell nicht vorziehen
würde!" — Am 23. Juli: „Ihre Ahnung, wie es mit mir gehn würde,
war sehr richtig. So sehr sie mir beim ersten Besuch mißfallen, so sehr gefiel
sie mir beim zweiten. Beim dritten fand ich schon ein vortreffliches Herz in
ihr. Sie ist äußerst offen gegen mich!" — Am 29. Juli: „Sie ist nicht
schön und nicht ganz gesund. Sie will nichts von Liebe hören. Sie ist meine
Freundin und ich soll ihr Freund sein. So sei es denn." Den 29. August
„Meine übrigen Freunde meinen, ich wende zu viel Zeit bei ihr auf; und ich
meine, man kann nicht zu viel Zeit aufwenden, um glücklich zu sein." Den
23. September: „Ich liebe Julie, und mich dünkt, die äußere Schönheit aus¬
genommen, vereinige sie alle Qualitäten in sich, die ich an meinen übrigen
Freundinnen vertheilt bewundert habe . . . Niemals habe ich ein Frauen¬
zimmer gesehen, das mehr Ressourcen im Umgang hätte. ... Ich will und
kann kein Gemälde meiner Julie vorführen: Farben, die Ihnen zu glänzend vor¬
kämen, würden mir matt erscheinen . . . Eine Composition von Weib, Genie
und Philosophie ist eine Erscheinung, die alle unsre Systeme umwerfen kann...
Julie scheint in vollem Ernst weder Idee noch Empfindung von der Liebe zu
haben, die in den Romanen herrscht. Sie will nur Freunde haben, und haßt
alles, was den Schein einer überspannten Leidenschaft trägt. Wir haben über
diese Motive ebenso naive als lächerliche Dispute gehabt. Ich selbst bin, wie
ich glaube, in Absicht der Liebe der Einzige meiner Art, und ich bin stolz
genug zu glauben, daß meine Art zu lieben der Liebe der Geister so nahe
kommt, als es unter dem Mond möglich ist. . . Juliens Besitz würde mich
unaussprechlich glücklich macheu, aber ich sehe keine Möglichkeit: ich müßte auf
eine sehr anständige Weise etablirt sein, wenn ich berechtigt sein sollte, eine
solche Prätension zu machen."
Wieland hielt sich nur ein Jahr in Bern auf; das Verhältniß zu Julie
dauerte etwa vier Jahre zwischen Hangen und Langen; zugethan blieb er
ihr immer.
„Freuen Sie sich mit mir!" schreibt Lessing im Oktober 1759 in den
„Literaturbriefen", „Herr Wieland hat die ätherischen Sphären verlassen und
wandelt wieder unter den Menschenkindern." Freilich hat er von dort ein
Idealbild der Vollkommenheit mitgebracht, nach dem alle seine Figuren gleich
farblos und unbedeutend aussehen: „Der Mann, der sich solange unter lauter
Cherubim und Seraphim aufgehalten, hat den gutherzigen Fehler, auch unter
uns schwachen Menschen eine Menge von Cherubim und Seraphim, besonders
weiblichen Geschlechts zu finden. — Lassen Sie es gut sein! wenn er wieder
lange genug wird unter den Menschen gewesen sein, wird sich dieser Fehler
seines Gesichts schon verlieren!" — Was er bisher geleistet, wird allerdings
mit grausamem Hohn besprochen.
Nicht viel besser kam Klop stock weg, obgleich Lessing sich alle Mühe
gab, seinem Verdienste gerecht zu werden. Ueber seine Sprache sagte er am
22. Februar 1759 viel Schönes und Gründliches. Seine Abhandlung „von
der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen" wurde gerühmt;
seine stilistischen Verbesserungen mit Aufmerksamkeit verfolgt: „man studirt in
ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu be-
vbachten für gut finden, das sind Regeln." — Auch der freie Rhythmus der
neuesten Oden fand den Beifall des Kritikers.
In Klopstock's Leben war kurz zuvor ein Riß geschehen: seine Meta
war am 28. Novbr. 1758 bei der Entbindung, erst 30 Jahre alt, in Hamburg
gestorben. Beide hatten ganz mit einander gelebt. „Wir sind immer in dem¬
selben Zimmer," schrieb sie einmal an Richardson, „ich still bei meiner
kleinen Arbeit, sehe nur manchmal das liebliche Gesicht meines Mannes, welches
so ehrwürdig ist in Thränen der Andacht bei dem Erhabnen seines Gegenstandes."
Die Briefe, die er während ihrer Krankheit aus Kopenhagen an sie schrieb,
sind merkwürdig wegen der Reflexion, mit der er noch immer seine Empfin¬
dungen zersetzte. „Völlige Unterwerfung unter den Willen unsers Gottes ist
eine der schwersten und zugleich ruhmvollsten Pflichten des Christenthums. Die
Tage unsrer Trennung sollen uns aufmerksam machen, daß wir geprüft werden.
Auch die unschuldigste und pflichtmäßigste Liebe soll der Liebe zu unserm Gott
unterworfen werden. Ich habe meinen Gesang von der Allgegenwart des An¬
betungswürdigen von Neuem durchgelesen; wenn mir Gott die Gnade giebt,
mich diesen Vorstellungen zu überlassen, bin ich gar nicht weit von Dir. Meine
Seele ist jetzt in einer sanften Ruhe, mit etwas Wehmuth vermischt."
Von ^ ihrem Tode schreibt er: „Wenn ich das Unglück hätte, kein Geist zu
sein, so würde ich es jetzt werden! Das ungefähr sagte ich ihr in einer starken
Bewegung der Freude. Sei mein Schutzengel, wenn es unser Gott zuläßt!
— Du. bist der meinige gewesen, sagte sie. — Sei mein Schutzengel! wieder¬
holte ich. — Wer wollte das nicht sein? sagte sie. — Ich ging auf meine
Stube und betete. Ganz kann ich mich des Weinens nicht enthalten, und das
fordert auch mein Gott nicht von mir."
„War das der Tod? O sanfte schnelle Trennung, wie soll ich dich nennen?
Tod nicht! es heiße Tod dein Name nicht mehr! Und du, du selbst, der Ver¬
wesung fürchterlicher Gedanke, wie schnell bist du Freude geworden! Schlummre
denn, mein Gefährte des ersten Lebens! verwese, Saat von Gott gesäet, dem
Tage der Garben zu reifen!" — Die letzte Stelle aus dem „Messias" hatte
Meta zur Inschrift ihres Sarges gewählt.
„Doch mir sinket die Hand, die Geschichte der Wehmuth zu enden. Späte
Thräne, die heute noch floß, zerrinn' mit den andern, die ich noch weinte! Du
aber, Gesang von dem Mittler! bleib' und Ströme die Klüfte vorbei, wo sich
viele verlieren! Sieger der Zeiten, Gesang, unsterblich durch deinen Inhalt,
eile vorbei und zeuch in deinem fliegenden Strome diesen Kranz, den ich dort
an dem Grabe von der Cypresse thränend wand, in die hellen Gefilde der
künftigen Zeit fort!"
Die neuen Oden Klopstock's gehen fast durchweg darauf aus, die Un-
Sterblichkeit der Seele zu erhärten. Die griechischen Muster treten jetzt ganz
zurück, die Sprache der Propheten wird sein Vorbild. Bei seinem Drama
„Der Tod Adams" hat ihm vielleicht der „Oedipus in Kolonos" vorgeschwebt;
aber wenn der griechische Dichter durch die großartige Anschauung und die
edle Sprache die Schwäche der Komposition vergessen macht, so ist es in dieser
steifen weinerlichen Prosa geradezu unerträglich, wie Adam sich drei Akte hin¬
durch abquält, dem Zuhörer zu zeigen, daß „des Todes sterben" etwas viel
Fürchterlicheres ist, als „sterben" überhaupt; und zuletzt erfährt es der Zuhörer
doch nicht.
Lessing wurde hauptsächlich durch den oberflächlichen Dogmatismus
gereizt, den Klop stock mit seinen Anhängern im „Nordischen Aufseher" ab¬
lagerte. Zu diesen Anhängern gehörte der Hofprediger Cramer in Kopen¬
hagen und Prof. Basedow in Soroe.
„Wissen Sie nicht," schreibt Lessing am 2. August 1759, „daß jetzt ein
guter Christ etwas ganz Anderes zu sein anfängt, als er vor dreißig Jahren
war? Die Orthodoxie ist ein Gespött geworden; man begnügt sich mit einer
lieblichen Quintessenz, die man aus dem Christenthum gezogen hat, und. weicht
allem Verdacht der Freibeuterei aus, wenn man von der Religion überhaupt
nur fein enthusiastisch zu schwatzen weiß."
„Die höchste Art, über Gott zu denken," heißt es im „Nordischen Aufseher",
„ist, wenn die ganze Seele von dem, den sie denkt, so erfüllt ist, daß alle ihre
übrigen Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in Bewegung gesetzt sind;
wenn das, was wir denken, durch Worte auszudrücken die Sprache zu wenig
und zu schwache Worte haben würde."
„Der Verfasser," bemerkt Lessing dazu, „nennt denken, was andre
ehrliche Leute empfinden heißen. Seine höchste Art, über Gott zu denken,
ist ein Stand der Empfindung, mit welchem nichts als undeutliche Vorstellungen
verbunden sind. — Bei der kalten Spekulation geht die Seele von einem deut¬
lichen Begriff zum andern fort; alle Empfindung, die damit verbunden, ist die
Empfindung ihrer Anstrengung: eine Empfindung, die nur darum nicht ganz
unangenehm ist, weil sie die Wirksamkeit ihrer Kräfte dabei fühlt. Will ich
aus dem Gegenstand selbst Vergnügen schöpfen, so müssen alle deutlichen Be¬
griffe, die ich mir durch die Spekulation gemacht habe, in eine gewisse Entfernung
zurückweichen, in welcher sie deutlich zu sein aufhören. — Die Sprache kann
alles ausdrücken, was wir deutlich denken, daß sie aber alle Nuancen der Em¬
pfindung sollte ausdrücken können, ist ebenso unmöglich als unnöthig."
„Jene kalte metaphysische Art, über Gott zu urtheilen, von welcher der
Verfasser so verächtlich urtheilt, muß der Probirstein aller unsrer Empfindungen
von Gott sein. Sie allein kann uns versichern, daß wir anständige Empfin-
düngen von Gott haben; der hitzige Kopf denkt oft am unwürdigsten von Gott,
wenn er am erhabensten zu denken glaubt."
„Wenn ich sagen sollte, was ich aus Klopstock's Ode über die Allgegen¬
wart Gottes mehr gelernt, als ich vorher gewußt; welchen von meinen Be¬
griffen der Dichter aufgeklärt, in welcher Ueberzeugung er mich bestärkt: so
weiß ich nichts darauf zu antworten. Freilich ist das auch des Dichters Auf¬
gabe nicht. Genug, daß mich eine prächtige Tirade über die andre angenehm
unterhalten hat, daß ich mir während des Lesens seine Begeisterung zu theilen
geschienen habe: muß uns denn alles etwas zu denken geben?"
„Klopstock's Oden sind so voller Empfindung, daß man oft gar nichts
dabei empfindet. Es kann sein, daß er, als er sie machte, im Stand sehr leb¬
hafter Empfindungen war; weil er aber blos diese seine Empfindungen aus¬
zudrücken suchte, und den Reichthum von deutlichen Vorstellungen, durch den
er sich in das andächtige Feuer gesetzt hatte, verschwieg: so ist es unmöglich, daß
sich seine Leser zu eben den Empfindungen, die er dabei gehabt, erheben können;
er hat die Leiter nach sich gezogen."
Ganz kann sich Lessing von seiner alten Idee, die Poesie habe eigent¬
lich nur zu spielen, nicht losmachen; aber er ist auf dem Wege dazu.
Lessing's „Literaturbriefe" heben sich im Stil auf's vortheilhafteste gegen
alles ab, was früher geschrieben war; in ihnen klärte sich im Wesentlichen die
Prosa ab, die wir noch heute reden, und wurde für den Augenblick zur domi-
nirenden Macht. Außerdem war es die höchste Zeit, das gegenseitige Anräuchern
der Dichter zu unterbrechen, es hatte sich daraus eine Atmosphäre gebildet, in
welcher der gesunde Menschenverstand nicht mehr athmen konnte. Aber wenn
die „Literaturbriese" auch mit dem Veralteten gründlich aufgeräumt hatten,
wenn Lessing auch einen gewaltigen Besen darin führte und von keiner Art
Pietät zurückgehalten wurde, die ehrende Bezeichnung einer schöpferischen Kritik
kommt ihnen doch nicht zu.
Positiv bedeutender ist, was er gleichzeitig für die Kritik der Sprache that,
die er geschichtlich verfolgte, bis in das Mittelalter hinein: so in dem Wörter¬
buch zu Logan, den er gemeinsam mit Ramler herausgab. Er ging syste¬
matisch darauf aus, eine Reihe guter alter Worte und Wortfügungen zu retten,
die durch die Gottsched'sche Schule weggeschwemmt waren, und durch Beach¬
tung der Provinzialsprache die fast farblos gewordene Schriftsprache neu zu
beleben.
Jnvalidenkassen sind Anstalten, welche den Mitgliedern entweder gegen
eine einmalige Zahlung oder gegen fortlaufende jährliche Beiträge eine mit dem
Eintritt der Arbeitsunfähigkeit beginnende jährliche Rente gewähren. Diese
Rente dauert bis zum Tode oder, was auch bisweilen geschieht, bis zum Wieder¬
eintritt der Arbeitsfähigkeit und ist im Allgemeinen eine Jahr für Jahr gleich¬
bleibende Summe. Doch läßt man auch häufig die Rente nach einer im voraus
bestimmten Regel steigen. Ebenso ist die Einrichtung beliebt, daß die Rente
erst nach Ablauf einer bestimmten Zeit (Carenzzeit) beginnt, das Mitglied also
nichts bekommt, wenn es vor dieser Zeit invalid wird; ferner, daß die Rente
in jedem Falle, mag auch das betreffende Mitglied dann noch arbeitsfähig sein,
in einem im voraus bestimmten, gewöhnlich sehr hohen Altersjahre beginnt. Die
letztere Einrichtung ist besonders deshalb wichtig, weil man dadurch die schwierige
Frage über Eintritt der Invalidität durch Altersschwäche meistens umgeht.
Nicht zu verwechseln sind Jnvalidenkassen mit Altersrentenkassen, wie sie
an mehreren Orten bestehen, in Sachsen z. B. die Kgl. Sachs. Altersrentenbank.
Solche Kassen gewähren die Rente nur vom Eintritt eines im voraus bestimmten
Altersjahres ab und bekümmern sich nicht darum, ob der Rentner arbeitsunfähig
ist oder nicht. Um jedoch denjenigen Mitgliedern entgegenzukommen, welche
vor Eintritt des für den Anfang der Rente bestimmten Alters invalid werden,
zahlen sie in diesem Falle eine reduzirte Rente, deren Höhe von der Größe der
geleisteten Einzahlungen abhängt. Diese reduzirte Rente können übrigens auch
noch vollständig arbeitsfähige Mitglieder beliebig fordern. Die Anstalt gibt
eben nur das, was sie gemäß der Lebens-Wahrscheinlichkeit geben kann, die
Jnvaliditäts-Wahrscheinlichkeit kommt, wie schon bemerkt, nicht in Betracht.
Jnvalidenkassen sind sehr alte Anstalten und kommen z. B- bei den ver¬
schiedenen Zweigen des Bergbaues schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts vor,
vielleicht sogar schon früher. Bei den Geistlichen, Lehrern, im Allgemeinen bei
allen Staatsbeamten sind sie sicher schon zu Anfang des gegenwärtigen Jahr¬
hunderts eingerichtet worden. Diese älteren Kassen trugen jedoch mehr den
Charakter von Wohlthätigkeitsanstalten. Gegenwärtig ist man bei Gründung
von Jnvalidenkassen stets darauf bedacht, denselben eine sichere, auf wissen¬
schaftlicher Erörterung beruhende Grundlage zu geben, während man früher
ohne alle Abwägung der Leistungen und Gegenleistungen zu Werke ging, auch
da, wo dies doch annäherungsweise möglich gewesen wäre.
Diese alten Jnvalidenkassen sind aber auch fast niemals reine Jnvaliden-
kassen gewesen, namentlich beim Bergbau die sogenannten Knappschaftskassen,
sondern sie verfolgten noch andere Zwecke. Es ist nicht ohne Interesse, die
altehrwürdigen, noch heute in großer Zahl bestehenden und sehr segensreich
wirkenden Knappschaftskassen etwas näher in's Auge zu fassen, obschon die
Einrichtung derselben überaus verschieden ist. Diese Kassen gewähren außer
der Jnvalidenpension, die in ganz alter Zeit ihr alleiniger Zweck war, auch
Pension an die Wittwen und Waisen, ferner Begräbnißgeld beim Tode der
Mitglieder und ihrer Frauen und Kinder, Krankengeld, freie Kur und Medizin
an die Mitglieder, bisweilen auch Beiträge zum Schulgelde. Eine außerordent¬
lich vielseitige Thätigkeit!
Die Höhe dieser Leistungen ist sehr verschieden; etwas Allgemeines läßt
sich kaum darüber angeben. Nur annäherungsweise läßt sich etwa Folgendes
sagen. Die Jnvalidenpension steigt mit der Länge der Mitgliedschaft und er¬
reicht als höchsten Satz etwa den dritten Theil des in den letzten Jahren der
Arbeitsfähigkeit bezogenen Lohnes. Die Wittwenpension ist entweder ein für
alle Mal fest bestimmt, oder sie richtet sich nach der Höhe des Lohnes, welchen
das Mitglied bei feinem Tode bezogen hat, oder auch nach der Höhe der Jn¬
validenpension, welche der Ehemann bezogen haben würde, wenn er zur Zeit
seines Todes hätte pensionirt werden müssen. Man kann sie im Durchschnitt
etwa dem zehnten Theile des Lohnes gleich setzen. Bei der Waisenpension
finden ähnliche Bestimmungen statt, doch unterscheidet man zwischen vaterlosen
und elternlosen Waisen; die letzteren erhalten selbstverständlich mehr. Im Allge¬
meinen ist die Waisenpension sehr gering und dürfte im Durchschnitt höchstens
ein Drittel der Wittwenpenston für jedes Kind betragen. Außerordentlich kost¬
spielig für die Kasse sind, wegen der Gefährlichkeit des Berufes, das Krankengeld,
die freie Kur und Medizin. Das erstere beträgt wöchentlich höchstens die Hälfte
des Lohnes. Das Begräbnißgeld ist dagegen nur eine geringe Last, obschon
es meist auch beim Tode der Ehefrauen und Kinder gewährt wird; es beträgt
kaum mehr als 20 Mark beim Tode eines Mitgliedes.
Die Gegenleistungen der Mitglieder bestehen hauptsächlich in 4 Proz. des
verdienten Lohnes (Büchsengeld), welche an den Lohntagen gleich abgezogen
werden, ferner in einem Beitrage der Werkbesitzer, welcher nach dem Königlich
Sächsischen Berggesetze wenigstens halb so viel betragen muß, als der Ge-
sammtbeitrag aller Mitglieder. Humane, für ihre Arbeiter gut sorgende Werk¬
besitzer zahlen aber höhere Beiträge, häufig eben so viel wie die Arbeiter, bis¬
weilen sogar mehr. Dann fließen der Knappschaftskasse noch die Eintrittsgelder
bei Anlegung neuer Bergleute, die Strafgelder und bei Beförderung in höhere
Arbeitsklasfen ein Theil des höhern Lohnes zu, den sie das erste Mal erhalten.
Abgehende Mitglieder erhalten keine Rückzahlung, worin ebenfalls eine Ein¬
nahmequelle für die Kasse liegt. Alles in Allem kann der Beitrag bis zu
9 Proz. des verdienten Lohnes steigen.
Die Einrichtung der Knappschaftskassen ist in Bezug auf die zu leistenden
Beiträge der Arbeiter offenbar irrationell. Bei richtiger Vertheilung der Lasten
müßten sich die Beiträge nach dem Eintritts alter der Mitglieder und des derzeitigen
Alters der Ehefrau, sowie der Kinder, endlich nach der Höhe des Lohnes rich¬
ten, sofern von diesem die Höhe der Kassenleistung abhängt, was meistens, aber
doch nicht allenthalben der Fall ist. Aber eine solche rationelle Skala der zu
leistenden Beiträge zu berechnen, ist, auch wenn man das Gesetz der Sterblich¬
keit und Invalidität genau kennt, mit außerordentlichen Schwierigkeiten ver¬
bunden. Nun ist aber über die Jnvaliditäts - Wahrscheinlichkeit der Bergleute
zur Zeit fast nichts bekannt, und dazu kommt, daß eine solche rationelle Ein¬
richtung der Knappschaftskassen, wie sie die Versicherungsanstalten haben und
haben müssen, die Verwaltung sehr kostspielig machen würde. Man darf also
über die bisweilen sehr hart beurtheilte irrationelle Einrichtung dieser Anstalten
nicht so ohne Weiteres den Stab brechen. Sie Hut insofern ihre große Be¬
rechtigung, als hier Personen desselben Berufes zur gegenseitigen Hilfeleistung
zusammentreten, und daher das sogenannte Prinzip der Kollegialität Platz
greifen darf, wonach der besser Gestellte für den Unbemittelteren, der Gesunde
für den Kranken, der Junge für den Alten einzustehen hat. Versicherungs¬
anstalten freilich, deren Versicherte nicht einen solchen Verband unter einander
haben können, dürfen auch dieses Prinzip nicht zur Anwendung bringen.
Wollte man eine allen in Deutschland wohnenden Arbeitern zugängliche
Invalidenkasse errichten und zwar eine reine Invalidenkasse ohne Hinzuziehung
des Krankengeldes, der Wittwenpension u. s. w., so würde man rationell ver¬
fahren und die Beiträge nicht blos nach dem Alter und der Höhe der begehr¬
ten Rente, sondern auch nach der Gefährlichkeit der Arbeit regeln müssen.
Allein wenn man auch den ernsten Willen hätte, eine solche, Allen zugängliche
rationelle Invalidenkasse zu gründen — sicher ein erstrebenswerthes Ziel —,
so würden sich dem zur Zeit wenigstens noch sehr erhebliche, fast unbesiegbare
Schwierigkeiten entgegenstellen. Außer den Gesetzen der Sterblichkeit, die man
jetzt ziemlich genau kennt, müßte man auch die Gesetze des Jnvalidwerdens für
die einzelnen Lebensalter und Berufszweige kennen, um die zu leistenden Bei¬
trüge berechnen zu können. Solche Beitragsskalen würden in den jüngeren
Altersjahren kleine Beiträge zeigen, in den mittleren und noch mehr in den
späteren Lebensjahren aber so hohe, daß sie für ältere Arbeiter fast unerschwing¬
lich sein dürften. Man sieht also: wenn man jetzt eine rationelle Invaliden¬
kasse gründete, so würden gerade die älteren Arbeiter, die die Versicherung einer
Invalidenrente am nöthigsten hätten, der hohen Beitrüge wegen vom Beitritte
abgehalten werden. Die jungen Arbeiter aber würden, wenn man nicht Zwangs¬
mittel anwenden wollte oder könnte, trotz der kleinen Beiträge auch nicht bei¬
treten oder doch nur in sehr kleiner Zahl, weil denselben der Gedanke an das
hilflose Alter noch sehr fern liegt. Mau halte nur Umfrage, und man wird
hören, daß die Befriedigung der heutigen, alles Maß überschreitenden Ver¬
gnügungssucht gerade dem jüngeren Arbeiter, wenigstens in der großen Mehr¬
zahl, viel näher liegt.
Wie steht es aber mit dem zur Berechnung der Beiträge für eine ratio¬
nelle Invalidenkasse nöthigen Element, nämlich mit den Gesetzen des Invalid-
Werdens? Es ist noch nicht so lange her, daß man hierüber absolut nichts
wußte. Die ersten Ermittelungen dieser Gesetze wurden, freilich noch in sehr
ungenügender Weise, von Prof. Hülße in Dresden im Auftrage einer von
der Königlich Sächsischen Regierung 1849 niedergesetzten Kommission zur
Erörterung und Verbesserung der gewerblichen Verhältnisse angestellt. In
dieser damals gewiß bedeutungsvollen Arbeit gab Hülße zunächst geschicht¬
liche Nachrichten über eine große Zahl im Königreiche Sachsen bestehender
Invalidenkassen und ermittelte für diese, soweit ihm dies bei der großen
Mangelhaftigkeit des statistischen Materiales möglich war, wie viel Invaliden
auf 1000 aktive Mitglieder kamen. Da diese Kassen zum Theil bereits
mehrere Menschenalter bestanden hatten, so konnte man darauf rechnen, daß
das ermittelte Verhältniß zwischen Aktiven und Invaliden nahezu so war, wie
es im sogenannten Beharrungszustande sich bei jeder Kasse herausstellen werde,
falls sie nur lange genug, wenigstens ein Menschenalter hindurch, bestanden
hätte. Diese Zahlen zeigten große Verschiedenheiten, und zwar schwankten die
Verhältnisse zwischen 1000:126 bis 1000:20. Am reichsten war der Bergbau
vertreten, allein es gab hier Kassen, die weniger Invaliden zeigten, als — eine
Prediger-Emeritenkasse. Diese große Verschiedenheit konnte natürlich nicht blos
durch die Gefährlichkeit des Berufes entstanden sein, vielmehr waren dabei
auch die Verwaltungsgrundsütze der einzelnen Kassen einflußreich gewesen. So
wurde man beim Gebrauch dieser Zahlen zur äußersten Vorsicht gemahnt.
Nahm man die Kassen zusammen, welche sich in Bezug auf Gefährlichkeit des
Berufes der Mitglieder nahe standen und auch das zuverlässigste Material ge¬
liefert hatten, so zeigte sich, daß wohl im Durchschnitt auf 1000 Aktive nahezu
60 Invaliden kommen dürften.
So dürftig und zum Theil noch unsicher diese Ermittelungen auch waren,
so waren es doch immerhin wirkliche Beobachtungen, die auf dieses bisher in
der tiefsten Finsterniß liegende Gebiet einen schwachen Lichtschimmer warfen.
Man erkannte wenigstens, daß die Art der Arbeit bei dem Gesetz des Invalid-
Werdens eine viel größere Rolle spielte, als man dies bei dem Gesetz der
Sterblichkeit wahrgenommen hatte. Ein weiterer Fortschritt geschah dadurch, daß
der Verfasser dieser Zeilen die Sache theoretisch untersuchte und seine Resultate in
der „Rundschau" (Band III, 335 ff.) veröffentlichte. Aus diesen Untersuchungen
erkannte man, daß die eben erwähnten Ermittelungen zur Berechnung der Bei¬
träge für Invalidenrenten und zwar für jedes einzelne Altersjahr, so wie zur
Beantwortung anderer hierher gehöriger wichtiger Fragen keineswegs aus¬
reichten, daß man vielmehr hierzu wissen müsse, wie viel von einer bestimmten
Anzahl noch arbeitsfähiger Personen bestimmten Alters im Laufe eines Jahres
invalid werden, d. l>- daß man eine Skala haben müsse, welche für jedes ein¬
zelne Altersjahr bis zum höchsten Alter die Wahrscheinlichkeit des Invalid-
Werdens angibt. Eine solche Skala kann aber nur durch Beobachtungen fest¬
gestellt werden und läßt sich nur sehr schwierig aus den oben erwähnten
Beobachtungen ableiten, wenn man sie auch in großer Vollständigkeit, unter
Berücksichtigung des Alters, hätte.
Da nun Beobachtungen über die Wahrscheinlichkeit des Jnvalidwerdens
nicht zu erlangen waren, es aber trotzdem große Wichtigkeit hatte, nach dem
Alter bestimmte Beiträge für Invalidenrenten zu besitzen, sei es auch nur vor
der Hand annäherungsweise, so konstruirte der Verfasser dieser Zeilen unter Be¬
nutzung der Beobachtungen von Hülße und unter Annahme gewisser leitender
Prinzipien eine hypothetische Skala der Jnvaliditäts-Wahrscheinlichkeiten. Die
daraus berechneten Beiträge waren nicht klein, erreichten sogar in den spätern
Altersjahren eine ganz bedeutende Höhe und wurden deshalb allseitig ange¬
griffen. Man hielt die Wahrscheinlichkeiten der hypothetischen Skala für viel
zu hoch und meinte, wenn rationelle Invalidenkafsen wirklich nur unter An¬
nahme-so hoher Beiträge zu errichten wären, welche die Arbeiter unmöglich er¬
schwingen könnten, so müsse man auf solche Institute eben für immer verzichten.
Zunächst ließ sich darauf nichts weiter entgegnen. Man mußte ruhig die
Zeit abwarten, bis man klarer in der Sache sehen würde. Bis dahin aber durfte
man sich nicht verleiten lassen, blos aus dem nichtigen Grunde, daß die Ar¬
beiter so hohe Beiträge nicht zu zahlen vermöchten, erheblich kleinere Jnvalidi-
täts-Wahrscheinlichkeiten 'anzunehmen. Daß dies trotz dieser Warnung geschah,
und einige hinfällige Gründungen gemacht wurden, war um so mehr zu bekla¬
gen, als der angeführte Grund bei näherer Erörterung sich als durchaus nicht
stichhaltig erwies. Man konnte eine nicht geringe Anzahl Arbeiter namhaft
machen, die bei hinlänglichem Fleiße und weiser Sparsamkeit sich ein immer¬
hin nicht ganz unbedeutendes Vermögen erworben hatten. Wenn freilich, wie
es von gewissen Seiten verkündet wird, Fleiß und Sparsamkeit dem Zukunfts-
Staate schädliche Eigenschaften sind, so muß jedes, auch das ehrlichste, Bestreben,
die Lage der Arbeiter zu verbessern, vereitelt werden.
Da man die praktische Seite der Jnvalidenversorgungs-Frage so lange offen
halten mußte, bis aus richtigen und besseren Beobachtungen die Wahrscheinlichkei¬
ten des Jnvalidwerdens abgeleitet werden konnten, so warf man sich auf theore¬
tische Untersuchungen der wichtigen Frage. Man muß gestehen, daß hierbei
manches Interessante gefunden wurde, und daß man in scharfsinniger Weise
verfuhr. Allein es ging dieser Theorie hierbei ebenso, wie man es häufig
bei Behandlung naturwissenschaftlicher Fragen bemerkt hat. Die Theorie eilte
der Praxis weit voraus. Es war auf lange Zeit hin unmöglich, die von der
allzu sehr verfeinerten Theorie geforderten Beobachtungen anzustellen. Unter
solchen Umständen muß man es als ein großes Verdienst Dr. Wiegand's in
Halle hinstellen, daß er die Eisenbahndirektionen in Deutschland zu bewegen
suchte, das sehr beträchtliche in ihren Beamtenpensionskassen angehäufte Material
zur Verfügung zu stellen, um daraus die Wahrscheinlichkeit des Jnvalidwerdens
und die Sterblichkeit der Invaliden, die hier ebenfalls eine wichtige Rolle spielt,
zu ermitteln. Die Bitten Wiegand's fanden freilich anfangs bei den Direktio¬
nen der Eisenbahnen eine überaus kühle Aufnahme. Man antwortete entweder
gar nicht oder schützte Mangel an Arbeitskräften vor, um aus den sehr um¬
fänglichen Artender Pensionskassen die gewünschten Auszüge machen zu lassen. In¬
dessen muß man rühmend anerkennen, daß einige Direktionen doch die Wichtig¬
keit der Sache erkannten, andere widerstrebende mit sich fortzögen und so ein
nicht ganz unansehnliches Material dem Dr. Wiegand zur Verfügung stellten,
woraus dieser nun Ermittelungen über die Jnvaliditäts-Wahrscheinlichkeiten an¬
stellte und veröffentlichte. Das war ein großer Schritt vorwärts. Leider störte
der allzu frühzeitige Tod Wiegand's das begonnene Werk.
Der durch Wiegand ausgestreute gute Same trug aber doch seine Früchte.
Die Direktionen der Eisenbahnen erkannten je länger je mehr die große Wich¬
tigkeit der Sache auch für ihr eigenes Finanzwesen, und so beschloß der deutsche
Eisenbahnverein, die Beobachtungen alljährlich dem Geheimen Finanzsekretär Behm
in Berlin, der schon früher mit Wiegand gemeinsam gearbeitet hatte, zuzustellen
und von demselben bearbeiten zu lassen. Die Resultate dieser Rechnungen ver¬
öffentlichte Behm 1876 in einer besonderen Schrift: „Statistik der Mortalitäts-,
Jnvaliditäts- und Morbilitäts-Verhältnisse bei dem Beamtenpersonal der deut¬
schen Eisenbahnverwaltungen" (Berlin, Puttkammer und Mühlbrecht).Das
Verdienst, das Behm sich hierin erworben, kann man nicht hoch genug anschlagen
und rühmen.
Jetzt war, wenn auch noch nicht allgemein und für alle Berufszweige, so
doch wenigstens für einen, und zwar einen sehr wichtigen Zweig Licht in das dunkle
Gebiet gebracht, und man darf hoffen, theils daß durch die Fortsetzung der Arbeiten
Behm's das noch Fehlende ergänzt werden wird, theils daß auch die Pensions¬
kassen in anderen Berufszweigen, deren es nicht wenige gibt, sich veranlaßt
fühlen werden, ihr Material in gleicher Weise zu bearbeiten und zur allgemei¬
nen Kenntniß zu bringen. Darüber kann freilich noch ein Menschenalter ver¬
gehen. Vielleicht wird auch die offizielle Statistik veranlaßt, sich der Sache
anzunehmen und mit den ihr zur Verfügung stehenden Staatsmitteln kräftiger
zu unterstützen, als es die private Thätigkeit im Stande ist.
Wer sich genauer über die Resultate der Eisenbahnstatistik unterrichten
will, muß freilich Behm's Schrift nachlesen, die er sicherlich nicht ohne reiche
Belehrung aus der Hand legen wird. Dagegen dürfte es hier nicht ganz
ohne Interesse sein, in der nachfolgenden kleinen Tafel einen kurzen Auszug
aus den berechneten Jnvaliditäts-Wahrscheinlichkeiten zu geben. Zur Be¬
gleichung seien die hypothetischen Wahrscheinlichkeiten des Verfassers dieser Zeilen
hinzugefügt; man wird daraus erkennen, daß dieselben, anstatt zu hoch zu sein,
wie man vor zwanzig Jahren glaubte, im Gegentheil nicht unbeträchtlich zu klein
gegriffen waren; sie bleiben meist hinter den Wahrscheinlichkeiten zurück, welche
die Büreaubeamten der Eisenbahnen zeigen, von denen man doch annehmen
darf, daß sie keinen sehr gefährlichen Dienst verrichten.
Es mag noch bemerkt werden, daß die Wahrscheinlichkeiten des Invalid-
Werdens auch für scheinbar gleich gefährliche oder gleich ungefährliche Berufs¬
zweige sehr verschieden sein können. Bei Verrichtung gewisser Arbeiten des
Körpers oder Geistes, welche keine schwere Anstrengung erfordern, dagegen von
leicht verletzbaren Theilen des Körpers ausgeführt werden, kann recht wohl die
Wahrscheinlichkeit, invalid zu werden, beträchtlich größer sein, als bei schweren
und gefährlichen Arbeiten. Man denke z. B. an die Arbeit eines Telegraphisten,
die voraussetzt, daß die Hand in gewissem Takte regelmäßige Bewegungen aus¬
führt, aber sonst wenig Anstrengung erfordert, oder eines Klavierspielers, der
in derselben Lage ist, oder eines Sängers, dessen Stimme schnell verloren gehen
kann, oder eines Schauspielers, der das Gehör oder die Schärfe des Gedächt¬
nisses einbüßt u. tgi. In der That zeigen auch die Bühnenkünstler eine sehr
große Wahrscheinlichkeit, invalid zu werden, wie aus einer Abhandlung des
Verfassers in Elsner's Versicherungszeitung (1875, Ur. 89) hervorgeht.
Man erkennt aus allen diesen Betrachtungen, daß bei Errichtung einer auf
rationeller Basis ruhenden Invalidenkasse vieles zu untersuchen und zu erledigen
ist, bevor man zum Ziele gelangt, die ganze Sache überhaupt eine überaus
schwierige ist. Es handelt sich um die Wahrscheinlichkeit des Jnvalidwerdens
für den in Frage stehenden Beruf, um die Sterbens-Wahrscheinlichkeit sowohl
der arbeitsfähigen Personen als auch der Invaliden, die beide sehr verschieden
sein können, und dies Alles für alle Lebensjahre. Bei einer Invalidenkasse,
die allen Personen ohne Ausnahme zugänglich sein soll, mehren sich diese
Schwierigkeiten noch dadurch, daß eine solche Anstalt für jede Gefahrenklasse
einen besondern Beitragstarif haben muß und trotzdem oft genug in die Lage
kommen dürfte, bei Klassifizirung einer Person auf Schwierigkeiten zu stoßen.
Nun sind zur Zeit, wie schon oben bemerkt, diese Unterlagen, die Eisenbahn¬
beamten ausgenommen, noch gar nicht vorhanden. Eine allgemeine Invaliden¬
kasse zu gründen, ist daher für jetzt unmöglich, und wenn es für einen bestimmten
Beruf doch geschehen soll, so kann man es wenigstens nur annäherungsweise
den Regeln der Wissenschaft entsprechend anfangen. Man wird sich darauf
beschränken müssen, auf Bildung eines ansehnlichen Fonds Bedacht zu nehmen
und sich so gewissermaßen für die Zukunft wehrfähig zu machen. Ferner wird
man die eigenen Erfahrungen sorgfältig sammeln und der Rechnung zugänglich
machen müssen. Vor Allem aber wird zu vermeiden sein, die Beiträge nur aus
dem Grunde, um möglichst viele Mitglieder anzulocken, sehr gering anzusetzen,
Wie es in der That geschehen ist. Solche Fehler des Leichtsinnes rächen sich,
wenn auch vielleicht erst in später Zukunft, sehr empfindlich.
Anstalten, welche auf Lebens-Wahrscheinlichkeiten beruhen, wozu die Jn-
validenkassen mit gehören, müssen nach Ablauf gewisser Fristen nach den Regeln
der Wahrscheinlichkeitsrechnung untersuchen, ob der von denselben angesammelte
Fonds genügend ist zur Erfüllung der übernommenen Verbindlichkeiten. Eine
solche Untersuchung wird eine technische Bilanz genannt und von den größeren
Lebensversicherungsanstalten alljährlich vorgenommen, von kleineren Kassen nach
fünf, wenigstens nach zehn Jahren. Man bestimmt die Aktiven und Passiver
der Anstalt, wie es schließlich jeder Kaufmann thut, wenn er den Stand
seines Vermögens, insbesondere seinen Gewinn ermitteln will. Nur ist dies bei
Versicherungsanstalten eine viel zeitraubendere Arbeit und erfordert mehr
Kenntnisse, als Uebung in den vier Spezies. Die Aktiven bestehen aus dem
wirklichen Vermögen der Anstalt, was kaufmännisch zu ermitteln ist, und den
Werthen der von den Mitgliedern noch zu leistenden Beiträge, was nach den
Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung bestimmt werden muß, weil die Zeitlänge,
auf welche hin Beiträge noch zu zahlen find, vom Leben und Sterben der
Mitglieder abhängt. Die Passiver der Anstalt bestehen aus den Werthen der
Leistungen, welche die Anstalt den Mitgliedern auf weite Zukunft hinaus
schuldig ist. Diese Werthe können aus demselben Grunde wie bei den Aktiven
nur durch Wahrscheinlichkeitsrechnung ermittelt werden.
Diese Rechnungen können, wie beispielsweise bei den oben erwähnten Knapp¬
schaftskassen, sehr komplizirt und schwierig sein. Gerade hierüber wollen wir
noch einige kurze Andeutungen geben.
Bei den Knappschaftskassen sind die Aktiven nur aus den beiden oben
bemerkten Posten zusammengesetzt, die Passiver dagegen bestehen aus den wahr¬
scheinlichen Werthen der noch in Anwartschaft stehenden Invaliden-, Wittwen-
und Waisen-Pensionen, serner der Begräbniß- und Krankengelder, endlich aus
den wahrscheinlichen Werthen der bereits fälligen Invaliden-, Wittwen- und
Waisenpensionen, also zusammen aus acht Posten, die sämmtlich durch überaus
mühsame Rechnungen nur nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu
bestimmen sind.
Welche Werthe diese einzelnen Posten haben, wird am besten durch ein
Beispiel klar werden. Im erzgebirgischen Steinkohlengebiete gibt es eine
Kuappschaftskasse, bei welcher der Beitrag jedes Mitgliedes einschließlich des
Beitrags der Werkbesitzer eine Mark wöchentlich beträgt. Dafür gewahrt die
Kasse an Krankengeld wöchentlich 4 bis 5 Mark nebst freier Kur und Medizin,
an Invalidenrente je nach der Länge der Mitgliedschaft von 1 bis 9 Mark
wöchentlich, und zwar die höchste Rente nach dreißigjähriger Mitgliedschaft oder
auch sofort bei Verunglückung in der Grube. Die Wittwenpension beträgt den
dritten Theil derjenigen Invalidenrente, welche der Ehemann bezogen hat oder
bezogen haben würde, falls er zur Zeit seines Todes hätte pensionirt werden
müssen. Jede Waise erhält wöchentlich 80 Pfennige bis zum 14. Lebensjahre.
Das Begräbnißgeld endlich beträgt für ein Mitglied 36 Mark, für eine Ehefrau
16 Mark, für ein Kind 9 Mark. Das Vermögen der Kasse war zur Zeit der
technischen Bilanz 503000 Mark.
Diese Kasse hatte also, wenn man sie streng nach den Regeln der Wahrschein¬
lichkeitsrechnung behandelte, ein Defizit von über 2 Millionen Mark. So wie es
hier ist, ist es aber mehr oder weniger schlimm ziemlich bei allen Kassen. Voll¬
ständig solvent dürften wenige sein.
Diese Behauptung, daß die Knappschaftskassen in der großen Mehrzahl
insolvente Institute seien, hebt die großen Wohlthaten nicht auf, die sie den
Bergleuten gebracht haben. Sie ist aber von verschiedenen Seiten sehr un¬
willig aufgenommen worden, indem man dem Kritiker vorwarf, er habe nicht
gerade mit falschem, aber doch viel zu strengem Maßstabe gemessen. Darüber
läßt sich streiten. Allerdings muß man zugeben, daß der Maßstab, mit dem
man eine allgemeine, Jedermann zugängliche Lebensversicherungsaustalt mißt,
für eine kleinere Anstalt, welche nur berufsgleiche Mitglieder zählt, etwas zu
streng sein möchte. Sehen wir zu, was sich da ändern läßt.
Fest steht, daß eine Knappschaftskasse mindestens so viel Fonds besitzen
muß, daß sie zu jeder Zeit sich auflösen kann, ohne die bereits im Genuß der
Pension sich befindenden Personen zu schädigen. In der vorstehenden Bilanz
müssen also die letzten drei Posten der Passiver, das sind zusammen 1574000
Mark, in baarem Vermögen der Kasse vorhanden sein. Absetzen könnte man
die beiden Posten der Passiver, welche sich auf das Begräbnißgeld und Kranken¬
geld beziehen, nämlich zusammen 588 000 Mark. Denn wenn die Kasse sich
auflösen sollte, etwa wegen Abbau der Kohlenfelder, so werden die aus dem
Krankengeld und Begräbnißgeld entspringenden Forderungen der noch aktiven Mit¬
glieder, ihrer Kleinheit wegen und weil sie sich noch am leichtesten verschmerzen
lassen, kaum gestellt werden. Weiter dürfte man aber doch nicht gehen; höch¬
stens müßte man von den ersten drei Posten der Passiver den Theil streichen, der
sich auf die ganz jungen Mitglieder bezieht, denn die älteren Mitglieder wür¬
den bei der Auflösung erhebliche Verluste erleiden, wenn man so ohne Weiteres
ihre Anwartschaften auf Pension, die sie sich doch für ihre Verhältnisse theuer
genug erkauft haben, für Nichts erklärte. Der Theil aber, welcher den jungen
Mitgliedern gebührt, dürfte im vorliegenden Falle kaum eine halbe Million
betragen. Alles in Allem also würden sich die Passiver durch die angedeuteten
Reduktionen um etwa eine Million Mark vermindern, das unter den Aktiven
befindliche 'Defizit sich also um ebensoviel reduziren. Dann bleibt aber immer
noch das erschreckende Defizit von etwa einer Million Mark stehen. Nun
kommt aber hinzu, was noch viel schlimmer ist, daß die betreffende Kasse lange
nicht so viel baares Vermögen besitzt, um das oben bezeichnete Minimum zu
leisten, nämlich so viel, um die im Genuß der Rente befindlichen Invaliden,
Wittwen und Waisen zu befriedigen. Der Werth dieser letzteren Renten be¬
trägt anderthalb Millionen Mark, während die Kasse nur eine halbe Million
baares Vermögen besitzt. Ist das nicht ein beklagenswerther Zustand? Es ist
nur so viel da, daß die Rentner fortan, d. h. nach der Auflösung, nur ein
Drittel ihrer bisherigen Rente würden bekommen können.
Sind nun auch nicht alle Knappschaftskassen in gleich üblem Zustande, wie
die hier in Rede stehende, so kann man doch Denjenigen, welche die obige Be¬
hauptung über die Insolvenz dieser Kassen unangenehm berührt hat, die Ver¬
sicherung geben, daß sehr viele Kassen nicht so viel besitzen, um die im Genuß
der Rente stehenden Invaliden, Wittwen und Waisen voll zu befriedigen. Und
da jene mißliebigen, die Sache beschönigenden Aeußerungen nicht von den Berg¬
leuten, sonders meist von den Aktionären, also von den Werkbesitzern, aus¬
gehen, so sei nur noch bemerkt, daß der ungenügende Zustand der meisten
Knappschaftskassen zwar nicht allein, aber doch zum großen Theil daher rührt,
daß die Werkbesitzer ungenügenden Zuschuß geleistet, sich oft nur auf das ge¬
setzliche Minimum beschränkt haben.
Der Zeus Homer's erklärte einst der Götterwelt, wenn sie allesammt sich
an die Kette klammern wollten, die er auswerfen würde, sie sollten weder die
Kette seiner Rechten, noch ihn selbst der Höhe des Olymps entziehen. Als am
2. Mai die große Diskussion der Finanzreform begann, eröffnete sie Fürst
Bismarck damit, daß er eine Kette von Gründen entrollte, welche alle gegneri¬
schen Gewichte der Interessen und Vorurtheile nicht zerreißen, noch der Hand,
die sie hält, entziehen können.
Fürst Bismarck verlangte zuerst Unifikation der deutschen Staatsfinanzen,
ein Ziel, vor welchem vor nicht langer Zeit alle Wortführer der öffentlichen
Meinung erschraken, und der Partikularismus sich empört haben würde. Heute
erschrecken zwar noch die Wortführer der öffentlichen Meinung, weil ihnen ins¬
gesammt die Gedanken langsam wachsen, aber die amtlichen Vertreter des Par¬
tikularismus, die Minister der Bundesstaaten, erschrecken vor der Forderung
nicht, sie treten ihr bei. Die parlamentarische Opposition, sowohl die „ent¬
schieden" liberale, als die, welche sich heute noch die „national"-liberale nennt,
sprach durch den Mund der Herren Richter und Laster von der Mediatisirung
der Einzelstaaten, welche in dieser Finanzreform liege. Der königlich sächsische
Finanzminister und Bundesrathsbevollmächtigte v. Nostiz - Wallwitz erklärte
dagegen, daß zwischen dem Reich und den Bundesstaaten kein Gegensatz bestehe,
beide hätten dasselbe Interesse. Dahin also ist es gekommen, ist es, Gott sei
Dank, gekommen, ist es durch die Natur der Dinge gekommen, die hier zur
heilenden Nothwendigkeit wird, weil sie durch den Verstand und den Muth
eines großen Staatsmannes bei Zeiten in praktische und ausführbare Gebote
umgesetzt worden ist. Die Völker, die den Vorzug einer solchen Leitung entbehren,
müssen ebenfalls an die Natur der Dinge glauben, aber sie fühlen nur ihre
zerstörende Macht, weil sie ihr Gebot nicht vorwegzunehmen verstanden.
Die Unifikation der deutschen Staatsfinanzen ist in der Schlußreihe des
Fürsten Bismarck das erste Ergebniß, die erste Hauptprämisse zu weiteren
Schlüssen. Welches sind die einfachen Prämissen, aus denen sich diese zusam¬
mengesetzte aufbaut? Die Hauptfinanzquelle aller großen Staaten, das indirekte
Steuersystem, konnte sich in Deutschland nicht ausbilden bei einer zerrissenen
Staatswirthschaft, welche doch nicht so weit gehen mochte noch durfte, den
Boden einer einheitlichen deutschen Volkswirthschaft, welchen der Zollverein
frei machte, mit der andern Hand wieder zu zerreißen. Den Schlüssel des
indirekten Steuersystems kann in einem getheilten Staat nur die Zentralgewalt
fuhren; der Zollverein besaß gewisse gemeinsame Institutionen, sogar gewisse
gemeinsame Finanzen, aber keine Zentralgewalt. So gab es außer den nicht
einmal gemeinsam verwalteten Eingangszöllen kein gemeinsames, geschweige
denn ein zentrales Steuersystem, darum aber auch in den einzelnen Zollver¬
einsstaaten nur ein schwach entwickeltes indirektes Steuersystem. Die Erschlie¬
ßung dieser wichtigsten Finanzquelle, wie sie erst durch die Errichtung einer
deutschen Zentralgewalt möglich geworden, führt zur Unifikation der deutschen
Staatsfinanzen. Denn wie das indirekte Steuersystem schon als Finanzquelle
der Einzelstaaten wenig ausbildungsfähig war zur Zeit, als es noch keine
gemeinsamen Steuern geben konnte, so würde es zum völligen Widersinn,
wenn es sich mit einem indirekten Reichssteuersystem in irgend erheblichem
Maße kreuzen sollte. Den Einzelstaaten bleiben also mehr und mehr nur die
direkten Steuern, so lange sie ihre Finanzen auf eigene Quellen basiren müssen.
Aber diese Steuern werden ihnen von der andern Seite durch die Ausbildung
und die wachsenden Bedürfnisse der lokalen Selbstverwaltung mehr und mehr
auf dem Wege einer naturgemäßen und nothwendigen Entwickelung entzogen.
Gerade wie die indirekte Steuer nur in den Händen der Zentralgewalt ver¬
meiden kann, Schaden zu stiften, und nur in denselben Händen es erreichen kann,
gewaltigen Nutzen zu bringen, so kann die direkte Steuer mir in den Händen
der lokalen Selbstverwaltung beides bleiben: zugleich gerecht und leistungsfähig
zur Aufbringung hoher Erträge. Daher gehen die deutschen Staatsfinanzen
der Einzelstaaten und des Reiches nothwendig und naturgemäß der Unifikation
durch ein zentrales, indirektes Steuersystem entgegen. Soll dieser Weg nicht
eingeschlagen werden, so wird das Reich nie zu kräftigen Finanzen gelangen,
aber auch die Einzelstaaten werden es nicht; denn wie mit der reicheren sozialen
Entwickelung die Staatsbedürfnisse wachsen, wenn auch nicht im Verhältniß
der ersteren, so reichen die direkten Steuern schon nicht mehr für das Bedürf¬
niß der Einzelstaaten aus und drücken, so lange sie deren Hauptquelle bleiben,
auf das Gedeihen der Selbstverwaltung. Mit den direkten Steuern den drei
Kreisen der Selbstverwaltung, des Einzelstaates und des Reiches zu genügen,
ist ein wesenloser Gedanke. Wollten die Einzelstaaten völlig unabhängig in
ihren Finanzquellen bleiben, so könnten sie dies nur um den Preis, zugleich
das Reich und sich selbst zu verkümmern. So verblendet partikularistisch> so
unpatriotisch und arti-national ist heute nicht mehr die Gesinnung bundesstaat¬
licher Regierungen, sondern nur noch der Doktrinarismus „entschieden" liberaler
Parlamentarier. Bis dahin der erste Abschnitt der Bismarck'schen Schlußkette.
Leicht ergeben sich aus der so gewonnenen Hauptprämisse die weiteren
Folgerungen. Zunächst die Anwendung auf das preußische direkte Steuersystem.
Die für den kleinen Mann, auf welchen die direkte Besteuerung am wider¬
natürlichsten anwendbar ist, so drückende Klassensteuer soll ganz beseitigt werden.
Die Grund- und Gebäudesteuer soll, dem Staate entzogen, zum Hauptquell
der lokalen Selbstverwaltung werden, deren natürliches Eigenthum sie ist.
Die Einkommensteuer soll in den niedrigen Klassen beseitigt, in den oberen in
eine soziale Ehrensteuer, deren Erfolg nur ein moralischer, kein finanzieller sein
kann, mit Unterscheidung des Einkommens aus fundirten und unfundirten
Quellen zur leichteren Belastung der letzteren, verwandelt werden.
In den bisherigen Prämissen liegt schon die Entlastung des Grundbesitzes
als des natürlichen, moralischen und finanziellen Trägers der Selbstverwaltung
von direkten Staatsauflagen. Die Kraft dieses Schlusses wird zur Unwider¬
stehlichkeit verstärkt durch die Nothwendigkeit, den Grundbesitz überhaupt zu
erhalten, der unter dem jetzigen Steuersystem in Verbindung mit einer ganz
neuen Gestaltung der Welthandelskonjnnktur für die landwirtschaftlichen Er¬
zeugnisse bereits in Gefahr ist, die Beute verwüstender, seine völlige Entwerthung
herbeiführender Spekulation zu werden.
Aus dieser thatsächlichen Prämisse ergibt sich als letzte Schlußreihe die
Nothwendigkeit eines direkten, vorsichtig experimentirenden Schutzes für die
Landwirthschaft, aber nicht minder für die von derselben Welthandelskonjunktur
mit dem Untergang bedrohte nationale Industrie.
Die Hauptredner der liberalen Opposition, die sich der Wucht dieses gro߬
artigen Gedankenganges entgegenzustemmen versuchten, waren die Herren Bam-
berger, Eugen Richter und Laster. Herr Delbrück, welchen die manchesterliche
Opposition unvorsichtig als ihren Führer proklamirt und als solchem das erste
Wort gelassen hatte, beschäftigte sich ausschließlich mit technischen Einzelheiten
des Tarifs. Von den wirklichen Opponenten haben die ersten beiden nach einem
glücklichen Ausdruck der Berliner „Post" an den unzerreißbaren Gliedern der
Bismarck'schen Gedankenkette nur gezerrt. Herr Bamberger fand es sozialistisch,
daß der Kanzler die Beseitigung der direkten Staatssteuern in Aussicht nimmt.
Als ob es nicht ein bekanntes Dogma und Aufregungsmittel der Sozial¬
demokratie wäre, daß die indirekten Steuern den armen Mann allein
belasten! sozialistisch ist also die Aufhebung der direkten Steuern gewiß
nicht, wie später ausdrücklich von Herrn Laster bemerkt wurde. Herr Eugen
Richter bekämpfte in hundert Einzelheiten den geplanten Jndustrieschutz,
trat außerdem für den Partikularismus ein und machte seine nur sür den
Sinn gewisser Kreise berechneten Scherze, z. B. den, daß der Kanzler die
russischen Zustände zum Ideal genommen, weil er gesagt hatte, daß die
dortige Landwirthschaft neuerdings von deutschem Gelde Prosperire und nur
dadurch die Kriegslasten ertrage. Der einzig ernsthafte Opponent war Herr
Laster, ernst in der Sache, und mehr als ernst, leidenschaftlich, fast gehässig in
der Form.
Laster allein setzte der geschlossenen Gedankenreihe ebenfalls einen Ketten¬
schluß entgegen. Nur daß er die Glieder desselben zerstreute, als ob er im-
provisirt spräche, während doch vom 2. Mai, wo der Kanzler sprach, bis
zum 8., wo Herr Laster sprach, das Nachdenken nicht gefehlt haben konnte.
Es scheint, daß Herr Laster den Gang der Sache nicht eingehalten hat, weil er es
vorzog, die Steigerung seiner Vorwürfe gegen den Fürsten Bismarck zum Haupt¬
ziel seiner Rede zu machen. Wir unsererseits wollen Herrn Laster's Kettenschluß
in seine natürliche Folge bringen, um die Bedeutung seiner Argumente desto
deutlicher zu erkennen.
Herr Laster verwirft die Unifikation der Reichs- und Staatsfinanzen.
Er will im Reiche keine „Ueberschußwirthschaft". Er will sie nicht aus
Besorgniß für die finanzielle und damit für die politische Unabhängigkeit
der Einzelstaaten, und er will sie zweitens nicht aus Besorgniß für die Macht
des Parlamentes, welche nur gesichert ist, wenn das Parlament die Einnahme¬
quellen beliebig zu schließen Vorwände hat. Zum ersten Male zeigt sich hier
eine Solidarität zwischen dem reichstäglichen Parlamentarismus und dem Par¬
tikularismus der Einzelstaaten, eine Solidarität, die bisher Niemand für mög¬
lich gehalten. Der Scharfsinn der Herren Richter und Laster hat diese Soli¬
darität entdeckt und damit zugleich die nur beschränkte Geltung des Satzes
aufgewiesen, daß das zentrale Parlament der beste Hort der nationalen Ein¬
heit sei. Herr Laster will darum auch nicht die Ausbildung der indirekten
Steuern zur Befriedigung aller Staatsbedürfnisfe. Die eigentliche Triebfeder des
eben angeführten politischen Grundes verdeckt er, oder verstärkt er durch das
den Sozialdemokraten entlehnte Argument, daß das indirekte Steuersystem die
Abwälzung der Staatslast von den Reichen auf die Armen bedeute. Er bezeichnet
die Finanzreform des Fürsten Bismarck als die „Finanzpolitik der Besitzer
gegen die Nichtbesitzer". Da das direkte Staatssteuersystem in Preußen am
meisten ausgebildet ist, die natürliche Folge davon, daß Preußen die Lasten
der Vertheidigung Deutschland's lange Zeit allein tragen mußte, so liegt die
Aufhebung jenes Systems am meisten im Interesse Preußen's. Dadurch hält
sich Herr Laster für berechtigt, diese Aufhebung als eine partikularistische Ma߬
regel zu bezeichnen, vergessend, daß das nicht wohl partikularistisch heißen kann,
was die größere Hälfte der Deutschen betrifft, diejenige Hälfte, die nach innen
am engsten verbunden, am wirksamsten organisirt und deshalb der Hauptpfeiler
ist, der die Reichslast trägt. Herr Laster ereifert sich gegen die Entlastung
des Grundbesitzes von besonderen Staatsauflagen. Er nennt die Angaben des
Reichskanzlers von der Ueberbürdung des Grundbesitzes „eine Uebertreibung,
wie er sie niemals anch nur aus dem Munde eines Abgeordneten gehört", er
spricht dem Reichskanzler nicht nur alle Zuverlässigkeit in seinen Angaben,
sondern auch die Kenntniß der betreffenden Gesetzgebung ab. Warum Letzteres?
Weil der Kanzler in der Belastung aller ländlichen Wohnhäuser durch die
Gebäudesteuer eine Belastung des landwirtschaftlichen Betriebes erblickt hatte.
Wo lag wohl da die Unkenntniß und die Uebertreibung? Wenn dem Redner
schon die Entlastung von den direkten Steuern für den Grundbesitz zu viel
war, so mußte es ihm der landwirthschaftliche Zoll noch viel mehr sein. Bei
den Schutzzöllen für die Industrie zeigt er sich weniger spröde und will das
Bedürfniß im Einzelnen prüfen.
Stellen wir jetzt die beiden Kettenschlüsse nochmals in abgekürzter Form
einander gegenüber. Der Reichskanzler will die auf die indirekte Steuer basirte
Unifikation der deutschen Staatsfinanzen, er will dadurch eine ausreichende und
gesicherte Basis für die zentralen Aufgaben und Aktionen des deutschen Staates.
Er will mit einem Worte die innere Gründung des deutschen Reiches, das nach
dreizehnjähriger Arbeit der ungeheuersten Anstrengungen nur erst äußerlich ge¬
gründet ist. Er will einer mehren Folgen unabsehbaren Verschiebung der Ver¬
hältnisse des Welthandels gegenüber der deutschen Nation ihre eigene Industrie
und die eigene Produktion der elementaren Nahrungsstoffe sichern, und will
damit die anf diese Arbeiten gebauten sozialen Stände als gesunde nationale
Elemente erhalten. Wie lautet der gegnerische Kettenschluß? Die Einschränkung
der indirekten Steuer durch die direkte auf ein subsidiäres, widerrufliches Mittel
ist der Ausgangspunkt. Aus ihr folgt die Macht der Parlamente, aber die
Schwäche der Zentralgewalt und zugleich der Einzelstaaten, die unsichere und
schwache Leistungsfähigkeit des Ganzen nach innen wie nach außen. Aus der
direkten Steuer folgt der Freihandel, aus ihm folgt, daß die deutsche Volks¬
wirthschaft auf Zwischenhandel, Verdienst an der Durchfuhr und auf Herstellung
von Hilfsmaterialien für auswärtige Großindustrieen für billigen Arbeitslohn
angewiesen wird. Die deutsche Landwirthschaft muß zu Grunde gehen und kann
allerdings durch die Zufuhr billiger produzirender Länder in ihren Leistungen
ersetzt werden. Dafür muß Deutschland von diesen Ländern materiell abhängig
Werden. Bei der Schwäche der zentralen Aktionsmittel und bei der Abhängigkeit
des deutschen Nahrungsstandes von auswärtigen Nationen, sowohl in der In¬
dustrie als im Handel und in der Landwirthschaft, muß die politische Unab¬
hängigkeit Deutschland's innerhalb eines absehbaren Zeitraumes ein Ende nehmen.
Die Leser kennen — wenigstens in den Umrissen nach früheren Mit¬
theilungen d. Bl. — die große Entdeckungsreise Stanley's quer durch den
„dunklen Welttheil", und sie wissen, daß der kühne und rüstige Amerikaner
vor derselben von Zanzibar aus eine kürzere unternahm, um den verschollenen
Livingstone aufzusuchen — ein Unternehmen, das mit Erfolg gekrönt wurde.
Diese letztere Reise wird hier mit gewohnter Ausführlichkeit, Anschaulichkeit
und Lebendigkeit erzählt. Die eingeflochtenen Schilderungen von Landschaften
und Völkersitten sind allenthalben trotz ihrer Kürze gute Bilder; was der
Verfasser von seinen Erlebnissen berichtet, trägt den Stempel der Glaubwürdig¬
keit, und das ganze Detail, das er gibt, ist so natürlich und lebensvoll wie
ein sorgfältig und ehrlich geführtes Tagebuch. Vielleicht finden wir später
einmal Zeit und Raum zur Mittheilung einiger Proben. Für heute sei das
Buch als ein ebenso lehrreiches als anziehend geschriebenes Erzeugniß der
Reiseliteratur bestens empfohlen.
Ein Klagelied, das nach unserer Erfahrung in seinem Grundton der Em¬
pfindung Vieler Worte gibt und in der That manches Wahre enthält, aber
an starker Uebertreibung leidet und ein echauffirtes Wesen athmet, welches sich
nicht rechtfertigen läßt. Daß der Jude in seiner Auffassung und Behandlung
der Dinge, ganz abgesehen von der Religion, ein wesentlich Anderer ist als der
Germane, ist im Allgemeinen richtig. Daß dieses von uns verschiedene Volk
nicht gern im Schweiße seines Angesichts arbeitet, sondern leichteren Verdienst
vorzieht und namentlich den Handel in's Auge zu fassen pflegt, ist auch That¬
sache. Nicht zu leugnen ist ferner, daß es in den letzten Jahrzehnten beträcht¬
lichen Einfluß gewonnen hat, daß Juden in unseren Parlamenten mit unan¬
genehmer Manier das große Wort führen, daß die Presse vorwiegend in
jüdischen Händen, daß die Journalistik unter diesen betriebsamen Händen zu
einem Industrie- und Spekulationsgeschäft geworden ist, und daß das Judett-
thmn die öffentliche Meinung auch sonst vielfach beeinflußt, und keineswegs in
einer Weise, die erfreulich wäre. Daß unsere Börsen und Bankinstitute meist
von Juden geleitet werden, lehrt die Erfahrung. In Frankreich und England
endlich standen und stehen Juden sogar an der Spitze der Staatsregierung,, und
Rumänien muß sich von den Mächten die Emanzipation der Israeliten geradezu
oktroyiren lassen. Aber: „Israel die leitende sozialpolitische Großmacht im
neunzehnten Jahrhundert", „das Judenthum der sozial-politische Diktator
Deutschland's", dasselbe „zur Feudalherrschaft gelangt und wir Germanen die
Hörigen", „Fürst Bismarck überzeugt, daß das Germanenthum bankerott in
den letzten Zügen liegt, und sich nach lebenskräftigeren Elementen (natürlich
den Juden) umsehend" — das sind doch wohl Halluzinationen einer ungesunden
Erregtheit, die beinahe an Monomanie grenzt und für den Verstand des Ver¬
fassers Befürchtungen aufsteigen läßt.
Am 16. Mai nach der Debatte, die sich durch die denkwürdige Rede des
Abgeordneten Berger auszeichnete, erfolgte die Abstimmung des Reichstages
über die Position Eisen und Eisenwaaren, und die Reform unseres Zolltarifs,
die der Reichskanzler im Auge hat, hatte ihren ersten Sieg zu verzeichnen. Es
war ein entscheidender, ein verheißungsvoller Sieg. Von 308 Mitgliedern der
Reichsvertretung erklärten sich 218 sür und nur 88 gegen die Forderung der
Regierung, während 2 sich der Abstimmung enthielten. Erweckte dieses Ergeb¬
niß gute Hoffnungen, wenigstens für einen großen Theil der weiteren Pläne
des Fürsten Bismarck, so rief es auch mancherlei Betrachtungen hervor, und
mit einer derselben wollen wir uns hier beschäftigen, während eine andere nur
kurz erwähnt werden möge, die nämlich, welche mit dem befriedigenden Ge¬
fühle endigte, daß die Partei des internationalen Freihandels auf dem besten
Wege ist, durch verblendeten und eigensinnigen Doktrinarismus in gleicher
Weise an Zahl und Macht zusammenzuschmelzen wie die Fortschrittspartei und
wie deren Vorgänger in der ersten Stelle unter unseren parlamentarischen Frak¬
tionen, die einst sehr einflußreichen, jetzt gänzlicher Vergessenheit anheimgefal¬
lenen Altliberalen.
Sehen wir uns die Leute, aus denen die Minorität der Achtundachtzig
sich zusammensetzt, näher an, und lassen wir dabei die Polen und einige Andere,
die unter allen Umstünden gegen die Regierung zu stimmen gewohnt sind, sowie
die neun oder zehn Großgrundbesitzer, die für dieses Mal mit ihnen gingen,
aus dem Spiele, so finden wir in Betreff des bürgerlichen Berufes und der Stel¬
lung derselben im Privatleben Folgendes.
Wir begegnen nach der alphabetischen Reihenfolge zunächst einem Kreis¬
richter, dann einem andern Juristen, der später Bankier wurde und jetzt seit
Jahren Rentier und daneben als Publizist und Parlamentarier thätig ist.
Daran reihen sich ein Professor der Theologie a. D. und ein Professor der
Rechte, ein Rentier, der Doktor Juris ist, ein Publizist, der nie etwas Anderes
gewesen, ein Advokat und vielschreibender Literat, der nebenbei seit drei Jahr¬
zehnten das parlamentarische Gewerbe betreibt, ein Jurist, der den Titel eines
Geheimen Regierungsraths a. D. führt, noch ein Jurist, früher Advokat, jetzt
Bankdirektor, zwei Rentiers, von denen der eine Schriftsteller ist, und abermals
ein Jurist, der sich Appellationsrath a. D. und Professor schreibt. Ferner
haben wir da einen Minister a. D. und daneben einmal einen Fabrikanten.
Dann folgen sofort wieder zwei Juristen, von denen der erste bayrischer
Regierungspräsident, der zweite, früher Advokat gewesen, jetzt Oberbürgermeister
ist. Mit ihnen macht ein dritter Publizist Front gegen die wirthschaftliche
Reform. Weiter stehen in der Reihe, die wir uns zu mustern erlauben, ein
badischer Bankdirektor und ein Kleeblatt von drei Juristen, die cillesammt lange.
Jahre Advokaten gewesen sind: ein hessischer Obergerichtsrath, ein schleswig¬
holsteinischer Appellationsrath und ein Landeskreditkassen-Direktor, und nachdem
wir an einem Kaufmann, an einem Rentier, der Kaufmann gewesen, einem
zweiten Fabrikanten, wieder einem zum Rentier avancirten Kaufmann und
einem Professor der Physik vorübergegangen sind, stoßen wir nochmals auf ein
juristisches Trifolium, das aus einem früheren Advokaten und jetzigen Staats¬
anwalt, einem Kreisrichter und wiederum einem Advokaten besteht. Hieran
schließen sich ein Rentier, ein Superintendent und Oberpfarrer und — natürlich,
sagen wir jetzt, etwas verwundert, überhaupt noch anderen Elementen zu be¬
gegnen — ein Juristenpaar, dessen eine Hälfte Herr Laster bildet, während
die andere das Amt eines Obergerichtsdirektors bekleidet. Die nächsten Herren
in der Linie antworten aus unsere Frage nach ihrem Beruf mit „Journalist" —
„Kaufmann" — „Fabrikant" — „Rentier" — „Professor der Rechte" — „Arzt
und Dozent an der Berliner Universität" und „Rentier, früher Kaufmann".
Dann passiren wir einen Advokaten, einen Bergrath, einen Landwirth, der uns
hier ein wenig überrascht, einen Domänenpächter, der „auf den ersten Blick"
ebenfalls auffällt, und flugs stehen wir von neuem vor einer Gruppe Juristen,
von denen zwei sich der angenehmen Stellung von Rentiers erfreuen, während
der dritte sich mit der Speisung von Zeitungen durch Korrespondenzen seinen
Unterhalt erwirbt, und der vierte Obergerichtsrath ist. Die Rubrik der Lebens¬
stellung in der Liste der Uebrigen endlich zeigt folgende Prädikate: Fabri¬
kant — Jurist, Publizist, alter Parlamentarier — Rechtsanwalt — Bankier
und Journalist — Advokat und Notar — Rentier und Pensionär, früher
Vizebürgermeister, noch früher lange Zeit Advokat — Oberamtmann — Kreis¬
richter — Professor der Geschichte und Publizist — Obergerichtsanwalt —
Kreisgerichtsdirektor - Publizist - Publizist, früher Advokat — Publizist,
früher Professor der Theologie — Kaufmann und Fabrikant — Repräsentant
deutscher Eisenhüttenwerke — Advokat -— Jurist, Geheimer Oberregierungsrath,
Pensionär — Rechtsanwalt.
Blicken wir zurück, sortiren wir. Mit einem Juristen begann unsere Liste,
mit einem Juristen endigte sie, Juristen bilden in ihr nahezu die Mehrheit;
nicht weniger als siebzehn von den Herren auf ihr waren oder sind Advokaten.
Die Majorität der Uebrigen besteht aus Publizisten, Professoren, Rentiers und
Pensionären. Nur ganz selten stoßen wir bei ihr auf einen Fabrikanten, einen
aktiven Kaufmann, einen kleineren Landwirth, überhaupt auf jemand, der auf
dem Boden der realen Verhältnisse steht und lebt, der die Fragen, um die es
sich handelt, nicht aus Büchern, sondern aus eigener Erfahrung kennt und zu
beurtheilen vermag.
Werfen wir einen Blick auf die Minorität der 109 Abgeordneten, die am
23. Mai gegen die Bewilligung der Getreidezölle nach der Regierungsvorlage
stimmte und sich dabei wieder einer Majorität von mehr als dem Doppelten
ihrer Stärke gegenübersah, so bemerken wir im Wesentlichen das Gleiche.
Die Schlüsse, die wir daraus ziehen, ergeben sich von selbst, und so
könnten wir sie verschweigen. Wir wollen sie aber mit einigen Erinnerungen
andeuten, die sich uns bei der Musterung unserer Liste aufdrängten, und welche
die freihändlerische Opposition und namentlich deren Führer unserer Empfin¬
dung nach mehr oder minder deutlich begreifen lehren und als Leute charakte-
risiren, welche, wie der Abgeordnete Berger sagte und nachwies, in der Theorie
unübertrefflich sind, auf dem Gebiete der Wirklichkeit, der Praxis aber ohne
Unterlaß in Fehler und Irrthümer verfallen.
Das erste, woran unsere Liste uns erinnerte, ist ein Passus in der Rede
des Reichskanzlers vom 8. Mai, in welcher er dem Abgeordneten Laster be¬
merkte, er treibe die Politik eines Besitzlosen, und in der er dann ungefähr
fortfuhr, wie folgt:
Er gehört zu den Herren, die bisher in allen Stadien der Herstellung
unserer Gesetze die Majorität bildeten, und von denen die Schrift sagt, sie
säen nicht, sie ernten nicht, sie spinnen nicht, sie weben nicht, und doch sind
sie gekleidet und nähren sich. Mit anderen Worten: man wird zugeben müssen,
daß die Mehrheit unserer Gesetzgeber aus solchen besteht, die weder Industrie
noch Landwirthschaft treiben, und diese verlieren leicht den Blick und das
Mitgefühl für die Interessen, die hier von der Regierung vertreten werden.
Sie^ diese Nichtbesitzer, diese Nichtindustriellen in unseren Parlamenten, diese
Legislatoren, die von Gehalt, Honorar, Pension oder Renten leben, von der
Presse, der Advokatur, der Medizin oder irgend einem andern Zweige gelehrten
Erwerbes, namentlich aber die Führer, welche durch ihre Beredtsamkeit und
durch ihren Einfluß auf die Kollegen die Majorität zu leiten gewohnt sind
und sich diesem Geschäfte das ganze Jahr hindurch theils in der Presse, theils
im Parlamente widmen, sollten sich doch klar machen, daß bei Vorlagen, die
dem Bttrean und der Theorie entspringen, Mängel nur daun sich vermeiden
lassen, wenn einigermaßen Erfahrung und praktische Lebensweisheit dabei
helfen. Dann aber wäre ihnen das ^loblssss vo1iK<z an's Herz zu legen;
denn wer auf jene Weise Jahre lang im Besitze der Macht in der Gesetzgebung
gewesen ist, muß auch an den denken, der als Amboß dient, wenn der Hammer
der Gesetzgebung fällt.
Man vergleiche unsere Liste und die Reden der Herren damit, welche die
freihändlerische Schaar anführen und ihr als Vorfechter dienen.
Eine andere Erinnerung, welche die Betrachtung der Lebensstellung sehr
vieler von unseren Freihändlern und die Auffassungsweise, sowie theilweise auch
das Gebahren der ganzen Partei wachruft, trifft nicht ganz, wohl aber in
einigen Hauptpunkten, mit deren Wesen zusammen. Wir meinen eine Anzahl
von Stellen in Taine's „Entstehung des modernen Frankreich", wo die neuen
Volksführer geschildert werden, die nach Ausbruch der Revolution auftauchten.
Man denke sich die Kraßheit einer tief aufgeregten Zeit und den gemeinen
Eigennutz der Demagogen von 1790 hinweg, und man frage sich, ob ihr Bild
nicht in mehr als einem Zuge heutzutage unter unseren Freihändlern sein
Seitenstück findet. Die sich zur Macht heraufdrängenden waren vorzüglich
Prokuratoren, Redner in Volksversammlungen, Broschüren- und Zeitungs¬
schreiber, in erster Linie aber Advokaten. Es läßt sich sagen, daß diesem
Stande der Erfolg der Revolution zuzuschreiben ist. Schon während der Ur-
wähler von 1789 beobachtete man, wie diese Hitzköpfe und Ränkeschmiede
einander das Wort aus dem Munde nahmen und gar nicht erwarten konnten,
sich zu produziren. „In den sechzig Bezirksversammlungen paradiren die
Advokaten mit den hochtrabenden Dogmen des Revolutionskatechismus (ganz
wie die freihändlerischen Advokaten und Literaten die Jahre daher mit ihren
halbwahren Phrasen). Einer von ihnen verläßt den Leisten seiner Prozeßakten
und wirft sich zum Reichsgesetzgeber auf. Er überschüttet seine Zuhörer mit
seiner Beredtsamkeit, und sein Wortschwall ist um so unversiegbarer und wird
mit desto mehr Beifall belohnt, je eifriger er den Leuten beweist, daß sie von
Natur mit allen Fähigkeiten und gesetzlich mit allen Rechten ausgestattet sind.
,So oft dieser Mensch den Mund aufthat/ bemerkt ein kaltblütiger Zeuge,
,waren wir sicher, mit einem Strom von Zitaten und Sprichwörtern über¬
schwemmt-zu werden, die sich oft nnr an Laternen oder an die Krambude
einer Hökerin knüpften. Seine Stentorstimme erschütterte das Haus, und wenn
er zwei Stunden lang gesprochen hatte, bis seine Lunge nicht weiter konnte,
brach ein Bewunderungsgeschrei aus, ein Beifallssturm, der in Wuth aus¬
artete/"
„Betrachten wir uns die hervorragendsten und populärsten dieser Chefs.
Es sind die ausgetrockneten oder die grünen Früchte der Literatur und Advo¬
katur. Jeden Morgen stellen sie sich selbst zum Verkaufe aus, wobei sie die
Zeitungen als Ladentische benutzen. Das überreizte Publikum kauft sie nur,
weil sie sauer oder scharf schmecken. Ihre Köpfe enthalten keine politische Idee,
von praktischer Erfahrung ist nicht die Rede. Der Bildungsballast von Des-
moulins und Loustalot besteht aus Schulzeit-Reminiszenzen, aus Erinnerungen
an das Rechts - Lyceum, aus Gemeinplätzen, die sie bei Raynal und Kon¬
sorten aufgelesen haben. Desmoulins, ein Rechtsanwalt ohne Klienten, der
Chambre garnie wohnte, schreibt: ,Zu meinen Grundsätzen hat sich das Ver¬
gnügen gesellt, mich in Positur zu stellen, die, welche das Schicksal höher gehoben
als mich, auf mein Niveau herabzuziehen, die, welche mich geringgeschätzt haben,
meine Macht fühlen zu lassen. Meine Devise ist die der Biedermänner: nie¬
mand über mir/ Was Brissot und Marat betrifft, so sind sie hochtrabende Prin¬
zipienreiter, welche Frankreich und das Ausland blos durch die Luken ihrer
Dachstuben und die Brillen ihrer Hirngespinnste beobachtet haben. Derlei ge¬
dankenlose oder irregeführte Geister können nicht verfehlen, den ,Gesellschafts-
vertrag/ für ein Evangelium zu halten; denn derselbe reduzirt die Staats¬
wissenschaft auf die ängstlich genaue Anwendung eines Elementargrundsatzes
^ ein Umstand, der die Herren jedes weiteren Studiums überhebt — und
überliefert die Gesellschaft der Willkür des Volkes, d. h. den Händen dieser
Herren."
Man wird hier, wie bemerkt, überall mehr oder minder deutlich an Züge
der wirthschaftlichen Demagogen unserer Tage erinnert. Der letzte Satz unseres
Zitates aber würde, ein wenig gemildert, von Anfang bis zu Ende auf die
große Mehrzahl unserer Freihändler passen, wenn man an die Stelle des
Evangeliums vom Gesellschaftsverträge das Evangelium vom laissss tairs setzte.
Nicht sowohl auf Grund der Erfahrung, nicht fo sehr auf Kenntniß der realen
Verhältnisse bauten sie ihre Theorie, als auf den Glauben, Alles müsse und
werde gehen, wenn man es von Seiten des Staates nur eben gehen lasse.
Das war aber, wie wir zu unserm Schaden gewahr wurden, Aberglaube.
Gibt es denn in Leipzig eine Kunstakademie? — So hören wir den und
jenen Leser verwundert fragen. Wir aber verwundern uns über diese Frage
gar nicht. Denn abgesehen davon, daß der Prophet ja nichts in seinem Vater¬
lande gilt, und daß insonderheit der echte Deutsche über das Gute, das er in
seiner nächsten Nähe haben kann, gewöhnlich am schlechtesten unterrichtet ist —
hat die Leipziger Kunstakademie allerdings lange Zeit hindurch ein so
zurückgezogenes Dasein geführt, daß es begreiflich wäre, wenn der Leser nichts
von ihr wüßte, ein zurückgezogenes, verstecktes Dasein schon im räumlichsten
Sinne des Wortes, denn man kann dreißig Jahre lang in Leipzig gelebt haben,
Tag für Tag durch die Straßen der inneren Stadt und der Vorstädte gegangen
sein und doch keine Ahnung davon haben, wo sich die Unterrichtsräume der
Kunstschule befinden. „In dem alten Schlosse Pleißenburg ging man rechts
in der Ecke eine Wendeltreppe hinauf", schreibt Goethe in „Dichtung und
Wahrheit" über das Lokal der „Zeichenakademie", wie er es seiner Zeit als
Student in Leipzig gefunden hatte. Das war 1765. Heute aber ist es genau
noch ebenso. Noch immer geht man „in dem alten Schlosse Pleißenburg rechts
in der Ecke die Wendeltreppe hinauf"; es ist ein garstiger alter Winkel —
„wundersam und ahnungsvoll" nennt ihn Goethe in der behaglich verklärenden
Diktion seines Alters —, und wen sein Beruf nicht hinführt, der thut wohl
keinen Schritt hinein. Aber auch in anderm Sinne hat die Anstalt lange Zeit
eine so zurückgezogene Existenz geführt, wie eine Puppe in ihrem Gespinnst,
und schließlich drohte die Puppe gar zu vertrocknen, und es wurde zweifelhaft,
ob sie überhaupt noch lebens- und entwickelungsfähig sei. In den sechziger
Jahren mußte sich die sächsische Regierung auf einen im Landtage gestellten
Antrag hin allen Ernstes die Frage vorlegen, ob die Leipziger Kunstakademie
noch weiter bestehen solle oder lieber ganz aufzuheben sei. Und heute? Aus
der alten, zusammengeschrumpften Puppe ist ein schöner, bunter Falter hervor¬
gebrochen, der lebenskräftig seine Flügel regt, und dem gegenwärtig nur etwas
mehr Raum zu seiner vollen Entfaltung zu gönnen wäre.
Die Leipziger Kunstakademie hat seit einiger Zeit eine überraschende
Metamorphose durchgemacht; die stattliche Ausstellung von Schülerarbciten, die
sie soeben nach dreijähriger stiller Arbeit im Kartonsaale des Leipziger Museums
veranstaltet hat, und die für uns die eigentliche Veranlassung ist, auch weiteren
Kreisen einmal über die Anstalt zu berichten, legt ein erfreuliches Zeugniß ab
für die reorganisirende Umgestaltung, die sie in den letzten Jahren erfahren hat
und erfüllt uns mit den besten Hoffnungen für ihre weitere Entwickelung.
„Was man nicht wachsen sieht, das findet man nach einiger Zeit gewachsen"
— dies Lessing'sche Wort klang uns vertrauenerweckend fort und fort im
Ohre, als wir die Proben der gegenwärtigen Leistungen des Institutes mit
früher gesehenem im Geiste verglichen.
Die Leipziger Kunst-Akademie ist über ein Jahrhundert alt. Sie wurde
gleichzeitig mit der Dresdner bald nach dem siebenjährigen Kriege gestiftet.
Ihr erster Direktor war Adam Friedrich Oeser (f 1799), der bekannte Freund
Winckelmann's, der Lehrer des jungen Goethe. Als Künstler steht Oeser jetzt ziem¬
lich tief da. Nicht ohne Lächeln können wir heute die wenigen noch erhaltenen
Reste seiner künstlerischen Thätigkeit in Leipzig betrachten, über die seine Zeit¬
genossen in Hellem Entzücken waren. Als Lehrer aber wirkte er ungemein
anregend und segensreich.
„Was bin ich Ihnen nicht schuldig," schreibt Goethe 1768 von Frankfurt
aus an ihn, „dass Sie mir den Weeg zum Wahren und Schönen gezeigt haben,
dass Sie mein Herz gegen den Reitz fühlbaar gemacht haben. Ich bin Ihnen
mehr schuldig, als dass ich Ihnen baueten könnte. Den Geschmack den ich am
Schönen habe, meine Kenntnisse, meine Einsichten, habe ich die nicht alle durch
Sie? Wie gewiss, wie leuchtend wahr, ist mir der seltsame, fast unbegreifliche
Satz geworden, dass die Werckstatt des grossen Künstlers mehr den keimenden
Philosophen, den keimenden Dichter entwickelt, als der Hörsaal des Weltweisen
und des Kritickers. Lehre tust viel, aber Aufmunterung tust alles. Wer
unter allen meinen Lehrern hat mich jemals würdig geachtet mich aufzumuntern,
als Sie. Entweder ganz getadelt oder ganz gelobt, und nichts kann Fähig¬
keiten so sehr niederreissen. Aufmunterung nach dem Tadel, ist Sonne nach
dem Reegen, fruchtbaares Geteyen. Ja wenn Sie meiner Liebe zu den Musen
uicht aufgeholfen hätten ich wäre verzweifelt. Sie wissen was ich war da ich
Zu ihnen kam, und was ich war da ich von Ihnen ging, der Unterschied ist
Ihr Werck." Und 1770 an den Buchhändler Reich: „Oesers Erfindungen
haben mir eine neue Gelegenheit gegeben, mich zu seegnen, dass ich ihn zum
Lehrer gehabt habe. Fertigkeit oder Erfahrung vermag kein Meister seinem
Schüler mitzutheilen, und eine Uebung von wenig Jahren, Thut in den bil¬
denden Künsten, nur was mittelmüssiges; auch war unsre Hand, nur sein
Nebenaugenmerck; er drang in unsre Seelen, und man musste keine haben um
ihn nicht zu nutzen. Sein Unterricht wird auf mein ganzes Leben Folgen
haben. Er lehrte mich, das Ideal der Schönheit sey Einfalt und Stille, und
daraus folgt, dass kein Jüngling Meister werden könne---- Nach ihm und
Shäckespeareu, ist Wieland noch der einzige, den ich für meinen ächten Lehrer
erkennen kann, andre hatten mir angezeigt dass ich fehlte, diese zeigten mir wie
ichs besser machen sollte."
Diese Dankesworte des jungen Goethe werden nichts von ihrem Glanz
und ihrer Wärme verlieren, wenn auch die Kunstgeschichte über Oeser's eigene
Leistungen noch so geringschätzig urtheilen müßte. Wie er das ganze Kunst¬
leben Leipzig's am Ende des vorigen Jahrhunderts beherrschte, so waren auch
an der Akademie die Jahrzehnte seiner Leitung eine Zeit der emsigsten Kunst¬
betriebsamkeit. Während er selbst in öffentlichen und Privatgebäuden Leipzig's
und der Umgegend unzählige Wandmalereien ausführte, erzog er zugleich
Maler, Kupferstecher, Bildhauer, Goldschmiede und Schlosser; und der Blumen¬
zeichner aus der Kattunfabrik so gut wie der Zuckerbäcker, kurz alle, deren
Handwerk sich mit der Zeichenkunst berührte, suchten seinen Unterricht, und
allen ging er mit unerschöpflicher Liebenswürdigkeit an die Hand.
Auf der Höhe, auf welcher die Akademie unter Oeser gestanden, hat sie
sich unter keinem seiner Nachfolger gehalten; sie ging Schritt für Schritt bergab.*)
Joh. Friedr. Aug. Tischbein (f 1812) konnte sich wegen vielfacher Reisen seinen
Amtsgeschäften nicht recht widmen. Hans Veit Schmorr v. Carolsfeld (f 1841),
der Vater des großen Historienmalers, besaß selbst nur mäßige künstlerische
Kräfte und vermochte, trotz seiner Hingabe an die Sache, doch die Anstalt
ebenfalls nicht durchgreifend zu fördern. Berus. Ueber war nur von 1842
bis 1846 thätig und folgte dann einem Rufe an die Kunstschule in Stuttgart.
Gustav Jäger endlich, der zuletzt die Leitung führte, war — wie der von uns
in der Anmerkung erwähnte Aufsatz ihn ebenso einsichtig wie pietätvoll charakte-
risirt — „als Zögling der älteren Münchener Schule und bei seinem zarten
Naturell wenig dazu geschaffen, um in den Umschwung der modernen Kunst¬
anschauungen und Kunstbedürfnisse lenkend einzugreifen, der sich während seiner
Verwaltungszeit unter der jüngeren Generation vollzog. Still und innerlich,
wie sein ganzes Schaffen war, wirkte Jäger auch nur in engster persönlicher
Beziehung, und so überaus förderlich daher Einzelnen das Beispiel seiner hohen
Gewissenhaftigkeit und seiner Treue gegen sich selbst sein mußte, so verfehlten
doch diese keuschen Eigenschaften die Wirkung auf die Gesammtheit".
Ein frischerer Zug kam in die Akademie, als der gegenwärtige Direktor
derselben, Prof. Ludwig Nieper, nach Jäger's Tode (1871) die Leitung der
Anstalt übernahm. Nieper, ein geborner Braunschweiger, ist im wesentlichen
auf der Dresdner Akademie gebildet, wo er sich hauptsächlich an Bendemann
anschloß; durch einen längeren Aufenthalt in Italien vollendete er dann seine
Studien. Als ausübender Künstler war er, wie die Mehrzahl seiner Amts¬
vorgänger, vorwiegend der religiösen Malerei zugewandt. Sein „Abschied
des Paulus von Ephesus", den er 1864 in Rom vollendete, seine Farben¬
kartons zu den Glasfenstern der neuerbauten Kirche in Gohlis bei Leipzig
(1872) und ein Flügelaltar für eine russische Kirche (1878) bekunden einen bedeu¬
tenden Sinn für monumentale Komposition und energische Charakteristik. Daneben
bewegte er sich erfolgreich im Porträtfache und auf dem Gebiete des Holzschnittes.
Er hatte von der Pike auf als Xylograph gedient und, ehe er zur freien Kunst
überging, sich in die kunstgewerbliche Technik tüchtig eingelebt. Dies letztere
Moment sollte für seine neue Stellung von entscheidender Wichtigkeit werden.
Nach einer ministeriellen Verordnung vom April 1871 übernahm es Nieper,
„die Grundzüge eines Entwurfs zur Reorganisation der Akademie aufzustellen,
welche geeignet wären, den von der Ständeversammlung ausgedrückten Wünschen
entsprechend, vorzugsweise den in Leipzig blühenden Gattungen des Kunstge¬
werbes förderlich zu sein." In diesen Worten ist der Grundgedanke enthalten,
der für die Neugestaltung der Akademie fortan maßgebend wurde. Keine
Kunstakademie mehr, wenigstens keine Kunstakademie mehr allein, für die in
Leipzig entschieden kein rechter Boden ist, sondern, was sie zu Oeser's Zeit
faktisch, wenn auch nicht nominell, gewesen war, eine Akademie in Verbindung
mit einer Kunstgewerbeschule — das war das Ziel, welches der neue Direktor
in richtiger Erkenntniß der Anforderungen der Gegenwart nicht blos, sondern
vor allem auch des Ortes unverrückt im Auge behielt. Die Anstalt sollte
wieder die Doppelaufgabe erfüllen, neben ausreichender Anleitung zu einem
höheren Kunststudium gleichzeitig den kunstverwandten Gewerken die nöthige
künstlerische Grundlage zu verschaffen. Auf welche Zweige derselben hätte aber
da das Augenmerk wohl mehr gerichtet werden können, als auf die Techniken,
die mit dem hervorragendsten Gewerbe Leipzig's, dem Buchgewerbe, in Ver¬
bindung stehen: auf die „vervielfältigenden Künste" — Xylographie, Kupferstich,
Lithographie — und auf die Buchbinderei! Diese vor allem sollten aus der
neuen Einrichtung Gewinn ziehen, wenn auch natürlich nicht diese allein.
