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]]> Die Schlacht von Lützen war geschlagen, in den Staub gesunken der streit¬
bare Held, „der Löwe von Mitternacht", hinweggerissen mitten aus seinen Plänen,
im kräftigsten Mannesalter dahingerafft; bald ruhte seine Leiche in der stillen
Gruft der Kirche auf Riddarsholmen, umgeben von eroberten Fahnen. Laut
ging die Todtenklage durch alle evangelischen Lande; nicht wie einen Fremden,
wie einen Helden des eigenen Volks betrauerten ihn die Deutschen, und so rief
ihm Georg Weckherlin nach:
„Siegreich und selig zwar hat Dich, weil in der Schlacht
Du frei für Gottes Wort Dein theures Blut vergossen,
In die endlose Freud' und Ehr' Dein End gebracht;Jedoch in Leid und Noth seind Deine Vund'sgenossen,
Weil Deine Herrschung Du mit Sieg, Triumph und Pracht
Dort in dem Himmelreich, anfangend hie, beschlossen."
Und doch starb Gustav Adolf zur rechten Zeit. Als er das Schwert zog
gegen Oesterreich, trotz des großen Umfangs seiner Lande ein kleiner Fürst,
der schwerlich mehr als 1^2 Millionen Unterthanen beherrschte, von schwachen
Mitteln, ohne Bundesgenossen, da konnte solchen verwegnen Entschluß nur die
höchste Gefahr des eignen Landes rechtfertigen. Seit Jahrzehnten arbeiteten
die schwedischen Herrscher von Gustav Wasa angefangen an der Erwerbung
des äoirünirmi wärts Laltiei durch Eroberung des gesammten Küstenringes;
sie hatten Russen und Polen aus dem Felde geschlagen, und siegreich war
Gustav Adolf selbst von Kurland her bis über die Weichsel gedrungen, aber
indem er die polnische Macht von den Gestaden der Ostsee verdrängte, ver¬
theidigte er nur seine eigene Sicherheit; denn noch hatte der polnische Zweig
des Hauses Wasa seine Ansprüche auf die schwedische Krone und auf die
Restauration des Katholizismus in Schweden nicht aufgegeben und gefährlicher
als jemals erschienen sie jetzt, als das Haus Habsburg seine furchtbaren Heer-
schaaren bis an die Ostseeküste vorgeschoben hatte und sein gewaltiger Feldherr
sich rüstete, als „General des baltischen und ozeanischen Meeres" seine Hand
eines über die Ostsee auszustrecken und seine Flotten hinüberzusenden nach
Schweden, dessen Waffen schon das tapfere Stralsund geschützt hatten und
dessen blaugelbe Fahnen seitdem auf den Wällen der hochgethürmten Hansa¬
stadt wehten. Aber wenn der König und sein Reichstag sich zu einem unab¬
sehbaren Kriege entschlossen und entschließen durften, weil ihr eigenstes Interesse
das verlangte, so steht doch nicht minder fest: dies schwedische Interesse fiel zu¬
sammen mit dem allgemeinen der evangelischen Welt und insbesondere des
evangelischen Deutschland's. Seit dem Jahre 1629 war kein Zweifel mehr
gestattet: der deutsche Kaiser war der deutschen Nation tödtlicher Feind ge¬
worden, so gut wie 100 Jahre vorher sein Ahn Karl V. es gewesen. Nicht
nur dadurch, daß er seine militärische Despotie an die Stelle der alten Reichs-
vrdnungen setzte — denn sie, wie jedes reine Säbelregiment, zerstörte nur den
alten Rechtszustand, schuf keinen neuen, besseren und entbehrte somit des höheren
Rechts, das jede Revolution für sich haben muß, will sie nicht als ruchloser
Frevel erscheinen —vor Allein dadurch, daß er das gesammte geistige Leben der
Nation, wie es seit nunmehr 100 Jahren sich im Gegensatze zu der alten
Kirche entwickelt, vernichtete oder bekämpfte. Schon als Erzherzog hatte er in
seiner Steiermark die evangelischen Unterthanen, weitaus die Mehrheit, durch
Soldaten und Jesuiten aus dem Lande getrieben oder in die Messe gejagt,
als er Kaiser geworden, den besiegten Böhmen dasselbe Schicksal bereitet; eben
die kräftigsten Elemente des Volkes, die Edelleute und die Bürger der Städte
waren ausgewandert, soweit sie nicht im Kampfe und auf dem Schaffst ver¬
blutet; was zurückblieb, lebte dahin in dumpfer Erstarrung, gleichgiltig gegen
die alte Lehre, die man ihm wieder aufgezwungen, ohne Hoffnung. Noch heute