Mehr und mehr hat unsere Zeit es erkannt, daß ein Hauptgrund für die
Rückschritte, welche die deutsche Kunst und das deutsche Handwerk gemacht,
ein Hauptgrund, wenn auch bei weitem nicht der einzige — in ihrer gegen¬
seitigen Entfremdung liegt. Beide hatten vergessen, daß ihre Wurzel eine ge¬
meinsame ist, daß die Kunst nichts andres ist als ein gesteigertes, veredeltes
Handwerk, und daß auch das bescheidenste Erzeugniß des Handwerks durch
den Hauch der Kunst geadelt sein kann. Die Kunst glaubte sich in thörichter
Vornehmheit hoch über das Handwerk erhaben und verlor dabei den Boden
unter den Füßen, das Handwerk war in Banausenthum versunken und war
auf dem besten Wege, sogar die selbstverständlichsten Forderungen der Solidi¬
tät, der Sauberkeit und Akkuratesse womöglich als unberechtigte künstlerische
Zumuthungen zu betrachten. Diese klaffende Lücke zu füllen, das Band, das
in der besten Zeit der deutschen Kunst zwischen Kunst und Handwerk bestanden,
wieder enger zu knüpfen, wird daher mit Recht jetzt als die Hauptaufgabe
unserer Kunstschulen betrachtet. Für Leipzig hat Nieper mit der Durchführung
derselben zuerst Ernst gemacht.
Mit opferfreudiger Energie ging er 1871 an die Verwirklichung seines
Planes. Aber freilich, es galt Geduld zu üben, denn nicht alles ließ sich mit
einem Male erreichen. Vor allem mußten die unerläßlichsten äußeren Bedin¬
gungen des Gelingens erfüllt werden. Im Frühjahr 1872 wurde durch einen
Umbau das nöthige Licht in die dunkeln Säle der Pleißenburg gebracht und
auch sonst für eine angemessenere Ausstattung der Unterrichtsräume gesorgt.
Da die Akademie ihr Augenmerk von jetzt an vornehmlich auch auf solche
Schüler richten mußte, welche den Tag über in der Werkstätte ihrer Erwerbs¬
thätigkeit nachgehen, so wurden in der Mittel- und Unterklasse Abendkurse ein¬
gerichtet. In der Unterklasse (dem Kopirsaal) unterrichtete der Kupferstecher
O. Ufer, dem bei der zunehmenden Frequenz bald eine zweite Kraft in dem
Kupferstecher F. Seifert an die Seite trat, während in der Mittelklasse (dem
Antikensaal) bei dem niedrigen Etat der Akademie der Direktor den Unterricht
selbst mit übernehmen mußte. Die Schülerzahl wuchs trotz des tief eingewur¬
zelten Vorurtheils, mit welchem man sich seit langer Zeit gewöhnt hatte, die
Anstalt zu betrachten, vom Sommer 1871 bis zum Winter 1873/74 von 42
auf 176 Schüler — ein Beweis, daß die von der neuen Leitung eingeschlagenen
Wege das Richtige trafen und einem vielseitigen Bedürfniß entgegenkamen.
Bald wurde auch den ganz im Argen liegenden akademischen Hilfswissenschaften
einiges neue Leben zugeführt; Baumeister Viehweger ertheilte Unterricht in
der Perspektive und Stil-Lehre, und mehrere Universitätslehrer griffen förderlich
in den akademischen Studiengang ein: Professor Braune und Professor Räuber
richteten für die Schüler der Akademie ein eignes Kolleg über Anatomie ein,
Professor Overbeck las für sie einen besonderen Kursus über Mythologie. Eine
wesentliche Untersttttznng ihrer Bestrebungen konnte die Akademie endlich auch
von Seiten des neugegründeten Leipziger Kunstgewerbemuseums erwarten,
welches, auf Anregung des or. Jordan, des damaligen Direktors des Leipziger
Museums, von der „Gemeinnützigen Gesellschaft" im Verein mit einer Anzahl
von Kunstfreunden und Industriellen in's Leben gerufen, im Oktober 1874
eröffnet wurde.
Der wichtigste Schritt aber für die weitere Entfaltung der Anstalt geschah
im Sommer 1875, als der von Nieper vorgelegte, nach seinen Ideen erweiterte
Lehrplan der Anstalt die ministerielle Bestätigung erhielt. Jetzt war die alte
„Zeichenakademie" — denn etwas andres war sie ja bisher noch immer nicht
gewesen — faktisch in eine Kunstakademie und Kunstgewerbeschnle umgewandelt.
Nach Nieper's Lehrplan gliedert sich die Schule in vier Abtheilungen.
Die erste Abtheilung (für Baukunst) soll eine Fachschule sein für alle diejenigen
Kunstgewerbe, die sich mit Entwürfen für die Totalanordnung der Jnnenrüume
des Prvfangebäudes wie der Kirche und für die Ausstattung derselben mit
Gerüchen und Gefäßen befassen; die zweite Abtheilung (für Bildhauerei) eine
Fachschule für Bildhauer, Kunsttischler, Stukkateure und Modelleure für Thon,
Bronze, Gold und Silber; die dritte Abtheilung (für Malerei) soll zerfallen
in eine Fachschule für Musterzeichner aller kunstgewerblichen Branchen und
in eine solche, die speziell den graphischen Künsten gewidmet ist. Dabei ist die
Ausführung selbständiger Kunstwerke auf den Gebiete» der Plastik und Malerei
in dem Plane der zweiten und dritten Abtheilung mit einbegriffen. Die vierte
Abtheilung endlich umfaßt die sogenannten Hilfswissenschaften, wie Kunst¬
geschichte, Mythologie und Kunstmythologie, Anatomie u. a.
Zur praktischen Durchführung dieses Lehrplanes bedürfte es natürlich
eines wesentlich erweiterten Lehrkörpers, und Nieper hat es verstanden, eine
Reihe hervorragend tüchtiger Kräfte zur Mitarbeiierschaft an seinem Werke
heranzuziehen. Drei Künstler sind zu nennen, die neben den bereits oben
erwähnten seit 1875 als neugewonnene Lehrkräfte an Nieper's Seite thätig
sind: der Architekt Professor A. Scheffers, der Bildhauer Professor M. zur
Straßen und der Historienmaler G. Schildknecht.
Professor A. Scheffers, ein geborner Mecklenburger, hat, nachdem er theils
durch praktische Thätigkeit im Bau- und Jugenieurwesen, theils auf der Ge¬
werbeschule in Güstrow vorbereitenden Unterricht genossen hatte, von 1851
bis 1855 an der Berliner Gewerbeschule seiue Studien gemacht. Zugleich
leitete er damals den Bau des von Titze entworfenen Friedrich-Wilhelmstädti¬
schen Parktheaters und verschiedener anderer Hoch- und Wasserbauten. Im
Jahre 1855 ging er als Lehrer an die herzogliche Baugewerkenschule in Holz¬
minden, 1868 wurde er als Direktor an die damals zu revrganisirende Ge¬
werbeschule in Altona berufen, und Ostern 1875 trat er in seine gegenwärtige
Stellung an der Leipziger Akademie ein. Neben seiner Lehrthätigkeit hat
Scheffers eine namhafte literarische Thätigkeit entfaltet. Er gehörte 1857 zu
den Mitbegründern der noch heute bestehenden „Zeitschrift für Bauhandwerker",
von 1862—1866 gab er seiue, inzwischen wiederholt in neuen Auflagen er¬
schienene, dreibändige „Architektonische Formenschule", daneben von 1864—1866
sein „Handbuch des Hochbauwesens" heraus (beide früher im Seemann'schen,
jetzt im Gebhard'schen Verlage in Leipzig), und seit zwei Jahren ist er auch
an der Herausgabe des großen Ortwein'schen Sammelwerkes „Die deutsche
Renaissance" (Leipzig, Seemann) betheiligt. Scheffers wurde nach Leipzig vor
allem für das Fach der Ornamentik berufen, und mit unermüdlichem Eifer
hat er auf diesem Felde, auf welchem er einer der besten Kenner und metho¬
dischsten Lehrer ist, in den vier Jahren seines Leipziger Aufenthaltes gewirkt.
Nicht blos der Kunstakademie, auch der städtischen Gewerbeschule, dem Volks¬
bildungsverein und einem von ihm eigens eingerichteten Privatkursus für
Damen oder, wie er selbst es etwas spröde bezeichnet, „erwachsene Mädchen"
— es sind „Mädchen" von über dreißig Jahren darunter! — ist seine ausgiebige
Lehrkraft zu gute gekommen.
Professor M. zur Straßen hat einen Entwickelungsgang durchgemacht, der
einem modernen Vasari den Stoff zu einer musterhaften Künstlerbiographie
liefern könnte. Als Sohn eines armen Goldschmieds in Münster geboren,
mußte er sich unter allerhand Widerwärtigkeiten seine Künstlerlaufbahn förmlich
erkämpfen. Er lernte zuerst bei dem Bildhauer Jmhof in Köln, trat 1854 in
Rauch's Atelier ein und nahm 1857—1862 zweimal einen längeren Aufenthalt
in Italien. 1863 nach Berlin zurückgekehrt, richtete er dort ein eignes Atelier
ein und hatte bald zahlreiche Auftrüge. Im Jahre 1870 wurde er als Pro¬
fessor an die Kunstschule nach Nürnberg berufen, 1875 in gleicher Eigenschaft
nach Leipzig. Unter den plastischen Arbeiten zur Straßen's ist die hervor¬
ragendste unstreitig die anmuthige Gruppe seiner Caritas, die er 1862 in Rom
vollendete, und deren Original sich im Besitze des Bankiers Oppenheim in Köln
befindet. Ueber die Konzeption derselben erzählt die Fama eine Anekdote, so
schön und rührend, daß man sie sofort in eine Künstlerbiographie des Quattro¬
cento versetzen könnte.*) Während aber zur Straßen früher wesentlich in den
Bahnen der Antike sich bewegt hatte und lediglich als Bildhauer thätig gewesen
war, vertiefte er sich in Nürnberg mit Eifer in die altdeutsche Kunst und vor
allem das altdeutsche Kunstgewerbe, und erlangte auf diesem Gebiete bald eine
praktische Vielseitigkeit, die ihn zu den mannichfaltigen Aufgaben, welche in
Leipzig seiner warteten, besonders befähigen mußte, und die er, unterstützt durch
seine gleichzeitige Stellung als Inspektor des Leipziger Kunstgewerbemuseums,
noch fort und fort zu erweitern bemüht ist.
Der Maler G. Schildknecht endlich, aus Fttrth gebürtig, hat seine ersten
Studien auf der Nürnberger Kunstgewerbeschule unter Kreling gemacht, übte
sich darauf in Düsseldorf unter Röling namentlich im Porträtfache und lebte
dann abwechselnd in Wien und München seiner weiteren Ausbildung. Porträts
von ihm und Darstellungen aus dem „historischen Genre" (nach Shakespeare)
haben die Runde durch alle namhaften deutschen Ausstellungen gemacht und
um ihrer originalen Auffassung wie um der Korrektheit und Subtilität ihrer
Technik willen überall lebhaften Beifall gefunden. In Leipzig wurde Schild¬
knecht speziell mit der Lehrstelle für den Antikensaal betraut.
Seit der Berufung dieser drei Lehrkräfte ist nun die Kunstakademie mit
ihren Fortschritten nicht wieder an die Öffentlichkeit getreten, wenigstens in
Leipzig nicht. Die Schule hat bisher unter Nieper's Direktion dreimal Aus¬
stellungen veranstaltet: im Februar 1872, zu Ostern 1873 und 1874. Schon
damals zeigte sich in erfreulicher Weise der frische Geist, der in die Anstalt
eingezogen war. Im Sommer 1874 und 1875 waren eine Anzahl Leipziger
Schülerarbeiten auf der akademischen Ausstellung in Dresden, und beidemale hatte
die Schule die Freude, eine Anzahl ihrer Schüler mit Auszeichnungen bedacht
zu sehen. Im Sommer 1876 beschickte sie die zur Jubelfeier des Münchener
Kuustgewerbevereins veranstaltete große Kunstgewerbeausstellung in München,
und hier wurde ihr sogar die Auszeichnung eines zweiten Preises zu Theil.
Seitdem ist die Schülerzahl auf 201 gestiegen, und die Schule hat still und
emsig weiter gearbeitet, ohne von ihren Fortschritten öffentlich Zeugniß abzu¬
legen. So ist es denn natürlich, daß die Proben ihrer Leistungsfähigkeit, die
sie gegenwärtig in der Vorführung einer Auswahl von Schülerarbeiten aus
den letzten drei bis vier Jahren bietet, von allen Urtheilsfähigen mit besonders
kritischen Blicken betrachtet werden. Aber alle Erwartungen, die man billiger
Weise von dieser Ausstellung hegen durfte, sind reichlich erfüllt, in mancher
Beziehung sogar übertroffen worden.
An die Arbeiten der Kopirklasse, für welche auch diesmal erfreulicherweise
meist Photographieen nach Handzeichnungen alter Meister, vor allem Dürer's
und Holbein's, zu Grunde gelegt worden sind, und welche wiederum von treff¬
licher Schulung Zeugniß ablegen, reihen sich zum ersten Male eine Anzahl,
unter zur Straßen's Anleitung angefertigter, sehr anerkennenswerther plastischer
Werke in Gyps, Thon, Wachs und Holz, theils nach Vorlagen, theils nach der
Natur gearbeitet. An diese schließt sich, gleichfalls zum ersten Male, eine reiche
Kollektion von farbigen Ornamentstudien — unter Scheffers'Leitung ausgeführt —,
an denen nicht nur die methodische Entwickelung des Ornamentes aus den
elementarsten Motiven heraus zu den mannichfaltigsten freien Kompositionen
in Streifen, Bordüren, Flachmustern und abgepaßten Mustern, sondern auch die
Gesetze der Stilisirung naturalistischer Motive und die Gesetze der Schatti-
rung, Mischung und Gegenüberstellung der Farben sich in instruktivster Weise
verfolgen lassen. Einen sehr günstigen Eindruck gewühreu die unter Schild-
knecht's Leitung ausgeführten Zeichnungen nach Gyps. Wir bekennen offen,
daß wir eine so musterhafte Akkuratesse der Arbeit, insbesondere eine so vollendete
Plastik der Details und eine solche Klarheit und Empfindung in der Schatten-
gebuug, wie sie hier zu Tage tritt, noch nie an Schülerleistungen dieser Art
beobachtet haben; die Blätter legen sämmtlich, unbeschadet der Individualität
des Einzelnen, der überall sichtlich freie Hand gelassen ist, von strengster
Leitung Zeugniß ab. Die Arbeiten der oberen Klasse zerfallen in Aktstudien,
Kostümfiguren und Porträtköpfe, die theils in verschiedenen Manieren gezeichnet,
theils in Oel gemalt sind, und eine kleine Auswahl freier Kompositionen aus
dem Gebiete der Genre. Hier brauchen wir nicht ausdrücklich hervorzuheben,
daß die Herrschaft über die Technik'und die frische, natürliche, durch keine
Manier beirrte Auffassung, die sich in den meisten dieser Arbeiten ausspricht,
eins's neue von der bewährten Führerhand des Direktors zeugen, unter
deren Anleitung sie entstanden sind.
Neben den spezifisch kunstgewerblichen Bestrebungen, die schon in den
Abtheilungen für Plastik und Ornamentik zu Tage treten, haben wir aber diesmal
auch die ersten Proben von Dekorations-, Porzellan- und Glasmalerei zu
verzeichnen. Es sind vor der Hand noch vereinzelte Ansätze dazu, die aber
sicherlich nicht vereinzelt bleiben werden. Ebenso sind zum ersten Male be-
achtenswerthe Proben von Holzschnitt — unter Oertel's Anleitung gefertigt —,
Radirung und Lithographie vorgeführt, und hier zeigt es sich denn, daß die
Schule thatsächlich bereits beginnt, der Praxis die Hand zu reichen. Einige
lithographirte Umschläge hat die Verlagshandlung von A. Dürr zu Publika¬
tionen von Werken Genelli's und Preller's ausführen lassen, und ein Cyclus
von Illustrationen, den ein Schüler der Oberklasse unter Leitung des Direktors
entworfen hat, ist — übrigens in einer originellen, an den Metallschnitt erinnernden
xylographischen Manier — in dem im Brandstetter'schen Verlage erschienenen
Büchlein: „Lustige Geschichten aus alter Zeit" zur Verwendung gekommen.
Dies alles sind vorläufig vielleicht noch geringfügig erscheinende Resultate,
deren man sich aber doch, wenn man alle Umstände erwägt, die hier in Frage
kommen, aufrichtig freuen kann.
An den Leipziger Gewerbtreibenden wird es nun sein, mit der von so
frischem Eifer beseelten Anstalt mehr und mehr Fühlung zu suchen. Einzelne
Lehrer der Akademie, namentlich Professor zur Straßen, sind ja, wie man sagt,
in den letzten Jahren mit kunstgewerblichen Aufgaben, namentlich mit Bestel¬
lung von Entwürfen aller Art förmlich überschüttet worden. Dennoch scheint es,
daß die Herren Akademiker und die Gewerbtreibenden einander noch nicht ganz
verstehen. Die ersteren klagen wohl, daß die von ihnen gelieferten Entwürfe
häufig nicht recht zur Geltung kommen, weil die Handwerker, keineswegs immer
mit Rücksicht auf die Bedingungen ihrer Technik, sondern aus purer Bequem¬
lichkeit und anderen höchst untergeordneten Rücksichten, sich entstellende Modi-
Nationen der Entwürfe gestatten; die Handwerker ihrerseits beschweren sich,
daß ihnen oft Entwürfe geliefert werden, die für die Ausführung direkt nicht
verwendbar seien und erst durch fleißige und gewissenhafte.Schülerhände aus
dem Stadium der Skizze in das der direkten Vorlage übersetzt werden müßten.
Wir lassen es dahingestellt, wieviel von diesen beiderseitigen Klagen begründet
ist. Das Beste wäre es, wenn es mehr und mehr dahin käme, daß der Lehrer,
wenn derartige Wünsche an ihn herantreten, sie einfach ablehnen, den Auftrag¬
geber an seine Schüler verweisen und sagen könnte: „Wende dich an den oder
jenen, er wird dir die Sache genau so gut und gewissenhaft, genau so stil-
und geschmackvoll liefern, als wenn ich es selber übernähme." Vor allem aber
möchte der Buchhandel und die Buchbinderei der Schule ihr Interesse zuwen¬
den. Es war in Leipzig bis jetzt hergebracht, und leider, muß man ja sagen,
mit Recht hergebracht, daß ein guter Theil der künstlerischen Aufgaben, welche
diese Branchen zu vergeben haben, nach auswärts gingen und in Stuttgart,
München, Wien, Dresden oder Berlin Erledigung suchten und fanden. Dies
uicht sehr ehrenvolle Verhältniß für Leipzig muß und wird sich ändern, wenn
die Akademie auf dem von ihr feit einigen Jahren eingeschlagenen Wege wacker
vorwärtsschreitet, und wenn das Buchgewerbe die reservirte Haltung, die es
ihr gegenüber jetzt im Großen und Ganzen noch einnimmt, mit der Zeit auf¬
gibt. Hoffentlich dient die gegenwärtige Ausstellung dazu, diese gegenseitige
Annäherung zu befördern.
Eins aber haben wir zum Schlüsse noch an dieser Ausstellung auszusetzen:
das ist das Ausstellungslokal. Es ist allgemein aufgefallen, daß die Akademie
ihre Schülerarbeiten im Kartonsaale des städtischen Museums ausgelegt und
steh nicht „als dienendes Glied" an die eben eröffnete Leipziger Kunstgewerbe-
Ausstellung angeschlossen hat, wo die Schülerarbeiten der Dresdner Kunstgewerbe¬
schule und einer ganzen Reihe anderer sächsischer und thüringischer Kunstschulen
augenblicklich zu sehen sind. Am 15. Mai sollte die Kunstgewerbe-Ausstellung
^öffnet werden, das wußte jedes Kind: und siehe da, wenige Tage zuvor etablirt
die Akademie ihre eigne Ausstellung! Das Königspaar erscheint aus Dresden,
eröffnet feierlich die GeWerbeausstellung, besichtigt die Ausstellungsgegenstände
und — fährt dann hinüber in's Museum, um dort die Arbeiten der Leipziger
Akademie in Augenschein zu nehmen! Was sind das für komische Geschichten! —
^legt etwa irgend eine kleine persönliche Differenz vor, die diese ssosWio in
wusvum veranlaßt hat? Aber das ist ja ganz undenkbar, denn Professor
Zur Straßen ist ja eins der eifrigsten und unermüdlichsten Mitglieder des
Komite's für die GeWerbeausstellung. Oder hat die Tradition den Ausschlag
gegeben? Nun, im vorliegenden Falle hätte dann eben einmal von der Tradi¬
tion abgegangen werden können. Oder sollte übertriebene Bescheidenheit im
Spiele sein? Fast scheint es so. Und doch, wie wenig hat die Leipziger.Aka¬
demie es augenblicklich nöthig, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen! Wir
bedauern es aufrichtig, daß diese illo in xartss stattgefunden hat. Die Arbeiten
der Leipziger Schule würden nicht nur dem größeren Ensemble, in welches sie
in der GeWerbeausstellung sich eingefügt hätten, zur Zierde, sondern auch der
Schule selbst entschieden zur Ehre gereicht haben.
Schon in grauer Vorzeit waren explodirende Gemenge bekannt, welche
nach Zusammensetzung, Eigenschaft und Wirkung unserm Schießpulver ähnelten.
In den meisten dieser Gemenge finden sich Salpeter und Schwefel und neben
diesen beiden Bestandtheilen entweder Pech, Harze, Oele oder Holzkohle.
Der Schwefel mit den Kohlenstoff-Verbindungen oder der Kohle selbst bildet
gewissermaßen den Körper der kraftstrotzenden Substanz. Ihre Seele ist der
Salpeter; denn dieser belebt sie, dieser gibt den Athem her für die furchtbaren
Ausbrüche ihrer erschütternden Gewaltäußerungen.
So häufig und allgemein Schwefel und Kohle vorkommen, so selten ist
der Salpeter. Die einzigen Länder, welche ihn in einiger Fülle gleichsam
natürlich darbieten, sind jene alten Kulturgebiete des Orientes, deren Boden
seit Jahrtausenden geschwängert ist mit den Resten und Abgängen unzählbarer
Geschlechter vegetativer wie animalischer Art. In diesen heißen Landstrichen
am Nile, am Indus, am Ganges, am Kiang-Ho bedeckt sich jährlich nach
dein Verlaufe der Regenzeit das Feld mit einer schimmelartigen Kruste salziger
Ausschwitzungen, welche die Alten den „indischen Schnee" nannten — es ist
wesentlich Salpeter. Und in eben den Landen, welche als natürliche Heimat
dieses Stoffes erscheinen, der die Seele aller Feuerwerkskörper ist, hat denn
auch die Pyrotechnik ihren Anfang genommen.
Jahrhunderte lang hat man mit explosiblen Mischungen von Salpeter,
Schwefel und Kohle oder kohlenstoffhaltigen, leicht brennbaren Materialien ge¬
spielt; andere Jahrhunderte lang verwerthete man sie bereits im Kriege, aber
ohne die ballistischen Kräfte zu kennen, welche die bei der Explosion ent¬
wickelten Gase besitzen, und als man diese endlich erkannt hatte, bedürfte es
wieder langer Zeit, bevor man die Elastizität der gespannten Sehne oder der
gedrehten Stränge durch die Elastizität der Gase ersetzte und eigentliche Feuer¬
waffen im modernen Sinne schuf.
Anfangs unterschied man kaum die explosiblen Mischungen von einfachen
Brandsätzen, und daher spielt im fernsten Alterthume die Hauptrolle unter den
von der Pyrotechnik benutzten Stoffen die Naphtha, ein dem Petroleum glei¬
chendes Erdöl, welches zumal im Kaukasus und in der Umgegend Babylon's
häufig vorkam und von dort besonders westwärts versendet wurde. Alte
Schriftsteller bezeichnen diese Nnphtha als „flüssiges Feuer", weil sie, auf den
Boden gegossen und angezündet, lebhaft brennt, wie sie denn auch, einer Flamme
zugeführt, diese mächtig auflodern läßt. Außer der Naphtha erfuhr namentlich
ein Erdpech, Maltha, mannichfache Verwendung.*) Als dann die Eigen¬
schaften des Schwefels und endlich die des Salpeters bekannt wurden, fetzte
man beide Stoffe zunächst immer den Erdölen zu, denn diese schienen doch die
recht eigentlichen Feuerträger zu sein; und so mischte oder schmolz man Brand¬
massen zusammen, welche sich unter dichtem Qualme entzündeten und endlich
mit hervorbrechenden Flammen explodirten. Daß Explosion auch ohne An¬
wendung von Holzkohle stattfinden konnte, erklärt sich hinlänglich durch die
Anwesenheit anderer leicht verkohlender organischer Substanzen.
Aus allen Nachrichten, welche von diesen Dingen überliefert sind, erhellt,
daß die Kenntniß derselben in engen Kreisen, namentlich in den Priester-
schaften, geheim gehalten und benutzt wurde, um der Menge handgreiflich
zu imponiren.
Jene Gelehrigkeit der Opferflammen, die, je nach dem Willen der Götter
oder dem Interesse ihrer Priester, bald hochaufloderten, bald verglommen, hell
emporflammten oder im Manche erstickten — jenes ewige, unauslöschliche Feuer,
das auf den Altären des Vischnu, wie auf denen der Astarte oder der irani¬
schen Feueranbeter glühte — jene flammenden Schriftzüge, welche in den
Heiligthümern Chaldäa's und Aegypten's oder bei dem Bakchanale Belsazar's
plötzlich an den Mauern erschienen — das Nessusgewcmd und die tödtliche
Krone der Krsusa*) — jenes Gewittergewölk mit Donner und Blitz, das bei
den Mysterien der Isis wie bei denen von Delphi und Eleusis vor der Maje¬
stät der nahen Gottheit zittern ließ — alles das sind offenbar Anwendungen
der Pyrotechnik im Dienste des Kultus und der Priesterschaft.
Dieser ursprünglich sakralen Bestimmung der Feuerwerkerei, deren Rezepte
in der Cella des Tempels verborgen wurden, entspricht es vollkommen, daß
gerade in den theokratischen Despotieen, also unzweifelhaft unter Leitung der
Priester, zuerst die Pyrotechnik im Dienste der Kriegspolitik benutzt worden ist.
Darauf deuten uralte Mythen hin. Denn wenn erzählt wird, daß Bakchos
und Herakles an den Grenzen Indien's mit furchtbaren Donnerschlägen empfangen
und zur Umkehr veranlaßt worden seien, weil sie meinten, von einem Gotte be¬
kämpft zu werden, der stärker wäre als Zeus, so stellt sich dieser Zug der Mythe
dem Wesen nach gewiß als dasselbe dar, wie die Mittheilung des Apollonios von
Tyana, daß die Brahmanen Blitz und Donner gegen ihre Feinde geschleudert
hätten, oder wie jener Bericht des Curtius, daß der Jnderkönig Porus das Heer
des großen Alexander mit Flammengeschossen bekämpft habe, oder endlich wie
die Angabe Plutarch's, daß die Bewohner von Samosata, einer Euphratstadt, sich
gegen Lucullus vertheidigte», indem sie brennendes Erdpech auf die stürmenden
gössen. Abgesehen von Indien scheint China in militärischer Verwerthung der
Feuerwerkerei vorangegangen zu sein. Die Annalen des himmlischen Reiches
sollen beweisen, daß man dort schon 1000 Jahre vor Beginn unserer Zeit¬
rechnung explosive Mischungen, bei denen Salpeter die Hauptrolle spielte, im
Kriege anwandte, und daß damals die chinesischen Heere bereits von „Blitz¬
wagen" begleitet waren — sicherlich fahrbaren Wurfmaschinen, welche Feuer¬
bälle und Feuertöpfe schleuderten, wie denn ähnliche Dinge auch mit dem Bogen
oder der Handschleuder bewegt werden konnten. Vom Osten schritt die Kriegs-
feuerwerkerei nach Westen fort. Schon zur Zeit der Republik wenden die Römer
nicht selten Kriegsfeuer an; sie schleudern brennende Substanzen in die bela¬
gerten Städte, um auf diese Weise Feuersbrünste zu entzünden.
Seit die thaumaturgischen Tendenzen der Priester sich mit den praktischen
Absichten der Krieger verschwistert hatten, und die Pyrotechnik somit aus einem
Tempelgeheimnisse zu einem Staatsgeheimnisse geworden war, wendete man
der weiteren Ausbildung dieser schwarzen Kunst gesteigerte Aufmerksamkeit zu
und ist vermuthlich schon früh dahin gekommen, sogar einige pyrophore Mischun¬
gen herzustellen, welche sich „von selbst", d. h. bei der Berührung mit der
Luft oder dem Wasser, entzündeten.") Minder gefährliche Gemenge waren
bald in allgemeinem Gebrauche. Man hat in den Schweizer Pfahlbauten
Brandkugeln gefunden, deren Zusammensetzung derjenigen des Schießpulvers
verwandt sein soll.**) Aeneas, der zur Zeit Philipp's von Makedonien lebte,
gibt die Zusammensetzung eines Brandsatzes. Er sagt:
„Um einen Brandsatz herzustellen, der sich durch nichts löschen läßt, nehme man
Pech, Schwefel, Werg, Weihrauchkörner und Abfälle jenes harzigen Holzes, mit
denen Fackeln präparirt werden; man mache Bälle daraus, zünde sie an und schleu¬
dere sie gegen diejenigen Gegenstände, die man einäschern will."
Diese Mischung ist eine der ältesten und harmlosesten derjenigen Kompo¬
sitionen, welche in der Folge unter dem Namen des Griechischen Feuers
so berühmt geworden sind und so großen Schrecken verbreitet haben.***)
Ein Brief des Kaisers Konstantin Porphyrogenetos läßt vermuthen, daß im
4. Jahrhundert v. Chr. das eigentliche griechische Feuer bereits bekannt war.
In diesem, aus dem Jahre 949 stammenden Briefe schreibt der Kaiser nämlich
seinem Sohne Romanus:
„Man muß des griechischen Feuers wegen eifrig Sorge tragen und alle die¬
jenigen zurückweisen, welche das Geheimniß seiner Zusammensetzung kennen lernen
wollen; denn es ist von einem Engel dem ersten Könige der Christen, Konstantin
(323—337), anvertraut, mit dem ausdrücklichen Befehle, es nirgends anders als in
der Stadt der Christen (d. h. in Konstantinopel) zu verfertigen. Der große König
schwur auf dem Altare der Kirche Gottes: Derjenige, welcher es wagen würde, das
Geheimniß der Zusammensetzung und Bereitung des griechischen Feuers einem Fremden
mitzutheilen, gleichviel ob König, Erzbischof oder sonst welchen Standes, solle den
Namen eines Christen verlieren, unwürdig und unfähig sein, im Staate irgend ein
Amt zu bekleiden, auf ewig verflucht und aus der Gemeinschaft aller Bürger aus¬
gestoßen werden."
Angesichts dieser anscheinend echten Briefstelle wie der vorhin gemachten
Angaben, wird die gewöhnliche Annahme, daß das griechische Feuer um das
Jahr 668 von Kallinikos, einem Architekten aus Heliopolis, erfunden oder von
den Arabern übernommen worden sei, unwahrscheinlich, f) Sicherlich handelte
es sich nur um eine Erneuerung gewisser in Vergessenheit gerathener Rezepte,
vielleicht auch um eine Verbesserung.*) Allerdings stammen aber die ersten
Nachrichten über die Anwendung solcher explodirenden Gemenge seitens der
Romaeer wirklich aus der Zeit Konstantin's IV. Pogonatns.
Damals (671—678) überwinterten die Araber in Smyrna und Kyzikos mit
ihrer Flotte und belagerten in jedem Sommer Konstantinopel. Stets aber wurden
sie durch jenes griechische Feuer abgeschlagen, weil dies ihre Schiffe verbrannte
und ihnen viele Leute tödtete."") — Auch zu Anfang der Regierung Leo's III. des
Jsanricrs (717) belagerten die Araber wieder Konstantinopel 13 Monate lang zu
Wasser und zu Lande; aber es gelang, ihre Flotte durch das griechische Feuer zu
vernichten, und in die Reihen des stürmenden Landheeres ließ Leo kleine Rohre
schleudern, welche ebenfalls mit solchem Feuer gefüllt waren und gute Dienste leisteten,
wenngleich sie zuweilen schon in den Händen derer, die sie werfen sollten, explodirtcn.
Mischungs-Vorschriften aus der älteren Zeit sind leider nicht erhalten,
weil eben die Pyrotechnik Staatsgeheimniß war. Die frühesten Angaben
stammen erst aus dem 9. oder 10. Jahrhundert.
Nach M. Graecus stellte man das griechische Feuer folgendermaßen her:
„Man nehme gleiche Theile Schwefels, Weinsteines, Leimes, Pechs, geschmolzenen
Salpeters und Gummis, mische sie innig, erhitze das Gemenge bis zum Kochen,
tauche alsdann Werg, Wolle oder tgi. hinein und zünde es an." — Valturius gibt
eine andere Zusammensetzung: „Nimm pulverisirte Holzkohle, Salpeter, Schwefel,
Pech, brennendes Wasser, Myrrhe, Kampfer. Mische diese Bestandtheile innig und
bestreue mit dem Gemenge Werg oder sonst leicht brennbare Substanzen und zünde
dann die Masse an. — Das „brennende Wasser" bereitet man, indem man 2 Unzen
pulverisirten Schwefels, 2 Unzen Weinstein aus weißem Weine und 2 Unzen Koch¬
salz in einem Quart dicken dunklen alten Weines destillirt. Das Resultat ist die
apus. Al'äöus, die man in wohlverschlossenen Gefäßen aufbewahrt."***)
Alle Schriftsteller stimmen darin überein, daß das griechische Feuer auch
um Wasser gebrannt und sich von gewöhnlichem Feuer dadurch unterschieden
habe, daß es, ja nachdem man es geschleudert, nicht nur aufwärts, souderu
auch horizontal, ja selbst abwärts geflammt habe.*) Die Byzantiner ge¬
brauchten das griechische Feuer vorzugsweise im Seekriege. Kaiser Leo der
Philosoph (900 n. Chr.) gibt daher anch die genaueren Daten über die An¬
wendung dieses Streitmittels in demjenigen Kapitel seiner „Taktika", welches
von den Kämpfen zu Wasser handelt.
„Setzt auf das Gallion ein crzbekleidetes Rohr (c^i^wo), um Feuer auf
den Feind zu schleudern. Ueber dem Siphon errichtet eine gezimmerte Plattform
mit Brustwehr, von der nus Krieger den Feind beschießen. Auf großen Dromonen
(Kriegsschiffen) erbaut auch hölzerne Thürme auf der Mitte des Verdecks, von
wo aus schwere Steine und spitze Eismkolbcn auf das Deck der Gegner geschleudert
werden, um dies zu zerstören, und von wo aus man auch Feuer schießen kann. . .
Ein anderes Kampfmittel ist dasjenige Feuer, welches unter Donner und Rauch
aus den siphones entsendet wird, um die Schiffe des Feindes zu verbrennen.
Der Mann, welcher das Nohr bedient, heißt Siphonator. . . . Vor Allem gilt
es, Gefäße herzustellen, welche, in des Gegners Fahrzeug hinübergeschleudert,
zerbrechen und ihren Feuer verbreitenden Inhalt ausschütten. Man bediene sich auch
der kleinen Handrohre, welche von Unserer Regierung hergestellt und mit Kunst¬
feuer gefüllt werden. Sie schleudert man dem Gegner in's Gesicht. Endlich wirft
man mit großen Geschützen flüssiges brennendes Pech und andere Materien."
Man hat viel darüber gestritten, ob das erzbekleidete Rohr selbst den
Feuerwertskvrper enthielt, oder ob es nur ein durch die Blechhülle gegen zu¬
fallige Beschädigungen geschützter Schlauch war, durch welchen „flüssiges Feuer"
hindurchgepumpt wurde. Denn nnter <5/Pwv verstanden die Alten nicht nur jede
Röhre, sondern insbesondere anch den Heber, das Druckwerk, die Pumpe und
Spritze.*) Wahrscheinlich handelt es sich aber um die Anwendung beider
Formen: einmal um Spritzenschläuche, durch welche flüssiges Feuer auf das
feindliche Schiff gepumpt wurde, und zweitens um Feuerröhre, welche mit
langsam brennendem Ausstoßsatze gefüllt waren und einen Feuerstrom sprühten.
Die Erfindung solcher Satzröhren war nämlich damals längst gemacht, und sie
ist von ganz besonderer Wichtigkeit, weil von ihr die nächste bedeutende Ent¬
wickelung der Pyrotechnik ausgegangen ist.
Die vielfache Anfertigung von Feuerwerkskörpern, bei denen pulverartige
Massen in Gefäße mit engen Oeffnungen eingeschlossen wurden, hatte ja natürlich
wiederholt unbeabsichtigte Explosionen zur Folge. Denkende Techniker mußten
dadurch zu Versuchen veranlaßt werden, welchen Einfluß die Gestalt der Um¬
hüllung und die Dichtigkeit der Füllung auf den Verlauf der Explosion hätten.
Man füllte Röhren (Bambusrohr, Papyrustüten, Lederschläuche) mit explo¬
siblem Satze, stieß diesen fest und bemerkte nun, daß nach der Entzündung die
Flamme, anstatt auf einmal gewaltsam hervorzubrechen, nach und nach zischend
und brausend verbrannte, indem dabei das Rohr die Neigung zeigte, sich in
dem der Richtung der sprühenden Flamme entgegengesetzten Sinne zu be¬
wegen. Rohre solcher Art werden diejenigen gewesen sein, welche Leo von
den ans den Gallionen aufgestellten siphones ausdrücklich unterscheidet, indem
er sagt, daß sie unter Donner und Rauch Feuer entsendet hätten. Rohre
solcher Art werden jene kupfernen und eisernen Tuben gewesen sein, von denen
Anna Komnena berichtet, daß sie bemalt und vergoldet wurden, und daß ihre
Mündungen die Rachen von Löwen und anderen wilden Thieren nachahmten,
so daß es geschienen habe, als ob diese Rachen das Feuer spieen. Gleichartig,
nur von geringeren Dimensionen, erscheinen auch die Feuerlauzen, welche
sowohl arabische Manuskripte wie das Werk des Marianus Jakobus darstellen,
und welche auf demselben Prinzipe beruhen; endlich gewisse feuerspeiende Belage¬
rungsmaschinen, welche in der Gestalt von Thieren, namentlich in derjenigen riesiger
Mänse, zum Einäschern von Palissadirungen und Bohlenwerken verwendet
wurden.
Inzwischen empfand man die Schwierigkeit, den in den Rohren festge¬
stampfter Satz an der glatten Außenflüche zu entzünden. Man kam auf den
Gedanken, die explosible Masse zu durchbohren und einen Zündfaden einzu¬
führen. Mit Ueverraschung sah nun der Feuerwerker das sprühende Rohr
einer Schlange, einem Drachen (ssrxsrch gleich sich auf dem Boden hin - und
herbewegen. Indem die Feuerwerksmasse durchbohrt und somit die Ausdeh¬
nung ihrer Verbrennungsoberfläche vergrößert worden, hatte der Meister un¬
willkürlich dem Feuerröhre eine „Seele" gegeben; Entwickelung und Spannung
der Gase waren groß genug geworden, um das Gewicht der Vorrichtung und
die Reibung am Boden zu überwinden: er hatte die erste Rakete herge¬
stellt! Diese primitive, rudimentäre Rakete, die noch heute unter dem Namen
des Schwärmers (sorxMw^) bekannt ist, gewährte den Magiern, den Brach-
manen, den ägyptischen wie den griechischen Hierophanten das Mittel, nach
Gefallen das Feuer des Himmels für ihre Zwecke in Bewegung zu setzen.
Die Priesterschaft verstand die Mös su soörio. Von einem, profanen Augen
unsichtbaren, Faden gelenkt, fuhr das Feuer auf die Bitte des celebrirenden
Priesters zum Holzstöße des Altars nieder; seinem Fluche gehorsam, folgte es
dem aus dem Heiligthume verstoßenen Verbrecher zischend nach, oder es er¬
schütterte das Gemüth der durch Hunger, Schrecken und Narkotika wohl vor¬
bereiteten Neophyten der Mysterien von Samothrake und Eleusis. Jenes
Bündel von Blitzen, das, von einer Papyrushülle oder einem kurzen Rohre
zusammengefaßt, fo viele antike Bildwerke in der Faust des Juppiter tonans
oder in den Krallen seines Adlers zeigen — was ist es anders als die Nach¬
bildung dieser Rakete! War es doch ebenso natürlich, den Donnerer mit dieser
Waffe darzustellen, wie die Athene Promachos mit dem Speere auszurüsten.
Gleich all' den anderen pyrotechnischen Erfindungen konnte aber auch die der
Rakete nicht Eigenthum der Priester bleiben, und bald begegnet man ihr wirklich
w den Händen der Fürsten und Krieger. Kaiser Caligula rühmte sich, Dio
Cassius zufolge, dem Juppiter Trotz bieten zu können, indem er den Blitzstrahl
des Himmels mit Blitzen beantwortete, welche er gegen die Wolken schleu¬
derte: es waren Raketen, die einige Jahrhunderte später, nämlich zu Julian's
Zeiten, bereits als eigentliche Waffe erscheinen. Raketen sind wohl auch die
Handrohre, welche Kaiser Leo VI. in seinen „Taktika" empfiehlt, um sie dem
Feinde in's Gesicht zu schleudern, und durch Marabus Graecus erfahren wir
sogar das Rezept, nach dem der Satz dieses „fliegenden Feuers" gemischt
wurde. Es lautet:
„Ixnis vol-ins. ^ooipe livram unam sulxiiuris, livras Äus.s varbouum
saliois, Uvras ssx salis xetrosi, vuae tris, subtilissimo de-r^utili- in IsMe
wWwoi-co; xostes, aliauiä xosterius an libitum in tunioa ac pap^ro vol-uni,
oft toniti'um tÄLisvtö xonatur."
Dies aus Schwefel, Kohle und Salpeter zusammengesetzte Kriegsfeuer
ist, nun unzweifelhaft Schießpulver. Die verordnete Mischung entspricht der
von 67 Theilen Salpeter, 22 Kohle und 11 Schwefel, welche, wenn sie rein
und gut verbunden werden, ein Pulver ergeben, das zwischen Sprengpulver
und Geschützpulver die Mitte hält; es ist offenbar dasselbe Pulver, welches
noch bis vor kurzem allgemein für Feldsignalraketen angewendet wurde. In
dieser Hinsicht standen also die Feuerwerker der Zeit des Caligula wohl
schon auf derselben Höhe wie Congreve, dessen „Geheimniß" zu Anfang des
19. Jahrhunderts so angestaunt wurde! Ans dem Rezepte des Marabus
Graecus geht auch hervor, daß man bereits den Vorzug der aus leichtem
Holze gewonnenen Kohle erkannt hatte; denn er empfiehlt ausdrücklich Weiden¬
kohle. Ferner zeigt sich, daß mau es verstand, mit ein und derselben Mischung
sowohl die Triebkraft als die Detonation hervorzubringen, indem man für den
ersteren Zweck die ganze Cartouche, für den andern Zweck aber nur die Hälfte
derselben mit Satz anfüllte. Was dem Pulver des Marabus Graecus noch
fehlt, das ist die Reinheit der Stoffe und die Innigkeit der Mischung, nament¬
lich aber die Körnung, die lange auf sich warten ließ und die doch allein die
Sicherheit eines regelmäßigen dynamischen Effektes verbürgt. Wie wenig aber
diese Körnung auch in späterer Zeit als ein wesentliches Moment der Erfindung
betrachtet wurde, geht daraus hervor, daß auch das gekörnte Pulver eben
Mlvi3 genannt ward, obgleich es doch gar kein „Staub" mehr war.
Neben dem wirklichen Pulver und den von ihm bewegten Raketen spielt
das alte griechische Feuer feine frühere Rolle, zum Theil sogar in den ursprüng¬
lichsten Mischungen, fort. Ein Beweis dafür sind z. B. die Angaben der Anna
Komnena über den unterirdischen Kampf zwischen den Normannen Bohemund's
und den belagerten Byzantinern in Durazzo (Dyrrhachium) im Jahre 1106.
Die Romaeer bedienten sich hier einer Mischung von Pech, Pflanzensäften und
Schwefel, um den Feind in den Minengängen zu bekämpfen. Es lag nun
nahe, die Triebkraft des Pulvers und die Zündkraft irgend eines Brandsatzes
in einem und demselben Feuerwerkskörper zu kombiniren, und so erscheinen
denn in der That Cartouchen, die abwechselnd mit Ausstoßladungen von
Pulver und mit griechischem Feuer gefüllt sind, welches letztere also stoßweise,
je nachdem die Rakete abbrannte, sich über den getroffenen Platz ergoß. Dieser
Fenerwerkskörper, der schon Rohre von großer Solidität erforderte, scheint viel
gebraucht worden zu sein, und der Schritt, statt des Brandsatzes einen festen
Körper durch die Ausstoßladung fortschleudern zu lassen, lag nahe und wurde
in der That bald, und zwar, soweit unsere Kenntniß von den Dingen reicht,
im Oriente gethan.
Der Entwickelung der Feuerwerkerei bei Griechen und Römern geht näm¬
lich die bei den Arabern in der Hauptsache parallel. Wenn freilich die Sage
den Kallinikos die Erfindung des griechischen Feuers von den Arabern be¬
kommen läßt, so hat sie gewiß unrecht; denn andernfalls wäre es doch sehr
befremdlich, daß die Sarazenen sich dieses Kriegsmittels nicht selbst vor Kon¬
stantinopel und bei Kyzikos bedienten; und eben so unrecht wird eine andere
Angabe haben, welche das Geheimniß des griechischen Feuers endlich an die
Araber verrathen läßt, die nun, wesentlich auf dieses Streitmittel gestützt, den
Byzantinern unermeßlichen Schaden thun. Aber jene Sagen sind doch insofern
merkwürdig, als sie eben den Orient als die Quelle bezeichnen, von der aus
die Kenntniß der Pyrotechnik einst in's Abendland gedrungen, und als sie im
Oriente die folgenreichste Durcharbeitung und Weiterentwickelung der gewonnenen
Erkenntniß suchen. Die arabischen Sarazenen sind jedoch vermuthlich ebenso¬
wohl Empfangende und Genießende gewesen wie Griechen und Römer; Er¬
finder und Bildner waren wohl die Babylonier, Inder, Chinesen/)
Das Streben der Araber, sich militärisch zu unterrichten, war sehr groß.
Sie übersetzten griechische Kriegsschriftsteller in ihre Sprache, und bald entwickelte
sich eine eigene sarazenische Militärliteratur. Ein arabischer Autor, der in der
Mitte des 10. Jahrhunderts schrieb, erwähnt ein „Buch über das Feuer, die
Naphtha und den Gebrauch, den man im Kriege davon, macht". Dies Buch
selbst ist leider verloren; aber ein 300 Jahre jüngeres arabisches Manuskript
der Leydener Bibliothek, als dessen Verfasser ganz naiv Alexander der Große
genannt ist, scheint den wesentlichen Inhalt jenes alten Buches aufbewahrt zu
haben."*) ^Es lehrt in den zwei Kapiteln, welche von der Pyrotechnik handeln,
die Präparation der Naphtha, die Anfertigung von Feuerwerkskvrpern zu Glimpf
und Schimpf, die Kunst, brennbare Stoffe fortzuschleudern und sie so einzu¬
hüllen, daß die Verbrennung gesichert bleibt. Dabei ist es höchst bemerkens¬
werth, daß in diesem ältesten arabischen Feuerwerksbuche des Salpeters noch
gar nicht gedacht wird.
Die verschiedenen Arten von Naphtha und Petroleum sowie Schwefel erscheinen
als Hcmptingreoienzicn der Brandmischungcn, und hierzu kommen Theer, Harze, Oele,
Pflanzensäfte, Metalle und Fette verschiedenster Thiere: das des Seehundes, des
Haushundes, des Bären, des Wolfes u. s. w.
Erst im 13. Jahrhundert scheint der Salpeter den Arabern bekannt zu
werden. Der älteste arabische Schriftsteller, welcher ihn erwähnt, ist ein Arzt,
der ihn KS,rM nennt. Bald aber werden die pyrotechuischeu Eigenschaften
des neuen chinesischen Medikamentes bekannt. Der „Traktat vom Reiter¬
kampfe und den Kriegsmaschinen", den Nedjm-Eddin-Hassan-Alrammah um
das Jahr 1290 und zwar „nach Anleitung seines Vaters, seines Großvaters
und anderer berühmter Meister" schrieb, enthält eine vollständige Abhandlung
über Feuerwerkerei, in welcher der Salpeter bereits die Hauptrolle spielt. So
setzt der Autor z. B. ein Feuer, welches er „Jasminblüthe" nennt, aus
10 Theilen Salpeter, 2 Theilen Schwefel, 3 Theilen Kohle und 5 Theilen
Eisenfeilspänen zusammen. Als Kriegsmittel empfiehlt Hassan-Alrammah in
erster Reihe Glashütte, die mit explosiblen Kompositionen gefüllt und mit
einem ckriKK genannten Zünder versehen sind. Die kleinste Form solcher
Bälle kommt unter dem Namen der „Kichererbsen" vor; die größte stellte man
statt aus Glas auch wohl aus Baumrinde oder Papyrus her; sie hießen Kdss-
ro,Alla,t. Neben diesen Wurfgeschossen, welche durchaus den von Leo VI.
empfohlenen Feuerballen zu entsprechen scheinen, bedienten sich die Araber wie
die Griechen der ^ Feuerlanzen, und zwar befestigten sie an der Spitze der
Lanze kleine Glasgefäße mit pyrophoren Mischungen, die oft wie eine Blüthen¬
krone angeordnet wurden. Dies sind die sogenannten „ Blumenlanzen".
Aehnlich statteten sie Armbrustpfeile und Wurfspieße aus, wobei zuweilen
mehrere Pfeile oder Spieße durch Querhölzer verbunden wurden. Nicht selten
kommen sogar Spieße vor, die fast ihrer ganzen Länge nach mit Explosions¬
hülsen besetzt find. Auch Streitkolben wurden mit explosiblen Substanzen
gefüllt, und sehr häufig hängen die zerbrechlichen Gefäße, welche den Brandsatz
bergen, sogar an einer Kette gleich der Stachelkugel eines Morgensternes. Ein
solches Instrument heißt dortb.-z.ki. Alle diese Instrumente sind also lediglich
Aptirungen schon vorhandener Waffen zur Feuerwerkerei. Hassan-Alrammah
spricht aber auch schon von einer eigentlichen Feuerwaffe, nämlich von dem
„Madfaa", einem gestielten hölzernen Handmörser.*) Es ist dies wohl die
älteste Nachricht von der Benutzung der Triebkraft des Pulvers zur Forttrei¬
bung eines Projektils. Das Schießpulver, welches in den Madfaa eingeführt
werden soll, beschreibt der arabische Autor folgendermaßen:
„Nimm 10 Drachmen Salpeter, 2 Drachmen Kohle, 1^/z Drachmen Schwefel.
Diese mache zu feinem Pulver und fülle damit ein Drittel des Madfaa; mehr nimm
nicht, weil er sonst zerspringen könnte. Dazu lasse einen zweiten Madfaa nach der
Mündungsweite des ersten drechseln und treibe ihn mit kräftigem Stoße hinein,
lege entweder einen Bolzen oder eine Kugel (bonävl:) darauf und zünde das Brand-
zeug an. Das Maß des zweiten Madfaa muß bis zu dem Loche reichen it. h.
der durch die Mündung getriebene Holzpfropf muß bis unter das Zündloch reichen);
geht er tiefer herab, so wäre das ein Fehler. Der Schütze nehme sich Wohl
in Acht!"
Den Zeichnungen nach ist die Seele des Madfaa in der Regel ebenso breit
als tief.
Während alle die bisher aufgeführten Feuerwerkskörper und auch der
Madfaa als Handwaffen gebraucht wurden, waren bombenartige Geschosse
bestimmt, bei Belagerungen mit Wurfmaschinen über die Mauern geschleu¬
dert zu werden. Diese Geschosse erscheinen als eiserne Kesselgefäße ver¬
schiedenster Gestalt mit Oeffnungen, welche die Flammen hervorschlagen ließen.*)
Bei dem sogenannten „Feuer-El" war ein Gefäß dieser Art, jedoch in leichterer
Hülle, mit zwei Raketen in Verbindung gebracht, welche das El bewegten,
sodaß es keiner Wurfmaschine bedürfte. Ein Manuskript der Petersburger
Bibliothek, welches aus dem Anfange des 14. Jahrhunderts stammt, und
dessen Verfasser wahrscheinlich Sehens-Eddin-Mohcimmed ist, bringt mehrere
Feuerwaffen entschieden modernen Prinzipes: Zunächst den schon bekannten
hölzernen Madfaa, dann aber auch eine Handschußwaffe, von der es heißt:
„Beschreibung einer Lanze, aus der du, wenn du angesichts des Feindes bist,
einen Pfeil hervorgehen lassen kannst, der sich sogleich in seine Brust heften
wird." Es scheint dies eine Nachahmung der chinesischen Waffe zu sein, welche
im 13. Jahrhundert unter dem Namen „To-lo-tsiang" vorkommt und als ein
mit Pulver und Schrot geladenes Bambusrohr geschildert wird.**) Schems-
Eddin-Mohammed beschreibt die Anfertigung eines solchen Feuerrohres. Er
empfiehlt, eine dicke Lanze ihrer Länge nach in einer Weite von etwa 4 Fingern
auszuhöhlen und einen kleinen eisernen Madfaa hineinzuthun. Dieser und
ebenso die Lanze müssen an einer Seite durchbohrt sein, und hier seien Madfaa
und Rohr durch einen seidenen Faden zusammenzubinden, der den Madfaa in
der Lanze zurückhalte, während der Pfeil hinausgeschleudert werde. Schon aus
diesem Umstände, daß der Zusammenhang von Pulverkammer und Rohr buch¬
stäblich „an einem seidenen Faden hängt", geht hervor, daß es sich nur um
eine äußerst geringe Anfangsgeschwindigkeit des Projektils und nur um eine
ganz kurze Schußweite gehandelt haben kann; andernfalls wäre der Faden
unfehlbar zerrissen. Uebrigens wurden nicht nur Pfeile, sondern auch Kugeln
(bonäokch") aus solchen Rohren geschossen. Neben den neuen Schußwaffen
zeigt das Petersburger Manuskript auch all' die alten Feuerwaffen in vollem
Gebrauche: Feuerlanzen, Feuertöpfe, Madfaa's und Feuerkolben. Ferner
berichtet es von einer seltsamen Methode, ganze Reiter mit Feuer zu um¬
geben und dadurch feindliche Reiterei zu erschrecken und in die Flucht zu
jagen — eine Erfindung, die von den Orientalen, wie alles Vorzügliche,
Alexander dem Großen zugeschrieben wird. Der Reiter soll sich zu diesem Zwecke
mit einem leinenen Burnus bekleiden, der durch und durch mit Rüböl getränkt
und mit Wergbüscheln besetzt ist, und das Pferd ebenso einkleiden. Den Kopf
soll er mit einem eisernen Helme bedecken, auf dem ein rothes Feuer lodert,
das sich von Asphaltfils nährt; die Hände und das Gesicht sollen mit Talk¬
stein eingerieben werden. Dann werden die Wergbüschel angezündet und brennen
wie Dochte, Auf solche Weise, wird versichert, hätten sich die Aegypter der
tatarischen Reiterheere entledigt. Ein arabisches Manuskript der Pariser Biblio¬
thek erläutert das Verfahren noch dahin, daß unter dem Obergewand ein un-
verbrennlich gemachtes Filzkleid zu tragen sei, welches man mit Weinessig,
Blutstein, Fischleim und Sandarachharz präparire. Die ausgenähten Werg¬
büschel sollen mit Naphtha getränkt sein. „Reiter, die so ausgerüstet sind." sagt
das Manuskript, „flößen den Feinden Gottes Schrecken ein, besonders bei der
Nacht; denn die präparirten Reiter gewähren einen ganz fürchterlichen Anblick,
zumal wenn sie in geschlossener Masse anrücken." Freilich sei es nothwendig,
die Pferde an diese Ausstattung zu gewöhnen, weil sie sonst den Dienst ver¬
sagen. Zu diesem Zwecke verstopfe man ihnen die Ohren mit Baumwolle und
lasse dann erst kleine Madfaa auf dem Rücken der Thiere detoniren, lasse ferner
Raketen an ihrem Kopfe vorbeisausen, entferne dabei die Baumwolle erst aus
dem einen, dann aus dem andern Ohre u. s. w. Vor jedem Reiter müsse aber
ein Fußgänger mit Feuerkolben einhergehen. So begleitet sollten die Feuer¬
reiter dem Heere vorausziehen und unter keinen Umständen weichen; denn sonst
würden sie die ganze Trnppenmasse in die schlimmste Verwirrung bringen.
Sie hätten aber auch niemand zu fürchten; kein Mensch würde es wagen, sie
mit dem Säbel oder der Lanze anzugreifen. Alle die Materialien, welche man
gegen die Feinde der Religion gebrauche, hätten die Könige in ihren Arsenälen
sorgfältig aufzustapeln; wer das bisher versäumt habe, sei mit Unkenntniß ent¬
schuldigt; es sei aber sehr wichtig!
Schon die abassidischen Khalifen hatten ein eigenes Korps der Naffat^n
(Naphthafeuerwerker), dessen Mitglieder angeblich mit feuerfestem Gewändern be¬
kleidet waren ^ die ihnen gestatteten, durch brennende Trümmer u. dergl. vor¬
zudringen.
Dies sind die wichtigsten Angaben, welche sich über die alte Pyrotechnik
erhalten haben. Ihnen mögen sich einige historische Daten über den Gebrauch
von Feuerwaffen vom 10. Jahrhundert bis gegen Ende der Kreuzzüge anreihen.
Daß die Orientalen und insbesondere die Aegypter so Hervorragendes in
der Pyrotechnik leisteten, hat seinen Hauptgrund wohl darin, daß sich in
Alexandrien, trotz der Zerstörung der weltberühmten Bibliothek, ein wissen¬
schaftliches Leben erhalten hatte, wie es, Konstantinopel ausgenommen, sonst
do'llig ohne Gleichen war. Und doch — wie kindlich erscheinen uns die chemi¬
schen Vorstellungen der gelehrten Araber! Ihre Theorie von der Pulverwir-
kung lief darauf hinaus, daß sie dieselbe dem Antagonismus zwischen der inneren
Hitze des Schwefels und der inneren Kälte des Salpeters zuschrieben. Hatte man
aber einen Salpeter in Verdacht, zu kalt, d. h. gar zu unrein zu sein, so galt es,
ihn zu erwärmen. Anfangs versuchte man das durch Zusätze, insbesondere von
Zinnober, der, seiner rothen Farbe wegen, als sehr „heiß" erschien, oder durch
Beimischung von menschlichem Urin und zwar solchem von Weintrinkern. Der
Harn der Wassertrinker und der Biertrinker galt als zu kalt. Allmählich aber
kam man auf den Gedanken, den Salpeter zu raffiniren, indem man zwei als
wesentlich heiß geltende Substanzen: ungelöschten Kalk und Holzasche, zu Hilfe
nahm. Mit ihnen behandelte man die wässerige Lösung des Salpeters, und
so gelang es am Ende, ihn von einem Theile der diesen Stoff gewöhnlich be¬
gleitenden fremden Salze zu befreien. Gleichzeitig studirte Roger Bacon die
Eigenschaften des Salpeters und kam dahin, ihn durch vollständige Lösung in
Wasser und durch Krystallisation zu raffiniren. Nunmehr erwies die Pulver¬
mischung sich weit wirksamer als bisher und zugleich als seh> viel besser
geeignet, eine gewisse Zeit lang trocken aufbewahrt zu werden; denn sie zog
die Feuchtigkeit der Luft nicht mehr in so hohem Grade an wie früher.
Da sich nun die Triebkraft des Pulvers bedeutend gesteigert zeigte, so kam
einerseits die Rakete immer mehr in Aufnahme und wurde bald durch Ein¬
führung des Raketenstabes verbessert; andererseits wendete man den Feuerrohren,
welche Pfeile und Bondoks schössen, erhöhte Aufmerksamkeit zu. Und während
die Rakete im Abendlande bald in Vergessenheit gerieth, dermaßen, daß ihre
Wiedereinführung zu Anfang unseres Jahrhunderts unmittelbar der feindlichen
Berührung englischer Truppen mit den Streitkräften eines indischen Fürsten,
Tippu Sahib, zu danken ist/) so beschäftigte man sich im Occident, und zwar
anscheinend besonders in Italien, mit jenen Feuerrohren, und fast sollte man
glauben, daß von ihnen ans nur noch ein einziger Schritt gewesen sei zur
Arkebuse oder zur Kanone. Indessen: noch war das Pulver nicht gekörnt»
noch galt es, ein zur Konstruktion von Feuerwaffen gut geeignetes Metall
auszuwählen; es galt, solide Geschosse herzustellen, Erfahrungen zu machen
über Gewicht und Gestalt der Ladung, über Schäftung und Laffetiruug; es galt,
die nothwendige Uebereinstimmung herbeizuführen zwischen den einzelnen Theilen
der Maschine und ihrem Endzweck, und endlich blieb es auch dieser Erfindung
nicht erspart, jene tausendfältigen widerstrebenden Mächte bekämpfen zu müssen,
die bald passiv, bald aktiv als Routine, Gleich giltigleit, Handwerksneid, Vor-
urtheil und Ungeduld jeder Neuerung den Weg versperren. Mit großem Rechte
sagt Napoleon III. in seinen Mu6hö sur 1s pass^ se 1'avsnir as l'^rtiUsris:
„I^hö iuvsutions trox an-ässsus as Isurs sxsc^usf rsstsnt iuutilss Mön^usf
an luomsut oÄ 1s iiivsau ass oonnaissü-uchs Aöiisralss sse xarvsuu a Iss
attsiuärs."
Vor kurzem wurden die größeren Städte Deutschland's von einem speku¬
lativen Dänen besucht — mit Namen Hansen und seines Zeichens „Magne-
tiseur" —, um von neuem auf die Größe ihres Fluidums für magnetische und
mystische Schwindeleien untersucht zu werden und das Kleeblatt der Wunder
wieder vollzumachen. Marienerscheinungen, spiritistische Geisterthaten und die
Kraft des thierischen Magnetismus, die alten guten Freunde, die sich schon zur
Zeit der Hochfluth der Wunder, zu Anfang der fünfziger Jahre, eintrüchtiglich
Zusammenfanden oder einander ablösten, sie sind auch jetzt wieder zusammen
erschienen. Glücklicherweise haben sie die gesunde Vernunft des Publikums
diesmal nicht so zu betäuben vermocht wie das erste Mal. Damals gab es
kaum ein Dorf, das nicht seinen wahrsagenden Dreifuß oder seinen verrückten
Tisch, gehabt hätte. So weit wird es diesmal nicht kommen. Auch der Mar-
pinger Prozeß, so Skandalöses er zu Tage gefördert hat, reicht lange nicht an
den Königsberger Spiritisten-Prozeß heran, der den Abschluß der vorigen
Wunderperiode bildete. Aber kommen wir zu unserm Helden.
Wie nach der gegenwärtigen Sitte alle großen Künstler und Virtuosen
ihren Ruhmeslauf durch Deutschland in der Reichshauptstadt beginnen, so ver¬
suchte auch unser Prestidigitateur sein Glück zuerst in Berlin. Aber die Berliner
haben für die Wunder wenig Sinn; Hansen fiel durch. Seine Vorstellungen
wurden nur benutzt, um schnöde Redensarten an den Mann zu bringen, und
was Berlin nur immer an moquanteu Witzen augenblicklich auf dem Markte
hatte, wurde herbeigeholt, den Wunderbaren zu foppen. Redensarten wie
»fauler Kopp" schwirrten fluidumgleich durch die Luft und ließen das Han-
sen'sche Fluidum nicht zur Entwickelung gelangen. Vollends mißlich lief die
Vorstellung ab, zu welcher Aerzte und Vertreter der Presse eingeladen waren.
Diese Gattung von Berlinern schien ganz und gar keine Fluidummheit zu
besitzen.
Manchem Vorgänger Hansen's war es übrigens vor zwanzig und mehr
Jahren in Berlin nicht besser ergangen. So stellte sich damals ein Franzose
dort ein, um sein Fluidum leuchten und Geschäfte machen zu lassen. Als
Medium diente ihm seine Frau. Um sich einzuführen, lud er Aerzte und Ver¬
treter der Zeitungen zu einer Probevorlesung ein, und hier verdarb ihm die
Tücke eines Arztes sofort das ganze Geschäft. Die Dame wurde in gewohnter
Weise von den Händen des Magnetiseurs bestrichen und verfiel programm¬
mäßig in einen tiefen Schlaf. Sie wurde mit Nadeln gestochen und ertrug
es ohne Zucken. Dann befahl ihr der Wundermann, aufzustehen und ihm zu
folgen. Sie gehorchte mechanisch und ging in scheinbar somnambulen Zustande.
Wenige Schritte hatte sie gemacht, als ein Herr in der ersten Reihe ihr auf
französisch zurief: < „Madame, fallen Sie nicht, es kommt eine Stufe." Das
Medium macht halt, öffnet die Augen und sieht nach den Füßen. Gleich
darauf nimmt sie ihren somnambulen Zustand wieder an, aber — zu spät.
Die Zuschauer brachen in ein schallendes Gelächter aus. Die Prozedur war
zu Ende. Der Prestidigitateur nahm seine Frau am Arme und verließ mit
wüthenden Blicken den Saal. In Berlin war seine Rolle ausgespielt.
Nicht ganz so trostlos erging es Hansen, aber doch trostlos genng; denn
ohne langen Aufenthalt wandte er der ungläubigen Stadt den Rücken und
setzte seine Wanderung fort, um in Kleinparis sein Heil zu versuchen. Und
siehe da: dort ging es ihm schon besser. Ueber eine Woche lang sammelten
sich alle Abends Schau- und Wunderlustige um den'„Magnetiseur".
Von Leipzig ging die Reise nach Elbflorenz. Hier fand die geheimniß-
volle Kraft des Zauberers volle Anerkennung, hier feierte er Triumphe. Ganz
Dresden war verzückt. Ueberall bildeten die Wunder des Meisters das stehende
Tagesgespräch, und am Abend war der „Viktoriasalon" zu klein, um alle die
Bezauberten zu fassen. Das hatten mit ihrer Reklame die „Dresdner Zei¬
tung" und die „Dresdner Nachrichten" gethan und die — Empfänglichkeit des
Publikums. „Die phänomenalen Leistungen dieses zweiten Mesmer haben
unsere Stadt in eine fieberhafte Aufregung versetzt," schrieb die Dresdner Zei¬
tung. „Wir haben es keineswegs mit spiritistischen Humbug, Tischrücken und
dergleichen zu thun, da sich alles vor unseren Augen vollzieht, und jede Täu¬
schung vollständig ausgeschlossen sein muß; nein, hier gelangen wir zu der
Ueberzeugung, daß dem Menschen geheime Kräfte innewohnen, die, wenn er sie
zu wecken versteht, auf andere menschliche Wesen mit unheimlicher Macht ein¬
wirken." Noch ärger hatten sich die „Nachrichten" magnetisch an der Nase
herumführen lassen. Der Zauberer war in die Redaktion gekommen und hatte
sich erboten» auf der Stelle eine Probe seiner Leistungen abzulegen. Redakteur,
Setzer und Postbote bildeten ofort eine improvistrte Sitzung, und alles gelang
auf's vollständigste. Keiner von ihnen konnte mit dem Meister im EinVer¬
ständniß gewesen sein, keiner von ihnen hatte ihn je vorher gesehen; Alles ging
ehrlich zu, und doch verspürten die Herren „die Gewalt des undefinirbaren
Fluidums", was die „Nachrichten" am folgenden Tage „im Dienste der Wahr¬
heit offen erklärten". Der Eine konnte die geschlossenen Augen nicht wieder
öffnen, der Andere den Mund nicht, der Dritte kannte seinen Namen nicht
mehr, ein Vierter verfiel in eine völlige Todtenstarre, bis ihn die gewaltige
Hand Hansen's vom Schlummer wieder erweckte.
Die Experimente, die Hansen vor seinen Zuschauern machte, waren überall
dieselben. Auf sein Ersuchen begab sich eine Anzahl Herren aus dem Kreise
der Zuschauer auf die Bühne und betrachtete aufs inbrünstigste mehrere
Minuten lang einen Glasknopf, den der Meister einem Jeden zu diesem Zwecke
überreicht hatte. War diese Betrachtung zu Ende, welche Hansen die „Vorbe¬
reitung" nannte, welche aber in Wahrheit das eigentliche Experiment bildet, so
wurden alle geprüft, ob der Zauber an einem von ihnen gelinge, ob einer,
nachdem er mit den Händen des Meisters bestrichen worden, sich zu einem der
Experimente tauglich erweise. Diese Empfänglichen werden dann zu weiteren
Experimenten auserlesen, und an ihnen treten dann allerdings für die ober¬
flächliche Beobachtung höchst merkwürdige Erscheinungen zu Tage. Willenlos
folgen sie dem Zauberer, wenn nur ein Finger von ihnen in seine offene Hand
gelegt ist. Beine und Arme werden ihnen steif, so daß sie wie ein Stück Holz
behandelt werden können. Ihr Gedächtniß ist für bestimmte Dinge, namentlich
sür die allerbekanntesten wie für ihre eigenen Namen, verloren. Die Einen
bilden sich dies, die Anderen jenes ein, wozu der Künstler nur die Idee an¬
gibt. Ex überreicht den Empfänglichen Stöcke und bittet sie davonzureiten,
und siehe da: der eine bildet sich ein, sein Stuhl sei ein Pferd, er schlägt mit
dem Stocke darauf los und versucht davouzutraben. Einem anderen Empfäng¬
lichen gibt er den Auftrag, das Zimmer zu reinigen, und wirklich: der Be¬
treffende macht sich an die Arbeit, und in dem Glauben, ein Dienstmädchen
on sein, beginnt er seinen Auftrag auszuführen. Wird er wieder enthaltne, so ist
"und sofort die Erinnerung an seine Dienstbarkeit geschwunden. „Sie brennen,"
^uft der Meister einem dritten Empfänglichen zu, „werfen Sie sich hier in's
Wasser." Dabei zeigt er auf's grüne Podium. Mit angstvoller Miene stürzt
der Angerufene auf's grüne Tuch und badet sich in den erträumten Fluthen.
Kein Wunder, daß solche Wunder auf ein sensationsbedürftiges Publikum
wirken und ihm für alles andere das Gedächtniß rauben. Der Enthusiasmus
für den „Magnetiseur" ergriff in der sächsischen Hauptstadt alle Kreise, und es
gelang ihm sogar, vor einer auserwählten Versammlung von Aerzten und hohen
Beamten seine Experimente vorführen zu dürfen. Im Saale des Landes-
Medizinalkollegiums wurde diese Sitzung abgehalten. Aber sie sollte den
Experimenten des „Magnetiseurs" den Zauber des Geheimnißvollen nehmen und
dem Drama ein heiteres Ende machen. An die fünfzig Herren mußten in dieser
Versammlung auf ihre Empfänglichkeit hin geprüft werden, aber nur ein Paar
besaßen nach der Meinung Hansen's ein wenig Sinn für sein Fluidum. Doch
auch mit diesen Wenigen wollten die Experimente nicht recht gelingen; wie sehr
der Meister auch ihre Köpfe magnetisch bearbeitete, ihre Namen wollten sie
schlechterdings nicht vergessen. Und um das Unglück des „Magnetiseurs", dem
vor Erregung schon die hellen Schweißtropfen von der Stirne rannen, voll¬
zumachen, trat noch der Professor vom Polytechnikum Dr. Fritz Schulze auf
und erzählte, daß die von Herrn Hansen bisher gemachten Experimente einfach
auf Hypnotismus beruhten, daß sie gar keine besondere magnetische Kraft beim
Experimentator voraussetzten, sondern von Jedermann ausgeführt werden
könnten. Durch die ausführliche und überzeugende Erörterung Schulze's aus
der Rolle gebracht, gab Hansen zu, daß bei seinen Experimenten allerdings
Hypnotismus mitwirke, leugnete aber, daß dieselben einzig und allein darauf
zurückzuführen seien.
Schon 1846 hat der Engländer Braid, ein Arzt in Manchester, die Ent¬
deckung gemacht, daß alle diejenigen Erscheinungen, welche eben als die Wir¬
kung des magnetischen Fluidums unsers Helden angeführt wurden, und nicht
diese allein, sondern auch noch viele andere, auf eine höchst einfache Weife von
Jedermann hervorgerufen werden können, und hat zugleich die natürliche Er¬
klärung für dieselben gegeben in seinem Buche: „Der Einfluß des Geistes
auf den Körper". Daß es Personen gibt, welche mit offenem Auge in einen
traumartigen Zustand gerathen und dann Dinge sehen, die mit der Wirklichkeit
nicht übereinstimmen, ist allbekannt; ebenso, daß bei anderen im Schlafe die
Thätigkeit der Reflexnerven erwacht, während das übrige Nervensystem weiter¬
schläft, sie dann von ihrem Lager sich erheben und allerlei mechanische Arbeiten
verrichten, die ihnen im höchsten Grade zu Gewohnheitsarbeiten geworden sind.
Braid fand nun, daß es auch Personen gibt, in denen sich dieser Traumzu¬
stand künstlich erzeugen läßt, und daß diese künstlich eingeschläferten Personen
noch mehr der äußeren Beeinflussung unterworfen werden können, als Personett
im natürlichen Traumzustande. Um diesen Zustand herbeizuführen, genügt es,
daß man ihnen einen beliebigen Gegenstand einige Minuten lang nahe vor die
Augen hält. Indem Braid an solche eingeschläferte Personen sogenannte
„leitende" Fragen richtete, konnte er ihrem Gedankenlaufe jede Richtung geben,
welche er wünschte. Er konnte sie dahin bringen, sich jede Art von Empfin¬
dung einzubilden, die des Stechers, Kriechens, Laufens u. s. w., welches sie
dann auf sein Befragen ausführlich beschrieben. Er konnte bewirken, daß sie
Von Magneten oder Krystallen wider ihren Willen angezogen oder abgestoßen
wurden, je nachdem er es anordnete, und die Anziehung ging auch ohne
Magnete vor sich, wenn die betäubten Personen blos in der Meinung waren,
Braid nehme mit ihnen wirklich die Handlungen vor, von denen er zu ihnen
redete. Braid erklärte diese Erscheinungen, die er mit dem Namen Hypnotis-
mus oder Betäubnngsschlaf belegte, vollständig aus psychologischen Gründen,
und die naturwissenschaftliche Forschung hat nicht nöthig gehabt, sich nach neuen
Erklärungen dafür umzusehen.
Wenn man mit aller Kraft seine Aufmerksamkeit auf einen einzigen
Gegenstand lenkt, so treten eine ganze Reihe geistiger Prozesse völlig in den
Hintergrund, sie schlafen ein. Die äußeren Sinnesorgane werden in einen
Zustand der Unempfindlichkeit versetzt. Die Person weiß nicht mehr, was mit
ihr vorgenommen wird, sie gehorcht willenlos. Allerdings sind nicht alle
Menschen gleich empfänglich für solche Betäubung. Gedankenarme und schwäch¬
liche Menschen sind es am leichtesten. Auch dies hat Braid bereits festgestellt,
und die neuesten Experimente in Dresden und anderwärts haben es bestätigt.
In die Reihe der Braid'schen Experimente gehört eine Verrichtung von
ehrwürdigen Alter, durch welche sich die indischen Büßer, die sogenannten
Jogi, seit Jahrtausenden mit nie fehlendem Erfolg in jenen Zustand der Be¬
täubung versetzen, bei welchem sie in die Anschauung ihrer Gottheit zu ver¬
sinken glauben. Sie blicken mit schielendem Auge ohne Unterbrechung auf die
Spitze ihrer Nase, und es währt nicht lange, so gerathen sie in die ersehnte
Verzückung. Ganz dasselbe Mittel wenden die Zauberpriester eines Natur¬
volkes, der Schamanen, an, wenn sie sich in einen weissagerischen Betäubungs¬
zustand versetzen wollen. Wie geistesabwesend gelehrte Männer durch die Kon¬
zentration ihrer Gedanken werden können, ist hinlänglich aus mancher heiteren
Universitätsanekdote bekannt, nicht minder bekannt das alte und bewährte Schlaf¬
mittel, langsam von eins bis hundert zu zählen.
Als bald nach Braid's Entdeckung in den fünfziger Jahren Amerikaner in
Europa zugereist kamen, welche sich für Professoren einer geheimnißvollen Natur¬
kraft ausgaben, welche sie Elektro-Biologie nannten, und behaupteten, daß sie
vermöge der ihnen innewohnenden Kraft im Stande seien, die Muskelkraft zu
lahmen, das Gedächtniß auszulöschen, die Sinne zu täuschen, den Willen zu
unterjochen, die Einbildung zu lenken, als sie diese Behauptungen zum Theil
durch die That bewiesen und durch den Hokuspokus des Geheimnißvollen, mit
dem sie ihre Experimente schwindelhafter Weise umgaben, die Welt auf den Kopf
Zu stellen drohten, da begab sich Braid zu jenen Wunderprofessoren nach Lon¬
don und bewies ihnen, daß ihre angeblichen Wunder Jedermann verrichten
könne, daß es nicht ihrer Kupfer- und Zinkstücke bedürfe zur Uebertrcigung der
magnetischen Kraft, daß überhaupt der Magnetismus an der ganzen Erschei¬
nung durchaus unschuldig sei. Die Kunde davon verbreitete sich in ganz Lon¬
don, und bald wurde es Modesache, dergleichen Experimente auszuführen; sie
dienten zur gesellschaftlichen Belustigung, geriethen aber, wie jede Mode, bald
wieder in Vergessenheit, In Deutschland sind die Experimente sehr oft von
dem verstorbenen Professor der Physiologie in Leipzig, von Czermak, wieder¬
holt worden. Im größeren Publikum aber sind sie so wenig mehr bekannt, daß
leider Dinge vorkommen können, wie wir sie eben wieder erlebt haben. Daß
Experimentatoren herumreisen und diese Erscheinungen vorführen, wird niemand
tadeln, im Gegentheil, das Publikum sieht bei denen, die große Uebung in
solchen Experimenten haben', eine feinere Ausführung als bei solchen, die,sie
nur selten machen. Diese „Magnetiseure" aber verlegen die Ursache der Er¬
scheinung in eine geheimnißvolle, nur ihnen eigenthümliche Kraft, weil sie recht
gut wissen, daß sie dadurch die Neugierde der Menge weit stärker herbeilocken,
als wenn sie einfach belehren würden. Darin aber steckt das Schwindelhafte
und Volksverführerische solcher Schaustellungen.
Am 17. Mai brachte Herr v. Forckenbeck bei dem Bankett des Städtetages
einen Toast aus in Erwiederung auf einen solchen, welcher dem deutschen Reichs¬
tage und seinem Präsidenten gegolten hatte. Man hat ans diesem Städtetage
recht viel auf deutsches Bürgerthum getoastet. Der Vorsteher der Stadtver¬
ordneten von Berlin hatte angefangen, der Reichsbote „unser Braun" war mit
dem Hoch auf den Städtetag gefolgt, Herrn v. Forckenbeck's Toast hatte dasselbe
Ziel. Aber die Herren sprachen keineswegs tautologisch. Erst kam das freie
Bürgerthum, dann kam das Bürgerthum als große liberale Partei, welche auch
die Bauern ein-, aber die Latifundienbesitzer ausschließt, die ihre schwielige Hand
blos als Redefigur ausnutzen. Herr v. Forckenbeck erklomm den Höhepunkt,
indem er das freie, thatkräftige Bürgerthum leben ließ. Es wurde auf
das Bürgerthum immer noch weiter getoastet und immer mit wirksamen Varia-
livrer, aber Herr v. Forckenbeck wurde nicht übertroffen. Er hatte gedankt,
daß man den Reichstag leben lasse, dessen Majorität vermuthlich in den Zoll¬
fragen gegen die Resolutionen entscheiden würde, welche der Städtetag gegen
die Regierung gefaßt: aber der Redner erklärte, hier seines Theils nicht als
Präsident des Reichstages zu sprechen, der (der Präsident) sich unter den gegen¬
wärtigen Verhältnissen in einer sehr schwierigen und außergewöhnlichen Lage
befinde, sondern als liberaler Mann und als Oberbürgermeister von Berlin.
Als solcher glaube er sagen zu müssen: „Es ist Zeit, daß das deutsche Bür-
gerthum gegenüber anderen Bestrebungen, die sich jetzt mit allen Kräften regen,
sich zusammenfasse und sein volles Gewicht in die Wagschale der Entscheidung
lege. Schon lange habe er vorausgeahnt, daß einmal die Zeit kommen werde,
wo sich aus dem Bürgerthum eine große liberale Partei entwickeln werde; er
habe dabei immer geglaubt, daß die liberale Partei nicht blos die Städte,
sondern getreu ihren Traditionen und ihrem Gerechtigkeitsgefühl alle Stände
und namentlich auch das flache Land umfassen werde. Täusche er sich nicht,
so sei die Zeit nahe, in der eine liberale Partei, als Kern in sich fassend das
deutsche Bürgerthum, Einfluß gewinnen werde auf die weitere Entwickelung
des deutschen Reiches. Dazu gehöre aber, daß wir uns rühren auf verfas¬
sungsmäßigen Boden, daß wir innerhalb dieser Grenzen aber alle Kräfte, die
uns zu Gebote stehen, eifrig gebrauchen."
Wir haben diese Rede im wortgetreuen Anschluß an den Bericht der
National-Zeitung vom 18. Mai gegeben. In der Wortfassung anderer Zei¬
tungsberichte war der Zwiespalt des Präsidenten des Reichstages mit der
Majorität des letzteren noch stärker hervorgehoben. Kein Wunder daher, daß
diese Zeitungen sich der Vermuthung nicht enthielten, Herr v. Forckenbeck stehe
auf-dem Punkte, das Präsidium niederzulegen. Am Montag wurde indeß
diese Absicht nach allen Windrichtungen hin dementirt. Am Dienstag Morgen
erklärte die National-Zeitung, es seien über die Tischrede, welche Herr v. For¬
ckenbeck bei dem Bankett des Städtetages gehalten, theilweise höchst übertriebene
Versionen in Umlauf gesetzt worden. Was der Redner über die Nothwendig¬
keit der Bildung einer umfassenden liberalen Partei gesagt, habe er beinahe mit
den gleichen Worten in einer ihrer Zeit viel besprochenen Tischrede zu Breslau
gesagt. Es werde diese Erinnerung zur besseren Würdigung der Kombina¬
tionen dienen, welche an den letzten Trinkspruch des Reichstcigsprüsidenten, wie
es scheine, in übereilter Weise geknüpft worden.
Die gemeinten Kombinationen konnten doch nur die vermuthete Nieder¬
legung des Präsidiums bedeuten. Aber wenige Stunden, nachdem die National-
Zeitung diese Vermuthung übereilt genannt, empfing der Reichstag die Nieder¬
legung des Herrn v. Forckenbeck. Aus diesem Sachverhalt scheint mit Evidenz
hervorzugehen, daß Herr v. Forckenbeck am Montag noch nicht an die Nieder¬
legung dachte, sonst hätte er die National - Zeitung und zahlreiche befreundete
Korrespondenten nicht dahin informiren können, vor dieser Voraussetzung zu
warnen. Noch weniger hat er also die Tischrede in der Absicht gehalten, den
Rücktritt vom Präsidium mit derselben einzuleiten. Diesem schwer anfechtbaren
Sachverhalt gegenüber wird man sich eines befremdenden Eindruckes nicht
erwehren können.
Die Präsidentenstellung im Parlamente wird anders bei uns aufgefaßt
als in England. Seltsam, daß wir, ewig bemüht, den englischen Parlamenta¬
rismus, der so vieles hat, was unübertragbar, und so vieles, was nicht im
geringsten nachahmenswert!) ist, in allen Stücken nachzuahmen, uns von dem
einzigen guten Beispiele emanzipiren, das er uns geben könnte. Der Sprecher
des Unterhauses, gleichviel durch welche Partei in's Haus gesendet, ist von dem
Tage, wo ihn das Haus zum Amte des Sprechers berufen, nur noch bemüht,
der Diener des ganzen Hauses zu sein wie zu scheinen. Der Sprecher ver¬
meidet daher jede Gelegenheit, als Parteimann aufzutreten, der er in seinem
Amte nicht mehr ist noch sein darf. Persönlichkeiten, welche sich zu Partei¬
führern eignen, oder welche sich das Talent zum großen Redner zutrauen,
gibt keine Partei zum Sprecheramte her, so wenig als solche Persönlichkeiten
ihrerseits das Verlangen nach diesem Amte tragen. Es bedarf keines Wortes,
daß diese Einrichtung die allein richtige und die selbstverständliche ist. Was
haben wir in Deutschland dafür angenommen? Auch vom deutschen Präsi¬
denten verlangt man die Unparteilichkeit, erwartet man, daß er der Diener des
ganzen Hauses sei. Man glaubt, daß dieser Forderung Genüge geleistet werde,
wenn der Präsident dem Namen nach aus der Fraktion austritt, der er etwa
angehört hat. Aber ganz abweichend von der englischen Auffassung verlangt
man vom Präsidenten, daß er das Vertrauen des Hauses nicht nur für die
Geschäftsführung genieße, sondern daß er zugleich der Repräsentant der poli¬
tischen Gesinnung der Majorität sei. Und was der englischen Ausfassung noch
fremder wäre, man legt bei der Wahl den höchsten Werth darauf, welcher
Fraktion der Präsident angehört, und jede Fraktion präsentirt zur Wahl ihre
bedeutendsten Mitglieder, die es sind nicht etwa durch technisch präsidiale Be¬
fähigung, sondern vor allem durch die Wirksamkeit in der Parteileitung. So
wird denn die angebliche Resignation des Präsidenten auf den Fraktionszu¬
sammenhang ein leeres Symbol, er bleibt der Führer seiner Fraktion, deren
Vorsitz zwar von einem Stellvertreter eingenommen, aber dem eigentlichen
Inhaber vorbehalten wird.
Es bedarf wiederum keines Wortes, das diese Sitte eine zweckwidrige,
geradezu eine Absurdität ist. Wie ist sie entstanden? muß man fragen. Die
Antwort lautet: aus den Nachwirkungen des Universitätslebens. Wer erinnert
sich nicht der Streitigkeiten bei den studentischen Fackelzügen, welches Korps
voranschreiten, in welcher Folge die Marschülle gereiht werden, wer bei dem
allgemeinen Kommers den Präses stellen soll. Unsere parlamentarischen Frak¬
tionen bilden sich nach den Erinnerungen der Studentenkorps. Sie streiten,
wie diese um den Vortritt bei Fackelzug und Kommers, um den Vorsitz im
Parlamente. Die Sitte ist so abgeschmackt, wie es gar nicht zu sagen ist, aber
sie besteht einstweilen; messen wir an ihr den jüngsten parlamentarischen Vorfall.
Wenn Herr v. Forckenbeck sich als Repräsentanten der Majorität betrachtete,
so durfte er nicht bei einem politischen Bankette sich gegen diese Majorität
erklären. Allein er mußte schon seit der Wahl des jetzigen Reichstages wissen,
daß er nicht mehr der Repräsentant der politischen Majorität war. Wenn er
dennoch das Präsidium annahm, so konnte man dahinter nur den lobens-
werthen Gedanken suchen, die deutsche Prüsidentenstellung in die allein richtige
Bahn des englischen Sprecheramtes zu leiten. Die Grenzen dieses Amtes
mußte Herr v. Forckenbeck jedenfalls so lange innehalten, als er Präsident war.
Drängte es ihn wieder nach dem Parteileben, fo mußte er erklären, er glaube
seiner Pflicht jetzt besser als thätiges Parteiglied zu entsprechen und mußte
diesen Glauben zum Grunde seines Rücktrittes vom Präsidentenstuhl machen,
bevor er irgend einen politischen Akt außerhalb des Parlamentes unternahm.
Daß er den politischen Akt als ein scharfer Parteimann noch als Präsident
außerhalb des Parlamentes unternahm und daß er dann, was erklärlich, nicht
nur den Sonntag, sondern auch noch den Montag vergehen ließ, bevor er
seine Resignation einreichte, daß er, wie es scheint, am Montag noch zweifelte,
ob er sie einzureichen habe — dafür haben wir keine Erklärung.
Mit Herrn v. Forckenbeck war der Vizepräsident, Herr v. Stauffenberg,
was das politische Verhältniß zur Majorität betrifft, in gleicher Lage. Nach¬
dem Herr v. Forckenbeck seinen Rücktritt durch den politischen Gegensatz zur
Majorität begründet, mußte Herr v. Stauffenberg ihm folgen. Da er krank
war, konnte er die Krankheit zum Motiv wählen.
Diese beiden Rücktritte haben die Folge gehabt, die sie nach der deutschen
Sitte haben mußten. Die beiden stärksten Korps haben ihre Senioren auf
die Präsidentensitze gebracht. Da das eine Korps, dessen Repräsentant den
Vizepräsidentensitz erhalten hat, bis dahin in eine Art parlamentarischen Verruf
gethan war, weil es, das Korps Germania, parlamentarisch Zentrum genannt,
gewisse Staatsgesetze für sein Gewissen nicht bindend erklärt hatte, so ist die
neue Präsidentenwahl von manchen Seiten als ein befremdliches, den Komment
umstürzendes Ereigniß charakterisirt worden. Wir sehen im Gegentheil in
dem Umstände, daß eine ungleichartige Majorität genöthigt war, die Präsi-
deuten zu berufen, die Nothwendigkeit des Ueberganges zur richtigen Auffassung
der Präsidentenstellung. Weil die jetzigen Präsidenten nicht die Repräsentanten
einer politischen Majorität sind, die zur Zeit gar nicht besteht, so können sie
nur Halt gewinne», wenn sie sich als Diener des Hauses betrachten, damit
aber jeder öffentlichen Parteithätigkeit entsagen. Dazu sind beide wohl geeignet,
weil sie in ihren Parteien eine nach außen hervortretende Rolle nicht gehabt
Die Gewerbegesetzgcbnng des Deutschen Reiches, im Lichte ihrer Ursachen und
Wirkungen, sowie der neueren gewerbepolitischen Bestrebungen von Jul. Schulze.
Heilbronn, Gebr. Henninger, 1879.
Diese Broschüre bildet ein Hest der von or. Mühlhäusser und Professor
Geffken in Straßburg herausgegebenen „Zeitfragen des christlichen Volkslebens"
(S. Band von 6 Heften 5 Mark), ist aber auch einzeln zu haben. Der Ver¬
fasser ist Sekretär der Hamburger Gewerbekammer, und so verdient die Schrift
schon in sofern Beachtung, als aus ihr am besten die Stellung dieser Körper¬
schaft zur Umgestaltung des Kleingewerbes zu erkennen ist. In unserer kürzlich
gegebenen Uebersicht über die neuesten Bestrebungen in der Organisation des
Kleingewerbes haben wir diese Stellung der Hamburger Gewerbekammer bereits
gezeichnet und brauchen hier nur zu erwähnen, daß von derselben vom Staate
erst neue Rechte für die Innungen gewünscht werden, ehe man an eine aus¬
gedehnte Gründung derselben herantritt. Ob das nöthig ist, kann unseres
Erachtens erst die Praxis zeigen; dem die neuesten Vorgänge in Osnabrück
scheinen eine Organisation auf dem Boden der bestehenden Gewerbeordnung
und der Gewerbefreiheit recht wohl möglich zu machen. Daß unser Volk nach
korperativen Gestaltungen lechzt, wie Herr Schulze meint, will uns durchaus
nicht einleuchten. Was die Gewerbetreibenden bis jetzt nach dieser Richtung
gethan haben, ist doch recht wenig. Die ganze Bewegung ist lau und flau,
nur das Osnabrücker Gewerbe und Miquel entwickeln eine Thätigkeit, welche
Respekt fordert und unsere Hoffnungen für die Zukunft des Kleingewerbes neu
belebt.