vermögen wir nicht ohne tiefes Grauen zu hören auf die ohnmächtige Klage
verzweifelten Schmerzes, die diesen Völkermord eintönig begleitet. Und jetzt
drohte dem evangelischen Deutschland eine ähnliche Gefahr. Das Restitutivns-
edikt vom März 1629, in Formen zu Stande gekommen, die nicht die min¬
deste Rechtsverbindlichkeit besaßen, verfügte: Alle kirchliche» Güter — allem in
Norddeutschland etwa 120 große und kleine Stifter — die seit dem Passauer
Vertrage von 1552 von Protestantischen Fürsten in Besitz genommen und refor-
mirt worden waren, die also seit vielen Jahrzehnten Theil genommen hatten
an dem neuen geistigen Leben der evangelischen Territorien, sie sollten katho¬
lischen Landesherren übergeben, und, was nach der Anschauung jener Zeit die
natürliche Konsequenz mit sich brachte, in die alte Kirche zurückgezwnugeu
werden. 80 Jahre nationaler Entwicklung sollten ans der Geschichte gestrichen,
die ganze Existenz einer Reihe evangelischer Fürstentümer in Frage gestellt
werden. Und wofür? Für die starre Einheit des restaurirten Katholizismus,
für die Herrschaft des Rosenkranzes und der Heiligenverehrung, sür den ge¬
müthlosesten geistlichen Despotismus, der prinzipiell jede freie Regung des
Glaubens und der Wissenschaft -niederhielt und zu seinem eignen Bestände
niederhalten mußte. Eine fremde Bildung war es, die sich feindselig dem deut¬
schen Leben entgegensetzte, unendlich verderblicher, als die vielgescholtene fran¬
zösische, welche Deutschland seit dem Ende des dreißigjährigen Krieges bemei-
sterte; vom Gnadenbilde zu Loreto her hatte der Erzherzog Ferdinand sich
die Kraft geholt zur Zerstörung des heimischen Protestantismus der Steier-
mark; spanischer Geist war es, der den Kaiser vorwärts trieb; nicht zum ge¬
ringsten Theil fremde Geistliche und fremde Truppen führten seine Pläne durch.
Gab es eine Rettung der Nation von so tödtlicher Gefahr, so konnte sie
nur kommen von der Selbständigkeit deutscher Fürsten. Die Landeshoheit
zahlloser kleiner und großer Herren zerriß die Einheit der Nation, aber vollends
doch erst von dem Momente an, wo des Kaisers Tyrannei das Band hun¬
dertjähriger Ehrfurcht, das Volk und Fürsten an ihn fesselte, durchschnitt. Von
diesem Augenblicke an war es erste Pflicht der Fürsten, sich ihrem Oberlehns¬
herrn zu widersetzen. Aber nnr eine hervorragende Persönlichkeit vermochte die
Masse selbständiger und selbstsüchtiger Reichsstände zu geschlossenem Wider¬
stande zu vereinigen. Doch wo zeigt sich eine solche? Groß ist die Zahl
wohlmeinender, sehr gering die Zahl geistig bedeutender Landesherren im da¬
maligen Deutschland. Nicht in mangelndem Talent, vielmehr in den ungün¬
stigen Verhältnissen lag das begründet. Ausgewachsen in engen Schranken, an
kleinen Gesichtskreis gewöhnt, in starrem Konfessionalismus erzogen vermochte
ein deutscher Fürst jener Tage nnr sehr selten zu einer weitherzigen Auffassung
der Lage, zum Verständniß großer Interessen hindurchzudringen. Und auch
solche, denen dies gelang, wie der vielgeschäftige Christian von Anhalt, der
schon lange Jahre vor dem Ausbruche des großen Krieges alle Kräfte der
evangelischen Welt gegen Habsburg hätte vereinigen mögen, oder der treffliche
Moritz von Hessen, der schon im Jahre 1605 Kurfürst Christian II. von
Sachsen aufforderte, „als das vornehmste Haupt des evangelischen Deutsch-
lands" für ein besseres Zusammenhalten der evangelischen Reichsstände Sorge
zu tragen, auch sie litten unter dieser Enge der kleinstaatlichen Verhältnisse; sie
konnten wohl weitaussehende Pläne schmieden, aber ihnen fehlte ebenso sehr
die Macht sie durchzuführen, als selbst das rechte Urtheil über ihre Ausführ¬
barkeit, denn nie hatten sie in großen politischen Geschäften gelernt Maß und
Mittel sorglich zu erwägen. Deshalb sind sie im besten Falle diplomatische
Dilettanten, keine Staatsmänner.