Wir deuteten schon in einer früheren Nummer d. Bl. darauf hin, daß in
der am 18. März d. I. zusammengetretenen Extra-Session des Kongresses
zwischen der Regierung und der Bundesgesetzgebung der Vereinigten Staaten
leicht ein Konflikt entstehen könnte, der dazu angethan sei, auf die Fortent¬
wickelung der politischen Verhältnisse in der nordamerikanischen Union einen
entscheidenden Einfluß auszuüben. Was wir damals als wahrscheinlich hin¬
stellten, ist mittlerweile zur Thatsache geworden.
Die erwähnte Extra-Sitzung des Kongresses war nöthig geworden, weil
durch die Umtriebe der demokratischen Partei, welche gegenwärtig in beiden
Kongreßhäusern, im Senat und im Repräsentantenhause, die Majorität hat,
die sogenannte Appropriations-Bill, welche der Unionsregierung die zur Fort¬
führung der Regierungsgeschäfte erforderlichen Gelder bewilligt, im vorher¬
gehenden (45.) Kongresse nicht zur Annahme gelangt war. Es war daher eine
der ersten und dringendsten Aufgaben jener Extra-Sitzung, das Armeebudget,
welches einen Haupttheil der Appropriations-Bill ausmacht, zu berathen und
zu genehmigen; dasselbe geschah denn auch zunächst in der Reprüsentanten-
kammer und am 25. April d. I. im Senate, jedoch mit einer von den Demo¬
kraten angehängten, mit dem Armeebudget in keinerlei Verbindung stehenden
Klausel, durch welche diejenigen bundesgesetzlichen Bestimmungen, welche sich
auf nationale Wahlen beziehen, aufgehoben und außer Kraft gesetzt werden
sollten. Diese vom Kongreß wegen der von den Demokraten verübten Wahl¬
betrügereien vor mehreren Jahren beschlossenen und vom damaligen Präsidenten
der Vereinigten Staaten sanktionirten Bundeswahlgesetze waren nämlich der
demokratischen Partei, obschon sie dieselben bei den im Süden der Union vor¬
genommenen letzten Kongreßwahlen vielfach, speziell den Negern gegenüber, ver¬
letzt hatte, doch so lästig geworden, daß sie dieselben um jeden Preis abschaffen
wollte, um bei den nächsten Kongreßwahlen und der nächsten Präsidentenwahl
noch bequemer und in größerem Maßstabe, als es bisher geschehen, z. B. auch'
im Staate New-Iork, Wahlfälschungen vornehmen zu können. So geschah es
denn, daß die Mitglieder und Führer der demokratischen Partei im Kongreß,
unterstützt von der ihnen ergebenen Presse, offen erklärten, sie würden der
Bundesregierung auf keinen Fall die zur Fortführung der Regierungsgeschäfte
nöthigen Geldmittel eher bewilligen, als bis die verhaßten Bundeswahlgesetze
aufgehoben (rsxsalkä) worden feien. Diese nahezu revolutionären Drohungen
vermochten jedoch den Präsidenten Hayes nicht einzuschüchtern. Derselbe sandte
vielmehr am 29. April d. I. die mit der verhängnißvollen Klausel versehene
Armeebill ohne seine Signatur wieder an das Repräsentantenhaus zurück, und
zwar mit einem Begleitschreiben, in welchem er das von ihm gegen die Bill
eingelegte Veto ausführlich begründete. Diese Begründung ist aber so inter¬
essant und für konstitutionelle Streitfragen aller Länder so wichtig, daß ein
näheres Eingehen auf dieselbe aus mehr als einem Grunde gerechtfertigt er¬
scheint.
Der Präsident weist zunächst nach, weshalb der sechste Abschnitt der in
Rede stehenden Bill, welcher die Aufhebung der zu Recht bestehenden nationalen
Wahlgesetze bezweckt, nicht zu billigen sei; alsdann aber macht er auf die
Konsequenzen aufmerksam, die daraus folgen würden, wenn die gesetzgebende
Gewalt, namentlich das Repräsentantenhaus, aus Parteirücksichten die exekutive
Gewalt zu Maßregeln zwänge, die ihrer besseren Einsicht widersprächen und
nicht im Interesse des Gemeinwohles lägen.
Präsident Hayes erklärt im Anfang seiner Veto-Botschaft, daß er die vom
Kongreß angenommene Armeebill, welche alle für die Erhaltung der Bundes¬
truppen von der Regierung verlangten Geldmittel für das mit dem 30. Juni
1880 endende Fiskaljahr bewilligt, gern unterzeichnet haben würde, wenn nicht
durch den beigefügten sechsten Abschnitt jener Bill die bestehenden nationalen
Wahlgesetze wesentlich abgeändert würden. Er zitirt alsdann das hierauf be¬
zügliche, am 25. Februar 1865 von beiden Kongreßhäusern angenommene und
vom Präsidenten Lincoln unterzeichnete Wahlgesetz, welches auch im Jahre
1874 in die „Revidirten Statuten" der Vereinigten Staaten (Sektion 2002 und
5528) aufgenommen wurde und folgendermaßen lautet:
„Sektion 2002. Kein Land- oder Seeoffizier und keine andere im Zivil¬
oder Militärdienste der Vereinigten Staaten stehende Person darf an einem
Platze, wo in einem Unionsstaate eine allgemeine oder eine besondere Wahl
(a, or «xecial slkotion) vorgenommen wird, Soldaten oder bewaffnete
Leute bringen und sie dort unter Befehl behalten, außer so weit dies nöthig
ist, um bewaffneten Feinden der Vereinigten Staaten entgegenzutreten oder
Ruhe und Ordnung an den Stimmplätzen aufrecht zu erhalten." Die Sektion
5528 belegt ein Zuwiderhandeln gegen diese gesetzliche Bestimmung mit einer
Geldstrafe von nicht weniger als 5000 Dollars oder einer harten Gefängni߬
strafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.
' Die demokratische Majorität des Kongresses hatte nnn in dem der Armee¬
bill angehängten sechsten Abschnitt die bedeutungsvollen Schlußworte der
2002. Sektion: „oder Ruhe und Ordnung an den Stimmplätzen aufrecht zu
erhalten" weggelassen, was nach der richtigen Ansicht des Präsidenten Hayes
nur eine doppelte Bedeutung und Wirkung haben konnte und sollte: einmal,
daß der Regierung der Vereinigten Staaten nicht das Recht zustehe, die
Militärmacht der Union bei Kongreßwahlen zur Aufrechterhaltung von Ruhe
und Ordnung zu verwenden, und zweitens, daß sie nicht befugt sein solle, durch
Zivilbeamte nationale Wahlen vor Gewaltthat und Betrug zu schützen. Dem¬
gegenüber führte aber der Präsident mit Bezugnahme auf weitere, die Ver¬
wendung des Bundesmilitärs bei nationalen Wahlen betreffende Gesetzes¬
bestimmungen aus, daß eine gesetzwidrige Einmischung von Soldaten in Wahlen
nicht wohl zu befürchten sei, und daß auch in der That seit langer Zeit keinerlei
Beschwerde über eine solche Einmischung erhoben worden sei. Er könne daher
mit Zuversicht behaupten, daß keine Nothwendigkeit sür die Annahme des sechsten
Abschnittes der ihm vorgelegten Armeebill existire, daß die in Kraft bestehenden
Gesetze vielmehr vollkommen genügten, um ein unbefugtes Einmischen des
Militärs in nationale Wahlen zu verhüten.
Allein die von den Demokraten proponirte Gesetzesabänderung, so argu-
mentirte Herr Hayes weiter, sei nicht nur „nicht nothwendig" (urmsvessM^),
sondern sogar ungerecht und schädlich, „weil sie der Zivilgewalt der Vereinigten
Staaten alle Macht entziehe, den Frieden bei Kongreßwahlen zu erhalten".
Kongreßwahlen aber seien überall und in hohem Grade von politischer Be¬
deutung und von der größten Wichtigkeit für die ganze Nation. Jeder Unions¬
staat und jede politische Partei hätten ein, Anrecht auf den Theil der Macht,
der ihnen durch das gesetzliche und konstitutionelle Stimmrecht übertragen
werde. Es sei das Recht eines jeden Bürgers, der die vom Gesetze verlangten
Qualifikationen besitze, seine Stimme, ohne Einschüchterungen ausgesetzt zu sein,
an der Wahlurne abzugeben und sie ehrlich gezählt zu sehen. So lange die
Ausübung dieser Macht und der Genuß dieses Rechtes gemeinsam und gleich¬
mäßig sei, werde thatsächlich und formell eine Unterwerfung unter das Resultat
der Abstimmung stattfinden, und die einzelnen Zweige der Regierung würden
die wahre Kraft des auf solche Weise zum Ausdruck gelangten Volkswillens
empfinden. Das 15. Amendement zur.Bundesverfassung bestimme, daß jedem
Burger sein Stimmrecht gewahrt werde, und zwar ohne Beanstandung oder
Beschränkung durch die Vereinigten Staaten oder einen einzelnen Unionsstaat
auf Grund der Race, der Farbe oder des früheren Sklavenverhältnisses. Der
Kongreß habe die Macht, diese Bestimmung durch geeignete Gesetze in Vollzug
zu setzen. Das Oberbundesgericht habe den Inhalt dieses Amendements für
vollkommen konstitutionell erklärt. Nationale Gesetze seien nothwendig zur
Beschützung freier und ehrlicher Wahlen, wie die Erfahrung gelehrt habe, nicht
nur um den früheren Sklaven im Süden ihr Stimmrecht zu sichern, sondern
auch um betrügerische Stimmabgabe in den großen Städten des Nordens
(New-Aork) zu verhüten. Aus diesem Grunde habe denn auch die Bundes¬
gesetzgebung hierauf bezügliche Gesetze erlassen; die Bundesmarschälle und deren
Gehilfen seien berechtigt und verpflichtet, die Wahlurne reinzuhalten und dazu
die nöthige Macht (el. xosss vomies-tus) aufzubieten. Ein gewaltthätiges Hintern
dieser Beamten in der Ausübung ihrer Pflichten sei mit strengen Strafen be«
legt. Der Zweck und die Wirkung des sechsten Abschnittes der Armeebill gehe
aber dahin, sämmtliche Zivilbeamten der Vereinigten Staaten daran zu hindern,
mit Kraft und Energie die Reinheit der nationalen Wahlen zu schützen. Wenn
dieser Abschnitt wirklich Gesetzeskraft erlange, so würde die Bundesregierung
machtlos sein, unverfälschte Wahlen zu sichern. Den einzelnen Unionsstaaten
stehe das Recht zu, mit Militär- und Zivilgewalt bei Staatswahlen, wenn es
nöthig sei, einzuschreiten, aber den Vereinigten Staaten wolle man jetzt die
nöthige Militär- und Zivilgewalt entziehen, um ihrerseits die Nationalwahlen
unverfälscht zu erhalten. Darum sei es ihm unmöglich, die ihm übersandte
Armeebill zu unterzeichnen.
Schließlich tadelte Präsident Hayes noch die Art und Weise, wie ihm der
Vorschlag zur Abänderung der nationalen Wahlgesetze zur Unterschrift unter¬
breitet worden sei, die sogenannte „Gesetzgebung durch Anhängung von Klauseln"
(l6Ais1g.tioQ vz? riäsrs). Er konnte allerdings nicht leugnen, daß es schon vierzig
Jahre nach Annahme der Bundeskonstitution Sitte geworden sei, dem Armee¬
budget Maßregeln und Gesetzesvorschläge anzuhängen, die mit jenem in gar
keinem innern Zusammenhange ständen. Alle Parteien hätten sich diese Sitte
(czorarQon xr^otieo) zu Nutze gemacht. Andererseits aber sei es eine unleugbare
Thatsache, daß durch diese Art von Gesetzgebung viele Mißbräuche entstanden
und viel öffentliches Geld verschwendet worden. Daher sei die allgemeine
Stimme des Landes dagegen, und die jüngeren Unionsstaaten hätten in ihre
Verfassungen ausdrücklich die Bestimmung aufgenommen, daß kein Gesetzes¬
vorschlag disparate Dinge enthalten dürfe; diese Rückkehr zur alten Praxis sei
in Wahrheit eine werthvolle Reform. Als eine Rechtfertigung der Gesetzgebung
durch Anhängung von Klauseln könne vielleicht angeführt werden, daß diese
Gesetzgebungsweise eine sehr bequeme sei, denn man könne so die Annahme
von Maßregeln, die beiden Kongreßhäusern willkommen sei, erleichtern. Aber
im vorliegenden Falle fände dies keine Anwendung; der ganze Hergang
der Sache stehe damit in Widerspruch. Und nun schildert der Präsident, ge¬
stützt auf unleugbare Thatsachen, wie das in seiner Mehrheit demokratisch
gesinnte Repräsentantenhaus des 45. Kongresses die Abänderung der Bundes¬
wahlgesetze unter allen Umständen durchzusetzen bemüht gewesen sei. Man
habe sehr wohl gewußt, daß der damals in der Mehrheit aus Republikanern
bestehende Senat niemals einer, jene Abänderung bezweckenden selbständigen
Bill beigestimmt haben würde, und sei doch oder vielmehr gerade deshalb zu
dem Entschlüsse gekommen, die aus Parteirücksichten so heiß ersehnte Abände¬
rungsbill der Armeebill als Klausel anzuhängen; zugleich habe man gedroht,
daß, falls der Senat diese Klausel nicht annähme, das Repräsentantenhaus das
Armeebudget nicht bewilligen würde. Diese Drohung sei denn auch in Er¬
füllung gegangen, und so sei die gegenwärtige Extra-Sitzung des 46. Kongresses
nothwendig geworden. Beide Häuser dieses Kongresses seien in der Mehrheit
demokratisch und hätten sofort die alte Klausel-Gesetzgebung wieder in Angriff
genommen. Diese Gesetzgebungsart, an sich schon verwerflich, beruhe im vor¬
liegenden Falle aber auf dem durch und durch falschen Prinzip, daß dem
Repräsentantenhause allein das Recht zustehe, zuerst Geldbewilligungen ent¬
haltende Gesetzesvorschläge in Anregung zu bringen, und daß jenes Haus des¬
halb auch berechtigt sei, die zur Fortführung der Regierungsgeschäfte noth¬
wendigen Geldmittel zu verweigern, wenn nicht der Senat und der Präsident
dem vom Repräsentantenhause vorgeschlagenen Gesetzgebungsmodus beistimmten.
„Die Aufstellung dieses Prinzips," sagt Hayes, „involvirt eine radikale,
gefährliche und unkonstitutionelle Aenderung unserer Verfassung. Die Bundes¬
verfassung und die auf ihr ruhenden Gesetze weisen den verschiedenen Zweigen
der Regierung und der Bundesarmee ihre Stellung an. Die Rechte und
Pflichten der Regierung und, der Armee sind genau definirt, und ihre Erhaltung
hat das Gesetz sorgfältig vorgesehen. Die für sie jetzt nothwendigen Geldmittel
sind vom Volke beschafft, sie liegen im Staatsschatze zur Auszahlung bereit,
sobald die Geldbewilligungs- oder Appropriations-Bill angenommen ist. Diese
Bill mag nun angenommen werden oder nicht — die Einfordernng der Steuern
wird weiter vor sich gehen, und das Geld wird sich im Staatsschatze anhäufen.
Es lag nicht in der Absicht der Gründer unserer Verfassung, einem einzelnen
Theile der Regierung die Gewalt zu verleihen, die Bedingungen vorzuschreiben,
unter denen dieser Schatz für die Zwecke, für welche er angesammelt wurde,
Verwendung finden soll. Eine solche Absicht müßte, wenn sie bestanden Hütte,
doch irgendwo in der Verfassung ihren klaren Ausdruck gefunden haben. Dies
ist aber nicht der Fall. Daß die Mehrheit des Senates jetzt die Ansprüche
des Repräsentantenhauses unterstützt, erhöht nur den Ernst der Lage, ändert
aber die eigentliche Streitfrage durchaus nicht. Sollte die neue Lehre zum
leitenden Grundsatze erhoben werden, dann kann sie nur zu einer unwidersteh¬
lichen und despotischen Gewalt des Repräsentantenhauses führen. Die bloße
Majorität dieses Hauses würde die Regierung ausmachen. Die Exekutive
würde nicht mehr das sein, was die Gründer der Bundesverfassung wollten,
daß sie sein sollte: ein gleichberechtigter und unabhängiger Zweig der Regierung
öHUtü g.Qä inäsxsnäsiit dranod ok tus Novernrakiit). Es ist offenbar
die konstitutionelle Pflicht des Präsidenten, sein diskretionüres Urtheil allen
ihm vorgelegten Gesetzesvorschlägen gegenüber anzuwenden, ohne Druck und
Zwang seitens eines andern Zweiges der Regierung. Die Behauptung, daß
die einfache Mehrheit eines Hauses oder beider Häuser des Kongresses die
Billigung einer Gesetzesvorlage erzwingen dürfe durch die Androhung der Ver¬
weigerung der nöthigen Geldmittel, ist gleichbedeutend mit einer Ableugnung des
der Exekutive durch die zweite Abtheilung des siebenten Artikels der Bundes¬
verfassung klar und deutlich gewährleisteten Urtheiles an der Gesetzgebung.
Eine solche Behauptung streicht aus der Konstitution die allerdings bedingte
negative Gewalt (das Veto) des Präsidenten aus. Man hat gesagt, dies müsse
geschehen, weil es die besondere Funktion des Repräsentantenhauses sei, deu
Volkswillen zum Ausdrucke zu bringen. Allein es hat kein einzelner Zweig
und kein einzelner Theil der Regierung die ausschließliche Autorität, im Namen
des amerikanischen Volkes zu sprechen. Die bestimmteste und feierlichste Er¬
klärung des Volkswillens ist in der Konstitution des amerikanischen Volkes
enthalten. Durch diese Konstitution ist eine Regierung angeordnet und einge¬
setzt, deren Gewalten zwischen koordinirten Zweigen gleich vertheilt sind, die,
soweit es mit einem harmonischen Zusammenwirken möglich und verträglich
ist, von einander unabhängig sind. Das Volk dieses Landes wünscht nicht,
daß die Oberhoheit (tds suxrsra^c!/) der Konstitution durch die Allgewalt
(omnixotkQvs) eines einzelnen Regierungszweiges aufgehoben werde. Wollte
man diese Bill wirklich zum Gesetze machen, so würde man einen Präzedenzfall
schaffen, der die gleichvertheilte Unabhängigkeit der einzelnen Zweige unseres
Regierungssystems zerstören müßte. Die Tendenz dieser Bill geht ja offenbar
dahin, nicht nur den Bundessenat, sondern auch die Exekutive und die richter¬
liche Gewalt unter die zwingende Botmäßigkeit (ed.«z oosrvivs ÄiotAtion) des
Repräsentantenhauses zu stellen. Das Repräsentantenhaus des Kongresses
würde fortan der einzige Richter über etwaige Mißstünde in unserm staatlichen
Leben fein und allein für Abhilfe zu sorgen haben. Jetzt betrifft der an¬
gebliche Mißstand ein Kongreßgesetz, welches zum Schutze der nationalen
Wahlen erlassen wurde. Wenn aber der vorliegende Gesetzesvorschlag Gesetzes¬
kraft erhielte, so würde das Repräsentantenhaus auch über jeden andern
Kongreßakt die letzte Entscheidung beanspruchen, z. B. über einen vom Pra-
sidenten unter dem Beirath und mit Zustimmung des Senates abgeschlossenen Ver¬
trag, über Ernennungen oder Anstellungen in Aemtern, über die Entscheidungen
des höchsten Gerichtshofes u. s. w. Immer würde das letzte Mittel zur Ab¬
stellung angeblicher Mißstände die Verweigerung von Geldbewilligungen sein.
In der festen Ueberzeugung also, daß die in Rede stehende Bill eine gefährliche
Verletzung des Sinnes und Geistes unserer Verfassung enthält, sehe ich mich
gezwungen, dieselbe dem Hause, in welchem sie entstand, ohne meine Billigung
zurückzuschicken. Das Recht der Verneinung, mit welchem die Verfassung den
Präsidenten ausstattet, legt mir eine Pflicht auf, deren Erfüllung ich nicht
verweigern darf. Indem ich unerschütterlich und gewissenhaft darauf beharre,
alles zu thun, um die verfassungsmäßigen Rechte und die Unabhängigkeit nicht
nur der Exekutive, sondern jedes andern Zweiges der Regierung, die durch
die vorliegende Bill gefährdet werden, ungeschmälert zu erhalten, wünsche ich
mit allem Ernste dem Repräsentantenhause die Rückkehr zu den weisen und
wohlthätigen Gebräuchen der früheren Tage unserer Republik anzurathen,
zu jenen Gebräuchen, denen gemäß von den Geldbewilligungs-Bills jede nicht
dazu gehörige Gesetzgebung ferngehalten wurde. Wenn Sie dies thun, werden
Sie eine wichtige Reform in der Methode der Kongreßgesetzgebung einführen.
Ihr Handeln wird dann in Uebereinstimmung stehen mit den Fundamental-
Grundsätzen der Verfassung und mit den patriotischen Gefühlen nationaler
Zusammengehörigkeit, die deren festeste Stütze sind, und Sie werden dem Lande
das Vertrauen und das Gefühl der Sicherheit und Ruhe wiedergeben, das so
wesentlich ist zum Glück und zur Wohlfahrt aller unserer Mitbürger."
Wir haben den Schluß der Veto-Botschaft des Präsidenten Hayes wort¬
getreu in der Uebersetzung wiedergegeben, weil darin das gegenseitige Ver¬
hältniß der gesetzgebenden, richterlichen und exekutiven Gewalt, wie solches durch
die Verfassung und die Gesetze der Vereinigten Staaten bestimmt ist, kurz und
Prägnant geschildert und die hohe Bedeutung des Veto-Rechts klar dargethan
ist. Es handelt sich im vorliegenden Falle nicht um eine in dem gewöhnlichen
Leben eines amerikanischen Präsidenten vorkommende Amtspflicht, welcher
derselbe einfach nach dem Gesetze Genüge zu leisten hat, sondern wir haben es
hier mit einem politischen Akte zu thun, an den sich, wie die bessern amerikanischen
Blätter zugestehen, möglicherweise die folgenschwersten Resultate knüpfen, und
der an Bedeutung an die ersten Zeiten der Lincoln'schen Administration erinnert,
wo nicht der Buchstabe des Gesetzes allein, sondern die gesammten Verhältnisse
des Landes, der böse Wille der Gegner und die Rücksicht auf das allgemeine
Wohl den Ausschlag geben mußten. Dadurch ist denn auch die Stellung des
Präsidenten Hayes zu einer sehr schwierigen gemacht worden, und es bringt
ihm um so mehr Ehre, daß er sich von patriotischem Gefühle leiten ließ und
entschlossen den Handschuh aufnahm, der ihm von den Repräsentanten der
früheren Rebellenstaaten und deren Bundesgenossen in verblendeten Uebermuthe
vor die Füße geworfen wurde. Hayes ist kein Säbelraßler, er hat gewiß nicht
das Zeug zu einem Diktator, er ist ein einfacher Mann des Volkes, für dessen
Wohl sein Herz schlägt, und dem sein Streben gilt. Wie er im Sezessions¬
kriege als General in verschiedenen Schlachten den Rebellen gegenüber seine
Pflicht that, so tritt er jetzt muthvoll den revolutionären Umtrieben der im
Kongreß sitzenden Ex-Rebellen und ihrer demokratischen Gesinnungsgenossen
entgegen. Er wünscht ebenso wenig, wie irgend ein anderer Patriot, die Republik
der Vereinigten Staaten zu schädigen, indem er die nationalen Wahlen durch
die Bayonette von Bundessoldaten entscheiden läßt; aber er will auch in keiner
Weise, so weit seine Macht reicht, es zulassen, daß in den Südstaaten bewaffnete
Banden im Interesse der demokratischen Partei die Gegner von der Wahlurne
wegtreiben und das freie Stimmrecht mit Füßen treten. Er hat, als er das
Präsidentenamt übernahm, geschworen, die« Verfassung und die Gesetze der
Vereinigten Staaten zu bewahren, zu beschützen und zu vertheidigen, und diesen
Schwur will er halten, allen demokratischen Intriguen zum Trotz. Er weiß,
welche Zwecke die Demokraten verfolgen. Er weiß, daß sie mit Absicht und
Vorbedacht die Extra-Sitzung des Kongresses erzwangen, weil sie in dieser in
beiden Zweigen der Bundeslegislatur die Mehrheit haben und diese nur durch
Betrug und Gewaltthaten an der Wahlurne gewonnene Mehrheit dazu benutzen
wollen, die Herrschaft an sich zu reißen und sich den Sieg in der im
Jahre 1880 stattfindenden Präsidentenwahl zu sichern, wenn sie dabei auch den
klaren Sinn der Bundesverfassung verletzen müssen. Handelte es sich um einen
bloßen Parteikampf zwischen Republikanern und Demokraten, dann hätte der
Präsident ruhig zuschauen können. Er ist der Präsident des ganzen Landes
und darf als solcher seine Pflichten nicht nach Parteiverhältnissen bemessen.
Wenn aber die Parteiverhältnisse so liegen, daß die eine Partei die Schützerin
der Verfassung, der Union, der Gesetze und zugleich des materiellen Wohles des
Landes ist, während die andere die Revolution, den Ungehorsam, den Verrath
und den Schaden des Landes vertritt, dann kann der Präsident nicht umsichtig
und energisch genug handeln, dann darf er sich nicht durch Phrasen von Freiheit,
Staatenrechten u. se w. blenden lassen, dann muß er Verfassung und Union
nach seinem Amtseide bewahren und seine Entscheidungen den wirklichen Ver¬
hältnissen und nicht verkehrten Gebräuchen anpassen. Der Süden der Union
ist den Demokraten bei nationalen Wahlen gegenwärtig so ziemlich sicher, aber
noch nicht genügend; nun soll die Hilfe des Abschaums in den großen Städten
des Nordens, namentlich in New-Aork, herbeigezogen werden, und damit dies
möglich werde, verlangten sie, daß der Präsident die ihm von den Landes-
gesehen gegebene und von der Bundesverfassung zur Pflicht gemachte Befugniß
in Bezug auf den Schutz des freien Wahlrechts aus der Hand gebe. Daher
die der Armeebill angehängte Klausel. Das Veto des Präsidenten hat die
Pläne der Demokraten einstweilen durchkreuzt, auf die Gefahr hin, daß die zur
Fortführung der Regierungsgeschäfte nöthigen Gelder nicht bewilligt werden.
Die hieraus entspringenden Folgen sind nur temporäre Unbequemlichkeiten, ein
Eingehen auf die Pläne der Demokraten aber wäre gleichbedeutend gewesen
mit einem Aufgeben der Machtstellung der exekutiven Gewalt und einem Aus¬
liefern der ganzen Regierung an eine gewaltthätige, herrsch- und beutesüchtige
Partei. Das hat Präsident Hayes wohl erkannt und danach sein Verhalten
eingerichtet.
Als die mit dem Veto belegte Armeebill im Repräsentantenhause am 1. Mai
zur Abstimmung kam, stimmten 120 Abgeordnete dafür und 110 dagegen; damit
war dieselbe, weil sich keine Zweidrittelmajorität dafür erklärt hatte, gefallen.
Die Demokraten haben sich aber bei dieser Niederlage nicht beruhigt. Sie
hielten sofort verschiedene geheime Partei- oder Caucus-Versammlungen ab, deren
Resultat dahin ging, daß der sechste Abschnitt der mit dem Veto belegten
Armeebill etwas modifizirt als selbständiger Antrag eingebracht, die Beschlu߬
fassung über die Armeebill und das Budget überhaupt aber einstweilen noch
vertagt werden sollte. So geschah es denn, daß am 5. Mai in beiden Kongreß-
Häusern eine selbständige Bill eingereicht wurde, die den Gebrauch von Bundes¬
soldaten bei nationalen Wahlen nur gegen „bewaffnete Feinde der Vereinigten
Staaten" erlaubt, ihre Anwendung aber zur „Aufrechterhaltung von Ruhe und
Ordnung an den Stimmplätzen" mit Stillschweigen übergeht. Es liegt auf
der flachen Hand, daß die Demokraten von ihrem ursprünglichen Plane noch
nicht abgegangen sind, daß sie sich weigern, das Budget zu bewilligen, wenn
nicht der Präsident das ihm gesetzlich zustehende Recht, die Freiheit und Reinheit
der nationalen Wahlen nöthigenfalls mit Waffengewalt zu schützen, aufgibt.
Die Gouverneure der Einzelstaaten der Union sollen, nach der Ansicht der
Demokraten, das Recht haben, bei Bundeswahlen Truppen aufzubieten; dem
Oberhaupte der Nation, dem Präsidenten, aber soll dies Recht nicht zustehen.
Wie amerikanische Zeitungen melden, werden die republikanischen Mitglieder
des Kongresses einstimmig gegen die neue Bill der Demokraten auftreten; was
aber das Ende dieses Kampfes sein wird, bleibt abzuwarten. In gewissen
Punkten wird Hayes vielleicht nachgeben, in der Hauptsache schwerlich.
„Niemand," schreibt Boden er aus Zürich an Gleim im Februar 1759,
„kann den Geist und die Thaten des Königs gehörig entdecken, als der ihm
ähnlich denkt, und in einer kleinern Sphäre ähnlich handelt. Nichts ist weniger
allgemein als diese königliche Denkart in einem Weltalter, wo die weiblichen
Zärtlichkeiten an die Stelle der männlichen Tugenden gesetzt werden, wie noth¬
wendig geschehn mußte, nachdem die Weibspersonen in den Umgang der Manns-
leute alltäglich zugelassen, und ihnen eine solche-Macht zu reden und zu thun
gegeben worden. Dieselbe schwere Weichlichkeit, welche die artige Welt hindert,
sich in der Höhe zu gefallen, in welche Klop stock die Poesie erhoben hat,
ist es, welche Friedrich mit so dummem Erstaunen nachsieht, und so ungereimt
seinen Fall fürchtet."
Hirzel schreibt aus Zürich am 14. März 1759: „Ich verspüre es täglich,
wie die Heldentugenden Ihres Königs auch in Gemüthern, die unfruchtbarer
als eine sibirische Steppe schienen, fruchtbar an edlen Empfindungen werden.
Man darf Wahrheiten predigen, die man vorher als donquixote'sche Phantasien
verlacht hätte; die erhabensten Figuren der Poeten werden dem ungelehrten
Pöbel verständlich, wenn sie dieselben in Handlungen ihres Helden ausgedrückt
sehn— Die ganze protestantische Schweiz ist preußischer als Brandenburg selbst.
Wenn die Macht der Schweizer so groß wäre als ihr Eifer für die Wohl¬
fahrt des Königs, so müßten schon alle seine Feinde gedemüthigt sein. Es
giebt Leute hier, die vor Verdruß krank werden, wenn die Sachen für den
König nicht so gehn wie sie wünschten."
Aus solchen Aeußerungen gleichzeitiger Schriftsteller versteht man Goethe's
großes Wort: „Der erste wahre, höhere und eigentliche Lebensgehalt kam durch
Friedrich den Großen und die Thaten des siebenjährigen Kriegs in die deutsche
Literatur."
Freilich hatte jeder deutsche Schriftsteller einen Moment, wo er dem König
grollte und sich hart genug aussprach; aber immer kehrten die Gedanken, wie
durch ein magisches Band gezogen, zu dem Räthsel dieses großen Menschen¬
lebens zurück. Durch das Bild dieses Gewaltigen wurde ihre eigene Seele er-
wettert, sie gewannen für Ideal und Wirklichkeit ganz andere Maße, ganz
andere Perspektiven.
In Zeiten, die das Staatsgefühl verloren haben, thut das Persönliche
Alles. Der ehrbare Rath Goethe in Frankfurt freute sich herzlich, wenn die
Reichsarmee vor dem preußischen Helden sich in eine Reißausarmee verwandelte;
wenn der Reichsfiskal, der ihn durch die Acht den Vögeln des Himmels und
den Thieren des Waldes preisgeben wollte, die Treppe hinuntergeworfen wurde.
„Mankann Friedrich, diesem unzubeschreibenden Geist, Bewunderung und
Ehrfurcht nicht versagen. Er ist der König unter den Helden, er hat Verstand
für mehr als eine Erde, er dreht sich wie die^Sonne in seiner eignen Axe und
glänzt in seinem eignen Licht, er hat ihre Hitze und ihre Flecken. Er hat das
Maß eines großen Geistes, Jahrhunderte nach uns werden seine Natur noch
mit Sorgfalt erforschen. Vielleicht findet sich ein Newton unter den Politikern,
der seinen innern Gehalt ebenso genau zu bestimmen weiß, als dieser Confident
des Schöpfers die Welten abgewogen hat. Ich habe ihn nie ohne hohe und
hinreißende Empfindungen gesehn, seine Thaten sind mein Gedankenfest, ich
schleiche ihm oft nach, um seine geheimen Wege zu errathen. Der Adler schwingt
sich aber in Höhen, die minderen Gefieder unsichtbar bleiben. Ich stehe von
weitem und betrachte seine Größe: sie ruht mit uns auf einer Erde; er stehe
oder falle, er braucht den Raum von Kolossen. Ich weiß mir keinen vorneh¬
mern Menschen zu denken: nur Schade für uns, daß er nicht eine Welt für sich
alleine hat!"
Die Stelle steht in der Schrift „Der Herr und der Diener", die K. Fr.
Moser, damals 36 jährig, in Hanau 1759 herausgab, angeregt von der Prinzeß
Karoline von Hessen-Darmstadt, einer der bedeutendsten Frauen der Zeit,
mit der er seit Jahren in Verbindung stand. Das Buch ist das Programm
für ein künftiges Ministerium; es sind kluge Regeln darin, z. B. daß ein
Minister Feuer und Aktivität haben, aber nicht zu geistreich sein müsse. Die
Hauptsache ist der rücksichtslos freimüthige, ja leidenschaftliche Ton gegen die
Höfe und das Hofgesinde.
„Die Aussicht der mehrsten unsrer jetzigen Landesregierungen ist nichts
weniger als trefflich; fast schäme ich mich aber, ein Deutscher zu sein, wenn ich
beherzige, was viele unsrer künftigen Erbfürsten erst für Leute sein werden!"
... „Die meisten dieser Herrn lernen die Hofstudien, Sprachen, Musik, Reiten,
Tanzen, Fechten und Schäkern, sonst nichts. Mit dieser Vorbereitung rücken
sie endlich in die Regierung ein, nicht als in ein Amt, dessen Pflichten sie
gründlich erlernt hätten, sondern mit der Frende eines Sohns, der seinem^Vater
schon längst ein seliges Ende gewünscht, und sich nun im Besitz eines Vermögens
sieht, mit dem er schalten und walten kann wie er will."... „Das despotische
Wesen vieler unsrer deutschen Herrn, die harte Behandlung ihrer Unterthanen,
die Übertretungen heiliger Versprechen, die Unwissenheit in ihren eigentlichen
Pflichten haben wir meist der militärischen Regierungsart zu danken. Die
Pünktlichkeit des Dienstes, den man im Kriegsstand von den Subalternen fordern
kann und muß, macht Regenten, die also gebildet zur Regierung kommen, spröde,
hart und unleidlich, um unter ihnen in Sachen zu arbeiten, wobei es auf reife
Ueberlegung ankommt. Da im Krieg Gewalt vor Recht geht, und auch ein
rechtschaffner General Vieles thun muß, das er für seine Person lieber um-
gethan ließe, so legt sich eine gewisse Härte auf das Gemüth, welche einen Herrn
nicht leicht wieder verläßt."... „Man sagt, ein Regent sei Niemand als Gott
von seinen Handlungen Rechenschaft schuldig. Es war das sonst die Sprache
großer Monarchen, sie wird aber, im Vertrauen auf die deutsche Freiheit, auch
an unsern kleinen Höfen Mode. Ein Herr, welcher zu dem traurigen Mittel
schreitet, Gott zum Richter zwischen sich und die Unterthanen zu stellen, sagt
damit in der That nichts anders als: Ich verlange von euch weder Vertrauen
noch Beifall; ich weiß, daß ihr Gründe habt, meine Handlungen zu tadeln,
ich begehre sie aber nicht zu wissen: ihr habt nur eine Pflicht, den Gehorsam.
Thue ich euch Unrecht, verklagt mich bei Gott! Habt ihr Vorstellungen zu
machen, ich nehme keine an; übergebt sie Gott, welcher der alleinige Richter
meiner Handlungen ist. — Er ist es auch!! Und dieser allmächtige Richter
aller Herrn wird sich so beweisen, wenn er dereinst die bösen Regenten mit
Ketten ewiger Finsterniß wird binden lassen!"
Moser hatte sich der pietistischen Richtung seines Vaters angeschlossen,
die er aber als geistreicher Mann behandelte; er hatte Sinn für alle neuen
Erscheinungen von Bedeutung: er ist der Freund des Fräulein v. Klettenberg,
der „Philo" in den „Bekenntnissen einer schönen Seele". Später versuchte er
sich auch als Dichter und schrieb einen „Daniel in der Löwengrube" in Klop-
stock'sehen Stil.
Für das Willkürregiment der Höfe hatte er ein Beispiel an seinem eignen
Vater. Dieser hatte sich anfangs mit dem Herzog von Württemberg Karl
Eugen recht gut gestellt, allein die wüsten Eingriffe desselben in alle Gerecht¬
same trieben ihn in die Opposition. Bei einem schnöden Ansinnen des Ministers
Montmorin erklärte der alte Moser, er wolle lieber seinen grauen
Kopf verlieren als Unrecht thun; dafür ließ ihn der Herzog am 12. Juli 1759
nach dem Hohentwiel bringen, wo er ohne Untersuchung und Urtheil sechs
Jahre in schwerer, einsamer Haft blieb. Der kaiserliche Hof ließ ihn im Stich,
erst ein Jahr nach dem Frieden erinnerte man sich seiner.
Der Herzog ließ dem Gefangenen die Freiheit anbieten, wenn er eine Akte
unterzeichnen wollte, in der er sich als Verbrecher bekannte und um Gnade
bat. Moser war Mann genug, dies Ansinnen entschieden zurückzuweisen. Darauf
erfolgte eine Resolution des Reichshofraths, ihn sofort freizulassen, und endlich
25. Sept. 1764 die Freilassung.
Wunderbarer Weise hatte die schwere Haft seiner Gesundheit nicht geschadet;
auch sein rastloser Thätigkeitstrieb hatte sich Befriedigung zu verschaffen gewußt.
Man hatte ihm alles Schreibmaterial entzogen, aber er kratzte mit einer Licht¬
scheue in die weiße Wand ein, und mit derselben Lichtscheere in den Rücken des
Papieres seiner Bibel und seines Gesangbuchs. Und was kratzte er auf diese
Weise zusammen! Ueber 1000 geistliche Lieder, später in 114 Bogen gedruckt!
34 Werke vermischten Inhalts, z. B. „Grundsätze des Besteuerungsrechts derer
Reichsstände", „Eines alten Mannes muntere Stunden während seines Festungs¬
arrests", „Politische und philosophische Gedanken beim Hühnerfüttern", „Reise¬
beschreibung in's Land der Altgebräuchler" u. s. w.
Von dem, was man sich gewöhnlich unter einem Pietisten vorstellt, hatte der
alte Moser gar nichts. Ein rüstiger alter Herr, breitschultrig und wohlbeleibt,
mit hochrothem Gesicht und festem, klarem Auge, in allen Geschäften des prak¬
tischen Lebens bewandert und von einer Rührigkeit, die keinen Augenblick Muße
erträgt; der in seinem siebzigsten Jahr ohne Beihilfe der Hände einen Tisch
zwischen die Zähne nimmt und auf demselben der Gesellschaft Kaffee präsentirt;
ein streitfertiger alter Herr, der in einer Periode allgemeiner Hundedemuth
keinen Anstand nimmt, gegen Groß und Klein laut und vernehmlich zu reden.
Am 12. August 1759 war die unglückliche Schlacht bei Kunersdorf; die
ganze Armee schien vernichtet. „Non wallisur sse," schreibt Friedrich an
seinen Minister Finkenstein, „as vivrs «Moors, ^s. us suis xlns irMtrs as
VUZS Usus. I^S8 fünff as l'^tkairs 8front xirs8 <zns 1'Mg.irs insras; ^js n'al
I^us dö rsssoarizks, se, Z, us zzoiiit msntir, Sö crois tont xsrcku." Und an seinen
Bruder Prinz Heinrich: „Iisxi-s8fut6^-vou3, ckans estts frustis eriss, tont
6v «zuo soutkro M0Q esxrit, se vous ^UAsrss kg,ol1srasnt qr>.s Is tori.rrQSQt as8
6tous8 ri'su axxroetis x»as." Doch schon vier Tage darauf: ,,I^s niorasut
^ut xaraiWait cis8S8xörs: es u'sse xa8 pus 1s äM^si- us 8vit snsors
trsg.^^A. zzz^ig oorllpts^ c^us taut <zus ^'aurai Iss z^sux suvsrt8, ^js 8outisnärai
^'stat eoraws o'k8t wor äsvoir!"
In dieser Situation denkt ihn sich Adolf Menzel in einer seiner
Zeichnungen: er steht am Rande eines Abgrundes, halb zu Tode gehetzt, er¬
wartet aber mit gezücktem Schwerte, festen Blickes die anstürmenden Feinde.
Am 25. August schreibt Winckelmann aus Rom: „Ich nehme mehr Antheil
an dem Unglück meines Vaterlands, als Sie glauben. Einen großen Mann,
ja den größten Mann unglücklich zu sehn, muß den mehrsten Menschen Mitleid
Bregen, geschweige denen, die ihm als geborne Unterthanen gleichsam eigen sind.
Ich sehe den unvermeidlichen völligen Ruin dieses armen Landes vor Augen."
Winckelmann mußte sich, grade wie Lessing, zuweilen zusammennehmen, um nicht
vor seinen Umgebungen zu sehr den Preußen herauszukehren.
Friedrich's Beispiel hatte gewirkt: durch ganz Europa war die Signatur
der Zeit der aufgeklärte Despotismus. Am Z. September 1759, an demselben
Tage, wo in Rom das Verbot der Encyklopädie ausgesprochen wurde, vertrieb
Pombal, ein bis zur Gewaltthätigkeit energischer Minister, die Jesuiten aus
Portugal und gab dadurch das Signal zu einer allgemeinen Verfolgung;
Winckelmann meinte, die Pfaffenherrschaft nahe sich ihrem Ende. Vorläufig
aber herrschten unter dem neuen Papst die Jesuiten unbedingt: „Der Papst,"
schreibt Friedrich an d'Alembert, „kommt mir vor wie ein alter Seiltänzer, c^ni
vorÜMt rstalrs 1s3 leurs als sa, Minsks 8S sa,8hö 1s con." Auch gegen Preußen
wurde noch immer gewühlt, obgleich unter dem geheimen Widerspruch der Ver¬
nünftigen; „Ksnsclstrc) it R,s all ?rü8sia!" sagte Kardinal Albani zu Winckel-
mann, als er von einem neuen Sieg des Königs hörte; „er ist zu unbesonnen
in seinen Reden", setzt Winckelmann hinzu.
Bei diesem geistvollen, reichen und wohlgesinnten Kardinal hatte Winckel-
mann jetzt eine Zuflucht gefunden, die alle seine Ansprüche befriedigte. In der
kostbarsten Villa, in herrlicher Landschaft, umgeben von den auserlesensten
Schätzen der Kunst, in einer reichen Bibliothek, konnte er ganz seinen Liebhabereien
nachgehen: freilich nahm ihn der Kardinal sehr in Anspruch und ließ ihn Tag
und Nacht nicht von seiner Seite; aber er ging mit ihm um wie mit einem
völlig vertrauten. Die Kardinäle, die im öffentlichen Leben stets eine Rolle
spielen müssen, legten im gewöhnlichen ihre Würde bequem bei Seite.
In der Schlacht bei Kunersdorf war Kleist schwer verwundet worden; er
starb in Frankfurt 44jährig am 24. August. Lessing war tief ergriffen. „Meine
Traurigkeit ist eine sehr wilde Traurigkeit. Ich verlange zwar nicht, daß die
Kugeln einen andern Weg nehmen sollen, weil ein ehrlicher Mann dasteht.
Aber ich verlange, daß der ehrliche Mann — Manchmal verleitet mich der
Schmerz, auf den Mann selbst zu zürnen, den er angeht. Warum ging er nicht?
Er hat sterben wollen! Ich weiß nicht, gegen wen ich rasen soll!"
„31 Ins rsvo^su ^ainsi8," schreibt Friedrich an d'Argens, „VVU3
of trouvsrs^ bisn vlsilli: IN68 ensvsux Art8cmnsnt, los c1fret8 ins toradsnt,
se 8an8 äonts <zus ä-ni8 xsu Hs lAclotsral." In all' dem Unglück läßt er
sich „V1lark68 XII.", Vertot und andere Schriften kommen und macht Verse.
An Voltaire schreibt er: ,,^s 8ni8 vlsux, of-WS, Art8on, rläö. 81 ssla clurs,
11 ris i-S8tsiÄ als iQvl-lusus MS 1s, raanls Ah talrs als8 vör8."... ,,?nur of
6l8ert>1rs Ah es8 1nig,A68 tri8es8 se 1ol^u1>rs8, ^'Streits on ^'s tal8 as rnsuvals
vör8. Ostts aMl1<zg,t1c>n räh rsnck dsursux xsnÄMt «zu'fils ours; fils ins
kalt illuÄon srrr ins. 3no.atioQ xrÜ86mes, et räh xrosuro es <^us 1s3 inöäs-
eins A^xsllsut as lueiäss intsrvallss; ra^is anssitSt c^us 1s okarins sse äis-
Äx>ö, ^s rstornds äMZ ius3 LorQl>rv3 rsvsris3."
Eine neue Armee ging am 20. November bei Maxen verloren; Sachsen
fiel in die Hände der Feinde. „Vsxui3 lznatrs a,Q8," schreibt Friedrich 28. Nov.,
,,^'s KÜ8 rasn xur^s-toirs; s'it s. uns autrs vis, it si^atra czus 1s ?srs ötsrnsl
of tlsuns ooroxts as es c^us ^'si soMsrt äM3 eslls-si." ,^s suis xlus la.8
^t äsKorlts as 1a vis guf . . . VoilZ. tont hö <^u'o.Q xauvrs
Hom tatiAo.ö, barg-ssv, ö^ratiMv, moräv., doitsv.x se Isis, vou3 x>fut airs."
Am 6. März 1760: „I^s ^uit' srrant ri'a xg.8 lusus uns vis si srrav.es c^v.s
1k misQQv. On äsvisut s. 1a Hu eoroirik ess soinüäisus as fara^aAiis c^ni n'ont
Ul thu tu 11sQ; se nous sonrons 1s rrionäs, rvxrsssrltsr nos 8a,QAla,mes8
^'a^säiss on 11 platt Z. rios siuismi8 ä'su lournir 1s tlisatrs." Und am 10.
Juni 1760 an d'Argens. „^03 Maki-hö xrsiznvnt uri tour abvrrünadls;
u laut mal Zrü bori Ars Sö ^sehr aan8 1s8 Z'ra.u,as8 avsriturs3 se ^'ousr Miles
vu, äsudls. Dös rsmsäss ä6863xsrs3 sont 1s8 8sal8 arix waux as xarsills
Uaturs. ^s suis sntralnü xar 1s torrsnt as8 svsnsrasr>.t,3 dors as8 routs8 as
^ xruäsnos oräinairs. Lslon 1a tayon as rai3onrlsr as8 de»ilirQ63, ^s us xuis
sauvsr a, ravin8 ä'uir mirasls."
Das Bombardement Dresden's, am 10 Juli, brachte über die Stadt un¬
ermeßliches Elend —Raben er verlor dabei seine ganze Habe und seine Manu¬
skripte —, dem König keine Hilfe. Auch der Sieg bei Liegnitz, am 15. August,
feuchtete wenig. „I^a ori3S öd.av.As as torras, raai8 risn v.s non8 amsris an
üöuvusmsut." Selbst die Hauptstadt sollte das Elend des Kriegs erfahren;
am 8. Oktober drangen die Russen und Oesterreicher in Berlin ein und plün¬
derten. Drei Wochen später schreibt Friedrich an d'Argens: „^amais raa
v^in Hg si^nsra ruis xaix burailiants! >?6 Hnirai 8S.N8 äouts sstts sarazzaZ'us,
^ösolu a, tont V8ör se Z. tsutsr Iss od03E8 Iss pio.8 as8k8xsrss3 xour r6ii38ir
^ xvur trouvsr ruis Ku Alorisri.8S . . . (us Q's8t psint un g-ses as taiti633v
est-Mi^gr as3 ,jour8 in5>,Ib.6ursux . . . I^a xsrsxsLtivs Hui ins rs8es S8t
vieiUs88s inörius se aom1oursrl86, as« vdaAriii8, äkL rs^rst3, as8 1M0-
^üiüyg se as8 outr^Zss s. soMrir."
Mit Voltaire war der König wieder in lebhaftem Briefwechsel, „^'floh
^os vör8," hatte ihm Voltaire geschrieben, „votrs xrc>3v, votrs S8xrit, votrs
^^iloso^^ig daräis se tsrms. ^s n'^i vivrv 8W3 vori8, ni avss ovo.8.
^ Ah pMg ^vim roi, a-v. düros: ^'s xarls Z. sslui grik zu's. susliMts, ^us
^ Arun, se soritrs gut ^s 3ni8 tori^0ur8 lÄsliö." Friedrich antwortete ihm,
^ verzeihe ihm alle seine Streiche: „si vou8 n'^vis^ pswt as äska.ut3, voll8
^Al88frio^ trox 1's8xss6 duinains, se 1'ulüvsr3 g.rua.it rai30Q ä'fers Mloux."
Am 31. Oktober schreibt er ihm aus Leipzig: „tout llsnims s, uns thes fsrvss
sri soi; psri sg.ohne 1'snedÄinsr, la xluxart lui nöt.fut 1s trsin 1srs<^us 1a
tsrrsur Ass Isis us los rstisut xsis. — Vous ins trouvsrs? xsut-fers
trop miLÄntlircixs. ^s suis mal^Ah, ^'s soMrs. . . heff lisiirsux Ah
pong Kornsr s. cultivsr votrs MrÄin, it n'sse x^s Äoims tout 1s wonÄs
Ä'su, f^irs g,ut^ut. II laut czus 1s rossiAQvl öd.ÄQtk, c^us 1s Äauxdin HÄZs,
se c^us ^'s lasss 1a. Arisrrs."
Der blutige Sieg über die Oesterreicher bei Torgau, am 3. November,
schaffte dem König einige Luft, doch täuschte er sich nicht über seine Lage.
„Uf, Situation" berichtet er, „xsutMsr ssi-es-in se1g,t as loin; rü^is si vous
su axxroob.is?i, vous us trouvsriss c^u' uns ^rvsss se öxaisss kuraös." Und
an seinen stets mißvergnügten Bruder Heinrich: „II us taut xs-s <^n'on exi^s
cis iQvi Ass ralrasIsZ, var ^'s vou8 Äöolars use guf ^'s n'su. sais xoilit Mrs."
Prinz Heinrich hatte während seines längeren Aufenthalts in Leipzig
dem guten G eitert viel Aufmerksamkeit erwiesen; am 14. December 1760 ließ
ihn auch der König kommen; nur ungern folgte der kränkliche Mann.
„Warum haben wir nicht mehr gute Autoren?" fragte der König. —
„Da die Künste und Wissenschaften bei den Griechen blühten, führten die Römer
noch Kriege. Vielleicht ist jetzt das kriegerische Säkulum der Deutschen; vielleicht
hat es ihnen auch noch an einem August gefehlt." — „Wie? will Er denn einen
August in ganz Deutschland haben?" — „Ich kümmere mich mehr um die alte
als um die neue Geschichte." — „Ist Er gar nicht von Sachsen weggekommen?
Er sollte reisen!" — „Dazu fehlt mir Gesundheit und Vermögen." — „Ja
daran fehlt's immer den Gelehrten in Deutschland. Es sind jetzt wohl böse
Zeiten?" — „Ja wohl, und wenn Ihre Majestät Deutschland den Frieden geben
wollten"--„Kann ich denn? Hat Er's denn nicht gehört? es sind ja drei
gegen Einen!" —
Schließlich mußte Gellert eine seiner Fabeln deklamiren; er wählte den
„klugen Maler aus Athen". „L'sse 1s xlus raisonuMs Ah evils los Savants
allsinanÄs!" äußerte der König bei Tisch.
Vielleicht hätte Gellert weniger Beifall gefunden, wenn er dem König
eine andre seiner Fabeln deklamirt hätte: „Der Held und der Reitknecht." Die
beiden sterben zusammen in der Klause eines frommen Eremiten. Der Reit¬
knecht ist überzeugt, sein Herr müsse in den Himmel kommen, und zählt als
Grund alle seine Heldenthaten auf. „Warum habt ihr denn alles dies gethan?"
fragt der Eremit den Helden. „Warum? Zu meines Namens Ehren, um meine
Länder zu vermehren, um, was^ich bin, ein Held zu sein!" — „Oh!" fiel der
Eremit ihm ein, „deswegen müßtet ihr so vieles Blut vergießen? Ich bitt' euch,
laßt's euch nicht verdrießen, ich sag' es euch auf mein Gewissen: der Reitknecht
als ein schlechter Mann hat wirklich mehr als ihr gethan!"
Vielleicht hätte der Held gezürnt. Indeß wer weiß? Es kamen ihm zu¬
weilen ähnliche Gedanken. Schreibt er doch am 6. März 1760: „(juanä c>n
g-illius los Nomwss, <zna.n<1 on Iss lust su tursur, ils vssssnt Ä'fers nomrQSS
se üsvisnnsnt ass dstss lÄrouenss. I^a ^usrrs xsrä Iss niazurs, se rs-msris
l'nonMS Ä r>n se^t SÄiivaAS su l^odant Is krsin Ä öff p^ssions drutalss. .
(I?6des Ausrrs us 1s oöäs su risn Z, sslls Ah trsnts a,r>s. .. Nissra-Klss kovis
c^us nous sowrass, <^ni ri'avons Hu'u,Q NTomsnt vivrs, nous nous rsn-
clons es movasnt 1s xlus aur ez^irs nous xonvons, nous rious xlaisons a
Ästrnirs Iss vdsks - ä'ozuvrs Ah 1'inÄustris se terrixs, se as Islsssr uns
rusnioirs oäisuss as nos rava^Sö se ass salamitss ^u'ils ont sa^s^Sö!"
Aber was helfen solche Betrachtungen! „II tant <zus 1s rossi^not Stands, se
<zns ^'s kasss ig. Ausrrs!"
Ein eignes Zusammentreffen: der stille, kränkliche Erbauungsschriftsteller,
der ohne Aufhören über das Elend dieser Welt ächzt, und der verwundete
Löwe, vor dessen seltenem Gebrüll die Welt erbebt.
Gellert's Moral ist die eines Eremiten; sie warnt vor allen Leiden¬
schaften, weil jede Leidenschaft in Ungelegenheit bringt; sie ist die Moral der
Entsagung, die Moral eines engbrüstigen spießbürgerlichen Hypochonders; es
fehlt ihr, was bei aller Sittlichkeit die Hauptsache ist, die Kraft.
Wir nehmen hier Abschied von dem wohlgesinnten Manne, der noch neun
Jahre lebte, aber nichts mehr hervorbrachte. Nur sein Ruf war noch im be¬
ständigen Wachsen. Sechs Jahre nach jener Unterredung schreibt Abbe: „Gellert's
Fabeln haben dem Nationalgeschmack eine ganz neue Richtung gegeben, denn
jede Landpredigerstochter kennt sie auswendig, und auf die kommt es an, uicht
auf die Gelehrten oder Vornehmen, die eigentlich keinen: Lande angehören."
In derselben Zeit hörte der junge Goethe seine Vorlesungen über Stil und
Moral. Gellert ermahnte in weinerlich wohlwollendem Ton die jungen Leute,
der Tugend treu zu bleiben, auf ihre Handschrift zu achten und Verse möglichst
zu vermeiden. Die Studenten schwärmten für ihn; die alten müden Generale,
die er in Karlsbad traf, sagten ihm Schmeicheleien; verschiedene Komtessen und
Baronessen korrespondirten mit ihm; eine Prinzessin ging bei Hellem lichten Tage
ein seinem Arm über den Markt — es that seinem Herzen doch wohl! — ja
er durfte dem neuen Kurfürsten von Sachsen einen Vortrag über die Menschen¬
würde halten!
Leipzig fühlte sich damals noch immer als Kleinparis: der junge Süd¬
deutsche mußte hier lernen, sich der reinen deutschen Mundart zu befleißigen
und sich modisch zu frisiren; er erfuhr, daß Friedrich ein schlechter General sei.
Neben Gellert spielten Weiße, Hiller, Oeser und verschiedene Jüngere eine an¬
sehnliche Rolle, aber die Leipziger Literatur stand nicht mehr im Vordertreffen,
sie kultivirte mit besonderer Vorliebe Kindergeschichten und Operetten. Man zuckte
über die „Provinzen" die Achsel, die sich gegen die reine Bildung aufgelehnt;
aber diese Provinzen, Preußen voran, führten einmal das große Wort.
Mit dem folgenden Geschichtsbilde befinden wir uns in der ersten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts, der Zeit, wo der Absolutismus nach der Auffassung
Ludwig's XIV. mit Ausnahme England's allenthalben in Europa seine höchste
Ausbildung erreicht und mit Ausnahme Preußen's seine nachtheiligsten Folgen
entwickelt hatte, der Zeit ferner, wo die Jesuiten vom langen und kurzen Rock
auf dem Gipfel ihrer Macht standen und auch an einer Anzahl von protestan¬
tischen Höfen in einer für die betreffenden Länder verhängnißvollen Weise am
Regiments theilnahmen, der Zeit der Abenteurer und Glücksritter endlich, die
bald in der Eigenschaft von Goldköchen, bald als Finanzkünstler, bald in
anderer Gestalt bei ehrgeizigen oder verschwenderischen und deshalb geldbedürf¬
tigen Fürsten gern gesehene Gäste waren, rasch emporstiegen und zuletzt meistens
ebenso rasch gestürzt wurden.
Beinahe allenthalben, namentlich aber in den kleineren deutschen Ländern,
lastete der Druck der Fürstengewalt schwer auf dem Volke. Die alten ständi¬
schen Verfassungen wurden kaum noch geachtet und hie und da geradezu ge¬
brochen. Mit immer neuen Finanzmanövern, mit Erhöhung der hergebrachten
und Einführung von anderen Steuern, mit bisher unbekannten Stempelabgaben,
Ausprägen geringwerthiger Geldes, Aemterverkauf, Monopolen füllten gewissen¬
lose Minister die öffentlichen Kassen, die dennoch immer bald wieder leer waren
und so ihren Verpflichtungen gegen die Beamten und die Staatsgläubiger nur
sehr ungenügend nachkommen konnten. Die meisten Stellen wurden durch
Geldzahlungen erworben. Die Minister und deren Günstlinge bereicherten sich
in unanständigster Weise, die Fürsten verschwendeten die Landeseinkünfte mit
einem unerhörten Luxus, mit Soldatenspielerei oder durch Kriege, die lediglich
aus Ehrgeiz unternommen wurden. Wir erinnern an August den Starken, an
den Grafen Brühl und an das Auftreten des Herzogs Ernst August von
Weimar*) gegenüber seinen Landständen. An den verschiedensten Stellen, im
Norden wie im Süden, sannen die Herrschenden auf Erweiterung der Grenzen
ihres Gebietes. Ludwig XIV. und Karl XII. waren ihr Leben lang mit
Eroberungsplänen beschäftigt, Oesterreich gewann Serbien, Venedig Landstriche
in Griechenland, am Potsdamer Hofe bereitete man die Kriege vor, die den
Hohenzollern Schlesien verschafften.
Daneben hatte der Jesuitismus mit seinem Bestreben, das dem Papstthum
durch die Reformation entrissene Terrain wieder zu erobern, an verschiedenen
Orten Erfolge erzielt, und an anderen war er mit Eifer und Geschick bemüht,
solche vorzubereiten. Eine Menge freiwilliger Rücktritte zum römisch-katholi¬
schen Glauben war auf die vom Orden geleitete gewaltsame und zum Theil
sogar blutige Reaktion gegen die böhmischen, österreichischen und polnischen
Ketzer im siebzehnten Jahrhundert gefolgt. In der Pfalz war die herrschende
Linie wieder der alten Kirche beigetreten, in Kursachsen hatte August der Starke
um die polnische Krone zu erlangen, das Gleiche gethan, in Hessen-Kassel war
den Jesuiten die Konvertirung des Erbprinzen Friedrich gelungen. Was man
davon erwartete, zeigten die Maßregeln, die der Vater dieses Prinzen in Ge¬
meinschaft mit den Ständen des Landes ergriff. Er verbot ihm, als Landgraf
die öffentliche Uebung der katholischen Religion zu gestatten und Katholiken
als Beamte anzustellen, er entzog ihm die Erziehung seiner Söhne, und er
nöthigte ihn, durch eine Urkunde den Ständen alles, was ihm vorgeschrieben
worden, feierlich zuzusichern. Andernfalls würde ohne Zweifel auch hier nicht
ausgeblieben sein, was in dieser Zeit unter ähnlichen Verhältnissen anderwärts
geschah. Zwei Fürsten von Hohenlohe z. B. tyrannisirten ihre protestantischen
Unterthanen so lange, bis Drohungen Preußen's und Hannover's mit der
Absenkung von Exekutionstruppen sie davon abzulassen zwangen. In Salzburg
Vertrieb der fanatische Erzbischof dreißigtausend fleißige und ruhige Unterthanen,
weil sie Protestanten waren und bleiben wollten. In der Pfalz beförderte die
von Jesuiten beeinflußte Regierung den Verfall der Universität Heidelberg,
suchte durch schlechte Besetzung der Pfarrstellen das evangelische Volk allmäh¬
lich zu verderben und wurde nur durch deu König von Preußen abgehalten,
ihm die Kirche zu nehmen und sie den Katholiken zu überweisen. Der Nach¬
folger des Kurfürsten, unter dem dies geschah, Karl Theodor, ließ sich von
seinem Erzieher und späterem Minister eine Instruktion geben, wie man behut¬
sam und in aller Stille die Zahl und den Einfluß der vielen Protestanten im
Lande vermindern könne, „bis die Umstände es möglich machten, weiter zu
gehen". Unter andern: wurde darin gerathen, so viel als thunlich katholische
Beamte bis zum Dorfschulzen herab anzustellen, eine Kouvertitenkasse zu er¬
richten und sorgfältig die Zwietracht zwischen den Lutheranern und Reformisten
zu schüren. Eine gewaltsame Zurückführung des Volkes zum katholischen
Glauben endlich wurde in dieser Zeit von dem Herzog von Württemberg und
seinen jesuitischen Rathgebern in Verbindung mit einer Abschaffung der Ver¬
fassung geplant, und hiervon sowie von dem jüdischen Abenteurer, der zu diesem
Staatsstreiche das Geld zu beschaffen hatte, wollen wir nun erzählen.
Württemberg besaß seit zwei Jahrhunderten eine Verfassung, welche die
Gewalt seiner Fürsten außerordentlich beschränkte. Nach dem Testamente
Eberhard's im Barte und dem Tübinger Vertrage von 1514 mußte der Herzog,
bevor man ihm die Erbhuldigung leistete, die Landesverfassung beschwören,
und seine Unterthanen waren ihm nur verfassungsmäßigen Gehorsam schuldig.
Der Württemberger konnte nur durch seinen natürlichen Richter verhaftet und
gestraft werden. Jeder hatte das Recht, Waffen zu tragen, zum Kriegsdienste
aber konnte nur mit Bewilligung der Stände ausgehoben werden. Alles Eigen¬
thum war unverletzlich. Man zahlte nur solche Abgaben, welche die Volks¬
vertretung gutgeheißen hatte. Die Gemeindeordnung war nach dem Grund¬
satze vollkommener Selbstverwaltung eingerichtet. Monopole waren ungesetzlich.
Hüter dieser Landesfreiheiten waren die Stände, deren Versammlung sich
aus 14 Prälaten und 70 Abgeordneten von Städten und Aemtern zusammen¬
setzte. Ritter saßen damals nicht darin. Die Stände hatten sehr wichtige
Rechte. Sie konnten jede Vorlage des Herzogs berathen, annehmen oder ab¬
lehnen, gegen einzelne Personen und Maßregeln der Regierung, sowie gegen
deren ganzes System Vorstellungen machen und den Fürsten auf die Bedin¬
gungen hinweisen, unter welchen allein ihm Gehorsam gelobt worden. Sie
hatten das Recht des verfassungsmäßigen Widerstandes und der Steuerver¬
weigerung. Sie konnten die Gesetzvorfchläge der herzoglichen Regierung um¬
wandeln oder ganz neue Vorlagen nach ihrem Sinne verlangen. Ohne sie zu
befragen durfte der Herzog nichts vom Kammergut oder Staatsgebiet veräußern
oder vertauschen. Einen Angriffskrieg durfte er nur dann ohne ihre Zustim¬
mung führen, wenn er ihn mit gewordenen Freiwilligen und mit eigenen Mitteln
unternehmen wollte.
Die Landesversammlung trat selten zusammen. Da sie aber die Aufgabe
hatte, über die Regierung eine beständige Aufsicht zu führen, so waren zwei
Ausschüsse, ein engerer und ein weiterer, bestellt, von denen jener, aus zwei
Mitgliedern der Prälarenbank und sechs Abgeordneten der Städte und Aemter
bestehend, immer beisammen blieb und sich beim Abgänge eines seiner Mit¬
glieder selbst ergänzte. Der weitere Ausschuß wurde nur dann einberufen,
wenn es über besonders wichtige Fragen Beschluß zu fassen galt.
Kein deutsches Land hatte eine so freie Verfassung. Dennoch bewahrte
sie Württemberg nicht vor arger Mißregierung. Die Vortheile, die sie gewährte,
kamen zum großen Theil einer kleinen Minderheit zu gute, indem alle ein¬
flußreichen und einträglichen Beamtenstellen herkömmlich als erblicher Besitz
einer Anzahl „guter Familien" augesehen und behandelt wurden, die auch im
engeren Ausschusse die Hauptrolle spielten. Sodann aber thaten die Fürsten
der Zeit, von der wir reden, trotz der Verfassung in vielen Dingen, was ihnen
beliebte, da sie unter jenen Beamten bereitwillige Werkzeuge zur Ausführung
ihrer Pläne fanden. Das schändliche Regiment der Grävenitz, welches volle
zwanzig Jahre währte und das Land mit Schulden überhäufte, ist zu bekannt,
um hier mehr als der Erwähnung zu bedürfen.
Am 31. Oktober 1733 war der Herzog Eberhard Ludwig, unter dem die
Grävenitz geherrscht hatte, gestorben, und mit dem Einzuge des neuen Herzogs,
der am 16. Dezember erfolgte, schienen bessere Zeiten zu kommen. Karl
Alexander, bisher kaiserlicher Feldmarschall und Statthalter in Serbien, war
nicht blos ein berühmter Kriegsheld, der u. a. beim Sturme auf Belgrad
durch persönliche Tapferkeit den Sieg über die Türken entschieden hatte, sondern
stand auch in dem Rufe eines überaus leutseligen Herrn.*) Er äußerte im
Hinblick auf die Thatsache, daß sein Vorgänger die Regierung seiner Favoritin
und deren Kreaturen überlassen hatte, bei seinem Empfange durch die Stutt¬
garter Bürgerschaft: „Ich will selbst regieren, ich will alle Unordnungen
bessern und mein Volk hören und ihm helfen." Er verkündete in einer An¬
sprache, die drei Sonntage hintereinander von den Kanzeln verlesen und gedruckt
an das Rathhaus jeder Gemeinde angeschlagen wurde, vielverheißende Grund¬
sätze und Absichten. Liebe und Gerechtigkeit, so hieß es da, seien die Grund¬
säulen des Staates. In allen Stücken solle ferner nach alter Treue und
Redlichkeit gehandelt werden. Nach eines Jeden persönlichem Verdienste werde
er seine Gnade abmessen, das Böse bestrafen und das Gute belohnen. Wer
in einer fürstlichen Kanzlei einer Untreue sich schuldig mache, Geschenke gebe
oder nehme, die Gerechtigkeit aus Geiz oder anderen Leidenschaften beeinträch¬
tige und unschuldige Leute durch Verfolgung oder Verleumdung kränke, wer
in Verwaltungs-, Finanz-, Justiz- oder Gnadensachen eines vorsätzlichen Un¬
rechts überführt werde, der werde ohne Ansehen der Person an Ehre und
Gut, nach Umständen an Leib und Leben gestraft werden. Seit zwanzig Jahren
seien „entsetzlich große Schindereien und AbPressungen" bei Besetzung geiht-
licher, bürgerlicher und Kriegsdienste durch Minister, Räthe, Amtleute, Bürger¬
meister und Schultheißen, ja sogar durch Sekretäre, Garderobebediente und
Lakaien ausgeübt worden. Er fordere alle, welche in geistlichen, bürgerlichen
und militärischen Diensten ständen, ernstlich auf, wenn Einer in den letzten
zwanzig Jahren, um zu seinem Dienste zu kommen, Geld, Gold oder Silber,
Gemälde, Naturalien oder andere Geschenke habe geben müssen, umständlich zu
Papiere zu bringen, was und wem er es gegeben habe, und dieses Papier
binnen acht Tagen verschlossen ihm, dem Herzog, zu eigenen Händen kommen
zu lassen und bei schwerer Ahndung nichts zu verschweigen, aber auch keinen
unschuldig anzugeben.
Danach verfuhr der Herzog, und er kam hinter viele „Geheimnisse der
Bosheit, viel Heillosigkeit und auch nicht wenige silberne Esel", wie die un¬
tüchtigen Beamten genannt wurden, die ihre Stellen gekauft hatten. Den Be¬
schwerden wurde abgeholfen, so weit es möglich war. Die Leute, welche der
Grävenitz bei Aufsaugung des Landes geholfen, wurden zur Untersuchung
gezogen und, falls sie sich nicht selbst aus dem Staube machten, aus den
Grenzen verwiesen oder auf die Festung geschickt. Die bösen Gewissen in
Uniform zitterten, das Volk blickte zu seinem Fürsten mit Ehrfurcht und Liebe
auf, unter den Bauern hieß es: „Der treibt's unsern Treibern wieder ein."
Diese glückliche Verhältniß währte geraume Zeit fort, und wer nicht hinter
den Vorhang sehen konnte, war zufrieden. Da rief den Herzog als Reichs-
feldmarschall der wieder ausgebrochene Krieg mit den Franzosen von dieser
ersprießlichen Thätigkeit hinweg, und er hatte wenig Zeit mehr, den Dingen
und Menschen im Lande auf den Grund zu sehen. Unglücklicherweise traute
er selbst denjenigen von den alten Räthen nicht, die es wohlmeinten, und
grollte dem landschaftlichen Ausschusse, der ihm vor seinem Regierungsantritte
verschiedene Kränkungen zugefügt hatte und jetzt seinen Lieblingsplänen ent¬
gegentrat.
Als der Herzog noch als kaiserlicher General in Ungarn weilte, war er,
der nicht hauszuhalten verstand, in Geldverlegenheit gerathen. Er hatte sich
an den Ausschuß uM Vorausbezahlung seiner Apanage gewendet und war,
obwohl dieser die reichsten Mittel in der Hand und das verfassungsmäßige
Recht hatte, die Bitte zu gewähren, in unhöflicher Form abschläglich beschieden
worden. Zornig hatte er diese Antwort mit dem Ausrufe: „Gemeines Volk!"
auf den Tisch geworfen. Um diese Zeit hatten sich die Jesuiten an ihn gemacht,
und es war ihnen allmählich gelungen, ihn zum Uebertritte zum katholischen
Glauben geneigt zu machen. Er folgte indeß dabei nicht seiner Ueberzeugung,
sondern wurde katholisch, um die reiche Prinzessin von Thurn und Taxis
heirathen zu können und sich am Wiener Hofe mehr Gönner zu erwerben, als
er besaß. Nachdem der Erbprinz Eberhard Ludwig's unheilbar zu siechen
begonnen, setzte sich der Prinz Karl Alexander wieder mit Württemberg in
Verbindung und bildete sich mit Hilfe des Regierungs- und Hofrathes neuster,
der großen Einfluß auf die Ausschüsse der Landschaft hatte, dort eine Partei,
um nach dem Tode des Erbprinzen als Thronfolger auftreten zu können, zu
welchem Zwecke er brieflich für den Fall, daß er zur Regierung käme, Achtung
der Religion und der Freiheiten des Landes gelobte. Nun war aber Württem¬
berg damals stockprotestantisch, ein'katholischer Fürst und ein Despot galten in
der Vorstellung des Volkes als ein und dasselbe, und die Gebildeteren wußten,
daß die damaligen politischen Grundsätze Oesterreich's und aller katholischen
Mächte zu den ständischen Vertretungen nicht stimmten, vielmehr zur Lähmung
und Beseitigung derselben führen mußten. Die „guten Familien" in Württem¬
berg endlich, deren Mitglieder die besten Stellen im Lande innehalten oder
nach ihnen strebten, fürchteten von Karl Alexander, der in Serbien gezeigt
hatte, daß er Beschränkung seines Willens nicht litt, Verlust ihres Einflusses
und Schädigung ihrer Interessen. So setzten sie sich mit dem jüngeren Bruder
Karl Alexander's, dem willensschwachen und den Staatsgeschäften fremden
Prinzen Heinrich Friedrich, in's Einvernehmen, um diesem den Thron zuzu¬
wenden. Karl Alexander erfuhr davon — vermuthlich dnrch neuster —, schrieb
an ihn und bewog ihn, die Unterhandlungen mit den Herren von der Land¬
schaft und den Räthen, die den Plan erdacht, abzubrechen, und so war letzterer
gescheitert. Der Herzog aber trug den Urhebern dieser Kabale ihr damaliges
Verfahren allezeit nach, und wenn er neuster und den Präsidenten des
Geheimraths v. Forstner, welche die Säulen seiner Partei gewesen, eine Zeit
lang werthhielt und bevorzugte, so war er doch auch gegen sie nicht ohne Groll
und Mißtrauen, indem er glaubte, dieselben hätten ihm bei Unterschrift der
Huldigungsreversalien. die nichts besagten, als daß der Herzog die Freiheiten
und die Religion des Landes aufrechterhalten wolle, einen Bogen unterge¬
schoben und ihn also mehr unterschreiben lassen, als er nöthig gehabt. Dieser
Argwohn war unbegründet, aber erklärlich. Der Herzog hatte seit seinem
elften Jahre lediglich das Kriegshandwerk betrieben, und zwar außer Landes.
Er kannte die Verfassung nicht, er kam mit Plänen, die in dieser auf Hinder¬
nisse stoßen mußten, und die Berührung, in die er mit den Wächtern der
Landesfreiheiten bald nach seinem Regierungsantritt gerieth, enttäuschte ihn
bezüglich der Vorstellungen, die er sich von der herzoglichen Gewalt gebildet
hatte. Karl Alexander war in erster Linie eben Kriegsmann und als solcher
an unbedingten Gehorsam gewöhnt und auf Eroberungen bedacht. Als der
Krieg mit Frankreich wieder ausbrechen wollte, hoffte er die Grafschaft Möm-
Pelgard, die seinem Hause einst gehört, wieder zu gewinnen und Anderes jeu-
seits des Rheines dazu, und wahrscheinlich waren ihm vom Wiener Hofe statt
der Gelder für die Hilfstruppen, die er dem Kaiser zuführte, die Anwartschaft
auf solche Eroberungen und zugleich die Einverleibung der in Württemberg
liegenden oder daran grenzenden Reichsstädte Reutlingen, Ulm, Heilbronn,
Gmünd und Weil zugesagt.
Anfangs stieß der Herzog mit den Maßregeln, die er zur Vorbereitung
dieser geheimgehaltenen Pläne vorschlug, bei den Ständen auf keinen Wider¬
stand ; denn es handelte sich ja um einen Vertheidigungskrieg. Aber das Volk
jammerte und fluchte, als man eine große Anzahl von jungen Leuten aufgriff
und in die Montur steckte, und als man den Bauern die besten Pferde ohne
Bezahlung wegnahm, um sie zum Kriegsdienste zu verwenden. Die Steuer¬
rückstände wurden streng eingefordert, und ein Erlaß verkündete die Todes¬
strafe für jeden Widerstand, ja für jede „Unmuthsüußerung". Die Liebe zum
Herzoge erstarb in weiten Kreisen, und es belebte sie nicht wieder, daß er sich
in diesem Kriege Verdienste um Land und Volk erwarb.
Karl Alexander wollte aber nicht blos erobern, er wollte die Verfassung
auch umstürzen, um den Jesuiten sein Wort halten zu können, das Versprechen
nämlich, zunächst den katholischen Glauben zu gleicher Berechtigung im Lande
mit dem evangelischen zu erheben und dann das Volk, wie es einige Jahr¬
zehnte vorher im Neuburgischen geschehen, katholisch zu machen; ein Vorhaben,
wozu er eines starken stehenden Heeres bedürfte. Zur Vorbereitung dieses
Staatsstreichs dienten ihm der Fürstbischof von Würzburg und Bamberg
Friedrich Karl v. Schönborn, ein hervorragendes Mitglied des Jesuitenordens,
der ihm mit seinen Soldaten an die Hand zu gehen versprach, ferner Franz
Josef v. Remchingen, ein kaiserlicher General, der, nachdem er in die Dienste
des Herzogs getreten, Präsident des Kriegsraths und Höchstkommandirender
in Württemberg wurde und in dieser Eigenschaft alle Offiziers- und Unter¬
offiziersstellen mit Katholiken besetzte, endlich Josef Süß Oppenheimer, der
die Herbeischaffung der zur Ausführung des Planes erforderlichen Geldmittel
übernahm. ,
Süß gehörte dem Volke an, das sich von Josefs aegyptischen Getreide¬
wucher-Operationen bis anf unsere Gründerzeit immer vortrefflich auf die
finanzielle Ausbeutung derer, unter denen es lebte, verstanden hat. Er war
1692 zu Heidelberg geboren und der Sohn des Rabbi Jsaschar Sllßkind
Oppenheimer und der schönen, aber leichtfertigen Michaels Selmele, deren
Vater ebenfalls Rabbi und als Vorbeter unter seinen Leuten berühmt war.
Frühzeitig trennte sich Süß von seinen Eltern und ging in die weite Welt,
um mit seinen Gaben ein vornehmer Mann zu werden. Er war ein schmucker
und gescheidter junger Mensch, der in seinem Aeußern und in seiner Haltung
wenig vom Juden verrieth und nur durch die Dreistigkeit, mit der er sich an
hochgestellte Leute machte, an seine Herkunft erinnerte. Gewandt, mehrerer
Sprachen kundig, in der Mathematik wohl zu Hause, aufgeweckt, verstand er
es bald, sich beliebt zu machen. Im Besitz einiger Mittel besah er sich nach
dem Tode seines Vaters zunächst Frankfurt, dann war er längere Zeit in
Amsterdam und hierauf in Wien, wo er in den Bankiersfamilien der Oppen¬
heimer weitläufige Verwandte hatte, und wo er mit den ihm angeborenen
Talenten vermuthlich bald zu Reichthum und Ansehen gelangt sein würde, wenn
ihn sein Hang zu Lüderlichkeiten und losen Streichen nicht von da weggetrieben
hätte. Als es mit seinen Geldmitteln zu Ende ging, ernährte er sich eine Zeit
lang in Bayern als Barbiergesell. Dann soll er Student in Tübingen ge¬
wesen sein. Daß er bei diesen Fahrten nicht blos Abenteuer und Vergnü¬
gungen gesucht, sondern sich auch allerlei Kenntnisse verschafft, erwies sich später.
Münzwesen, Pachtungen, Lieferungen, Geldgeschäfte hatte er gründlich kennen
gelernt. Dennoch wollte es ihm geraume Zeit nicht glücken, sich hervorzuthun,
reich zu werden und eine Rolle zu spielen. Nachdem er mit seinen Ideen am
Taxis'schen Hofe zu Frankfurt keine Verwendung gefunden und dann in Mann¬
heim das Geschäft eines Winkelkonsulenten betrieben, machte er zuerst mit der
kurpfälzischen Regierung eine einträgliche Finanzoperation, indem er ihr das
Stempeln des Papiers vorschlug, die Lieferung des Stempelpapiers gegen ein
schönes Pachtgeld übernahm und diese dann um die Summe von 12000 Gulden
an einen Andern abtrat, um mit dem Gelde die Darmstädter Münze zu pachten.
Alle westdeutschen Höfe hatten sich damals auf das Ausprägen aller Sorten
schlechter Scheidemünze gelegt; Baden-Durlach, Ansbach, Waldeck, Fulda,
Hechingen, besonders aber Kurpfalz und Darmstadt arbeiteten in dieser Rich¬
tung mit aller Kraft, und Deutschland wurde schnell reich an geringwerthigem
Gelde und arm an Gold und Silber. Süß hatte sich eine vollkommene Kennt¬
niß aller Geheimnisse und Vortheile dieser Manöver erworben. Er verstand
nicht nur das Miinzwesen selbst, sondern auch den Einkauf von Edelmetallen
auf dem rechten Markte und was sonst Profit abwarf. Sein Talent hatte
zum zweiten Male Land gefunden, als er mit den Darmstädtern abschloß. Bald
gab er auch diesen Vertrag gegen einen Gewinn von 9000 Gulden in der
Hauptsache auf und behielt für sich nur das Ausmünzen von Kreuzern. Ob¬
gleich er dabei mehr Stücke per Mark, als bedungen waren, ausprägte, wurde
er, da ein Dekret des Landgrafen ihm diesen Profit gestattete, als er wegzog,
in Gnaden entlassen.
Von jetzt an hielt er sich eine Zeit lang vorzüglich in Mannheim und
Frankfurt auf, wo er sich durch Lieferungen und andere Geschäfte mit fürst¬
lichen und gräflichen Häusern ein ansehnliches Vermögen und die Titel eines
kurpfälzischen Oberhof- und Kriegsfaktors und eines Hof- und Kammeragenten
des Kurfürsten von Köw erwarb. Er besaß ein schönes Haus zu Mannheim
und eins in Frankfurt, erhebliche Aktivkapitalien in Gold, reichlichen Kredit
und führte eine kostspielige Haushaltung, um sein Geschäft mit Glanz zu ver¬
treten; denn, wie er später sagte, „seine Profession war, große Herren zu trak-
tiren und mit ihnen umzugehen".
Im Sommer 1732 wurde er, von seinem Glaubensgenossen Jsaak Lan¬
dauer empfohlen, in Wildbad mit dem Prinzen Karl Alexander von Württemberg
bekannnt. Rasch wußte er sich bei demselben angenehm zu machen, indem er
einerseits der Geldnoth des Fürsten abzuhelfen versprach, andererseits an seinen
Aberglauben anknüpfte. Er erbot sich nicht nur, ihm die Einkünfte, die er als
kaiserlicher Feldmarschall wie als württembergischer Prinz zu beziehen hatte,
vorzuschießen, fondern ihm als Verwalter dieser Gelder bedeutend mehr daraus
zu zahlen, als sie ihm bisher eingetragen hatten. Karl Alexander glaubte an
geheimnißvolle Mächte, die das Loos des Menschen bestimmten, und nament¬
lich an Sterne, die das Schicksal derselben regierten. An dieser Seite faßte
der jüdische Geschäftsmann den Prinzen, indem er ihm sagte, er habe einige
Kabbalisten über seine Zukunft befragt und dabei erfahren, daß er noch un¬
fehlbar regierender Herr in Württemberg werden würde, wobei er durchblicken
ließ, daß es ihm eilt schönes Stück Geld gekostet, dies herauszubringen. Dieser
Eifer, die gewinnenden Manieren des Kuten, seine Bereitwilligkeit zu Darlehen
nahmen den Prinzen für ihn ein, er wurde zu dessen Kriegsfaktor und Scha¬
tullenverwalter und zum Agenten der Gemahlin desselben ernannt und stand
bei dessen Rückkehr nach Belgrad schon so hoch in Gnaden bei ihm, daß er
erwarten konnte, auch in Zukunft mit ihm gute Beziehungen zu behalten.
Diese Hoffnung erfüllte sich, als Karl Alexander den Thron bestieg, und
Süß sich beeilte, ihm aufzuwarten und Glück zu wünschen; denn zu den
Plänen, mit welchen der neue Herzog sich trug, eignete sich als Gehilfe niemand
besser als dieser anschlägige, nie um Rath verlegene und vollkommen gewissen¬
lose Kopf. Süß siedelte nach Stuttgart über und wurde, ohne eigentlich ein
Amt zu übernehmen, der vertraute Rathgeber des Herzogs in Finanzsachen.
Ob er in das Komplot, Württemberg katholisch zu machen, eingeweiht war, ist
aktenmäßig nicht festzustellen. Jedenfalls war ihm, der auf seine eigene Reli¬
gion nichts gab, der Schweinefleisch und Austern, sowie alles andere „Trefe" aß,
wenn es nur schmeckte, und sich offen zu atheistischen Grundsätzen bekannte,
für seine Person gleichgiltig, welche Konfession in Württemberg herrschte, und
sicher war er mit seinem Herzen nur insofern bei der Sache, als es sich um
feinen Ehrgeiz und seinen Geldbeutel handelte.
Für's erste bemühte sich Süß, dem Herzog durch verschiedene Finanz-
Operationen neue Einkvinmenquellen zu erschließen. Daun, als einige der alten
Räthe auf das Schädliche und Landesverderbliche dieser Projekte aufmerksam
machten, ging er daran, diese Beamten durch Verleumdungen zu stürzen und
deren Stellen mit ihm ergebenen Menschen zu besetzen, was ihm beim Herzog
nur zu rasch gelang. Das größte Hinderniß für seine Absichten war die Land¬
schaft, welche die ihm und seinem fürstlichen Gebieter im Frieden nöthige
Militärmacht nicht bewilligen wollte. Er schlug daher vor, nicht einen ordent¬
lichen Landtag in das Ständehaus zu Stuttgart zu berufen, sondern im Lud¬
wigsburger Schlosse, unter den Augen des Herzogs selbst, einen Rumpflandtag
zu versammeln, der aus den obenerwähnten Ausschüssen und denjenigen Abge¬
ordneten bestehen sollte, welche nicht zu der Opposition gegen die Vermehrung
des Militärs gehört hatten. Die Aemter, aus denen man Abgeordnete einbe¬
rufen wollte, wurden durch herzogliche Kommissarien mit Begleitung von
Soldaten gewalthaberisch bewogen, denselben Aufträge und Vollmachten zu
ertheilen, die dem Willen des Herzogs entsprachen, und so kam es am 31. Mai
1736 zu der Bewilligung von 13000 Mann zu Fuß und zu Pferde und zur
Genehmigung einer doppelten Jahressteuer, sowie des Dreißigster von allen
Früchten, „so lange die bedenklichen Zeiten dauern und das Land es vermag".
Das gemeine Volk wurde durch die bei dem Mangel an Kasernen bei Bürgern
und Bauern einquartierten Soldaten, deren Offiziere fast ausnahmelos Nicht-
württemberger und Katholiken waren, leicht eingeschreckt; hatten sich doch die
gebildeten und rechtskundigen Männer des Landtags so in Angst jagen lassen,
daß sie vergessen hatten, im Landtagsabschiede bestimmen zu lassen, wer darüber
zu entscheiden habe, wie lange das Land diese ungeheuren Lasten zu tragen
vermöge.
Nach Ersetzung der alten redlichen Räthe des Herzogs durch Kreaturen
des Juden setzte dieser ohne Mühe Alles durch, was er projektirte. Nicht er
selbst war Minister, sondern sein Regiment ruhte auf dem unbedingten Ver¬
trauen, das der Herzog in seine Rathschläge setzte, und auf der Willfährigkeit
der neuen Räthe, seine Manöver auszuführen. Diese Leute, unter denen der
gewissenlose Expeditionsrath Hallwachs, der Hofkanzler Scheffer, der Geheim¬
rath Pfau und die Räthe Lanz, Bühler, Metz, Thill und Lampprechts die
Hauptrolle spielten, waren dem Günstling Karl Alexander's knechtisch ergeben
und fürchteten ihn mehr als den Herzog. Er aber behandelte sie mit dem
größten Uebermuth und drohte beim leisesten Widerspruch mit Kassation, Landes¬
verweisung, Festungshaft, Auspeitschen, ja mit Köpfen und Hängen. Aus dem
Landschaftsausschusse berichtete ihm der Prälat Weißensee alle Geheimnisse,
indem er sich des Nachts zu ihm schlich. Den Herzog schloß er möglichst ab;
alles, was von ihm oder zu ihm ging, mußte durch seine Hände laufen. Paßte
ihm ein herzogliches Dekret nicht, so ließ er es durch die ihm allezeit gehor¬
samen Räthe kassiren oder umändern.
Seit 1734 hatte Süß die Münze gepachtet, und obwohl das von ihm
geprägte Geld nicht das schlechteste war, warf ihm das Geschäft schon während
des Krieges und nach demselben, wo er einen neuen Pacht abschloß, der gün¬
stiger war, erkleckliche Summen ab, sodaß ihm der Herzog einmal sagte: „Du
Spitzbub hast mehr Profit an meiner Münze als ich selbst."
Schlimmer war die Ausbeutung einer herzoglichen Verordnung, die gleich
nach dem Regierungsantritte Karl Alexander's ergangen war und „Landes¬
kommissionen" zur Säuberung des Beamtenstandes von den unter dem Gräve-
nitz'schen Regiments in denselben eingeführten schlechten Elementen eingesetzt
hatte. Diese Kommissionen, welche die massenhaft eingelaufenen Klagen und
Beschwerden zu prüfen und die Schuldigen zur Bestrafung zu ziehen hatten,
besetzte Süß mit seinen Leuten, und „wenn es dann zum Vergleichen oder
Geldgeben gekommen war, hatten die Parteien sich an ihn selbst zu adressiren".
Denn auf Gelderpressung und Beutelschneiderei lief Alles hinaus. Die Unter¬
suchenden nahmen dabei an, daß jeder Beamte schuldig, und daß er nur mit
Geld zu bestrafen sei. Wirklich nachlässige oder untreue Leute aber wurden
nicht uach ihrem Vergehen, sondern nach ihrem Vermögen gebüßt; der reiche
Vogt Zeller von Balingen z. B. mußte „vor Pardoniren" 20000 Gulden ent¬
richten. Die pflichttreu befundenen Beamten drangsalirte und bedrohte man
so lange, bis sie sich, um nur die Kommission los zu werden, in der Regel
entschlossen, die ihnen zugemuthete Geldsumme zu bezahlen.
Von den Beamten kam man bald auf vermögende Privatleute, die, durch
besondere Agenten aufgespürt, sich über die Wege verantworten mußten, auf
denen sie sich ihren Reichthum erworben. Viele kauften sich mit Geld von
solcher Untersuchung los, andere wurden ohne Beweis, blos „weil sie Ver¬
mögen hatten", zur Zahlung hoher Summen verurtheilt; der Kammerrath Wolff
z. B. zu 13000, der Schultheiß Binder zu 3000 Gulden angehalten. Das
Geld floß nur zum Theil in die herzogliche Kasse, da Süß gewisse Prozente
daran zugesichert waren, und seine Helfershelfer sich selbstverständlich auch nicht
vergaßen.
Wieder ein anderes, von Süß zwar nicht erfundenes, aber vervollkomm¬
netes Mittel zur Füllung der Kasse des Herzogs war der schon unter dem
Vorgänger Karl Alexander's üblich gewesene Aemter- und Stellenhandel, der
mit der Schöpfung neuer Aemter und Titel einträglicher gemacht und auf die
Gemeindebediensteten ausgedehnt wurde, obwohl nach den Landesfreiheiten das
Ernennungsrecht den Gemeinden zustand. Jedes Amt, auch das kleinste, wurde
im Wege der Versteigerung dem Meistbietenden übertragen. Zwar sollten
Scheffer, Hallwachs u. a. nach einem herzoglichen Resiript „die Tüchtigkeit der
Subjekte untersuchen", aber bei dem weiten Gewissen und der stets offnen
Hand dieser Menschen war dies nur ein weiteres Mittel zur Bereicherung
derselben.
In Verbindung hiermit wurde 1736 ein „Gratialamt" eingerichtet, indem
Süß dem Herzog eingeredet hatte, die, welche eine Stelle erhalten, gäben gern
noch etwas in die herzogliche Schatulle. Das betreffende Dekret gab als Grund
für die neue Schöpfung an, auf solche Weise würden „die Delikte leichter ent¬
deckt werden". Die eingehenden Gelder wollte man zu Gnadengeschenken für
Wittwen und Waisen verwenden. Indeß haben diese nie einen Kreuzer davon
gesehen, der Herzog aber bekam davon auch nur sehr wenig; denn Süß rechnete
mit diesem über die von ihm eingenommenen Summen meist in Pretiosen und
Juwelen ab, die der Herzog sehr liebte und zu kennen glaubte, und soll ihn
dabei „formidable defraudiret und übernommen haben". Als man dies Karl
Alexander vorstellte und verlangte, er solle den betrügerischen Juden fassen
lassen, erwiederte er: „Ich brauche den Coujonen noch." Im Gratialamte
saßen Süß und Scheffer als die Chefs, Hallwachs und Bühler nebst den
Landeskommissarien waren die vornehmsten Zutreiber. Wer die ihm zuge-
mutheten Gratialgelder nicht entrichten wollte, bekam die betreffende Stelle
nicht oder wurde seines Amtes entlassen. Auch die, welche um eine Dispen-
sation oder um ein Patent einkamen, mußten ihr Theil an die Gratialkasse
entrichten.
Neben dem Gratialamt wurde ein Fiskalamt geschaffen, welches das
Justizwesen ausbeutete. Das Recht wurde käuflich. Wer kein Geld geben
konnte oder wollte, verlor seine Sache, wie gerecht sie auch war. Alle Ver¬
brechen konnten mit Geld gesühnt werden. Im ganzen Amte wurde unter den
Angestellten und den Wohlhabenden herumspionirt, ob ihnen nicht mit dem
Fiskalamte beizukommen sei. Bereits entschiedene Prozesse wurden wieder auf¬
genommen und Prozesse gegen längst verstorbene eingeleitet, wenn sie Vermögen
hinterlassen hatten. Die Triebfeder dieser Schändlichkeiten, mit denen dem
Lande (wir reden hier nur vom Gratial- und Fiskalamte) 650000 Gulden
abgepreßt worden sein sollen, war Süß; aber freilich, der Herzog unterschrieb
Alles, und die auf die Verfassung vereidigten Räthe desselben führten die
Sache aus.
Immer zahlreicher wurden die Methoden, mit denen man den Besitz des
Landes finanziell ausbeutete. Das Vermögen der frommen Stiftungen wurde
in eine sogenannte Vorrathskasse zusammengeschafft, wodurch zwei Millionen
Gulden in Süß'sche Verwaltung kamen. Diese Gelder wurden mit nur drei
Prozent verzinst, und bei der Zinszahlung machte man überdies Abzüge. Auf
Inventuren, Testamentseröffnungen und Vermögeustheilungen wurden hohe
Sporteln, auf das Salz und auf das Kaminfegen eine nicht unbedeutende
Steuer gelegt. Desgleichen auf das Recht, ein Kaffeehaus zu halten, auf den
Verkauf von Spielkarten und Spezereien, das Vermiethen von Portechaisen,
den Handel mit Tabak und Leder, den Verschleiß des Kalenders, das Aus¬
schenken von Getränken; die letztgenannte Steuer hatte sogar rückwirkende Kraft,
sodaß die Wirthe das, was sie in den letzten drei Jahren verschenkt hatten,
nachträglich versteuern mußten. Um die Mitte des Jahres 1736 wurde eine
„Familien- und Vermögenssteuer" ausgeschrieben, die alle Landeseinwohner und
alles Einheimischen und Fremden gehörende Vermögen in Württemberg um¬
faßte. Die den Städten und Aemtern zustehenden, zur Erhaltung der Ver¬
kehrsstraßen nöthigen Wege- und Brückengelder wurden theilweise zur Kammer
eingezogen, und dem Kirchengut, den Stadt- und Amtschreibern ein hoher
„Kammerbeitrag" angesonnen. Darauf wurde das Stempelpcipier, trotzdem daß
es von der Landschaft inzwischen abgekauft worden, zuerst für Gratial-, dann
für Justizsachen, zuletzt sogar für Handelsbücher wieder eingeführt. Bei Aus¬
zahlung der Besoldungen mußten die Betreffenden sich stets einen Abzug von
5 Prozent gefallen lassen. Auch durch den sogenannten „Fleckenhandel", den
Süß dem Herzoge vorgeschlagen, flössen nicht unbedeutende Summen in die
fürstlichen Kassen. Dieser bestand darin, daß man die bisherigen Aemter zer¬
gliederte und so eintheilte, daß einzelne Gemeinden einem Amtssitze zugewiesen
wurden, der viel weiter als der frühere von ihnen entfernt war, und daß man
den vorherigen Zustand gegen Erlegung einer hohen Geldsumme wieder
herstellte.
Für die herzogliche Kasse waren diese Plusmachereien sehr einträglich,
aber auch Süß strich viel Geld dabei ein. Er wußte aber als betriebsamer
und vielseitiger Geschäftsmann auch sonst seine Stellung auszunutzen. Fehlte
es, wie gewöhnlich, bei Auszahlung der Beamtengehalte in den Kassen an Geld,
so schoß er gegen einen Abzug, den „Judengroschen", durch den er den zwan¬
zigsten Theil der Besoldungen einstrich, das Nöthige vor, wobei ihm seine
Glaubensgenossen, deren er eine große Menge gegen die Gesetze in's Land
gezogen hatte, zur Hand gingen. Nebenher trieb er einen einträglichen Handel
mit Juwelen, Gold und Silber, arabischen Pferden und fremden Weinen, für
deren Einfuhr der Herzog ihm Zoll- und Aceisefreiheit gewährt hatte. Ferner
betheiligte er sich an Pachtungen, die einen erklecklichen Nutzen versprachen, und
dabei geschah es, daß Unterthanen ihm Frohndienste leisten mußten. Auf Be¬
fehl des Herzogs veranstaltete er Lotterieen, wofür er eine Abgabe von 3000
Gulden zahlen mußte, den viel bedeutenderen Reinertrag aber für sich behalten
durfte. Bei den großen Faschingsbelustigungen in Stuttgart und Ludwigsburg
verlieh er Maskenanzüge und stellte Glückshäfen und Spieltische auf.
Süß brauchte aber auch viel, und einen großen Theil dessen, was er ver¬
diente oder erpreßte, verschwendete er alsbald. Er hielt sich eine Art Hofstaat,
zu dem die Räthe des Landes, ans Furcht vor ihm anch manche von den
besseren, mit ihren Frauen und Töchtern ihr Kontingent stellten. Seine Ein¬
richtung war fürstlich, seine Tafel besser als die des Herzogs. Er gab Bälle,
die mit verschwenderischer Pracht ausgestattet waren. Selbstverständlich hatte
die „hebräische Excellenz" auch ihre Maitresse, daneben wußte er sich aber
auch, wie später die Untersuchung erwies, durch reiche Geschenke eine große
Anzahl vornehmer Frauen und Mädchen zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit
ohne viele Mühe geneigt zu machen; denn er war nicht blos ein reicher, sondern
auch ein ungewöhnlich schöner Mann, den der hirschbraune, mit Goldtressen
besetzte Klapprock, die scharlachrothe Weste, über die eine schwere goldene Uhr¬
kette herabhing, die breitgestreiften seidenen Beinkleider und die Schuhe mit
dicken goldenen Schnallen, die er trug, nach damaligen Begriffen sehr gut klei¬
deten. Alles beugte sich vor ihm, nur die, welche nichts zu hoffen und nichts
zu verlieren hatten, spotteten und fluchten, wenn er sich öffentlich zeigte. Aber
wenn ihm auch alles gelungen war, eins gelang ihm nicht: er versuchte zwei
Mal, sich in den Adelsstand erheben zu lassen, und das zweite Mal unter¬
stützte der Herzog sein dahingehendes Gesuch in Wien; aber obwohl Süß
tausend Dukaten für Erfüllung seines Verlangens bot, ging das kaiserliche
Kabinet nicht darauf ein.
Doch der Krug geht fo lange zu Wasser, bis er bricht. Das sollte auch
dieser jüdische Blutegel am Leibe Württemberg's erfahren. Die Ränke zwar,
die man am Hofe gegen ihn spann, und die ihn bewogen, um seine Entlassung
zu bitten, führten zu nichts. Der Herzog ging auf den Antrag, die Rechnungen
seines Finanziers einer Untersuchung zu unterwerfen, wohl ein, stellte ihm aber
zugleich ein Absolutorium aus, nach welchem er für alle feine Handlungen,
auch die zukünftigen, von jeder Verantwortlichkeit frei sein sollte; aber erließ
ihn auch nicht abziehen, obwohl ihm Süß, dem allmählich doch bange geworden,
zuerst 20000, dann 50000 Gulden für die Erlaubniß bot, und obwohl er die
Rechnungen in der Ordnung fand. Karl Alexander wartete indeß nur auf
eine Gelegenheit, dem Schwämme alles wieder abzupressen, was er eingesogen
hatte. Süß wußte, daß er zu mehreren Offizieren geäußert, er wolle „den
Juden beim Kopfe nehmen und anf eine Festung setzen", und daß er zu
Scheffer gesagt, er „brauche den Juden jetzt noch, wolle ihn aber bald so fassen,
daß sich Jedermann darüber verwundern solle". Inzwischen ließ er sich von
Süß zu einer Reise in's Ausland ein Aulehen von 40000 Gulden holen.
Dafür, daß Jener nicht heimlich entwischte, war gesorgt.
Der Herzog wollte verreisen, angeblich um die Reichsfestungen Kehl und
Philippsburg zu inspiziren und dann einen Arzt in Danzig zu besuchen, der
ihm von einem Fußübel helfen sollte; in Wahrheit aber, um nicht zugegen zu
sein und unschuldig zu erscheinen, wenn der mittlerweile zur Reife gediehene
Plau des Umsturzes der Verfassung und der Einführung des katholischen
Glaubens in einem Staatsstreiche explodirte.
Die Landschaft hatte endlich den Muth gefunden, gegen die Süß'schen
Finanzverordnungen und die zahlreichen anderen Verletzungen der Landesfrei¬
heiten der letzten Jahre zu Protestiren. Der Herzog war über den Ton, in
dem dies geschehen, außer sich gerathen. Die Jesuiten, Süß und Remchingen
benutzten diese Stimmung, um ihn zur Entscheidung zu treiben. Sie spiegelten
ihm sogar vor, man trachte ihm nach dem Leben, redeten ihm von allerlei
Zettelungen und Verschwörungen unter den Landständen und erreichten so
ihren Zweck bei ihm. Die Mittel waren bereit: Süß hatte Geld geschafft,
Remchingen beim Militär gethan, was möglich war. Zunächst wurde in der
Schloßkirche zu Ludwigsburg der katholische Gottesdienst eingeführt, und die
Kosten wurden zur Hälfte aus dem evangelischen Kirchenvermögen bestritten.
Bei den Truppen begannen Feldpatres die Messe zu lesen. Dann antwortete
der Herzog den Ständen auf Grund eines Rechtsgutachtens, das ihm der
Geheimrath Fichtel, ein Vertreter der Würzburger Jesuiten, verfaßt, und welches
den Gedanken ausführte, die Landstände hätten bei Veräußerung von Landes¬
gebiet allerdings entscheidende, sonst aber nur berathende Stimmen, in einem
Reskript vom 11. Februar 1737: „daß bei den zwischen Herr und Landschaft
errichteten alten Verträgen wohl zu beachten, in was für Zeiten solche gemacht
worden, und daß mit dem, was vor Jahren gut gewesen, bei jetzigen Zeiten
nimmer hinauszulangen." Dem landschaftlichen Ausschüsse sollte nach Süß'-
sehen Vorschlag ein herzoglicher Geheimrath beigegeben werden, damit er die
Opposition beobachten und man die Böswilligen auf die Festung setzen könne.
Das Land sollte in zwölf militärische Obervogteien getheilt werden, die Ober¬
vögte sollten Offiziere sein, jeder derselben sollte ein Regiment Soldaten zu
seiner Verfügung haben, das Land sollte also bis auf weiteres eine rein mili¬
tärische Verwaltung bekommen.
So geheim die Umsturzpartei diese Pläne auch hielt, so drangen doch
Gerüchte in's Volk. Die Stuttgarter Zünfte bewaffneten sich im Stillen „zur
Erhaltung des evangelischen Glaubens", denn man hatte Wind davon bekommen,
daß von Würzburg her fremde Truppen im Anmärsche seien, um das Land
katholisiren zu helfen. Es waren die Soldaten des Fürstbischofs v. Schönborn.
Die Landschaft war überdies von dem Herannahen des Staatsstreichs durch
den vertrauten Kammerdiener des Herzogs, neuster, vollkommen unterrichtet.
Sie wußte, daß die Vorhut der Bischöflichen bereits in Mergentheim stand,
daß man Vorräthe für sie bereit hielt, und daß man die Entwaffnung des ge¬
stimmten Landes vorhatte, daß Ludwigsburg voll herzoglicher Soldaten war,
und daß man die Söhne des Herzogs fortgeschickt hatte.
Jetzt verließ auch Karl Alexander am 12. März 1737 Stuttgart und be¬
gab sich zunächst nach Ludwigsburg, um von da seine Reise in's Ausland
anzutreten. Kaum war er in Ludwigsburg eingetroffen, so holte ihn eine
Abordnung der Landschaft ein. Er stritt sich mit ihr und entließ sie sehr
ungnädig. Am Abend erschien eine zweite Deputation, als er sich schon in
sein Schlafgemach zurückgezogen und, wie er es gewohnt war, eine Dosis
Aphrodisiakum genommen hatte, und es kam zu einem äußerst heftigen Auf¬
tritte. Horcher hörten Fußgestampf und die Ausrufe „Ketzer, Mörder, Hoch¬
verräther", dann waren die Herren wieder gegangen und unter rasch von
bannen gefahren. Nach einer Weile aber ruft der Herzog aus dem Fenster
um Hilfe; denn niemand ist zur Hand, die Dienerschaft ist zu dem Balle ge¬
gangen, der in einem anderen Flügel des Schlosses stattfindet. Neuffer kommt
und läßt ihm zur Ader. Da springt der Herzog plötzlich mit den Worten:
„Herr Jesus, wie wird mir, ich muß sterben!" vom Stuhle auf, um sofort
wieder zurückzusinken. Er hatte aufgehört zu leben.
„Die von dem Kammerdiener Neuffer diesmal verdoppelte Dosis Aphro¬
disiakum und der Aerger mit der Deputation", sagte das Gerücht; „der Teufel
hat ihm das Genick gebrochen", meinte der Volksglaube, und der todte Herzog
hatte mit seinem aufgeschwollenen, blauschwarzen Gesicht, seinen stier hervor¬
tretenden Augen und den krampfhaft geballten Händen, von denen die eine am
Halse lag, danach ausgesehen. „Ein Stickfluß", lautete das Visum rsxkrwm
der Leibarzte.
Mit dem Staatsstreiche, der am nächsten Tage stattfinden sollte, wurde es
nun nichts. An seine Stelle trat das Strafgericht, nachdem der Herzog Karl
Rudolf von Württemberg-Neuenstadt auf Ersuchen der Landschaft und des
Geheimrathes die Regentschaft übernommen. Die bisherigen Räthe Karl
Alexander's wurden verhaftet, darunter auch Süß, der nach langer Haft und
einer Untersuchung, die wir hier nicht verfolgen können, bei der es aber nicht
ganz mit rechten Dingen zugegangen zu sein scheint, zum Tode durch den
Strang verurtheilt wurde. Vergebens hatte er sich darauf berufen, daß er
kein eigentlicher Beamter gewesen, und daß der Herzog alle seine Maßregeln
gutgeheißen. Das Verfahren gegen ihn war nicht ganz ordnungsmäßig, das
Urtheil aber war gerecht, und es war nur das Eine zu bedauern, daß
Remchingen und die anderen Bösewichter gelinder behandelt wurden. Am
4. Februar 1738 hing man den Delinquenten in seinem rothen Galakleide an
einen eisernen Galgen, der früher zur Hinrichtung von betrügerischen Gold¬
köchen gedient hatte. Die Verfassung war diesmal gerettet, aber später kamen
andere Fürsten, die sich ebensowenig an sie kehrten als Karl Alexander, wenn
Noch vor wenigen Jahren konnte man die Behauptung hören und lesen,
daß die auffallende Abnahme der Bevölkerung Frankreich's ein Beweis dafür
sei, daß dieses Land ebenso wie einige andere Staaten der romanischen Rasse
in sein Greisenalter eingetreten sei, daß es unproduktiv geworden und Gefahr
laufe, sich abzuwirtschaften, während die von Jahr zu Jahr zunehmende
Seelenzahl der Staaten des deutschen Reiches darauf hinweise, daß unsere
Nation in voller Jugendblüthe stehe und eine erfreuliche Lebenskraft verrathe.
Mancher rechnete in seiner Begeisterung für die Kriegsthaten der letzten Jahre
schon aus, wie viel Hunderttausende von Soldaten einem Znkunftsfeldherrn in
etwa vierzig oder fünfzig Jahren zu Gebote stehen würden, und gelangte zu
dem Schlüsse, daß unsere militärische Macht dann erst recht unüberwindlich
sein werde. Und wie haben die Anschauungen hierüber binnen wenigen Jahren
sich geändert! Heute, wo der wirtschaftliche Nothstand immer drückender wird,
preist man Frankreich wegen seiner nahezu stabilen Bevölkerungsverhältnisse
glücklich, während man sich im Hinblick ans die mehr und mehr steigende
Volkszahl des Vaterlandes ängstlicher Besorgnisse nicht erwehren kann. Hat
sich doch gezeigt, daß seit der letzten statistischen Erhebung der Ueberschuß der
Geborenen über die Gestorbenen auf 650000 gestiegen ist, und damit die Be¬
fürchtung sich verknüpft, Deutschland möchte immer mehr die Fähigkeit verlieren,
seine Bevölkerung in angemessener Weise zu erhalten, die Armuth immer
größere Dimensionen annehmen. Welche Erscheinungen diese aber im Gefolge
zu haben pflegt, weiß jeder. Wenn man mit Rücksicht auf die ebengenannte
Zahl sogar zu dem Schlüsse hat gelangen wollen, daß Deutschland nur noch
dreißig Jahre zu seiner Bevölkerungs-Verdoppelung bedürfe, und wenn dies
wirklich zu befürchten wäre, dann möchten wir bei unseren heutigen Verhält¬
nissen unseren Nachkommen zurufen: „Weh dir, daß du ein Enkel bist!"
Glücklicherweise ist es unzweifelhaft, daß jene Zahl viel zu niedrig gegriffen
ist, andererseits aber kann nicht geleugnet werden, daß die Gefahr der Ueber-
völkerung nicht blos Deutschland, sondern ganz Europa bedroht. So ist es
wohl der Mühe werth, diesen Gegenstand an der Hand statistischer Erhebungen,
soweit es augenblicklich möglich ist, zu verfolgen. Leider sind wir, wenn auch
bei den meisten europäischen Staaten innerhalb bestimmter Zeiträume genaue
Zählungen vorgenommen zu werden Pflegen, sodaß die Zunahme sich leicht
berechnen läßt, sür einige Staaten doch ohne genügende Unterlage und müssen
daher, da wir möglichst vorsichtig zu Werke gehen möchten, von diesen absehen.
Hinsichtlich derjenigen Staaten, deren Zahlen für mehrere statistische
Perioden zum Vergleich benutzt werden konnten, ergibt sich das wichtige Resultat,
daß alle innerhalb der letzten 10 bis 15 Jahre ihre Seelenzahl vermehrten.
Die einzige Ausnahme davon machte Frankreich in den Jahren 1866 bis 1872,
wo seine Bevölkeruugsmenge eine Einbuße von 366 925 Seelen erlitt, was
einem jährlichen Durchschnittssatz von 0,169 Proz. entspricht. Doch auch diese
Verminderung war nur eine vorübergehende, denn schon die Erhebungen der
nächsten vier Jahre wiesen einen verhältnißmäßig nicht unerheblichen Zuwachs
auf. Es unterliegt also keinem Zweifel, daß jene Stockung in der Bevölke¬
rungsbewegung ihren Grund in den schweren Niederlagen des letzten Krieges
hatte.
Im Nachfolgenden lassen wir auf Grundlage derjenigen Zahlen, die Kolb
in feinem vortrefflichen statistischen Handbuche") aufführt, die Bevölkerungs-
Zunahme der einzelnen Staaten Revue Passiren. Für die Richtigkeit der ge¬
machten Aufstellungen fällt uns natürlich nur insofern eine Verantwortung
zu, als wir aus Kolb's Zahlen den jährlichen Durchschnitt berechnet haben.
Da stellt sich denn das Verhältniß so, daß
zunahm. Bei dieser Aufstellung wurde von Staaten wie Lichtenstein, Andorra,
S. Marino abgesehen, weil sie zu klein sind; von Rußland aber, der Türkei,
Montenegro und Serbien mußte Abstand genommen werden, weil Zahlen zu
Vergleichszwecken entweder gar nicht zu Gebote stehen, oder die vorhandenen
nur auf unzuverlässigen Schätzungen beruhen.
Zieht man nun den Durchschnitt aus der jährlichen Vermehrung der
obigen 15 Staaten, so ergibt sich ein jährlicher Durchschnittssatz von 0,79 Proz.
Italien würde also gerade die durchschnittliche Vermehrung Europa's besitzen,
während Deutschland mit seinen 0,83 Proz. den Durchschnitt ein wenig über¬
ragt, von sechs Staaten dagegen übertroffen wird.
Zunächst dürfen wir uns also dem beruhigenden Gedanken hingeben, daß
die Bevölkerungs-Vermehrung des deutschen Reiches eine unverhältnißmäßig
große nicht genannt werden kann. Was diejenigen Staaten betrifft, die unter
dem Durchschnitt stehen, so gehören dazu die meisten romanischen, das abge¬
blühte Portugal, das Jahrzehnte lang von Parteikämpfen zerrissene Spanien und
das in seinen inneren Verhältnissen wenig gefestigte Rumänien, das ebenso
wie Griechenland noch die Nachwehen der türkischen Herrschaft zu tragen hat.
Der Schweiz und Norwegen setzen die Bodenverhältnisse einen mächtigen Wider¬
stand entgegen; in dem von der Natur so gut bedachten Frankreich bleibt die
schwache Zunahme immerhin auffallend, ebenso auffallend der Umstand, daß
Schweden und Dänemark den stärksten Zuwachs der Bevölkerung aufweisen.
Die Einwohnerzahl von ganz Europa schätzt nun Kolb auf 312,800000
Seelen, von denen auf die von uns zum Vergleich herangezogenen Staaten
227,037000 kommen würden. Setzen wir nun voraus, daß auch für die fol¬
genden Jahre der durchschnittliche Zuwachs 0,79 Proz. betragen wird — was
jedenfalls nicht zu hochgegriffen ist — so würden alljährlich 1,783610 Menschen
mehr zu verzeichnen sein, eine Anzahl, mit der jedes Jahr ein Staat von der
Größe Schweden's, Portugal's, Griechenland's oder Serbien's bevölkert werden
könnte. Nehmen wir aber an, daß die Prozentsätze der nicht mit besprochenen
Staaten den Durchschnittssatz auf 0,70 Proz. Herabdrücken, so würde ganz
Europa jährlich ein Mehr von etwa 2,189 600 Menschen aufweisen, was etwa
der Bevölkerung eines Landes wie Dänemark gleichkäme.
In welcher Zeit nun, fragen wir weiter, wird sich die Bevölkerung jener
l5 Staaten verdoppelt haben? Mit Festhaltung der jährlichen Zunahme von
0,79 Proz. oder 1,783610 Seelen dürste nach einfacher Zinsrechnung das Er-
eigniß in etwa 120 bis 125 Jahren eingetreten sein, so daß demnach das
Jahr 2000 für diese Staaten etwa mit 450,000000, für ganz Europa aber
mit mindestens 600,000000 beginnen würde.
Aber es erscheint doch zweifelhaft, ob diese Berechnung das Richtige
trifft. Mit der Bevölkerungszunahme verhält es sich im Prinzip gerade so
wie mit einem auf Zinseszins angelegten Kapitale, das zu seiner Verdoppelung
eines etwa um den vierten Theil kürzeren Zeitraumes bedarf als eine nur zu
einfachem Zins untergebrachte Summe. Demnach kann man mit Zuhilfenahme
der Zinsesrechnung allein die Verdoppelung der Bevölkerung nicht richtig be¬
rechnen, denn während die Zinsen eines Kapitales gleich im nächsten Jahre
den bestimmten Ertrag abwerfen, muß der Mensch bis zur Fähigkeit eigener
Fortpflanzung erst eine Reihe von Jahren zurücklegen.
Unter solchen Umständen müßten wir es aufgeben, zur Verdoppelungszahl
zu gelangen, wenn nicht glücklicher Weise ein Staat schon seit mehr als einem
Jahrhunderte sorgfältige Erhebungen über seine Bevölkerungszahl von Zeit zu
Zeit angestellt hätte. Dies ist Schweden. Schon seit dem'Jahre 1751 ist in
Schweden meist alle 10 Jahre die jedesmalige L?eeleuzahl ermittelt und auf¬
geschrieben worden, wenn auch ein besonderes statistisches Zentralbüreau erst
seit dem Jahre 1858 besteht. Dieser glückliche Umstand ermöglicht es, an der
Hand unzweifelhafter Thatsachen die Frage zu behandeln, und die Ergebnisse
auf die übrigen Länder anzuwenden dürfte wohl nicht allzu gewagt sein.
Schweden besaß im Jahre 1751 eine Seelenzahl von 1,785 727, die bis zum
Jahre 1870 auf 4,168525 gestiegen war. Die Differenz betrug demnach in
120 Jahren 2,382 798. Das Jahr 1850 schloß mit einer Bevölkerungsziffer von
3,482541, sodaß an der Verdoppelung nur noch 88193 Seelen fehlten; da nun
im Jahre 1860 schon eine Gesammtsumme von 3,859 728 verzeichnet war, so
war die Verdoppelung bereits im Jahre 1853 eingetreten, d. h. innerhalb eines
Zeitraumes von 102 Jahren erfolgt. Nach gewöhnlicher Zinsrechnung würde
dies einen jährlichen Durchschnittssatz der Vermehrung von etwa 0,98 ergeben,
der die betreffende Zahl von Großbritannien (0,96 Proz.) nur um ein geringes
übersteigt, sich von der Deutschland's (0,83) aber doch noch wesentlich unter¬
scheidet. Verweilen wir aber noch einen Augenblick bei Schweden, um den
betreffenden Verhältnissen noch etwas genauer nachzuspüren. Die angestellte
Durchschnittsberechnung ergibt nämlich das weitere Resultat, daß Schweden
zunahm. Diese Zahlenreihe zeigt zwischen der höchsten Ziffer von 1,17 Proz.
und den niedrigsten von 0,13 Proz. und 0,30 Proz. eine bedeutende Differenz,
sowie daß die Zunahme überhaupt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt nicht uner¬
heblichen Schwankungen unterworfen gewesen ist. Der Grund für die niedrige
Zahl von 1771 bis 90 ist nachweisbar; eine Hungersnoth im Jahre 1773
drückte die Bevölkerung um ein Beträchtliches herab. Die niedrigste Ziffer
von 1800—40 wird ebenfalls in den damaligen Zeitverhältnissen ihre Erklä¬
rung finden. Indessen da Ereignisse wie Hungersnoth, Krieg, Krankheiten :c.
jedes Land betroffen haben und noch betreffen können — wir erinnern an
Frankreich —, und da durch sie erfahrungsgemäß wenn nicht eine Verminderung,
so doch wenigstens eine langsamere Vermehrung verursacht wird, so dürfen
wir daraus weiter folgern, daß in dem Jahrhundert von 1751—1850 die
jährliche Zunahme etwa 0,75 Proz. betrug, während sie durch Hinzunahme
der nächsten zwanzig Jahre auf 0,78 Proz. gehoben wird, ein Ansatz, der den
0,79 Prozenten unserer 15 Staaten sehr nahe kommt.
Nach dem Prinzip der Zinseszinsrechnung würde sich nun für den Fall,
daß der Zinsfuß 0,75 beträgt, ein Kapital in 92,71 Jahren oder sagen wir
in rund 93 Jahren verdoppeln; an Schweden's Beispiel aber sahen wir, daß
die thatsächliche Verdoppelung erst in 102 Jahren erfolgte, was einem abge¬
kürzten Verhältniß von 9:10 entspricht. Dürfen wir dieses Resultat auf das
deutsche Reich übertragen, so würde nach Zinseszinsrechnung mit Zugrunde¬
legung eines Zinsfußes von 0,83 Proz. die Verdoppelung in 84 Jahren er¬
folgen, in Wirklichkeit aber erst — mit Hinzuziehung des obigen Verhältnisses —
in 94 Jahren. Europa endlich würde nach mathematischer Berechnung in
39 Jahren oder in praktischer Entwickelung in 99 Jahren, rund in einem
Jahrhundert, seine Einwohnerzahl ans das Doppelte bringen.
Gestützt auf diese Berechnungen könnte man ermitteln, wann die Ueber-
völkerung in einem Lande eintreten wird, d. h. derjenige Zustand, in welchem
die Bewohner des Landes in demselben weder hinreichende Beschäftigung noch
genügende Ernährung finden. Diese Untersuchung, die volkswirtschaftlich gewiß
nicht blos interessant, sondern anch höchst wünschenswerth wäre, setzt freilich
voraus, daß man wüßte, wie viel Einwohner ein Land in normalen Zeiten
und bei richtiger Ausnutzung aller dem Lande zu Gebote stehenden Hilfsmittel
ernähren und beschäftigen kann. Hierüber existiren aber unseres Wissens vor¬
läufig noch keine hinreichend verbürgten Zahlen, und so müssen wir darauf
verzichten, festzustellen, ob dieser Zustand für Deutschland bereits eingetreten
ist oder wann er etwa kommen wird.
Soviel kann man auch ohne Zahlenbeweis behaupten, daß unter den
gegenwärtigen Verhältnissen die Uebervölkerung im obigen Sinne Deutschland
bereits bedroht. Freilich eine eigenthümliche Ironie des'Schicksales, daß gerade
in den Zeiten, wo die größten Anstrengungen zur Herbeiführung einer gesunden
Lebensweise und zur Verlängerung der Lebensdauer gemacht werden, man zu
dem betrübenden Schlüsse kommen muß, daß es eigentlich zu viel Menschen gibt.
Die von der demokratischen Partei am 5. Mai d. I. in beiden Kongre߬
häusern eingereichte und wenige Tage später auch vou der Majorität ange¬
nommene Bill, welche den Gebrauch von Bundessoldaten bei nationalen
Wahlen zwar gegen „bewaffnete Feinde der Vereinigten Staaten", aber nicht
„zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung an den Stimmplätzen" erlaubt,
ist nach den neuesten Nachrichten aus Amerika, wie wir von vornherein ver¬
mutheten, in der That am 12. Mai d. I. vom Präsidenten Hayes ebenfalls
mit dem Veto belegt wurden. Der Präsident erklärte, indem er ans seine
frühere Veto-Botschaft hinwies, daß jede Art von Einmischung des Militärs
oder bewaffneter Mannschaften, sei es der Bnndesarmee oder der Staatenmiliz
oder sonstiger übelwollender Personen (soll-cUspossä xkrsoQs), gegen den Geist
der Verfassung der Vereinigten Staaten sei, mit der einzigen Ausnahme, daß
die Anwendung von Militär, gleichgiltig ob Bundestruppen oder Staatsmiliz,
nothwendig sei zum Schutze der Verfassung und der Gesetze der Union. Aber
die Demokraten beruhigte» sich auch bei diesem zweiten Veto nicht. Sie brachten
nämlich die sogenannte „Legislative - Appropriations - Bill" ein, wodurch der
Bundesregierung Mittel für die Ausgaben, welche die Bundesgesetzgebung er¬
fordert, gewährt werden, fügten aber dieser Bill wiederum eine Klausel bei,
durch welche die bestehenden Bundeswahlgesetze abgeändert werden sollten.
Selbstverständlich belegte Präsident Hayes am 29. Mai d. I. auch diese Bill
mit seinem Veto, und es gelang den Demokraten uicht, die nach dem Veto zur
Annahme der Bill nothwendige Zweidrittelmajorität aufzutreiben.
Man darf gespannt sein auf den weiteren Fortgang und das endliche
Resultat dieses zwischen der Regierung und der Gesetzgebung der Vereinigten
Staaten obwaltenden Konfliktes; es müßten jedoch alle'Anzeichen trügen, wenn
nicht die herrsch- und beutesüchtigen Demokraten den Kürzeren ziehen sollten.
Ein Unterliegen in dem gegenwärtigen Kampfe wird aber sicherlich uicht ohne
Rückwirkung auf die im Jahre 1880 vorzunehmende Präsidentenwahl sein.
Geschichte Baiern's von S. Riezler. Erster Band. Goebel, Perthes, 1879.
'
Den trefflichen Publikationen, durch welche unter W. Giesebrechts Re¬
daktion die Heeren- und Untere'sehe Geschichte der europäischen Staaten fort¬
gesetzt und zu frischem Leben erweckt worden ist, reiht sich nunmehr auch die
Geschichte Baiern's an, zu deren Bearbeitung kaum irgendwer so berufen war
wie der Verfasser. Freilich ist es nicht eine Geschichte des gegenwärtigen
Königreiches Baiern in dem Sinne, daß darin die Vergangenheit der dreiund¬
achtzig politischen Einzelwesen und Gebietstheile, aus welchen dasselbe zu An¬
fang unseres Jahrhunderts zusammengeschweißt worden ist, erzählt wird, fondern
eine Geschichte des bairischen Stammes, der, wennschon nicht in seiner Inte¬
grität erhalten, doch von den drei oberdeutschen Stämmen der einzige ist, der
noch heute einem Staate den Namen gibt und eine so stark ausgeprägte In¬
dividualität besitzt, daß auch das neue deutsche Reich uicht umhin gekonnt hat,
derselben Rechnung zu tragen. Es gehört zu den eigenthümlichsten und ent¬
scheidendsten Momenten in der Entwickelung des deutschen Volkes, daß von zweien
seiner Hauptstämme im Ober- wie im Niederlande, den Baiern und den
Sachsen, die östlichen Theile in den Marken, vielfach mit slavischen Elementen
durchsetzt, sich nicht blos zu einem neuen Stammescharakter, sondern auch zu
einer politischen Bedeutung ausgebildet haben, durch welche der Hauptstamm
überflügelt und in den Hintergrund gedrängt worden ist.
Auch für das Baierlcmd haben die prähistorischen Forschungen der jüngsten
Zeit, die Entdeckungen in den Höhlen des Jura, in den Pfahlbauten der ober-
bcnrischen Seen, die Grüberfunde am Hallstädter See und anderwärts die
Kunde von der Existenz seiner Bewohner bis zu eiuer Vergangenheit hinaus-
gerückt, von der man früher keine Ahnung hatte. Daneben hat die Sprach-,
speziell die Namenforschung unwiderleglich dargethan, daß der Stamm der Baiern,
der zuerst im 6. Jahrhundert unter dem Namen Baiuvarier, d. i. Bewohner
des Landes Baia, Böhmen's, vorkommt, ein rein deutscher und nicht, wie be¬
hauptet worden ist, ein keltischer ist, entstanden ans einer Vereinigung von
Markomannen mit anderen nahe verwandten und benachbarten Suevenstämmen,
insbesondere den Quader; mit dem Schwäbischen zusammen bildet das Bairische
den oberdeutschen Dialekt. Die historische Periode des Landes beginnt mit der
Eroberung durch die Römer, der Einrichtung der zwei Provinzen Raetia und
Noricum, als römische Straßen das Land durchzogen und römische Städte mit
einander verbanden, bis die Völkerwanderung den größten Theil dieser Kultur
zerstörte und das romanische Alpenland germanisirte. Mit der Ausdehnung der
fränkisch-karolingischen Herrschaft über das obere Donaugebiet treten dann die
Baiern in den großen germanischen Staatsverband, um sich in diesem zu einem
der kräftigsten Glieder des Reiches zu entwickeln. Diesen Verlauf unter den
karolingischen, sächsischen, salischen und staufischen Kaisern bis zu der großen
Felonie Heinrich's des Löwen stellt der Verfasser in diesem Bande anschaulich
und erschöpfend dar.
Die eigentlichen Glanzpartieen des Buches jedoch sind die Abschnitte, welche
die Kulturzustände gewisser Perioden zusammenfassend schildern. Nicht ohne eine
Art stolzer Genugthuung wird in ihnen der Leser die Resultate unzähliger
mühsamer, zum Theil scheinbar recht unbedeutender, erst durch den Zusammen¬
hang rin anderen in ihrem Werthe erkennbarer Detailuntersnchnngen auffinden
und damit zugleich eine Hauptsiguatur unserer modernen Geschichtsschreibung
erkennen, die — während die Gelehrsamkeit früherer Zeiten sich mit einer Art
von Leidenschaft in Spezialitäten hineinwühlte, sich darin vergrub und verlor —
überall das Einzelne auf das Ganze zu beziehen und harmonisch zum lebens¬
vollen Bilde zu gestalten strebt.
Etwas Aehnliches läßt sich an der deutschen Spezialgeschichte in ihrem
Verhältnisse zur Reichsgeschichte wahrnehmen. Wenn ehedem jene ein in sich
Abgeschlossenes, für sich selbst Bestehendes zu sein sich begnügte, ihr Horizont
mit den geographischen Grenzen ihres Gebietes zusammenfiel, hat sie gegenwärtig
gelernt, das einzelne Glied zwar auch in seinen Besonderheiten, aber doch immer
auch in seinen Beziehungen zu dem Gescunmtkörper zu betrachten, und erst da¬
durch ist sie wahrhaft fruchtbar geworden. - Diesen Standpunkt nimmt auch Riezler
ein; das Verhältniß des bairischen Stammes zum deutschen Volke, des bairi-
schen Herzogthums zum deutschen Reiche ist es, was er vorzugsweise zur Dar¬
stellung bringt, und wenn er hierbei die allerdings kaum geuau zu bestimmende
Grenze zwischen Spezial- und Reichsgeschichte nicht allzu ängstlich innehält,
manches aus letzterer beibringt, dessen streng genommen die erstere entrathen
könnte, so wiegt dieser Vorwurf nicht gerade schwer. Wir Deutschen huldigen
einmal nicht in demselben Maße wie die Engländer der Meinung, daß ein
dickes Buch ein dickes Uebel sei. Um die ganze Geschichte Baiern's bis auf die
Gegenwart in der nämlichen Ausführlichkeit herabzuführen, werden jedenfalls
noch drei gleichstarke Bände erforderlich sein. — Uebrigens freuen wir uns,
daß der Verfasser mit der Wiederherstellung der einzig richtigen Schreibart
„Baiern" das durch eine Schrulle König Ludwig's I. eingeführte und noch jetzt
in offizieller Geltung stehende „Bayern" über Bord geworfen hat.
Der österreichische Ausgleich von 1867, welcher die weiten Länder der
Stephanskrone als wesentlich selbständigen und einheitlichen Staat neben die
deutsch-slavischen Erdtaube des Hauses Habsburg stellte, hat, wie die Deutschen
Oesterreich's schmerzlich empfinden, zu einer thatsächlichen Vorherrschaft der
Magyaren im Kaiserstaate überhaupt geführt. Schon kann man diesseits der
Leitha der bitteren Bemerkung begegnen, der passendste Name für die Donau¬
monarchie sei nicht „Oesterreich-Ungarn", fondern „Ungarn und die übrigen
Länder", oder gar „Ungarn und seine Rebenlaube".
Mag nun diese magyarische Vorherrschaft begründet sein wie sie immer
wolle, mag die feste Geschlossenheit des magyarischen Volksthums auf der einen,
die Zerfahrenheit der vielgetheilten Deutsch-Oesterreicher, die obendrein in einem
zeitweise schweren Kampfe mit den neben und unter ihnen wohnenden Slaven
begriffen sind, auf der andern Seite diesen Zustand hinlänglich erklären, Niemand,
der unbefangen diesen Dingen gegenübersteht, wird verkennen, daß er ein der
alten Bedeutung des deutsch-österreichischen Volkselementes widersprechender
und vielfach geradezu schädlicher ist. Sollte wirklich dieser stolze, reiche, patrio¬
tische Adel der deutschen Erdkunde, der einst voranstand in allen Werken der
Kultur und auch in der neuesten Zeit glänzende Proben seines politischen Ver¬
ständnisses gegeben hat, auf die Dauer zurücktreten hinter der Aristokratie
Ungarn's, die doch in keinem Stücke ihn übertrifft? Sollte dieser rasch auf¬
geblühte Bürgerstand Oesterreich's sich an politischer Einsicht und Thatkraft
beschämen lassen von einem Volke, das fast Alles, was es auf dem Felde der
Kultur geleistet, fremdem Einflüsse verdankt und ein einheimisches Bürger-
thum noch kaum entwickelt hat? Hat doch unleugbar die magyarische Hege¬
monie, der ganze hochgesteigerte Chauvinismus dieses Volkes dem Fortschritte
der großen historischen Aufgabe Oesterreich's, deutsche Gesittung und als ihre
Trägerin deutsche Sprache nach Südosten zu tragen, einen sperrenden Damm
entgegengestellt. So lange in der rücksichtslosen Weise wie seit 1867 das Mcigy-
arenthum sich und seine isolirte Sprache, die niemals eine Kultursprache werden
kann, allen nicht magyarischen Elementen gegenüber durchzusetzen bestrebt ist
— soeben ist es im Werke, in allen Volksschulen das Magyarische als obli¬
gaten Unterrichtsgegenstand einzuführen —, so lange ist der Kultureinfluß
Oesterreich's im Südosten gelähmt; denn nur die deutsche Gesittung ist es, die,
selbst wenn sie darauf verzichtet, ihre Sprache aufzudringen, den verwilderten,
aber bildsamen Völkern an der unteren Donau und jenseits der save einen
Fortschritt vermitteln kann, während die magyarische Herrschaft ihnen niemals
etwas anderes bringen würde, als das Pascha-Regiment ihrer Obergespane.
Aber nicht allein, daß diese Zustände dem Vorschreiten der überlegenen
deutschen Kultur entgegentreten, sie drohen auch die alten Pflanzstätten dieser
Kultur innerhalb Ungarn's selbst zu zerstören. Die deutschen Stadtgemeinden
Ungarn's, von fremdem Volksthum umgeben, ohne nationales Selbstbewußtsein,
ohne die lebhafte Verbindung mit dem deutschen Kernlande, die einst sie kräf¬
tigte, gleichen versinkendem Inseln, an denen die Wogen höher und höher
schlagen. Nur eine dieser alten Gründungen unseres Volkes steht noch trotzig
aufrecht: die ehrwürdige Genossenschaft der siebenbürger Sachsen. Ungleich
freilich, fast aussichtslos erscheint der Kampf, den diese 200000 Menschen seit
einem Jahrzehnt mit zäher Tapferkeit führen; denn gegen sie richtet sich gleich¬
zeitig der magyarische Chauvinismus und das einen Charakterzug der neueren
Zeit bildende Streben geschlossener Staaten, die Sonderrechte der Theile ein¬
zuschränken. Aber indem dies Streben hier nicht nur gegen eine unhaltbar
gewordene Sonderstellung sich wandte, sondern gegen Rechte, welche der Einheit
des ungarischen Staates ungefährlich waren, ist es mit einem anderen tiefbe¬
rechtigten Zuge unserer Zeit, dem großen Gedanken der Selbstverwaltung, in
unversöhnlichen Konflikt gerathen. Und wenn wir in Deutschland unseren
Volksgenossen fern im Karpathenlande schon um deßwillen unsere Sympa-
thieen entgegenbringen werden, weil sie eben Landsleute sind, so wird überhaupt
jeder, der das gute Recht freier Männer im Kampfe sieht mit büreaukratischer
Willkür wie hier, seine Theilnahme den Hartbedrängten nicht versagen.
Die siebenbürger Sachsen haben bis 1868, bis zur Union Siebenbürgen's
mit Ungarn, in allem Wesentlichen ihre historisch gewordene Selbstverwaltung
behauptet. Auf einem Raume von 148 Quadratmeilen angesiedelt, der freilich
in die beiden ungleich großen Landschaften um Hermannstadt und um Kronstäbe
im Süden, und in das entlegene Nößaerland um Bistritz im Nordosten Sieben¬
bürgen's zerfiel (zusammen, weil von den ungarischen Königen den deutschen
Ansiedlern verliehen, der „Königsboten", „lunatus rsZins" genannt), bildeten
sie seit 1446 eine einheitliche Genossenschaft, die univsrsitas SÄxcmicÄ, die seit
1485 auch ihren gemeinschaftlichen Landtag beschickte, und standen, in sieben und
zwei „Stühle" oder „Gerichte", außerdem in zwei „Bezirke" (um Kronstäbe
und Bistritz) gegliedert, unter einem zuerst von der Krone ernannten, seit 1464
von der Nation auf Lebenszeit erwählten Grafen (oornizs), der im ganzen
Gebiete als oberster Richter fungirte, während ein Zentralamt als Organ der
„Universität" die politische und finanzielle Verwaltung leitete. So stellten die
Sachsen neben den beiden anderen ständischen Nationen Siebenbürgen's, den
Ungarn und Szeklern, allerdings einen Staat im Staate dar, der durch einen
engeren Bund mit jenen beiden Nationen das Großfürstenthum Siebenbürgen
konstituirte, durch einen weiteren mit dem Königreich Ungarn selbst zusammenhing.
Aber dieser staatenbündische Charakter ist allen mittelalterlichen politischen
Organismen eigen und hat sich in der Habsburgischen Monarchie länger als
anderswo behauptet, nur daß allerorten sonst der Adel mit dem hohen Klerus
als Träger der landschaftlichen Selbständigkeit erscheint, während bei den
siebenbürger Sachsen die freien Städte und Landgemeinden diese Stellung
einnahmen. Dem sehr langsamen Uebergange Oesterreich's von landschaftlich-
ständischen zu zentralistisch-monarchischen Ordnungen entspricht es nun durchaus,
wenn auch die sächsische Universität ihre Sonderstellung ungeschmälert so lange
aufrecht erhielt, wenn Leopold I. bei der Huldigung Siebenbürgen's 1691 sie
bestätigte, wenn wiederum 100 Jahre später unter Beseitigung der hastigen
Reformen Josef's II. Kaiser Leopold II. dasselbe that, wenn endlich selbst der
siebenbürgische Landtag von 1848, als er die Union mit Ungarn beschloß,
die Rechte der Sachsen wahrte, und wenn dann auch nachher noch die öster¬
reichische Regierung in dem Streben, den Magyaren ein Gegengewicht zu geben,
sie schützte, ja daran dachte, das sächsische Territorium als ein selbständiges
Kronland direkt unter die Wiener Regierung zu stellen, wie das mit der ser¬
bischen Wojwodina (Banat) thatsächlich geschah. Jedenfalls bildete damals
das Land der Sachsen eines der blühendsten und bestverwalteten Territorien
im ganzen Umfange des Kaiserstaates, hervorragend zugleich durch emsige Pflege
aller geistigen Bildung und durch den lebendigen Zusammenhang, den der weit¬
verschlagene Stamm mit dem Kulturleben der fernen Heimat zu behaupten
wußte. Inwieweit freilich die abgeschlossene Sonderstellung dein Zuge nach
schärferer Zusammenfassung aller rein staatlichen Gewalt werde widerstehen
können, blieb eine offene Frage.
Sie schien sich zunächst zu Gunsten der Sachsen lösen zu sollen. Denn
auch das Unionsgesetz von 1868, welches Siebenbürgen mit Ungarn zu einem
Ganzen vereinigte, garantirte in den bindendsten Ausdrücken die Rechte der
Sachsen. Das ungarische Ministerium wurde beauftragt, zur Sicherstellung
der Selbstverwaltungsrechte der Stühle, Distrikte und Städte des Königsbodens,
der Organisirung ihrer Vertretungskörper und der Feststellung des Wirkungs¬
kreises der sächsischen Nationsuniversität „mit Anhörung der Betreffenden einen
solchen Gesetzentwurf vorzulegen, der sowohl die auf Gesetzen und Verträgen
beruhenden Rechte als auch "die Rechtsgleichheit aller dieses Territorium be¬
wohnenden Staatsbürger gehörig zu berücksichtigen und in Einklang zu bringen
hat." „Die sächsische Nationsuniversität wird auch weiterhin in ihrem Wir¬
kungskreise belassen", naturgemäß unter Oberaufsicht der Regierung. Nur die
gerichtlichen Befugnisse sollten wie überall in Ungarn an die königlichen Ge¬
richtshöfe übergehen. Ohne Frage verpflichtete dies Gesetz die ungarische
Regierung, die Integrität des Königsbodens, ohne welche er überhaupt zu exi-
stiren aufhörte, auch fernerhin unangetastet zu lassen und der Universität die
bisher von ihr ausgeübten Verwaltungs-Kompetenzen — mit alleiniger Aus¬
nahme der gerichtlichen — nicht zu entziehen. Bindender, unzweideutiger konnte
sie sich nicht dazu verpflichten.
Doch das versprochene Gesetz ließ auf sich warten. Nur eine Aenderung
erfolgte: im Februar 1868 wurde der bisherige Graf der sächsischen Nation
plötzlich pensionirt und durch einen Regierungsbeamten ersetzt; das altehrwürdige
Amt selbst blieb bestehen. Aber noch 1870 erneuerte die Regierung gelegent¬
lich der Regelung der Komitats-Verwaltung das Versprechen eines besonderen
Gesetzes.
Wenige Jahre später belehrte der Entwurf, den der Minister des Inneren
Graf Szap^ry dem ungarischen Reichstage vorlegte, wie das magyarische Regi¬
ment die Verpflichtung des Jahres 1868 zu erfüllen gedenke. Der Entwurf
zerriß die Einheit des sächsischen Territoriums und verkoppelte die aufgelösten
Theile mit magyarischen und romanischen Bezirken zu neuen Komitaten. Als
die Nationsuniversität, wie sie mußte, auf Grund des Gesetzes von 1868 gegen
ein solches Vorgehen Protest erhob (19. Dezember 1873), vernichtete eine ein¬
fache Ministeriell - Verordnung (27. Januar 1874) ihr noch in voller Geltung
stehendes, weil niemals gesetzlich aufgehobenes Recht, über allgemeine An¬
gelegenheiten sich vernehmen zu lasten, und sie wurde geschlossen. Eine Jnter¬
pellation der sächsischen Abgeordneten in Pest, eine Petition der bedeutendsten
sächsischen Städte und der Kreisversammlungen um Versetzung des Ministers
in den Anklagezustand verhallten natürlich ungehört. Ja auf die erstere erklärte
der Minister unter dem Beifalle der magyarischen Mehrheit rund heraus: er
werde nicht dulden, daß den Sachsen eine eigene Organisation und ein eigenes
Territorium sowie der Gebrauch einer andern amtlichen als der magyarischen
Sprache gestattet werde (23. Februar). Daß dem gewisse Versprechungen
zuwiderliefen, dessen schienen weder Graf Szcipn,ry noch die Abgeordneten sich
weiter zu erinnern.
Seitdem wußten die Sachsen, wessen sie sich zu versehen hätten. Sie
wußten anch, daß in den Zielen der magyarischen Chauvinisten, denen jede
andere Rücksicht verschwindet, sobald es sich darum handelt, dem Streben nach
der Alleinherrschaft des Magyarenthums Befriedigung zu verschaffen, sich nichts
ändern werde, wenn auch mit Koloman Tisza die „demokratische" Linke an's
Ruder kam (1875). Die schlimmsten Befürchtungen erschienen berechtigt mit
der Vorlegung des 12. Gesetzartikels über den Königsboten (tunäus rs^was,
ferner über die Regelung der sächsischen Universität (univzrsiws) und über das
Vermögen der Universität sowie der sogenannten sieben Richter, der im März
1876 im ungarischen Abgeordnetenhause zur Verhandlung gelangte. Die An¬
führung der wichtigsten Paragraphen im Wortlaute ist hier unumgänglich.
Z. 1. „Bei der Regelung der Munizipalgebiete, über welche ein beson¬
deres Gesetz verfügen wird, fällt der Königsboten und seine benachbarten Ge¬
biete nnter dieselben Rücksichten. Nach der Gebietsregulirnug hören hinsichtlich
des Königsbodens die bisher bestandenen Verschiedenheiten im Kreise der Verwal¬
tung auf." — Z. 2. „Das sächsische Gespans- (Komes-) Amt erlischt, und dieser
Titel geht auf den Obergespan des Hermannstüdter Komitats, als den Vorsitzer
der Generalversammlung der sächsischen Universität über." — §. 3. „Der Wir¬
kungskreis der sächsischen Universität, als einer ausschließlichen Kulturbehörde,
wird hinsichtlich der Verfügung über das Universitätsvermögen, hinsichtlich der
Bewerkstelligung des widmungsmäßigen Gebrauchs der unter ihrer Verwaltung
stehenden Stiftungen und hinsichtlich der Kontrole über jene, auch weiter auf¬
recht erhalten." — 5. „Das hinsichtlich des Vermögens der sächsischen
Universität bestehende Eigentumsrecht wird dnrch gegenwärtiges Gesetz unbe¬
rührt gelassen. Ueber bezüglich dieses Eigenthumsrechtes etwa auftauchende
Fragen entscheidet richterliches Urtheil." — Z. 6. „Die der freien Verfügung
unterstehenden Einkünfte des Vermögens der sächsischen Universität sind zu
Gunsten der gesammten, das Eigenthum besitzenden Bewohnerschaft ohne Reli-
gions- und Sprachverschiedenheit zu verwenden." — Z. 7. „Ueber das Ver¬
mögen der sächsischen Universität verfügt im Sinne und innerhalb der Schranken
der Stiftungen und mit Aufrechterhaltung des Aufsichtsrechts der Regierung
die Generalversammlung der sächsischen Universität."
Diese „Generalversammlung", welche an die Stelle des alten Landtags
trat, soll aus 20 von den Reichstagswählern erwählten Abgeordneten (9 der
Städte, 11 der Landgemeinden) bestehen und jährlich einmal in Hermannstadt
unter dem Vorsitze des Hermannstädter Obergespans, der den Titel ovwss zu
führen hat, zusammentreten, kann aber auch außerordentlicher Weise durch die
Regierung oder auf Antrag der Mehrheit vom Obergespan berufen werden.
Ihre Kompetenz ergibt sich aus HZ. 5—7, ihre Beschlüsse unterliegen der Ge¬
nehmigung des Ministers des Innern, beziehentlich des Kultusministers. Der
Obergespan hat das Recht, „wenn die Generalversammlung nach seiner Ansicht
ihren Wirkungskreis überschritten hat, oder wenn er die Ordnung aufrecht zu
erhalten nicht im Stande ist, die Sitzung zu suspendiren und im Falle der
Wiederholung dieselbe auf 14 Tage zu vertagen" (§. 14). „Die Geschäfte
der Universität verwaltet in Gemäßheit der Beschlüsse der Generalversammlung
das Zentralamt der Universität. Das Oberhaupt dieses Amtes ist der Vor¬
sitzer der Universitäts-Generalversammlung (d. h. der Komes-Obergespan), seine
Beamten der Sekretär und der Kassirer der Universität. Im Zentralamt ver¬
tritt den Vorsitzer im Falle seiner Verhinderung der Sekretär der Universität.
Den Status der übrigen Beamten des Zentralamts, ferner das Gehalt sämmt¬
licher Beamten des Zentralamtes, die Modalität ihrer Erwählung und die
Dauer ihrer Amtirung bestimmt die Universitäts-Generalversammlung mit Ge¬
nehmigung des Ministers" <Z. 16). Die letzten Paragraphen betreffen insbe¬
sondere die Verwaltung des Vermögens der sogenannten sieben Richter, d. h.
der sieben alten Stuhlbezirke des Hermannstädter Gaues, welche ganz nach
Analogie der Verwaltung des Gesammtvermögens geordnet wird.
Daß dies Gesetz nicht die „Sicherstellung" der Rechte der Sachsen ent¬
hielt, daß es die Universität nicht in ihrem Wirkungskreise beließ, wie im
Jahre 1868 versprochen worden war, bedarf keines Beweises. Aber alle Gründe,
welche die sächsischen Abgeordneten in den überaus bewegten Debatten des
Pester Unterhauses vom 22. bis 24. März gegen den Entwurf in's Feld
führten, vermochten nicht das Geschick zu ändern; er wurde fast ohne jede
Umgestaltung erst vom Unterhause, dann auch vom Oberhause angenommen
und am 2. April bereits vom König sanktionirt.
Dieser Akt vernichtete die Kompetenz der sächsischen Nationsuniversität zum
guten Theile, hob das Amt des freigewählten Sachsengrafen auf und stellte
die Bewohner des Königsbodens unter jene ungarische Komitatsverwaltung,
die unter dem Scheine der Selbstverwaltung die „Munizipien" (Komitate) der
schrankenlosen Macht der Zentralregierung unterwarf, während zugleich die
neue Eintheilung des Landes die Territorien der Sachsen mit magyarischen
und romünischen Landestheilen zu neuen Komitaten verband. Fortan blieb
der Universität nur das Recht, ihr Vermögen selbständig, unter Aufsicht der
Regierung zu verwalten, gewiß immerhin noch ein hochbedeutsames Recht, denn
dies Vermögen, ein Ergebniß rastloser Kulturarbeit, ist sehr beträchtlich.
Es besteht großentheils ans sehr ausgedehnten Waldungen, deren Bewirth¬
schaftung und Beaufsichtigung ein zahlreiches Personal mit dem Zentralsitze
in Talmatsch erfordert, und wurde schon bisher fast ausschließlich zur Förderung
kultureller Zwecke verwendet, zum Unterhalte, beziehentlich zur Unterstützung
der blühenden Gymnasien des kleinen Landes, auch der beiden romanischen zu
Kronstäbe und Broos, der Gewerbeschulen, der landwirtschaftlichen Lehranstalt
in Mediasch, der Ackerbanschulen in Kronstäbe und Bistritz. Die Gesamt¬
summe der für das Verwaltungspersonal ausgeworfenen Besoldungen belief
sich nach dem Anschlage von 1877 auf nahezu 10000 Gulden. Indem die
sächsische Universität das Eigenthum und demgemäß auch das Verfügungsrecht
dieses Vermögens behielt, trat sie etwa in die Stellung jener territorialen
Landstände in Deutschland zurück, welche an die aufsteigende Monarchie früher
oder später ihre alten Rechte der Gesetzgebung und der Steuerbewilligung
verloren, aber ihr nicht selten beträchtliches Vermögen und seine Verwaltung
auch unter den neuen Verhältnissen behaupteten. Wären nur die siebenbürger
Sachsen nun wenigstens nach so schmerzlichen Verlusten in ihrem Rechte un¬
angefochten geblieben! Doch auch diese wohlbegründete Hoffnung wurde
betrogen.
Am 19. März 1877 trat, zum ersten Male auf Grund des Gesetzes von
1876, die Generalversammlung der Universität zu Hermannstadt in den Be¬
rathungsräumen des Nationalhauses zusammen. Ihre Aufgabe war vor allein,
gemäß ß. 9 jenes Gesetzes die Berathungsstatuten der Generalversammlung, die
Organisation des Zentralamtes und die Geschäftsordnung desselben festzustellen.
Sie wurde im Laufe der nächsten Monate gelöst. Die Geschäftsordnung der
Generalversammlung nahm die einschlagenden Bestimmungen des Gesetzes theils
einfach auf, theils führte sie dieselben nach dem Muster allgemein giltiger Ver¬
handlungsformen weiter aus. Als ein im Gesetz zwar nicht vorgesehenes, aber
auch nicht verbotenes Institut fügte sie einen fünfgliedrigen, der Generalver¬
sammlung rechenschaftspflichtigen Ausschuß ein, der in der Zeit zwischen den
einzelnen Sitzungsperioden die wichtigeren Vorlagen für das Plenum vorbereiten
und zugleich für die Beamten des Zentralamtes der Universität als Disziplinar¬
behörde erster Instanz fungiren sollte. Zu seinen Sitzungen stand bei wichtigeren
Angelegenheiten auch dem Obergespan der Zutritt offen. Die Bestimmungen
über die Organisation des Zentralamtes gliederten dasselbe in das Universitäts¬
amt, die Kassen- und die Forstverwaltung, machten die Wahl der fast durch¬
gängig auf Lebenszeit anzustellenden Beamten von der Generalversammlung
abhängig, während die Ernennung der niederen Bediensteten dem Universitäts¬
amte überlassen blieb, und bestimmten endlich die Gehalts- und Pensionsbezüge
der Beamten und ihrer Hinterbliebenen. Als besonders wichtig erscheinen so¬
dann die Statuten über die Geschäftsbehandlung des Zentralamtes. Hatte
8. 16 des Gesetzes v. I. 1876 sich über die Stellung des Obergespans zu
demselben nur in sehr allgemeinen und unbestimmten Ausdrücken ausgesprochen,
so suchten die Statuten im Sinne möglichster Unabhängigkeit der Universitäts¬
verwaltung von dem Regierungsbeamten diese Stellung scharf zu umgrenzen,
indem sie ihm, der ja kein Beamter der Universität, sondern der Regierung ist,
auf das Recht der Aufsicht über die Geschäftsführung des Zentralamtes und
der Einsichtnahme in alle Akte derselben beschränkten, ihm aber jedes Ver¬
fügungsrecht, überhaupt jede wirkliche Theilnahme an der Verwaltung abschnitten,
dagegen den „Universitätsnotär (-Sekretär)" als den „ersten Beamten der säch¬
sischen Universität", als den eigentlichen Chef der ganzen Administration hin¬
stellten, demgemäß seine Unterschrift für jeden Akt derselben vorschrieben und
ihm die Aufficht über das gesammte Beamten- und Dienstpersonal der Univer¬
sität übertrugen. Weiter wurden die Funktionen der einzelnen Beamten bestimmt,
die Modalitäten des etwa gegen sie einzuleitenden Disziplinarverfahrens und
die Strafen festgesetzt.
Wenn so die Sachsen versuchten, auf Grund eines ihnen durchaus un¬
günstigen Gesetzes die Unabhängigkeit ihrer Vermögensverwaltung soweit als
irgend möglich zu sichern, so wird ihnen das Niemand verargen. Doch der
Versuch mißlang. Eine Verordnung Tisza's, dessen Bestätigung verfassungs¬
mäßig die Entwürfe unterlagen, stellte sich in schroffsten Widerspruch mit den
Anschauungen der Universität; er begnügte sich nicht etwa damit, eine ganze
Reihe von Bestimmungen der Statuten zu verwerfen, sondern er gab positive
Vorschriften, denen gemäß die Generalversammlung ihre Entwürfe umzuarbeiten
habe. Die Versammlung sollte beschlußfähig sein ohne jede Rücksicht auf die
Zahl der Anwesenden, sodaß eventuell eine kleine Minorität giltige Beschlüsse
fassen könnte, im Widerspruch mit jeder parlamentarischen Ordnung. Dissen-
tirende Mitglieder sollten das Recht haben, ihre Meinung nicht nur zu Protokoll
zu geben, fondern Berufung an das Ministerium einzulegen. Mit anderen
Worten: die Regierung beanspruchte das Recht, eventuell die Meinung der
Minderheit als einen giltigen Beschluß der Generalversammlung anzuerkennen.
Die Errichtung eines ständigen Ausschusses wurde als überflüssig und im Gesetz
nicht vorgesehen verworfen. Nahm aber schon mit dem allen der Minister sich
das Recht heraus, die Majorität vorkommenden Falls einfach zu neutralisiren
und so das Verfügungsrecht der Generalversammlung lahmzulegen, so zer¬
störten die nächsten Forderungen die Selbständigkeit der Verwaltung des
Zentralamtes von Grund aus. Alle die Funktionen, welche der sächsische
Entwurf dem Universitätsnotär zugewiesen, sollten dem Obergespan zukommen;
demnach hätte er allein alle Akte der Verwaltung zu zeichnen, Zahlungen aus
der Kasse auf Grund des Voranschlags anzuweisen, ja in dringenden Fällen
selbst über den Voranschlag hinaus unter Vorbehalt späterer Genehmigung.
Ihm waren der Universitätssekretär und alle anderen Beamten untergeordnet
und verantwortlich, daher er denn auch allein die Vorschläge zu Gehalts¬
erhöhungen zu machen und eventuell die Disziplinaruntersuchung anzuordnen
und zu führen hatte. Und da er nun solchergestalt thatsächlich der Nachfolger
des sächsischen Komes wurde, so ordnete zum Schluß der Minister auch noch
die Einräumung einer Amtswohnung im Nationalhause und die Zahlung eines
jährlichen Gehaltes von 2000 Gulden aus der Universitätskafse an, erlaubte
sich also einen ganz direkten Eingriff in das feierlich garantirte Recht der
Sachsen, über ihr Vermögen frei zu verfügen.
Ein solches Gebahren rief denn in der That den heftigsten Widerspruch
in der Generalversammlung hervor, die am 27. August 1877 zum zweiten
Male zusammengetreten war. Eine Kommission von sieben Mitgliedern wurde
mit der Umarbeitung der Entwürfe, zugleich aber auch mit der Abfassung einer
Eingabe an den Minister beauftragt, welche den sächsischen Standpunkt zu
wahren hatte. Sie änderte wirklich eine Reihe von Punkten ab, hielt aber
fest an den Bestimmungen über die Beschlußfähigkeit der Generalversammlung,
verwarf das Berufungsrecht der Minorität, trat auch entschieden für die Bei¬
behaltung des Ausschusses ein, gegen den aus dem Gesetze nichts sich anführen
lasse, und der sich aus praktischen Gründen empfehle, überdies nur einer langen
und bewährten Uebung entspreche. Auf's entschiedenste wandte sich die Vor¬
stellung sodann gegen die ministeriellen Forderungen bezüglich der Stellung
des Obergespans; da er nicht Beamter der Universität, ihr also nicht rechen¬
schaftspflichtig sei, fo könne er wohl im Namen der Regierung die Oberaufsicht
sichren, nun und nimmermehr aber gebühre ihm die Leitung der gesammten
Verwaltung und also auch weder die freie Wohnung im Nationalhause noch
ein Gehalt aus der Universitätskasse. Indem die Kommisston so in allen
wesentlichen Punkten die ursprünglichen Entwürfe als mit dem Gesetze über¬
einstimmend aufrecht erhielt, bequemte sie sich freiwillig dazu, nach dem Muster
der ungarischen Komitatsverfassung die Amtsdauer der Beamten ans sechs
Jahre zu beschränken und die übrigen sie betreffenden Bestimmungen demgemäß
abzuändern.
Doch diese Arbeit der Siebenerkommission gelangte nicht einmal zur Be¬
rathung im Plenum der Generalversammlung. Derselbe Friedrich Wächter,
der sich in den entscheidenden Debatten des Pester Abgeordnetenhauses über
das Gesetz von 1876 den nicht beneidenswerthen Ruhm erworben hatte, als
Referent die Regierungsvorlage gegen seine Landsleute zu vertheidigen, und
uun zum Schade« der Sachsen als Obergespan des Hermannstädter Komitats
an die Spitze der Universität gestellt war, betonte zunächst, daß der Entwurf
der Kommission auch solche Paragraphen der Statuten, gegen die der Minister
keine Einwendungen erhuben, einer Umgestaltung unterzogen habe, und forderte
deshalb die Versammlung auf, in die Berathung über diese Punkte nicht ein¬
zutreten. Als aber die überwiegende Mehrheit dies als eine Beeinträchtigung
ihres Berathungsrechtes zurückwies, vertagte der Obergespan die Generalver¬
sammlung auf 14 Tage, mit der Erklärung, sie habe ihre Befugniß über¬
schritten (18. September), sandte aber wenigstens die umgearbeiteten Statuten
sammt der Vorstellung der Kommission dem Minister ein.
Der Erfolg war vorauszusehen. In seinem Erlaß vom 5. Oktober be¬
zeichnete Tisza die Eingabe als eine „in mehrfacher Hinsicht strenge zu rügende
und zu unstatthaften Ausbrüchen führende Auslassung" und hielt im Uebrigen
seine früheren Forderungen im vollsten Umfange aufrecht, auch die Anordnung
über die Entschädigung des Obergespaus. Ja er versuchte die Stellung des¬
selben als Chef der Universitätsverwaltung zu rechtfertigen mit der wunder¬
baren Motivirung, das Gesetz von 1876 hebe nur das sächsische Komitatamt, nicht
aber auch die Stelle des sächsischen Komes auf, welche mit der Stelle des
Hermannstädter Obergespans verbunden wäre. Als ob nicht Z. 2 dieses Ge¬
setzes in den unzweideutigsten Worten die Abschaffung des sächsischen Komes-
amtes ausgesprochen und lediglich den Titel belassen hätte, „aus historischer
Pietät", wie es in den Motiven der Regierung hieß, und wie es der Minister
selbst in der Spezialdebatte über das Gesetz betont hatte!*) Endlich verwarf
die Verordnung noch die neuen Bestimmungen über die Anstellung und die
Amtsdauer der Beamten, indem sie auf den anfänglichen Entwurf zurückging.
Zum Schluß forderte der Minister die sächsische Nationsnniversität ernstlich
auf, „wegen Geltendmachung der in Frage stehenden Organisationsentwürfe
gemäß den gemachten Bemerkungen Anstalt zu treffen und über deren Vollzug
unverzüglich Bericht zu erstatten" (5. Oktober).
Hielt aber der Minister an seinen Anschauungen fest, so setzten ihm die
Sachsen, weit entfernt, sich zu fügen, auch jetzt noch zähesten Widerstand ent¬
gegen. Als am 16. Oktober zum dritten Male nach der Vertagung die
Generalversammlung eröffnet worden war, beauftragte sie wiederum die
Siebenerkommission mit dem EntWurfe einer neuen Erklärung. Sie führte
aus: gemäß dem Gesetze gebühre der Regierung der Universität gegenüber
durchaus nur das Oberaufstchtsrecht; dies aber schließe zwar die Befugniß zu
einem Veto gegen Beschlüsse derselben in sich, jedoch nicht das Recht zu
positiven Verfügungen, wie der Minister es auszuüben versuche. Der Ober¬
gespan ferner könne niemals als Vertreter des Nationsgrafen betrachtet werden,
da dies Amt durch das Gesetz aufgehoben sei, er selbst aber als Regierungs¬
beamter nicht von der Universität zur Verantwortung gezogen werden könne.
Ebendeshalb sei dieselbe nicht in der Lage, ihm eine Amtswohnung und Gehalt
aus ihren Mitteln zu gewähren. Die Universität müsse aber die „Aufforderung"
des Ministers wie die von ihm in Anspruch genommene Stellung des Ober¬
gespans um so mehr zurückweisen, als beides das feierlich gewährleistete, von
ihm ganz persönlich vertretene Eigenthumsrecht, das naturgemäß das freie
Verfügungsrecht in sich schließe, faktisch vernichte und somit dem Geist und
Wortlaut des Gesetzes schnurstracks zuwiderlaufe. Aus demselben Grunde
müsse das Recht jedes einzelnen Mitgliedes der Generalversammlung, gegen
die Beschlüsse der Majorität Berufung an die Regierung einzulegen, verworfen
werden; überdies widerspreche es jedem Rechtsgrundsätze über die Verwaltung
korporativen Eigenthums. Aus alleu diesen Gründen sei die Universität außer
Stand gesetzt, auf die Berathung der Statuten im Sinne der ministeriellen
„Aufforderung" einzugehen, müsse vielmehr die Bitte stellen, zuvor „die un¬
beschränkte Berathung und Beschlußfassung über die Organisationsstatute
zu gestatten."
Als diese mannhafte Erklärung am 2l. Oktober von der Kommission zur
Berathung im Plenum gestellt wurde, wagte der Vorsitzende Obergespan, der
Sachse Friedrich Wächter, einen einfachen Gewaltstreich. Die Kommission,
äußerte er, habe der ausdrücklich ertheilten Weisung des Ministers nicht ent¬
sprochen, und er sehe sich deshalb verpflichtet, zu erklären, daß er eine Ver¬
handlung über den Bericht nicht zulassen könne. Die Universität habe keinen
Spielraum in ihren diesbezüglichen Berathungen und Beschlüssen; ihre Aufgabe
sei vielmehr nur die, die Statuten nach den Weisungen des Ministers einzu¬
richten. Er werde demnach nöthigenfalls die Statute auch von einer Mino¬
rität feststellen lassen, um der klaren Weisung des Ministers nachzukommen.
Umsonst bemüht man sich, für diese „nie erhörte Verkehrung der parlamenta¬
rischen Berathungsformen" selbst in den einmal geltenden gesetzlichen Bestim¬
mungen irgend welchen Anhalt zu finden. Wo war darin der sächsischen
Universität die freie Diskussion verwehrt? Wo bewilligt das Gesetz dem
Minister etwas anderes als die „Genehmigung" beziehentlich Verwerfung der
Beschlüsse? Woher nimmt weiter der Obergespan die Rechtfertigung dafür,
eventuell Minoritätsbeschlüsse als Beschlüsse der Generalversammlung zu be¬
handeln? Etwa aus der Aufforderung seines Chefs, in den Statuten jedem
Mitgliede die Berufung gegen einen Mehrheitsbeschluß zu garantiren? Seit
wann hat diese ministerielle Ansicht gesetzliche Bestimmung? Doch wozu diese
Fragen! Hoo volo, sie ^«.itiso, sit pro rations vo1ur>.ta,s!
Die Sachsen blieben sich selber treu. Als der Borsitzende die Frage
stellte, welche Mitglieder gesonnen seien, die Statute genau nach der Weisung
des Münsters abzuändern, verweigerte die Mehrheit (zwölf) die Antwort, weil
die Frage an sich unzulässig sei; nur die beiden romanischen Abgeordneten
Tincu und Pacurariu erklärten ihren Entschluß, der Aufforderung des Ministers
nachzukommen, und der eine von ihnen stellte den entsprechenden Antrag auf
Abänderung der Statuten. Naturgemäß verwarf ihn die gesetzestreue Majo¬
rität. Da führte der Obergespan seine Drohung aus. Er erklärte: da aus
der Abstimmung erhelle, daß die Majorität bei der Ablehnung der Verhandlung
nach der ministeriellen Weisung beharre, so fordere er nunmehr diejenigen,
welche in die Verhandlung eintreten zu wollen erklärten, auf, die Organisations¬
entwürfe, selbstverständlich unter Beobachtung der ministeriellen Verfügungen,
bald fertig zu machen und ihm vorzulegen, damit dieselben in einer Sitzung
der Generalversammlung zum Vortrag gebracht würden.
Dieser lohnenden Aufgabe unterzogen sich bereitwilligst die beiden Romanen,
während die Mehrheit ihre Sondermeinung zu Protokoll gab; am 25. Oktober
legten sie ihr Elaborat vor, das mit wenigen Abänderungen den ministeriellen
Weisungen entsprach. Eben deshalb lehnte die Mehrheit jede Berathung dar¬
über ab, der Obergespan aber brachte die Entwürfe als „Minoritätsantrag"
zur Kenntniß seiner Exzellenz.
Nun erinnerte sich allerdings die Generalversammlung, daß es in Ungarn
noch eine Autorität selbst über dem allmächtigen Minister gebe: den König.
Aber einen Antrag des Abgeordneten Betens, eine Deputation an den Minister
und nöthigenfalls an des Kaisers und des Königs Majestät zu senden, ließ
Herr Wächter gar nicht zur Verhandlung zu und zwar mit der sinnigen
Motivirung, daß die Aufgabe dieser außerordentlichen Versammlung erfüllt sei.
Von dem Minister freilich erwarteten die schwergekränkten selbst nichts
mehr. Sie thaten recht daran. Denn sein Erlaß vom 19. November, den die
Universität, zum vierten Male innerhalb weniger Monate versammelt, am
12. Dezember vernahm, ging mit der oppositionellen Mehrheit scharf in's Ge¬
richt, warf ihr vor, von dem Wege der Gesetzlichkeit abgewichen zu sein, ent¬
wickelte die Auffassung, daß aus dem Rechte der Regierung, die Beschlüsse der
Universität zu genehmigen, anch das Recht fließe, die Genehmigung an Bedin¬
gungen zu knüpfen, und motivirte die Anerkennung der von der Minderheit
festgesetzten Statuten folgendermaßen: „Dadurch, daß die in meinen Ver¬
ordnungen bezeichneten Aenderungen in den Organisations-Statuten nicht durch
die Majorität, sondern dnrch die Minorität der Generalversammlung ausge-
führt worden, wird die Gesetzlichkeit jener Aenderungen auch nicht im mindesten
geschwächt; denn indem die Majorität durch ihr erwähntes widersetzliches Ver¬
halten die Ausübung des ihr, durch das Gesetz gewährten Rechtes freiwillig
abgelehnt hat, hat sie selbst auf diese Weise das gesetzliche Vertretungsrecht der
Generalversammlung der Minorität überlassen, und war daher auf diese Weise
die Minorität im Namen der Generalversammlung berufen, die fraglichen
Organisationsentwürfe innerhalb der Schranken meiner Bemerkungen und im
Geiste derselben zu verhandeln, und sie hat in Folge dessen die Organisirungs-
Vorschläge, von ihrem gesetzlichen Rechte Gebrauch machend, in der durch den
Vorsitzer der Generalversammlung mir gleichzeitig unterbreiteten Gestalt fest¬
zustellen." Dabei sollten auch einige Ausstellungen des Ministers an dem ein¬
gereichten Entwurf beseitigt werden.
Gehorsam führte die romanische Minorität — zwei von vierzehn! — auch
diesen Auftrag aus, ohne daß die sächsische Majorität sich daran betheiligte.
Auch wurde der so „verbesserte" Entwurf gar nicht zur Abstimmung gebracht,
weil nach der eigenartigen Rechtsanschauung des Ministers und des Ober¬
gespans die Mehrheit durch ihre Weigerung, den von ihr als unberechtigt auf¬
gefaßten Geboten der Behörden sich zu unterwerfen, ihr Recht zur Mitberathuug
»freiwillig abgelehnt" hatte, fondern einfach verlesen und sodann das ganze
Werk durch ministeriellen Erlaß vom 13. Januar 1878 bestätigt oder vielmehr
der widerstrebenden Generalversammlung aufgezwungen.
In diesem Sinne faßte auch die sächsische Mehrheit den ganzen Vorgang
auf. In einer zu Protokoll gegebenen Erklärung führte sie aus: Die Orga-
nisations - Statute seien auf ungesetzlichen Wege durch eine dem Sinne und
Wortlaute des Gesetzes von 1876 zuwiderlaufende Oktrohirung des Mini¬
steriums zu Stande gekommen, daher selbst ungesetzlich, überdies materiell mit
jenem Gesetz nicht im Einklang. Wenn nun auch nach Lage der Dinge der
Versuch, der Rechtsüberzeugung der Universität Eingang zu verschaffen, als
fruchtlos angesehen werden müsse, so können doch, fährt die Erklärung fort,
ihre Mitglieder „der Pflicht der ferneren Mitwirkung an der Vermögens-Ver-
waltung sich nicht entschlagen und werden daher in der Ausübung dieser Pflicht
verharren, wobei sie erklären:
1. ) daß sie daß Zustandekommen der bestätigten Statute als einen im
Gesetze begründeten Akt nicht anerkennen können;
2. ) sich gleichzeitig dagegen verwahren, daß aus ihrer ferneren Mitwirkung
an der Vermögens-Verwaltung eine Folgerung auf die Gesetzlichkeit und Rechts¬
beständigkeit der betreffenden Organisations-Statute zulässig sei."
Getreu dieser Anschauung erschienen die sächsischen Mitglieder auch in der
ordentlichen Generalversammlung, die am 27. Dezember zusammentrat, um das
Budget für 1878 festzustellen. Aber hier wartete ihrer eine neue Ueberraschung.
Ein Erlaß Tisza's vom 22. Dezember trug der Universität „zur Wissenschaft
und Darnachrichtung" auf, in den Voranschlag für 1877 nachträglich noch
2000 Gulden als Gehalt für den Komes-Obergespan einzustellen! Er verlieh
also einer Bestimmung, die er selber erst am 13. Januar 1878 gegen den
Willen des Eigenthümers getroffen oder, wie die ungarische Logik es auffaßte,
„bestätigt" und jedenfalls erst im Laufe des Jahres 1877 gefordert hatte,
rückwirkende Kraft auf eben dieses Jahr. Selbstverständlich weigerte die
Generalversammlung mit allen gegen zwei (romanische) Stimmen sich rund
heraus, dieser unerhörten Forderung nachzukommen (25. Januar). Da aber
inzwischen der Obergespan als Komes der Sachsen sich eigenmächtig eine Amts¬
wohnung im Nationalhause zu Hermannstadt bewilligt, ja sogar nicht Anstand
genommen hatte, ohne Erlaubniß der Eigenthümern:, der Universität, den
Berathungssaal und andere Räumlichkeiten des Hauses zu Zwecken der Komi¬
tatsverwaltung zu verwenden, so stellte am 26. Januar die Finanzkommission
die Anträge, sich gegen die „eigenmächtige Okkupation" und die „gegen ihren
Willen fortgesetzte Benützung dieser Wohnung zu verwahren und sodann den
Gebrauch des Gebäudes zu den der Universität fremden Zwecken zu untersagen."
Also einfach ihr Hausrecht gegen die Eindringlinge wollte die sächsische
Universität behaupten. Der Komes-Obergespan Friedrich Wächter war anderer
Ansicht. Er wandte zwar nichts ein gegen die Berathung und Annahme des
ersten Antrags, als aber der zweite zur Vorlesung kam, knüpfte er daran
folgende „merkwürdige Aeußerungen": „Ich lasse mir nichts untersagen; ich
bin nur Sr. Maj. dem Könige und dem Minister verantwortlich. Die Univer¬
sität würde zufolge dieses Antrages ihren Wirkungskreis überschreiten. Ich
habe als Amtschef (nämlich des Universitätsamts) die Verwendung dieser
Lokalitäten zu bestimmen. Ich verbiete daher die Berathung und Beschlu߬
fassung über diesen Kommissionsantrag. Was ich thue, werde ich zu verant¬
worten wissen. Ich werde zeigen, daß ich der Selbstüberhebung, welche sich
die Nationsuniversität mir gegenüber anmaßt, und den fortwährenden Nörge¬
leien ihrer Vorgesetzten Schranken zu setzen weiß."
Fürwahr, ebenso logisch als parlamentarisch! Herr Wächter beliebte ganz
zu vergessen, daß, wenn ein Fremder sich erdreisten wollte, über die Räume
eines Privathauses ohne oder gar gegen den Willen des rechtmäßigen Besitzers
in seinem Interesse zu verfügen, dieser Besitzer ihn von Rechtswegen aus dem
Hanse werfe» würde, und daß alsdann eine Berufung des Hinausgeworfenen
an die Regierung oder sonst welche Autorität nur dazu führen müßte, den
Akt der Selbsthilfe des Eigenthümers anzuerkennen als sein gutes Recht. Das
würde wenigstens anderwärts geschehen.
Blicken wir noch einmal zurück. Das Gesetz von 1868 gcirantirt der
sächsischen Nationsuniversität die Fortdauer ihrer alten Selbstverwaltung (mit
Ausnahme der gerichtlichen Befugnisse), die ohne die Aufrechterhaltung der
Integrität des sächsischen Territoriums nicht denkbar ist.
1874 vernichtete eine einfache Verordnung das noch in voller Geltung
stehende Recht der Universität, sich über „allgemeine Angelegenheiten" (nämlich
solche, die sie auf's tiefste berühren) vernehmen zu lassen, und schließt gleich¬
zeitig ihre Sitzungen.
Das Gesetz vom 2. April 1876 hebt die acht Jahre zuvor garantirte
Selbstverwaltung auf, indem zugleich die Integrität des Königsbodens durch
die Neubildung der Komitate zerstört wird, läßt aber der umgestalteten Univer¬
sität das volle Eigenthums- und Verfügungsrecht über ihr Vermögen unter
Oberaufsicht der Regierung und so, daß der Hermannstädter Obergespan als
„Oberhaupt" des Universitütsamtes und Vorsitzender der Generalversammlung
fungiren soll.
Als aber 1877 die Generalversammlung auf Grund des Gesetzes von 1876
ihre Statuten entwirft und darin zwar sich die Selbständigkeit in ihrer Ver¬
mögens-Verwaltung möglichst wahrt, aber auch dem Oberanfsichtsrecht der
Regierung weitgehende Rechnung trägt, versagt Minister Tisza nicht nnr seine
Genehmigung, sondern fordert, zum Theil auf Grund ganz vager Vorschriften
des Gesetzes, die Aufnahme einer ganzen Reihe tiefeinschneidender Bestimmungen,
welche das sreie Verfügungsrecht thatsächlich vernichten, während doch jede
Interpretation eines Gesetzes, die gegen seinen Geist und seinen Zweck verstößt,
in sich selbst hinfällig ist.
Ein Protest der Mehrheit der Universität bleibt fruchtlos; ja als sie sich
weigert, die Statuten auf Grund der ministeriellen Verfügungen zu ändern,
behandelt dies der Vorsitzende als einen Verzicht ans ihr Berathungsrecht und
läßt die Statuten von einer Minderheit von zwei Abgeordneten in dem ge¬
wünschten Sinne feststellen. Der Minister aber bestätigt diese Entwürfe als
beschlossen durch die Generalversammlung. Noch mehr. Er fordert die Ein¬
stellung eines verweigerten Postens in den Etat für das abgelaufene Jahr, und
der Obergespan okkupirt nicht nur eine Amtswohnung im Nationalhanse, sondern
verwendet dessen Räume zu Komitatszwecken und verbietet dem Mandatar des
Eigenthümers, der Generalversammlung, die Wahrung feines Hausrechts.
Traurig genug, wenn die ungarische Freiheit solche Blüthen zeitigt, wenn
sie für die nichtmagyarische Mehrheit im Reiche der Stephanskrone nur die
Willkür des herrschenden Stammes bedeutet! Traurig vor allem für die
Magyaren selber, deren Fähigkeit, einen großen buutzusammengesetzten Staat zu
regieren, niemals in bedenklicherem Lichte erschien als in diesen Verhandlungen.
Wie anders sind in analogen Fällen deutsche Regierungen verfahren! Als
die sächsische Verfassung vom 4. September 1831 mit den auf ihr beruhenden
Organisationsgesetzen das gesammte bis dahin sehr verschiedenartig verwaltete
Gebiet des Königreichs unter ein Grundgesetz stellte und den einheitlichen
Landtag schuf, da blieb laut förmlichen Vertrags (9. Dezember 1834) der
Oberlausitz sächsischen Antheils ihr altständisch gegliederter Sonderlandtag mit
dem freien Verfügungsrechte über das beträchtliche landständische Vermögen
unter eigener Verwaltung vollkommen ungeschmälert, und niemals hat die
königlich sächsische Regierung ihr Oberaufsichtsrecht zu Eingriffen in das Recht
der Stände gemißbraucht. Ebenso ließ Preußen in dem 1815 erworbenen
Antheil an der Oberlausitz und in der Niederlausitz die alten Stände bestehen,
obwohl jener mit der Provinz Schlesien, diese mit Brandenburg vereinigt
wurde, und so in jeder dieser Provinzen nach der Provinzialstände-Verfassung
von 1824 mehrere altständische Vertretungen nebeneinander bestanden. Und
bekanntlich hat seitdem die preußische Regierung, weit davon entfernt, die Selbst¬
verwaltungsrechte ihrer Provinzen einzuschränken, vielmehr den provinzialen
Körperschaften große Kapitalien aus den französischen Kriegsgeldern über¬
wiesen, so gut wie die sächsische dies den neugeschaffenen Bezirks-Vertretungen
gegenüber that. Als ferner im Jahre 1876 das Herzogthum Lauenburg dem
preußischen Staate förmlich einverleibt wurde, da verblieb kraft des zwischen
beiden Kontrahenten abgeschlossenen Vertrages dem kleinen Ländchen von 20
Quadratmeilen und 49000 Einwohnern sein Landes-Kommunalverband als
besonderer kreisständischer Verband mit dem Rechte einer Korporation und in
seiner bisherigen Zusammensetzung, sogar mit dem Rechte seiner Ritter- und
Landschaft, bei Gesetzen, welche den Kreis allein betreffen, ein Gutachten abzu¬
geben und Petitionen und Beschwerden an die Staatsregierung zu richten.
Dieselbe preußische Regierung hat in den 1866 durch Eroberung (!) gewon¬
nenen Provinzen nicht nur die alte mit der altpreußischen gar nicht überein¬
stimmende Eintheilung zum großen Theile beibehalten (in Hannover die Land-
drosteien, in Nassau die Amtsbezirke, obwohl dies mit dem wiederum verschieden
organisirten ehemaligen Kurhessen zu einer Provinz verbunden ist), sondern
auch in Hessen-Nassau die beiden alten Landtage als „Kommunal-Landtage"
belassen und dem hessischen Lande Eigenthum und Verfügungsrecht über den
großen kurhessischeu Staatsschatz niemals bestritten.
Deutsche Regierungen haben es also mit der Wahrung der Staatseinheit
und ihrer Autorität sür vollkommen verträglich erachtet, sehr verschiedenartige
Verwaltungsformen nebeneinander bestehen zu lassen, altständische Körperschaften
zu erhalten, ihnen ein weitgehendes Verfügungsrecht über ihr Eigenthum zu
gewährleisten. Selbst auf dem Boden eroberter Landschaften ist dies geschehen,
geschehen in der Ueberzeugung, daß ein starker Staat lokale Eigenthümlichkeiten
dieser Art ohne Schaden ertragen könne. Und wann fiele es einer deutschen
Regierung ein, etwa einer städtischen Gemeinde gegenüber dem mit der Ober¬
aufsicht über dieselbe betrauten Regierungsbeamten die Verwaltung der Stadt
selbst und die freie Verfiigung über deren Eigenthum zu übertragen, außer im
äußersten Nothfall? So aber ist das Ministerium Tisza mit der sächsischen
nations-Universität verfahren! Und doch war das sächsische Territorium kein
erobertes Land, doch waren ihm seine Rechte wiederholt feierlich gewährleistet,
doch verlangten die Sachsen selbst auf dieser Grundlage nichts weiter für sich,
als was jedem ungarischen Komitat an Selbstverwaltungsrechten zuerkannt
worden war!
Selbst nach diesen niederdrückenden Erfahrungen ist den Sachsen der Muth
nicht gebrochen, denn er beruht auf dem Bewußtsein ihres guten Rechts. Ihre
Abgeordneten konnten deshalb den Rechenschaftsbericht über die Verhandlungen
von 1877 und 1878") vollberechtigt mit dem Satze schließen: „Das Urtheil
über unser Verhalten stellen wir mit ruhigem Gewissen unseren Wählern an¬
heim." Wir sind deshalb überzeugt, daß die Magyaren auch in Zukunft
jene Erfahrung an den Sachsen machen werden, welche Graf Egmont dem
Herzog Alba bei seinen niederländischen Landsleuten warnend voraussagt:
„Zu drücken sind sie, nicht zu unterdrücken."