So mußte es ein Fremder sein, der an die Spitze Deutschland's zu treten
berufen ward; einem Fremden gehörte Jahre durch die wärmste Empfindung
deutscher Herzen, Jahrzehnte lang die wehmüthige Dankbarkeit eines verzwei¬
felnden Geschlechts, das seine Heldenkraft vom äußersten Verderben errettete.
Und ein Glück wenigstens, daß dieser fremde-König ein großer Held war und
ein liebenswerther Mensch, nicht bloß von genialen Umblick und Scharfblick
beim Entwerfen seiner Pläne, von sicherer Kraft in der Beherrschung der Ver¬
hältnisse und Personen, ein fester und einsichtiger Führer der wilden Krieger-
schaaren seiner Zeit, sondern auch ein frommer Herr, der selbst die Lieder
dichtete, unter deren Klänge seine Schweden angriffen, leutselig und human
auch dem Bürger und Bauern gegenüber, die dem gewöhnlichen Kriegsobersten
nur als die Lastthiere der Soldaten galten, ein guter Gesell beim Becher ohne
doch in die rohe Trunksucht der Zeit zu verfallen, ein Liebhaber kunstloser
Musik, der oft einmal einsam über seiner Laute träumte, von seiner Gemahlin
Eleonore von Brandenburg schwärmerisch verehrt. Und auch wer seine hohe
Gestalt musterte, das hellblonde Haar, die weiße Haut, die blauen, leuchtenden
Augen, der konnte den Fremden in ihm nicht erkennen.
Und doch fühlten die deutschen Fürsten, die sich mit ihm im Drange der
Noth gegen den Kaiser verbanden, jeden Augenblick, daß er ein Fremder sei.
Er war gekommen nicht nur um sie und ihre Kirche wider nnheimische Ge¬
walt zu schützen, er begehrte auch deutsches Land sür Schweden zu erobern,
und als er dann in raschem Siegeszuge, in jähem Ansturm die Macht der
katholischen Liga zu Boden geworfen hatte, als seine Heersünlen am Fuße der
Alpen standen und an der oberen Donau, als er damit umging, das evange¬
lische Deutschland zum Oarxus övlMAÄIeorum, zu vereinigen und selbst als
Herr von Pommern an seine Spitze zu treten, es damit thatsächlich loszu¬
reißen vom Kaiser, da erschien der nordische Erretter ihnen nicht weniger
schreckhaft, als der Habsburger, und sie dachten an Abfall, an Versöhnung mit
dem heimischen Zwingherrn. Um Sachsen's Trennung vom schwedischen Bünd-
niß zu hindern schlug Gustav Adolf die Schlacht von Lützen; doch auch, wenn
er den Sieg überlebt hätte, er würde schwerlich lange mehr seine evangelischen
Bundesgenossen haben festhalten können, in fruchtlosem Ringen hätte er seine
edle Kraft verzehrt und seine Popularität wäre dahingeschwunden schneller noch
als sie erworben war. Daß sein Bild noch jetzt rein und ohne Makel zu
uns herüberscheint, das verdanken wir seinem frühen, vielbeklagten Tode.