Wenn man sich anschickt, über eine so viel und heiß umstrittene Frage zu
reden, wie es der Sozialismus ist, so bedarf es, obwohl im Folgenden nur
ein historischer Beitrag dazu geliefert werden soll, vor allem einer Verständi-
ung über den Begriff desselben. Es ist bekannt, daß über ihn seine Vertreter
selbst nicht einig sind, und daß es so viele Definitionen desselben als Richtungen
und Parteischattirungen gibt. Dies gibt uns ein Recht, den Umfang des Be¬
griffes für unsern Zweck nach eignem Ermessen zu bestimmen. Im Interesse
der Ausführlichkeit und Deutlichkeit unserer Darstellung geben wir ihm die
möglichst weite Ausdehnung und nennen — natürlich nur in Bezug auf unsere
spezielle Aufgabe —'Sozialismus alle Bestrebungen, die auf eine Heranziehung
einer immer größeren Zahl von Bürgern zur Theilnahme an der Staats-
souveränetät und auf eine Unterwerfung auch der rein gesellschaftlichen Elemente,
wie der Sitte, der Erziehung, der Arbeit, des Erwerbs, der Familie, unter
diese Souveränetät gerichtet sind. Der Sozialismus ist offenbar nichts als
eine erhöhte Potenz der Demokratie. Jede demokratische Bewegung enthält
sozialistische Faktoren. Selbstverständlich werden wir über die bekannten Haupt-
entwickelungsstnfen der Demokratie im alten Hellas schnell hinweggehen und
nur bei Elementen und Zügen von entschiednerem und dem modernen Begriffe
sich annähernden sozialistischen Gepräge verweilen. Wir werden dabei sowohl
auf die zur That gewordenen als auf die Theorie gebliebenen Bestrebungen
eingehen, beides aber rein geschichtlich und ohne weitere Kritik zu entwickeln
suchen.
In den staatlichen Zuständen des ältesten Griechenland, wie wir es uns
aus den Ueberlieferungen der homerischen Gedichte rekonstruiren müssen, herrschte
die patriarchalisch-königliche und die aristokratische Regierungsweise vor, die als
von den Göttern eingesetzt und nach dem Muster der olympischen Herrschaft
geordnet galt. Der König allein oder mit dem Rathe der Alten und Edlen
faßt Beschlüsse und trifft Anordnungen; das Volk wird in Krieg und Frieden
nur berufen, die Anordnungen zu vernehmen. Dagegen genießt der Einzelne
im eigenen Volke volle persönliche Freiheit, ist auf seinem Grund und Boden
unumschränkter Herr und leistet Gehorsam, Kriegsfolge, Abgaben nur in Ueber¬
einstimmung mit der Sitte und mit dem Willen der Gesammtheit. Noch gibt
es keine Gesetzgebung; es herrscht die bei den verschiedenen Stämmen und
Volksgemeinden natürlich verschiedene Tradition und Sitte im Privat- wie im
öffentlichen Leben. Der Sitte und dem Herkommen wagen auch die Mächtigen
nicht leicht zu widerstehen; dem Willen der Gesammtheit beugen sich auch die
Edeln und die Herrscher.
Somit zeigt sich schon in der ältesten Zeit die entschiedene Tendenz zur
republikanischen Staatsform, welche in der historischen Zeit als der fundamen¬
tale Charakterzug aller hellenischen Stämme erscheint. Die Monarchie hat bei
den Hellenen nur als ein kurzes Uebergangsstadium und später in der Periode
des Verfalles auftreten können. Die wesentlichsten Partieen der hellenischen
Geschichte spielen sich in den Freistaaten ab; die welthistorische Bedeutung des
Griechenthums ist auf republikanischen Boden erwachsen.
Das alte Hellas ist das Land, in welchem auf der weitesten Skala Staats-
theorieen ersonnen und Experimente mit den verschiedensten Verfassungsformen
angestellt worden sind. Aristoteles hatte i» seinem leider verlorenen Werke
„Die Verfassungen" über hundertundsiinfzig Staatsverfassungen beschrieben,
von denen bei weitem die meisten in hellenischen Staatsgemeinden in Wirk¬
samkeit waren oder gewesen waren. Daß die Mehrzahl der letzteren auf repu¬
blikanischer Basis beruhten, wird nicht nur durch die uns genauer bekannten
Verfassungen, sondern auch durch die in Aristoteles' „Politik" uns erhaltene
Theorie des hellenischen Staates im Allgemeinen bestätigt, welche offenbar aus
der umfassenden Betrachtung des Bestehenden geflossen und als die Quintessenz
der wesentlichsten und am weitesten verbreiteten Staatsmaximen anzusehen ist.
Die Theorie nun zeigt uns den hellenischen Staat als eine eminent soziale
und humanitäre Anstalt. Wird von vielen Neueren als Zweck des Staates
der Rechtsschutz seiner Angehörigen hingestellt, so nimmt sich die moderne An¬
sicht gegenüber der des Aristoteles geradezu kleinlich aus. Für ihn besteht der
Staatszweck darin, daß er den Bürgern die Möglichkeit liefere, „gut zu leben",
d. h. „glücklich und würdig zu leben"; unter Glück aber versteht er „das
tugendgemäße Wollen und Handeln". Da hierzu Freiheit des Handelns un¬
erläßlich ist, so ergibt es sich von selbst, daß in seinem Staate keine andere
Herrschaft als die von möglichst guten, auf dasselbe Ziel gerichteten Gesetzen
zulässig ist, und daß der Einzelne nicht nur seinen Willen mit dem der Ge¬
sammtheit in Einklang zu setzen, sondern auch sich selbst wesentlich als ein
Werkzeug des Ganzen zu betrachten hat. Die Gesammtheit kann nnr „gut
leben", wenn der Einzelne gut lebt; der Einzelne kann nur glücklich sein, wenn
das Ganze glücklich ist; der Einzelne aber als Theil muß sich dem Wohle des
Ganzen unterordnen und im Kollisionsfalle jenem das eigne Wohl opfern.
Dies etwa kann man, um anderes hier zu übergehen, als die Grund¬
prinzipien des hellenischen Staates im Allgemeinen ansehen. Man sieht aber,
wie viel Keime sozialistischer Entwickelung darin liegen, und diese Entwickelung
ließ denn auch in den einzelnen Staaten nicht lange auf sich warten.
Da das. Wohl der Gesammtheit der beherrschende Gesichtspunkt war, so
mußte die Gesetzgebung jenes zur Richtschnur nehmen und die Freiheit des
Einzelnen soweit beschränken, als sie mit dem Hauptzweck unvereinbar schien.
Der ackerbauende und viehzuchttreibende Theil der Bevölkerung galt den Alten
als das Herz und der Kern des Staates. Die Handwerker und Kaufleute
erschienen ihm gegenüber als untergeordnet. Dagegen war die bewaffnete
Macht von großer Wichtigkeit. Da die Menschen von der Natur mit ganz
abweichenden Anlagen und Fähigkeiten begabt sind, und der Einzelne nicht
Umsicht, Selbstkenntniß und Selbstverleugnung genug besitzt, um sich an den
Platz zu stellen, an dem er dem Ganzen am nützlichsten sein kann, so weist
nach Möglichkeit der Staat ihm seine Aufgaben an. Die Gesetzgebung sorgte
für das Ansehen und die Erhaltung des ackerbauenden Standes, der in vielen
Staaten als der vornehmste galt und Vorrechte genoß. Den Handwerkern
wurden vielfach nur geschmälerte oder gar keine staatsbürgerlichen Rechte zu¬
gestanden. Waffen zu tragen war zugleich Pflicht und Recht nur der Voll¬
bürger. Von einer Gleichberechtigung aller Staatsangehörigen, wie sie das
moderne Ideal ist, war bekanntlich in Griechenland nirgends die Rede. Selbst
die ausgesprochenste Demokratie konnte sich nicht ohne einen Sklavenstand be¬
helfen, und auch die freie Bevölkerung zerfiel meistens in die mit ungleichen
Rechten ausgestatteten Voll-, Halb- und Nichtbürger. Nur die Ersten pflegten
zur Theilnahme an der Regierung, den Aemtern, Gerichten und Volksversamm¬
lungen berechtigt zu sein. Die Zweiten besaßen mit jenen das Recht des
Grundbesitzes, des selbständigen Gerichtsstandes und der Epigamie, was den
Letzten fehlte.
Bei der Betrachtung der speziellen Verfassungen soll noch gezeigt werden,
welcherlei sozialistisch zu nennende Elemente sich in den politischen Ordnungen
vorfinden. Hier mag zuvörderst des zweiten Hauptmomentes gedacht werden:
der allgemein anerkannten Kompetenz des Staates auch auf den nichtpoliti¬
schen Lebensgebieten. Der Gedanke der heutigen Sozialisten, das Gesammt-
leben der Bürger unter die Aufsicht des Staates zu stellen, ist in mehV oder
minder weitem Umfange schon in den alten Kulturstaaten realisirt gewesen,
um dann von der unter Beihilfe des Christenthums fortschreitenden Entwicke¬
lung der persönlichen Freiheit überwunden zu werden. Der hellenische Staat
gab Vorschriften über die körperliche Ausbildung, die Lebensweise, die Diät,
die Wohnung, Kleidung und die Sitten seiner Bürger, beaufsichtigte deren sitt¬
liches und religiöses Verhalten, ja sogar ihre künstlerische und wissenschaftliche
Thätigkeit und scheute sich nicht, gegen philosophische Lehrmeinungen einzu¬
schreiten, sobald sie den Staatszweck zu gefährden schienen, eine Maxime, welche
die modernen Sozialisten sicherlich in ihrem Staate wieder zur Geltung bringen
würden, so sehr sie auch deren Anwendung gegen sich selbst bekämpfen.
Das im Beginne der historischen Zeit, d. h. in den ersten Jahrhunderten
nach der dorischen Wanderung, noch überwiegend herrschende Königthum ging
naturgemäß zunächst in die Oligarchie über. Aus ihr gingen vielfach Tyran¬
nenherrschaften hervor, und erst nach deren gewaltsamer Beseitigung kam die
Demokratie auf, welche dann die weitest verbreitete Staatsform wurde. Die
Einrichtungen der oligarchischen Staaten gingen in erster Linie darauf aus,
die Herrschaft der bevorrechteten Klassen zu stärken und zu erhalten. Diesem
Zwecke diente die Fernhaltung der Minderberechtigten von den Aemtern und
dem Waffendienste, die strenge militärische Erziehung der Vollbürger in Kreta
und Sparta, die Sittenpolizei in diesen und anderen Staaten, die Gesetze über
Unveräußerlichkeit der Grundstücke und Unteilbarkeit derselben, über das
Konubium unter den verschiedenen Ständen und über die Erb Verhältnisse. So
durften in Elis die Güter nur bis zu einem bestimmten Bruchtheil ihres
Werthes mit Schulden belastet werden. Philolaos gab in Theben besondere
Gesetze über die Adoption, und Pheidon versuchte in Korinth dafür Sorge zu
tragen, daß die Güter nicht vermindert und die Bürgerzahl nicht vermehrt
würde — gewiß von seinem Standpunkte aus eine wahrhaft sozialistische Be¬
strebung, wenngleich nur auf das Wohlergehen einer kleinen Zahl der Staats¬
angehörigen gerichtet, die aber streng genommen allein die Bürgerschaft aus¬
machten.
Eine Demokratie im modernen Sinne und speziell eine solche, wie sie der
Sozialismus als nothwendige Voraussetzung ansieht, hat es in Griechenland
nie gegeben. Alle, auch die fortgeschrittensten hellenischen Demokratien müssen
unsern Sozial-Republikanern noch als ganz unbefriedigende und unerträgliche
Oligarchieen erscheinen, weil in allen ein bedeutender Theil der Bevölkerung
der politischen, rechtlichen und sozialen Gleichstellung ermangelte. Dessenunge¬
achtet kann man ganz extrem-sozialistische Elemente in ihnen finden, die aber
natürlich nur für den Kreis der wirklichen Bürger oder für ihr Wohl berechnet
waren, da die Uebrigen eben gar nicht in Betracht kamen. Für diese Art des
Sozialismus war eine wahre sozialdemokratische Regierungsform so wenig
Voraussetzung, daß wir ihn sogar in den oligarchischen Staaten in höherem
Grade entwickelt finden, und mehrere der entschiedenen Demokratie sogar feind¬
liche Gesetzgeber und Staats-Theoretiker ihm in ausgedehntem Maße huldigen.
Sehr frühzeitig sind in Griechenland politische Denker aufgetreten, welche
sich mit Reformen des staatlichen sowie des sozialen Lebens beschäftigt und
Staatstheorieen aufgestellt, zum Theil auch praktisch durchgeführt haben. Unsere
Kenntniß davon ist leider eine fehr fragmentarische. Der Theosoph Epimenides
von Kreta, der als Greis 596 nach Athen berufen wurde, begnügte sich nicht,
dort den Kultus zu reorganisiren, sondern suchte auch staatliche Reformen
herbeizuführen und das sittliche Verhalten zu regeln; ebenso scheint er in
Sparta auf die Ordnung der staatlichen Verhältnisse von Einfluß gewesen zu
sein. Aehnlich haben Chilon in Sparta, Bias in Priene, Kleobulos in Lindos,
Lykurg und Solon gewirkt. Einer der bedeutendsten theoretischen Reformatoren
war im 6. Jahrhundert Pythagoras, der in Kroton jenen Bund stiftete, welcher
nicht blos als eine philosophisch-religiöse Sekte zu betrachten ist, sondern auch
Politische Reformtendenzeu verfolgte und sich in politischen Klubs fortpflanzte.
Auch Empedokles, Parmenides und Zenon sowie der Sophist Protagorns
haben sich mit Verfassungsreformen beschäftigt. Phaleas von Chalkedon stellte
den Entwurf eines Jdealstaates auf, in welchem zum ersten Male die kühne
Forderung der Besitzgleichheit auftrat, welche er u, a. dadurch erhalten wissen
wollte, daß bei Verheiratungen die Reichen Aussteuer geben, aber nicht erhalten,
die Armen erhalten, aber nicht geben sollten, Hippodamos, ein Baumeister von
Milet, der um 450 nach Athen kam und für seine Straßenanlagen im Peirüeus
das Bürgerrecht erhielt, war, wie Aristoteles sagt, der erste Nicht-Staatsmann,
der es unternahm, etwas über die beste Verfassung zu sagen. Das herrschende
Prinzip in seinem Staatsanfbau, den er streng symmetrisch wie eine Stadt
oder ein Hans eingerichtet wissen wollte, war die Dreitheilung. Er gab ein
Schema an, nach welchem nicht blos die äußere Einrichtung der Stadt, sondern
auch die Gliederung der Stände, die Zahl der Bürger, die Art ihrer Beschäf¬
tigung u. s. w. streng zu regeln war — also die Jdecilkaserne des sozialdemo¬
kratischen Zukunftsstaates. In Thurioi, wohin er sich etwa 440 begab, stand er
in Verbindung mit den Sophisten und Pythagoreern; an den Einfluß der
letzteren erinnert seine aristokratische Staatsgliederung und die geforderte Güter¬
gemeinschaft. Auch Lysander hinterließ eine Schrift, welche, durch Kleon von
Halikarnaß angefertigt, seine Ansichten über die in Sparta nothwendige Ver¬
fassungsänderung darlegte. Die Spartaner trugen Bedenken, sie bekannt werden
zu lassen, und wir wissen daher nur, daß er eine einheitliche Staatsgewalt
dadurch herstellen wollte, daß die Königswürde durch Vvlkswahl auf den tüch¬
tigsten Mann übertragen würde.
Am fruchtbarsten an politischen Reformideen und an idealen Staatskon¬
struktionen war die Zeit der Sophisten; in ihr finden wir anch die meisten
Neigungen und Forderungen sozialistischen Gepräges, zum großen Theil Utopieen,
die niemals realisirt worden sind.
Seitdem die Sophisten die Normen für Recht und Wahrheit nicht mehr
in der Realität und Empirie, sondern im Geiste des Individuums zu suchen
gelehrt hatten, und nur Jeder sein persönliches Urtheil über Staat, Gesellschaft
und Wissenschaft als gleichberechtigt mit jedem andern ansah, mußte in dem¬
selben Maße, wie die Achtung vor dem Bestehenden schwand, das Bestreben
sich entwickeln, die dem Individuum zusagenden Ordnungen an dessen Stelle
zu setzen. Dies Bestreben charakterisirt die sozialpolitischen Theoreme der
Sophisten. Ohne daß sie, wie die früher genannten Philosophen, in eigener
politischer Thätigkeit die nöthige Erfahrung gesammelt hatten, konstruirten sie
sich einen „besten Staat" aus der Idee und traten mit fertigen Theoremen
vor ihre Schüler, mit der Prätension, sie durch dieselben zur staatlichen Praxis
tüchtig zu machen. Es war das erste Mal, daß man das Bestehende in Staat
und Sitte kurzweg verwarf und von Grund aus umwälzen wollte. Die frü¬
heren Staatsphilosophen hatten, erfahrener und bedächtiger, die durch Jahr¬
hunderte lange Entwickelung bestimmten Grundlagen des Baues unangetastet
gelassen und nur unter Respektirung des bestehenden Organismus hie und da
die reformirende Hand angelegt. Jetzt erscholl von den Kathedern der Sophisten
der Ruf, daß der ganze Bau ein Werk des Unverstandes und des Übeln
Willens sei und deshalb einem neuen Platz machen müsse. Die Forderung
Positiver Vorschläge für eine Neugestaltung würde sie freilich in große Ver¬
legenheit gesetzt haben, wenn nicht eben das sophistische Grundprinzip über
Alles hinweggeholfen hätte. „Wie einem Jeden ein Jegliches scheint, so ist
es", würden sie geantwortet haben; „richtet euren Staat ein, wie ihr wollt, er
wird immer nur für den gut sein, dem er gut scheint". Wie schon bemerkt,
soll der älteste der Sophisten. Protagoras, für die ätherische Kolonie Thurioi
die Gesetze ausgearbeitet haben. Gorgias erklärte es für naturwidrig, daß die
Differenz der Staaten und ihrer Gesetze die Menschen trenne und entfremde,
die doch von Natur alle verwandt seien; er ist also als der erste Jnternatio-
ualist anzusehen. Auch erschien ihm die Verschiedenheit und Wandelbarkeit der
Gesetze als ein starkes Argument gegen ihre Hochschätzung.
Sokrates ist ein Anhänger der Sophisten „in der Tendenz einer Verselb-
ständigung des Einzelnen und in dem gemeinsamen Gegensatze gegen eine un¬
mittelbare, reflexionslose Hingebung an die Sitte, das Gesetz und den Glauben
seines Volkes und Staates"; aber er unterscheidet sich, was seine Ankläger und
Richter außer Acht gelassen haben, von den Sophisten entschieden dadurch, daß
er eine ewige und objektive Wahrheit anerkannte und die Moral neu und tiefer
zu begründen suchte, indem er sie mit der Vernunft in Einklang setzte. Die
Einheit zwischen vernünftiger Einsicht und sittlicher Thätigkeit zu erweisen,
machte er sich zur Lebensaufgabe. Das Gute war ihm mit dem Schönen und
Nützlichen identisch; das Glück sah er lediglich im tngendgemäßen Handeln.
Daher legte er der Staatsform keinen bedeutenden Werth bei und hielt sich,
wenngleich er seine Bürgerpflichten auf's gewissenhafteste erfüllte, von politi¬
scher Thätigkeit fern. Sein politischer Grundgedanke war der, daß dem Ein¬
sichtigen die Herrschaft gebühre, weshalb er die Ernennung der Beamten durch
Loos und allgemeine Volkswahl tadelte.
Auch Sokrates' größter Schüler. Platon, stand auf dem Boden der Unab¬
hängigkeit von herkömmlichen Satzungen und der Souveränetüt des menschlichen
Geistes. Er, dem es beschieden war, die sämmtlichen vorangegangenen Rich¬
tungen der philosophischen Entwickelung zusammenzufassen und zum Abschluß
zu bringen, machte sein philosophisches Denken von aller und jeder Beeinflus¬
sung seitens der Außenwelt und der gegebenen Verhältnisse frei, erhob sich
über die Schranken von Raum u?d Zeit und konstruirte sich ebensowohl die
Ethik als die Logik und Physik rein und ausschließlich nach der Idee. Nicht
mit Unrecht wird unter allen von Platon behandelten Disziplinen seine Jdeenlehre
als der Kernpunkt und der charakteristischste Theil seiner Philosophie betrachtet.
Von der Idee ging Alles bei ihm aus.
Dies erklärt auch sein politisches System. Im Einklange mit der Existenz-
Priorität, die er den Ideen zuschrieb, nahm er an, daß die Idee des Staates
vor dem Staate existirt habe, und zwar in vollster Harmonie mit der ganzen
übrigen Ideenwelt. Ein guter Staat muß in möglichstem Einklange mit der
Idee stehen, der er seine Genesis verdankt, und von der er ein sichtbares Abbild
sein soll. Diesen Einklang entdeckte Platon in keinem der bestehenden Staats¬
wesen; im Gegentheil schienen ihm alle nur Zerrbilder zu sein, in denen ein
Weiser nicht die geringste Befriedigung finden könne. Alle geltenden Verfas¬
sungen schienen ihm so verwerflich und verbesserungsunfähig, daß er glaubte,
sich von jeder Theilnahme am politischen Leben fern halten zu müssen, und
nur in einer vollständigen Neuordnung ein Heil sah. Er selbst stellte den bis
in's kleinste durchgeführten Entwurf eines Jdealstaates auf, der niemals reali-
sirt worden ist, aber trotzdem eins der interessantesten Vermächtnisse des Alter¬
thums bildet, und dies nicht nur, weil er uns die Ansicht eines der Weisesten
über den Staat und die Staaten vor Augen stellt, sondern anch weil er zeigt,
wie leicht in einem derartigen theoretischen Entwurf die erstaunlichsten Utopieen
neben praktisch bewährten, der Wirklichkeit entlehnten, sowie erst nach langer
Zeit zur Reife gedeihenden und in's Leben tretenden Elementen Platz finden.
Im Großen und Ganzen wird Jeder den platonischen Staat als utopisch
erkennen. Dies hindert nicht, daß viele seiner Ideen in der Folge — nament¬
lich in der katholischen Hierarchie — zur Ausführung gekommen sind, und
ebensowenig, daß viele thatsächlich bestehende Einrichtungen verschiedener grie¬
chischer Staaten in ihm Platz gefunden haben.
Der platonische Idealstaat hat außer mit der katholischen Hierarchie keine
Analogie mit irgend einer geschichtlichen Verfassungsform, sodaß man ihn
unmöglich unter eine der bekannten Kategorieen bringen kann. Müßte man
ihm eine generelle Bezeichnung geben, so wäre vielleicht die einer „aristokrati¬
schen Sozial-Republik" die geeignetste. Was an sozialistischen Elementen in
den griechischen Verfassungen seiner Zeit vorhanden war, hat Platon zum
größten Theil in seinen Entwurf aufgenommen, und man hat an ihm eine
bequeme Uebersicht derartiger Verfassungsnormen.
Verfassungsbestimmungen, die wir als sozialistische bezeichnen können, sind
in den hellenischen Staaten keineswegs erst mit dem Emporkommen der Demo¬
kratie aufgetreten. Der radikalste sozialistische Grundsatz ist der. daß das
Interesse der Staatsgemeinde selbst dem allerersten der Natur- und Menschen¬
rechte, dem Rechte auf Existenz, vorangesetzt wird. Dieser Grundsatz hat von
Alters her in Griechenland ganz allgemein gegolten. Die Kinderaussetznng ist,
wenn auch nicht immer ohne Einschränkung geübt, doch stets als berechtigt
angesehen worden. Das Kind, von welchem sür die Familie und die Gemeinde
kein Nutzen oder gar ein Nachtheil zu erwarten war, hatte kein Recht auf das
Leben; es konnte unbedenklich der Vernichtung preisgegeben werden.
Eins der wichtigsten Interessen des Staates ist die Erhaltung einer tüch¬
tigen Bevölkerung. Deshalb war es allgemein anerkannt, daß auch die Ehe¬
schließung und Kindererzeugung und -Erziehung unter die Aufsicht des Staates
fallen müsse, und nur in dem Grade und der Art der Kontrole finden sich
Verschiedenheiten; Sparta war der Staat, welcher dieser Frage, soviel wir
wissen, die meiste Sorgfalt zuwendete. Der spartanische Bürger war verpflichtet,
zu heirathen, wenn er im Besitze eines Hausstandes war, und die Vernach¬
lässigung dieser Pflicht wurde mit Entziehung von Ehrenrechten bestraft. Damit
acht genug, schritt der Staat auch gegen zu späte und gegen unpassende Ehen
ein und verlangte die Erfüllung des Zweckes der Ehe. Kinderlose Ehen mußten
getrennt werden. Der König Anaxandridas sollte sein kinderlose Frau ver¬
stoßen und mußte, als er sich dazu nicht verstehen wollte, im öffentlichen
Interesse eine zweite dazunehmen. Der König Aristodemvs wurde von den
Ephoren getadelt, weil er eine Fran von kleiner Statur geheirathet hatte, von
der zu befürchten stand, daß ihre Nachkommen mit körperlichen Mängeln be¬
haftet sein könnten, was sich bei der Geburt des Agesilaos in gewissem Sinne
bestätigte. Im ersten messenischen Kriege wurden, weil bei dem großen Verluste
an Männern viele Häuser einzugehen drohten, den kinderlosen Wittwen und
unverheiratheten Töchtern Heloten beigesellt, aus welchen Verbindungen die
Parthenier hervorgingen. Platon treibt das Prinzip auf die Spitze. Für ihn
ist der Staat eine große Zuchtanstalt, in welcher nur der allgemeine Nutzen
für die eheliche Vereinigung maßgebend ist. Unter den Männern vom 30. bis
zum 55. Lebensjahre und den Weibern vom 20. bis 40. Lebensjahre wird nur
den schönen und kräftigen die Vereinigung miteinander gestattet. Unschöne
und schwächliche Männer dürfen nur mit ebensolchen Weibern verkehren. Nur
gesunde und wohlgebildete Kinder werden aufgezogen; die von schlechten Eltern
oder mit Fehlern geborenen werden ausgesetzt. Letztere Bestimmung war direkt
der spartanischen Sitte entnommen, nach welcher eine aus den Aeltesten der
Phyle bestehende Kommission darüber entschied, ob ein neugebornes aufzuziehen
"der am Taygetos auszusetzen sei. In den kretischen Staaten müssen analoge
Bestimmungen über die Verbindung der Geschlechter und die Erziehung des
bürgerlichen Nachwuchses geherrscht haben. In Athen brachte es die größere
individuelle Freiheit gegenüber der staatlichen Bevormundung mit sich, daß die
Aufziehung oder Aussetzung der Kinder wenigstens in das Belieben der Eltern
gestellt ward, und die wachsende Humanität machte die Aussetzung immer seltener.
In Lakedämon bekundet sich weiter das sozialistische Prinzip in der ganzen
Einrichtung der Jugenderziehung. Nur bis zum siebenten Jahre wurde der
Knabe dem elterlichen Hause und den weiblichen Händen überlassen, aber auch
dies nicht ohne daß der Staat ein Auge darauf hatte, daß die Erziehung eine
zweckmäßige sei. Mit dem siebenten Jahre aber wurde der Knabe dem Hause
entnommen und mit seinem Eintritt in eine der Knaben-Abtheilungen unter
die direkte Erziehung und Beaufsichtigung des Staates gestellt. Von den staat¬
lichen Oberen wurde ihm nun auf's genaueste seine Diät und Lebensweise
vorgeschrieben, seiue Spiele und Beschäftigungen geleitet, seine körperliche und
geistige Entwickelung dirigirt. Denn der Spartaner sollte nicht sich oder seiner
Familie, sondern dem Gemeinwesen angehören, und die Pflichten gegen dieses
waren die höchsten, welche er kannte. Daher auch das enge familienhafte Ver¬
hältniß nicht blos der Männer unter sich, sondern auch zwischen ihnen einer¬
seits und der Gesammtheit der Knaben andrerseits, welches die Annehmlichkeiten
der Familie in einer dem Interesse des Staates entsprechenden Weise ersetzen
sollte. In Sparta wie in Kreta wurden die Knaben zu den Männerwahlen
und -Versammlungen mitgenommen, und die Männer bethätigten großes Inter¬
esse an den Spielen und Uebungen jener. Jeder Erwachsene sollte von der
Jugend als ein Vater betrachtet und geehrt werden und hatte das Recht, zu
ernähren, zu tadeln und zu strafen. Bei Platon ist dieses Verhältniß, gestützt
auf die Weibergemeinschaft, in der absolutesten Weise durchgeführt. Die Kinder
dürfen ihre Eltern gar nicht kennen, und ebenso umgekehrt. Jeder Knabe soll
in allen Männern seine Väter, in allen Altersgenossen seine Brüder sehen und
sich des entsprechenden Benehmens befleißigen; auch sollen die Namen „Vater",
„Mutter," „Bruder," „Sohn" ohne Unterschied von Allen gebraucht werden.
In dem engen familienhaften Verkehr und dem vorbildlichen Verhältniß, das
die ganze männliche Bevölkerung verband, sah man in den dorischen Staaten
das beste Mittel, den Gemeinsinn lebendig zu erhalten und die Bürgertugenden
fortzupflanzen. Denselben Sinn haben auch — wenigstens in der Zeit der
guten Zucht und Sitte — die durchaus nicht auffälligen engen Freundschafts¬
bündnisse und zärtlichen Verhältnisse zwischen Personen desselben Geschlechtes
gehabt. Sie waren der Ausdruck reiner Freundschaft, bei den Joniern oft
verbunden mit Schönheits-Begeisterung, und nur selten und spät haben sie sich
der allbekannten häßlichen Ausschreitungen schuldig gemacht. Daß derartige
Ausschreitungen der Vernachlässigung des Familienlebens und dem einseitigen
staatlichen Männerkultus mit zur Last fallen, ist nicht zu leugnen.
Die dorische Knabenerziehung ging einzig darauf aus, gehorsame Bürger
und tüchtige Krieger heranzuziehen, und dies ist in Sparta durch die lykur¬
gische Gesetzgebung vollständig erreicht worden. Dagegen blieb die geistige
Bildung sehr eng begrenzt, und die Künste, die bei den Joniern so ausgedehnte
Pflege fanden, wurden offiziell fast perhorreszirt. Nur die Musik war wegen
ihres sittigenden Einflusses unter die vorschriftsmäßigen Unterrichtsgegenstände
aufgenommen, wurde aber deshalb auch in ihrer Entwickelung sorgsam beauf¬
sichtigt und verdächtige Neuerungen schroff abgewiesen. Daher konnte die
Wirksamkeit eines Terpander, Thaletas und Tyxtäos in Sparta eine entschieden
offizielle sein und die Ephoren sich für verpflichtet halten, dem Phrynis und
Timotheos die siebente Saite von der Lyra abschneiden zu lassen. In der¬
selben Weise will Platon die Musik wegen ihrer pädagogischen und moralischen
Bedeutung zu einem obligatorischen Unterrichtsgegenstände gemacht und unter
strenge staatliche Aufsicht gestellt wissen, während er mit den Spartanern alle
übrigen Künste gering achtet, was jedoch der allgemeinen hellenischen An¬
schauung keineswegs entsprach. Wenn in Athen das Gesetz den Unterricht in
der Musik und Gymnastik vorschrieb, so ist unter der ersteren bekanntlich Alles,
was damals zur geistigen Ausbildung gehörte, mit begriffen: Lesen, Schreiben,
Rechnen, Grammatik, Literatur und Tonkunst. Aber auch die Tanz-, Dicht-
nnd Schauspielkunst, sowie die bildenden Künste fanden in vielen Staaten
öffentliche Unterstützung, weil man wohl begriff, daß sie alle zur Förderung
der Bildung und zur Erholung und Erhebung der Seele geeignet seien. Dem
gebildeten Hellenen galt die Kunst nicht als ein untergeordneter äußerer Schmuck
des Lebens, noch weniger als ein bedenklicher Luxus, sondern als ein unent¬
behrliches Lebenselement und als nothwendig im Staatsorganismus. Die
Athener, welche so reichlich die Künstler unterstützten und auf die Kunstwerke
ihrer Stadt stolz waren, theilten durchaus nicht den Puritcmismus der Spar¬
taner und des Platon, welcher mit merklicher Geringschätzung von einer Stadt
spricht, die „angefüllt ist mit einer Schaar, welche nicht mehr des Bedürfnisses
wegen da ist, wie sämmtliche Jäger und Schauspieler und die zahlreichen
Bildner und Maler und musischen Künstler, die Dichter und deren Diener,
die Rhapsoden, Vortragenden, Tänzer" u. s. w.
Nicht das Wissen, sondern das Können galt den Alten als erstrebenswerth,
und auch das Können nur in seiner Verwerthbarkeit für die bürgerlichen Auf¬
gaben. Aus diesem Grunde wurden von den Wissenschaften nur die gepflegt,
welche auf den Staatszweck Bezug hatten, von den Künsten nur die geachtet,
welche einen bildenden Werth hatten, und aus demselben Grunde nahm überall
die Gymnastik eine so hohe Stelle ein; denn nur auf der Basis der körper¬
lichen Tüchtigkeit konnten alle andern Bürgertugenden zu voller Geltung kommen.
Daher in Sparta die Ausfüllung des ganzen männlichen Lebens mit gymna¬
stischen und Waffenübungen, in Kreta die strenge körperliche Zucht, welche
Platon „mehr die eines Heerlagers als einer Stadt" nennt, und selbst in Athen
eine ausgedehnte staatliche Pflege der Gymnastik, ans der Anschauung beruhend,
daß die leibliche Vollkommenheit und harmonische Ausbildung ebenso noth¬
wendig sei als die geistige.
Der gymnastischen Erziehung wurde bei den Doriern auch das weibliche
Geschlecht unterworfen. In Sparta und vermuthlich auch in Kreta ordnete
das Gesetz für die Mädchen körperliche Uebungen an. Sie wurden auf öffent¬
lichen Uebungsplätzen im Laufen, Springen und Speerwerfen geübt, trugen
dabei eine sehr leichte und unvollkommene Bekleidung und wurden dadurch so
sehr der Prüderie entwöhnt oder vielmehr vor ihr geschützt, daß sie unbedenklich
den Uebungen und Wettkämpfen der unbekleideten Jünglinge zuschauen konnten.
Die lakedämonischen Mädchen und Frauen litten dabei an ihrer Sittlichkeit
keinen Schaden; wohl aber wurden sie die schönsten und kräftigsten von allen
Helleninnen und find als solche auch von denjenigen Landsleuten, die nicht
dem gleichen Erziehungsprinzip huldigten, willig anerkannt worden. Daß der
spartanische Staat den Frauen als den Müttern der kommenden Bürgergene¬
ration besondere Aufmerksamkeit zuwendete und Pflichten auferlegte, ist schon
berührt worden. Doch ist keine Gesetzgebung darin nur annähernd so weit
gegangen als der Entwurf Platon's, der wegen der frappanten sozialistischen
Anklänge hier eine etwas ausführlichere Betrachtung verdient.
Platon sieht in den Weibern nicht blos die Mütter und ersten Ernährer
und Erzieher der zukünftigen Staatsbürger, sondern auch vollberechtigte Bürger,
die deshalb auf dieselbe Art der Ausbildung wie die Männer Anspruch haben.
Daher trägt er kein Bedenken, das weibliche Geschlecht in einem Maße, welches
nach seinem eigenen Geständniß anfangs lächerlich erscheinen muß, also jeden¬
falls weit über die hellenische Sitte hinausging, zu männlicher Thätigkeit her¬
anzuziehen. Sie sollen entblößt auf den Uebungsplätzen erscheinen und alle
gymnastischen Exerzitien durchmachen, sollen den Waffendienst leisten zu Fuß
und zu Roß und sollen gemeinsame Mahle und Wohnungen ungetrennt von
den Männern haben. Es war die „Emanzipation" des weiblichen Geschlechts
in einer Ausdehnung, wie sie von keinem Zweiten ernstlich gefordert worden
ist. Mit der griechischen Sitte stand sie in solchem Widerspruch, daß der Philo¬
soph sich bewogen fühlte, sie eingehender als seine übrigen Forderungen durch
psychologische und politische Gründe zu rechtfertigen.
Thatsache ist, daß der griechische Staat bis auf Platon nichts mit der
Frau anzufangen wußte. AIs Individuum paßte sie in kein Staatswesen recht
hinein, und an die Familie als ein selbständiges, dem Staats-Organismus fest
eingefügtes Glied dachte man noch nicht. Im Gegentheil hatte der Staat die
Familie immer als eine Art Nebenbuhler, ihre Ansprüche als den seinigen
feindlich betrachtet und deshalb ihren Einfluß nur immer zu beschränken und
zurückzudrängen gesucht. Weil man für das Staatsleben den Mann brauchte,
die Frau aber nicht brauchen konnte, so wurde damit das natürliche Verhält¬
niß der Geschlechter zerrissen und die naturgemäße Entwickelung der Familie
unterbunden. An dem gewaltigen Schaden der Rivalität zwischen häuslichem
und staatlichem Leben tränkten alle hellenischen Gemeinwesen. Zu seiner Be¬
seitigung gab es nur zwei Wege: Entweder mußte man die Familie als orga¬
nisches Glied im Staate anerkennen oder sie gänzlich in ihm aufgehen lassen.
Dem ersteren Zustande näherten sich — natürlich vor Aristoteles nur sehr
unvollkommen — die meisten nichtdorischen Staaten; den letzteren erstrebte man
in Sparta und Kreta, und ihn zeigt Platon's Entwurf in extremster Konse¬
quenz. Aristoteles erst erkannte das Weib als eine seelisch ebenbürtige, aber
in der Familie ihren vollen Wirkungskreis findende Gefährtin des Mannes,
die Familie als eine sittliche und natnrnothwendige Institution an und legte
damit den Grund zu einer naturgemäßen Auffassung der Ehe. Platon glaubte
das Ideal zu erreichen, indem er Mann und Weib als völlig gleichberechtigt
und gleichverpflichtet hinstellte, die Ehe aufhob und die Familie im Staate
aufgehen ließ.
Der Grundsatz, von welchem Platon ausgeht, ist der, daß zwischen beiden
Geschlechtern keine Wesensverschiedenheit, sondern in allen körperlichen und
Geisteskräften nur ein Gradunterschied bestehe. Abgesehen also von den ent¬
gegengesetzten natürlichen Funktionen, welche den beiden Geschlechtern auferlegt
sind, sind die Frauen zu allen Geschäften von Natur ebenso brauchbar und
berechtigt wie die Männer; nur können sie nicht ganz so viel leisten.
Wie man sieht, theilt Platon keineswegs die bei allen Griechen — am
wenigsten allerdings bei seinem Hauptvorbilde, den Spartanern — herrschende
Geringschätzung des weiblichen Geschlechts. Er leugnet aufs entschiedenste, daß
die Weiber Wesen untergeordneter Art, an Kräften und Fähigkeit dem Manne
weit nachstehend, der Theilnahme an höheren Interessen und Thätigkeiten un¬
fähig seien, und will sie deshalb zu allen bürgerlichen Geschäften ohne Aus¬
nahme herangezogen wissen. „Es sollen sich," sagt er, „die Frauen unserer
Hüter (des Kriegerstandes) entkleiden, da sie die Tüchtigkeit statt der Gewänder
anziehen werden, und sollen Theil nehmen am Kriege und der übrigen Hut
der Stadt und nichts anderes thun." Wenn er dies ausdrücklich für reali-
sirbar erklärt, so hat er ohne Zweifel wiederum die spartanischen Einrichtungen
vor Augen, welche bis zu einem gewissen Punkte jenem Prinzipe huldigten.
Seit alter Zeit genossen die Frauen in Sparta höhere Achtung und nahmen
eine einflußreichere Stellung ein als im übrigen Hellas. Von ihrer Erziehung
war schon die Rede. Sie wurden aber auch gewöhnt, an öffentlichen Interessen
Antheil zu nehmen und an Patriotismus den Männern nicht nachzustehen.
Wir hören, daß Lob oder Tadel der zuschauenden Jungfrauen den Jüng¬
lingen auf den Uebungsplätzen nicht gleichgiltig gewesen ist, und daß selbst in
Staatsangelegenheiten die Stimmen der Frauen nicht ohne Einfluß waren.
Die Heerverfassung und das Lagerleben in Sparta hob thatsächlich die Familie,
das häusliche Leben, die elterliche Erziehung und damit das natürliche Thätig¬
keitsgebiet des Weibes ans, oder schränkte es wenigstens wesentlich ein. Platon
schrieb die Vorzüge des spartanischen Gemeindelebens dieser Einschränkung zu
und glaubte sie auf den Gipfel zu bringen, wenn er das Familienleben gänzlich
beseitigte und der Frau die ganze Sphäre des Staatslebens öffnete. Die Auf¬
hebung der Ehe mußte nothwendig zur Weiber- und Kindergemeinschaft führen,
und Platon scheute sich nicht, diese Konsequenz zu ziehen und seinen Staat
auf unbegrenzte kommunistische Prinzipien zu gründen. Er weiß sehr wohl,
daß er sich in diesem Punkte am weitesten von der griechischen Sitte entfernt,
und daß er der am schwersten zu vertheidigende ist. Denn wenn auch die
Hellenen nie die hohe ethische Bedeutung der Familie vollständig erkannt haben,
so galten ihnen doch die Gatten-, Eltern- und Kindesliebe als menschliche und
edle Empfindungen. Aber er glaubt, indem er die Ehe auflöst, ihre edlen
Beziehungen von dem Einzelnen auf das Ganze zu übertragen, die enge Familie
zu erweitern und alle ihre Vorzüge dem Staate dienstbar zu machen, während
er in Wahrheit die edelsten Gefühle erstickt und die natürlichsten Bande aus¬
einanderreißt.
Karl Witte, neben Wegele der hervorragendste Kenner Dante's in Deutsch¬
land, hat den zuerst vor zehn Jahren von ihm veröffentlichten Dante-Studien
vor kurzem eine zweite Sammlung folgen lassen, welche durch die Güte der
Verlagshandlung uns zur Besprechung vorliegt.*) Der größere Theil der nun
in diesen beiden Bänden gesammelten Aufsätze wendet sich freilich an den engeren
Kreis der spezifischen Dante-Forscher und wird dort gewiß mit großem Danke
aufgenommen sein und noch aufgenommen werden.*) Haben doch alle irgend¬
wie beachtenswerten Erscheinungen auf dem betreffenden Gebiete vom zweiten
Dezennium unseres Jahrhunderts an bis in die Gegenwart herein hier eine
sorgfältige und eindringende Besprechung gefunden. Ueber den Gesammtinhalt
dieser Studien hier Bericht zu erstatten, kann daher nicht die Aufgabe dieser
Blätter sein. Wir halten uns an diejenigen Untersuchungen, die entweder
direkt an ein größeres Publikum gerichtet sind, oder wenigstens für ein solches
von Interesse sein können. Und daß wir uns dabei begnügen, wiederzugeben,
was wir gelernt haben, und darauf verzichten, dem Altmeister des Dante-Studiums
gegenüber etwa eine kritische Stellung einzunehmen, wird man einem bloßen
Bewunderer und Verehrer des großen Dichters, der keinen Anspruch darauf
erheben kann, sich zu den kompetenten Kennern zu rechnen, nicht verargen.
Unter den Aufsätzen, die hier in Betracht kommen, haben wir zwei Gruppen
zu unterscheiden. Die einen sind geschichtlicher Natur und beziehen sich theils
auf die Zeitverhältnisse, theils auf die Lebensumstände des Dichters; die anderen
find der Erläuterung seiner Dichtungen, besonders der göttlichen Komödie, ge¬
widmet. Was die ersteren betrifft, fo sind es drei Abhandlungen, die zunächst
unsere Aufmerksamkeit erregen: „Dante's Familienname", „Dante's Geburtstag"
„Dante's Gebeine in Ravenna".
- Den Familiennamen Dante's ist Witte geneigt auf „Aldighieri" als die
ursprüngliche Form zurückzuführen und diese als der germanischen Sprache
angehörig zu bezeichnen, in Uebereinstimmung mit H. Leo, Diez, Zacher, Pott.
Die Bedeutung dieses althochdeutsch „Alt-Ger" zu schreibenden Namens würde
dann entweder mit „Altspeer" wiederzugeben, oder, wie H. Leo will, durch
„Glanz des Zeitalters" zu erklären sein, wobei „Alt" als Zeitalter und „Ger"
als Geschoß im Sinne von Strahl zu verstehen wäre.
Das Geburtsjahr Dante's steht fest, es ist das Jahr 1265; ebenso das
Himmelszeiehen, unter dem er geboren wurde, nach seinem eignen Zeugniß das
der Zwillinge. In dieses Zeichen trat die Sonne im genannten Jahre am
18. Mai und verließ es am 17. Juni. Der von den Italienern gefeierte
14. Mai kann also auf keinen Fall der Geburtstag des Dichters gewesen sein.
Daß derselbe aber in den Mai fiel, soll nach Boccaccio's Bericht der Dichter selbst
erklärt haben. Um das richtige Datum des Tages zu finden, erinnert Witte daran,
daß Dante in der göttlichen Komödie einer Lucia, deren Getreuer er sei, als
himmlischen Helferin Erwähnung thut. Wie kam er dazu? In Florenz existirte
der Lokalkultus einer seliggesprochenen Lucia Ubaldini, und der ihrem Andenken
geweihte Tag ist der 30. Mai. Es lag nahe, daß Dante, wenn er an diesem
Tag geboren war, in jener Lucia eine Fürsprecherin voraussetzen konnte.
In Ravenna starb der Dichter. Seine Leiche wurde bei der Franziskaner-
kirche in einem steinernen Sarkophage beigesetzt. Seit dem Jahre 1321, seinem
Todesjahre, ist an diese Grabstätte mehrfach gerührt worden; 1483 wurde sie
mit Basreliefs geschmückt; 1692, als das Gewölbe der Kapelle mit Einsturz
drohte, und das Denkmal selbst Schaden zu leiden anfing, unternahm der päpst¬
liche Kardinallegat Domenico Cvrsi eine umfassende Reparatur, wobei das Ge¬
bäude mit einem eisernen Gitter umgeben wurde. In diesem Unternehmen sahen
aber die Franziskaner einen Eingriff in ihre Rechte und wollten die Arbeiter
vertreiben, sodaß die städtische Behörde sie durch Polizeimannschaft schützen
mußte. 1780 wurde die Kapelle in einen eleganten kleinen Tempel verwandelt,
eine Gestalt, in der sie noch jetzt besteht.
Um diese Zeit verbreitete sich das Gerücht, der Sarkophag sei leer, und
die Notiz des Geschichtschreibers Camillo Spreti, daß man gefunden habe,
was erforderlich sei, um die Wahrheit zu offenbare», war natürlich wenig ge¬
eignet, dies Gerücht zum Schweigen zu bringen. Im Jubeljahr 1865 beab¬
sichtigten die Ravennciten, einige bauliche Reparaturen an der vermeintlichen
Grabstätte Dante's und in der nächsten Umgebung derselben vorzunehmen.
Hierbei wurde nach Oeffnung einer vermauerten Thür eine hölzerne Kiste gefunden,
welche menschliche Gebeine enthielt. Auf der inneren Seite des Deckels der Kiste
war mit Tinte geschrieben: Oanti8 oss». vonnxsr rsvisa, aus 3^ ^null 1677;
auf der Außenseite des Seitenbrettes von derselben Hand: Oiintis ossa, s. ins
Z?rß Antonio Lanti nie xosiw. ^uno 1677. alis 18 ^ Octobris. Vermuthlich
soll das erste Datum den Tag des Einsammelns und Bergens der Ueberreste
des Dichters, das andere den des Einmauerns der Kiste angeben. Bei der
Eröffnung des Sarkophages fanden sich nur drei Knöchelchen, die an den
übrigen Resten fehlten. Die Echtheit derselben ist also keinem Zweifel unter¬
worfen.
Was mag wohl die Veranlassung gewesen sein, die Gebeine Dante's aus
der ursprünglichen Grabstätte zu entfernen? Witte sucht eine solche darin zu
finden, daß die Gerechtsame des Klosters nur so geschützt werden konnten.
War doch ein entronnener Gefangener, der verfolgt das Gitter der Grabkapelle
Dante's, im Vertrauen auf das Asylrecht der Kirche, ergriffen hatte, von den
Häschern gewaltsam fortgerissen worden, und die dieses Vorgehen billigende
Staatsbehörde hatte sich darauf berufen, daß jene Grabkapelle, weil sie die
Gebeine eines Ketzers berge, ihre geistlichen Vorrechte eingebüßt habe. Darauf
antworteten die Mönche, daß Dante's Ueberreste sich weder in der Kapelle noch
im Mausoleum befänden, und eine in der Kapelle v.orhandene Inschrift dies
ausdrücklich bezeuge. Dies war im Jahre 1694. Derartigem Verlegenheiten
mögen sich die Mönche haben entziehen wollen und deshalb die Gebeine aus
dem Sarkophag entfernt und in jener dann so sorgfältig verborgenen Kiste
beigesetzt haben. Der Pietät des Frater Antonio Santi aber, der seit 1672
Kanzler, von 1700—1703, in welchem Jahre er starb, Guardian des Klosters
war, verdanken wir es, daß die Gebeine des großen häretischen Dichters wieder
erkannt werden konnten.
Eine Ueberleitung zu den dem Verständniß der Dichtungen Dante's gewid¬
meten Aufsätzen bietet uns der Vortrag aus dem Jahre 1861: „Dante und die
italienischen Fragen." Die Italiener sind geneigt, die Freiheitsideen, deren
Macht das einige Königreich Italien sein Dasein dankt, ans die entzündende
Kraft von Dante's Dichterwort zurückzuführen. Und in der That ist es richtig,
daß eine große Zahl von Männern, die für die Befreiung Italien's mit Wort
und Werk gekämpft haben, zu den begeistertsten Verehrern Dante's gehören.
Giuseppe Mazzim hat eine neue Ausgabe der Arbeit Ugo Foseolo's über die
Commedia, die Prophezeiung von Italien's Zukunft, wie er sie nannte, veran¬
staltet. Gabriel Rossetti, ein durch die Ereignisse von 1820 aus Neapel ver¬
triebener Carbonaro, hat dreißig Jahre seines Exils darauf verwandt, um Dante
als den Geheimschreiber einer dem Carbonarismus ähnlichen politischen Sekte
darzustellen. Und Niccolü Tommasm, mit Mamin ein und ein halbes Jahr
Regent Venedig's, ist zugleich ein trefflicher Erklärer der göttlichen Komödie.
Dieser Zusammenhang zwischen der Liebe zu Italien und der Liebe zu Dante
darf uns auch nicht überraschen. Dante's Dichtungen athmen eine glühende
Liebe zu Italien. Nichtsdestoweniger ist sein politisches Ideal ein wesentlich
anderes als die gegenwärtig realisirte Gestaltung der italienischen Verhältnisse und
mußte es nach damaliger Lage der Dinge sein. Nicht sowohl ein einziger Staat
als ein Staatenbund, in dem die mannigfaltigen Organismen, die Italien damals
in sich schloß, die aristokratischen Republiken wie Venedig, die demokratischen
wie Florenz, die feudalgegliederten Regierungen wie Neapel, und die Dynasten¬
herrschaften in norditalienischen Städten, friedlich geeint seien, und über dem
der Kaiser in oberster Machtvollkommenheit walte — das war der Inhalt seiner
Sehnsucht und seines Strebens. Nur in einem Punkte kann sich das gegen¬
wärtige Italien ganz auf Dante berufen: auch er ist entschiedener Gegner der
weltlichen Macht des Papstthums, in der er die Quellen der Entartung desselben
erkennt. Dagegen hat er die geistliche Autorität des Papstthums 'nicht nur
nicht angetastet, sondern sie sogar der des Kaisers übergeordnet. „Der Kaiser,"
erklärt er in der Non-uedl^, „begegne dem Nachfolger Petri mit der Ehr¬
erbietung, deren ein erstgeborener Sohn sich geizen seinen Vater befleißigen soll,
damit er, erleuchtet von der Gnade des väterlichen Segens, um so kräftigere
Tugendstrahlen über die Welt verbreite."
Wenden wir uns zu den Aufsätzen, welche dem Verständniß der Dichtungen
Dante's unmittelbar gewidmet sind, so fesselt uns vor allem der Artikel „Ueber
Dante", welcher den ersten Band der Witte'schen Forschungen beginnt. Wir
begegnen hier der Ausführung des dem Verfasser eigenthümlichen Gedankens,
daß die drei Dichtungen Dante's, die Vieh. Ruovs., das vonvivio ^.rooroso
und die DivwiZ, Oomrasäis, eine sich zu einem Ganzen zusammenschließende
Trilogie bilden, welche dem inneren Entwickelungsgange Dante's entspreche.
In der Vita nuovÄ feiere der Dichter die Geliebte seiner Jugend, Beatrice,
diese erscheine ihm als Offenbarung göttlicher Herrlichkeit, und so verschmelze
seine Liebe zu ihr, in der Sphäre begehrungsloser Idealität verharrend, un-
mittelbar mit dem Aufblick zu Gott, verkläre sich zu lauterer Frömmigkeit.
Aber kaum zum Mannesalter herangereift, verliert der Dichter Beatrice, der Tod
entreißt ihm die !vieruudzwanzigjährige, mit einem andern Manne, wie es
scheint, wider ihren Willen, unglücklich vermählte. Unter diesem schweren
Geschick bricht Dante's Glaube, Dante's Ergebung zusammen. Auf den Wegen
der Religion findet er keinen Trost, er sucht ihn nun in den Armen der Philo¬
sophie. Er schildert sie als ein holdes Mädchen, als eine Dornig, Asutilo, in
deren Blicken er einen Abglanz von Beatrice's Liebe und den Ausdruck himm¬
lischen Erbarmens zu erkennen glaubt. Es ist wohl wahrscheinlich — auch
Witte, wenigstens im zweiten Bande, weist es nicht zurück —, daß auch hier
die Liebe zu einem irdischen Weibe und die Liebe zur Philosophie sich vereinigten.
Aber auch auf dem Gebiete der Philosophie entzieht sich ihm der Friede, sein Suchen
ist vergeblich, sein Streben fruchtlos. Diese Periode seiner Entwickelung schildert
das Qvnvivio ^.invro80. Da erweckt die Gnade Gottes den Strahl der Reli¬
gion von neuem in seiner Brust, er wendet sich von dem Uebermuth der
Philosophie, die das Unerforschliche erforschen Mit, zum Glauben und zur
Liebe, zur verklärten Beatrice zurück. Aber diese Rückkehr schließt doch eine
Veränderung in sich, sein Glaube ist nicht mehr der unbewußt naive der Jugend,
er ist wissenschaftlich gestählt, und die zum Himmel erhobene Beatrice ist ihm
zum strahlenden Symbol der Königin der Wissenschaften, der erleuchteten und
lichtspendenden Theologie, geworden. Dies abschließende, vollendende Stadium
in Dante's Entwickelung reprüsentirt die Göttliche Komödie. Was der Dichter
innerlich erlebt, hat aber eine allgemeine Bedeutung, es ist der Weg, den alle
Christen, bis auf wenig Auserwählte, gehen müssen, um zum Heil zu gelangen.
Und so steht der Dichter zugleich als das ganze gefallene und zur Erlösung
berufene Menschengeschlecht da, auf dem tausend verschiedene Sünden lasten,
dem aber der Heiland auch tausend Arme reicht, um es vom Abgrunde an
seine Brust zu reißen. Die Hölle ist das Symbol der fortgesetzten, unbereuter
Sünde, die Strafe ist die That selber; das Fegefeuer stellt die fortgesetzte Reue
dar, ihre Strafen find Bußübungen, welche die Sünder von der Sünde ent¬
wöhnen sollen, nicht von der zürnenden Gerechtigkeit, sondern von der heilenden
Liebe Gottes auferlegt. Das Paradies endlich zeigt den Zustand der Seelen, in
welchem sie, gereinigt von der Sünde, die volle, wenn auch abgestufte Ge¬
meinschaft mit Gott genießen.
An den Jdeenkreis dieses Aufsatzes schließt sich die Abhandlung des zweiten
Bandes „Dante's Sündensystem in Hölle und Fegefeuer" an. Wir heben
namentlich zwei Abschnitte daraus hervor, welche die allgemeinen Prinzipien
enthalten, und verzichten darauf, die übrigen, auf einzelne Momente gerichteten
Untersuchungen ins Auge zu fassen. „Dante's Grundprinzip für Strafe" ist
das Thema des einen Abschnittes. Strafen im engeren Sinne werden nur
über die Bewohner der Hölle verhängt, sie gehen von der Gerechtigkeit aus und
haben keinen andern Zweck als die Vergeltung böser Thaten. Bestraft wird
aber nur die That, nicht der sündhafte Antrieb, aus dem sie hervorging, wie
denn auch die Höllenstrafen in der rastlosen Fortdauer der zur Qual gewordenen
sündhaften Thätigkeit bestehen. Die Gesinnung, in der die sündhafte That
verübt ward, kommt nur in Betracht, um die Verantwortlichkeit des Thäters
oder die besondere Art des Verbrechens zu bestimmen. Dagegen sind — wie
in dem zweiten Abschnitt „Dante's Grundprinzip für Buße" ausgeführt wird —
die Schmerze» des Purgatoriums nicht Strafen im engeren Sinne, sondern
Züchtigungen, und die ihnen unterworfnen wissen, daß sie nur zu ihrem Heil
gezüchtigt werden, und empfinden daher den Schmerz als Wohlthat. Die Wirk¬
samkeit dieser Bußen wird unterstützt durch Zeichnungen in der Felswand oder
auf dem Boden, durch Zurufe, durch unwillkürlich auftauchende Phantasiegebilde,
die bald von der abzubüßenden Sünde zu lassen, bald der ihr gegenüberstehenden
Tugend sich zuzuwenden mahnen. Es ist daher hier nicht allein, ja überhaupt
nicht in erster Linie darauf abgesehen, böse Thaten durch gerechte Strafen zu
sühnen, als vielmehr böse Neigungen zu überwinden, die Gesinnung zu läutern.
Welche Sünde führt nun aber in die Hölle, und von welcher Sünde kann das
Fegefeuer reinigen? Darüber entscheidet nicht die objektive Erscheinung der
Sünde, sondern die subjektive Beziehung des Sünders zu ihr. Der unbu߬
fertige Sünder ist der Hölle verfallen, für den reuigen Sünder ist die Reini¬
gungsstätte des Purgatoriums geöffnet.
Wir stehen am Schlüsse unserer Berichterstattung. Nicht als ob außer
den genannten Aufsätzen nicht auch noch mancher andere für einen größeren
Leserkreis anziehend sein könnte. Namentlich gern würden wir noch zwei weitere
Abhandlungen: „Dante's Weltgebäude" und „Die Thierwelt in der göttlichen
Komödie" in den Kreis unserer Besprechung gezogen haben, wenn es dazu nicht
eingehenderer Erörterungen bedürfte.
'
Wir scheiden von Wittes Dante-Forschungen mit aufrichtigem Dank für
die reiche Belehrung, die sie uns gewährt, zugleich mit Dank für den künst¬
lerischen Genuß, den die beigefügten Stiche Julius Thüter's, Dante's Bildnisse
nach Giotto und nach Masaccio (?), uns bereitet haben. Willkommen ist auch
der im zweiten Bande gegebene Plan von Florenz gegen Ende des 13. Jahr¬
hunderts.
Der in den letzten Jahren vielgenannte Jildis-Kiosk oder Stern-Pavillon,
die Residenz des jetzt regierenden Sultans Abd ni Herald, gehört nicht zu den
in neuerer Zeit entstand'euer großen, im modernen Stile und aus kostbarem
Steinmaterial aufgeführte» Palästen, die, hart am Ufer der Meerenge gelegen,
ihre glänzenden marmornen Fciyaden in den Fluthen des Bosporus spiegeln.
Alle jene Bauten, das Palais von Dolma Bagdsche, das von Tschiraghan und
von Beylerbey, mit ihren weit am Gestade sich hinziehenden Dependenzen, auch
verschiedene Jalis oder Uferhäuser im oberen Bereich der Seestraße, sie stehen
heute einsam da, ihrer eigentlichen Bestimmung entzogen und halb verlassen.
Im Tschiraghan-Palais wird zwar noch einer der Nebenflügel nach wie
vor vom Exsultan Murad bewohnt. Allein der unglückliche Fürst befindet
sich dort unter strenger Bewachung, und Schildwachen stehen vor allen Aus¬
gängen, nicht als Ehrenposten, sondern um den Eintritt zu wehren, der nur
der Dienerschaft und wenigen anderen Personen gestattet ist. Auf diesem mit
unermeßlichen Kosten auf einem ungünstigen Bangrunde in der mittleren Periode
der Regierungszeit des Sultan Abd ni Assis errichteten Residenzschlosse liegt
noch der Schatten des traurigen und nicht ganz aufgeklärten Ereignisses vom
20. Mai vergangenen Jahres, des wahnwitzigen Versuchs Ali Suavi Effendi's,
den für regierungsunfähig erklärten ehemaligen Herrscher auf den Thron zurück¬
zuführen. Kaum anders sieht es in und um Dolma Bagdsche aus. Die noch
aus den Zeiten Sultan Abd ni Medschid's, des Erbauers dieses ausgedehn¬
testen, wenn auch von Tschiraghan in Hinsicht auf Stil und einheitlichen Plan
der Ausführung übertroffenen Palastes, herstammende prächtige doppelte Linden-
Allee, welche sich auf der der Hciuptfayade abgewendeten Seite als Einfassung
einer breiten Chaussee hinzieht, steht eben jetzt in herrlichster Blüthe. Allein
es ist öde geworden auf der früher so belebten Straße, trotz der sie begleitenden
Pferde-Eisenbahn; nur dann und wann sährt eine Equipage oder kommen einige
Reiter an der hohen Palais-Pforte vorüber, zu deren Seite rechts und links
die Schildwachen unbeweglich, nach türkischem Brauch, gleich Statuen aus Erz
dastehen. Noch verlassener dürste heute das Palais von Beylerbey sein. Vor
allem dieser Prachtbau hat bessere und interessantere Tage gesehen als die
gegenwärtigen. Vom 24. bis zum 29. Oktober 1869 beherbergte er einen
erlauchten Gast des damaligen Sultans, den heutigen deutschen Kronprinzen
und sein Gefolge. Auch andere Fürstlichkeiten haben unmittelbar nach ihm
dort logirt. Der jetzt regierende Padischah indeß hat nie dort gehaust, und
das namentlich für den Sommeraufenthalt der Sultans-Familie bestimmte
Schloß auf dem asiatischen Ufer der Meerenge wird, so lange Abd ni Hamid
die Zügel des Regimentes führt, vermuthlich nach wie vor unbenutzt und ver¬
ödet bleiben.
Die Gründe, welche Abd ni Hamid bestimmt haben, sich auf Jildis-Kiosk
zu beschränken, sind vielfach der Mißdeutung ausgesetzt gewesen. Namentlich
ist fälschlich behauptet worden, daß sie mit den im Gegensatz zu früher jetzt
beschränkteren Mitteln des kaiserlichen Haushaltes in engster Verbindung ständen.
Leute, welche die einschlagenden Verhältnisse genau kennen, stellen solchen Zu¬
sammenhang aufs allerentschiedenste in Abrede. Der Sultan, versichern sie,
würde, auch wenn er in Dolma Bagdsche oder Tschiraghan residirte, nicht mehr
brauchen. Innerhalb der Hauptposten des Budgets für seinen Haushalt kämen
die größeren Ausgaben, welche ausgedehntere Räume erheischen würden, wenig
in Anschlag. Auf der Kontrole ruhe im Gegentheil das eigentliche Hauptge¬
wicht; dieselbe hänge aber von ganz anderen Umständen ab, als von der Wahl
des Residenzschlosses, Was für die Wahl des Jildis-Kiosk entscheidend ge¬
wesen, ist der Umstand, daß sich Abd ni Hamid daselbst persönlich am gesichertsten
glaubt. Auf das ängstliche Gemüth des heutigen Beherrschers der Osmanen
haben die seinem Regierungsantritt vorausgegangenen Ereignisse, die Thron¬
entsetzung seines Oheims Abd ni Assis, dessen Ermordung unmittelbar darauf,
sodann die erzwungene Abdankung seines Bruders Murad, und noch vor Jahres¬
frist der eben erwähnte Versuch Ali Suavi Effendi's, diesen zur höchsten
Gewalt zurückzuführen, mithin Abd ni Hamid zu beseitigen, den tiefsten Ein¬
druck gemacht. Er denkt, so scheint es, unaufhörlich an die Möglichkeit, daß
das letztere Schicksal ihm nächstens doch noch bereitet werden könne, und an
die Nothwendigkeit, sich einem plötzlichen Ueberfall durch die Flucht zu entziehen.
Für die Ausführung der letzteren aber erscheinen ihm die großen und prunk¬
vollen Schlösser hart am Strande des Bosporus, mit diesem letzteren selber
in Front und einer breiten, nicht zu übersehenden Chaussee im Rücken, übel
gelegen. Aehnlich wie sein unglücklicher Oheim fürchtet er dort durch See-
und Landtruppen der Verschwörer umstellt und mit den ihm getreuen Wachen
eingeschlossen zu werden. Im Vergleich dazu erschien ihm der Jildis-Kiosk,
in Anbetracht seiner Lage, namentlich rücksichtlich des sich unmittelbar daran
anschließenden Gartens, außerordentliche Vortheile darzubieten. Von der Weit¬
schauenden Höhe, deren Gipfel die heutige Residenz des Padischah einnimmt,
senken sich mehrere, leicht von ihr aus zu erreichende Thäler hinab. Die
Umgegend ist nicht kahl, sondern buschig; einzelne Gehöfte. Privatgärten, Wein¬
berge umringen den Kiosk, von welchem aus, abgesehen von einer ziemlich
verwahrlosten Chaussee, eine Anzahl schmälere Wege und Fußpfade nach ver¬
schiedenen Richtungen hin führen.
Was den äußeren Eindruck betrifft, den das Palais macht, so ist es am
allerwenigsten der des Sitzes eines über mehrere Völker gebietenden orientali¬
schen Herrschers. Schon von ferne allerdings ist der Bau bemerklich, auf
feiner dominirenden Höhe überschaut er weithin die Gegend; allein die Formen,
in denen er sich von allen Seiten her präsentirt, sind die einfachsten, die man
sich denken kann: glatte Frontmauern von graubläulicher Farbe, von vielen
Fenstern durchbrochen und ohne irgend welchen Schmuck; das Dach flach und
mit Ziegeln eingedeckt; ringsherum eine unregelmäßig geführte und weiß ange¬
strichene Mauer von wechselnder Höhe. Zur Zeit, als die Ausbauten von
Befehlt Tahas, der benachbarten Vorstadt, sich noch nicht bis nahe an den Jildis-
Kiosk selber erstreckten, mag es hier noch um Vieles ländlicher ausgesehen
haben. Aber auch die damalige Lage der Residenz und ihr äußerliches Arran¬
gement dürfte dem wesentlichen Charakter einer Villa, wie man sie wohl genannt
hat. nicht entsprochen haben. Im Widerspruch damit steht schon die kahle und
unschöne Mauer, welche das Ganze umfaßt, die Abtrennung des Hauptbaues
vom Garten und endlich, nach außen hin, die Nichtberücksichtigung aller aesthe-
tischen Anforderungen.
Der Jildis-Kiosk ist während der Regierungszeit des Sultans Mahmud II.
entstanden. Man findet ihn bereits auf dem vortrefflichen Plane Konstanti-
nopel's und seiner näheren Umgebungen eingetragen, den man Moltke zu danken
hat, und der in den Jahren 1836 — 37 entstanden ist. Allerdings hat das
Palais seitdem mehrere Aenderungen in seinem Innern erfahren, auch einzelne
Anbauten sind hinzugefügt worden. Seine Grundform ist die des Kreuzes,
eine im Orient, auch unter den Muselmans, für Kioske beliebte. Da es indeß,
nach türkischer Ansicht, anstößig sein würde, die Bezeichnung des christlichen
Glaubenssymbols auf die Residenz des Beherrschers der Osmanen zu übertragen,
so ist der Name Jildis d. h. Stern dafür gewählt worden. Was die Schrei¬
bung Kiosk betrifft, fo entspricht dieselbe nicht der türkischen Aussprache, welche
vielmehr Köschk lautet. Man versteht darunter ein Lusthaus, welches, frei
gelegen, den Ausblick nach möglichst vielen Seiten erlaubt und deswegen viele
Ecken, im Türkischen Kösche (in der Mehrzahl Köscheler) darbietet. Der Begriff,
um den es sich handelt, dürfte am entsprechendsten in europäischen Sprachen
durch Pavillon ausgedrückt werden.
Wenn man auf der obenerwähnten, schlecht unterhaltenen Chaussee vor
dem Eingänge unseres Schlosses anlangt, so wird man zunächst durch das in
der rohesten Architektur ausgeführte Hauptthor der Umfassungsmauer nichts
weniger als angenehm berührt. Rechts und links sind Schilderhäuser für die
Wachen aufgestellt. Aber nur ein einfacher Posten steht unter Gewehr. Da¬
gegen tritt, unmittelbar nachdem wir das Thor passirt haben, aus einem baracken¬
artigen Anbau dicht hinter demselben ein Subalternoffizier heraus, der nach
unserm Namen und der Angelegenheit fragt, um deretwillen wir gekommen
sind. Wir befinden uns auf einer Art Vorhof. Zur Rechten ragt das Haupt¬
gebäude des Jildis-Kiosk empor, dessen eigentliches Portal jedoch auf der
anderen Frontseite gelegen ist; auf der, die wir vor uns haben, führt nur ein
schmaler Eingang in's Innere. Vom Garten ist noch nichts wahrzunehmen.
Einzelne, mittelhohe Bäume beschatten den Vorhof, der mit kleinen Kieselsteinen
von verschiedener Farbe mosaikartig, nicht ohne Geschmack, ausgelegt ist. Mehrere
Diener sind mit dem Fegen und Säubern dieses Raumes beschäftigt.
Wir treten in das Palais durch die erwähnte nächstgelegene, schmale
Eingangsthür. Dieser Zugang ist, allem Anschein nach, nur für das Haus¬
personal bestimmt. Der Eindruck, den wir empfangen, ist sür's erste wiederum
nicht im entferntesten der, den sonst wohl das Innere einer fürstlichen Residenz
zu machen Pflegt. Wir Passiren enge, mit Steinen ausgelegte, halb dunkle
Gänge und noch schmälere finstere Stiegen. Ueberall scheint es in dieser Region
des Schlosses an Raum und namentlich an Licht zu fehlen. Endlich wird uns
bedeutet, daß wir an der Thür zum Gemach des ersten Chambellans des
Sultans angelangt sind, eines Würdenträgers, dem ganz besonders die Aufgabe
gestellt ist, alle Einpcissirenden zu mustern und, nachdem er von ihrem Begehr
Kenntniß genommen, ihnen die Erlaubniß zum Weitergehen und den Nachweis
der Adresse zu geben, an die sie sich zu wenden haben. Das Zimmer ist im
Halbdunkel begraben, doch wohl nur deshalb, weil vor den zwei Fenstern die
Vorhänge vorgezogen sind. Hamdi Pascha ist ein hochbetagter und, allem
Anschein nach, bereits altersschwacher Greis, von dem man kaum voraussetzen
kann, daß er aus anderen als aus rein persönlichen Rücksichten für den betref¬
fenden Posten, dem seine Kräfte kaum noch Genüge leisten können, ausgewählt
worden sei. Er ruht apathisch in einer Ecke des mit schwarzem Seidendamast
überzogenen Sophas; zu seinen Füßen, auf einem Polster, sitzt ein Sekretär
mit schlauen Mienen, die den armenischen Ursprung verrathen. Bei unserm
Eintritt erhebt sich Hamdi Pascha zur Hälfte, fordert uns mit einer Hand¬
bewegung zum Sitzen auf und fragt nach Namen und Stand und dem Zwecke
unseres Kommens, während der Schreiber sofort die Notizen darüber in ein
Taschenbuch einträgt. Meine späteren Erkundigungen ergaben, daß der Cham-
bellan tu hohem Maße das Vertrauen des Sultans genießt, obgleich sich der¬
selbe über seine Jnfirmitäteu, namentlich die Schwäche seines Gedächtnisses,
lustig macht.
Nach kurzer Zeit erscheint ein Oberst in großer Uniform. Es ist der
dienstthuende Adjutant des Padischah, im Alter von etwa fünfunddreißig Jahren.
Er fordert zum Ablegen des Mantels auf und führt uns dann ans dem halb¬
dunklen Zimmer Hnmdi Pascha's zunächst über eine schmale, ebenfalls finstere
Stiege, in hellere und weitere, mit Teppichen belegte Vorraume. Wir Passiren
eine breite, durch ein farbiges Oberlicht erleuchtete Treppe zum oberen oder
Hauptstock des Palais, wo ein mit weiten, svnnendurchstrahlten Galerieen nach
verschiedenen Richtungen hin auslaufender Korridor sich vor uns öffnet. Die
stattlichen Eingänge verschiedener auf ihn ausmündender Zimmer sind mit
buntschimmernden Portieren verhangen. Ein Diener, der auf den Zehen
schleichend in flüsterndem Tone mit unserm Begleiter gesprochen hat, schlägt
eine derselben zurück, und wir befinden uns bei Münir Bey, dem an die Stelle
des im Monat Februar verstorbenen Kiamil Bey getretenen, nunmehrigen
Zerem onienmeisters.
Münir Bey ist ein Hofmann, der von dem vorerwähnten ersten Cham-
bellan Hamdi Pascha sehr wesentlich unterschieden ist; er hat durchaus europäische
Manieren, verräth in nichts den Türken, ist frank und frei in seinen raschen
Bewegungen, dabei zugleich von verbindlichster Höflichkeit und Geschmeidigkeit.
Sein Gemach ist reich möblirt, mit mehreren Sophcis und einer Anzahl
elegantester Fauteuils ausgestattet und bietet, durch die Spiegelscheiben der
hohen und breiten, von Velour-Rideanx eingefaßten Fenster, einen weiten und
freien Blick auf das zu Füßen des Jildis-Kiosk gelegene liebliche, gerade jetzt
im herrlichsten Frühliugsschmucke leuchtende Thal von Flmuur und weiterhin
auf die Ausbauten von Pera und die ausgedehnten Hochflächen, die über den
Ol-Meydcm oder Pfeil-Platz sich bis zu den Abhängen des Thales der
Süßen-Wasser von Europa hinziehen. In der Mitte des Zimmers befindet
sich ein mit Blumenvasen besetzter Tisch, darauf liegen Briefschaften und andere
Papiere. Das Ganze macht den Eindruck eines höchst behaglichen Komforts.
Bei alledem ist das Gemach nur mittelgroß, aber sehr hoch. Ueber den par-
kettirten Fußboden, aber nicht vollkommen ihn bedeckend, ist ein dicker persischer
Teppich gebreitet, auf dem sich's wie auf Moos einherschreitet.
Der Sultan weilt noch im Harem, dessen Räume von den zum Empfang
bestimmten nach orientalischem Gebrauch auf's strengste geschieden sind. Die
Nachricht bringt uns ein bald darnach bei Münir Bey eintretender Schwarzer,
ein unansehnlicher, kleiner Mensch, der vermuthlich wegen seiner Häßlichkeit zu
dem von ihm eingenommenen Vertrauensposten gelangt ist. Dabei wird er¬
wähnt, daß seine Majestät am Abend zuvor noch spät im Garten gewesen sei
und sich wahrscheinlich dabei erkältet habe.
Die Lebensgewohnheiten des heutigen osmanischen Herrschers weichen sehr
wesentlich von denen seiner Vorgänger ab. Im Unterschiede von seinem Bruder
Murad, von seinem Oheim Abd ni Assis und namentlich auch von feinem
Vater Abd ni Medschid ist er ein thätiger Fürst, der an den Staatsgeschäften
persönlich den lebhaftesten Antheil nimmt und auf sie den Haupttheil seiner
Zeit verwendet. Schon in früher Stunde, bald nach Sonnenaufgang, erhebt
er sich und pflegt dann, wenn körperliches Uebelbefinden ihn nicht daran ver¬
hindert, unmittelbar nachdem er sich hat ankleiden lassen, den Harem zu ver¬
lassen, um sich in die für die Empfänge und die Tagesobliegenheiten bestimmten
Räume des Palais zu begeben. Für die Vortrüge der Minister, namentlich
des gegenwärtigen Großvessirs, ist keine bestimmte Stunde festgesetzt. Der
Monarch ist von dem Augenblicke an, wo er den Frauengemächern den Rücken
gekehrt hat, zugänglich. Früher war das durchaus anders, und es kann nicht
in Abrede gestellt werden, daß die in dieser Beziehung eingetretene Besserung
eine sehr wesentliche ist. Auch ist gerade diesem Verhalten Abd ni Hamid's
im Auslande und namentlich in Frankreich und England die vollste Anerken¬
nung von Seiten der leitenden Staatsmänner, so erst jüngst noch durch den
Marquis von Salisbury zu Theil geworden. Dabei ist es selbstverständlich,
daß die souveräne Thätigkeit des Sultans nicht ganz in der Weise geregelt
ist wie etwa die eines größeren europäischen Herrschers. Feste Stunden für
die Geschäfte und den Empfang selbst des Premiers sind, wie schon bemerkt,
nicht festgesetzt, und während der kurz bemessenen Zeit (im Frühjahr 1878),
wo der dem Sultan unsympathische Mehemmed Ruschdi Pascha diesen Posten
bekleidete, kam es gelegentlich vor, daß der Minister sich mehrere Male ver¬
gebens im Jildis-Kiosk einfand, ohne Zutritt zu Abd ni Hamid erlangen zu
können. Dem Rechnungswesen seines eigenen Haushaltes wendet der gegen¬
wärtige osmanische Monarch, wie es heißt, auf den Rath namentlich des bri¬
tischen Botschafters, seit längerer Zeit bereits eine sehr bemerkenswerthe Auf¬
merksamkeit zu. Er bestand den Beamten gegenüber ans der genauesten
Buchführung über die Ausgaben und verschmähte es dann und wann nicht,
selber unter einem Haufen von Rechnungen zu wühlen und mit Hilfe eines
Schreibers, dem er die betreffenden Ziffern diktirte, lange Auszüge daraus zu
machen. Ob diefes Bemühen zu irgend einem praktischen Resultate geführt
hat, muß dahingestellt bleiben. Immerhin erscheint es als verdienstlich, und
es ist selbst wahrscheinlich, daß die von höchster Stelle aus angestrebte Kon-
trole dem Umsichgreifen der Korruption in einzelnen Fällen gesteuert hat.
Beim Weggehen geleitete man uns über die vom Hauptkorridor zur Halle
am Portale führende breite Paradetreppe. Der Eindruck, den dieser Aufgang
macht, ist ein höchst stattlicher. Gleichwohl überrascht es, daß auch diese
Hauptfront des Jildis-Kiosk zum Garten oder Park in keiner unmittelbaren
Beziehung steht. Wie sind doch, im Vergleich mit diesem mangelhaften Arran¬
gement der Residenz des Beherrschers der Gläubigen, manche Villen und Jalis
seiner Großen ungleich geschmackvoller angelegt! Denn der Leser glaube ja
nicht, daß man sich hier nicht darauf verstehe, eine Sommer-Residenz so zu
gestalten, daß Natur und Kunst, Vegetation und Architektur zu einem einheit¬
lichen und engverbundenen, auch einen höheren Geschmack befriedigenden und
den Anforderungen eines feineren Komforts entsprechenden Ganzen sich ver¬
binden. Im Gegentheil, auf beiden Ufern des Bosporus ist bei türkischen
Landhäusern in dieser Hinsicht, und zwar oft mit geringen Mitteln, sehr Er¬
hebliches geleistet worden. Ich erwähne nur das einfache Jati, in welchem
Mahmud Dmnad Pascha, der Schwager des jetzt regierenden Sultans, vor
dessen Thronbesteigung im Sommer zu wohnen pflegte. Hier sind Haus und
Garten so zu sagen verschmolzen.' Mit weiten, gläsüberdeckten Hallen öffnet
der Hauptbau sich nach derjenigen Seite hin, auf welcher der Park gelegen
ist, und im Frühjahr reichen die nächststehenden Bäume des letzteren mit ihren
blühenden Zweigen in die Hallen hinein.
Der Sultan wird im Jildis-Kiosk verbleiben. Veränderungslust in seinen
häuslichen Arrangements ist ihm nicht eigen. Er wird seine Regierung von
hier aus weiterführen und schließlich auch einmal hier enden. Nur äußerst
selten verläßt er die Residenz; Auffahrten macht er nie, und um seinen reli¬
giösen Pflichten an den Freitagen zu genügen, wählt er die am nächsten
gelegenen Moscheen aus. Dagegen macht er lange Promenaden im Park.
Kürzlich hatte er den persischen Botschafter Mohsin Khan zu sich in den
Jildis-Kiosk eingeladen. Man sah beide Seite an Seite wohl zwei Stunden
lang in den Baumgängen auf und niedergehen. Um was es sich handelte,
wer mag es wissen? Sicherlich nicht um die muselmanische Ligue, von der
Lord Beaconssield träumte.
Wenige Tage noch, und das neueste Glied der europäischen Staatenfamilie,
das Ergebniß des Jnteressenstreites zwischen Rußland, England und Oester¬
reich nach dem Kriege von 1877, Bulgarien, wird seinen jungen Fürsten bei
sich einziehen sehen. Ueber Wien, Berlin und Paris hat sich Fürst Alexander
nach London begeben, um von da, wie es heißt, nach Rom und weiterhin nach
Konstantinopel zu gehen, von wo er sich in das Land verfügen wird, das er
zu regieren bestimmt ist. Er hat, wie zu erwarten war, bei allen Regierungen,
denen er sich vorgestellt, entgegenkommende Aufnahme gefunden, und nach
den Zeitungen zu urtheilen, sind die von ihm über die Politik, die er zu
befolgen gedenkt, abgegebenen Erklärungen überall mit Befriedigung vernommen
worden. Einigermaßen gespannt darf man sein, wie der Huldigungsakt beim
Sultan in Stambul verlaufen wird, wo man — wir denken an die Frage,
ob Feß oder Kalpak beim Einzuge Aleko Pascha's in Philippopel und an den
Verdruß der Pforte über deren thatsächliche Beantwortung zu Gunsten der
bulgarischen Lammfellmütze — auf geringfügige Formsachen, die sonst nur
Hofmarschälle, nicht aber Politiker interessiren, Werth zu legen pflegt. Indeß
darf man hoffen, daß auch dieser Akt unter den jetzigen Verhältnissen ohne
Anstoß verlaufen wird.
Mit weit mehr Spannung sehen wir dem entgegen, wie es dem Fürsten
gelingen wird, sich seiner Aufgabe zu entledigen, wenn er die Zügel der Regie¬
rung nun wirklich in die Hand nimmt. Hierüber läßt sich nicht weissagen.
Eins nur ist sicher, daß diese Aufgabe keine leichte ist, und daß ihre gedeih¬
liche Erfüllung einen ebenso klugen und wohlberathenen als energischen Charakter
erfordert. Das neue Staatswesen, das auch uns Deutsche vor allem insofern
interessirt, als es die Ruhe Europa's im Südosten sichern, aber auch bedrohen
kann, wird für eine Reihe von Jahren mit erheblichen Schwierigkeiten zu
kämpfen haben, mit ernsteren Schwierigkeiten als Griechenland, Serbien und
Rumänien, die ihm bei der Ablösung selbständiger Staaten aus dem Verbände
des türkischen Reiches vorangegangen sind. Sehr bedenklich sehen die Ange-
binde aus, die dem Kinde von den Russen in die Wiege gelegt wurden: eine
überaus freisinnige Verfassung für ein auf niedrigster Bildungsstufe stehendes
Volk und die finanzielle Noth, welche ihm die Verwaltung der nun abziehenden
Befreier hinterlassen hat. Dazu tritt der Umstand, daß Bulgarien nicht von
einer geschlossenen Nation, sondern zugleich von Türken und Griechen bewohnt
ist, und daß die Mehrheit schwerlich klug und gerecht genug denken wird, die
Minoritäten zu schonen, daß die Bulgaren bisher keine Gelegenheit hatten,
durch Regieren das Regieren und Verwalter zu lernen, daß sie ein an sich
weicher Volksstamm sind, der durch lange Bedrückung von Seiten der Türken,
seiner politischen, und von Seiten der Griechen, seiner kirchlichen Herren, ver¬
hindert wurde, den inneren Halt zu gewinnen, der allein zur Selbstregierung
befähigt. Erinnern wir uns endlich, daß die großbnlgarische Idee, daß pan-
slavistische Tendenzen weit verbreitet find, daß hinter ihnen die russische
Intrigue steht, daß englische, österreichische und türkische Einflüsse sich dieser
in den Weg stellen und mit allen Mitteln gegen sie arbeiten werden, so ist dem
neuen Staate kaum eine ruhige Zukunft mit stetiger Entwickelung zum Bessern
zu prophezeien, wenn sich nicht bald zeigt, daß mit dem Fürsten Alexander
ein Mann von ungewöhnlichen Gaben an seine Spitze gestellt worden ist, der
sich rasch zu orientiren versteht, geschickt zwischen den Klippen zu laviren weiß
und die Kunst besitzt, statt die Dinge an sich herankommen zu lassen, sie durch
zeitgemäße und kräftige Initiative entschlossen selbst zu bestimmen. Ob der
Fürst ein Geist dieser Art ist, wird sich bald zeigen. Bis jetzt hat er dazu
noch keine Gelegenheit gehabt. Das von ihm im „Journal de Se. Petersbourg"
veröffentlichte Programm will, wie bei solchen Aeußerungen die Regel ist, nicht
viel besagen. Der größte Theil der auf die Zukunft der Balkanländer bezüg¬
lichen Stellen sieht ungefähr aus, wie wenn jemand offenstehende Thüren noch¬
mals aufzuschließen versucht. Neu, wenn auch eigentlich ohne Befugniß ge¬
äußert, ist darin die Forderung, daß sich die Pforte entschließen möge, auch
Mazedonien autonome Gestalt zu verleihen, was einer Vorbereitung zur Ab-
bröckelung auch dieser Provinz gleichkommen würde, und wozu die Pforte in
keiner Stelle des Friedensinstruments verpflichtet ist, wenn sie auch solchen
Tendenzen durch die thörichten Konstitutionalisirungs-Versuche Midhat Pascha's
in gewissem Maße Vorschub geleistet hat. Mehr Werth hat die allerdings nur
indirekte Versicherung des Fürsten, daß er darauf verzichtet hat, sich zur För¬
derung des Zusammenschmelzens der Bulgarenländer zu einer Einheit herzu¬
geben. Noch dankbarer aber wäre man ihm gewesen, wenn er uns etwas
Bestimmtes über die Stellung gesagt hätte, welche er zu den Problemen der
inneren Politik des Landes einnimmt, dessen Geschicke zu lenken er berufen ist;
denn sie sind, wie bemerkt, vorerst die wichtigsten.
Jener Verzicht des Fürsten war durch die Proklamationen des Kaisers
Alexander an die Bulgaren des Fürstenthums und Ostrumelien's gegeben,
namentlich durch die vom 22. April, die von den Bewohnern des letzteren mit
Bestimmtheit erwartete, sie würden keinen Anlaß zu Klagen geben, daß sie die
ruhige Entwickelung des benachbarten Fürstenthums zu stören beabsichtigten,
und die dann nach einem Hinweis auf die dem dortigen Volke zu Theil ge¬
wordene ausgedehnte Autonomie den unzufriedenen und revolutionären Elementen
dieser Provinz, welche, auf ungesetzlichen Wege vorgehend, nur neues Unglück
über das Land bringen könnten, entschieden die Mißbilligung des Czaren aus¬
sprach. Allerdings lautet die Ansprache des russischen Generals Obrntschew
einigermaßen anders. Die bulgarische Bevölkerung Ostrumelien's wird darin
zwar ermahnt, nach den Bestimmungen des Berliner Vertrags zu handeln, da
weder Rußland noch Europa für sie uoch Blut zu vergießen gewillt sei. Dann
aber wird die Möglichkeit betont, die Mohammedaner zu neuen Gewaltthaten
schreiten zu sehen, und dieser gegenüber auf die militärischen Mittel hingewiesen,
über welche die Bulgaren Dank der russischen Verwaltung seit dem Frieden
verfügen. Auch die Verkündigung, der Sultan habe darauf verzichtet, türkische
Truppen nach Ostrumelien zu senden, hat einen eigenthümlichen Beigeschmack;
denn erstens kann man aus ihr herauslesen, die Balkanpäsfe würden offen
und fo die Verbindung der staatsrechtlich getrennten Bulgarenländer faktisch
bestehen bleiben, dann aber unterläßt die Ansprache des russischen General¬
adjutanten, hinzuzufügen, daß die türkische Regierung zwar von der Besetzung
Jchtiman's mit ihren Soldaten absieht, aber auf der von Burgas besteht. Wir
begegnen also einem nicht unwesentlichen Unterschiede zwischen den Aeußerungen
des Czaren und denen des von ihm beauftragten bisherigen Gouverneurs von
Ostrumelien, und das Doppelgesicht der russischen Politik zeigt sich auch hier.
Es ist gar nicht unmöglich, ja wahrscheinlich, daß die Einheitspartei in
den Bulgarenlündern, wenn, wie es kaum ausbleiben kann, das Ueberwiegen
des bulgarischen Elements zur Bedrückung der im Lande wohnenden Türken
und Griechen, zu Mißhandlungen derselben und zu Verletzungen ihrer Rechte
führt, und wenn die Türken dann einschreiten, dem Winke, den ihr General
Obrutschew gegeben, folgt und die Fahne des Aufstandes erhebt. Die Mittel
zu einem Versuche, die türkische Herrschaft abzuschütteln, hat sie in der Hand,
und sie können ihr zu Erfolgen hinreichend erscheinen, wenn auch Andere diese
Meinung nicht entfernt theilen werden. Die ostrmnelische Miliz, bisher mit
der bulgarischen vereinigt, besteht im ersten Aufgebot aus 9 Bataillonen In¬
fanterie, 3 Schwadronen Reiterei und 16 Geschützen, einer Truppenmacht, die
großentheils von russischen Offizieren befehligt wird und im Ganzen etwa
10000 Manu stark ist. Dazu kommt das ebenso starke, zwar nicht uniformirte,
aber bereits konskribirte zweite Aufgebot, für welches ebenfalls die nöthigen
Waffen vorhanden sind. Endlich ist über das ganze Land ein Netz von Turn¬
vereinen verbreitet, in welchen die Mitglieder nach einer vom General Stolypin
verfaßten fachmännischer Instruktion im Gebrauche des Krukä-Gewehres von
militärischen Lehrern eingeübt werden, auch bestehen in allen Landgemeinden
„zur Vertheidigung gegen Baschibozuks und Uebelthäter" Kommunalgarden,
die das Recht besitzen, auch außer Dienst Waffen zu tragen, und Gendarmerie-
Unteroffiziere zu Kommandanten haben. Das Volk in Ostrumelien ist also
nicht übel gerüstet, und die revolutionäre Partei hat überdies auf Verstärkung
zu hoffen, die ihr zunächst aus den Massen verarmter und zügelloser Bulgaren,
welche die abziehenden russischen Regimenter von Adrianopel und dessen Um¬
gegend her nach Ostrumelien begleiten, dann aus Freischaaren bestehen wird,
welche die Stammgenossen aus dem Fürstenthume zu entsenden nicht verfehlen
würden, wenn der Aufstand gewagt werden sollte.