Doch sollte schwedischer Eroberung ein Damm gezogen werden, so konnte
das nur geschehen, wenn der Kaiser seine kirchliche« Reaktionspläne fallen ließ,
wenn er endgiltig darauf verzichtete, die Konsequenzen seiner ersten Negierungs-
jnhre zu ziehen. Ihn dazu zu zwingen war nicht nur das Verdienst Gustav
Adolfs und seiner Siege, eben so sehr das seines Feldherrn, Albrecht von Wallen¬
stein. Nur ein Mann in so gewaltiger Stellung wie er, dem Kaiser mehr
gleichberechtigt als sein Diener, konnte das erreichen, erreichen gegen die persön¬
liche Ueberzeugung des Kaisers wie gegen den Willen einer mächtigen Partei
und gegen Spanien's Einfluß.
Ein kleiner Landedelmann czechischer Abkunft, aber gebildet in Deutschland
und Italien, emporgekommen durch Heirath und Kriegsdienst unter Erzherzog
Ferdinand, schon damals ein begüterter Mann, beim Beginne der böhmischen
Revolution auffällig durch sein Festhalten an der Habsburgischen Sache und
bald um sie verdient durch die Anwerbung eines wallonischen Kürassierregi¬
ments, das in der Schlacht am Weißen Berge entscheidend mitwirkte, hatte
Albrecht Eusebius Wenceslaw von Waldstein eben dadurch den Grund zu seiner
Größe gelegt und war wenige Jahre später durch massenhafte Güterkäufe und
-Schenkungen zum ersten Grundherrn Böhmen's geworden. Seit 1623 schmückte
ihn der Titel eines Fürsten von Friedland, und in der That Fürst, nicht
Unterthan war der Mann, der drei Jahre nachher auf eigne Kosten dem Kaiser
ein Heer von 50,000 Mann warb, der kurz darauf als Entschädigung für
seiue Auslagen — er gab sie auf drei Millionen Gulden an — das Herzog¬
tum Mecklenburg erhielt und sich seitdem: „Albrecht, von Gottesgnaden
Herzog zu Mecklenburg, Friedland und Sagan, Fürst zu Wenden, Graf zu
Schwerin, der Lande Rostock und Stargard Herr" benannte. Vor ihm sank
die Macht des niedersächsischen Kreises und Dänemark's zu Boden, bis an die
Ostsee und bis uach Jütlcind trug er seine siegreichen Fahnen; er konnte daran
denken auch das Meer dem Kaiser zu unterwerfen. Aber nicht ein vorüber¬
gehendes militärisches Uebergewicht zu gründen war sein Ziel; die fürstliche
Landeshoheit niederzutreten, den Kaiser zum erblichen Oberherrn ganz Deutsch¬
land's zu machen, wie die Könige von Frankreich und Spanien es auch waren,
das erstrebte er und dazu bekannte er sich offen. Aber eben deshalb stürzte
er von seiner Höhe; vor die Wahl gestellt, ob er mit den Fürsten der Liga
brechen wolle oder mit seinem General, entschied sich der Kaiser für die Liga,
entließ den Feldherrn, rednzirte sein Heer, in demselben Augenblicke, als Gustav
Adolf den Fuß auf deutschen Boden setzte (Juni 1630).
Kaum anderthalb Jahre später führte der Zwang der Verhältnisse Wallen¬
stein an die Spitze des Heeres zurück, das er sich freilich erst selbst schaffen
mußte, wie das erste. Er erhielt unter Bedingungen das Kommando, deren
Druck auf den Kaiser eine Hauptursache zur späteren Katastrophe ward, auf
denen zu bestehen der Feldherr jedoch in seinem eignen und im allgemeinen
Interesse allen Grund hatte. Er sollte es führen „in adMlrttissiiri^ torina,",
kein selbständiges Kommando neben dem seinen und keine fremden, d. h. nicht
in kaiserlichem Dienste stehenden Truppen sollten im Reiche existiren; denn er
dachte, was ihn Schiller zu Questenberg sagen läßt:
„— Ein König, — einer, der es ist,
Ward nie besiegt noch, als dnrch seinesgleichen."