Daß trotzdem und bei den verhältnißmüßig günstigen Stellungen, welche
die Insurgenten einnehmen könnten, der Sieg einer zur Unterdrückung des
Aufstandes einmarschirenden osmanischen Armee nicht lange auf sich warten
lassen würde, unterliegt keinem Zweifel. War's doch rasch um die viel stär¬
keren Serben geschehen, wenn Kaiser Alexander sie nicht durch sein Machtwort
rettete, als sie 1876 der Pforte Fehde ansagten, ohne zu ahnen, wie stark diese
noch war. Aber eine Störung des Friedens, die ihre Kreise durch ganz Europa
treiben würde, und eine Verschiebung der durch den Berliner Frieden geschaffenen
Verhältnisse gäbe es doch. Rußland hat das vermuthlich im Auge gehabt, als
es die Bulgaren Ostrumelien's bewaffnete und denen im Fürstenthum eine so
überaus freie Verfassung gab, die dem neuen Fürsten, wenn er sie streng be¬
achten will, weniger Macht und Einfluß läßt als irgend einem andern Poten¬
taten. Aber das übrige Europa will hier keine weitere Ruhestörung sehen,
auch Deutschland nicht. Ein Bulgarien, welches den Frieden muthwillig ver¬
letzte, hätte nur in Rußland auf Sympathieen und nirgends auf Beistand zu
rechnen. Sympathieen kann es sich bei uns lediglich dadurch erwerben, daß es
zeigt, es sei für die Verfassung, die man ihm verliehen, wenigstens im Wesent¬
lichen reif, daß es sich zu einem wenigstens im Großen und Ganzen geord¬
neten Staatswesen gestaltet, wo Jedem sein Recht zu Theil wird, und neben
der Freiheit zugleich die Mäßigung herrscht, und daß es, ehrgeizige Pläne mit
politischer Selbstüberwindung vertagend, seine Ehre weniger in Erweiterung
seiner Grenzen als in einer gedeihlichen Entwickelung seiner reichen inneren
Hilfsquellen sucht. Hier kann der neue Fürst viel thun, wenn er der rechte
Mann ist, und zwar nicht wegen der freisinnigen Verfassung, sondern trotz
dieser; denn für Länder gleich denen der Balkanhalbinsel wird ein Verfahren
nach den Regeln des rationellen Absolutismus — oder sagen wir ungescheut
des rationellen Despotismus — immer zu den besten Resultaten führen; vor¬
ausgesetzt, daß der Regierende klug verfährt, sich nicht in den Mitteln vergreift,
sich zu rechter Zeit eine Partei zu bilden versteht und den feindlichen Elementen
entschlossen und, wo es sein muß, schonungslos zu Leibe geht. Auch Geduld
wird er nöthig haben, der neue Fürst, Geduld, wie sein Nachbar in Rumänien
sie besaß, und vor allem wird er dessen Beispiel insofern folgen müssen, daß
er sich nicht zum russischen Statthalter Herabdrücken läßt. Darin lag das
Hauptbedenken bei der neuen Schöpfung für Europa, darin der Grund des
Widerstandes der Mächte, zunächst England's, zuletzt auch (Oesterreich's wegen)
Deutschland's gegen das Großbulgcirieu des Friedens von San Stefano, darin
ohne Zweifel eine der Hauptursachen der Abneigung des Fürsten Bismarck, in
die von Gortschcckoff angestrebte Revision des Berliner Vertrags zu willigen,
bei dessen Zustandekommen der deutsche Reichskanzler, wie von allen Organen
der öffentlichen Meinung mit Ausnahme der russischen offiziösen Blätter bereit¬
willig anerkannt wird, für Rußland alles gethan hatte, was man dort von
seiner Loyalität und seiner Dankbarkeit, sowie von seinem Wunsche und Be¬
dürfnisse, mit Rußland gute Beziehungen aufrecht zu erhalten, erwarten konnte.
Es ist nur eine Konsequenz des Prinzips der Gleichbefähigung und -Be¬
rechtigung der Geschlechter, daß im platonischen Staate Männer und Weiber
ohne Unterschied zu allen Bürgerpflichten herangezogen werden, und alle Bestim¬
mungen für beide gleichmäßig Geltung haben. Vom 18. Lebensjahre an
beginnen Jünglinge und Mädchen die kriegerischen Uebungen. Mit dem 20.
Jahre, in welchem auch bei den Athenern und Spartanern der eigentliche
Kriegsdienst begann, läßt Platon eine Ausscheidung derer eintreten, welche
Zwar zu Kriegern, nicht aber zu der höheren Geistesbildung befähigt sind. Sie
bilden den Kriegerstand, haben keine weitere Aufgabe als die Vertheidigung
des Staates und sind in jeder Beziehung dem Stande der Herrscher unter¬
worfen. Dieser wird aus denen gebildet, welche nach einer bis zum 30. Jahre
fortgesetzte» wissenschaftlichen Ausbildung den Beweis geben, daß sie in den
Zusammenhang der Wissenschaften eingedrungen, also zur eigentlichen Philo¬
sophie befähigt sind. Sie treiben, während die andern zu praktischen Staats¬
ämtern übergehen, bis zum 35. Lebensjahre Dialektik, bekleiden bis zum
50. Jahre Befehlshaber-Stellen und sind dann auf demjenigen Punkte der
praktischen und philosophischen Durchbildung angelangt, daß sie sich mit der
höchsten menschlichen Aufgabe, der Betrachtung der Ideen, beschäftigen und den
Staat leiten können. Sie find mit einer unumschränkten Herrschergewalt be¬
kleidet, entscheiden über die Aufnahme in die eine oder andere Klasse und ver¬
walten abwechselnd die höchsten Staatsämter. Es ist dies eine Organisation,
die nach Platon's eigenen Worten dann realisirt werden wird, wenn „irgend
einmal die Philosophen zur Herrschaft gelangen, oder die Herrscher recht Philo¬
sophiren", eine Bedingung, die in keinem hellenischen Staate erfüllt worden ist,
und die Platon selbst bei dem in Syrakus gemachten Versuche als unmöglich
erkennen mußte.
Grundprinzip dieses Staatsorganismus ist das sozialistische der Arbeits¬
theilung, der Versorgung eines Jeden durch den Staat und der Nöthigung
eines Jeden zu einer bestimmten Thätigkeit, welche nicht durch freie Wahl,
sondern durch das Interesse der Gesammtheit bestimmt wird. Die Gesammt-
bevölkerung zerfällt in drei streng gesonderte Kasten: die Arbeiter, die Krieger,
die Herrscher. Die Ersten haben die Lebensbedürfnisse herbeizuschaffen, die
Zweiten den Staat zu vertheidigen, die Letzten ihn zu leiten. Platon begründet
diese Eintheilung einerseits psychologisch, indem er den Staat als ein Gegen¬
bild des Individuums betrachtet und im Staate die drei Hauptfunktionen des
Individuums, das Erwerben, das Erhalten und das Bestimmen, gegründet auf
die drei Seelenvermögen des Begehrens, des Muthes und des Denkens, reprä-
sentirt wissen will; andrerseits historisch, indem er annimmt, die meisten Staaten
seien so entstanden, daß zuerst die Erwerbenden sich vereinigten, dann zum
Schutze des Erwerbes ein Wächterstand sich bildete, endlich eine das Ganze
leitende Behörde eingesetzt wurde. Es ist natürlich ein Irrthum, wenn er jene
Entstehungsweise und Eintheilung, wenn auch fehlerhaft geworden, im sparta¬
nischen Staate noch zu erkennen meint und in den Königen, Ephoren und
Geronten seinen ersten, in den Spartiaten den zweiten, in den Periöken und
Heloten den dritten Stand sieht. Denn in Wahrheit hatten Eroberung und
Unterjochung dieses Verhältniß hervorgebracht. An Berührungspunkten aber
fehlte es trotzdem zwischen Platon's Entwurf und den thatsächlichen Zuständen
nicht, was am deutlichsten ein Blick auf die Stellung der Sklaven zeigen kann.
Es ist ein Satz, der im alten Hellas allgemeine Geltung hatte, daß die
Gesellschaft eine Klasse von Menschen brauche, welche sich mit den zur Be¬
schaffung der Lebensbedürfnisse nöthigen Arbeiten abgebe und dadurch den
eigentlichen Bürgern die Muße zur Theilnahme am politischen Leben gewähre.
In allen griechischen Staaten galt es für ausgemacht, daß Wohlstand und
Muße zur vollkommenen Ausübung der bürgerlichen Rechte und Pflichten
erforderlich sei; der erstere, um Bildung und Unabhängigkeit zu ermöglichen,
die letztere, weil gewerbliche Thätigkeit die Theilnahme an Volksversammlungen,
Gerichten und Aemtern erschwere. Wollte der Bürger zu alledem Zeit haben,
so mußten Nichtbürger für den Unterhalt sorgen. Sie konnten entweder Leib¬
eigene oder Freie sein. Die Sklaven, welche wir mit wenigen Ausnahmen
— wie in Phokis und Lokris — in allen hellenischen Staaten finden, waren
zum geringen Theil gekaufte, zum größten Theile die bei den Einwanderungen
und Eroberungen geknechteten Ureinwohner. Die Penesten in Thessalien, die
Klaroten und Milvi'ten in Kreta, die Heloten in Lakonien, die Gymnesier in
Argolis und die Thebageneis in Böotien sind nach ihrer Unterwerfung durch die
einwandernden Kriegsschaaren in ein Verhältniß gesetzt worden, welches ihre
Arbeitsthätigkeit der Gesammtheit des herrschenden Standes dienstbar machte.
Sie wurden nicht Leibeigene einzelner Individuen, sondern Eigenthum des
Staates, trieben nach Belieben ihre Erwerbsgeschäfte, waren aber ohne bürger¬
liche Rechte und mußten an den Staat diejenigen Abgaben leisten, welche nöthig
waren, um den herrschenden Bürgerstand von der Sorge um den täglichen
Unterhalt zu befreien. In Athen gab es diese Klasse von Staatssklaven nicht;
da aber das Bedürfniß eines arbeitenden Standes hier nicht minder lebhaft
war, so mußte man sich gekaufter Knechte bedienen. Außerdem hatte mau eine
Klasse von meist eingewanderten, persönlich freien, aber von den Bürgerrechten
gleichfalls ausgeschlossenen Einwohnern, die Meester, welche meist Gewerb-
treibende Ware» und durch Abgaben und Dienstleistungen der Bürgerschaft
nützten. In ähnlichem Verhältniß standen in Lakonien die Periöken und
mehrere unterworfene Völkerschaften in Thessalien. Ihre und der Sklaven
gemeinsame Bestimmung war die, den höheren Ständen die Erwerbsthätigkeit
abzunehmen.
Dieselbe Bestimmung hat Platon seinem dritten Stande zugewiesen; aber
da sein sozialistischer Staat weder Sklaven noch Nichtbürger kennt, so besteht
auch dieser dritte Stand aus Bürgern, und zwar aus solchen, die zur Erwerbs¬
arbeit geeignet, zu höheren Aufgaben aber untüchtig erscheinen. Wenn er sagt,
daß dieselben vom Kriegsdienst und der Regierung ausgeschlossen und zu abso¬
lutem Gehorsam gegen die Regierenden verpflichtet sein, im Uebrigen aber volle
Rechtsgleichheit genießen sollen, so ist dies ein Ausspruch, der fast wie Hohn
klingt. In Wahrheit würde sein dritter Stand nicht viel mehr als ein Sklaven¬
stand gewesen sein und ein ebenso despotisches Gewaltregiment nöthig gemacht
haben, wie es die Spartaner den Heloten gegenüber anwendeten. Wie ist es
denkbar, daß alle Bürger sich ohne Widerstand einem Spruche unterworfen
hätten, der sie für Lebenszeit zu einem bestimmten Gewerbe verurtheilte, sie zu
Dienern der andern Stände machte und ihnen jede Aussicht auf ein Empor¬
steigen vom 20. Lebensjahre an vollständig abschnitt? Man kann das nur
glauben, wenn man der Meinung ist, durch Gesetze die menschliche Natur
ändern zu können, und wenn man die mächtigsten menschlichen Triebfedern ver¬
kennt: den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, das Streben nach
Fortschritt und Emporkommen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und das
nie rastende Bestreben nach gesteigertem Wohlsein. Auch das Bewußtsein, daß
von den höheren Stünden der eine sür vollkommene Sicherheit des Besitzes,
der andere für eine gute Verwaltung sorgt, und selbst der höchste Grad des
materiellen Wohlseins können jene höheren Triebe nicht ersticken und werden
in jedem auf ähnliche sozialistische Prinzipien gebauten Staate diejenige Unzu¬
friedenheit der arbeitenden Klasse erzeugen, welche alsbald seine Grundlagen
wieder erschüttern muß.
Plciton hält es für feststehend, daß die Mehrzahl aller Menschen nur zu
den gewöhnlichen Erwerbsgeschäften, eine weit geringere Zahl zur Wnffenfüh-
rnng, die wenigsten zu höherer geistiger Thätigkeit und damit zur Leitung der
Uebrigen befähigt sind. Dies genügt ihm, um zu fordern, daß man gesetzlich
und unwiderruflich die ersteren in die Kaste der Arbeiter, die zweiten in die
der Krieger, die letzten in die der Herrscher einreihe. Eine Priesterkaste gibt
es bei ihm nicht. Die Religion bildet nur ein untergeordnetes Element im
Staatswesen; sie ist eines der Mittel zum Zweck und wird von den Regie¬
renden in der dem Staatszweck entsprechenden Form für die Erziehung ver¬
wendet. Von den Kasten der Inder und der Aegypter unterscheiden sich die
platonischen wesentlich dadurch, daß in ihnen keine Erblichkeit herrscht. Weder
Besitz,, noch Stand, noch Ehren können vererbt werden. Jede neue Generation
sieht sich ohne irgend eine Anwartschaft auf Vortheile außer derjenigen, welche
Fähigkeiten und Eifer dem Einzelnen geben. Die Söhne der Ersten im Staate
können zum niedrigsten Gewerbe verurtheilt werden, und nichts hindert den
Sprößling des Feldarbeiters, unter die Zahl der „Herrscher" zu gelangen.
Der platonische dritte Stand findet seine Haupt-Analogie bei den sparta¬
nischen Heloten und Perivken, welche ausschließlich auf den Ackerbau und die
Gewerbe, sowie den Handel angewiesen waren. Ebenso schließt die Institution
der Kriegerkaste sich am engsten an das spartanische Vorbild an. Während
indessen in Lakedämon der Kriegerstand zugleich auch der herrschende war und
die Leiter des Staates lieferte, und neben den Spartiaten auch die Unterthanen
mit zum Waffendienste herangezogen wurden, machte Platon ans den Kriegern
eine streng abgeschlossene Kaste, untersagte ihnen jede andere Beschäftigung und
schloß die beiden andern Stände vom Waffendienste aus. Was er forderte,
war eine Berufsarmee, ein stehendes Heer, während in Sparta eine Bürger¬
miliz bestand. Der Spartaner, welcher als Bürger Haus und Hof, Familie
und persönliches Eigenthum besaß, war als Krieger zum Schutze dieses feines
Eigenthums berufen; bei Platon hat der Kriegerstand die Aufgabe, den beiden
andern Ständen zum Schutze zu dienen. Der Grundgedanke feines Staats¬
entwurfes, daß alle bürgerlichen Aufgaben zweckmäßig vertheilt und jedem nur
eine bestimmte Thätigkeit überwiesen werden müsse, brachte jenes mit Noth¬
wendigkeit mit sich. Denn da die Arbeiter und die Regierer sich nicht mit
Waffenübungen beschäftigen konnten, Waffenkuudige aber zum Schutze des
Gemeinwesens erforderlich waren, so bedurfte man einer Klasse, die sich aus¬
schließlich den Waffen widmete, dagegen von allen andern Diensten befreit war,
aber auch keine höhere Stellung erstreben durfte. Hierin liegt der Gegensatz
zu den lakedämomschen Zuständen.
Im Uebrigen finden sich natürlich zahlreiche Analogieen, welche die im
Erziehungswesen beobachteten vervollständigen. Die Knabenerziehnng — bei
Platon auch die der Mädchen, da er sie ganz wie die Knaben behandelt —
gilt mit dem 18. Lebensjahre als beendet, und es treten die Waffenübungen
ein. Im 20. Jahre erfolgt der Eintritt in das Heer; doch galt dieses Alter
noch keineswegs für hoch genug, um die volle Selbständigkeit — soweit die
Verfassung sie überhaupt zuließ — eintreten zu lassen. Vielmehr wurden die
Spartaner bis zum 30. Jahre noch gar nicht zu den Männern gerechnet; sie
mußten an den Uebungen der Jünglings-Abtheilungen theilnehmen und durften
keinen eignen Hausstand begründen. Analog schiebt Platon bis zum 30. Jahre
die Entscheidung über den definitiven Beruf der Bürger zu kriegerischer oder
dialektischer Thätigkeit hinaus, nachdem schon im 30. Jahre die zum Krieger¬
stande nicht geeignete Mehrzahl der Arbeiterklasse zugewiesen worden ist. Die
weite Hinausschiebuug des Mündigkeitstermins scheint bei beiden Gesetzgebern
mit den Ansichten über die Geschlechtsreife zusammenzuhängen. Wenigstens
gibt Platon ausdrücklich das 30. Jahr als den Zeitpunkt dafür an, und in
Sparta war es wo nicht Gesetz, doch Sitte, nicht vor dem 30. Jahre zu
heirathen. In Athen war man hierin minder skrupulös. Wenn anch die
Wahlfähigkeit zu öffentlichen Aemtern, zum Rath und zu den Richterstellen
gleichfalls erst mit zurückgelegtem 30. Lebensjahre eintrat, so war der Besuch
der Volksversammlungen sowie das Reden und Abstimmen in denselben schon
vom 20. Jahre an gestattet, und die privatrechtliche Mündigkeit trat sogar
schon mit dem 18. Jahre ein.
Eine hervorstechende Einrichtung echt sozialistischen Charakters ist die ge¬
nossenschaftliche Lebensweise, namentlich die gemeinsamen Mahle der Bürger,
von denen sich vom 20. Jahre an in Sparta kein Mann, selbst die Könige
nicht, ausschließen durfte. Der Zweck war, die Bürger möglichst der Familie
zu entziehen und sie zu gewöhnen, „gleich den Bienen eng miteinander ver¬
bunden" sich nur als Glieder der Gesammtheit zu fühlen. Bei Platon mußte
dieser Zweck noch viel schärfer hervortreten; bei ihm existirte die Familie gar
nicht, und der Staat war Alles. Daher begnügte er sich nicht mit der Ge¬
meinsamkeit der Mahlzeiten, zu deuen in Sparta Jeder vom Eigenen seinen
Beitrag lieferte, sondern er hob alles Eigenthum auf und setzte der Weiber-
und Kindergemeinschaft die vollkommene Gütergemeinschaft an die Seite.
Der Kommunismus in dieser Ausdehnung war ein Zustand, den die
Griechen nur aus den Erzühluugen des Herodot und Theopomp von barbari¬
schen Völkern, den Galaktophagen, Agathyrsen, Tyrrhenern kannten. Alles,
was die älteren hellenischen Verfassungen gegen die Ausdehnung des Privat¬
besitzes zu Ungunsten der allgemeinen Interessen gethan hatten, beschränkte sich
auf einige Maßregeln für möglichst gleichmäßige Vertheiluug der Grundstücke,
die aber zu Platon's Zeit in keinem Staate mehr vorhanden war. Als Ursache
der Depravation, welcher alle Staaten verfallen waren, sah er ausschließlich
den Eigennutz und die Habsucht an, welche das, was Allen gehören sollte und
ursprünglich Allen gehört hatte, in die Hände einer Minderzahl gebracht hatten.
Das einzige Mittel zur Beseitigung der Selbstsucht, des größten Feindes der
gemeinsamen Interessen, sah er in der Aufhebung jedes persönlichen Eigen¬
thums unter den Kriegern. Er will, daß unter diefen „keiner irgend eigenes
Vermögen besitze, soweit es nicht durchaus nothwendig ist; ferner daß keiner
irgend solche Wohnung oder Vorrathskammer habe, in die nicht jeder, der da
will, gehen könnte; die Bedürfnisse aber, welche besonnene und tapfere Krieger
nöthig haben, sollen sie in geordneter Weise von den andern Bürgern als Lohn
für ihren Schutz in solchem Maße empfangen, daß sie weder mehr haben als
auf ein Jahr, noch auch Mangel leiden, indem sie, zu gemeinsamen Speisungen
gehend, wie im Felde zusammenleben." In Sparta brachte, wie gesagt, Jeder
einen Beitrag zum gemeinsamen Mahle. In Kreta wurden die Kosten desselben
direkt aus der Staatskasse bestritten. Außerdem finden wir eine ähnliche
Institution nur noch in Argos, und zwar war sie hier eigenthümlicher Weise
erst während des peloponnesischen Krieges mit der Stärkung der Demokratie
eingeführt worden. Es wurden 1000 auserlesene Männer aus angesehenen
Familien zu einer Kerntruppe vereinigt, die sich ausschließlich dem Waffendienste
widmete und auf öffentliche Kosten unterhalten wurde, eine Neuerung, die
augenscheinlich aus dem Bestreben hervorging, den Spartanern ebenbürtige
Krieger aufzustellen.
Der Gedanke an Gemeinsamkeit des Besitzes lag den Griechen nicht so
fern wie uns, weil der persönliche Erwerb in geringerem Maße nöthig und
vorhanden war, vielmehr die zahlreichen Unfreien für Herbeischaffung der Be¬
dürfnisse sorgten. Wo die Klasse der Unfreien Staatseigenthum war, wie in
Sparta, mußte auch ihr Erwerb mehr oder weniger als gemeinsamer Besitz
betrachtet werden. Daher finden sich in Sparta noch mancherlei Anklänge an
Gütergemeinschaft. Der gesnmmte Grund und Boden und alle Heloten ge¬
hörten dem Staate, waren den Einzelnen nur in Nutznießung gegeben und
konnten daher nicht veräußert werden. Auf der Jagd durfte jeder Spartaner
sich der fremden im Feld und Wald angelegten Obdachräume, sowie der darin
befindlichen Waffen, Werkzeuge und selbst Vorräthe ohne weiteres bedienen.
Daß Hausthiere und Sklaven im Falle der Noth von Jedem benutzt werden
konnten, war allgemeines griechisches Herkommen.
Platon sah in der Weiber-, Kinder- und Gütergemeinschaft geradezu das
Mittel zur Beseitigung aller zu seiner Zeit die Staaten zerrüttenden Uebel:
der Selbstsucht und Geldgier, des Streites über mein und dein, der bürger¬
lichen Unruhen, des materiellen Nothstandes. Von alledem, meint er, werden
die Bürger seines Staates frei sein „.und werden ein glückseligeres Leben führen
als die olympischen Sieger;.....denn der Sieg, den sie erringen, ist die
Rettung des ganzen Staates, und mit Nahrung und allem andern, dessen das
Leben bedarf, werden sie gekrönt und ihre Kinder, und sie empfangen Ehren¬
gaben von ihrem Staate bei Lebzeiten, und nach dem Tode werden sie einer
würdigen Bestattung theilhaftig." Deshalb untersagt er auch der Kriegerkaste,
ganz wie es die lykurgischen Gesetze thaten, den Besitz von Gold und Silber.
Der dritte Stand darf, wie in Sparta die Periöken, nach Gefallen Privat¬
eigenthum und selbst Reichthum erwerben; es kann darin keine Gefahr gesehen
werden, da der Kriegerstand für die unwandelbare Aufrechterhaltung aller
Institutionen einzutreten hat, und der waffenlose dritte Stand unfähig ist, eine
gewaltsame Aenderung herbeizuführen. Die Garantie gegen ein Hinansgreifen
der bewaffneten Kaste über ihre Attribute kann nur in der ausreichenden Doti-
rung derselben mit allem Nothwendigen und in der strengen Zucht gefunden
werde, welche das Bewußtsein der Pflicht Allen in Fleisch und Blut übergehen
ließ. Denn weit entfernt, im Besitze der Herrschaft zu sein, konnten die Krieger
sich als nichts anderes, denn als ein gehorsames und blindes Werkzeug in der
Hand der Herrscher, als ein durch fremden Willen regiertes Rad in der großen
Maschine betrachten. Die Regierung war ausschließlich in den Händen des
ersten Standes, der in der absolutesten und umfassendsten Weise gebot und
eine Macht ausübte, wie sie keine Geburth-Aristokratie hätte ausüben können.
Geistige Ueberlegenheit und wissenschaftliche Befähigung find die einzigen
Kriterien für die Auswahl der Mitglieder des herrschenden Standes. Nachdem
von denen, welche vom 20. bis zum 30. Lebensjahre neben den Waffenübungen
auch die Wissenschaften in allgemeiner Form betrieben haben, die zu den
niederen Staatsämtern geeigneten ausgeschieden worden sind, werden die philo¬
sophisch befähigtsten für den ersten Stand bestimmt. Fünf Jahre lang studiren
sie ausschließlich Philosophie. Vom 35. bis zum 50. Jahre bekleiden sie
Kommandos; dann treten sie in das regierende Kollegium und damit in die
höchste mögliche Ehrenstelle ein.
Auch unter ihnen herrscht vollständige Gleichheit. Auch sie leben gemein¬
sam, höchst einfach und werden, wie die Krieger, vom dritten Stande unter¬
halten. Ihre Hauptaufgabe ist die Betrachtung und die Erkenntniß der höchsten
Ideen. Abwechselnd verwalten sie die höchsten Staatsämter und sind in dieser
Stellung die absoluten Herren und Meister des Staats, ohne daß dies für sie
ein Gegenstand des Ehrgeizes oder auch nur der Befriedigung sein könnte.
Denn viel werthvoller ist für sie die edlere und schönere Thätigkeit der philo¬
sophischen Betrachtung, und sie sehen die Staatsverwaltung vielmehr als eine
schwere Pflicht an, die sie jedoch dem Staate schuldig sind, dafür, daß er sie
zur höchsten Vollkommenheit gebracht hat. „Der Staat," sagt Platon, „wird
dann im Wachen und nicht im Träumen verwaltet werden, wie jetzt die meisten
geleitet werden von solchen, die Spiegelfechterei mit einander treiben und um
die Herrschaft streiten, wie wenn sie ein großes Gut wäre."
Die Ueberzeugung, daß die Weisen allein zum Herrschen befähigt seien,
stützt sich auf die Voraussetzung, daß, wer „das sich immer gleich und auf
dieselbe Weise verhaltende zu erfassen vermag", auch am besten geeignet ist,
„der Staaten Gesetze und Bestrebungen aufrecht zu erhalten". Da das letztere
Aufgabe des Staatsleiters, das erstere die Eigenschaft des Philosophen ist, so
folgt, daß die Philosophen regieren müssen. Es braucht kaum wiederholt zu
werden, daß der platonische Philosoph nicht ein bloßer Denker und Gelehrter,
sondern vielmehr das Ideal des Staatsbürgers und Staatsmannes ist, der
durch alle praktischen Aufgaben eines solchen hindurchgegangen und zu allen
befähigt ist. Aber wie selten mußten solche Männer sein? Wie selten konnten
sie in Griechenland an die Spitze eines Staates gelangen, und wenn sie dahin
gelangt waren, sich behaupten? Der Einzige, der mit ähnlichen Eigenschaften
einen hellenischen Staat fünfzehn Jahre lang fast unumschränkt beherrscht hat,
war Perikles. Aber auch er konnte nicht daran denken, der athenischen Repu¬
blik den Charakter der Demokratie, sich selber den des Volksmandatars zu
nehmen.
Die Versuche, der Philosophie den ihr gebührenden Einfluß auf das
Staatsleben zu verschaffen, waren zu Platon's Zeit uicht ganz vereinzelt. Die
Bestrebungen der Sokratiker und Pythagoreer auf diesem Gebiete pflanzten sich
fort, und die letzteren haben in der Person des Lysis, der bald nach Philolaos
nach Theben kam, die veredelnde, den ganzen Menschen hinnehmende Kraft der
wahren Philosophie an dem Manne erwiesen, in welchem wir vielleicht die
annäherndste Verwirklichung des platonischen Ideals finden: an Epaminondcis,
dem Sohne des Polymnis. Dieser erkannte, wie Perikles, daß auf der allsei¬
tigen, die ganze Persönlichkeit durchdringenden Geistesbildung die wahre Macht
beruhe, und dnrch Aneignung dieser Bildung wurde es ihm wie Perikles möglich,
inmitten eines demokratischen Gemeinwesens eine persönliche Leitung von aristo¬
kratischem Charakter durchzuführen. Epcuninondas nähert sich dem platonischen
Ideal noch mehr dadurch, daß er nicht blos Bürger feiner Stadt, sondern vor
allem Heitere sein will. Wie Platon, will er feine Mitbürger in das wahre
Hellenenthum einführen, das er in die bürgerliche Tugend und in die Liebe
zur Weisheit setzt. Ihm gilt die Philosophie als die den ganzen Menschen
durchdringende und umbildende Kraft der Hnmcmitüt, ohne die das Leben kein
Leben ist. Sie soll sich nicht blos in den Höhen und Tiefen des Gedankens
bewegen, sondern soll in das Leben eindringen, zur Hellenentugend leiten und
sich an deren Uebung bethätigen. So war er selbst von Jugend auf bestrebt,
seinen Mitbürgern ein Vorbild der Griechentugend, der -««^o-c«/«^«, zu fein.
So bethätigte er das als althellenische gute Sitte geltende freundschaftliche
Zusammenleben und -wirken, in welchem er, wie Platon, das kräftigste Mittel
der gegenseitigen Förderung erkannte. Die fruchtbaren Ideen früherer Staats¬
verwaltungen und anderer Verfassungen hatte Epaminondas sich angeeignet;
die Verbesserungen in der Taktik sowohl wie in der Waffenkunst hat er ver¬
werthet; Kunst und Wissenschaft haben dnrch ihn in Theben Bedeutung für
das Staatsleben erhalten, und endlich hat er das nach hellenischen Begriffen
edelste Werk der Staatsgründung nicht blos in der Theorie, fondern in der
Wirklichkeit ausgeführt.
Nach Platon's Meinung waren alle Staaten seiner Zeit so weit von dem
richtigen Wege entfernt, daß ein Reformversuch vor der Hand gar keine Aus¬
sicht auf Erfolg hatte. „Das ist mein weiterer Vorwurf," sagt er, „daß keine
von den jetzigen Staatsverfassungen einer philosophischen Natur würdig ist",
und dies erklärt, weshalb er sich von jeder Theilnahme am politischen Leben
in seiner Vaterstadt fern hielt und außer in Syrcikus nie einen Versuch machte,
sein System in's Leben einzuführen. Aber anch dieser Versuch scheiterte an
dem Widerstande der beiden Dionyse. Daß er keinen Staat kenne, in welchem
die Weisen in der gebührenden Achtung ständen, spricht er selbst in bitterem
Unmuthe aus und fügt hinzu, man dürfe sich darüber nicht wundern; „es
wäre viel wunderbarer, wenn sie geachtet würden". Wie Platon über die
Durchführbarkeit seiner Vorschläge dachte, geht am besten aus der monströsen
Forderung hervor, daß man alle über zehn Jahre alten Einwohner aus dem
Staate vertreiben (!) und die zurückgebliebenen Kinder nach den neuen Prin¬
zipien erziehen müsse. Allerdings war dies unter den obwaltenden Umständen
eine nothwendige Voraussetzung. Denn um eine Bürgerschaft zu erhalten, die
sich dem Geiste des platonischen Staates fügte, mußte sie von Kindheit an
dazu dressirt werden. Um aber eine solche Erziehung durchzusetzen, hätte erst
die vorhandene Bürgerschaft von dem neuen Geiste durchdrungen sein müssen.
Aus diesem Dilemma gab es keinen Ausweg, als Austreibung der Alten.
Wie diese zu bewirken sei, erfahren wir freilich nicht. Sollte man es anch
für möglich halten, daß die Bürgerschaft eines andern Staates sich zu Exeku¬
toren hergegeben oder daß in einer Monarchie wie der syrakusanischen die
Truppen die Austreibung vollzogen hätten, so bleibt immer noch das Räthsel
ungelöst, wo man die zur Pflege und Erziehung der Tausende von verwaisten
Kindern geeigneten Personen und den Unterhalt für Alle hergenommen hätte.
Vermuthlich würden die Kinder der Verwilderung und dem Hungertode an¬
heimgefallen sein, was im Verein mit der Vertreibung aller Erwachsenen von
Haus und Hof und dem wahrscheinlichen Untergange eines großen Theils von
ihnen im Verzweifelungskampfe einen erbaulichen Prolog zur „Volksbeglückung"
gebildet haben würde.
Fehlt aber der Art der platonischen Reformvorschläge jeder Schatten einer
Berechtigung, so gilt dies nicht in gleicher Weise für die Gründe derselben.
Es gab ihrer viele und wichtige, und man kann ihnen ebensowenig wie den in
der Gegenwart geltend gemachten die Anerkennung versagen.
Platon nimmt sechs Haupt-Verfassungsformen an und stellt sie nach ihrem
Werthe in folgende Rangordnung: Gesetzmäßige Einzelherrschaft oder König¬
thum — Gesetzestreue Herrschaft der Vornehmen oder Aristokratie — Gesetz¬
mäßige Demokratie — Gesetzlose Demokratie — Gesetzlose Herrschaft der Vor¬
nehmen oder Oligarchie — Ungesetzliche Alleinherrschaft oder Tyrannis. Auf
Grund der thatsächliche,! Verhältnisse gibt er an anderer Stelle eine andere
Zahl und Ordnung an, nämlich: Timokratie, Oligarchie, Demokratie und
Tyrannis, an denen allen er aber so viele Nachtheile und Schwächen entdeckt,
daß nicht einmal die erste von ihnen sich mit seinem Idealstaate messen kann
Als Timokratie bezeichnet er die Verfassung von Sparta und Kreta, den
Staaten also, welche er relativ am höchsten stellt. Aber auch sie haben in
seinen Augen einen Krebsschaden „in der Furcht, die Weisen zur Herrschaft zu
bringen, und in der Hinneigung zu den Muthigen und Einfacheren, die mehr
für den Krieg angelegt sind als für den Frieden," d. h. in der übermüßigen
Betonung des militärischen Elements und in der Ausübung der Herrschaft
durch die Kriegerkaste, wodurch die verwerfliche Knechtung der Periölen und
Heloten hervorgerufen sei. Um diese zu hindern, will Platon der Kriegerkaste,
deren Erziehung und Lebensweise er übrigens nach dorischem Muster einrichtet,
jeden Antheil an der Regierung entziehen, svdciß sogar ihre eigenen Befehls--
Haber nicht ans ihr selbst genommen werden. Diese Abneigung gegen eine
Soldatenherrschaft ist nicht auffällig, wenn man bedenkt, daß gerade damals
das spartanische Säbelregiment sich erdrückend fühlbar machte und spartanische
Herrschsucht und Geldgier Unruhen über Unruhen schufen.
Noch schärfer mußte der Philosoph die auf Geld gegründete Oligarchie,
unter der er eine Census-Verfassung wie die solonische verstand, verwerfen.
Daß die Höhe des Besitzes über den Antheil an der Staatsleitung entscheide,
erklärt er für ebenso widersinnig, als wenn man die Schiffs - Steuerleute nach
dem Vermögen statt nach der Sachkunde auswählen wollte. Andere Mängel
der Oligarchie sind ihm die unvermeidlich wachsende Willkür und der Verfall
der bürgerlichen Zucht, sowie der Zwiespalt zwischen den Armen und Reichen,
der sich schon vor Alters in Megara, Korinth, Sikyon und neuerdings auch in
Sparta entwickelt hatte. „Es ist," sagt er, „ein oligarchischer Staat nicht einer,
sondern zwei. Den einen bilden die Armen, den andern die Reichen, welche
beide zusammenwohnen, aber immer sich gegenseitig auflauern." In Sparta,
Theben und anderwärts zeigten sich die verhängnisvollen Resultate der oligar-
chischen Mißstände, denen die demokratischen Parteien mit Gewalt entgegenzu¬
treten suchten. Aristoteles versuchte dadurch zu helfen, daß er neben einer
guten Erziehung und verständigen Haltung der Oligarchen auch fordert, daß
die staatlichen Geldleistungen überwiegend von ihnen getragen werden, damit
das Volk auf ihnen nicht blos Ehren und Vortheile, sondern auch Lasten ruhen
sehe. Platon geht zu demselben Zwecke noch weiter; er will die Stellung
seiner Oligarchenkaste in den Angen der Menge durchaus nicht mehr als einen
Vorzug, sondern als eine schwere Last erscheinen lassen. Sie sollen keinen
Besitz haben, nur das zum Leben nöthige geliefert bekommen, bei Lebzeiten
keine anderen Ehren genießen, als die, welche ihre Aemter mit sich bringen,
und sollen in der Erfüllung ihrer Obliegenheiten eine schwere Pflicht sehen,
von der sie gern wieder zu stiller philosophischer Beschäftigung zurückkehren.
Wie wenig Platon trotz feiner sozialistischen Neigungen daran denkt, seinem
Staate einen demokratischen Charakter zu geben, zeigt die bittere Ironie, mit
welcher er der geltenden Demokratie Erwähnung thut, unverkennbar im Hin¬
blick auf seine Vaterstadt Athen. Er nennt sie „eine anmuthige, regierungs¬
lose, buntscheckige Verfassung", „die alle Arten von Verfassungen in sich schließt"
und, über gute Sitte, Erziehung und Lebensweise „großmüthig hinweggehend,
nicht danach fragt, von welcherlei Bestrebungen und Geschäften einer herkomme,
der an die Staatsgeschäfte geht, sondern ihn schon in Ehren hält, wenn er nur
versichert, der Menge wohlgesinnt zu sein". Auf das Athen des antalkidischen
Friedens passen fast Wort für Wort die Züge, welche Platon als Kennzeichen
der Demokratie aufzählt: „daß kein Zwang besteht, an der Regierung theilzu¬
nehmen in solchem Staate.....noch auch sich regieren zu lassen, wenn
man nicht will, und ebensowenig in's Feld zu ziehen, wenn in's Feld gezogen
wird, oder Frieden zu halten, wenn die Anderen ihn halten, man selbst ihn
aber nicht begehrt; und andererseits, wenn auch ein Gesetz dir verbietet, ein
Amt zu bekleiden oder zu Gericht zu sitzen, du nichtsdestoweniger regieren und
Recht sprechen kannst, wenn es dir nur selber einfällt . . . daß in solchem
Staate Menschen, die zum Tode verurtheilt oder verbannt sind, nichtsdesto¬
weniger bleiben und offen herumgehen." Betrachtet man den kläglichen Zu¬
stand der damaligen athenischen Demokratie, in der nichts mehr feststand,
weder Sitte und Glauben, noch Gesetze, Regierung, Verwaltung, Gerichte und
auswärtige Politik, so wird es vollkommen begreiflich, warum Platon so nach¬
drücklich auf einem streng konservativen und einheitlichen Charakter der Insti¬
tutionen besteht. Der Verfall Athen's demonstrirte anf's deutlichste, daß die
Staatsleitung nicht in den Händen einer wankelmüthigen, z. Th. ungebildeten
und leidenschaftlichen Menge, sondern bei verständigen, charakterfester und sach-
kundigen Staatsmännern sein müsse, daß nicht uneingeschränkte Freiheit und
persönliche Willkür, sondern die strikteste Ordnung und gesetzliche Nothwendig¬
keit das Ganze beherrschen müsse. Aus diesem Grunde hat er über die oberste
Gewalt in seinem Staate so disponirt, daß dieser weit weniger eine Aristokratie
als vielmehr eine Monarchie mit wechselnder Person des Herrschers zu nennen
ist. Denn wenn auch ein Kollegium von Gleichberechtigten den obersten Stand
bildet, so wird doch ausdrücklich bestimmt, daß sie nicht gemeinschaftlich, sondern
abwechselnd die Regierung führen sollen. Dadurch war einerseits die mög¬
lichste Garantie der Einheit und Stabilität der Staatsverwaltung gegeben,
andrerseits für gleichmäßige Theilnahme aller Weisen an derselben gesorgt.
Eine unverkennbare Analogie mit der herrschenden Philosophen-Kaste
Platon's zeigt sich im Pythagoreer-Bunde, dessen Organisation gewiß nicht ohne
Einfluß auf den Entwurf Platon's gewesen ist; hatte er doch um 337 mehrere
Städte Unteritalien's besucht und die dortigen Pythagoreer kennen gelernt.
Der anfangs ethisch-religiöse Orden, den Pythagoras in Kroton gestiftet, hatte
bald auch politische Tendenzen angenommen und in mehreren Republiken Unter-
italien's wirklich eine ähnliche Stellung erlangt, wie sie Platon für seinen
Philosophenstand fordert. Das öffentliche Leben hatte sich dort, anders als
im Mutterlands, philosophischem Einflüsse untergeordnet. Die Philosophie,
verbunden mit der Musik und Gymnastik, wie sie Jkkos von Tarent nach den
Perserkriegen zuerst organisirt hatte, wurde die Grundlage der politischen Er-
ziehung. Der aus Pythagoreern bestehende Rath der Dreihundert in Kroton,
die in Lokroi, Metapont, Tarent und anderwärts an der Spitze stehende pytha¬
goreische Aristokratie waren eine Verwirklichung von Tendenzen, welche den
geschilderten platonischen ungemein nahe stehen. Wie Platon erkannten die
Pythagoreer nur der Ueberlegenheit des Geistes, nur der Aristokratie der Intel¬
ligenz und Tugend die Berechtigung zur Herrschaft zu und bekämpften deshalb
die Volksherrschaft, bei welcher sie edleres Streben, höhere Einsicht und That¬
kraft vermißten. Wie Platon waren die Pythagoreer durchaus konservativ und
aristokratisch gesinnt und verleugneten nicht ihre Verachtung der Demokratie,
welche am schärfsten in den dem Pythagoras zugeschriebenen Worten ausge¬
sprochen ist: „Der Haufe ist ein schlechter Beurtheiler des Edlen. Deshalb
verachte sein Lob, verachte seinen Tadel. Die Brüder ehre wie die Götter;
die übrigen Menschen halte für eine werthlose Menge. Mit den ,Bohnen'
it. h. den Demokraten) führe immerdar Krieg." Auch der Ausdruck „Brüder"
deutet, ohne daß man darin eine freimaurerische Beziehung zu wittern braucht,
auf eine der platonischen ähnliche familienhafte oder vielmehr sozialistische Art
des Zusammenlebens hin. Eine lange und strenge Prüfung ging auch der
Aufnahme in den Pythagoreerbund voraus, und die mäßige und sittlich strenge
Lebensweise, die gemeinsamen Mahlzeiten, vielleicht auch Gütergemeinschaft,
bilden noch weitere Analogieen. Die Pythagoreer bedeckten das Wesen ihres
Bundes mit einem gewissen Geheimniß, und Platon weist seine Herrscherkaste
an, über die tieferen politischen Ideen und Motive der Menge gegenüber
Schweigen zu beobachten. Die unbedingte und undiskutirbare Unterwerfung
unter die Autorität der überlieferten Ordnungen und ihrer Vertreter, in dein
Pythagoreischen «Z/ro? Ly?« gipfelnd, die innige Verschmelzung von sozialen,
ethischen und politischen Elementen, die erhabene Stellung der herrschenden
Kaste und ihre strenge Scheidung von den andern sind Elemente des platoni¬
schen Staatsentwnrfs, welche sich kaum aus etwas Anderem als dem Pytha-
goreismus herleiten lassen.
Ist es uns im Vorstehenden gelungen, eine Anzahl sozialistischer und kom¬
munistischer Ideen schon im alten Hellas nachzuweisen, so sehen wir uus
dagegen vergebens nach einer Thatsache um, welche auf das Vorhandensein der
Idee vom „Internationalismus" schließen ließe. Der Gedanke an die Gleich¬
berechtigung und Gleichbefähigung der Völker war dem Alterthum völlig fremd
und hat sich erst langsam mit der Verbreitung der klassischen Kultur, vorzüglich
an der Hand des Alles einigen wollenden Christenthums, entwickelt. Dem
Hellenen galten alle andern Völkern als Barbaren, die auf eine Gleichstellung
mit ihm keinen Anspruch hatten. Das Höchste, wozu man vor Alexander sich
erhob, war die Erkenntniß, daß innerhalb der griechischen Stämme Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit wünschenswert!) sei, und auch Platon, der sich
dem Begriffe der Humanität, wie Aristoteles dem der Universalität, unter allen
Alten vielleicht am meisten angenähert hat, ist doch auf streng nationalem
Boden stehen geblieben. Sein Staatsideal ist ausschließlich für hellenische
Gemeinden berechnet, und jeder Gedanke an eine Verbindung von Nationen
hat ihm fern gelegen, weshalb auch seine Rathschläge für den freundlichen und
den feindlichen Verkehr sich nur ans griechische Gemeinden beziehen.
Trotz dieser Beschränkung auf die eigene Nation, trotz der allgemeinen und
auch von Platon in's Auge gefaßten relativen Kleinheit der hellenischen Staats¬
gemeinde, welche selten über-den Umfang einer Stadt und ihres Landgebietes
hinausging, und trotzdem daß es an Reformparteien mit ähnlichen Tendenzen
nicht fehlte, ist der platonische Staat nie realisirt worden. Die Pythagoreer-
herrschaft ist nach kurzem Bestehen mit Gewalt und Blutvergießen gestürzt
worden, die auf Reformen im spartanischen Sinne hinarbeitenden aristokrati¬
schen Parteien in Theben, Korinth, Phlius, Elis, Mcmtineia haben es zu
keiner dauernden Herrschaft gebracht, und Sparta selbst, das Ideal aller Kon¬
servativen und Ordnuugsfreuude, hatte schon in der Zeit, als Platon, Lysias,
Xenophon, Aristophanes seine Bürgerzucht als Panazee priesen, in kläglicher
Weise Schiffbruch gelitten. Das Vorgehen der Spartaner ihren politischen
Gegnern gegenüber zeigte, daß Härte, Rohheit und Uebermuth ihnen nicht fremd
geworden, daß sie vor Selbstsucht, Ehrgeiz und Habgier durch ihre bürgerliche
Zucht nicht geschützt worden waren. Die innere Verderbniß und Zerrüttung
war in Sparta, wenn auch weniger sichtbar, doch nicht minder vorhanden, und
der ebenfalls nicht verhinderte scharfe Gegensatz zwischen Armen und Reichen,
zwischen Bevorrechteten und Enterbten, zwischen Herrschenden und Unterdrückten
stürzte den Staat in einen Zustand der inneren Fäulniß, der um so unheil¬
barer war, als er nicht einmal das Gegengewicht der geistigen und aesthetischen
Güter in Kunst und Wissenschaft besaß. Um dieselbe Zeit, als das Gesetz des
Epitadeus freie Verfügung über die Landlvose gewährte, war die Zahl der
Vollbürger von 9 — 10000 bereits auf 2000 gesunken, und es mußte durch
Belohnungen zur Kindererzeugung aufgemuntert werden. Aristoteles rechnet
sogar nur etwa 1000 Spartiaten, und hundert Jahre später gab es nur noch 700,
von denen aber 600 keinen Landbesitz mehr hatten, während aller Reichthum
sich in den Händen der übrigen hundert angehäuft hatte. „Mit solcher Un¬
gleichheit," sagt Schömann, „konnte denn unmöglich die alte lykurgische Lebens¬
ordnung noch bestehen. Die Reichen befolgten sie zwar zum Theil, aber nur
zum Schein. Sie besuchten z. B. die Phiditien, aber nachdem sie sich kurze
Zeit dort aufgehalten, schmausten sie zu Hause mit orientalischem Luxus. Die
Ephoren, deren Amt es sein sollte, auf die Befolgung der Agoge zu wachen,
enthauben sich selbst am meisten von ihren Vorschriften und wurden ohne
Zweifel, obgleich das Amt Allen ohne Unterschied zugänglich sein sollte, damals
nur aus den Reichen genommen. Die Aermeren aber mußten sich von den
Reichen füttern lassen, vielleicht auch sich zu Handarbeiten entschließen oder
als Pächter von Grundstücken Jener das Feld bauen gleich den Heloten."
Diese Zustände waren es, die den Anlaß zu einigen Reformversnchen in
Sparta gaben, welche als die letzten Beispiele sozialistischer Umwälzungen in
Griechenland zu betrachten sind. Der edle König Agis versuchte eine voll¬
ständige soziale Reform in's Werk zu setzen, indem der Grundbesitz nen ver¬
theilt würde, und zwar in 4500 gleiche Loose für die Spartiaten, in 15000
für die waffenfähigen Periöken, die Zahl der Spartiaten dnrch Aufnahme von
Periöken und Feinden wieder auf 4500 gebracht, die lhkurgischen Gesetze wieder¬
hergestellt und die Schuldscheine vernichtet würden. Aber die Regeneration
scheiterte, und Agis büßte seinen Versuch im Jahre 237 v. Chr. mit dem
Henkertode. Dennoch nahm der nicht minder hochherzige und patriotische
Kleomenes III., der 235 zur Regierung gelangte, das Projekt muthig wieder
auf und setzte es mit Hilfe einer geringen Zahl Gleichgesinnter und der Söldner¬
truppen durch. „Er nöthigte diejenigen, welche ihm widerstrebten, das Land
zu verlassen; ihrer waren achtzig, also bei weitem der größte Theil der damals
vorhandenen Reichen und Grundbesitzer. Dann machte er eine neue Verthei-
lung der Landgüter, ergänzte die Bürgerschaft durch Aufnahme von Periöken
und, wie sich nicht zweifeln läßt, von Söldnern, sodaß nun ein Heer von
4000 Hopliten aus ihr aufgestellt werden konnte, führte die Syssitien und die
übrigen Stücke der alten Agoge wieder ein." Aber auch dieser Versuch, der
von den besten Absichten eingegeben war, der einzige, welcher Sparta noch
hätte retten können, hatte keinen Bestand, sondern beschleunigte im Gegentheil
den inneren Zerfall Griechenland's und den Untergang seiner Freiheit. Der
achäische Bund, voll Eifersucht auf die neu erstehende Macht der Rivalin, rief
die Fremden zum Beistände herbei, und Antigonos Doson vernichtete die spar¬
tanische Macht 221 in der fürchterlichen Schlacht bei Sellasia. Der Makedo-
nier hob die Reform des Kleomenes ans, stellte das alte Unwesen in Sparta
wieder her, und Griechenland blieb in der Zerrissenheit und Zerrüttung, die
nur mit dem Untergange seiner Freiheit enden konnte.
Die sozialistischen Institutionen bildeten ein Palladium der Staaten, so lange
die Bürger genug Entsagung besaßen, um ihren hohen Anforderungen zu genügen,
und so lange die Lebensverhältnisse einfach genug waren, um in enge Rahmen
gefaßt werden zu können; sie blieben unrealisirbar, wo andere Verhältnisse wal¬
teten, und sie wurden zu Keimen des Unheils, als die Bürgertugenden mangelten.
In den dreißiger und vierziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts wurden
die künstlerischen und literarischen Kreise Venedig's von einem merkwürdigen
Triumvirat beherrscht, dessen Glieder, unter einander durch eine scheinbar innige
und aufrichtige Freundschaft verbunden, auch im Falle der Noth mit auffallender
Selbstlosigkeit für einander eintraten: Tizian, der Maler, Jacopo Tadel, genannt
Sansovino, der Bildhauer und Baumeister der Markusrepublik, und Pietro Aretino,
der Vater der modernen Publizistik. Obgleich alle drei Ausländer waren, Tizian
ein Kind der sriaulischen Alpen aus Cadore, Pietro Aretino, wie sein Zuname
besagt, aus Arezzo und Sansovino gar aus dem von den Venetianern nicht
eben mit günstigen Augen angesehenen Florenz, so gelang es ihnen doch, in
überraschend kurzer Zeit über alle Nebenbuhler und alle Hindernisse zu trium-
phiren und sich eine angesehene, einflußreiche und vor allen Dingen einträgliche
Stellung zu erobern. Crowe und Cavalcafelle haben die Freundschaft Tizian's
und Arelim's in ihrer Biographie des „Königs der Maler" unerklärlich und
„räthselhaft" gefunden. Und doch haben gerade diese beiden Forscher eine Fülle
von Dokumenten an den Tag gezogen, aus denen ein Helles Licht auf den
Charakter Tizian's fällt. Wir gewinnen daraus eine Anschauung von dem
Wesen des großen Malers, welche uns seine Freundschaft mit Aretino nur zu
erklärlich macht. Crowe und Cavalcafelle haben sich aus leicht begreiflicher
Rücksicht für ihren Helden gescheut, aus dem von ihnen gesammelten Material
die letzten Konsequenzen zu ziehen, die für Tizian's Charakter nichts weniger
als schmeichelhaft sind. Tizian war ein Sohn der Berge, der, wie Josicch
Gilbert in seiner interessanten Schilderung von Tizian's Heimat treffend be¬
merkt, die „Findigkeit des Schotten und die Durchtriebenheit des Schweizers"
mit einander verband. Unsere Bewunderung und Verehrung des größten
Malers, den die Welt bis auf unsere Tage gesehen, wird nicht verringert, wenn
wir die Schwächen und Flecken seines Charakters kennen lernen. Tizian war
das Kind einer bereits völlig korrumpirten Zeit. Geldgier und Habsucht, der
kein Mittel zu schlecht war, um zu ihrem Ziele zu gelangen, waren hervor¬
stechende Charakterzüge der meisten Künstler damaliger Zeit und vornehmlich
der venetianischen, die im Luxus und Wohlleben hinter der Lebensweise ihrer
patrizischen Freunde und Protektoren nicht zurückbleiben wollten.
Am 25. Mürz 1527 war Aretino nach Venedig gekommen, um dort ein
Asyl zu suchen, und vom 22. Juni desselben Jahres liegt uns bereits ein Brief
von Tizian vor, welcher zeigt, daß der Maler den Dichter porträtirt hatte,
und daß ersterer von Bewunderung des letzteren überfloß. Beide hatten sich
gesucht und gefunden, und bald gesellte sich diesem Bunde als dritter Jacopo
Sansovino hinzu.
Jacopo Tadel, der von seinem Lehrmeister Andrea Contucci da Monte
Sansovino den Beinamen annahm, unter welchem er berühmt geworden ist,
war im Jahre 1479 in Florenz geboren. Erst verhültnißmäßig spät, mit 21
Jahren, kam er zu Andrea Contucci, und es dauerte ziemlich lange, bis er sich
über den Kreis der Florentiner Altersgenossen hinaus zu allgemeiner Anerken¬
nung emporschwang. Nach einem längeren Aufenthalte in Rom, wo er sich der
Förderung Giuliano da Sangallo's und Bramante's in architektonischen und
allgemein künstlerischen Dingen zu erfreuen hatte, kehrte er nach Florenz zurück
und that sich dort als selbständiger Meister auf, der viele Bestellungen fand,
und dem sich auch eine Reihe von Schülern anschloß. Aber lange war seines
Bleibens in Florenz nicht. Der ehrgeizige Mann fand hier nicht den geeigneten
Boden und begab sich wieder nach Rom, wo ihm der erste größere Triumph
seines Lebens zu Theil wurde, indem er in einer Konkurrenz um den Bau der
Kirche der Florentiner, San Giovanni, den Sieg über Raffael, Antonio da
Sangallo und Baldasscire Peruzzi davontrug. Doch scheint auch dieses Unter¬
nehmen den thatendurstiger und unternehmungslustigen Meister, der etwas von
einem Cäsar in sich fühlte und keinen neben sich duldete, nicht gefesselt zu
haben. Er schützte eine Unpäßlichkeit vor, die er sich durch einen Fall von:
Gerüst zugezogen, verließ den Bau und ging nach Florenz, von wo ihn die
Pest im Jahre 1523 nach Venedig vertrieb.
Sein Ruhm war ihm bereits vorausgeeilt. Als er in der Lagunenstadt
eingetroffen war, ließ ihn der Doge Andrea Gritti zu sich rufen. Er wurde
in den Palast geladen und dort mit allen Ehren empfangen, da man seiner
Dienste dringend bedürfte. Seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts zeigten
nämlich die Kuppeln der Markuskirche bedenkliche Risse, die sich allmählich so
sehr erweiterten, daß die Kuppeln schon mehrmals hatten abgesteift werden
müssen. Jetzt war die Gefahr auf's höchste gestiegen, und in dieser Noth sollte
Sansovino helfen. Der Florentiner entwarf auch einen sinnreichen Plan, der
allseitige Billigung fand; aber es kam nicht zur Ausführung desselben. San¬
sovino mochte den Zeitpunkt, mit Florenz und Rom definitiv abzurechnen, noch
nicht für gekommen erachtet haben. Denn er kehrte bald abermals nach Rom
zurück, wo sich inzwischen unter dem neuen Papste Clemens VII. glänzende
Aussichten für Künstler eröffneten, von denen auch Sansovino profitiren wollte.
Da kam das unglückliche Jahr 1527, welches die Kunstblüthe Rom's auf immer¬
dar vernichtete. Die Künstler zerstoben in alle vier Winde, und Rom war
nicht mehr die Zentralsonne, welche alle Künstler ein volles Jahrhundert lang
magnetisch angezogen hatte.
Sansovino folgte seinem Freunde Arelim, den er kennen gelernt hatte, als
Pietro der Geheimsekretär des berühmten Bankiers Agostino Chigi in Rom war,
nach Venedig, und Aretino setzte bald seine flinke Feder in Bewegung, um für
den Freund nach allen Seiten hin zu wirken. In einem Briefe an den Herzog
von Mantua vom 6. August 1527 schreibt er, Sansovino habe eben eine
Venus in Arbeit, die so schön und natürlich sei, daß sie „die Gedanken eines
jeden, der sie betrachtet, mit Begierde erfüllt". Da der Kardinal Domenico
Grimani, der den Sansovino im Jahre 1523 an den Dogen Andrea Gritti
empfohlen hatte, noch im August desselben Jahres gestorben war, so wird Aretino
jetzt der Fürsprecher Sansovino's beim Dogen Gritti gewesen sein, der den
Einfluß des gefährlichen Parasiten bei Karl V. nach Gebühr zu schützen wußte
und für seine Zwecke ausnutzte. Schon nach zwei Jahren sah sich Sansovino
am Ziele seines Ehrgeizes. An Stelle des verstorbenen Meisters Bartolommeo
Buon wurde er zum obersten Architekten der Markuskirche ernannt, welcher
die Oberaufsicht und die oberste Leitung über alle Staatsgebäude und aller vom
Staate unternommenen Bauten hatte. Er wußte seine Einkünfte, die sich an¬
fangs außer einer Amtswohnung in den Proeuratie vecchie dicht am Uhrthurm
auf 80 Goldgulden jährlich beliefen, schon im nächsten Jahre bis auf 180 zu
steigern, und da ihm überdies ein große Zahl von Privataufträgen zu Theil
wurde, gestalteten sich seine Vermögensverhültnisse bald äußerst günstig.
Mit großer Schnelligkeit fand sich Sansovino in die lokalen Bedingungen
und Eigenarten der Lagunenstadt hinein, und indem er das freie Schönheitsgefühl
und die heitere Grazie der Florentiner mit dem würdigen feierlichen Ernste
der Venetianer zu schönem Einklange verschmolz, schuf er eine neue reizvolle
Architektur, welche sich einerseits dem Boden Venedig's harmonisch anschmiegte,
andrerseits über die lokalen Grenzen zu unvergänglicher, allgemein giltiger
Schönheit hinauswuchs. Das Venedig der Renaissance verdankt ihm seine
architektonische Physiognomie. Kirchen und Paläste wuchsen in beständigem
Wechsel aus der Phantasie des rastlos thätigen Mannes in die glänzende
Wirklichkeit hinein und verbreiteten den Ruhm ihres Erbauers, für welchen
außerdem Aretino unermüdlich arbeitete. Eingedenk der Devise „Kleine Ge¬
schenke erhalten die Freundschaft", wußte Sansovino die gute Laune des nütz¬
lichen Freundes ab und zu durch eine Statue oder ein Bronzewerk zu erhalten,
das dieser natürlich sofort versilberte und um so theurer versilbern konnte, je
kräftiger er das Lob des Künstlers bei seinen hohen Gönnern vorher aus¬
posaunt hatte. Einmal schenkte ihm Sansovino eine heilige Katharina aus
Marmor, welche Aretino zu einem überschwenglichen Sonett begeisterte, dessen
Schlußrondo lautet:
Iminortkl Ls,nsovina voi xur ^i^vsts
Roher^to monclo, voiuv dvovni e i lo,s,ruii
Z^oil MM cklZ woto ÜSr »!Z.Z1ses.
(Unsterblicher Sansovino, Ihr habt der Welt gezeigt, daß Ihr der Bronze und
dem Marmor nicht blos Leben, sondern auch Bewegung zu verleihen vermögt.)
Daß Sansovino nicht der Mann war, der solche poetische Reklamen eines durch
ganz Italien berühmten Mannes im Kasten verschloß, sondern vielmehr wiederum
für seine Zwecke ausbeutete, werden wir bald sehen.
Um das Jahr 1540 war die Freundschaft des berühmten Triumvirats in
ihrem Zenith. Damals kam der Humanist Priscianese, der Verfasser einer
lateinischen Grammatik, nach Venedig und verbrachte einen genußreichen Abend
bei Tizian, den er nachmals in einem seiner Grammatik beigegebenen Briefe
schilderte. Der Eingang desselben ist auch für uns interessant, da er die Per¬
sönlichkeiten nennt, welche den engeren Kreis der tizianischen Hausfreundschaft
bildeten. „Am 1. August," schreibt Priscianese, „war ich zur Feier eines
Bakchcinalfestes, des sogenannten ,Ferrare Agosto^ (verderbt aus tsris,« ^.uAHLtas),
in dem freundlichen Garten des Messer Tiziano Vecellio eingeladen, des weit¬
bekannten trefflichen Malers, welcher überdies ganz der Mann ist, durch sein
fein gebildetes Wesen jede gewählte Unterhaltung zu würzen. Gleich und gleich
gesellt sich gern, und so waren denn noch einige der hervorragendsten Persön¬
lichkeiten der Stadt bei ihm versammelt, von den Unsrigen (d. h. den Floren¬
tinern, beziehentlich Toskanern) in erster Reihe Pietro Arelim, dieses neue
Naturwunder, außerdem Messer Jacopo Tadel, genannt Sansovino, der ein
ebenso großer Nachahmer der Natur mit dem Meißel ist wie unser Gastfreund
mit Pinsel und Farben, dann Jacopo nardi (der Geschichtschreiber von Florenz)
und ich, sodaß ich in so erleuchteter Reihe die vierte Stelle einnahm." San¬
sovino stand damals aus der Höhe seines Ruhmes und auf dem Glanzpunkte
seiner Erfolge.
Im Jahre 1536 hatte er die Zecca, die Münze und die Libreria, die
Bibliothek an der Piazetta, begonnen und schnell soweit gefördert, daß der
allezeit geschäftige Aretino schon im Februar 1540 den kaiserlichen Geschäfts¬
träger Don Diego Mendoza einladen konnte, er folle sich in der Maske auf die
Piazza begeben, um zu fehen „i suäori Mradili äst LWsvvino" (wörtlich: den
bewunderungswürdigen Schweiß d. h. die wunderbaren Arbeiten Sansovino's).
Aber bei dieser Gelegenheit klang der Trommelwirbel Aretino's bei weitem nicht
so stark wie der, welchen Sansovino eigenhändig in Szene gesetzt hatte.
Es ist das erste Beispiel einer großartig organisirten Künstlerreklame,
welches uns in der Kunstgeschichte hier entgegentritt. Wir dürfen um so länger
dabei verweilen, als bisher kein Historiker die im Nachfolgenden zu fchildernde
Angelegenheit in das rechte Licht gerückt hat. Nur Temauza, ein Architekt des
vorigen Jahrhunderts, der eine Anzahl sehr verdienstvoller und reichhaltiger
Biographieen voll venetianischen Architekten und Bildhauern des 16. Jahr¬
hunderts verfaßt hat, deutet den wahren Charakter der ganzen Geschichte mit
einigen Worten all.
Die Fayade der Libreria besteht aus zwei Stockwerken. Das untere Ge¬
schoß, das sich nach der Piazetta zu in 21 Bogenstellungen ebenso wie das
obere öffnet, ist dorischer Ordnung, während das Säulensystem des Ober¬
geschosses ein ionisches ist. Die Schmalseite nach der Pescheria, der Lagune,
zu, hat nur drei Bogenstellungen und stößt an die Zeeea. Sansovino schlug
nun den Vitruv auf, den er wie die meisten Architekten der Hochrenaissance
als seinen obersten Lehrmeister betrachtete, und fand darin eine Stelle, aus der
er herauslesen wollte, daß an der Ecke des Gebäudes, dort, wo der dorische
Metopen- und Triglyphenfries von der Piazetta nach der Pescheria umbiegt,
genau auf jeder Seite eine halbe Metope stehen müsse. Indem er dabei den von
Vitruv gemachten Zusatz übersah, nach welchem die beiden Hälften nicht so
strikt einzuhalten seien, legte er sich selbst eine Schwierigkeit in den Weg, deren
Ueberwindung er dann höchst geschickt zu einer öffentlichen Frage aufzubauschen
wußte. Wie ist diese halbe Metope aus jeder Seite zu erreichen? so lautete
die brennende Frage, zu deren Lösung Sansovino die Architekten und Vitruv-
gelehrten ganz Italien's aufforderte. Seine Freunde in Florenz und in Rom,
das sich inzwischen von den Verwüstungen des Jahres 1527 wieder etwas er¬
holt hatte, hatten lange von Sansovino's Arbeiten nichts gehört. Trotz seiner
politischen Machtstellung war Venedig bei weitem nicht in dein Grade ein
Zentralpnnkt wie Rom und Florenz. Wie heute lag es auch damals zu sehr
abseits von der großen Heerstraße. Jetzt hatte Sansovino einen Anlaß ge¬
funden, die Augen des ganzen gelehrten und künstlerischen Italien auf sich
zu lenken.
Im Jahre 1542 hatte sich in Rom eine vitruvianische Akademie konstituirt,
welche sich mit großem Eifer der Frage annahm. Claudia Tolomei, der
Sekretär dieser mit großem Pomp in's Leben gerufenen Körperschaft, sandte im
Namen derselben ein Gutachten ein, und ebensosehr interessirte sich der Kardinal
Pietro Bembo, wohl nicht ohne Zuthun Aretino's, für die Angelegenheit, welche
mehrere Jahre lang ganz Italien in Bewegung setzte. Ans Bembo's Veran¬
lassung schickten mehrere Architekten und Bauverständige aus Neapel, Rom,
Toskana und der Lombardei Zeichnungen nach Venedig. Aber darum war es
dem schlauen Sansovino gar nicht zu thun. Sein Hauptzweck, einmal in
großem Maßstabe von sich reden zu machen, war erreicht. Die Lösung hatte
er längst in xetto. Plötzlich produzirte er est Holzmodell, welches an der
Ecke richtig die halbe Metope zeigte. Er hatte seinen Zweck einfach dadurch
erreicht, daß er den Fries etwas verlängerte und den Eckpilaster gegenüber dem
Glockenthurm etwas verbreiterte. So wurde die eingebildete Schwierigkeit
beseitigt.
Sein Sohn Francesco, der Verfasser der ersten ausführlichen Beschreibung
Venedig's, handelte natürlich ganz im Sinne seines Vaters, wenn er in seiner
VsnWiÄ Ässoritw die Affaire zu einer Haupt- und Staatsaktion aufbauschte,
obschon er sie in der Hauptsache, wie seine konfuse Beschreibung zeigt, gar nicht
verstand. Gleichwohl gab es schon damals Leute, welche den Humbug durch¬
schauten, und zu ihnen wird auch Sammicheli, der große Nebenbuhler Sanso¬
vino's, gehört haben. Ihre Meinung gibt unzweifelhaft Vincenzo Scamozzi,
der sich noch in den letzten Jahren Sansovino's der Unterweisung des Meisters
erfreut hatte, in seiner Icksa alsit' ^reditstwrÄ wieder, wenn er sagt, es hätte
gar keine Schwierigkeit vorgelegen; überdies sei Sansovino's Lösung keine
glückliche.
Der Meister stand jetzt auf der Höhe seines Ruhmes und seines Glückes,
getragen durch die Gunst des venetianischen Adels und gefeiert in ganz Italien
um des glänzenden Bauwerkes willen, das seiner baldigen Vollendung entgegen¬
sah. Aus seiner so geschickt in Szene gesetzten Reklame hatte er zugleich einen
klingenden Vortheil gezogen, indem ihm unter dem 19. April 1539 eine Gehalts¬
zulage von 40 Dukaten bewilligt wurde, sodaß sich das gesammte Einkommen,
welches er von Seiten der Republik bezog, nun auf 220 Dukaten belief.
Um so tiefer und schwerer war der Sturz, der ihn ereilte.
Im Jahre 1545 wurden die Rüstbogen errichtet, um die gewölbten Decken
der Hallen aufzumauern. Sansovino hatte bei der Restauration der Kuppeln
der Markuskirche bereits ausreichende Erfahrungen gesammelt und, wie er
damals die Risse dadurch beseitigte, daß er die Kuppeln mit eisernen Reifen
umspannte, so brachte er auch jetzt in Zwischenräumen von fünf Fuß eiserne
Ketten an, die von einer Mauer zur andern hinübergezogen wurden, um die
Trag- und Widerstandsfähigkeit der Seitenmauern zu vermehren. Der Bau
der Decke nahm längere Zeit in Anspruch, als Sansovino erwartet hatte. Der
Frost kam dazwischen, aber der Meister, begierig, sein Werk zu vollenden, ließ
nichtsdestoweniger weiterarbeiten, und um die Mitte des Dezember war die
Decke vollendet.
Da, am 18. Dezember, einem Freitage, in der Nacht um ein Uhr, erfolgte
die Katastrophe. Wie Sansovino die Sache später darstellte, hatten die Maurer
«och an demselben Tage die Stützbalken weggenommen, als die letzte Hand an's
Werk gelegt worden war. Ein Theil des Gebäudes, und zwar die Seite nach
dem Glockenthurm zu, stürzte ein. Wie gewöhnlich bei solchen Anlässen, über-
trieb das Gerücht die Thatsachen um ein Bedeutendes. Die Nachricht von der
Katastrophe verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch ganz Venedig, und schon
um vier Uhr drang sie zu Pietro Aretino, der eben einen Brief von dem zur
Zeit in Rom weilenden Tizian erhalten hatte. Ein etwas voreiliger Diener der
Gerechtigkeit bemächtigte sich sofort des unglücklichen Baumeisters und steckte ihn
in's Gefängniß. Seine Freunde, Pietro Aretino und der Bildhauer und Dichter
Dcmese Cattaneo an der Spitze, setzten sofort alle Hebel in Bewegung, um die
Freilassung Sansovino's zu erwirken. Don Diego Mendoza, der kaiserliche
Geschäftsträger, der sich als Statthalter von Siena gerade in dieser Stadt be¬
fand, schickte sofort einen Boten an Sansovino, der ihn seines Beistandes ver¬
sicherte. Aretino schrieb noch in der Nacht einen Brief an Tizian nach Rom,
in welchem er das Mißgeschick Sansovino's im threnodischen Stile eines Cicero
beklagte.
Crowe und Cavalcaselle nehmen in ihrer Tizian-Biographie an, daß die
Freilassung Sansovino's hauptsächlich ihrem Helden zu verdanken gewesen, der
mit dem neuen Dogen Pietro Lando in näheren Beziehungen stand. Sie be¬
rufen sich dabei auf Beltrcune, dessen Meinung sich zweifellos auf Urkundliches
stütze, wenn er dergleichen auch nicht angebe. Gegenüber der Darstellung
Temanza's aber, der die von ihm benutzten Urkunden auch immer, sogar häufig
im Wortlaute, zitirt, ist die Meinung der beiden berühmten Forscher, welche
sich auf Urkunden und Inschriften weniger gut verstehen als auf Stilanalysen,
nicht stichhaltig. Danach scheint es vielmehr, daß Sansovino unverzüglich in
Freiheit gesetzt wurde, nachdem sich seine Verhaftung aus dem Uebereifer eines
untergeordneten Organes der Exekutivbehörde erklärt hatte. Der voreilige
Sbirre wanderte an seiner Stelle in's Gefängniß. Man braucht dabei nicht
immer gleich an die Bleikammern oder an die schauerlichen, lichtlosen Löcher
unter dem Kanal an der Seufzerbrücke zu denken. Diese Marterkammern blieben
meist für politische Verbrecher reservirt.
Die Verhaftung Sansovino's war aber nur das kleinste der Mißgeschicke,
die den Meister trafen. Er wurde sofort aller seiner Aemter und Obliegen¬
heiten enthoben und ihm ein peinlicher Prozeß gemacht, der mit seiner Ver-
urtheilung zu einer Geldbuße von tausend Dukaten endete. Die Akten dieses
Prozesses sind noch vorhanden, oder waren es wenigstens noch, als Temanza
seine Biographie des Meisters schrieb Ueber den Einsturz selbst heißt es
darin sehr lakonisch: „1545. 18. Dezember. Freitag am Abend, um ein Uhr
in der Nacht, stürzte das neue Gebäude gegenüber dem Palaste ein, an der
Seite nach der Panataria zu." Aus den angestellten Verhören ging hervor,
daß die einen die Schuld an dem Einsturz der Eile beimaßeu, mit welcher
gemauert worden war, andere dem plötzlich eingetretenen, übermäßigen Froste,
andere endlich der Unerfahren!)eit der Maurer und zum Theil auch der Er¬
schütterung, welche dadurch herbeigeführt worden war, daß ein Schiff im Hafen
mehrere Kanonenschüsse abgefeuert hatte.
Sansovino brauchte die Strafe nicht baar zu erlegen. Er hätte noch
600 Dukaten für die vier Bronzestatuen in den Nischen der Logetta — sie ge¬
hören zu seinen reizvollsten Schöpfungen — und 300 weitere für drei Bronze¬
reliefs zu fordern, welche Begebenheiten aus dem Leben des heiligen Markus
darstellen und sich gegenwärtig im Chor von San Marco befinden. Die Ab¬
rechnung fand am 10. Februar 1546 statt. Inzwischen war Aretino nicht un¬
thätig gewesen. Gleich nach Sansovino's Verhaftung hatte er einen ungemein
salbungsvollen Trostbrief an Pavia Sansovino — man weiß nicht, ob es die
Gattin oder die Tochter des Meisters war — geschrieben, und dann setzte er
alle seine Gönner und alle, die ihm irgendwie verpflichtet waren oder ihn zu
fürchten Ursache hatten, in Bewegung, um das Schicksal des Künstlers zu
mildern. Vornehmlich kam es ihm darauf an, die Angelegenheit, welche sich
mit großer Schnelligkeit durch ganz Italien verbreitet hatte und überall Auf¬
sehen erregte, in einem für Sansovino möglichst günstigen Lichte darzustellen.
Er wußte, daß die Neider Sansovino's die Sache übertrieben und zu ihrem
Vortheile ausgebeutet hatten. Namentlich waren ihm herbe Urtheile Sammicheli's
und Tribolo's zu Ohren gekommen. Auf beide ergoß er nun die Schaale seines
Zornes, und da er dem ersteren, wie es schien, nicht beikommen konnte, hielt er
sich an den letzteren, der ein Schüler Sansovino's gewesen war. Er setzte ihm
so lange zu, bis er schwor, niemals eine ungünstige Aeußerung über feinen
ehemaligen Meister gethan zu haben.
Dieser Zug in Arelim's Wesen berührt um so angenehmer, als er ziemlich
vereinzelt dasteht. Als Gegenstück dazu mag ein Beispiel von der Doppel¬
züngigkeit des Pasquillanten angeführt sein, das uns zwar von unserm Gegen¬
stande etwas ableitet, aber doch der Zeit nach mit ihm in Verbindung steht.
Tizian war Ende September oder Anfang Oktober nach Rom gegangen und
hatte bald nach seiner Ankunft einen enthusiastischen Brief an Aretino geschrieben,
den dieser sofort beantwortete. „Ich sehne mich," heißt es darin, „nach Eurer
Rückkehr; denn ich mochte wissen, was Ihr über die Antiken denkt und ob Ihr
meint, daß sie höher stehen als Michelangelo, und inwiefern dieser als Maler
den Raffael erreicht oder übertrifft----Seht Euch ja die Art und Weise aller
hervorragenden Maler ... an ... vergleicht die Figuren Jacopo Sansovino's
mit Arbeiten solcher, die sich ihm an die Seite stellen, und vertieft Euch nicht
zu sehr in das ,Jüngste Gericht' der Sixtina; sonst laßt Ihr mich und San¬
sovino den ganzen Winter über im Stiche." Und dieser selbe Aretino schrieb
wenige Tage darauf, am 17. Oktober 1545, an Cosimo I., Herzog von Florenz:
„Mein Gönner! die nicht geringe Menge Geldes, in deren Besitz sich Messer
Tizian befindet, sowie seine übermäßige Begierde, dasselbe zu vermehren, ist der
Grund, daß er, ohne sich an Verbindlichkeiten zu kehren, die er gegen Freunde
hat, noch an Verpflichtungen, die man Verwandten schuldig ist, nur an das
mit außergewöhnlicher Besorgniß denkt, was ihm große Dinge in Aussicht stellt;
deshalb ist es auch kein Wunder, wenn er, nachdem er mich sechs Monate lang
mit der Hoffnung hingehalten, jetzt von der Freigebigkeit Paul's III. angelockt,
nach Rom gegangen ist, ohne mir das Bild Eures unsterblichen Vaters zu
machen."
Wir wissen nicht, ob Aretino sich auch gegen Sansovino in gleichem Maße
doppelzüngig erwies. Aber soviel steht jedenfalls fest, daß er ihm während
seines Mißgeschickes treu zur Seite blieb und ihm die Folge der Katastrophe
nach Kräften zu mildern suchte. Sansovino wurde zwar abgesetzt und sein
Gehalt suspendirt, aber er blieb doch c1«z taero der Architekt seines Werkes.
Er wußte sich auch gegen den Prokurator Antonio Capello zu behaupten, welcher
vorschlug, die steinerne Wölbung durch eine hölzerne Decke zu ersetzen. Das
Werk wurde unter besseren Auspizien fortgeführt, und am 4. Oktober 1546,
also noch nicht ein Jahr nach der Katastrophe, konnte Sansovino an seinen
Gönner, den Kardinal Bembo in Rom, der sich gleichfalls in den unglücklichen
Dezembertagen für ihn verwandt hatte, das Schreiben richten: „Ich würde
glauben, sehr gegen meine Pflicht zu fehlen, wenn ich Ihnen nicht über meinen
Bau Nachricht gäbe, der Ew. hochwürdigen Herrlichkeit so sehr gefiel, als die¬
selbe hier war. Ich theile Ihnen also mit, daß ich denselben jetzt soweit gebracht
habe, daß er bequem bewohnt werden kann. Und obschon der Bau durch die
Schuld eines Andern, wie Jeder weiß, einige Unfälle erlitten hat, so ist die
Sache doch nicht so arg gewesen, als man sie anfänglich gehalten hat. Denn
es ist blos ein Fenster eingestürzt und der Giebel, der darüber war, indem die
unwissenden Bauleute an demselben Tage die Stützen weggenommen hatten, als
die letzte Hand daran gelegt worden war. Aber Gott möge es dem, der es so
gewollt hat, vergeben! — Ich danke Ew. hochwürdigen Herrlichkeit unendlich
für die Grüße von Seiten des Messer Antonio Anselmi, dem meine Idee des
Eckstückes der dorischen Ordnung so sehr gefallen hat; eine Sache, die von den
Alten wegen ihrer Schwierigkeit bei Seite gelassen worden ist. Nun aber will
ich weiter nichts mehr sagen. Möge mich Ew. hochw. Herrlichkeit als Vater der
Künstler dort vertheidigen und hier über mich gebieten, wie über einen wirk¬
lichen und langjährigen Diener. Unser Herr erhalte Sie glücklich!"
Sansovino witterte also, wie aus diesem Schreiben hervorgeht, hinter dem
Unfall seines Bauwerkes eine Intrigue, die Hand eines ungenannten „Andern",
der zu voreilig die Stütze» wegzog, durch welche der Ruhm des Erfinders des
dorischen Eckstückes begraben werden sollte. Aber die Sache sah schlimmer aus,
als sie in der That war. Dieselbe Fama, welche in den Jahren zuvor so
geschäftig für den Schöpfer der Libreria durch ganz Italien geflogen war,
stellte sich im Handumdrehen in den Dienst seiner Gegner und durchflog zum
zweiten Male als Nemesis die apenninische Halbinsel.
Auch in Venedig scheint man an maßgebender Stelle die Angelegenheit
schließlich unter einem milderen Lichte betrachtet zu haben. Als das „Prächtigste
Profane Gebäude Italien's" Ende 1548 vollendet dastand, als sich die weißen
Mormorsäulen in den lichtgrünen Fluthen der Lagune spiegelten, und ganz
Venedig dem genialen Meister zujauchzte, ging auch für den Hartgeprüften die
Sonne der Gnade wieder auf. Am 3. Februar 1549 wurde Sansovino in
seine Aemter und Würden wieder eingesetzt. Er erhielt nicht blos den suspen-
dirten Gehalt, sondern auch das als Geldbuße eingezogene Honorar für Bronze¬
arbeiten zurück. So verlief die Angelegenheit schließlich ohne materiellen Schaden
für den Meister, und auch sein Ruhm erholte sich allmählich von der erlittenen
Schlappe, die er überdies noch durch eine Reihe glänzender Schöpfungen wieder
gutmachen konnte, da er erst im Jahre 1570 starb und fast bis zum letzten Augen¬
blicke seines Lebens in Thätigkeit blieb. Aretino ließ die Rehabilitation seines
Freundes nicht vorübergehen, ohne dem Dogen und der Signoria in einem
Briefe voll emphatischer Wendungen für ihre gnädige, der Kunst freundliche
Gesinnung zu danken.
Mit dem Ausbau des Innern der Bibliothek wurde, so scheint es, etwas
vorsichtiger umgegangen. Erst im Jahre 1553 war der große Saal so weit
vollendet, daß man daran denken konnte, ihn mit malerischem Schmucke zu ver¬
sehen. Gerade damals war uuter den Malern Venedig's ein neues glänzendes
Gestirn aufgetaucht, Paolo Veronese, der seine Erfolge vornehmlich als Fresko¬
maler erzielt hatte. Tizian und Sansovino, welche mit der Auswahl eines
Malers betraut waren, forderten ihn und fünf andere Künstler — die Register
der Prokuratien nennen die Namen: Jseppo Salviati, Battista da Verona,
Zuanne de Mio, Julio Lizziui und Andrea Schiavoni — zu einer Konkurrenz
auf, die im Jahre 1556 von den Preisrichtern zu Gunsten Paolo Veronese's
entschieden wurde. Um den Eifer der Konkurrenten noch zu erhöhen, hatten
die Prokuratoren für den Sieger außer feinem Honorar noch eine goldene Kette
ausgesetzt. Eine Anekdote erzählt, daß jeder von den Bewerbern einzeln gefragt
wurde, welchem Entwürfe er den ersten Preis zuerkenne, und alle sprachen ihm
dem Paolo zu — also eine Wiederholung jenes Urtheiles, welches einst die
griechischen Konkurrenten um die Amazone für Ephesos über das Werk ihres
Mitbewerbers Polyklet fällten. Paolo bekam also die goldene Kette und drei
von den einundzwanzig für die Decke bestimmten Rundbildern zur Ausführung,
während die andern sich mit dem Honorar von sechzig Dukaten begnügen
mußten.
Als Sansovino am 27. November 1570 in einem Alter von 91 Jahren
starb, war der Ausbau des Innern nur etwa erst zu zwei Drittheilen vollendet.
Seamozzi, Sansovino's Schüler aus der letzten Zeit seines Lebens, der 1582
Baumeister der Republik wurde, fiel die Aufgabe zu, das edelste Vermächtniß
seines Meisters zur Vollendung zu bringen. Man kann ihm zu seinem Ruhme
nachsagen, daß er diese Aufgabe im Geiste Sansovino's und ziemlich genau
nach seinen Plänen ausführte.
Das Gebäude der Markusbibliothek, welche jetzt zum königlichen Palaste
gehört, nachdem die Bücher bereits 1812 in den Dogenpalast geschafft worden,
hat den Stürmen dreier Jahrhunderte getrotzt und damit die Solidität seines
Gefüges auf's glänzendste bewiesen. Viele gleichzeitig entstandene Kirchen sind
heute bereits in lebensgefährlicher Weise baufällig, Kuppeln und Gemäuer zeigen
furchtbare Risse, die Libreria aber steht heute noch so unversehrt da, wie sie
aus den Händen ihres Schöpfers hervorgegangen.
Der „Daily Telegraph", gegenwärtig die verbreiterte englische Zeitung,
brachte am vorigen Sonnabend folgenden hochinteressanter Leitartikel:
„Durch die Vollendung der Eisenbahnlinie, die Berlin direkt mit Metz
verknüpft, hat die deutsche Regierung es sich wesentlich erleichtert, beim Beginn
zukünftiger Feindseligkeiten, die zwischen den Siegern und den Besiegten von
1870 und 71 ausbrechen können, die Offensive gegen Frankreich zu ergreifen.
Die Hauptstadt Deutschland's ist jetzt mit dem großen lothringischen Bollwerk
durch eine schnurgerade und solid gebaute Eiseustraße verbunden, auf welcher
es ohne Unterbrechung und Aufenthalt die gewaltigen Militärkräfte, die in
Friedenszeiten in den östlichen und nördlichen Provinzen Preußen's lokalisirt
sind, nach einem Punkte an der französischen Grenze werfen kann, der nicht
weiter als 210 Kilometer von Paris entfernt ist. Im Falle eines Krieges
zwischen Deutschland und Frankreich ist Berlin das Stelldichein, wo die Armee¬
korps von Ostpreußen, Pommern, der Mark Brandenburg, Posen, Schlesien,
Schleswig-Holstein und Hannover, die mit der bleibend in und um Berlin
stationirten Garde beträchtlich mehr als ein Drittel der ganzen kaiserlich deut¬
schen Heeresmacht bilden, sich nothwendigerweise sammeln müssen, sobald ihre
Mobilisirung vollendet ist; denn die militärischen Kreise, in welchen die Armee¬
korps eins, zwei, drei, fünf, sechs, neun und zehn ihre Standorte haben und
sich jährlich rekrutiren, sind allesammt mit der Hauptstadt durch direkte Eisen¬
bahnlinien verbunden, deren Dienst im Hinblick auf die Absicht organisirt ist,
im Zentrum der Metropole binnen zehn Tagen nach Versendung der Mobili-
sirungsordre an die betreffenden Distriltskommandeure circa 250000 wohlgeübte
Soldaten zu sammeln.
Die übrigen zehn Korps der kaiserlichen Armee hängen rücksichtlich ihrer
Beförderung nach der deutschen Westgrenze von andern Eisenbahnsystemen ab,
die es für sie unnöthig machen, durch Berlin zu Passiren, wenn sie gegen
Frankreich zu Felde ziehen. Aber es ist wahrscheinlich, daß die aus den oben
erwähnten acht Korps bestehende Streitmacht — die Garde bildet ein eigenes
Armeekorps, das keine besondere Nummer hat — in Gemeinschaft mit dem
15. Korps, das bleibend an der französischen Grenze aufgestellt ist, im Falle
des Ausbruchs eines neuen Krieges zwischen Frankreich und Deutschland zu
einem plötzlichen und zerschmetternden Schlage gegen Paris benutzt werden
würde. Zu diesem Zwecke ist die Linie Berlin-Metz mit einem gewaltigen
Kostenaufwande erbaut worden, der aus der französischen Kriegskostenentschä¬
digung bestritten wurde. Kein Heller davon ist jetzt unverwendet, ausgenommen
die 120 Millionen Mark, die in den Kellern des Juliusthurms zu Spandau
bei Seite gelegt sind, um die ersten Baarausgaben bei Beginn einer Mobilisirung
beim nächsten Kriege bestreiten zu können. Diese Summe gemünzten Goldes,
welche einem jährlichen Zinsenertrag von zwei Millionen Mark gleichkommt,
liegt todt und keine Interessen tragend da, und das zu einer Zeit, wo die
Finanzen des Reiches in Folge des Niederganges von Handel und Wandel
in ganz Deutschland sich in so übler Lage befinden, daß das letzte Budget des
Reiches ein Defizit von 70 Millionen Mark aufwies. (Eine Vorsicht, welche
blos ein beschränkter Kaufmannssinn tadeln, ein Politiker dagegen selbstver¬
ständlich nur loben kann.)
Metz ist, wie der „erste Soldat des Vaterlandes" während der Friedens¬
verhandlungen im Januar 1871 grimmig bemerkte, „ein in bequemer Distanz
zum Feuern auf den Kopf Frankreich's zielendes Pistol". Es ist im gegen¬
wärtigen Augenblicke nicht nur die gewaltigste Festung Europa's — wahr¬
scheinlich der ganzen Welt — sondern zugleich ein Waffenplatz ersten Ranges,
dem sich an Ausdehnung, Stärke und Hilfsquellen nur Straßburg und Posen
nähern. Als eine Basis von Angriffsoperationen ist es alles, was Graf
v. Moltke daraus zu machen entschlossen war, als er zu einer Zeit, wo der
französische Borschlag, es blos zu schleifen, im kaiserliche» Hauptquartier mehr
als einen einflußreichen Fürsprecher fand, darauf bestand, daß Deutschland es
behalte. Sein Besitz schützt nebst dem von Straßburg Deutschland's Westgrenze
praktisch vor einer Invasion und setzt die Deutschen in den Stand, Frankreich
mit überwältigenden und leicht zu konzentrirenden Streitkräften mitten in's
Herz zu treffen.
Fürst Bismarck, der sich während des deutsch-französischen Krieges so oft
und so bitter beklagte, daß ihm durch die rein militärischen Autoritäten, die,
statt ihn mit seinem Programm des Druckes auf die Vertheidiger von Paris
und die Regierung der nationalen Vertheidigung zu unterstützen, ihn fort¬
während hemmten, die Hände gebunden wären, hat durch sein Handeln feit
Abschluß des Friedens bewiesen, daß er Behandlung von oben herunter
(sliAdts) und Beleidigungen verzeihen kann, wenn die Interessen Deutschland's
dies für ihn zweckmäßig machen. Er hat den Leuten, die deshalb, weil er kein
berufsmäßiger Soldat oder anerkannter Strateg war, ihn in Versailles syste¬
matisch bei Seite ließen (Mubbkä) und hei einer Gelegenheit so weit gingen, ihn
von einer militärischen Berathung, welche bei einer besonders kritischen Gestal¬
tung des Feldzugs stattfand, auszuschließen, bei den Maßregeln, die sie befür¬
worteten, seine getrene und stetige Unterstützung angedeihen lassen. Er war zu
jener Zeit über ihre Haltung heftig erbittert und hielt mit dem Ausdruck seiner
Entrüstung gegen seine Umgebung, wie Dr. Busch's Tagebuch reichlich bezeugt,
keineswegs zurück. Aber der Verdruß, der ihm durch militärische Pedanterie
und Ausschließlichkeit zu eiuer Zeit verursacht wurde, wo seine Nerven dnrch
das Bewußtsein überwältigender Verantwortlichkeit in einen schmerzhaften Grad
von Spannung versetzt waren, hielt ihn, als diese Spannung in Folge der
ungeheuren Triumphe Deutschland's nachgelassen hatte, nicht im Mindesten ab,
seine Peiniger in den Stand zu setzen, ihre Pläne für die vollständige Siche¬
rung der neuen Grenze und für die Steigerung der Aussichten des Vaterlandes
auf Erfolg bei einem zukünftigen Zusammenstoße mit seinem alten Feinde aus¬
zuführen. Zu allen praktischen Absichten und Zwecken hatte er die Schnur
der Geldsäcke in der Hand, in welche die Milliarden der Kriegsentschädigung,
aus dem französischen Besitz in den deutschen übergehend, geflossen waren, und
er lockerte sie ohne Zögern, so oft das Kriegsdepartement neue Geldlieferungen
zur Vervollständigung seines gigantischen Offensiv- und Defeusivsystems ver¬
langte.
Bei seinen wiederholten Bemühungen, alle dentschen Privateisenbahnen
dem Staate in die Hände zu bringen — Bemühungen, welche vorzüglich von
strategischen Rücksichten und den bis in's ungeheuere entwickelten Bedürfnissen
des militärischen Transportdienstes diktirt waren — wagte er es wiederholt,
sich in Kreisen unbeliebt zu machen, wo ihm besonders daran lag, Empfind¬
lichkeiten zu beschwichtigen und sich für die Dauer Wohlwollen zu erwerben.