Ihm persönlich war die Zurückgabe des von den Schweden besetzten Mecklen¬
burg zugesichert, das er fünf Jahre früher als Entgelt für seine Auflagen
erhalten, oder, falls jenes Herzogthum nicht wieder zu erlangen sei, die Ueber¬
weisung eines andern Reichsfürstenthums als „Rekompens". Aber er zog nicht
bloß aus, um Städte zu belagern und Schlachten zu schlagen, anch nicht nur,
um sich selbst eine glänzende Stellung im Kreise der deutscheu Fürsten zu er¬
obern, sondern vor Allem, um den Frieden mit den deutschen Protestanten, an
erster Stelle mit Sachsen und Brandenburg zu schließen, den schrecklichen Krieg
zu beenden. Aber dies konnte nur dann gelingen, wenn er ihnen eins zu
bieten hatte: die Aufhebung des verhängnißvollen Restitutionsebikts. Daß
Wallenstein nur unter dieser Bedingung zum zweiten Male die Waffen ergriff,
dies Zugeständniß dem Kaiser abzwang, das ist es, was ihn zum Staatsmann
macht, was die historische Bedeutung seines zweiten Generalats begründet, was
ihm den Anspruch giebt, mit anderem Maße gemessen zu werden als mit dem
des ehrgeizigen, ruchlosen Emporkömmlings.
Sehr viel von einem solchen war allerdings in ihm. Ihn trieb ein ge¬
waltiges Selbstbewußtsein, ein hochstrebender, rastloser Ehrgeiz von Stufe zu
Stufe: als kleiner böhmischer Landjunker hatte er begonnen, als Herzog von
Friedland und Reichsfürst endete er. Er liebte es, Pläne zu schmieden, Unter¬
handlungen nach den verschiedensten Seiten anzuknüpfen, ohne gerade immer
sie in vollem Ernste zu nehmen oder sie bis zu ihren letzten Konsequenzen zu
verfolgen. Heftig war sein Haß gegen alle, die ihm persönlich die Wege
kreuzten, dann pflegte er wohl in der Erregung harte Drohungen auszustoßen,
die oft gefährlicher klangen als sie gemeint waren, und gar nicht vermied er
es, seine Feinde persönlich seine Rache fühlen zu lassen, besonders, wenn sie
im Range über ihm standen. Als Emporkömmling war er Fatalist; mie
Napoleon I. an seinen Stern, so glaubte er sest an die wahrsagende Kraft
himmlischer Konstellationen, und wenn seine Entschlüsse oft einmal nicht recht
erklärlich erscheinen, so wird immer gut sein, sich zu vergegenwärtigen, daß er
mit Faktoren rechnete, die wir nicht zu kontroliren vermögen. Endlich — und
auch das kennzeichnet den jäh zu glänzender Höhe Aufgestiegenen — er liebte
es, sich zu isoliren, er umgab sich mit dem Schimmer des Geheimnißvollen
und mit ostensibler Pracht, mit einem Hofhalte, der dem des Kaisers kaum
nachgab, nur daß er auf dem soliden Grunde einer vortrefflichen Güterver-
waltnug beruhte, denn sie warf ihm einen jährlichen Ertrag von circa
V2 Million Gulden ab. Aber er war doch mehr als ein Emporkömmling.
Vom Beginne seiner Feldherrnlaufbahn lenken ihn große Interessen; will er
Anfangs des Kaisers Macht über ganz Deutschland ausdehnen, selbst das Nord¬
meer ihm unterwerfen, fo strebt er später nach dem Frieden mit den evange¬
lischen Reichsfürsten. Denn weit entfernt lag ihm konfessionelle Engherzigkeit,
freilich auch jede religiöse Wärme. Aber jene großen Gesichtspunkte verbanden
sich untrennbar mit den persönlichen, und es ist kein Zweifel: diese standen
ihm zuweilen höher als jene und er zeigte sich wenig bedenklich, das Allge¬
meine zu opfern für sein eigenes Interesse.