Er hat sich der ihm vom Kaiser und der Nation anvertrauten fast unbe¬
schränkten (zu viel behauptet!) Vollmachten bedient, um in dieser besonderen
Richtung Ergebnisse herbeizuführen, welche sich durch ein streng konstitutionelles
Verfahren nicht erreichen ließen. Durch die vor nichts zurückschreckende Aus¬
übung seines Einflusses auf die Verwaltung ist viel werthvoller Eisenbahnbesitz
(zum Besten des Staates, also zum Wohle Aller, zuletzt auch indirekt der
Aktionäre!) entwerthet worden, bis die Aktionäre herausfanden, daß es that¬
sächlich in ihrem Interesse lag, sich von ihren Aktien unter Bedingungen zu
trennen, die sie, als man sie ihnen zu Anfang vorschlug, nicht einmal anhören
wollten, indem sie der irrigen Meinung lebten, daß man sie nicht zwingen
könnte, was ihnen gehörte, mit Verlust aufzugeben, blos, weil die Regierung
es zu wohlfeilen Preise haben wollte. Hierbei machten sie die Rechnung ohne
den Wirth. Fürst Bismarck hat ihnen bewiesen, daß die Staatsraison, seiner
Vertretung übertragen, vor allen privaten und individuellen Interessen, gleich¬
viel welchen, den Vortritt hat. Er hat sich von seinem Vorhaben weder durch
wirthschaftliche Rücksichten, die geltend gemacht wurden, noch durch irgend welche
Vorstellungen gefühlvoller Art abbringen lassen, und das Ergebniß seiner
Standhaftigkeit ist das, daß Deutschland sich jetzt in einer Lage befindet, in
der es seinen nächsten Krieg gegen jeden seiner großen Nachbarn — vorzüglich
gegen Frankreich — mit sehr günstigen Aussichten führen kann, während es
selbst gegenüber jeder Invasion von seiner Westgrenze her unbedingt unüber¬
windlich ist.
Thatsächlich sind die Milliarden in der Hauptsache für verbesserte Rüstungen
der oder jener Art ausgegeben worden. Eine riesige Summe ist für Stra߬
burg und Metz verwendet, die östlichen Festungen sind erweitert, verstärkt und
mit einer gewaltigen Artillerie versehen, die achtzehn Armeekorps des kaiserlichen
Kriegsheeres sind neubewaffnet mit Gewehren von der höchsten Wirksamkeit,
welche die moderne Wissenschaft erreicht hat, die Qualität der Kavalleriepferde
hat eine solche Verbesserung erfahren, daß man, ohne Widerspruch fürchten zu
müssen, behaupten kann, sie sei doppelt so gut als 1870, und die gegenwär¬
tigen Zahlen der stehenden Armee und folglich auch der Reserve und der Land¬
wehr sind beträchtlich vermehrt worden. Die Streitmacht, über die der deutsche
Kaiser für einen auswärtigen Krieg verfügt, ist in jeder Beziehung eine viel
furchtbarere als die, mit welcher er vor etwa neun Jahren Frankreich überzog
und besiegte. Die Verbesserungen im Mobilisirungssystem haben Schritt ge¬
halten mit denen in der Bewaffnung, Ausstattung und Beförderung der kaiser¬
lichen Legionen. Mau wird sich erinnern, daß die französische Kriegserklärung
am 15. Juli 1870 von Paris abging, und daß am folgenden Tage die Ordre
zur Mobilisirung der zum Norddeutschen Bunde gehörigen Armeen von Berlin
versandt wurde. Vierzehn Tage nachher standen zwischen drei- und viermal-
hunderttausend deutsche Krieger an der Grenze des Elsaß, und am 4. August
wurde von der Vorhut des Heeres des Kronprinzen die Schlacht bei Weißen¬
burg geschlagen und gewonnen. Dies war eine Leistung auf dem Gebiete der
Mobilisirung und Beförderung, die bis dahin der militärischen Erfahrung noch
nicht vorgekommen war, und die bei jedem Berufssoldaten in Europa Staunen
und Bewunderung erweckte. Wenige Offiziere außerhalb des geschlossenen
Kreises des preußischen Generalstabes glaubten, daß sie in einem zukünftigen
Kriege noch überboten werden könne. Trotzdem theilt man uns mit, daß die
jetzt beinahe vollendeten Einrichtungen das deutsche Kriegsministerium in den
Stand setzen werden, eine Streitmacht von mehr als einer halben Million
wohlgeübter und disziplinirter Soldaten binnen zehn Tagen nach Erlaß des
Mobilistrungs-Befehls zu mobilisiren und an die östliche oder westliche Grenze
zu versetzen.
Es ist ein Glück für seine nächsten Nachbarn, daß Deutschland so fried¬
fertig gestimmt ist, wie wir im jetzigen Augenblick anzunehmen alle Ursache
haben" — und wie man, fügen wir hinzu, immer wird annehmen dürfen, so
lange jene Nachbarn ebenso friedfertig denken und dies in ihrem Verhalten
erkennen lassen.
Während dem neuen Zolltarif in seinen schutzzöllnerischen Theilen die
Annahme durch die Reichstagsmehrheit gesichert ist, erscheint die Annahme der
Finanzzölle zur Zeit noch fraglich. Und doch weiß Jedermann, daß der Zweck,
dem Reiche eigene Einnahmen mindestens bis zum Betrage der Matrikularbei-
träge, wenn jedoch möglich, weit über diesen Betrag hinaus zu verschaffen, den
Anstoß zur Zollreform gegeben hat. Schutzzölle allein ohne Finanzzölle würde
die Reichsregierung nie gefordert haben, denn neben dem Anspruch der Klassen,
welchen die Schutzzölle zu gute kommen sollen, steht der noch weit höher
berechtigte Anspruch derjenigen Klassen, welche einer gerechteren Vertheilnng
der Steuerlast bedürfen. Es ist also gar keine Rede davon, daß Schutzzölle
ohne Finanzzölle, möchte der Reichstag immerhin so beschließen, zur Einführung
gelangen, weil der Bundesrath einem in dieser Weise einseitig gestalteten Tarif
die Zustimmung nicht geben würde. Wir stehen also vor der Frage, ob durch
die Finanzzölle die ganze Zollreform scheitern wird. Wie vor jeder Entschei¬
dung zwei Sorten von Pessimisten auftreten, die eine Sorte: die deprimirten
Sanguiniker, die andere Sorte: die Schlauköpfe, welche als erste Bedingung
zum Sturz eines Planes die Erschütterung der Zuversicht auf denselben ver¬
suchen, so auch diesmal. Die schwachmüthigem und die Minirer prophezeien
den Fall der Finanzzölle aus folgenden Gründen. Einmal weisen sie auf die
Zurückhaltung des Zentrums, welches um so spröder thut, je mehr die Aus¬
sichten auf einen raschen kirchlichen Frieden zurückzuweichen scheinen. Die
Taktik der Zentrumsführer war immer, die Finanzzölle als offene Frage zu
behandeln, die Bewilligung abhängig zu machen von allen möglichen Garan-
tieen. Von dieser gut gewählten Position aus kann man die Konsequenz
wahren und zugleich eine drohende Miene annehmen. Es gibt in der That
Leute, die vor dieser drohenden Miene sehr erschrecken. Die Pessimisten können
aber auch, auf die neuere Haltung der Nationalliberalen hinweisen. Dieser
Partei, welche nach der entgegengesetzten Haltung ihrer Führer bei der General¬
diskussion des Zolltarifs nicht weiß, wie weit sie morgen ihren Bestand erhalten,
ihr nationales Programm bewahrt und ihren so bedeutenden Anhang in der
Nation noch um sich geschaart sehen wird, fehlt im Augenblick jede Direktion.
Während die National-Zeitung kürzlich zum Erstaunen Vieler erklärte, sich die
föderativem Garantieen des Zentrums sehr genau besehen zu müssen, hatte
dasselbe Blatt nicht lange vorher mit starker Beflissenheit die konstitutionellen
Garantieen unter seine Obhut genommen. Als ob diese beiden Arten von
Garantieen so sehr weit auseinander wären, als ob das Zentrum auf seinem
Preiskourant neben den föderativem nicht von Anfang auch die konstitutionellen
Garantieen geführt hätte!
Die natürliche Rolle der Nationalliberalen wäre allerdings, für die
Finanzzölle mit Entschiedenheit einzutreten unter dem einzigen Vorbehalt, daß
das vom preußischen Finanz minister dem Abgeordnetenhause gegebene Versprechen
erneut wird, eine Gesetzvorlage zu machen, wonach alle den Einzelstaaten aus
der Reichskasse zufließenden Einnahmen in erster Linie zur Beseitigung von
direkten Steuern verwendet werden müssen, jede andere Verwendung aber als
von der besonderen Zustimmung der Landtage abhängige Ausnahme gilt.
Dies wäre die natürliche Rolle der Nationalliberalen, denn das Lebens¬
motiv der Partei ist die Pflege des Reichsgedankens und zwar nach der Seite
der zentralen Institutionen und ihrer Kraft. Denjenigen unter ihren Genossen,
welche grundsätzlich Freihändler sind, könnte die nationalliberale Partei frei¬
stellen, um der Schutzzölle willen gegen den Tarif im Ganzen zu stimmen;
dieser selbst wäre dann gleichwohl gesichert.
Allein es scheint, als ob die Nationalliberalen nicht gewillt oder höchst
unentschlossen sind, diese einfache Rolle, die ihnen ihre ganze Vergangenheit
vorschreibt, zu ergreifen. Es hat sich eines Theils der Partei eine habituelle
Schmollsucht bemächtigt. Man will sich gekränkt, zurückgesetzt, verlassen fühlen,
und doch wäre man in Verlegenheit, zu sagen, wodurch denn die Partei in
ihren politischen Gedanken verletzt worden. Nur durch diese Verletzung dürfte
sich eine patriotische Partei gekränkt fühlen. Aber die Frage der Tarifpolitik
ist in der Partei immer für eine offene erklärt worden. Noch vor kurzem
warnte die National-Zeitung in einem nicht unwahrscheinlich aus Laster's
Feder geflossenem Artikel eindringlich davor, die Partei an einen wirthschaft¬
lichen Standpunkt zu binden. Laster selbst ist bekanntlich in der Zollpolitik
Opportunist. Dagegen scheint er in der Partei an der Spitze der Schmoll¬
süchtigen zu stehen. Aber weil ein, wenn auch einflußreiches Parteimitglied
parlamentarische Konflikte mit dem Reichskanzler gehabt hat, deren schuldiger
Theil jetzt nicht ermittelt werden soll, deswegen darf die Partei doch nicht
einem Akt nationaler Reform entgegentreten, gegen den sie sonst keine stichhal¬
tigen Gründe hat, der vielmehr ihrem Lebensmotiv und ihrer Vergangenheit
vollständig entspricht.
Allerdings würde bei einer solchen Haltung der Nationalliberalen der
Kanzler den Tarif bekommen, wie er ihn will: nämlich die Finanzzölle durch
die Nationalliberalen und Konservativen, die Schutzzölle durch das Zentrum
und die Konservativen, das Ganze durch einen Theil des Zentrums, einen
Theil der Nationalliberalen und die Konservativen. Gegen diese Eventualität
verwahrt sich nun die National-Zeitung mit dem Ausspruch, man wolle sich
nicht gebrauchen lassen zu eiuer Politik, welche das Ganze erreicht, indem sie
für die Stücke verschiedene Majoritäten gewinnt. Man will also den Theil,
den Haupttheil eines politischen Planes verwerfen, den Theil, welcher dem
eigenen politischen Gedanken entspricht, weil man den Kanzler nicht zwingen
kann, das Ganze nach den Wünschen der Nationalliberalen einzurichten, wobei
das Schönste ist, daß man einen eigenen Plan der ganzen Finanzreform nicht
besitzt oder keinesfalls, wenn er in einem Kopfe der Partei existiren sollte, über
denselben in der Partei einig ist. Denn ein auf die Beibehaltung und Aus¬
bildung der Freihandelspolitik gebauter Finanzplan würde nicht einmal den
größeren Theil der Nationalliberalen für sich haben.
Eine Opposition, wie die von der National-Zeitung, an der man freilich
jetzt eine vollkommene Direktionslosigkeit beobachten kann, durch deu erwähnten
Artikel in Aussicht genommene, kann selbstmörderisch werden. Denn wir
glauben noch nicht an die nachhaltige Opposition des Zentrums gegen die
Finanzzölle und namentlich nicht an die Gefährlichkeit der Garantieforderuugen,
an welchen die Partei schließlich festhalten wird. Daß die nationalliberale
Partei dahin kommen sollte, der Hauptfortbildung des Reiches seit seiner
Schaffung entgegengetreten zu sein, so daß der Sieg dieses Fortschrittes dem
Zentrum zu danken wäre, dies mögen wir noch nicht glauben. Schwerlich
dürfte die Partei diese verblendete Wendung gegen ihren Ursprung jemals ver¬
winden. Die Pflege und Fortbildung des nationalen Gedankens müßte nach
diesem Akt politischer Unbesonnenheit auf andere Männer übergehen, die Führer
mindestens, welche diesen Akt zu verantworten hätten, könnten niemals mehr die
Ehre verdienen, als Vorkämpfer des nationalen Gedankens die Leitung in
di
Der Verfasser dieser Schrift will uns keine Biographie des Reichskanzlers
geben, sondern „ein richtiges Verständniß für unsere Zeit, für das Wirken des
Fürsten Bismarck in ihr und für die Prinzipien, die er wieder zu Ehren ge¬
bracht, verbreiten", „unter möglichster Abstrahirung von konkreten Daten aus
der Geschichte den geistigen Kern herausschälen". Nach einem Rückblicke auf
das Zeitalter der Revolution versucht er, ein Charakterbild des Fürsten zu ent¬
werfen, der ihm der „echte Repräsentant einer soldatischen, königstreuen und
glaubensstarken Gesinnung" und ein mannhafter Kämpfer gegen die den Staat
bedrohenden revolutionären Tendenzen der Gegenwart ist. Dann wendet er
sich zu der auswärtigen Politik Bismarck's, die er zunächst als preußische,
dann als deutsche, zuletzt als großmächtliche auftreten läßt. Eingehender be¬
schäftigt sich die Schrift hierauf mit der vielfach mißverstandenen, aber auch
von ihr nicht ganz richtig charakterisirten inneren Politik des Reichskanzlers.
Manches, was der Verfasser hier bemerkt, können wir unterschreiben, namentlich
alles, was er liber die Fortschrittspartei sagt, desgleichen das, was er über die
Stellung des Fürsten zu den wirthschaftlichen Fragen urtheilt, indem er ihm
das Bestreben zuschreibt, „die Industrie und die Finanzen des Reiches auf die
Höhe einer auch national-ökonomisch großen Macht zu bringen, dem jungen
deutschen Reich mehr inneres Leben und Blut zuzuführen und zu bewirke«,
daß das Reich nicht mehr von den Bundesstaaten lebe, sondern das Leben
dieser Glieder von dem Wohlbefinden des ganzen Körpers abhängig sei." Die
Schlußabschnitte der Broschüre behandeln nichtpolitische Fragen, Glauben und
Wissen, Religion und Philosophie, Wahlrecht, Presse, Theater und dergl., wobei
der Verfasser gewöhnlich die Stellung des Fürsten zu diesen Fragen zu Präzi-
siren bemüht ist. Auch dies geschieht in mehreren Fällen mit Glück und Erfolg,
in anderen scheint uns die Schrift uicht auf der rechten Fährte. Vor allein
irrt der Verfasser, wenn er sich den Fürsten als einen Mann sast durchgehends
nach dem Herzen der Kreuzzeitungspartei vorstellt. Der Reichskanzler ist mit
Nichten ein Konservativer dieses Schlags, er ist dies ebensowenig, wie er zur
Partei der Herren Virchow und Richter gehört. Er ist eben ein Mann, der
über den Parteien steht, jede für seine Zwecke benutzt, von jeder das Gute
nimmt, das sie etwa hat, jede fallen läßt, wenn sie ihm nicht mehr konveniri.
Er ist der Mann der Möglichkeiten, der Thatsachen, der Kompromisse, nicht
entfernt ein Doktrinär, sondern der Realpolitiker, wie er sein soll, heute so,
morgen anders, aber instinktmäßig stets auf rechtem Wege. Wie der Verfasser
dazu kommt, das Buch Hahn's über Bismarck (S. 19.) ein „klassisches" zu
nennen, ist uns unbegreiflich. Es ist ein ziemlich geschickt zusammengestelltes
Sammelwerk, ein Hand- und Nachschlagebuch für den, der Material bedarf,
aber weiter nichts.
Wir müssen, bevor wir dieses Buch beurtheilen, die Vollendung desselben
abwarten. Vorläufig, wo wir erst beim Oktober 1861 stehen, können wir nur
sagen, daß das Werk in patriotischem Geiste geschrieben, nicht ohne Geschick
kompilirt und dem Inhalte nach ungefähr so viel werth ist, wie Bücher sein
können, die ohne tiefere und nähere Kenntniß der Verhältnisse und der Personen,
um die sich's handelt, abgefaßt werden. Irgend welchen historischen Werth
haben (und beanspruchen wohl auch) solche Erzeugnisse natürlich nicht. Wohl
aber bringen sie wenigstens einige von den Hauptzügen der betreffenden Per¬
sönlichkeiten dem Publikum nahe, erinnern an deren Verdienste und tragen
dazu bei, die dankbare Verehrung vor ihnen zu nähren und zu steigern, und
das ist immerhin etwas werth und geeignet, sie in Ermangelung von Besserem
zu empfehlen — selbstverständlich nur solchen, denen die leicht zugänglichen
Quellen, welche die Verfasser benutzt haben, nicht zu Gebote stehen. Wir
empfehlen darum auch diese Schrift, zumal da in ihr die neuesten Publikationen
über den Reichskanzler berücksichtigt sind, und stärkere Irrthümer uns nirgends
aufgestoßen sind. Auf eins möchten wir den Verfasser aufmerksam machen,
daß nämlich der Reichskanzler, bevor er zum Grafen und dann zum Fürsten
erhoben wurde, nicht „Freiherr", sondern einfach Herr v. Bismarck hieß.
Daß der „Freiherr" kein Druckfehler ist, geht daraus hervor, daß wir ihm
vou Seite 154 bis Seite 352 nicht weniger als sechzehn Mal begegnet sind.
In diesem Büchlein prüsentirt sich ein feiner literarischer Scherz, dessen
Quelle wohl in Leipziger Universitätskreisen zu suchen sein dürfte. Es handelt
sich nicht um eine scherzhafte Mystifikation, denn die Aufzeichnungen, die hier
1^0 Jahre nach ihrer Niederschrift veröffentlicht werden, stammen wirklich von
einem 20jährigen Studenten der Medizin, Joh. Friedr. Jugler aus Lüneburg,
der 1778 und 1779 in Leipzig studirte und gleich nach seinem Weggange von
der Leipziger Universität, im Winter 1779 auf 1780, seine Leipziger Beob¬
achtungen zu Papiere gebracht haben muß; das Manuskript ist in Hannover
w der Familie Jugler zu Tage gekommen und befindet sich im Besitz des
Enkels des Verfassers. Dennoch will das Ganze wohl nur als Säkularscherz
betrachtet sein. Positiv Neues über Leipziger Einrichtungen und Zustände
jener Zeit darf niemand in dem Büchlein erwarten. Für alle sachlichen Mit¬
theilungen , die der Verfasser macht, zitirt er gewissenhaft seine Quellen, und
dies sind lauter Schriften zur Leipziger Lokalgeschichte, die uns natürlich heute
noch ebensogut zu Gebote stehen, wie ihm damals. Uebrigens erschien 4 Jahre
nach den Jugler'schen Aufzeichnungen eine viel ausführlichere Darstellung aus
der Feder eines gewissen I. G. Schulz in Leipzig im Druck, durch welche die
^ugler'sche Schilderung, wenn sie 1780 veröffentlicht worden wäre, schon
damals in allen thatsächlichen Angaben antiquirt worden sein würde. Die
Urtheile aber, die der Verfasser über Zustände und Personen Leipzig's, nament¬
lich über die sämmtlichen damaligen Leipziger Universitätslehrer, fällt, und die
mancherlei charakteristischen Belege, die er dasür beibringt, bilden einen so
kleinen Bruchtheil des Ganzen, daß man die Frage aufwerfen könnte, ob nicht
dielleicht die Veröffentlichung dieser Partieen, etwa in einem Aufsatze in einer
Wochenschrift, genügt haben würde. Wenn aber auch mancher geneigt sein
wird, diese Frage zu bejahen, wir für unsern Theil sind aus mehr als einem
Grunde dem Herausgeber dankbar dafür, daß er uns das Ganze geboten.
Das Jugler'sche Manuskript ist mit diplomatischer Treue zum Abdruck gebracht,
in die Schlußpartieen, „Plaisirs und Zeitvertreib," sind einzelne Abschnitte
aus einem seiner Zeit konfiszirtem und daher selten gewordenen Buche „Leipzig
nach der Moral beschrieben" (1768) — es erschien noch während Goethe's
Studentenzeit in Leipzig und ist dasselbe Buch, in dem zum ersten Male Leipzig
„ein klein Paris" genannt wird — zur Ergänzung eingefügt, übrigens der
Text durch den Herausgeber mit fleißigen erläuternden Anmerkungen versehen
worden. Die Verlagshandlung aber hat durch die ganze Druckausstattung
und die Zugabe von drei interessanten Illustrationen — eines ziemlich gleich¬
zeitigen Planes von Leipzig und einer Abbildung der damaligen Leipziger
Promenade, beides in Lichtdruck, und eines Planes der Umgegend von Leipzig,
der in Landkartensatz von dem noch in der Offizin von Breitkopf Härtel
stehenden Originalsatz von 1776 gedruckt ist — dem Büchlein ein so reizvolles
Gewand verliehen, daß der ehemalige Leipziger Student sich bei den als
Luxsris ör intsris dafür bedanken kann, daß die Publikation seines Schriftchens
sich um die Kleinigkeit von 100 Jahren verzögert hat.
Seitdem in Deutschland jeder sekundärer in die germanistischen Geheim¬
nisse eingeweiht wird und klug darüber schwatzen lernt, daß die deutschen
Dialekte keineswegs Entartungen der Schriftsprache find, sondern die Schrift¬
sprache selbst nichts anderes ist als ein Dialekt, und „alle Dialekte gleich¬
berechtigt" sind, seitdem ist auch die Dialektdichtung furchtbar bei uns in's
Kraut geschossen. Kein Jahr vergeht, ohne daß eine Menge dialektischer
Tand auf den Markt käme, der einem fast die Freude an den paar guten
Sachen, die wir in dieser Art haben, verleiden kann. Hier wird uns nun gar
eine Uebersetzung aus einem Dialekt in den andern geboten. Die Arbeit ist
gewiß keine leichte gewesen, denn es galt ja nicht blos die Worte, sondern
gleichsam auch die Sachen zu übertragen, das ganze Lokalkolorit des Originals
umzustimmen, und der Uebersetzer hat dies mit unleugbaren Geschick zu Stande
gebracht. Trotzdem fragt man sich: Wozu? Wer soll an dieser Leistung
Freude haben? Für wen ist sie berechnet? — An schönen Aussichtspunkten
sind oft Bretterhäuschen errichtet mit farbigen Fenstern, und großen und
kleinen Kindern gewährt es unaussprechliches Vergnügen, sich die grüne
Sommerlandschaft zur Abwechselung einmal durch solche blaue oder rothe
Scheiben zu betrachten. Uns behagt, ehrlich gestanden, ein rother Wald
oder eine blaue Wiese ebensowenig wie ein plattdeutscher Hebel. Doch wollen
wir unsre Meinung niemand aufdrängen. Wir sagen nur mit Fritz Reuter,
und zwar ohne Dialekt: „Wer es mag, der mag es, und wer es nicht mag,
der mag es ja wohl nicht mögen."
„Die Republik wird entweder konservativ sein, oder sie wird gar nicht
sein" — so hat Thiers geweissagt. Der Gang, den die Dinge in Frankreich
während der letzten drei Monate genommen haben, läßt uns aber den Geist
derjenigen, welche in der Republik den Ton angeben, wenig konservativ erscheinen,
und da wir derselben Meinung wie Thiers sind, so erwarten wir ein zwar
langsames, aber stetiges Hinuntergleiten der Republik bis zu dem Entwicke-
lungspuukte, wo sie, dem der Ruhe und Sicherheit bedürfenden Volle uner¬
träglich geworden, wiederum der Monarchie und zwar zunächst der unbe¬
schränkten oder nur scheinbar beschränkten Monarchie Platz machen wird.
Dieser Ausgang der Dinge wird nicht in unserm Interesse sein; denn so
lange Frankreich eine Republik bleibt, so lange hat es keine Aussicht auf
Allianzen mit monarchische» Mächten zum Angriff auf Deutschland. Indeß
haben wir den Trost, daß der Prozeß, der mit Wiederherstellung der Monarchie
endigen wird, langsam vor sich gehen zu wollen scheint, was für uns seine
erheblichen Vortheile hat. Wir gewinnen Zeit, weiter zu erstarken, während
die Franzosen sich in dem Kampfe der Parteien, der in seinen letzten Stadien
mit den Waffen ausgekämpft werden wird, sich schwächen werden. Wir haben
ferner, je radikalere Gestalt die Republik in der Zwischenzeit annimmt, um so
weniger zu befürchten, daß sie Bundesgenossen gegen uns findet, die uns mit
ihr gefährlich sein würden. Wir dürfen endlich, an die Macht denkend, deren
Allianz mit einem wieder monarchisch gewordenen Frankreich besonders bedenklich
sein würde, nach mancherlei Anzeichen, die wir freilich ebensowenig überschätzen
als zu wenig beachten sollten, uns des alten Wortes erinnern: „Interim ut
a-luMä."
Die Entwickelung der zum Siege über die Gegenparteien gelangten Repu¬
blik hat gezeigt, daß die besiegten Parteien zusammen nichts weniger als schwach
sind. Namentlich die Bonapartisten haben einen starken Anhang in der Armee;
wirkliche Republikaner ferner, Leute von echt republikanischer Denkart und
Tugend sind selten; die gemäßigten Freunde der Republik ermangeln der nöthigen
Energie gegenüber den Radikalen; die letzteren endlich werden zu ihren Bestre¬
bungen ebenso sehr wie durch ihren unpraktischen Doktrinarismus durch das
Begehren nach persönlichem Vortheil, nach Macht und nach einträglichen Stellen
veranlaßt — beiläufig ganz so wie ihre Vorgänger und Vorbilder in den
Jahren 1790 bis 1794.
Ein großer Theil der Offiziere des französischen Heeres verabscheut die
Republik. „I^a. rsvnolic^s sse uns dslls enoss, 1s> vssts se 1s sdolölA aussi,
surtout so«? IsL g-nerfs", schrieb uns vor kurzem einer von ihnen, unzwei¬
felhaft im Sinne Vieler. Gambetta, unstreitig der klügste unter den Republi¬
kanern, ließ Grevy Präsident werden, weil er wünschte, daß dieser und seine
Fraktion sich im Kampfe mit den Ultras beider Parteien abnutze, damit er
ihm, wenn er an's Regiment gelange, keinen gefährlichen Widerstand mehr ent¬
gegensetzen könne. Dies wird über kurz oder lang geschehen. Der Anfang
dazu ist schon gemacht. Aber auch Gambetta wird sich nicht viele Jahre, viel¬
leicht nur wenige Monate der Herrschaft erfreuen. Wie mit ihm die radikale
Republik der gemäßigten gefolgt sein wird, so wird mit den Herren Floquet
und Clemenceau an die Stelle jener die rothe treten und zu allerlei Thorheiten
und Ungerechtigkeiten führen. Das Nächste wird dann aller Wahrscheinlichkeit
nach die Kommune sein, der man durch Amnestirung ihrer Vorfechter bereits
die Cadres und die Offiziere und Unteroffiziere zu ihrem Pöbelheere beschafft
und durch den Beschluß einer Zurückversetzung der gesetzgebenden Körperschaften
nach Paris den Weg zum schließlichen Siege weiter gebahnt hat. Das Ende dieses
Prozesses wird dann rasch eintreten. Die Leute, die etwas zu verlieren haben,
werden, wenn es ihnen an den Geldbeutel und an den Kragen geht, schnell
begreifen, was sie an der Republik haben und nicht haben. Feig und unent¬
schlossen, wie sie in der Mehrzahl sind, werden sie zwar selbst großentheils
keine Hand zu deren Sturze regen, aber auch keinen Widerstand leisten, wenn
ein energischer General aufsteht und ihr ein schleuniges Ende zu machen be¬
ginnt. Im Gegentheil, sie werden ihm dankbar sein, wenn er dem unter allen
Umständen Handel und Wandel beeinträchtigenden und zuletzt immer mit Uto-
pieen, mit Wirrsal und Noth, verkehrter Welt und blutigen Greueln endigenden
Treiben der Demagogen ein kräftiges Huos sZo! entgegenruft. Sie Werdensich
wie aus einem mit Alpdrücken verbundenen Traume, wie Befreite und Erlöste
fühlen, auch wenn sie sehen müssen, daß er gleich seinen Vorgängern bei
solchem Werke die „Erwählten des Volkes" durch seine Grenadiere zu den
Fenstern hinausjagen läßt und die von ihnen gemißbrauchte parlamentarische
Freiheit mit ihnen.
Blicken wir zurück, so zeigten sich der neue Präsident und seine Minister
fast in allen Beziehungen zu wenig entschlossen und zu nachgiebig, wenn es
den Zumuthungen der Radikalen entgegenzutreten galt. Die von ihnen ver¬
fügten Entlassungen und Versetzungen gingen weit über das hinaus, was
Dufaure und seine Kollegen dem Marschall Mac Mahon angesonnen hatten.
Diese hatten nur drei oder vier Korpskommandanten und sechs oder sieben
Generalprokuratoren beseitigen wollen, und jetzt wurden zehn Korpskomman¬
danten kaltgestellt und mehr als ein Dutzend Generalprokuratoren pensionirt
oder versetzt — eine politische Abschlachtung, die ganz nach dem System des
Kaiserreichs vom 2. Dezember vorgenommen wurde, und die überdies insofern
unklug war, als sie auf die Armee einen verstimmenden Eindruck machen mußte.
Die umfangreiche Ausmerzung war, wie sie in den Kreisen der Zivilbeamten
einer Anzahl von Stellenjägern unter den Republikanern an das ersehnte Ziel
verhalf, dort einigen jüngeren Offizieren förderlich, aber sie entfremdete der
Republik den Kern der Armee, die alten kaiserlichen Offiziere, die ihr ohnehin
wenig zugethan waren, und ließ unter ihnen ein Gefühl der Unsicherheit ent¬
stehen, das von den Gegnern der jetzigen Staatsordnung seiner Zeit zu ihren
Zwecken ausgebeutet werden wird.
In der Amnestiefrage behielt die Regierung die Oberhand, aber lediglich
durch ein Kompromiß, indem sie im Wesentlichen die Forderungen der Linken
adoptirte. Nur in der Sache, die nächstdem das Kabinet und die Kammern
vorzüglich beschäftigte, nur in Betreff der von den Radikalen beantragten An¬
klage der Minister vom 16. Mai Und ihrer unmittelbaren Nachfolger blieben
die am Ruder stehenden gemäßigten Republikaner vollkommen fest, und die
Majorität der Landesvertretung stimmte in ihrem Sinne und in dem der
Billigkeit. Denn abgesehen von Anderem, was gegen die Anklage sprach, wäre
eine Verfolgung der obersten Räthe des ExPräsidenten nach Begnadigung der
Kommunards als ein Tendenzprozeß und eine ungeheuerliche Intoleranz er¬
scheinen. Broglie, Fourtou und Decazes hatten zwar als Minister der Repu¬
blik nur die alleräußersten Mittel unversucht gelassen, dieselbe zu stürzen, und
sie hatten durch Aufnahme der offiziellen Kandidaturen unter ihre Angriffs¬
und Vertheidigungswaffen zur Korrumpirung der politischen Moral im Lande
wesentlich beigetragen, Sie waren aber bei alledem kaum über die Grenzen
der Gesetzlichkeit hinausgegangen, und mit den Kommunisten von 1871, deren
Greuelthaten jetzt vergessen sein sollten, waren sie nicht entfernt auf eine Linie
zu stellen.
Verhängnißvoll wieder ist unsrer Meinung nach, daß die Regierung Grevy's
sich herbeiließ, das Verlangen der Radikalen nach Zurückverlegung des Sitzes
der Kammern von Versailles nach Paris zu befürworten, sodaß der Senat,
der anfangs dagegen opponirte, der Maßregel jetzt voraussichtlich zustimmen
wird. Man machte für dieselbe geltend, daß die Entwickelung Frankreich's
einen derartigen Gang genommen habe, daß die Haltung der Pariser auf sie
stets den größten Einfluß haben müsse, wenn das Land nicht in sehr weit¬
gehender Weise dezentralisirt würde. Die Befürchtung vor einer Terrorisirung
der Volksvertreter durch demagogisch aufgewühlte Volksmassen dürfe darüber
nicht hinwegsehen lassen. Wenn die Regierung glaube, sich dafür verbürgen
zu können, daß in Paris jeder Versuch, die Ordnung zu stören, alsbald ver¬
eitelt werden würde, so müsse die Rückkehr stattfinden. Das ist kühn gesprochen,
aber wir meinen, die Minister können und werden sich mit ihrer Zuversicht
täuschen, und man Hütte lieber die Geschichte hören sollen. Nach dieser zu urtheilen,
ist das Tagen des französischen Parlaments in Paris ein sehr gewagtes Experi¬
ment. In vielfacher Wiederholung ist die Beschlußfreiheit jener Versammlung
durch die Abhängigkeit derselben von der in der Hauptstadt gerade herrschenden
Stimmung gefährdet und illusorisch gemacht worden. Bei weitem die meisten
der radikalen Beschlüsse, die von der ersten Nationalversammlung seit ihrer am
19. November 1790 erfolgten Verlegung von Versailles nach Paris bis zur
Abschaffung des Königthums am 10. August 1792 gefaßt wurden, sind ihr
von den Jakobinern mit Hilfe des Pariser Pöbels aufgedrängt worden. Bei
dem Prozeß Ludwig's XVI. spielte — wir folgen dabei einer Uebersicht, die
der „Hamburger Korrespondent" vor einigen Wochen gab, und verweisen im
übrigen auf Sybel und Taine — die Haltung der Tribünen und ihrer auf
der Gasse vor dem Berathungssaale stehenden Genossen die Hauptrolle. Zur
Ausstoßung der Girondisten ergriff nicht der Konvent die Initiative, fondern
eine Deputation der Pariser Sektionen, und die Maßregel selbst wurde der
Versammlung durch die Drohungen einer unter Henriot's Führung in den
Saal eingedrungenen Pöbelrotte aufgenöthigt. Auf demselben Wege und mit
gleichen Mitteln kam am 5. September 1793 der berüchtigte Beschluß zu Stande,
„den Schrecken ans die Tagesordnung zu setzen". Zu der am 7. November
des obengenannten Jahres dekretirten Abschaffung von Kirche und Christenthum
gab das Erscheinen einer von Pache, Momoro und Chaumette geführten Ab¬
ordnung der Pariser Behörden den Anstoß. Der am 17. Juli 1794 erfolgte
Sturz Robespierre's wurde nur dadurch möglich, daß der Konvent dem auf
dem Stadthause gegen feine Sicherheit organisirten Angriffe zuvorkam. Auf
Grund dieser Erfahrungen kam schon in die Verfassung von 1795 die Bestim¬
mung, daß auf Beschluß des „Rathes der Alten" der Sitz der gesetzgebenden
Körperschaften anderswohin verlegt werden könne, und 1799 wurde hiervon
Gebrauch gemacht, die Kammern zogen nach Se. Cloud, und fortan war drei
Jahrzehnte hindurch von einer Pöbelherrschaft in Frankreich nicht mehr die Rede.
Und wie im achtzehnten Jahrhundert, so war es auch im neunzehnten.
Die Abschaffung des Königthums am 24. Februar 1848, welche Frankreich
erst in die Greuel der Anarchie, dann in die Arme des kaiserlichen Absolutis¬
mus trieb, war das Werk der in die Deputirtenkammer eingebrochenen Volks-
schaaren, welche die Wahl einer provisorischen Regierung erzwangen und ohne
weiteres an der Wahl der Mitglieder derselben theilnahmen. Der Aufstand
vom 15. Mai desselben Jahres galt dem Versuch, die Nationalversammlung
zur Verkündigung der rothen Republik zu nöthigen, und wäre, nachdem er die
Volksvertreter in schwere Gefahr gebracht, bei einem Haare geglückt. Genau
auf gleiche Weise endlich wie die Republik von 1848 kam die vom 4. September
1870 zu Stande: ein Haufe aufrührerischer Pariser überfiel den gesetzgebenden
Körper und drängte ihn, z» dekretiren, was die Wortführer des Straßenpöbels
und einige Depmirte vorher unter sich ausgemacht hatten. Man sagt in Er¬
innerung an diese Dinge sicherlich nicht zu viel, wenn man behauptet, den Sitz
des französischen Parlaments acht Jahre nach der Kommune-Wirthschaft in die
Heimat der letzteren verlegen und zu gleicher Zeit die Kommunards zurückrufen,
heiße den Teufel an die Wand malen.
.
Im Hinblick hierauf empfahl die Regierung zwar dem Senate die Ver¬
legung, zeigte sich jedoch geneigt, ihm gewisse Bürgschaften für die Sicherheit
der gesetzgebenden Gewalten in Paris zu bieten. Diese Bürgschaften traten
Zuerst in unbestimmter Gestalt auf, dann aber hatten die Minister Waddington
und Leon Sah den Gedanken, den Kammern vorzuschlagen, sie möchten dem
Gemeinderath von Paris, also der Vertretung der Stadt, die Kontrole über
das städtische Polizeiwesen nehmen und sie dem Ministerium des Innern über¬
tragen. Die Folge war eine Ministerkrisis. Die beiden Herren hatten sich
über die Größe ihres Ansehens und Einflusses auf ihre Kollegen getäuscht.
Sie waren so unvorsichtig, bevor sie sich darüber Gewißheit verschafft, ihren
Plan durch die Presse bekannt werden zu lassen. Die radikalen Blätter nicht
blos, sondern auch die ihrer politischen Meinung nach weiter rechtsstehenden
nahmen ihn mit der äußersten Entrüstung auf und drohten mit einem unheil¬
baren Bruche zwischen Paris und den Kammern, falls letztere die Unklugheit
begehen sollten, auf den Vorschlag der beiden Minister einzugehen. Waddington
und Sah wurden von ihren aus der Fraktion Gcnnbetta's genommenen Amts¬
genossen im Korsen zur Rede gestellt, und es kam zu einem Konflikt im Schooße
des Ministeriums selbst, in Folge dessen die beiden Urheber des Garantiegesetzes
abzutreten verpflichtet gewesen wären, wenn der Präsident sich nicht in's Mittel
geschlagen und sie bewogen hätte, auf ihr Projekt zu verzichten und die Rück¬
kehr der Kammern nach dem gefährlichen Paris vom Senate ohne Vorbehalt
und Bürgschaft zu verlangen. So blieb das Ministerium unverändert, sein
Fortbestand war aber mit einem Zugeständniß an die Radikalen erkauft, die
ihren Sieg zu benutzen wissen werden.
Die „R.öMd1i^s Vra-r^aiss", das Organ Gambetta's, hatte sich bei der
Krise abwiegelnd geäußert, aber sichtlich nur aus Gründen der Opportunist.
Wir haben, so sagte sie ungefähr, dem Ministerium manchen Vorwurf machen
müssen. Es sind sogar Fehler vorgekommen, die man leicht hätte vorhersehen
und vermeiden können. Um deutlicher zu sein: das Ministerium erweist seinen
unversöhnlichen Gegnern (die Rechte im Senat und der Deputirtenkammer ist
gemeint) zu viel Rücksicht und schenkt seinen zuverlässigsten Freunden (unter
denen das Blatt die Radikalen seiner Farbe versteht) zu wenig Vertrauen.
Demungeachtet möchten wir alles aufbieten, den Sturz dieses Ministeriums zu
hintertreiben. Noch ist sür uns nicht erwiesen, daß es nicht immer sein Mög¬
lichstes gethan hat, und daß ein anderes Kabinet an seiner Stelle Besseres
geleistet haben würde. Dieses Ministerium soll nicht blos uns repräsentiren,
und wir erkennen dies bereitwillig an; es vertritt den Durchschnitt der Par¬
teien, welche in beiden Kammern die Majorität bilden,^ und mit dieser Majo¬
rität muß mau regieren. Wir sehen wohl, daß für andere, kühnere Geister
andere und bessere Kombinationen schon fix und fertig sind; aber ist man auch
sicher, damit weiter zu kommen? Ist man gewiß, dabei auf die Majorität im
Senat und im Abgeordnetenhause rechnen zu können?
Im weiteren Verlaufe erklärte sich das Blatt entschieden gegen das Vor¬
haben Waddigton's und Say's als gegen eine „sonderbare Idee". Dieselbe
war aber an sich selbst nichts weniger als sonderbar, sondern nur unklug in
ihrer Verbindung mit dem Plane einer Rückkehr der Kammern nach Paris.
Die Übertragung der Kontrole der Pariser Polizei auf den Minister des
Innern ist bei dem unleugbaren, ungeheuren Gewicht der Hauptstadt in der
Wage der Gesammtkräfte des Landes eine unbedingte Nothwendigkeit, und sie
hätte vor dem Aufwerfen der Frage jener Rückkehr beantragt und mit Auf¬
wendung aller Macht der Regierung durchgesetzt werden sollen. Die Pariser
Polizei bedeutet bei jenem Gewicht der Stadt unstreitig die Landespolizei.
Sie ist nicht als städtische Einrichtung aufzufassen. Der erste Polizeipräfekt
ist der Minister des Innern, dem der Schutz der Ordnung im Lande obliegt.
Die Angelegenheiten der allgemeinen Sicherheit sind Sache der Regierung von
Frankreich, nicht Sache des Pariser Gemeinderaths. Man sagt, Paris könne
ganz Frankreich in Brand stecken, und man sollte die Feuerwache in den
Händen dieses Geheimrathes lassen dürfen? Ob die Kammern zurückkehrten
oder nicht, unter allen Umständen war zu sorgen, daß sich nicht ein Staat im
Staate bildete.
Inzwischen hatten das Kabinet Waddington und die republikanische Partei
gemäßigter Farbe durch die Wahlen, die um die Mitte des April stattfanden,
einen deutlichen Hinweis darauf bekommen, daß sie nicht den rechten Weg
gingen. In Bordeaux war der halbwahnsinnige alte Urrevolutionär Blcmqui,
in Paris der Bonapartist Godelle gewählt worden, dort hatten die Jntransi-
genten der äußersten Linken, hier die der Rechten triumphirt. An sich war
das nichts Beunruhigendes; denn die Minderheit der Kammer blieb trotz dieser
Vermehrung ihrer Stimmen ohne bedeutenden Einfluß. Indeß war namentlich die
Wahl Blanqui's eine Demonstration, welche zeigte, wie dreist die republikanischen
Ultras gegenüber der Unklarheit und Unentschlossenheit der übrigen Fraktionen
der Mehrheit des Parlaments und der sie vertretenden Minister bereits ge-
geworden waren. Die Wahl des greisen Verschwörers Blanqui war entschieden
ungesetzlich. Er war zur Deportation verurtheilt und saß seit Jahren im
Gefängniß, und ein zur Deportation verurtheilter ist nach französischem Gesetz
ebensowenig wühlbar wie nach deutschem ein Zuchthaussträfling. Daß man
Blanqui trotzdem zu wählen vorhatte, wußte die Regierung, aber sie that nichts,
um die Bordelesen über die Lage der Dinge aufzuklären. Vermuthlich glaubte
sie, diese Gascogner würden von selbst das Rechte erkennen und von ihrer
Absicht abstehen. Möglich, daß dieselben anfangs selber nicht auf Erfolg
hofften; denn sie waren überrascht, als ihr Kandidat beim ersten Wahlgänge
über 3000 Stimmen erhielt. Es war schlimmer, als es gewesen wäre, wenn
eine deutsche Großstadt sich den Schimpf angethan hätte, den seligen Gustav
Rasch in den Reichstag zu wählen, und es war obendrein eine Gesetzesver¬
höhnung. Aber nachdem die ultraradikalen Redner und Blätter den guten
Leuten mit den üblichen pomphaften Phrasen dargethan, daß die Augen der
Welt nur auf die Wähler von Bordeaux gerichtet, und daß ihnen die schönste
Gelegenheit geboten sei, der Regierung eine Lektion zu ertheilen und zugleich
ein gen Himmel schreiendes Unrecht wieder gut zu machen, konnten sie natür¬
lich dem Kitzel nicht widerstehen, eine historische That zu vollbringen und den
Gefangenen von Clairvaux zu wählen.
Sie wollten damit gegen die UnVollständigkeit der Amnestie protestiren,
in Folge deren Blanqui nicht begnadigt worden war, und man hat wahr¬
scheinlich Recht, wenn man sagt: Wäre dies geschehen, so hätte man ihn nicht
gewählt. Dann aber hätten die Bordelesen ohne Zweifel einen andern Nicht-
amnestirten auf den Schild gehoben; um das zu verhüten, hätte es einer
allgemeinen Begnadigung der politischen Verbrecher bedurft, und diese war
schlechterdings unmöglich. Blanqui vor seiner Wahl zu amnestiren, wäre also
nutzlos und zugleich eine UnWürdigkeit und Schwachmüthigkeit, eine charakter¬
lose Demüthigung des Ministeriums vor den Wählern von Bordeaux gewesen.
Die Regierung konnte nur fortexistiren, wenn sie, sich streng an die Gesetze
haltend, offen mit dem Radikalismus brach und in diesem Falle nicht gestattete,
daß ein einzelner Wahlbezirk seinen Willen über die Verfassung hinaus zur
Geltung brachte. Sie konnte Blanqui, der nur noch lächerlich, nicht mehr
gefährlich war, begnadigen, mußte aber vorher von den Kammern verlangen,
daß sie seine Wahl als einen Unfug annullirteu. Sie selbst konnte dies
eigenthümlicher Weise nicht thun. Die Verfassung enthält nnter anderen
Erinnerungen daran, daß sie ein Werk der Ueberhastung und Oberflächlichkeit
ist, eine Bestimmung, welche das nicht erlaubt. Der zehnte Artikel derselben
besagt, daß jede der beiden Kammern das Recht besitzen soll, über die Wähl¬
barkeit ihrer Mitglieder zu entscheiden. Also durch ein Gesetz war die Wähl¬
barkeit Blanqui's ausgeschlossen, aber ein Artikel der Verfassung gestattete der
Deputirtenkcimmer allein, ohne Mitwirkung des Senats und der Regierung,
denselben für gewählt zu erklären und ihn zu ihren Sitzungen zuzulassen.
Ein sonderbarer Widerspruch. Um so mehr aber mußte,, da der Sinn des
Gesetzes klar vorlag, das Kabinet auf schleunigen Austrag der Angelegenheit
bestehen, und seine Ehre erheischte, daß es seine Existenz an eine befriedigende
Lösung der Frage knüpfte.
Dies geschah denn auch, nachdem die Kammern aus den Ferien zurück¬
gekehrt waren. Die Sache durchlief dabei ein doppeltes Stadium. Zunächst
galt es, zu entscheiden, ob das Abgeordnetenhaus eine Wahl bestätigen werde,
die mit vollem Rechte als eine Verhöhnung der bestehenden Regierung oder,
wie Cassagnac sich in seiner bekannten geschmackvollen und höflichen Weise
auszudrücken beliebte, als eine „Maulschelle auf die linke Wange der Republik"
aufgefaßt wurde, und über die alle Geguer der jetzigen Staatsordnung, die
Reaktionäre wie die Revolutionäre, gleich viel Vergnügen empfanden. Hier
war das Endergebniß nicht zweifelhaft. Es verstand sich von selbst, daß,
als am 3. Juni die Blanqui'sche Angelegenheit auf die Tagesordnung der
Deputirtenkammer kam, der Ausschuß die Wahl desselben für ungiltig zu er¬
klären beantragte, weil der Gewählte sich nicht im Besitze der staatsbürgerlichen
Rechte befunden, und daß dieser Antrag trotz einer langen gegen den Antrag
gerichteten Rede Clemenceau's mit großer Majorität (372 gegen 33 Stimmen)
angenommen wurde.
Zweitens blieb zu entscheiden, ob die Regierung es den Wählern von
Bordeaux ermöglichen sollte, Blanqni abermals und diesmal rechtsgiltig zu
wählen. Vom Gebiete der Gesetzlichkeit trat die Sache damit in das der
Politik hinüber. Das Ministerium blieb hier in der Hauptsache fest. Indem
es sich seiner Befugniß bediente, dem Präsidenten die Anwendung des Amnestie¬
gesetzes auf die einzelnen Personen nach Gutdünken zu empfehlen, lehnte es die
Zumuthung ab, Blanqui der Amnestie theilhaftig zu machen. Er soll aus der
Haft entlassen werden, sagte es, aber wir schließen ihn vom politischen Leben
aus — eine Wendung, welche die richtige Antwort auf die Herausforderung
der Bordelesen war, aber wieder ihre schwache Seite hatte. Denn das Kabinet
that, als habe es seinen Entschluß erst im letzten Augenblicke gefaßt, sodaß
Viele, als die Kammer über die Frage abstimmte, ob Blanqui zuzulassen sei
oder nicht, glauben konnten, die Freilassung des Zurückgewiesenen werde nnn
sofort erfolgen, und als dies nicht geschah, die Regierung habe das Votum der
Kammer erschlichen, und letztere sei hintergangen worden. Selbst Gambetta's
Organ deutet das an und macht das Kabinet für einen unvermeidlichen
Konflikt verantwortlich, wenn Blanqui in Bordeaux noch einmal gewählt wird.
Von seinem Standpunkte, mit seiner Absicht, das Ministerium Waddington zu
beerben, wenn es sich genügend durch scheinbares oder wirkliches Ungeschick
diskreditirt haben wird, thut er daran ganz recht. Die Solidität der Republik
aber wird durch sein Verhalten gewiß nicht gefördert.
Seitdem das Vorstehende geschrieben, hat der Senat sich
in der Angelegenheit der Zurückverlegung der gesetzgebenden Körperschaften nach
Paris schlüssig gemacht. Die Verhandlung erledigte die Sache mit schwacher
Majorität in bejahendem Sinne, und so bedürfte es zur endgiltigen Entscheidung
der Frage, da es sich um eine Verfassungsünderimg handelte, nur noch der
Zustimmung des aus beiden Kammern gebildeten Kongresses, der in voriger
Woche zusammentrat und die vorgeschlagene Abänderung der Verfassung mit
einer Majorität von 548 gegen 262 Stimmen annahm. Das für die Regierung
günstige Resultat der Abstimmung im Senat ist wohl durch die etwas ent¬
schiedenere Haltung erzielt worden, welche das Kabinet einnahm, indem
Waddington ausdrücklich erklärte, daß die Regierung die Verantwortlichkeit für
die Aufrechthaltung der Ordnung übernehme. Der dem Kongreß zu unter¬
breitende Entwurf hat folgenden Wortlaut: „Der Artikel des Verfassungsge¬
setzes (derselbe bestimmt, daß Versailles Sitz der Exekutivgewalt und der beiden
Kammern ist) wird abgeschafft. Ueber den Sitz der vollziehenden Gewalt und
der beiden Kammern soll durch ein Gesetz Bestimmung getroffen werden. Bis
dahin dauert der gegenwärtige Zustand fort." Dieses besondere Gesetz, zugleich
Garantiegesetz genannt, hat nach dem Entwürfe der Regierung folgenden Haupt¬
inhalt. Der Sitz des Kongresses bleibt in Versailles. Beide Kammern nehmen
gleichzeitig ihren Sitz in Paris, behalten jedoch ihre Lokale in Versailles bei.
Unter der Autorität des Präsidenten und der Quästoren einer jeden der beiden
Kammern wird eine besondere Legion zum Schutze des Parlamentes gebildet.
Vier Kompagnieen Gendarmerie werden dem Senat und vier dem Abgeordneten¬
hause zur Verfügung gestellt. Besondere Vorkehrungen werden endlich zur
Verhütung von Aufkäufer vor den Parlamentsgebüuden getroffen. In einem
gewissen Umkreise sollen die Aufforderungen mit Trommelschlag, welche der
Anwendung von Waffengewalt vorausgehen, summarisch erfolgen und jede Auf¬
forderung, der Kammer in einem öffentlichen Aufzuge eine Adresse oder Petition
zu überreichen, verboten sein.
Von nicht so großer Bedeutung als die Entscheidung dieser Frage, wenn
auch immerhin von einiger Wichtigkeit für die nächste Zukunft Frankreich's und
seiner Parteien ist der Tod „Napoleon's IV." im Zululande. Von Wilden
umgebracht zu werden, nicht für sein Vaterland, nicht in eigner Sache sterben,
ist eben kein beneidenswerthes Loos. Die Bonapartisten aber werden durch
das Mißgeschick des Prinzen, wenn wir die Sache vom politischen Standpunkt
betrachten, nur für den Augenblick getroffen und gestört. Ihre Dynastie lebt
fort. „Der König stirbt; es lebe der König!" Die Republik steht in Folge
dessen, seit der Prinz gefallen, für die Dauer nicht auf festeren Füßen als
vorher, zumal zu bedenken, daß es ja kein Bonaparte sein muß, der sie stürzt,
wenn sie zum Sturze reif ist. Ein energischer ehrgeiziger General kann sehr
wohl einmal das Gleiche thun, wie der erste Bonaparte vor achtzig Jahren.
Fabri hat vor kurzem durch seine Schrift „Bedarf Deutschland der
Kolonieen?" die Kolouialfrage in Deutschland wieder zur Diskussion stellen
wollen, und wie die Besprechungen seiner Vorschläge in den angesehensten deut¬
schen Zeitungen und Zeitschriften zeigen, ist ihm dies auch gelungen. Die
politische Seite der Frage zu beurtheilen, muß natürlich den Politikern von
Fach und zwar denen, welche die auswärtige Politik Deutschland's leiten und
zu verantworten haben, überlassen bleiben. Der Artikel in Ur. 18 dieser
Blätter über das Fabri'sche Buch weist in einer kurzen Anmerkung darauf hin,
wie der Leiter unserer auswärtigen Angelegenheiten über die Kolonialfrage
denkt. Die Bemerkung erinnerte uns an das bekannte Wort: ^litsr rmsri
KorQMuw, IsAUQt, Alltsr (Zrotius, das man sich im vorliegenden Falle über-
setzen mag: Anders betrachtet der Missionär die Kolonialfrage, anders der
Reichskanzler. Der sehr spezifische Standpunkt des Verfassers wird auch ge¬
kennzeichnet durch seine Exkurse über den Kulturkampf, über christliche Sozial¬
politik, staatliche Schulaufsicht, Mission und dergl. Aber so gewiß auch jeder,
der in der Politik nur Laie ist, bei dieser so überaus wichtigen Frage mit
seinem Urtheil sich bescheiden muß, so drängen doch auch ihm sich manche
Momente auf, welche gegenüber dem ungestümen Verlangen Fabri's nach Kolo¬
nien zur Vorsicht mahnen.
Auf das Beispiel der Spanier und Portugiesen als Lockmittel hat Fabri
selbst verzichtet, doch ist das geradezu Abschreckende, was in diesen Beispielen
liegt, durch die landläufige Phrase vom Ungeschick der Romanen zum Koloni¬
sten noch lange nicht beseitigt. Frankreich mit Algier ist ihm zwar nur ein
halbes Argument; aber man sollte meinen, daß, wenn einmal eine gründliche
Bilanz über diese Kolonie aufgestellt würde, schon das finanzielle Debet das
Kredit mindestens um ein paar Milliarden Francs überwiegen würde, daß aber
der physische und moralische Schaden, den diese Kolonie allein der französischen
Armee gebracht hat, weder in Ziffern noch in Gelde, sondern nur in den Kata¬
strophen von 1848 und l870 nachgewiesen werden kann. Den Appetit nach
einer Kolonie kann Algier wahrlich nicht reizen. So bleiben also nur noch
die beiden Paradepferde der Argumentation übrig: Holland und England.
Das erste freilich hinkt auch schon etwas. Da ist der atchinesische Krieg, da
ist das koloniale Defizit, kurz das Geschäft lohnt nicht mehr recht, seitdem —
ja seitdem die Kolonieen nicht mehr systematisch ausgeplündert werden können,
seitdem die Eingeborenen nicht mehr Sklaven der Maatschcippy find, seitdem
der Handel mit indischen Produkten nicht mehr Monopol der Mynheers ist.
Daneben ist auch die Frage nicht abzuweisen, woher die kolossale Staatsschuld
stammt, unter deren Last Holland fast erliegt, woher die unendlichen Kriege,
welche Holland im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte geführt hat, woher die
Unfreiheit seiner europäischen Politik. Und die Antwort lautet: Aus seinen
Kolonieen, von denen ihm schließlich, trotz aller Kämpfe, die beste und ent¬
wickelungsfähigste — die Kapkolonie — von einem größeren Räuber abgejagt
worden ist.
So bliebe also wirklich nur noch England. Und wer wollte leugnen, daß
England mit seinen Kolonieen ein kolossales Geschäft gemacht hat, daß sein
Reichthum, seine Machtstellung wesentlich auf seinen kolonialen Besitz sich
gründet? Indessen bekommt die Sache in der neuesten Zeit doch auch ein
anderes Aussehen. In zweien seiner bedeutendsten Kolonieen, in Indien und
°w Kap, zwei Kriege zu gleicher Zeit, deren Kosten sich ungefähr so hoch be¬
laufen werden, wie die Kosten unseres Krieges mit Frankreich. Dazu die
Abhängigkeit der englischen Politik von seinem indischen Besitz, ja man möchte
sagen die permanente Angst, in welcher England um Indien schwebt, sei es,
daß Rußland in Innerasien Fortschritte macht oder beim Schah von Persien
Terrain gewinnt, oder daß Frankreich nach dem Suezkanal schielt, oder endlich,
daß eine Wiederholung des indischen Aufstandes droht. Man sieht, auch hier
hat der Kolonialbesitz einen recht bitteren Beigeschmack. Und, würde England
wohl die nicht unerhebliche Alabama-Entschädigung bezahlt haben und vor
Nordamerika zu Kreuze gekrochen sein, wenn es Canada nicht besessen hätte?
Einige weitere Behauptungen, welche Fabri in seiner Schrift aufstellt,
lassen auch den einfachsten Politiker, der sich seine politische Weisheit nur aus
einer aufmerksamen Zeitungslektüre holt, an der Gewichtigkeit seiner Argumente
irre werden. Wenn er z. B. behauptet, „daß es England gelungen sei, seine
so reichen, ausgedehnten indischen Besitzungen in einen Zustand steigenden
Wohlstandes zu heben", so muß man sich verwundert fragen, wie er leichten
Herzens einen solchen Satz hat schreiben können. Die materielle Lage Indien's
und seine Finanzen sind ja in den letzten zehn Jahren so oft Gegenstand der
parlamentarischen Verhandlungen gewesen, daß jeder aufmerksame Zeitungsleser
über die fast verzweifelt trostlose Lage Indien's hinreichend unterrichtet sein
kann. In zwölf Jahren viermal Hungersnoth; die Zahl der daran zu Grunde
gegangenen nach Hunderttausenden zählend; die Kosten der Hungersnoth in den
fünf Jahren von 1873 bis 1878 320 Millionen Mark, welche durch eine
Anleihe in England haben gedeckt werden müssen; dazu die offizielle Erklärung
des indischen Finanzministers, daß die Hungersnoth in Indien in Permanenz
sei, und daß man ihr begegnen müsse durch Bildung eines Hungersnothfonds,
für welchen in das Budget jährlich 30 Millionen Mark eingestellt werden
müßten; um diese Summe zu erschwingen, keine andere Möglichkeit, als eine
Erwerbssteuer, welche noch das Einkommen von 4 Schilling per Woche mit
5 Pence pro Pfd. Sterling belastet, da alle anderen Steuerkräfte schon bis auf's
äußerste angespannt sind; und kaum ist der Hungersnothfonds im Entstehen
begriffen, so ist er trotz der heiligsten Versicherungen des Finanzministers, daß
kein Schilling davon zu einem andern Zweck verwendet werden sollte, durch
den afghanischen Krieg mit verschlungen worden. Und schon steht eine neue
Hungersnoth vor der Thür. Eben jetzt wird im Parlament über eine neue
indische Anleihe verhandelt von 300 Millionen Mark, und Niemand weiß,
woher die Zinsen nehmen, nachdem das Salz, mit 2000 Proz. besteuert, einen
Zuschlag von 45 Proz. erfahren hat, die Grundsteuer so unerschwinglich ge¬
worden ist, daß sie den kleinen Grundbesitzer durchgehends in die Hände der
Wucherer geliefert hat, ohne dessen ruinirende, 20—60 Proz. Zinsen fordernde
Hilfe sie nicht im Stande sind, die Grundsteuer zu zahlen. Eine Einkommen-
fteuer, die allenfalls noch retten könnte, ist schon einmal versucht worden; sie
betrug 2 l/z Pence pro Pfd. Sterling und würde in England 100 Millionen Mark
ergeben haben; in dem nach Fabri so reichen Indien mit einer sieben Mal
größeren Einwohnerzahl brachte sie das klägliche Resultat von 10 Millionen
Mark und war obendrein mit so großen Erhebungskosten belastet, daß kein
Finanzminister Indien's wieder darauf zurückkommen wird. Sowohl Lord
Canning, der Vizekönig während des indischen Aufstandes, als auch der spätere
Vizekönig Lord Mayo erklärten, daß, wenn es sich um die Frage handle, ob in
Indien eine neue Steuer, z. B. die Einkommensteuer, eingeführt werden, oder
die Armee reduzirt werden sollte, Gefahr gegen Gefahr abgewogen, sie die
Reduzirung der Armee vorziehen würden. Als letztes Refugium blieben die
indirekten Steuern. Aber, sagt Prof. Fawcett, ein beredter Anwalt Indien's
im englischen Parlamente, in Indien ist die Masse des Volkes so arm, daß sie
weiter keinen steuerfähigen Artikel gebrauchen als Salz, und die Salzsteuer
hat schon den höchsten Punkt erreicht, dergestalt, daß jede weitere Erhöhung
eine erhebliche Verminderung des Konsums nach sich ziehen würde. Ist es da
ein Wunder, daß in England bereits das unheimliche Wort „Indien's Bank¬
rott" durch die Lust schwirrt? Und das nennt Fabri einen Zustand steigenden
Wohlstandes, der durch die gesunde englische Kolonialpolitik herbeigeführt worden
sein soll? Es gibt wohl kaum ein kaltblütiger egoistisches Ausbeutungssystem
als das von England gegen Indien befolgte. Die Hälfte aller Einnahmen
des indischen Budgets — 340 Millionen Mark — gehen jährlich nach England
für Gehälter, Pensionen, Urlaubsgelder der Beamten, Kosten der Verwaltung für
Armeebedürfnisse ?c. (torus en-u-Ass), von denen kein Pfennig nach Indien
zurückkehrt. Indien zahlt den afghanischen Krieg, der für England's Macht¬
stellung geführt worden ist. Indien zahlt 300 Millionen Mark jährlich für
die Armee, welche die Kolonie gegen einen neuen Aufstand sichern soll und
eventuell auch einmal für europäische oder afrikanische Händel bestimmt ist.
Und damit auch das Privatinteresse einflußreicher Klassen nicht zu kurz komme,
so muß dasselbe Indien, welches auf Salz eine Steuer von über 2000 Proz.
trägt und nur durch Anleihen sein Budget balanciren kann, den Zoll auf
feinere baumwollene Waaren verlieren, damit die Lancashire-Spinner bei diesen
schlechten Zeiten ihre Produkte besser verkaufen können!
Nach diesem Spezimen englischer Fürsorge für das materielle Wohl
Indien's erläutert sich wohl von selber die Behauptung Fabri's: „Hand in
Hand mit diesem materiellen Gedeihen ging auch die intellektuelle und mora¬
lische Hebung wie seiner eigenen Verwaltung so auch der eingeborenen Völker
und Volksstämme, wie denn überall und zu allen Zeiten der Weg versteint-
nißvoller Freiheit auch eine Grundbedingung des moralischen wie materiellen
Fortschritts der Völker ist."
Aber auch die andere Behauptung, daß in Australien und Canada Niemand
an die Trennung von England denke, ist im höchsten Grade gewagt. Die Frage
ist von den Politikern der Kolonieen wie des Heimatlandes schon seit längerer
Zeit diskutirt, und die Ernennung des Schwiegersohns der Königin zum Statt¬
halter von Canada ist ausgesprochenermaßen in der Absicht geschehen, zu ver¬
suchen, ob nicht durch Gewinnung persönlicher Sympathieen für das Königs¬
haus die Trennungsgelüste paralysirt werden können. Von Australien ist es
bekannt, daß bei gewissen politischen Differenzen mit dem Mutterlande geradezu
mit einer Losreißung gedroht worden ist. Es gibt sogar englische Politiker,
welche so ketzerisch in Sachen der Kolonialpolitik denken, daß sie die Kolonieen
eher für eine Last als einen Vortheil für das Mutterland ansehen, und in der
Erwerbung der neuesten Kolonie, Cypern, eher ein Fiasko der englischen
Politik erblicken als einen Sieg und die neue Erwerbung schon mit den am
Fieber zu Grunde gegangenen englischen Soldaten zu theuer bezahlt erachten.
Doch genug, es sind das, wie gesagt, Gedanken eines unpolitischen Mannes,
Gedanken aber, die ihn hindern, der Gründung Fabri'scher Kolonieen, mögen
sie nun am Senegal, Kongo oder Zambese liegen, ohne weiteres zuzustimmen,
denn die Bekehrung der Namaguas, Aschantis oder wohl gar des Königs Mtesa
dürfte ebensowenig eine Aufgabe der deutschen Politik sein, wie die Wiederher¬
stellung des Kirchenstaates.
Was die sozialen Mißstände betrifft, um deretwillen Fabri die Gründung
von Kolonieen empfiehlt, so hat er selbst angedeutet, daß eine richtige Leitung
und Förderung der Auswanderung nach den südamerikanischen Staaten unter
Gewährung des nöthigen Schutzes^ einen wohlthätigen Ableiter für die Ueber-
völkerung bilden wird. Auch können wir jetzt, wo die Dentschen im Auslande
einen Rückhalt am deutschen Reiche haben, uns der Besorgniß entschlagen, daß
sie so rasch wie in früheren Zeiten den geistigen und materiellen Zusammen¬
hang mit Deutschland verlieren werden. Die Deutschen werden in Zukunft in
überseeischen Ländern, wenn ihre Zahl und ihre Bedeutung dazu berechtigen,
sich auch in politischen Dingen ebenso zur Geltung zu bringen wissen, wie sie
es in Nordamerika schon gethan haben und augenblicklich in Chile beginnen.
Einen der schwächsten Punkte in der Fabri'schen Schrift bilden aber jeden¬
falls seine Ausführungen über die Strafkolonieen, und diese sind es, gegen
welche die nachfolgenden Zeilen nun ausschließlich gerichtet sein sollen. Fabri
erklärt, daß er sich auf eine Erörterung der Gründe, welche vom Standpunkte
des Strafrechts oder des Strafvollzugs für oder gegen die Strafkolonieen
oder, wie er sie nennt, Verbrecherkolonieen geltend gemacht werden können,
nicht einlassen will, und ich glaube, er thut wohl daran, denn er würde im
In- und Auslande nur wenige Strasrechtslehrer finden, welche die Deportation
mit den anerkannten Grundsätzen des Strafrechts, soweit es sich auf die ge¬
meinen Verbrechen bezieht, für vereinbar halten, und ebensowenige, die ihm
zugestanden, daß durch die Deportation die juristischen, polizeilichen und ethi¬
schen Zwecke des Strafvollzugs erreicht würden. Es sind daher wesentlich
praktische Argumente, mit denen er die Nothwendigkeit von Verbrecherkolonieen
für Deutschland darthun will, und zwar die folgenden: 1.) Rußland hat sich
in Sibirien nicht nur ein außerordentlich großes, sondern auch die besten
Resultate ausweisendes Zuchthaus geschaffen. Die Verbrecher mit ihren
Familien verwandeln sich rasch in Kolonisten unter befriedigenden äußeren
Lebensbedingungen. In wenigen Gegenden wird die Sicherheit größer sein
als in den Deportations-Distrikten Sibirien's. Auch England und Frankreich
haben bis heute die Deportation aufrecht erhalten, und dieselbe hat namentlich
unter englischer Verwaltung erfreuliche, ja hervorragende Resultate, wie Austra¬
lien zeigt, aufzuweisen. 2.) Die neueste politische, moralische und gesellschaft¬
liche Entwickelung Europa's und namentlich Deutschland's hat eine so rasche,
wahrhaft erschreckende Zunahme der Verbrechen im Gefolge, daß die alten
Gefängnisse zur Unterbringung der Verbrecher nicht ausreichen, und die Mittel
zur Erbauung neuer Gefängnisse nicht zu erschwingen sind. Es steht uns ein
blutiger Kampf mit den Sozialdemokraten bevor, an dessen Ende wir auch wie
Frankreich nach dem Kommunenaufstande Zehntausende vor Gericht stellen und
verurtheilen müssen, ohne zu wissen, wo wir damit bleiben sollen.
Der internationale Gefängnißkongreß, der vom 15. bis zum 26. August
1878 in Stockholm tagte, hat auch die Frage der Deportation in den Bereich
seiner Diskussion gezogen. Wenn irgend Jemand, so war er zu einem kompe¬
tenten Urtheile über diese Dinge befähigt. Neben den offiziellen Delegirten
der Regierungen, Staatsmännern in höchsten Stellen, schloß die Versammlung
Männer der Wissenschaft, Richter, Verwaltungs-Beamte, Männer der Praxis
in sich. Aus allen Theilen der Erde waren sie gekommen, selbst von Hong-
Kong, Neuseeland, den Andamanen und Nicobaren. Die Staaten, welche ihn
beschickt hatten, erwarteten von ihm eine Entscheidung, die schwer in's Gewicht
fallen mußte, und sie ist nach einer sehr eingehenden und gründlichen Diskussion
gegen die Deportation ausgefallen. Eine kurze Darstellung derselben wird
am besten zeigen, daß die thatsächlichen Gründe, welche Fabri vorbringt, un¬
richtig, die übrigen nicht stichhaltig sind.
Zunächst war der Präsident des vorigen Kongresses, Prof. v. Holtzendorff,
gegen dessen Kompetenz in dieser Frage Fabri wohl nichts einzuwenden haben
wird, zu einem Gutachten aufgefordert worden, und das Resultat desselben
gipfelt in folgendem Schlußsätze: „I^a xsins as dsvortation n's8t va.8 su
xriusivs ovnti-Airs s.n dut Ah 1a ^justies vsuals. Uf.is Iss ÄWsnItss trop
uonidrsu8S8 cis 80Q sxöOution se Iss Ä5>.u^kr8 svicisuts ^n'fils xi'sssnts
lui a.8LiAusnt uns xl^LS sxssvtionsUs se trÄQsitoirs AU Nliiisu 6hö Institu-
tioQS vönitsntlÄirs8. I^hö sxosrisnsss 1s rnisux g.hors6nos8 se 1s va.88S Ass
tra.u8xortg.lion3 ÄQAls.i8S8 us lui xronisttsut VA8 An Avsnir dsnrsux." Der
Schlußpassus lautet, wie man sieht, wesentlich anders als die Fabri'sche Be¬
hauptung, daß die Deportation namentlich unter englischer Verwaltung erfreu¬
liche, ja hervorragende Resultate aufzuweisen habe.
Als die Frage selbst auf dem Kongreß zur Verhandlung kam, erklärte der
Chef des italienischen Gefängnißwesens, Beltrami- Scalia, seine Regierung
sehe mit Spannung einem Votum des Kongresses entgegen, da auch in Italien
die Errichtung von Strafkolonien verlangt und von so hervorragender Seite,
wie dem Grafen de Foresta, dem General-Prokurator am Kassationshofe zu
Bologna, vertheidigt worden sei. Er erwarte namentlich von den englischen,
französischen und russischen Mitgliedern des Kongresses maßgebende Aufklärung
über die Deportationsfrage.
Die englischen Mitglieder erklärten rund heraus, daß für England die
Deportation eine abgethane Sache sei; keine Kolonie, weder eine organisirte
noch eine zu organisirende, würde sich nach den gemachten Erfahrungen die
Deportation der Verbrecher des Mutterlandes gefallen lassen. Von großer
Bedeutung waren die Aeußerungen des Dr. Monat, des früheren Chefs des
indischen Gefängnißwesens, und des Sir George Arney, des Oberrichters von
Neuseeland, welche aus unmittelbarer Anschauung über die englische Depor¬
tation Auskunft geben konnten. Der erstere bekannte sich als Anhänger der
Deportation; die indischen Verbrecher hätten in Singapore und Malacca
<Ms 8ti-int8 8ste1ernsnt8) eine Reihe von bedeutenden Arbeiten ausgeführt,
um deretwillen die Einwohner das Aufhören der Deportation schmerzlichst
bedauern würden. Er habe selbst nach dem großen Sepoy - Aufstande die
Strafkolonie der Andamanen und Nicobaren für die gefangenen Rebellen ein¬
gerichtet, und bis zum Jahre 1870 habe sie sich gut entwickelt; man habe sogar
angefangen, den Deportirten von guter Führung Frauen zu geben. Das
weitere Schicksal der Kolonie kenne er nicht. Aber er schloß seine Ausführung
mit den Worten: ,,-1s 8n.is r-s.rei8im 6u 8^3tsrns als 1s, tra.n8porta.tioQ contrs
Jo^nöt 1s. ven3 Arg-nÄs se 1a. 8su1s »djsetion va.1a.d1s qu'vo. vuisss Kurs, ü,
mon s,ol8, sse 1«. cksvsri86 se»n3iäsrad1s an'it nsvs88its." Sir Georg Arney
konstatirte zunächst, daß man in England die Deportation als unwirksam be¬
funden habe, und entwarf dann aus eigener Anschauung ein drastisches Bild
von dem verderblichen Einfluß der Deportation auf die australischen Kolonieen,
Neuseeland und Tasmanien mit eingeschlossen. Sowohl die flüchtigen als die
freigelassenen Sträflinge riefen einen solchen Zustand der Unsicherheit hervor,
daß es in der Kolonie Viktoria zu Unruhen kam. Die Regierung von Neu¬
seeland suchte sich gegen die Deportirten durch ein Gesetz zu schützen, des In¬
halts, daß sie jeden zur Deportation verurtheilten, mag seine Strafe verbüßt
sein oder nicht, sowie jeden, der unter der Bedingung der Auswanderung be¬
gnadigt war, wenn er in der Kolonie betroffen wird, mit Zuchthaus bis zu
drei Jahren und Konfiskation seines Vermögens bestraft; außerdem wird er
dahin zurücktrausportirt, woher er gekommen war. Jeder, der einen Deportirten
nach der Kolonie bringt, wird, vorausgesetzt, daß er davon Kenntniß gehabt,
mit 500 Pfd. Sterling Strafe oder 12 Monat Gefängniß bestraft, wenn es ein
Schiffskapitän ist; ist es ein Matrose oder Steward, mit 100 Pfd. Sterling oder
6 Monaten Gefängniß. Und um das Mutterland zur Aufhebung der Depor¬
tation zu bewegen, scheute man sich nicht, offen mit Losreißung zu drohen.
Ueber die Deportation nach Sibirien gab Hr. Kokovtzeff, Bureauchef im
Justizministerium, Aufklärung, die in der absolutesten Verdammung des Depor¬
tationssystems gipfelte. Alle sachverständigen und einflußreichen Stimmen aus
Sibirien, berichtete er, vereinigen sich in dem Rufe: Befreit uns von der Pest
der Deportation. Man stehe in Rußland vor der Frage, ob man die Depor¬
tation nach Sibirien aufheben oder Sibirien zu Grunde richten wolle. Wie
gering die Aussicht sei, aus den Deportirten gute Kolonisten zu gewinnen,
habe folgende Thatsache gezeigt. Man habe mit einem Kostenaufwande von
100000 Rubel für 200 Deportirte kleine Farmer eingerichtet, sie mit sorg¬
fältig ausgewählten Leuten besetzt, und nach Ablauf eines Jahres seien noch
40 vorhanden gewesen, die übrigen seien entlaufen. Durch die Deportation
nach Sibirien wird nicht nur die Sicherheit dieses Landes auf's äußerste ge¬
fährdet, sondern zu Tausenden kehren die Verbrecher nach Rußland zurück.
Gefährlicher als sie hintransportirt worden sind, machen sie das Land unsicher;
unschädlich werden sie erst, wenn man sie in den ordentlichen Strafanstalten
unterbringt. Um dieser Kalamität zu begegnen, hat man einen Versuch
gemacht, die Verbrecher uach der Insel Sachalin zu deportiren; man hat
aber auch dies aufgeben müssen, weil die Transportkosten für den Kopf sich
auf 1000 Rubel beliefen. Uebrigens ist auch die Deportation nach Sibirien
mit so enormen Kosten verbunden, daß man dafür längst hätte eine Reform
des Gefüngnißwesens bestreiten können. Für Rußland ist die Beseitigung der
Deportation eine absolute Nothwendigkeit und der Anfang zu allen Gefängni߬
reformen.*)
Bertheidiger der Deportation waren die Franzosen. Sie brachen eine
Lanze für ihr Neukaledonien. Daß Guiana Fiasko gemacht hat, nachdem es
60 Millionen Francs verschlungen, mußten sie zugestehen; erhebliche Erfolge
konnten sie von Neukaledonien auch nicht aufweisen, sie konnten nur von guten
Hoffnungen reden; sie mußten einräumen, daß die Frauenfrage bis jetzt noch
keine Lösung gefunden, da die wenigsten Deportirten verheirathet seien, und
diesen wenigen die Frauen nicht folgten. Indessen der Versuch sei einmal
gemacht, und man dürfe ihn noch nicht aufgeben. Auf die Anfrage des italie¬
nischen Delegirten, ob es wahr sei, daß die französischen Strafkolonien bis
jetzt 100 Millionen Franes gekostet Hütten, mußten die Franzosen trotz manches
Sträubens zugeben, daß das etwa der Preis sei. Hierauf erklärte der Chef
des italienischen Gefängnißwesens, dann wisse er genug; sür 100 Millionen Francs
könne Italien sein ganzes Gefängnißwesen derart reformiren, daß es keiner
Strafkolonieen bedürfe.
Den Franzosen war es darum zu thun, ein absolutes Verwerfungsnrtheil
des Kongresses über die Deportation zu verhindern. Am Schluß der Debatte
formulirten sie ihre Ansicht dahin: Wir verkennen nicht, daß die Deportation
ihre großen Schattenseiten hat, wir wollen auch keinem andern Lande rathen,
unsern Versuch nachzumachen, da er für sie ernstliche Schwierigkeiten und große
Gefahren herbeiführen kann; wir wünschen vom Kongreß nur die Anerkennung,
daß diejenigen Völker, welche die Deportation haben und beibehalten, sich nicht
außerhalb des Bodens des Strafrechts befinden. Ans Courtoisie gegen die
Franzosen wurde daher das abfällige Urtheil des Kongresses in folgende höf¬
liche Formel gekleidet: 1^ zzsins als 1s, irMs^ortMoii xr6s6v.es ctsL 6Woll1to3
et'sxÜOntioii, Mi psrnnzttsrit xas als l'^doxtsr 6ü,UL tons Iss xs^s, n'^
d'68x6rsr (zu'klls ^ rsMss tontss Iss Lonclitions Korns Mstics zosneüs.
Aber soviel konnte man aus der Vertheidigung sowohl, als aus dem Privat¬
gespräch mit den französischen Mitgliedern des Kongresses heraus hören, daß
sie sich größeren Erfolg versprechen von der durch das Gesetz von 1875 in
Angriff genommenen Gefängnißreform als von der Deportation, und daß die
Tage ihrer jüngsten Strafkolonie ebenfalls gezählt sind.
Weder Fcibri, noch die, welche sonst für Einführung der Deportation Propa¬
ganda machen, haben sich die Ausführung ihres Vorschlags im Detail genau
vergegenwärtigt. Welche Verbrechen sollen mit der Strafe der Deportation
belegt werden? Will man auf dem Boden der jetzt geltenden Strafrechtsprin¬
zipien bleiben, so kann die Deportation, wenn sie mit denselben überhaupt in
Einklang zu bringen ist, nur auf die schwersten Verbrecher Anwendung finden,
also etwa auf diejenigen, welche zu Freiheitsstrafen von 10 Jahren und darüber
verurtheilt sind. Nun befanden sich am Schlüsse des Jahres 1876 in den
Preußischen Strafanstalten 14558 männliche und 2454 weibliche Zuchthaus-
gefangene; von diesen waren verurtheilt auf Lebenszeit 615 Männer und 193
Weiber, über 10 Jahre 1206 Männer, 78 Weiber; diese 2092 Köpfe würden
bei der Deportation zunächst in Frage kommen. Wenn die übrigen Staaten
des deutschen Reiches sich dabei betheiligen wollten — obgleich aus der Justiz¬
hoheit der Einzelstaaten sich nicht unerhebliche Schwierigkeiten ergeben würden —,
so würde die Gesammtziffer der zu Deportirenden sich auf etwa 3000 erhöhen,
und wenn man die Weiber, Kranken, Gebrechlichen, geistig zweifelhaften und
die Greise abzöge, so würden etwa 2500 übrig bleiben, gegenüber den 25000
Zuchthausgefangenen in Deutschland ein ziemlich verschwindender Bruchtheil.
Es fragt sich weiter: Wie sollen dieselben in den Strafkolonien unterge¬
bracht werden? Will man sie nicht einfach an's Land setzen und laufen lassen,
so wird man Gebäude zu ihrer Unterbringung herstellen müssen, und zwar
solche, welche das Entlaufen verhindern, also — eine neue Strafanstalt. Die
Kosten einer solchen würden sich aber, da ein großer Theil der Materialien
von hier aus hingeschafft werden müßte, selbst wenn die eigentliche Arbeit von
den Sträflingen besorgt werden könnte, mindestens eben so hoch belaufen, wie
in der Heimat. König Oskar I., der Reformator des schwedischen Gefängni߬
wesens, bemerkt in seinem epochemachenden Buche: Ohs xsinss se usf xrisons
sehr richtig: „Wenn eine neue Strafanstalt gebant werden soll, so wäre es
einfacher, sie auf Längholmen*) zu bauen, als in einer überseeischen Kolonie,
es ist das billiger, und man spart die Kosten des Transportes."
Angenommen nun, die Strafanstalt wäre auf einem überseeischen Terri¬
torium, etwa am Congo, gebaut, so gehören zur Leitung und Beaufsichtigung
derselben Beamte, und zwar wie die englischen und französischen Erfahrungen
zeigen, lieber zu viel als zu wenig. Glaubt man nun, daß für 1200 Mark
Gehalt ein Aufseher, für 2700 Mark ein Inspektor, für 4000 Mark ein Direktor
nach dem Congo gehen wird? Die Engländer Pflegen in den Kolonieen ihren
Beamten das doppelte und dreifache von dem zu zahlen, was sie in England
bekommen. Zur Sicherung der Strafkolonie bedarf es ferner einer Militär¬
macht ; da dieselbe die Gefangenen bewachen und zugleich die ganze Niederlas¬
sung gegen die umwohnenden wilden Völkerschaften schützen soll, so würde sie
kaum unter 500 Mann zu bemessen sein. Bei unseren militärischen Einrichtungen
ginge es kaum an, ein Bataillon irgend eines Regiments in Garnison nach
dem Congo zu verlegen, sondern man würde eine Truppe werben müssen.
Nun kosten der englischen Regierung die europäischen Truppen für den Kopf
jährlich 79 Pfd. Sterling; aber wenn auch der deutsche Kriegsminister es spar¬
samer einzurichten wüßte, unter 1000 Mark pro Kopf und Jahr würde er die
Truppen auch nicht erhalten können; dies wäre allein eine jährliche Ausgabe
von 500000 Mark. Ohne ein Kriegsschiff, und wenn es auch nur eins der
kleinsten Kanonenboote wäre, wird die Kolonie auch nicht sein können; Kundige
mögen die Summe hierfür angeben, aber billig ist ein in Dienst gestelltes
Kriegsschiff jedenfalls auch nicht. Nach dem Kkxorr ok et<z vir-ZOwi-s ok von-
viot xrisons von 1873 betrug der Staatszuschuß für die in England detinirten
Zuchthausgefangenen jährlich pro Kopf 11 Pfd. Sterling, für die im Zellen¬
gefängnisse zu Pentonville 20 Pfd. Sterling, für die Deportirten in West-
Australien dagegen 60 Pfd. Sterling — in der letzteren Summe die Trans¬
portkosten nicht mit einbegriffen —, d. h. die Kosten eines Gefangenen in der
Strafkolonie sind drei Mal so groß als in einem Einzelhaftgefängnisse der
Heimat und 5^ Mal so groß als im Durchschnitt für alle Gefangenen. Ueber¬
tragen wir diese Verhältnisse auf Deutschland, bez. Preußen. Hier betrug der
Staatszuschuß für die in allen dem Ministerium des Innern unterstellten.Ge¬
fängnissen detinirten Gefangenen im Durchschnitt der Jahre 1875 und 1876
pro Kopf 211 Mark, in dem Einzelhaftgefängnisse Moabit 228 Mark. Nehmen
wir den günstigsten Fall, daß sie in der Strafkolonie nur drei Mal soviel
kosteten als in Moabit, so betrüge die jährliche Ausgabe für jene 2500 Ge¬
fangenen in der Strafkolonie die Kleinigkeit von 1,114000 Mark mehr, als
wenn wir sie in Einzelhaft gehalten hätten.
Nun könnte man einwenden, das sei zwar sehr viel Geld, aber dafür
seien wir die Gefangenen auch ein für allemal los. Welcher Irrthum! Aus
den oben angeführten Zahlen ergab sich, daß ein Drittel der zu Deportirenden
lebenslängliche sind; von dem Rest würden erfahrungsgemäß hier wie dort die
eine Hälfte mindestens vor Ablauf der Strafzeit sterben; es blieben also etwa
800, die nach Ablauf, wir wollen annehmen von 10 Jahren, durch vorläufige
Entlassung, Begnadigung, Ablauf der Strafzeit frei werden. Angenommen
nun, diese blieben sämmtlich in der Kolonie, so würde uns die Expatriirung
dieser 800 Verbrecher eine 10 jährige Rente von 800 mal 456 Mark oder ohne
Berechnung der Zinsen 3,648000 Mark gekostet haben. Das hieße denn doch
die Beseitigung von 800 Verbrechern gar zu theuer bezahlt! Aber wer steht
uns auch dafür, daß sie alle in der Kolonie bleiben? Wenn sie nun nach
Ablauf der Strafe heimkehren wollen, um ihre Congo-Studien in Deutschland
zu verwerthen — können wir es ihnen wehren? Würde wohl ein Rechts¬
kundiger sich finden, der einen Paragraphen in's Strafgesetzbuch aufnähme, des
Inhalts: „Wer zu mehr als 10 Jahren Zuchthaus verurtheilt ist, kann durch
Anordnung des Justizministers gezwungen werden, dieselben in einer Straf-
kolonie zu verbüßen, und darf dann nie in sein Vaterland zurückkehren" ? Wenn
wir nun einen Theil der Deportirten müßten zurückkehren lassen, würden wir
nicht dieselbe Erfahrung machen, wie die Engländer, daß gerade diese die ge¬
fährlichsten, raffinirtesten Verbrecher sind?
Man könnte ferner einwenden, daß man die Strafkolonie so kostspielig
nicht einzurichten brauche. Fabri selbst spricht sich darüber nicht aus, man
kann aber oft genug der Meinung begegnen, daß zur Errichtung einer Straf¬
kolonie ja eine einsame Insel mitten im Ozean gewählt werden könne; dort
solle man die Verbrecher gewissermaßen aussetzen, mit dem nöthigsten Geräth,
Handwerkzeug u. s. w. versehen und sie dann sich selbst überlassen, höchstens
ein Kriegsschiff dort stationiren, um zu verhindern, daß sie auf Flößen oder
selbstverfertigten Kähnen entfliehen. Dies würde freilich billiger sein, aber
wenn man die Kosten des Transportes und der ersten Ausrüstung des Kriegs¬
schiffs rechnet, immer noch ebenso theuer zu stehen kommen, wie der Strafvollzug
in Moabit. Wie sich aber eine solche Strafkolonie in Wirklichkeit gestalten
wird, kann der Sachkundige sich leicht ausmalen. Es bedarf jedoch nicht der
Phantasie, wir können uns auch hier auf die Erfahrung berufen.
Die Engländer haben sich, wie schon erwähnt, für ihre indischen Besitzungen
eine Straf-Kolonie auf den Andamanen und Nicobaren im indischen Ozean
eingerichtet. Die Lage ist mit großem Geschick gewählt, auch deshalb, weil
die Transportkosten der Deportirten sich dadurch besonders niedrig stellen.
Auf den Inseln sind etwa 10 000 Verbrecher, Männer und Weiber, delirirt, alle
bis auf einen geringen Bruchtheil zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurtheilt,
meistens wegen Mord. Eine der Inseln enthält die Residenz des Gouverneurs,
den Hafen für die Schiffe, die Magazine, die Besatzung, eine Anzahl nicht zu
Lebenszeit verurtheilter männlicher Gefangener und das Weibergefängniß. Die
übrigen männlichen Gefangenen sind in größeren oder geringeren Trupps auf
den einzelnen Inseln untergebracht. Auf den größeren derselben ist ein
snxsrinwriÄsnr stationirt mit einer kleinen Anzahl Militär, einigen Auf¬
sehern ;c.; ihre Behausung ist entweder eine kleine Festung auf der Insel der
Deportirten selbst oder auf einer in der Nähe derselben liegenden kleineren
Insel. Die Gefangenen sind in Abtheilungen getheilt, deren Anführer selbst
Gefangene sind; die letzteren leiten namentlich die Arbeiten. Sie wohnen
abtheilungsweise in selbsterbauten Hütten; die Beamten beschränken sich darauf,
die Arbeiten zu bestimmen und von Zeit zu Zeit zu revidiren, im übrigen sind
die Gefangenen sich selbst überlassen. Die Autorität der Beamten wird dadurch
aufrecht erhalten, daß es streng untersagt ist, ans den mit Gefangenen besetzten
Inseln irgend welche Nahrungsmittel zu bauen; alles was die Gefangenen in
dieser Beziehung nöthig haben, vorzugsweise Reis, wird von Ostindien ein-
geführt, aus den Magazinen der Depot-Insel nach den Inseln der Gefangenen
gebracht und an bestimmten Tagen — unseres Wissens aller fünf Tage —
rationsweise an die Gefangenen vertheilt. Dies sind zugleich die Musterungs¬
tage, an denen die Präsenz der Gefangenen konstatirt wird, es sind die
Abrechnungstage, an denen die Gefangenen das, was sie an Tabak, Kaffee :c.
gebaut haben, abliefern und dafür wie für die öffentlichen Arbeiten, die sie
geleistet — Wege- und Brückenbau, Bewässerungs- und Entwässerungsarbeiten
u. s. w. — ihren Lohn bekommen. Derselbe besteht in Bons, für welche sie Eß-,
Genuß- und Bequemlichkeits - Gegenstände von der Verwaltung eintauschen
können. Dabei wird aufs sorgfältigste darauf gehalten, daß ihnen an Eß-
waaren nicht etwa soviel verabreicht wird, daß sie sich einen Vorrath davon
zusammensparen können. Da den Gefangenen jede Möglichkeit genommen ist,
von der Insel zu entkommen — alle Schiffe und Boote liegen unter sicherster
Bewachung außerhalb ihres Bereiches —, da sie immer nur für fünf Tage
Nahrungsmittel haben und auf ihrer Insel absolut nichts Eßbares finden, so
würde es im Falle einer Revolte genügen, die Lebensmittelration nicht zu
vertheilen; sie würden dann verhungern oder müßten sich als Kannibalen unter
einander auffressen. Um das übrige Treiben der Gefangenen bekümmert sich
die Verwaltung nicht viel. Nur gröbere Exzesse, Mord und Todtschlag kommen
zur Anzeige und werden vom Gouverneur mit Auspeitschen oder eventuell
Hängen — ob mit oder ohne ordentlichen Prozeß, ist uns jetzt nicht erinner¬
lich — bestraft.