Aber zu Allem, was er erstrebte, war doch die feste Grundlage seine Ge¬
walt über das Heer, dies Heer, das er geschaffen, dessen Offiziere er ernannt,
die zum Theil auf eigue Kosten ihre Regimenter geworben hatten und nur
von seinem Ansehen die Befriedigung ihrer Forderungen vom kaiserlichen Hofe
erwarteten, von dem also jeder Einzelne an ihn schon durch äußere Vortheile sich
gebunden fühlte, wo kein Unterschied der Nation, auch nicht des Glaubens galt,
dies Heer, das eben deshalb losgelöst war vom Staate, dem es diente, und
der den Meisten nicht die Heimath war, ja selbst von seinem kaiserlichen Kriegs¬
herrn, den es nie gesehen. Mit ihm hatte er Gustav Adolf bei Nürnberg die
Spitze geboten,Mit ihm bei Lützen geschlagen, und jetzt, im Winter 1632/3,
stand er an der Spitze von über 100,000 Mann, deren Aufstellungen sich von
den schlesischen Gebirgen bis an den Oberrhein erstreckten. Freilich war damals
die militärische Lage überhaupt wenig günstig. Süddeutschland befand sich
vollends seit dem Bündnisse von Heilbronn fast ganz in den Händen der
Schweden, auf wenige Festungen sah sich Max von Baiern beschränkt, in
Franken richtete sich eben der hochstrebende Bernhard von Weimar sein Herzog¬
tum ein, dessen Grundlagen die reichen Stiftslande von Würzburg und Bam-
berg bilden sollten. In Schlesien war schon im Jahre 1632 der kursächsische
Feldherr Hans Georg von Arnim eingebrochen; den alten Plan Ernst's von
Mansfeld und Gustav Adolf's wieder aufnehmend, hatte er die schlesischen
Fürsten und Stände zur Erhebung gegen den Kaiser fortgerissen- und dessen
General Gallas bis nach Reiße und an den Rand der oberschlesischen Gebirge
zurückgedrängt. In dieser Lage hätten die rein militärischen Interessen einen
kräftigen Vorstoß von Böhmen her, das wie eine riesige Festung zwischen
beiden Kriegsschauplätzen lag, gegen Baiern gefordert, um dort den gefährlich¬
sten Feind, die Schweden, entscheidend zu schlagen. Aber nicht der militärische
Gesichtspunkt war für Wallenstein damals der maßgebende. Sein nächstes
Ziel war der Friede mit Sachsen und Brandenburg, ihre Loslösung vom
schwedischen Bündniß, und für solche Gedanken durfte er bei seinem Gegner
in Schlesien, bei Arnim, auf volles Verständniß rechnen. Hatte doch dieser
lange Zeit in kaiserlichen Diensten gestanden, an der untern Weichsel und vor
Stralsund den Befehl geführt, und war erst infolge des unseligen Restitutions¬
edikts und von Wallenstein's Entsetzung uach Kursachsen gegangen. Denn
einer von den wenigen, weitblickenden Patrioten jener Tage hielt er zwar den
Anschluß an Schweden für geboten, so lange die Habsburgische Uebermacht
Alles zu Boden drückte; als sie aber gebrochen war, da schien ihm der Ueber¬
tritt zum Kaiser zur Herbeiführung des Friedens das wichtigste Interesse, und
vor allem nach des großen Königs Tode. So war er beständig, wie Wallen¬
stein, zu Unterhandlungen bereit, und eben dies giebt dem Kriege in Schlesien
seinen eigenthümlichen Charakter; beide Gegner erstreben den Frieden, nicht
den Waffensieg, oder wenigstens diesen nur als Mittel, um zu jenem zu ge¬
langen.