Was aus dieser Menschenmasse, in der die verschiedensten Racen und
Nationen vertreten sind — Chinesen, Hindus, Malayen, Parsi, Neger, Weiße,
Araber und was sonst in den Emporien des Ostens zusammengeströmt sein
mag —, ich will nicht sagen in sittlicher und religiöser, sondern überhaupt nur
in menschlicher Beziehung wird, bedarf wohl keiner Beschreibung. Man ver¬
gegenwärtige sich nur, was hier an viehischer geschlechtlicher Ausschweifung
geleistet wird! Doch will ich nicht unerwähnt lassen, daß den Gefangenen
auch die Gelegenheit geboten wird, eine Frau zu nehmen. Nach zehnjähriger
guter Führung kann der männliche, nach dreijähriger die weibliche Gefangene
die Erlaubniß zum Heirathen bekommen. Zu bestimmten Terminen werden
die mit einem Heiraths - Tickel versehenen männlichen Gefangenen nach der
Insel des Gouverneurs geholt, es werden ihnen aus dem Weibergefängnisse
die ebenfalls mit Tickel versehenen Kandidatinnen vorgeführt, man gibt ihnen
fünf bis zehn Minuten zur Wahl; ist ein Paar einig geworden, so werden sie
vom Gouverneur zusammengegeben und beziehen als Mann und Frau auf
einer Deportationsinsel ein Hütte für sich. Was wird aber ans dieser sogenannten
Ehe? Die Frau wird Gemeingut einer ganzen Anzahl anderer Gefangenen,
der offizielle Ehemann läßt diese für sich arbeiten und ergibt sich dem ckolek
ehr Qieiitk. Daß das keine Phantasiegebilde sind, beweisen die Kinder, die
einer solchen Ehe entspringen, und von denen das erste vielleicht einen chinesischen,
das zweite einen malayischen, das dritte einen Negertypus trägt, auch wenn
der offizielle Vater ein richtiger „Madrasman" ist. Und was wird nun aus
dieser heranwachsenden Generation? Soll man sie unter den Verbrechern
lassen? Man denke sich den Gedanken einmal aus! Soll man sie nach
Indien zurückbringen? Sie haben ja keine Kaste, nicht einmal Parias sind
sie. Es bleibt also nichts andres übrig, als eine neue Kolonie für diese zweite
Generation zu gründen. Diese zweite Generation macht denn auch der eng¬
lischen Verwaltung viel mehr Sorge als die Verbrecher selbst.
Ist das nun das Ideal einer Verbrecher-Kolonie, wie sie für Deutschland
erstrebt wird? Bilde man sich doch nicht ein, daß sie sich unter unsern Händen
anders gestalten werde; in einigen äußeren Dingen würde sie vielleicht anders
aussehen, wir würden es vielleicht nicht so gut verstehen wie die Engländer,
die Sicherheit und Ordnung aufrecht zu erhalten, aber den Stempel der tiefsten
moralischen Versumpfung würde sie ebenso an sich tragen wie jene, ja wahr¬
scheinlich würde sie noch um viele Grade tiefer sinken, weil der sogenannte
Kulturmensch, wenn er einmal dabei ist, moralisch zu versumpfen, darin viel
mehr leistet als der Naturmensch. Vor einer solchen Gestaltung kann keine
Anstrengung, keine Maßregel eine insulare Verbrecherkolonie retten, und wenn
ein Engel vom Himmel käme und die Seelsorge darin übernehmen wollte.
Es erübrigt noch, die Behauptung Fabri's zu beleuchten, daß wir deshalb
Strafkolonien brauchten, weil die Verbrecher in einem so exorbitanten Maße zu¬
nehmen, daß weder die jetzigen Gefängnisse ausreichen, noch auch die Mittel
vorhanden seien, entsprechend neue zu beschaffen, und daß wir schou jetzt Für¬
sorge treffen müssen, um die an dem bevorstehenden großen Kommuneaufstand
betheiligten unterzubringen.
Für die Zunahme der Verbrecher beruft sich Fabri auf die bekannte
Strnßberg'sche Broschüre: „Die Zunahme der Vergehen und Verbrechen und
ihre Ursachen." Das hohe Verdienst dieser Schrift wird niemand bestreiten.
Sie hat wie keine andere die Aufmerksamkeit auf die enorme Bedeutung dieser
in weiteren Kreisen meist gleichgiltig oder dilettantisch behandelten Materie von
den Verbrechen, der Strafe und dem Strafvollzug gelenkt. Ihr Verdienst
würde noch größer sein, wenn sich nicht wie ein rother Faden der Gedanke
durchzöge, daß die außergewöhnliche Zunahme der Verbrechen ihren Grund
eigentlich darin habe, daß der Staat sich seit einer Reihe von Jahren in
Gegensatz zur Kirche gesetzt und deren Macht und Einfluß erheblich beschränkt
habe, und daß die sicherste Abhilfe darin bestehe, daß man schleunigst von der
neuerdings befolgten Kirchenpolitik umkehre. Auch die Thatsache der Zunahme
der Verbrechen nimmt sich eben anders aus vom Standpunkte der inneren
Mission und anders vom Standpunkte der Sozialpolitik.
Wie das Leben der Staaten und Völker überhaupt ebbt und fluthet, auf
Zeiten der Erhebung Zeiten des Verfalls folgen und umgekehrt, so ist es auch
mit derjenigen Seite des Volkslebens, welche ihren Ausdruck in der Zu- und
Abnahme des Verbrechens ihren Ausdruck findet. Es ist hier nicht der Ort,
auf die Ursache dieser Erscheinung näher einzugehen,*) es sei nur auf die
Thatsache hingewiesen, daß in allen europäischen Staaten in der Periode, welche
auf den Abschluß der großen Kriege im Anfange dieses Jahrhunderts folgte,
eine enorme Zunahme der Verbrechen sich zeigt, ,sodaß die Verlegenheit, die
Verurtheilten unterzubringen, unendlich viel größer war als jetzt, und die
preußische Regierung in ihrer Noth auf den Gedanken kam, ihre Verbrecher
nach Sibirien zu deportiren. Aus neuerer und neuester Zeit mögen einige
Zahlen aus verschiedenen Ländern dies näher darthun. Der offizielle Nach¬
weis über die Verurteilungen in England während der 40 Jahre von 1834
bis 1873 ergibt folgendes. Im Jahre 1834 betrug bei einer Bevölkerung von
145/2 Millionen die Zahl der Verurteilungen zu Gefängniß: 10721. zu Zucht¬
haus und Deportation: 3060. Die Zahl der Verurteilungen steigt langsam
aber stetig bis auf 15747, bez. 3800 im Jahre 1841 bei etwa 16 Millionen
Einwohnern, springt dann rapid im folgenden Jahre auf 17 871, bez. 4481
— eine Vermehrung um 14,35 Proz.! —, um im Jahre 1845 auf 14052,
bez. 3247, d. i. 22,61 Proz. zu fallen bei 16,7 Millionen Einwohnern. Im
Jahre 1846 betragen die Ziffern 14902, bez. 3157; im Jahre 1848: 19175,
bez. 3600; dann folgt eine langsame Verminderung und im Jahre 1854 ein
rasches Steigen der Verbrecheusziffer auf ihren höchsten Standpunkt 20388,
bez. 2742. Hierauf von 1855 auf 1856 ein ebenso rapides Fallen von
17 397, bez. 2590 auf 11885 und 2715, dann ein stetiges Sinken bis auf
9656 und 2456 im Jahre 1860, dann wieder ein stetiges Steigen bis auf
12358 und 2081 im Jahre 1868, und seitdem ein stetiges Herabgehen bis
auf 9141 und 1493 bei 23 Millionen Einwohnern im Jahre 1873. Der
Merkwürdigkeit wegen sei noch erwähnt, daß dieses letzte konstante Sinken zu¬
sammenfällt mit dem Aufhören der Deportation in England. Dieselbe Erschei¬
nung haben wir in Schweden. Die Zahl der Verurtheilten beträgt 1856:
1778, 2879 im Jahre 1869 und 1876: 1558. In Belgien, welches in den
Jahren 1831 bis 1840 ebenfalls eine enorme Steigerung der Verurteilungen
aufzuweisen hatte, ist die Zahl derselben von 8015 im Jahre 1856 auf 5342
im Jahre 1868 gefallen.
So betrübend also auch die große Zunahme der Verurteilungen in
Deutschland ist, so gewiß sie uns zur gewissenhaftesten Aufsuchung und Ver¬
stopfung ihrer Quellen auffordern muß, so ist sie doch nichts so Unge¬
wöhnliches, daß wir unser Heil in der außergewöhnlichen Maßregel der
Deportation suchen müßten. Gerade die beiden zuletzt genannten Länder,
Schweden und Belgien, zeigen, daß die konstante Verminderung der Verurtei¬
lungen zusammenfällt mit einer planmäßigen Reform des Strafvollzugs nach
dem System der Einzelhaft.
Was den letzten Grund betrifft, daß wir uns auf den großen Kommune¬
aufstand rechtzeitig vorbereiten müßten, so ist foviel sicher, daß, wenn irgend
etwas ihn herbeiführen wird, es diese ewige s. v. v. Angstmeiern ist vor der
Sozialdemokratie. So gewiß die Bedeutung dieser Bewegung nicht unterschätzt
werden darf, so gewiß es heilige Pflicht ist, jeder an seinem Theile zu helfen,
die Ursachen, aus denen die ungesunde Bewegung entsprungen ist, zu beseitigen,
so gewiß ist es die Pflicht jedes guten Bürgers, auch nicht mit einer Miene
zu verrathen, daß wir uns vor ihr fürchten, denn wer sich fürchtet, der ist
schon halb besiegt. Die Sozialdemokraten und ihre Führer sollen wissen, daß
wir entschlossen sind, ein Ende mit ihnen zu machen, soviel auf uns ankommt,
in Frieden und gemeinsamer Arbeit; appelliren sie an die Gewalt, dann ein
Ende wie die Soldaten Caesar's nach der Schlacht bei Munda den Pompe-
janern bereiteten. Es fehlte blos noch, daß wir jetzt schon ein behagliches
Plätzchen aufsuchten, um denen, die unsern Staat und unsere Kultur in Frage
stellen, ein bequemes Unterkommen dort zu bereiten. Der Verfasser dieser
Zeilen ist fest überzeugt, daß wir keinen Kommune-Aufstand haben werden,
denn Berlin ist noch lange nicht Paris. Doch das mag ja Glaubenssache
sein. Angenommen aber, Fabri hätte Recht, so wäre auf die Frage, wo wir
mit den verurtheilten Kommunards bleiben sollen, die Antwort sehr einfach zu
geben: ebenda, wo wir mit den französischen Kriegsgefangenen geblieben sind.
Damit kämen wir billiger weg als die Franzosen, denn wir sparten die Kosten
des Hin- und Hertransports.
Nicht ein einziger der Fabri'schen Gründe also für die Gründung von Straf¬
kolonien hat sich als stichhaltig erwiesen. Es ist bedauerlich, daß die Depor¬
tationsfrage, welche für alle übrigen europäischen Völker abgethan erscheint,
bei uns überhaupt wieder auf der Bildfläche erschienen ist, doppelt zu bedauern,
daß sie jetzt wieder aufgetaucht ist, wo endlich bei uns Hand an die Reform
des Strafvollzugs gelegt werden foll. Denn es ist Thatsache, daß die Depor¬
tation, ja auch nur die ernstliche Jnaussichtnahme derselben anderwärts jede
gesunde Reform des Strafvollzugs gehindert hat. In England beginnt eine
planmäßige Reform desselben erst, seitdem die Deportation auf den Aussterbe¬
etat gesetzt ist. Und wer die Bestrebungen für diese Reform in Frankreich
unter Tocqueville's Führung von 1830 bis 1847 verfolgt hat, wird wissen,
daß der Abschluß des Strafvollzugsgesetzes, welches ans dem System der Einzel¬
haft basirte, wesentlich mit dadurch verhindert wurde, daß die Deputirten-
kammer die Deportation hineindiskutirt hatte, und daß vom Kaiserreiche, welches
eine ganz besondere Passion für die Deportation hatte, die ganze Strafvoll¬
zugsreform bei Seite gelegt wurde. Erst unter der Republik ist sie wieder
aufgenommen und zu einem vorläufigen Abschlüsse gebracht worden, aus
welchem klar hervorgeht, daß im französischen Strafvollzuge die Deportation
keinen Platz mehr haben wird. Holland, Belgien, Schweden haben ihre plan¬
mäßige Gefängnißreform erst begonnen, nachdem sie ein für allemal aller
Deportations-Gelüste sich entschlagen hatten. Rußland hat mit seiner sibirischen
Deportation Bankerott gemacht, es hat soeben durch Schaffung einer Zentral¬
behörde für das Gefängnißwesen, an dessen Spitze der hochverdiente Präsident
des Stockholmer Kongresses Staatsrath v. Grod steht, die Reform des Straf¬
vollzugs in Angriff genommen, und daß es ihm damit Ernst ist, dafür bürgt
der Name und die Person des Chefs und seiner Mitarbeiter; Beseitigung der
Deportation ist die oonckitio sins Hiia. non der Reform. Und uns Deutschen
will man zumuthen, diesen überall mißglückter Versuch noch einmal zu machen?
Einmal schon haben wir in Preußen den Anlauf zu einer Reform des Straf¬
vollzugs genommen, wir standen um dieselbe Zeit fast so nahe am Ziele wie
die Franzosen. Man hat sie fallen lassen. Warum? Kundige Leute behaupten,
unter anderm aus dem Grunde, weil eine kirchliche Partei, der Fabri nicht
fern steht, den Strafvollzug in Einzelhaft zu seiner Domäne machen wollte.
Sicher hat das Anwachsen des Verbrecherthums zum großen Theil seinen
Grund in dieser unterlassener Reform des Strafvollzugs. Jetzt endlich sind
wir soweit gekommen, daß dem Bundesrathe der Entwurf zu einem Reichs-
Strafvollzugsgesetz vorliegt, der die Gefängnißreform nach dem System der
Einzelhaft in Aussicht nimmt, und da kommt diese unglückselige Deportations¬
frage! Es ist sicher zu erwarten, daß gewisse Parlamentarier, die alles wissen,
die jeden Zweifel an ihrer Unfehlbarkeit mit sittlicher Entrüstung zurück¬
weisen, bei der Berathung des Strafvollzugsgesetzes auch die Deportation in
die Diskussion werfen und dadurch fein Zustandekommen ebenso gefährden
werden, wie die französische Deputirtenkammer den Strafsvollzugs-Gesetzentwurf
vom Jahre 1846. Die Gefängnißreform ist eine Aufgabe, die nur durch plan¬
mäßige, konsequente, langjährige, mühsame Arbeit gelöst werden kann. Belgien
hat 30 Jahre daran gearbeitet, Schweden und Holland nicht viel kürzer, England
und Frankreich werden sie auch nicht eher vollenden; für Deutschland ist die
Arbeit ebenfalls auf mindestens 25 bis 30 Jahre berechnet, und es ist gegrün¬
dete Aussicht vorhanden, daß wir damit ebensogut das Ziel, Herabminderung
des Verbrecherthums und der Verbrecher, erreichen werden, wie jene Länder.
Wollte man uns jetzt die Deportation empfehlen als ein Mittel, welches uns
rascher und billiger zum Ziele führen würde, es wäre genau so, als wenn man
einem treuen und fleißigen Menschen, der durch Arbeit und Sparsamkeit seine
materielle Lage verbessern will, den Rath gäbe, in der Lotterie zu spielen, weil
Im Jahre 1754 in den letzten Tagen des Februar langte eine kleine
italienische Sängergesellschaft, aus ihrer Heimat kommend, auf dem Wege nach
Potsdam in der altehrwürdigen Reichsstadt Augsburg an. Es war eine
Signora Paganini, ihr Gemahl, außerdem noch zwei Sänger, endlich als Reise¬
marschall ein gewisser Pietro Antonio Callabria, der als Kommissär und im
Auftrage Friedrich's II. die erstgenannten vier Personen in die Residenz des
Königs geleiten sollte. Sie stiegen in der Schäfflerherberge ab, einer auf dem
Predigerberge gelegenen Bierbrauerei, die von Alters her das Recht besaß,
Fremde aller Art aufzunehmen. Freilich war dies ein nichts weniger als
vornehmes Absteigequartier, nach unserer Art zu reden kaum ein Wirthshaus
dritten oder vierten Ranges; indessen Schauspieler und Sänger waren zu jenen
Zeiten weniger verwöhnt als heutzutage, und auch eine Sängerin von viel
größerem Rufe als Signora Paganini würde es damals wahrscheinlich nicht für
unter ihrer Würde gehalten haben, mit einem verhältnißmäßig so bescheidenen
Unterkommen vorlieb zu nehmen. Zudem war Friedrich der Große nicht ge¬
neigt, sür dergleichen Dinge großen Aufwand zu machen. Wer sich bei solchen
Gelegenheiten bei ihm beliebt machen wollte, der mußte es verstehen, Sänger
und Sängerinnen zu liefern, auch ohne dabei tief in die königliche Kasse zu
greifen.
Der Herr Kommissär Callabria, der den Unterhalt der Gesellschaft während
der Reise zu bestreiten hatte, mußte also wohl, wenn er nicht zu Schaden
kommen wollte, mit den ihm zur Verfügung stehenden Geldmitteln haushälte¬
risch umgehen. Dafür zeigte er sich um so anmaßender in seinem Benehmen.
Er hatte früher einmal, wahrscheinlich in Preußen, in Militärdiensten gestanden,
und als ehemaliger Soldat und Diener eines so großen Herrn und Kriegs¬
obersten dünkte er sich hoch erhaben über das gewöhnliche bürgerliche Gelichter.
Die Reichsstädter mit ihrem gespreizten Wesen, hinter dem auch nicht mehr
der Schatten einer wirklichen Macht stand, mochten ihm vollends verächtlich
vorkommen, und aus diesen seinen Gedanken machte er nirgends im Geringsten
ein Hehl. Schon bei seinem Eintritt in die Stadt, unter dem Thore, hatte er
sich, um größer dazustehen, sür einen Kriegskommissär seiner preußischen Majestät
ausgegeben, und als solcher trat er überall auf: kurz angebunden, soldatisch,
befehlshaberisch.
Die Gesellschaft war in dem Gefährt eines Augsburger Lohukutschers
Namens Konrad Birzle aus Italien befördert worden. Als dieser aber kam,
um seine Zahlung zu verlangen, zog ihm Callabria nicht nur eine beträchtliche
Summe ab, sondern schnäuzte ihn auch, als er sich dabei nicht beruhigen wollte,
grimmig an: er werde ihm eine Kugel durch den Kopf jagen, wenn er ihn
noch weiter belästige, und dergleichen mehr.
Birzle entfernte sich erschrocken ohne sein Geld, lief aber in seiner Angst
am andern Morgen — es war Samstag, den 2. März — in aller Frühe auf
das Rathhaus, wo gerade der kleine Rath tagte, um diesem seine Noth zu
klagen. Der Bürgermeister v. Langenmantel kam aus dem Sitzungssaale,
hörte seine Erzählung an, und da schon von anderer Seite über das Gebühren
des gewaltthätigen Herrn geklagt worden war, auch Gefahr im Verzüge war,
weil die Italiener schon wieder auf dem Punkte standen abzureisen, so schickte
er sofort einen Amtsdiener ab, um den Angeklagten auf das Rathhaus zu zitiren.
Ohne Zweifel wäre der Bürgermeister behutsamer zu Wege gegangen,
wenn er den Fremden wirklich für einen Kommissär des Königs von Preußen
gehalten hätte. Die reichsstädtischen Behörden waren im vorigen Jahrhundert
berühmt ob ihrer langsamen Bedächtigkeit, ob ihrer ewigen Bedenklichkeiten
und ihrer beständigen, freilich nothgedrungenen Rücksichtnahme auf größere
Nachbarn und überhaupt auf alle mächtigeren Reichsfürsten. Zudem war
Langenmantel nicht im Amte, die Sache ging ihn also unmittelbar recht
wenig an.*)
Allein Callabria hatte sich unter dem Thore als Kriegskommissär bezeichnet,
und es schien doch unglaublich, daß ein königlich preußischer Kriegskommissär
sein Quartier in der Schäfflerherberge genommen haben und zum Reisebegleiter
für ein paar italienische Sänger auserkoren worden sein sollte. Da mußte
jedem der Verdacht aufsteigen, der Mann sei ein Schwindler. Augsburg war
ja als wohlhabende Stadt überlaufen von dergleichen Leuten. Was mit Schau¬
spielern und Sängern zusammenhing, wurde gewöhnlich schon von vornherein
mit mißtrauischen Blicken angesehen. Und es war Grundsatz des Rathes, so
lange es sich, ohne in Unannehmlichkeiten zu gerathen, thun ließ, dafür zu
sorgen, daß kein Bürger durch fremde Betrüger zu Schaden käme.
Der Bote wurde also abgeschickt. Callabria empfing ihn höchst ungnädig
und äußerte sich in wegwerfender Weise über das hohe Rathskollegium; er
habe keine Zeit, der Aufforderung Folge zu leisten; wenn man etwas von ihm
wolle, so möge man zu ihm kommen. Erst auf vielfaches Zureden seiner
Gefährten und des Schäfflerwirthes ließ er sich endlich zu der Erklärung herbei,
er werde um halb zehn Uhr einen Stellvertreter schicken.
Langenmantel wartete eine Stunde lang auf den versprochenen Stellver¬
treter; aber vergebens, niemand kam. Endlich schickte er den Amtsdiener zum
zweiten Male, mit der Drohung, der Herr werde, falls er sich noch weiter
widerspenstig bezeigen sollte, durch die Stadtgarde mit Gewalt abgeholt werden.
Da bequemte sich Callabria, nachzugeben. Er erschien bald darauf in Beglei¬
tung eines italienischen Handlungskommis und eines Leutnants v. Kalm, der
als preußischer Werbeoffizier in Augsburg stationirte, auf dem Rathhause.
Langenmantel kam ihnen im zweiten Stock auf dem Korridor entgegen, und
der Offizier ergriff sofort das Wort mit der scharf betonten Frage, was der
Rath mit diesem — auf Callabria deutend — königlich preußischen Kommissär
eigentlich wolle. Der Bürgermeister antwortete, zunächst werde der Herr sich
legitimiren müssen, sodann handle sich's um eine Schuldforderung des Lohn¬
kutschers Birzle. Zugleich forderte er die Gesellschaft auf, mit ihm in die
nebenanstoßende Stadtgerichtsstube zu gehen, damit er dort Alles in gehöriger
Form zu Protokoll bringen könne. Darauf kurzes Hin- und Herreden. Endlich
meinte der Leutnant, mit dem Protokolliren habe er nichts zu schaffen, drehte
sich um und fing an, die Treppe hinabzusteigen. Callabria aber fiel sofort ein,
auch er habe keine Lust zum Protokollmachen, setzte den Hut auf und folgte
seinem militärischen Begleiter.
Langenmantel stand sprachlos vor Staunen über solche Frechheit. Die
Augsburger Behörden kamen ja nicht selten in die Lage, von den Dienern und
Beamten auswärtiger Potentaten Impertinenzen geduldig hinnehmen zu müssen.
.Aber eine derartige Aufführung an dieser Stelle war noch nicht dagewesen.
Daß ihm, dein Jakob Wilhelm Benedikt Langenmantel von Westheim, dem
Sprossen eines der ältesten Geschlechter der Stadt, im Rathhause selbst, an der
Stätte, wo seine Ahnen seit über einem halben Jahrtausend regiert hatten, in
solcher Weise von einem hergelaufenen Italiener, von einem Menschen, der in
der Schäfflerherberge logirte, mitgespielt wurde, war unerhört, umsomehr als
man ja von Alters her gerade in den Reichsstädten am meisten gewohnt war,
im öffentlichen Leben sich nur in abgemessenen, von höflichen Wendungen über¬
fließenden Formen zu bewegen. Doch faßte er sich alsbald wieder und rief
zornig der Wache zu, den Unverschämter festzuhalten und in die Gerichtsstube
zu führen.
Sobald Callabria merkte, daß Gewalt angewendet werden sollte, fügte er
sich wenigstens so weit, daß er gutwillig, wenn auch mit sichtlichem Trotz, zurück
und in die Stube ging, wo ihn der Bürgermeister erwartete. Kaum hatte dieser
jedoch angefangen, ihn wegen feiner Impertinenz zur Rede zu stellen, als
Callabria in eine Fluth von Vorwürfen und Schmähreden ausbrach und dem
Bürgermeister drohend auf den Leib rückte. Entrüstet forderte ihn Langen¬
mantel auf, sich bescheidener zu benehmen, widrigenfalls werde er ihm den Degen
abnehmen lasten. Da rief Callabria: „Den möchte ich sehen, der mir an den
Leib kommt", und drang mit geschwungenem Stocke auf seinen Inquisitor ein,
der seinerseits erschrocken retirirte und nach der Wache rief.
Hierauf traten einige Stadtgardisten ein. Callabria schlug den ersten mit
dem Stocke nieder, riß den zweiten bei den Haaren zu Boden, zog dann den
Degen und hieb und stach blindlings nach allen Seiten. Alles wich zurück,
es entstand ein entsetzlicher Tumult, die Rathsherren eilten aus ihrem Sitzungs¬
saale herüber, man schickte hinunter ans die Wache, um Verstärkung zu holen.
Unterdessen hatte ein Amtsdiener den richtigen Augenblick ersehen und den ge¬
fährlichen Fremden von hinten gepackt. Beide fielen zu Boden; und so gelang
es endlich mit vieler Mühe, den Wüthenden zu entwaffnen. Er wurde sofort
in Gewahrsam gebracht.
Man kann die Aufregung sich ausmalen, in die alle Betheiligten gerathen
waren, wie man ängstlich fragte und antwortete, wie die Rathsherren hin und
herliefen und bedenklich ihr weises Haupt schüttelten. Ein Auftritt, wie der
geschilderte, war nicht erlebt worden, so lange das Augsburger Rathhaus stand,
und es waren doch manche wilde Zeiten darüber hingegangen. Jedermann
empfand, daß der ganzen Stadt ein Schimpf angethan worden sei. Und doch
war auch wieder keiner, der nicht auf dem Grunde der Seele das unbehagliche
Gefühl gehabt hätte, daß der böse Mensch am Ende wirklich ein Kommissär
des Königs von Preußen sei, als welchen ihn der Leutnant bezeichnet hatte.
Und wenn er das war, welche Widerwärtigkeiten konnten dann dem Gemein¬
wesen aus dem Vorfalle erwachsen! Wußte doch jeder, wie die großen Herren
sich zwar wenig drum kümmerten, ob sie einem Kleineren auf den Fuß traten
oder nicht, dagegen um so entschiedener alle nur mögliche Rücksicht von den
Andern verlangten. Und war es doch leider nur zu gut bekannt, wie in Kolli¬
sionsfällen die armen Städte immer den Kürzern zogen.
Dieses Unbehagen kam denn auch sofort in dem Protokoll, welches in dem
alsbald abgehaltenen geheimen Rathe über den Vorfall aufgenommen wurde,
deutlich zum Ausdruck. Die Stadtpfleger und Geheimeräthe versammelten sich,
soweit sie noch auf dem Rathhause gegenwärtig waren*), auf der Stelle zu einer
Sitzung, um sich von dem Bürgermeister über den Hergang berichten zu lassen.
Man sollte meinen, in diesem Berichte hätte sich die gerechte Entrüstung, die
Langenmantel selbst ebenso wie jeder andere fühlte, auf's lebhafteste wieder¬
spiegeln müssen. Doch keine Spur davon. Derselbe ist im Gegentheil, wenig¬
stens das, was davon niedergeschrieben wurde, durchaus in entschuldigenden
Tone gehalten. Die Tendenz des Schriftstückes ist viel weniger, die Schuld
des Uebelthäters in's Licht zu stellen, als die Langmuth der Behörde hervor¬
zuheben, und insbesondere klar darzulegen, wie der Bürgermeister über alle
Maßen geduldig und sanftmüthig verfahren sei. Offenbar faßte man von vorn¬
herein die Eventualität in's Ange, daß es nothwendig werden könnte, das
Protokoll nach Potsdam zu schicken.
Die beiden amtirenden Bürgermeister erhielten nun den Auftrag, noch an
demselben Tage die Sache gründlichst zu untersuchen, und so geschah es denn
auch. Sie verhörten und protokollirten von drei bis sieben Uhr Abends. Leider
aber machte das Resultat die schlimmsten Befürchtungen zur Wahrheit.
Callabria, der übrigens inzwischen etwas zahmer geworden war und sein
anfängliches Benehmen mit Unkenntniß der reichsstädtischen Sitten und Ge¬
bräuche zu entschuldigen suchte, war anf's beste im Stande, sich durch seine
Papiere als im Auftrage Friedrich's des Großen reisend auszuweisen. Sein
Paß sowohl wie der vom Könige eigenhändig unterzeichnete Auftrag, einige
Sänger aus Italien zu holen, befanden sich in trefflichster Ordnung. Außerdem
zeigte er ein Schreiben vor von einem königlichen Beamten Namens Freders-
dorff, der ihn aufforderte, feine Reise nach Möglichkeit zu beschleunigen, da seine
Majestät sehr gespannt sei, die berühmte Signora Paganini zu hören, und da
er, Fredersdorff, der „äsux xotZ as poin^as 6'or-z.uAS et autavt 6s xots
6'nuits Ah ^ÄZiriili vöritadls 6s 1a, rnsillsiirs forts", die er ihm mitzubringen
aufgetragen, dringend bedürfe.
Der Rath befand sich in einer argen Verlegenheit. Ob Herr v. Freders¬
dorff seine Töpfe Orangeupomade und veritables Jasminöl etwas früher oder
später erhielt, wäre ihm am Ende gleichgiltig gewesen; aber wenn der König
selbst warten mußte — das konnte unangenehm werden. Man wußte nicht,
wie der hohe Herr die Sache aufzunehmen geruhen werde. Und doch konnte
man Ehren halber den übermüthigen Friedensbrecher nicht ohne weiteres wieder
loslassen.
Zunächst ersuchte man den preußischen Agenten in Augsburg, Joh. Friedr.
Guttmann, seinen Einfluß bei der Signora und ihren Gefährten dahin geltend
zu machen, daß dieselben ohne ihren Begleiter abreisten, damit seine Majestät
nicht länger als nöthig zu warten habe. Guttmann, der als Kaufmann und
Augsburger Bürger und zugleich als Diener des Königs von Preußen ein
lebhaftes Interesse haben mußte, daß aus dem Handel keine weiteren Ver¬
wickelungen entständen, that, was er konnte. Aber die Italiener wollten sich
nicht dazu verstehen, ohne Callabria die Stadt zu verlassen; sie beharrten
auch bei ihrer Weigerung trotz wiederholten Andrängens von Seiten des Agenten,
und obgleich ihnen der Rath allerlei Versprechungen machte, wenn sie sich will¬
fährig zeigen würden.
Man berieth nun mehrere Tage hin und her. Anfangs wurden einige
tapfere Vorschläge laut: man solle an den König zwar ein bedauerndes und
unterwürfiges Schreiben richten, Callabria gegenüber aber dem Gesetze seinen
Lauf lassen und ihn jedenfalls für einige Zeit eingesperrt halten. Sehr bald
jedoch, zumal nachdem es klar geworden, daß die Sänger ohne ihren Reise¬
marschall nicht fortzubringen waren, wurde die Stimmung unentschiedener, und
zuletzt kam man zu dem Beschlusse, dem König einen umständlichen Bericht
über den ganzen Hergang zu schicken und ihm die Bestrafung des Missethäters
anheimzustellen, diesen selber aber in Gottes Namen wieder in Freiheit zu
setzen. Nur sollte er sich zuvor mit seinen Gläubigern einigen; außer dem
mehrerwähnten Birzle nämlich hatte mittlerweile auch das Augsburger Hand¬
lungshaus Mainone eine Schuldforderung von 600 Gulden gegen ihn anhängig
gemacht.
Auch hatte man anfangs noch verlangen wollen, daß er, wie es üblich
war, einen Revers 6s ovo vinäisaMo arrssto unterschreiben und die Arrest¬
kosten bezahlen sollte, doch sah man auch davon ab, namentlich auf die drin¬
genden Vorstellungen der Rathskonsulenten hin, welche meinten, daß der König
von Preußen dies möglicher Weise übel aufnehmen möchte.
Dieser Beschluß wurde am 6. März gefaßt und noch am selbigen Tage
dem Gefangenen in Gegenwart des preußischen Agenten von den Amtsbürger¬
meistern mitgetheilt. Zugleich wurde ihm im Auftrage des Rathes bedeutet,
daß er die gnädige Behandlung nicht sich selber zu verdanken habe, sondern
nur der Rücksicht, die man auf seinen Herrn nehme, damit dessen Geschäfte
nicht verzögert würden; er möge sich daher mit seiner Abreise soviel wie mög¬
lich beeilen.
Callabrici war froh, so leichten Kaufes losgekommen zu sein. Weshalb
es geschah, konnte ihm gleichgiltig sein. Er verhieß alles, unterschrieb sogar
in der Freude seines Herzens aus freien Stücken einen Revers, in welchem er
sich c-on inttuito risxstto des Rathes uirMssiiuo e ckevotissinio ssrvo nannte,
und versprach, wegen des ausgestandenen Gefängnisses niemals Rache üben zu
wollen. Mit seinen Gläubigern, die schon auf dem Rathhause warteten, gelang
es ihm leicht, sich auseinanderzusetzen, da diese auf nachdrückliche Ermah¬
nungen von Seiten des Rathes ihre Forderungen um ein Beträchtliches er¬
mäßigt hatten. Die Prokuratoren der Firma Mainone, deren Chef kurz zuvor
gestorben war, erhielten einen Wechsel auf 194 Gulden nach 4 Monaten zahlbar.
Birzle wurde sofort befriedigt.
Damit sollte man meinen, wäre die Angelegenheit zu einem allerseits zu¬
friedenstellender Abschlüsse gediehen. Dem war jedoch nicht so. Während
Callabrici auf einen Wagen wartete, der ihn in seine Herberge bringen sollte,
und dabei in bester Laune mit Guttmann und den Bürgermeistern über gleich-
giltige Dinge plauderte, erschien der mehrfach genannte Leutnant v. Kalm
auf dem Rathhause und theilte mit, daß er sogleich am 2. März an den
König von Preußen Bericht erstattet habe und dessen Befehle in kürzester
Frist erwarte. Nachdem die Beiden sich darauf noch einige Minuten unter¬
redet hatten, trat Callabria plötzlich wie umgewandelt auf. Er erklärte, er
betrachte sich uoch immer als in Haft befindlich und werde sich nicht eher ent¬
fernen, als bis der Rath Abbitte geleistet und ihn wegen seines Zeitverlustes
entschädigt habe.
Das Staunen der Bürgermeister sowohl wie des preußischen Agenten ob
dieser Sinneswandelung war nicht gering. Der Rath hatte sich ja offenbar
schou viel zu viel vergeben, indem er die einfache Loslassung des Tumultuanten
verfügte. Und jetzt bezeigte er sich nicht einmal dankbar dasür, sondern stellte
noch solche Forderungen! Aber alle Bitten und Vorstellungen blieben frucht¬
los, Callabria beharrte bei seinen Worten. Zwar bequemte er sich endlich, zurück
in sein Quartier zu gehen, aber zum Zeichen, daß er sich immer noch als Ge¬
fangenen ansehe, ließ er seinen Stock und Degen auf dem Rathhause zurück
und blieb wirklich kaltblütig und unbekümmert, als ginge ihn die Sache gar
nichts an, in der Schäfflerherberge sitzen, anstatt eilends nach Potsdam ab¬
zureisen.
Natürlich dachte Niemand daran, dem frechen Verlangen zu willfahren.
Im Gegentheil, in der ersten neuen Aufregung war sogar die Rede davon,
den übermüthigen Patron wieder einzusperren und in aller Form Rechtens
gegen ihn zu prozediren. Bald gewann jedoch die angestammte Klugheit
wieder die Oberhand. Man hatte an den König einen längeren Bericht ver¬
faßt, der, als die neue Wendung eintrat, noch nicht abgeschickt war. Man
fügte nun zunächst ein Postskriptum bei, worin das letzte Ereigniß gemeldet
und zugleich hervorgehoben wurde, daß der Rath für alle weitere Verzögerung
der königlichen Geschäfte keine Verantwortung übernehme, indem Monsieur
Callabria ganz aus eignem freien Willen in der Stadt bleibe. Dann aber
suchte man durch Guttmann auf den starrköpfigen Italiener einzuwirken und
ihn wo möglich zur Vernunft zu bringen.
Tagelang zeigte sich Callabria völlig unzugänglich. Plötzlich schickte er
auf's Rathhaus, ließ seinen Stock und Degen und seine sonstigen Effekten
holen und erklärte sich bereit, abzureisen. Was diese plötzliche Sinnesänderung
bewirkt haben mochte, wissen wir nicht. In den Akten und Rathsprotokollen
wird nur das einfache Faktum erwähnt. Fast möchte man vermuthen, daß
Callabria doch noch, wenn auch nicht in offizieller Weise, eine kleine Entschä¬
digung erhielt. Vielleicht bezahlte man seine Rechnung bei dem Schäfflerwirth
ganz oder theilweise; vielleicht kam er aber auch ohne solche Beihilfe zu
besserer Erkenntniß, nachdem er sich überzeugt hatte, daß vom Rathe nichts
weiter zu erreichen sei. Kurz, er reiste am 10. März vergnügt mit seiner Ge¬
sellschaft von dannen.
Etwa acht Tage später empfing Guttmann ein Schreiben von Potsdam.
Es war die Antwort auf die erste Nachricht, die er noch am zweiten März
über den Vorfall abgeschickt hatte. Seine Majestät äußerte sich sehr ungehalten
darüber, daß man seinen Diener wegen eines so geringfügigen Vergehens ein¬
gesperrt habe, und forderte den Agenten auf, bei dem Rathe auf sofortiger
Freilassung des Gefangenen zu bestehen. Guttmann gab dem Rathe einfach
Kunde von dem Schreiben — die Sache selbst war ja bereits erledigt. Einige
Tage darauf langte ein zweiter Brief des Königs an (datirt vom 16. März),
diesmal an den hochlöblichen Magistrat der des heiligen römischen Reichs Stadt
Augsburg, worin derselbe seine Zufriedenheit über die Schnelligkeit aus¬
sprach > mit welcher der Rath seinem Verlangen, noch ehe es ihm mitgetheilt
worden, entsprochen habe. Callabria, heißt es, dürfte allerdings etwas übereilt
und in nicht ganz zu billigender Weise gehandelt haben; um so lobenswerther
sei daher die prompte Rücksicht der Behörden auf die königlichen Geschäfte.
Schließlich versicherte der König den Rath und die gute Stadt Augsburg seiner
fortdauernden allerhöchsten Huld und Gnade.
Der Rath dankte in einem allerunterthänigster Schreiben für diese gnädige
Gesinnung und wagte zugleich im Hinblick auf Seiner Majestät weltbekannte
und allervollkommenste Großmuth, Clemenz und Neigung zur Gerechtigkeit den
König so ehrfurchtsvoll wie demüthiglichst anzuflehen, daß er Monsieur Calla-
bria seine gerechte Bestrafung zu Theil werden lasse, auch dem Herrn
Leutnant v. Kalm wegen seines aufwieglerischen Benehmens einen Verweis zu
geben geruhen möge. Eine Antwort auf diese Bitte erfolgte nicht, und der Rath
war klug genug, von jeder weiteren Verfolgung der Angelegenheit abzustehen.
Unter den mannichfachen Aeußerungen der raschen und erfreulichen Ge¬
schmackswandlung, die sich im Laufe der letzten zehn Jahre im Buchgewerbe
und allen damit zusammenhängenden „graphischen Künsten" vollzogen hat, nimmt
nicht die letzte Stelle die merkwürdige Rangverschiebung ein, die innerhalb der
reproduzirenden Techniken stattgefunden hat. Wir sehen ab vom Holzschnitt.
Dieser ist seit den vierziger Jahren in ununterbrochenem Aufschwünge begriffen
und gegenwärtig auf einem Punkte angelangt, wo man ihm eigentlich ein Halt
zurufen müßte. „Ich möchte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen
könnte" — hielt Lessing einmal einer Schauspielerin vor. Was dort die
Künstlerin sich sagen lassen mußte, das sollte die Kunst recht oft sich selber
sagen; auch sie sollte nichts machen, was ihrer Natur und ihrem Wesen zu¬
widerläuft, und wenn sie es noch so „vortrefflich machen" könnte. Abgesehen
vom Holzschnitt also, der, wie gesagt, eine stetige Erweiterung und Steigerung
seiner Aufgaben erfahren hat, herrschte, seitdem der Stich durch die Lithographie,
die Lithographie wieder durch die Photographie abgelöst worden war, in
den sechziger und noch zu Anfang der siebziger Jahre, in der „Gründer-
Periode", die Photographie unbestritten. Es war die schöne Zeit, an welche
namentlich die Firma Bruckmann in München mit Wonne — oder auch vielleicht
mit Wehmuth, wer weiß? — zurückdenken wird. Kaulbach's Goethe-Galerie
schwamm damals obenauf, daneben die Schiller-Galerie „von Kaulbach und A.",
wie es verlockender Weife auf dem Titel hieß — unter 21 Blatt war ein
einziges Kaulbach'sches, aber ohne Kaulbach ging's damals eben nicht —; kurz,
vom größten Faksimile-Folio bis herab zum Kabinet- und Visitenkartenformat,
wohin man blickte, Kaulbach und immer wieder Kaulbach. Und es blieb nicht
bei den Photographieen. Auf Albums und Notizbüchern, Rückenkissen und
Briefbeschwerern, Tassen und Zigarrenspitzen spukte aller Orten „Lili im Park"
das Geflügel fütternd und „Hermann und Dorothea" auf ihrem Gange durch'S
Aehrenfeld, genau so wie heute — Siegfried und die Walküren.
Es hat etwas ungemein tröstliches, mit Welt und Menschheit versöhnendes,
wenn man sieht, binnen wie kurzer Zeit künstlerische Modethorheiten abWirth¬
schaften. Ich habe früher immer, wo mir Geschmacksverirrungen begegneten,
mit allen Waffen der Grobheit und der Satire sie bekämpfen zu müssen geglaubt.
Heute denke ich: Wozu mich ereifern? und bin um so milder und friedfertiger
gestimmt worden, je öfter mich die Erfahrung gelehrt hat, daß alle Modekrank¬
heiten des Kunstgeschmackes in kurzer Zeit von selber ausheilen, die gesunde
Natur sich immer wieder Bahn bricht, und also auch in solchem Sinne das
Horazische Wort gilt: NÄturÄin 6xzzs11g.s kurog,, tainEn us^is rsourret. Daß
einzelne gute, ehrliche Leute sich z. B. allen Ernstes gegen den Nibelungen-
Humbug ereifert haben, ist es nicht eine Thorheit? Was haben sie damit
erreicht? Ein paar musikalischen Zeitschriften, die blos von der Reklame für
Lißt und Wagner leben und vor lauter Wiederkäuen permanent dem geistigen
Verhungern nahe sind, neue Nahrung zugeführt. Das ist alles. Mau muß
dergleichen Hohlheiten sich ruhig blähen und breitmachen lassen. Ist ihre Zeit
um, so klappen sie genau so lächerlich zusammen, wie Siegfried's Blasebalg.
Was eine ernsthafte Kritik nur aufgehalten hat, beschleunigt jetzt der Zirkus
Nerz mit seinen „Nibelungen" in der ergötzlichsten Weise.
Aber ich wollte ja von neuen Lichtdruckwerken berichten und gerathe statt
dessen auf die virtuoseuhaften Ausschreitungen des heutigen Holzschnittes, auf
die verflossene Kaulbach- und die verfließende Wagnerschwürmerei.
Die Herrschaft der Photographie im Buchgewerbe behauptete sich bis in
die Mitte der siebziger Jahre. 1871 erschien bei Grote in Berlin die Pracht¬
ausgabe von „Hermann und Dorothea" mit Photographieen nach den Ram-
berg'schen Oelgemälden, in demselben Jahre bei Bruckmann die bekannte Porträt¬
sammlung „Galerie deutscher Tondichter", der 1872 und 1873 die beiden
ähnlichen Sammlungen „Galerie deutscher Dichter" und „Galerie französischer
und italienischer Tondichter" folgten — meist nach Oelbildern von C. Jäger.
1872 gab der Bruckmann'sche Verlag das Prachtwerk „Rhododendron" mit
Photographieen nach Oelgemälden von H. Cloß und O. Frölicher heraus, das
neben Stieler's „Aus deutscheu Bergen" die lange Reihe geographischer, ethno¬
graphischer und kulturgeschichtlicher Prachtwerke eröffnete, die seitdem gefolgt
sind. Gleichzeitig wurden auch Skizzen und Handzeichnungen mehrfach durch
Photographie vervielfältigt. Allen ist noch der durchschlagende Erfolg in der
Erinnerung, den 1871 Hendschel mit seinem „Skizzenbuche" errang; ihm schlössen
sich 1872 unter dem Titel „Aus großer Zeit" eine Anzahl Genrebilder ans den
Kriegsjahren 1870—71 an, in?es Federzeichnungen von A. Zick (Berlin, Grote)
— beiläufig ein herzlich unbedeutendes Opus, von dem man heute kaum noch
begreift, wie es seiner Zeit als Prachtwerk hat figuriren können —, 1873 kam
dann noch eine zweite, etwas schwächere Serie von Hendschel's Skizzenbuch,
und gleichzeitig brachte auch O. Pietsch, der sich bis dahin immer mit dem
Holzschnitt zur Veröffentlichung seiner Sächelchen begnügt hatte, das neue Bilder¬
buch, auf das man sich damals noch regelmäßig jedes Jahr von ihm gefaßt machen
konnte, zur Abwechselung einmal in photographischer Vervielfältigung. Damit
war aber die photographische Herrlichkeit so ziemlich zu Eude, Als 1875
Bruckmann ein Prachtwerk über Venedig von Gsell-Fels noch immer mit
Photographieen ausstattete, wo bereits die herrlichen Holzschnittwerke des
Kröner'schen und Engelhorn'schen Verlags, „Rheinfahrt", „Schweizerland",
„Italia" zum Vergleiche daneben lagen, und gleichzeitig eine große Luxusausgabe
des „Faust" mit Photographieen uach Kreling'schen Kartons brachte, wollte
einem das schon nicht mehr recht behagen, und die Prachtausgabe von „Romeo
und Julia" mit Bildern von Piloty, die 1876 aus dem Grote'schen Verlage,
und vollends die von Kleist's „Zerbrochnem Krug" mit Menzel'schen Illustrationen,
welche noch das Jahr darauf aus dem Verlag von Hofmann K Co. in Berlin
hervorging, erschienen einem bereits als komplette Anachronismen. Photogra¬
phieen mitten in einem gedruckten Buche, abwechselnd mit Holzschnitt-Illustrationen
und xylographischen Druckverzierungen! — man mochte derartiges schlechterdings
nicht mehr sehen. Der unschöne Mißbrauch, Photographieen in Bücher zu besten,
an welchem in den sechziger Jahren kein Mensch Anstoß genommen hatte, er
wurde mit einem Male als solcher empfunden. Mail begriff wieder, daß in ein
Buch, mitten zwischen die bedruckten Blätter hinein, wohl der Holzschnitt, die
Lithographie, der Kupferstich, die Radirung als lauter der Typographie ver¬
wandte Techniken, aber nimmermehr ein so fremdartiger, gleißender Eindringling
wie die Photographie gehöre. Photographieen in ein Buch einzuheften galt
fortan, und mit Recht, als ausgemachte Geschmacklosigkeit.
Diese Schwenkung des Geschmackes hatten namentlich die zahlreichen Pracht¬
werke herbeigeführt, die sich auf Holzschnitt-Illustration beschränkten und doch
damit Vorzügliches leisteten, daneben wohl auch diejenigen, die zum Stahlstich
gegriffen hatten, wie die bekannten Brockhaus'schen „Galerieen", und .einige
Prachtwerke mit Radirungen, die in den letzten Jahren vereinzelt sich hervor¬
gewagt und auch in weiteren Kreisen wieder Frende und Verständniß für eine
beinahe verschollene und doch durch nichts zu ersetzende Technik geweckt hatten
~^ ich denke dabei namentlich an Werke wie B. Mannfeld's „Durch's deutsche
Land" (Berlin, A. Duncker) und Lorenz Ritter's „Malerische Ansichten von
Nürnberg" (Berlin, Wasmuth) - - endlich aber, und nicht zum geringsten Theile,
die rasch zu großartiger Vollendung entwickelte Technik des photographischen
Pressendruckes, vom Publikum sofort mit einer dreisten, aber glücklichen Wort¬
bildung als „Lichtdruck" bezeichnet, und der dadurch ermöglichte Vergleich des
Lichtdruckes mit der Photographie, der in jeder Beziehung zu Gunsten des
ersteren ausfiel.
Der Lichtdruck theilt ja alle Vorzüge der Photographie. Mit minutiöser
Treue gibt er jedes Pünktchen und Strichelchen der Vorlage wieder und schafft
ein geradezu täuschendes Faksimile. Aber während es unsres Wissens bis jetzt
noch nicht gelungen ist, die photographische Kopie gegen die Einflüsse, welche
im Laufe der Zeit das Sonnenlicht darauf ausübt, absolut zu sichern, ist der
Lichtdruck von unveränderlicher Dauer, läßt sich leichter, schneller, bequemer und
folglich wohlfeiler herstellen, das Bild braucht nicht auf einen Untersatzkarton
aufgezogen zu werden, sondern es wird direkt auf den Karton oder das Papier
gedruckt, anstatt des lilabraunen Tones der Photographie kann der Lichtdruck
wie jeder Kupferstich vollständig schwarz hergestellt werden, und endlich, was
höchst wichtig ist, er vermeidet den porzellanartigen Glanz der Photographie
und eignet sich durch seinen weichen, sammetartigen Ton vortrefflich zur Ver¬
bindung mit dem Buchdruck und daher zur Buch-Illustration. Geradezu komisch
ist es, daß einzelne dieser Vorzüge, und gerade die wesentlichsten, anfangs gar
nicht als solche erkannt wurden. Mit den ersten Lichtbrücken glaubte man
möglichst getreu die Photographie nachahmen zu müssen; man spannte sie extra
auf und suchte ihnen künstlich den unangenehmen Glanz zu geben, den sie an
sich gar nicht haben. Man hatte eben so lange unter der blendenden Tyrannei
der Photographie gestanden, daß man die schwachen Seiten derselben schließlich
gar für wesentliche und nicht auszugebende Schönheiten hielt.
Nun ist zwischen Lichtdruck und Lichtdruck freilich auch noch ein Unterschied.
Vorläufig bekommt das Publikum vielfach noch recht unvollkommene Leistungen
desselben zu sehen, matte, verschwommene Bilder, die bei jeder andern Beleuch¬
tung, nur nicht bei Tageslicht aufgenommen zu sein scheinen. Die Aufnahmen
mögen aber ganz gut sein, der Druck taugt nichts. So mancher Photograph
arbeitet jetzt, um gewisse industrielle Aufträge ausführen zu können, nebenbei
auch mit der photographischen Presse, der die Technik nicht entfernt beherrscht,
und .so hat das Publikum im allgemeinen noch keine genügende Vorstellung
von der wirklichen Leistungsfähigkeit des Lichtdruckes. Gute Photographieen
hat heutzutage jeder gesehen, gute Lichtdrucke vielleicht die allerwenigsten. Wirk¬
lich hervorragende Leistungen werden im Lichtdrucke noch immer nur von einer
kleinen Anzahl von Anstalten in Deutschland geliefert, die man an den Fingern
herzählen kann. Glücklicherweise sind größere buchhändlerische Unternehmungen,
wie wir sie hier namentlich im Auge haben, sast immer den rechten Händen
anvertraut worden-
Ein Sammlung wie Hendschel's „Skizzenbuch" würde heute unzweifelhaft
durch den Lichtdruck veröffentlicht werden. Gerade zur Herausgabe von Skizzen
und Handzeichnungen ist gar kein geeigneteres Verfahren denkbar. Die aller¬
wenigsten Zeichnungen sind ja heutzutage für den Holzschnitt gedacht. Geleistet
wird freilich vom Xylographen schließlich alles, was ihm zugemuthet wird, aber
daß dabei von dem Reiz des Originales viel, fehr viel verloren geht, ist eben
so sicher. Künstler, die sich nicht entschließen können, der Natur des Holz¬
schnittes sich anzubequemen und in dieser Beschränkung ihre Meisterschaft zu
zeigen, dürfen sich dann eben nicht beschweren, wenn ihre genialen Skizzen bei
der Ausführung durch den Holzschnitt zu kurz kommen. Man könnte sie ein
für alle Mal auf den Lichtdruck verweisen, wenn — ja, wenn nur nicht pekuniäre
Rücksichten ansprachen, und wenn die Herstellung durch den Lichtdruck für den
Kalkül des Verlegers nicht ihre bestimmten Grenzen hätte, jenseits deren eben
verständiger Weise der Holzschnitt die Ausgabe der Vervielfältigung übernehmen
muß. Die Sache verhält sich einfach fo, daß bei kleineren Auflagen der Licht¬
druck verhältnißmäßig billiger, bei größeren verhültnißmäßig theurer zu stehen
kommt, als der Holzschnitt.
Zur Herausgabe von Handzeichnungen ist denn auch der ^Lichtdruck neuer¬
dings mehrfach verwendet worden. Ich erinnere nur an die Salonmappen, die
in den letzten drei Jahren regelmäßig die Weihnachtszeit gebracht hat: „Wander¬
mappe", „Jahrmarkt des Lebens" und „Künstlerheim" (sämmtlich bei Ackermann
in München). Wenn unsere Künstler gründlich eitel our.den, daß sie ihre manch¬
mal doch recht wohlfeilen Erfindungen, Bildchen, die, bescheiden in Holz ge¬
schnitten, in einem illustrirten Familienjournale am Platze waren, hier mit so
peinlicher Genauigkeit und in so glänzendem Gewände veröffentlicht fehen, ein
Wunder wäre es wahrlich nicht.
Eine höhere Aufgabe, die würdigste, die dem Lichtdruck bis jetzt gestellt worden
ist und ihm wohl überhaupt gestellt werden kann, besteht natürlich in der Repro¬
duktion von hervorragenden Handzeichnungen, Stichen, Radirungen und Form¬
schnitten alter Meister. Die Kunstwissenschaft und daneben namentlich auch unser
aus langem, tiefem Schlafe wieder erwachtes Kunstgewerbe hat in dieser Richtung
im Laufe weniger Jahre von der neuen Technik schon reichen Gewinn gezogen. Man
denke an die trefflichen Reproduktionen des vollständigen Kupferstichwerkes von
Dürer und der Silberstiftzeichnungen des älteren Holbein, die wir beide dem
Soltau'schen Verlag in Nürnberg verdanken (die ersteren aus der Osfizin von Ober¬
netter in München, die letzteren aus der von Frisch in Berlin), an das Pracht-
volle Wessely'sche Ornainentenwerk, an Butsch's Bücherornamentik und manches
ähnliche. Aber anch den Kreisen der Sammler und Kunstfreunde hat der
Lichtdruck bereits kostbare Gaben gespendet. Wir meinen vor allem die in den
letzten Jahren aus dem Reff'schen Verlage in Stuttgart hervorgegangenen
Sammlungen: „Die Klassiker der Malerei" und „Die Kunst für Alle".
Die erstere von beiden besteht bekanntlich aus zwei Serien, einer, welche die
italienische Renaissance, und einer zweiten, welche die Spanier und Niederländer
umfaßt. Beide Abtheilungen liegen seit kurzem abgeschlossen vor, die Italiener
in einer Auswahl von 68, die Spanier und Niederländer zusammen in 66 Blatt,
sämmtlich reproduzirt uach den vorzüglichsten vorhandenen Kupferstichen und
begleitet von erläuternden Textheften, in deren Abfassung sich der Professor der
Kunstgeschichte in München P. F. Kreil und der Kasseler Galeriedirektor
O. Eisenmann getheilt hatten. In der „Kunst für Alle" wird eine Kollektion
der bedeutendsten Malerstiche, Radirungen und Formschnitte vom 15. bis zum
18. Jahrhundert geboten, bei deren Auswahl zugleich auf die Kulturgeschichte
Rücksicht genommen worden ist, dergestalt, daß das komplette Werk, welches
aus 100 Tafeln bestehen soll, nicht nur einen Atlas zur Geschichte des Kupfer¬
stiches und Holzschnittes, sondern zugleich einen von 1460 bis 1740 reichenden
kulturgeschichtlichen Bildercyelus bilden wird. Diese zweite Publikation ist
gegenwärtig etwa bis zur Hälfte vorgeschritten und wird hoffentlich durch den
Tod des trefflichen Kunstforschers, aus dessen sachkundiger und gewissenhafter
Feder bisher der Text hervorgegangen ist, des Inspektors an der königlichen
Kupferstichsammlung in Stuttgart C. Weißer, keine Unterbrechung erleiden.
Beide Sammlungen sind in der hervorragenden Lichtdruckoffizin von Martin
Rommel in Stuttgart hergestellt und zeigen eine erstaunliche Vollendung der
Ausführung. Daß der Lichtdruck in der nächsten Zeit noch wesentlich Vollkom¬
meneres leisten sollte, als Rommel hier geleistet hat, ist schwerlich anzunehmen.
Neuerdings ist nun der Neffsche Verlag mit zwei weiteren Unternehmungen
hervorgetreten, die sich eng an die eben genannten anschließen: „Die fran-
zösisch'en Maler des achtzehnten Jahrhunderts" und „Goldene
Bibel". Die erste dieser beiden Sammlungen ist bestimmt, die nothwendige
und beinahe selbstverständliche Ergänzung zu den beiden Serien der „Klassiker
der Malerei" zu bilden, wird in 60 Tafeln die Meisterwerke aus der Glanzzeit
der französischen Malerei und zwar zugleich in Meisterwerken des gleichzeitigen
Grabstichels vorführen und von einem erläuternden Texte von A. v. Wurzbach,
gegenwärtig einem der besten Kenner auf diesem Gebiete, begleitet sein. Eine
höchst glückliche Idee liegt dem zweiten Werke, der „Goldenen Bibel", zu Grunde.
Der Gedanke ist zwar nicht völlig neu. Schon Anfang der sechziger Jahre gab
das Bibliographische Institut in Hildburghausen eine Bibel mit 50 Stahlstichen
heraus, bei der ein ähnlicher Plan vorschwebte, wie bei dem vorliegenden Werke.
Die Ausführung aber war eine höchst mäßige. Wirklich bedeutende Blätter
waren nur wenige darunter, zur Ergänzung waren eine Anzahl recht gleichgil-
tiger Landschaftsbilder aä too angefertigt worden, als Stiche waren die Blätter
nur von geringem Werth, und endlich mußte man den vollständigen Bibeltext
in einem Folioformat, wie es allenfalls für den Altar, aber nicht für das
Haus geeignet ist, mit in Kauf nehmen. Die „Goldene Bibel" dagegen wird
auf 100 Tafeln — 50 für das alte und 50 für das neue Testament — die
berühmtesten Darstellungen biblischer Szenen, welche die großen Meister aller
Kunstepochen geschaffen haben, vereinigen. Was den Text betrifft, so wird sie
sich darauf beschränken, zu jeder Tafel auf einem besondern, typographisch ge¬
schmackvoll ausgeführten Textblatte die zugehörige Bibelstelle — in der katholischen
Ausgabe nach Allioli, in der evangelischen nach Luther — beizugeben. Für
den Lichtdruck werden, wie bei deu früheren Sammlungen, nur die vollendetsten
Kupferstiche, in denen die betreffenden Gemälde jemals reproduzirt worden
sind, benutzt werden. Die Auswahl ist auch hier in Wurzbach's kundige Hand
gelegt worden. Die Herstellung beider Werke durch den Lichtdruck ist selbst¬
verständlich wieder Rommel übertragen.
Wir verzichten darauf, hier eine lange Reihe Namen von Malern und
Kupferstechern und Unterschriften von Bildern aufzuzählen und in hochtönenden
Worten die Freude und den Genuß zu schildern, den wir bei dem Studium der
ersten Lieferungen dieser beiden neuen Prachtwerke des Reff'schen Verlags ge¬
habt haben, vor allem das Entzücken über die Fülle von Geist und Laune,
Noblesse und Grazie, die, gepaart mit einer stupenden Technik, in den franzö¬
sischen Kupferstichen uus entgegentritt. Wer von unseren Lesern je ein Heft
von den „Klassikern der Malerei" oder der „Kunst sür Alle" in der Hand gehabt,
für den bedürfen die beiden neuen Unternehmungen der thätigen und kunst¬
sinnigen Stuttgarter Verlagshandlung keine Silbe der Empfehlung weiter.
Allen anderen aber mögen diese wie die früheren Reff'sehen Lichtdruckwerke auf's
wärmste empfohlen sein^ Es ist ein künstlerisches Anschauungsmaterial darin
vereinigt, welches das Schönste und Beste umfaßt, was die zeichnenden Künste
aller Zeiten hervorgebracht haben, und dies in einer Wiedergabe, welche dem
Kunstfreund, der nicht um der Rarität willen, sondern aus reinem künstlerischen
Interesse die Werke der alten Meister sich erwerben will, sür die seltenen und
meist unerschwinglich theueren Orginale vollständigen Ersatz leistet. Im „Salon"
eines gebildeten und wohlhabenden Hauses könnten wir uns aus dem Tische
kein gediegeneres und kostbareres Bilderwerk denken, keines, das bleibenderen
Werth Hütte, als die eine oder andre der Rommel'schen Lichtdruck-Serien.
-
Als nach den Siegen von 1866 die nationalliberale Partei sich gebildet
hatte, wesentlich aus ausscheidenden Mitgliedern der Fortschrittspartei, wie diese
zur Konfliktszeit war, da wurde dem Abgeordneten Laster ein überwiegender
Antheil an der neuen Parteibildung zugeschrieben. Derselbe bezahlte diesen
Schritt mit dem Verlust seiner Berliner Wählerschaft. Auf den Reichstagen
des Norddeutschen Bundes, die nunmehr in's Leben traten, gewann der Abge¬
ordnete Laster bald eine hervorragende parlamentarische Rolle; er nahm sie
wesentlich im Sinne eines gestaltenden Wirkens seiner Partei auf den von
dem nunmehrigen Bundeskanzler geschaffenen Grundlagen auf. Damals brachte
der Kladderadatsch ein Bild mit der Unterschrift: „Er muß eine Stütze
haben." Dasselbe zeigte den Bundeskanzler hoch aufgerichtet, die Arme mit
starker Verlängerung über das natürliche Maß an der großen Gestalt her¬
unterhängend, aber doch nicht lang genug, das Haupt des darunterstehenden
Laster zu erreichen, auf welches die Rechte sich zu stützen suchte. So bemäch¬
tigte sich der Humor der damaligen „Stütze" des Kanzlers. Sonderbar: der
Mann, der als Stütze viel zu klein erschien, scheint nicht zu klein zum unbe¬
quemen Gegner. Der Wirkung dieser Gegnerschaft hat der Kanzler wiederholt
sein eigenes Zeugniß ausgestellt. Das Sonderbare dieser Thatsache kann man
sich nicht durch den Kinderspruch erklären: „Wer dir als Freund nicht nützen
kann, der kann als Feind dir schaden."
Ist Laster des Kanzlers Feind? Er war es nicht; ist er es geworden?
Mit Willen gewiß nicht, und wenn er es wirklich ist, so ist er es wahrscheinlich
mit Bedauern. Aber die unbefangene Beobachtung der Vorgänge seit 1869
zeigt, daß der Abgeordnete Laster dem Kanzler die zahlreichsten Hemmungen
bereitet hat, und Hemmungen sind schlimmer, nicht nur für die Empfindung,
sondern vor allem der Wirkung nach, wenn sie von befreundeter Seite kommen.
Als Freund des Kanzlers aber der Form und gewiß auch der Gesinnung
nach hat unser Abgeordneter dem Kanzler Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten
geschaffen. Wir glauben genau die Wahrheit zu treffen, wenn wir aussagen:
der wesentliche Urheber der bedauerlichen und befremdlichen Erscheinung, daß
die nationalliberale Partei niemals das richtige Verhältniß zum Reichskanzler
gefunden hat, ist der Abgeordnete Laster. Und doch hat der Reichskanzler den
edlen Willen des Abgeordneten für die Sache des nationalen Staates wieder¬
holt anerkannt, freilich nicht ohne Ironie, aber nicht so, daß die Ironie gegen
die Gesinnung, sondern so, daß sie gegen die Weise der Bethätigung gerichtet
war. „Er dient Euch auf besondere Weise", würde Mephistopheles sagen.
Wie ist es möglich, daß bei einer so edlen Gesinnung, bei einer geistigen
Begabung, deren bedeutende Eigenschaften Niemand bestreiten wird, bei einem
dem Werke des Kanzlers im wesentlichen zugewandten Streben, ein so wider¬
sprechendes Resultat herauskommt? Auf diese Frage ist wohl gerade jetzt der
Augenblick, etwas einzugehen.
Nach den Überraschungen, welche das Jahr 1866 der ganzen Welt be¬
reitet, konnte die nationalliberale Partei nicht wohl mehr im Zweifel sein
— und die Wegwerfung dieses Zweifels war in der That der Grund, weshalb
die Partei sich bildete —, daß der Minister, welcher diese unglaublichen Erfolge
mit beispiellosem Wagen und einer kaum dem Nachverstündniß erreichbaren
Umsicht geschaffen, nicht der Fortsetzer der Politik werden konnte, die einst nach
Olmütz geführt hatte, sondern daß er, der der Schöpfer der allerdings noch nicht
vollendeten deutschen Einheit geworden, diesem mit so heroischer Kraft begon¬
nenen Werke nicht untreu werden konnte. Wenn sie sich zu dieser Einsicht
erhob, zu der nichts weiter gehörte als die sittliche Freiheit, sich von dem Aerger
der Vergangenheit gegen die gewaltige Sprache der Thatsachen nicht verblenden
zu lassen, dann mußte sie sich sagen, daß dieses Werk weder fortgeführt noch
erhalten werden könne ohne den lebendigsten Bund mit dem Geiste der Nation.
Man sagte sich dies und erklärte deshalb den Kanzler, wie für den Führer
des nationalen Werkes, so für das Haupt der nationalen Partei. Aber hat
man wirklich diese Stellung eingenommen, ist der Kanzler wirklich behandelt
worden, wozu man ihn mehr als einmal ausgerufen, als das Haupt der Partei?
Eine seltsame Verkennung des Verhältnisses zwischen Führer und Partei¬
gefolge macht sich in Deutschland geltend. Man saßt das Verhältniß demo¬
kratisch, die Partei als das souveräne Volk, den Führer als den Vollstrecker
der Plebiszite, aber dies läuft gegen die Natur der Dinge. Es heißt zwar:
wer herrschen will, muß dienen; aber das Dienen bezieht sich auf den Zweck,
auf die Sache; wer diese am klarsten erkennt und ihr zu dienen am geschick¬
testen ist, der herrscht über Alle, welche denselben Zweck wollen. Aber zu dieser
Erkenntniß erhebt sich das deutsche Parteibewußtsein nicht. Theils demokra¬
tische Irrthümer, theils der bekannte Eigensinn der deutschen Individualität
stehen im Wege. Nachdem man sich zu der Erkenntniß bequemt hatte, daß
Bismarck nicht der einseitige Junker war, wofür man ihn genommen, hielt man
es für naturgemäß, daß er das Programm des deutschen Liberalismus, des
gemäßigten Liberalismus, wollen wir hinzusetzen, Punkt sür Punkt ausführen
müsse. Ueber die Reinheit des Programms, über die Ausgestaltung desselben
— dies hielt man sür nicht minder selbstverständlich — müsse die Partei ent¬
scheiden. Nach und nach lernte man diesen seltsamen Anspruch freilich etwas
einschränken, aber niemals hat man ihm entsagt. Festgehalten hat man stets
in ganzer Strenge den Anspruch, daß der Staatsmann, wenn er mehr als ein
äußerliches, jederzeit lösbares Bünoniß mit der Partei wolle, über jede wich¬
tige Maßregel im voraus sich mit derselben verständigen müsse. Unter der
Partei wurde dabei jederzeit aus gut demokratisch die Gesammtheit der Mit¬
glieder verstanden. Es hätte auch, streng genommen, keinen rechten Sinn
gehabt, die geforderte Verständigung auf wenige Vertrauensmänner zu be¬
schränken. Wenn man sich überhaupt zu der Erkenntniß erheben konnte, daß
nicht Hunderte von Personen in das Geheimniß politischer Mtiouspläne zu
ziehen sind, so wäre das Richtigste gewesen, den Vertrauensmann, in dessen
Führung man sich resigniren durfte, in dem Fürsten anzunehmen.
Was hätte man dabei gewagt? Ein Chor von Stimmen wird die Ant¬
wort rufen: „in den Abgrund der Reaktion geführt zu werden". Seltsame,
unbegreifliche Verblendung! Man hatte nicht den moralischen Schwung, so viel
Vertrauen aufzubringen in den Mann, der eben durch ein Wunder des Geistes
und der Kraft, wie es die Vorsehung den zu ihren Werken erkornen gelingen
läßt, seinen historischen Beruf bewiesen hatte. Man konnte sich nicht von der
Furcht losringen, dieser Mann verstehe seine Zeit so wenig, um ein bis zur
Vollendung des unternommenen Werkes gegebenes Vertrauen, sagen wir immer¬
hin: ein blindes Vertrauen zu mißbrauchen zu dem aberwitzigen Versuche, irgend
einen phantastischen Wahn von überlebten und eingebildeten Dingen in die
Wirklichkeit einzuführen.
Man konnte sich nicht losreißen von dieser Furcht, und weil man sah,
daß der Staatsmann weder die Parole annahm, welche ihm die Partei zu
geben versuchte, und weil man noch weniger sich die Mühe gab, aus einer
unbefangenen Würdigung der thatsächlichen Lage die Handlungsweise des
Ministers zu verstehen, so gelangte man zu einer neuen Auffassung des Ver¬
hältnisses. Man sagte sich: „dieser Bundeskanzler ist nicht der Unsere, er ist
nach seiner Neigung konservativ, im Herzen vielleicht der ehemalige Junker;
aber er braucht uns sür seinen Plan, die preußisch-deutsche Einheit zu errichten;
nutzen wir die Gunst dieser Lage, ihm sür unsere Ziele abzuzwingen, was nur
irgend möglich ist." Es ist klar, daß aus einer Bundesgenossenschaft, die mit
solchen Gedanken geschlossen wird, eines schönen Tages die offene Feindschaft
hervorkommen muß. Man dürfte verwundert sein, daß es nicht schon längst
zu solcher Feindschaft gekommen, wenn man sich nicht vergegenwärtigte, daß
die nationalliberale Partei von dem nationalen Zwecke nur zugleich mit ihrem
Leben lassen kann, und daß es für den nationalen Zweck keine Erfolge, keinen
Fortschritt, keine Sicherung gibt, als unter der Führung Bismarck's. Sowie
man sich diese Lage vergegenwärtigt, muß man sich freilich destomehr wundern,
daß dieselbe der nationalen Partei noch bis heute nicht zum klaren Bewußtsein
gekommen ist. Und hier ist es, wo wir anzeigen müssen, daß mindestens ein
sehr großer Theil der Schuld, diese Erkenntniß verhindert — es wäre gut,
wenn wir sagen dürften, verspätet — zu haben, der Wirksamkeit des Abge¬
ordneten Laster zufällt. In dem Geiste dieses begabten Mannes vereinigen
sich zwei Elemente, die sich zu einer trefflichen Anlage ergänzen könnten, wenn
sie sich wirklich verbunden hätten, anstatt sich nur abzulösen; nämlich ein über¬
eilter und heftiger Doktrinarismus mit einer nicht wegzuleugnenden Bildsamkeit
und aufrichtigem Wahrheitsbedürsniß. Man kann von Laster nicht sagen, daß
sein Doktrinarismus, wie er ungeberdig und voreilig ist, ebenso eigensinnig
und unzugänglich sei. Vielmehr hat dieser Abgeordnete ehrenvolle Proben einer
erweiterungsfähigen Einsicht und einer sicher erfassender Belehrbarkeit gegeben.
Seine Uneigennützigkeit hat ohnedies Niemand bezweifelt. Aber wieviel er
auch unbestreitbar gelernt hat in seiner politischen Laufbahn, das Eine hat er
nicht gelernt: daß man die Welt der Thatsachen nicht auslernt, daß man zumal
in einer Periode der mit den mannigfaltigsten Gefahren für das Vaterland
verbundenen, höchst schwierigen Umwandlung dem Arbeiter nicht alle Tage in
das Konzept fahren darf mit einer gebieterischen, aus dem Stand der jewei¬
ligen eigenen Erkenntniß geschöpften, für vollendet gehaltenen Doktrin. Herr
Laster gleicht dem Sohne des Mineralienhändlers, der Mineraloge geworden
ist und die edlen Steine allerdings nicht mehr mit dem gierigen Blick des
Eigennutzes, aber auch nicht mit dem unbefangen forschenden Auge der Wissen¬
schaft betrachtet, sondern etwa mit der Leidenschaft des Juweliers, der an das
Geschmeide denkt, das er im Kopfe trägt, ohne die Eigenschaften der Steine
ordentlich zu kennen, von denen die Möglichkeit, die Dauerhaftigkeit des Ge¬
schmeides abhängt.
Im Zustand blinden Vertrauens läßt sich freilich nicht gut lange weilen,
auch nicht gegenüber einem Betrauten, der in dem Maße die Erfolge häuft
wie Fürst Bismarck. Aber die Partei Hütte sich bemühen sollen, dem Fürsten
seine Gedanken abzulernen, wenigstens zum Theil, um nicht zu verlangen, daß
er sie selbst vorzeitig in die Welt Posaune oder sie mit Hunderten von Personen
vertraulich durchspreche, die doch vor dem Erfolg niemals überzeugt worden
wären. Daß an die Stelle dieses Bemühens eine voreilige, unfreundliche
Kritik und oftmals ein höchst ungerechter Verdacht getreten, ist vor allem das
Werk des Abgeordneten Laster.
Vergegenwärtigen wir uns einmal die Stufen dieses Verhältnisses. Kaum
ist der norddeutsche Bund in's Leben gerufen, kaum hat die nationalliberale
Partei in einem ihrer ersten Manifeste erklärt: „Bismarck hat die deutsche
Einheit unaufhaltsam gemacht, wenn das Volk ans seine Seite tritt, so lange
er diese Einheit will; sollen wir nicht in den alten deutschen Fehler verfallen,
so müssen wir ihn unterstützen", so bemächtigt sich der Partei die seltsame
Vorstellung, der Kanzler sei bereits seinem Werke abwendig geworden, wenn
nicht aus veränderter Gesinnung, doch aus Alter oder Müdigkeit. Wie der
unvermeidliche rothe Faden geht namentlich die letztere Borstellung durch das
Leben der Partei bis auf den heutigen Tag. Immer wieder wird diese Ein¬
bildung durch Erfolge beschämt, von denen einer staunenswerther ist als der
andere, aber die Einbildung erscheint in jeder, anch in der kürzesten Pause.
So sucht man den Kanzler bei der Errichtung der Bundesverfassung auf dem
Wege der Einheit über die von ihm für erreichbar oder zweckmäßig gehaltene
Grenze übereifrig hinauszutreiben. Anstatt aber zu bedenken, daß, je vor¬
zeitiger die Einheit überspannt wird, die Regierung desto stärker sein müsse,
ist man gleichzeitig bemüht, der Regierung die engsten parlamentarischen Fesseln
anzulegen. Alle größeren Reden 'des Kanzlers in der Periode des Nord¬
deutschen Bundes betreffen die Abwehr der vorzeitigen Ueberspannung der Ein¬
heit innerhalb des Bundes, die Abwehr der Ausdehnung über die Grenzen
des Bundes und die Abwehr der Lähmung der Regierungsgewalt. In den
sprechendsten Bildern legt der Kanzler dar, daß, wenn man jetzt die Einheit
im Bunde überspanne,' man nie die süddeutschen Staaten in den Bund be¬
kommen werde. Endlich, weil es gar zu langsam geht mit der Fortbildung
der Einheit, bringt der Abgeordnete Laster seine Jnterpellation ein, warum
die Ausnahme Baden's in den Bund noch nicht erfolgt sei, womit er freilich
dem Kanzler eine der meisterlichsten Reden entlockt, aber auf die Gefahr, das
Ziel der Bundespolitik unberechenbar hinauszuschieben. Noch weit rühriger
aber ist dieser Abgeordnete, derselben Regierung, der das schwierigste Werk
anvertraut ist, zu dessen Vollendung der Abgeordnete der ungeduldige Treiber
ist, derselben Regierung, wo er nur kann, die freie Hand zu binden. Da er¬
scheinen die Anträge, wo wir den Namen Laster an der Spitze oder unter
den Vertheidigern finden, der Regierung das Recht zur Veräußerung der
Staatseisenbahnen zu nehmen, oder die Mitglieder der Bundesschuldenkommission
regreßpflichtig gegenüber dem Reichstag, also unabhängig von dem Kanzler zu
machen, oder gar die Einberufung der Reserven von der eingestandenen Kriegs¬
gefahr abhängig zu machen. Auch dieses Antrages Vorkämpfer war Herr
Laster am 18. Oktober 1867. Das Hauptsteckenpferd des rührigen Abgeord¬
neten aber ist bereits in der Periode des Norddeutschen Bundes die absolute
parlamentarische Redefreiheit. Fünf Mal, März 1867 im konstituirenden
Reichstag, November 1867 im Abgeordnetenhaus, April 1868 im Reichstag,
Dezember 1868 im Abgeordnetenhaus, März 1869 im Reichstag stellt er den
Antrag, daß nicht die Meinungen, sondern die Aeußerungen der Abgeordneten
ganz allgemein straffrei sein, straflos veröffentlicht werden sollen, und daß diese
Redefreiheit ans der Reichsverfassung auf alle deutschen Laudes-Repräsentationen
übertragen und unter den Schutz des Reiches gestellt werde. Der eifrige Ab¬
geordnete, dessen Ueberzeugung ohne Zweifel war, die beste Sache zu vertreten,
konnte in seinem Eifer natürlich nicht daran denken, daß er dieses äußerste
Zugeständniß einem Minister zu entreißen suchte, der die Pfeile und Schleudern
der Redefreiheit vier Jahre lang unter schwerer Verkennung seiner Absichten
ertragen hatte, für den diese nachträgliche, wenigstens formelle Sanktionirung
auch der schmählichsten gegen ihn gerichteten Angriffe eine bittere Demüthigung
sein mußte, wäre er nicht schon damals für jede Demüthigung zu groß ge-
wesen. Der eifrige Abgeordnete dachte auch nicht darin, dem ' schrankenlosen
Privilegium der Individuen in den Parlamenten, welches er erstreiten wollte,
irgend ein Gegengewicht in der erhöhten Macht und Verantwortlichkeit der
Körperschaften gegenüber den Mitgliedern zu geben. Er setzte seinen Willen
wenigstens in der Reichsverfassung in der Hauptsache durch. Bei der Be¬
rathung des heilsamen Werkes eines deutschen Strafgefetzbuches war der
Abgeordnete Laster der unermüdliche Vorkämpfer aller jener übertreibender
Bestimmungen, die nicht blos eine zu große Milde gegen den Verurtheilten, son¬
dern die Schwäche, ja die Wehrlosigkeit des Staates gegen den Verbrecher
herbeiführen. Die übermäßig langen Fristen für die Zurücknahme der An¬
träge bei den sogenannten Antragsvergehen, die man vor der Volksstimme
wieder hat beseitigen müssen, waren das Werk des Abgeordneten Leisler. Der
Minister mußte vom Krankenlager in den Reichstag eilen, um mit erschöpften
Kräften die Beseitigung der Todesstrafe zu verhindern; sonst wäre es dahin
gekommen, daß die Verschönung mit dem Opfer, welches der Staat von den
Besten fordern muß, den Schlechtesten verbürgt worden wäre.
Während nun aber der Abgeordnete Laster und seine Freunde zur Be¬
schleunigung der deutschen Einheit außerhalb und innerhalb des Bundes hin¬
trieben, bekämpften sie hartnäckig die Bedingung, welche nächst dem Heere die
elementarste jedes Staatswesens ist, die Sicherung der Finanzen. Im ersten
Zollparlament wurde im Mai 1868 der erste Versuch zu Finanzzöllen abgelehnt.
Im Mai 1869 wurden im Reichstag eine Anzahl indirekter Steuern, welche
demselben unwidersprechlichen Bedürfniß dienen sollten, dem Bundesstaat die
unentbehrliche finanzielle Basis zu geben, mit einer Art von Hohn und Schaden¬
freude abgelehnt. Man erlangte zunächst einen preußischen Finanzminister,
der die obligatorische Tilgung der Staatsschulden aufhob, um ohne neue An¬
forderungen dem nächsten Geldbedürfniß zu genügen. Und man reichte lange,
freilich nicht durch die paar ersparten Zinsen, sondern durch die Milliarden,
die ein neuer ungeheurer Erfolg des Kanzlers dem Finanzminister zur Ver¬
fügung stellte. Der Hauptredner am 21. Mai 1869, wo die Hauptschlacht
gegen die indirekten Steuern für den Norddeutschen Bund geliefert wurde,
war Herr Laster. Immer Herr Laster! Am 21. Juni 1869 brachte er im
Zollparlament den Petroleumzoll zum Falle.
Nun kommt die Epoche, welche der französische Krieg einleitet. Es ist
dankbar anzuerkennen, daß man während des Krieges den Kanzler nicht be¬
kämpfte. Aber als nach den Präliminarien von Versailles die Friedensver-
handlungen nicht zu Ende kommen wollten, verlegte der Kanzler dieselben nach
Frankfurt, eilte selbst dahin und kehrte mit dem Frieden in der Hand zurück.
Am 12. Mai gab er die erste Erläuterung im Reichstag über den Frieden,
der am 10. unterzeichnet worden. Am 19. begab er sich noch einmal nach
Frankfurt, um die Ratifikation auszuwechseln. Inzwischen hatte der Reichstag
des Kanzlers Abwesenheit benutzt, um die erbetene dreijährige Vollmacht zur
Diktatur in Elsaß-Lothringen um ein Jahr zu verkürzen, und ferner einen
Antrag der Herren Laster und Stauffenberg angenommen, daß die sogenannte
Diktatur in Betreff der Gesetzgebung an den Bundesrath, in Betreff der
Finanzgesetzgebung an Bundesrath und Reichstag gebunden sein solle. Das
hieß nicht einmal den Jahrestag der Schlacht von Zama abwarten, es hieß,
am Tage nach dem Siege den Sieger für unfähig erklären, die Frucht des
Sieges für einige Zeit in Obhut zu nehmen.
In der Periode, in die wir jetzt gelangt sind, tritt eine bemerkenswerthe,
aber unvermeidliche Aenderung in dem Verhältniß zwischen dem Kanzler und
dem nationalliberalen Führer ein. Der Ton wird, anfangs bei einzelnen
Gelegenheiten, dann bei jeder Gelegenheit merklich schärfer. Die Meinungs¬
verschiedenheit politischer Verbündeten verwandelt sich in politische Gegnerschaft-
Man ist auf vielen Seiten sehr bereit, dem Kanzler die Schuld dieser Ver¬
schlimmerung als unbestreitbar beizumessen. Man ist beinahe einig, zu behaupten,
daß die Empfindlichkeit des Kanzlers gegen Widerspruch einen unerlaubten
Grad erreicht habe. Man meint sicher zu sein, daß die Schärfe des Tones
von dem Kanzler ausgegangen sei. Es mag richtig sein, daß einer solchen
Kette von Erschwerungen gegenüber, immer durch denselben Abgeordneten
bereitet, der Kanzler zuerst den scharfen Ton angeschlagen hat. Aber er hat
stets den seinen Ton des vornehmen Mannes inne gehalten. Herr Laster,
mit dem Degen getroffen, hat zum Stocke gegriffen. Wir reden von der
Tonart. Man verlangt freilich in Deutschland, daß auch diese Tonart, soweit
sie unmittelbare Beleidigungen ausschließt, von Staatsmännern ertragen werden
müsse. Man sagt, das gehöre zur Freiheit, das sei in England der unan¬
tastbare Brauch. Man kann wirklich einige Beispiele anführen. Ein verrückter
Oberst sagte einmal im Unterhaus: „Die Sitze dieser Schurken von Ministern
sollten mit Wasser und Seife abgewaschen werden." Ein Jrländer, Robert
Mitchel, hat vor Jahren gesagt: „Ich will sehen, daß Prinz Albert's Weib
auf ihres Mannes Meierei in Deutschland gesendet wird/' Ja, man kann so
sprechen in England. Daß es gesetzliches Recht sei, behauptet freilich nnr die
Unwissenheit. Aber es ist Sitte, die Masse des Gesetzes, die schwere Masse,
die das dortige Gesetz bietet, in vielen Fällen ruhen zu lassen. Die guten
Leute, die mit solchen Beispielen kommen, übersehen jedoch die Hauptsache.
Die englische Gesellschaft ist so Wohl gefugt, so voll duilr, die Unter¬
schiede sind so sest, daß, wer die Freiheit der Sitte zur Frechheit verkehrt,
sich unabänderlich seinen Platz anweist unter dem Pöbel und unter den Ver¬
rückten. Man läßt ihm alle Rechte des Gesetzes, man nimmt ihm nicht ein¬
mal, was man durch das Gesetz könnte, aber er hat seinen Platz, von dem er
nicht wieder sort kann. Die Höflichkeit des Tones im englischen Parlament
ist unter den ebenbürtigen Gegnern, noch mehr unter den ebenbürtigen Freunden
eine ausgesuchte, übervollkommne bis zum Chinesischen. In Deutschland
verlangt man, daß die Redeweise, durch welche der englische Politiker sich unter
den Pöbel stellt und aus dem regierenden Kreise unwiederbringlich ausscheidet,
auch unter Freunden hingenommen werde. Jllustriren wir den Unterschied
zwischen Degen und Stock. Bei der Kandidatur des Grnfeu Herbert in Laster's
Wahlkreis wurde erklärt, diese Kandidatur sei ein Beweis, daß der Kanzler ein
ersprießliches Zusammenwirken mit Herrn Laster nicht mehr erwarte. Dus war
ein Degenstich. Bei seiner Wahlrede in Saalfeld sagte Herr Laster mit Bezug auf
die erste Verwerfung des Sozialistengesetzes und auf das Nobiling'sche Attentat
ungefähr: „Nach einem großen Unglück pflegen edle Naturen sich zu versöhnen,
gemeine erbittern den alten streit.'" Das war ein Hieb mit dem Stock. Doch
sind wir eigentlich soweit uoch nicht. Wir haben einige Stufen nachzuholen, über
welche Herr Laster zu seinem letzten Tone gelangt ist. Im Mai 1872 ver¬
suchte er, die Salzsteuer aufzuheben, im Mai 1873 fetzte er das Preßgesetz dnrch,
welches uns das unvergleichliche Institut des Sitzredakteurs gebracht hat. Am
12. Dezember 1874, als der wegen Beleidigung des Kanzlers verurtheilte
Abgeordnete Majuuke in die Strafhaft abgeführt werden sollte, stellte er den
Antrag auf Einspruch des Reichstags, der in der Verfassung nicht begründet
war, und nöthigte den Kanzler, feine Entlastung zu fordern, welche der
Kaiser verweigerte, und der Abgeordnete v. Bennigsen durch eine Ehren¬
erklärung des Reichstags unnöthig machte. Im Dezember 1875 bekämpfte
Herr Laster mit äußerster Schärfe die vom Reichskanzler nach den schwersten
Erfahrungen für unentbehrlich erachtete Strafgesetznovelle. Im Februar 1876
vereitelte er eine Aenderung des Preßgesetzes. Am 21. März 1877, wo Herr
Laster über den Sitz des Reichsgerichtes sprach, und der Kanzler über diese
Frage eine Zurückhaltung beobachtet hatte, die Herr Laster nicht begriff, sprach
er von der „Krankheit der Regierungslosigkeit im Reich". Von der Regierungs-
losigkeit unter einer Regierung, der an Reichthum, Kühnheit und.nöthigenfalls
an Zähigkeit der Initiative keine jemals an die Seite gesetzt werden kann. In
solche Uebertreibungen verfällt Herr Laster, wo ihm sein Kopf nicht gleich den
Schlüssel der Handlung gibt. Sollen wir die neueren Reden erwähnen, die
gegen das erste Sozialistengesetz im Mai 1878 oder die bei der Generaldis-
kujsiou der Finanzreform in diesem Jahre, wo Herr Laster die völlige Unzu-
verlässigkeit und Werthlosigkeit, die völlige Unkenntniß der einschlagenden Landes¬
gesetze bei dem „ersten Beamten des Reiches und preußischen Ministerpräsidenten"
zu konstatiren sich vermaß, wo er demselben vorwarf, die Politik der Reichen
zum Unglück der Armen zu treiben? Erinnern wir lieber an eine Rede von
1873, wo er schon einmal behauptete, das Volk und dessen Rechte gegen den
Kanzler zu vertheidigen, gegen den Kanzler, der die schwerste Arbeit des Denkens
und des Wollens Tag und Nacht bis zum Opfer des Lebens in den Dienst
des Volkes stellt. Will Herr Laster behaupten, daß der deutsche Staat nicht
für das deutsche Volk gebaut werde, sondern als Spielzeug der Herrschaft für
Wenige?
Herr Laster, so lang unsere Anklage geworden, steht edel da neben dem
Cynismus eines Georg v. Bunsen, der eben in einer Rede zu Hirschberg den
Chnismus des vorerwähnten Jrländers zu übertreffen unternommen hat. Aber
weil wir Herrn Laster das schönste Lob seiner eifrigsten Freunde, das Lob
eines vollkommen redlichen Mannes ertheilen, darum fragen wir ihn, ob sein
Gewissen nicht Folgendes bestätigt: Hätte er nicht, wenn er im gegebenen
Moment jedesmal seinen Willen erreicht, alle nachfolgenden Erfolge des
Kanzlers vereitelt? Würde nicht, wenn Herr Laster nicht zu oft noch seinen
Willen durchgesetzt, die innere Lage des dentschen Reiches eine größere Eintracht
unter den patriotischen Elementen und im ganzen ein weit zufriedenstellenderes
Antlitz zeigen?
Ein natioualliberales Organ definirte kürzlich den Charakter des Herrn
v. Bennigsen als vornehme Passivität. Möchte die Partei oder doch der Theil,
der sich von Herrn Laster emanzipiren kann, denselben Charakter annehmen:
die vornehme Zurückhaltung, aber nicht Enthaltung des Erben, dem die größte
Erbschaft zufallen muß. Wer kann die Frucht der Lebensarbeit des Kanzlers
erben, als die Nation, für deren besten Theil die Partei vielleicht das Recht
hat sich zu halten. Hat man doch mit Selbstgefühl gesagt, daß eine Partei
länger lebe als ein Mensch. Nun wohl, so höre man auf, die Arbeit eines
auserwählten Menschen zu stören, deren Früchte man erben muß, wenn man
die Erbschaft nicht zerstört oder durch den Versuch der Zerstörung sich jedes
Unrechtes auf dieselbe beraubt
Zur Beachtung. Mit nächstem Hefte beginnt diese Zeitschrift das III. Quartal ihres
38. Jahrgangs, welches dnrch alle Buchhandlungen und Postan-
stalten des' Zu- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro Quartal !) Mark. Leipzig, im Juni 1879. - Die Verlagshandlung.