So gingen schon im Januar 1633, als Arnim von Breslau her gegen
Reiße vorging, die Unterhandlungen zwischen ihm und Gallas hin und wieder,
nur daß beide zunächst über Versicherungen ihrer Friedenswünsche nicht hin¬
auskamen. Als aber die sächsisch-brandenburgischen Truppen sich um Schweid-
uitz konzentrirten zum Einbruch in Böhmen, und zugleich Arnim zu Strehlen
mit Gesandten des Siebenbürgerfürsten Georg Rü-köezh über einen Angriff
auf Mähren sich verständigte, da hielt es Wallenstein selbst für an der Zeit,
indem er nach allen Richtungen seine Dispositionen traf, seinen Vertrauten,
den furchtbaren Holt, zwischen Pilsen und Eger mit Front gegen Sachsen
Stellung nehmen hieß und zum Schutze Baiern's den Einmarsch eines spani¬
schen Heeres unter dem Herzog von Feria von Mailand her gestattete, per¬
sönlich nicht nach Baiern, sondern nach dem schlesischen Kriegsschauplatze auf¬
zubrechen. Mitte Mai verließ er sein Gitschin, mit dem ganzen Pomp eines
fürstlichen Hofhalts, mit 14 sechsspännigen Karossen, einer Reihe von Gepäck¬
wagen, einem zahlreichen glänzenden Gefolge und nahm sein Hauptquartier in
Glatz, traf aber schon Ende des Monats mit Gallas bei Münsterberg zu¬
sammen. Sofort ruhten die Waffen, die Parlamentäre ritten hin und her, und
schon am 8. Juni begrüßten sich Wallenstein und Arnim zu gemeinschaftlicher
Unterredung in der Nähe von Nimtsch. Ihre vorläufige Verständigung gelang
rasch genug: auf 14 Tage trat Stillstand ein als Einleitung zu Frieden und
Bündniß; dann sollten beide, wie Arnim an seinen Kurfürsten schrieb, „die
Waffen mit vereinten Kräften wieder die, so sich unterfangen würden, den
Ltawin IiiPMii noch weiter zu turbiren und die Freiheit der Religion zu
hemmen, gebrauchen." Aber über diese Einleitung kam man nicht hinaus, ob¬
wohl schon der Kriegsrath Questenberg zu Wien sich zur Reise nach dem
Hauptquartiere rüstete; denn weder am kaiserlichen noch am sächsischen Hose
vermochte man zu einem kräftigen Entschlüsse sich emporzuheben. In Wien
arbeiteten jesuitisch-spanische Einflüsse gegen den Frieden mit den Ketzern, in
Dresden überwog das Mißtrauen gegen Wallenstein. Ungeduldig brach end-^
lich der kaiserliche Feldherr die Unterhandlungen ab, vielleicht auch, weil er
auf die neuen Anknüpfungen rechnete, die unter dünischer Vermittlung zu
Breslau stattfinden sollten, und rückte, wie es schien zum Kampfe entschlossen,
gegen Schweidnitz vor. Zugleich überschritt sein Generalleutnant Holt, um '
auf Sachsen zwingenden Druck zu üben, am 14. August von Joachimsthal aus '
in drei Kolonnen die völlig ungedeckte sächsische Grenze, überschwemmte mit
seinen fürchterlichen Horden mordend, plündernd, verwüstend das schon im
vorigen Jahre von ihm schrecklich heimgesuchte Land, nahm das geängstete
Leipzig durch Uebergabe bis auf die Pleißenburg, sandte seine Streifschaaren
bis Würzen, Eilenburg, Halle, Naumburg vor. Um so eifriger eilte Arnim mit'
Wallenstein sich zu verständigen; in einer persönlichen Zusammenkunft stellten
sie einen Waffenstillstand von vier Wochen fest, der am 22. August unterzeichnet,
für die kaiserlichen Erdtaube, Brandenburg und Sachsen, nicht aber für Süd¬
deutschland, also nicht für die schwedische Hauptarmee gelten sollte. Da er
auch Holt band, so trat der Schreckliche den Rückzug an, und wie ein Gottes¬
gericht erschien den Bedrängten sein plötzlicher Tod am 9. September.
Inzwischen schienen die Friedensverhandlungen in Schlesien günstigen
Fortgang zu nehmen; in kurzer Zeit, so schrieb Wallenstein (25. September)
dem Kaiser, der vou allen diesen Besprechungen beständig unterrichtet wurde,
sei „ein erfreulicher guter Schluß zu verhoffen", und wie sehr dem Monarchen
selbst daran lag, konnte der Feldherr aus dem lebhaften Danke schließen, mit
dem er ihm seine „gnädigste Satisfaktion und unausgesetzte Sorgfältigkeit" ver¬
sicherte. Auch in Dresden meinte man rasch zu Ende zu kommeu, und völlig
einverstanden zeigte sich Brandenburg.
Da trat plötzlich eine unvorhergesehene Wendung ein: Arnim forderte,
daß Wallenstein dem Verlaufe des Feldzuges in Baiern ruhig zusehe, gewiß,
weil er dort das Uebergewicht der Schweden wünschen mußte, um den Kaiser¬
lichen die günstigsten Bedingungen abzuringen. Auf eine solche Beschränkung
konnte jedoch Wallenstein um so weniger eingehen, als er die ohnehin vorhan¬
dene Verstimmung des Kurfürsten Maximilian nicht überHand nehmen lassen
durfte, um seine eigene Position am Hofe nicht zu gefährden. So brach er
ab, griff wieder zum Schwert.
Noch einmal, zum letzten Mal, zeigteer sich als gewaltigen Kriegsfiirsten,
So bedrohlich erschien die Lage Sachsen's einem etwaigen neuen Einfalle aus
Böhmen gegenüber, daß Arnim mit dem größten Theile seines Heeres (12
Regimentern Infanterie und 14 Reiterregimentern) dahin aufbrach und bei
Pirna an der Straße nach dem Gebirge ein festes Lager bezog. In Schlesien
blieb nur der alte Graf Matthias Thurn mit 5000 Schweden und ein Paar
sächsischen Regimentern an der untern Oder zurück. Dort bei Steiuau (nörd¬
lich Liegnitz) sah er sich am 11. Oktober von Wallenstein mit gewaltiger Ueber-
mncht auf beiden Seiten des Stromes angefallen. Seine Kavallerie zerstob
auf der Stelle vor den imposanten feindlichen Reitermassen von 8000 Pferden,
sein Fußvolk vermochte die Schanzen nicht zu halten, ergab sich mit Sack und
Pack, mit 16 Kanonen, 60 Fahnen, allen Vorräthen dem Sieger; nur die
Oberoffiziere erhielten freien Abzug, und auch den Grafen Thurn, den alten
„Erzketzer und Hauptrebeller", wie man ihn in Wien hieß, die „Fackel dieses un-
glücksel'gen Kriegs", wie ihn Schiller nennt, entließ vertragsmäßig Wallenstein
aus seinem Lager. Der rasche Sieg lieferte ganz Schlesien in seine Hände
— fast unmittelbar nachher kapitnlirten Liegnitz und Glogau —, er öffnete
ihm auch den Weg nach Sachsen und Brandenburg. Crossen und Frankfurt a/O.
fielen, die Kroaten streiften dnrch die Mark bis an die vommer'sche Grenze.
Der Feldherr selbst brach in die Lausitz ein, nahm am 3. November Görlitz
mit Sturm, am 6. Bautzen durch Uebergabe; drohend schickte er sich an gegen
das zitternde Dresden aufzubrechen.
Die Wirkung war eine augenblickliche. Ein flehentliches Schreiben des
geängsteten Kurfürsten, durch Herzog Franz Albert von Lauenburg überbracht,
betheuerte seinen dringenden Wunsch nach Frieden; der Herzog war zu Ver¬
handlungen bevollmächtigt. Nie konnte Friedlciud einen günstigeren Abschluß
erreichen.
Da zertrümmerte ein einziger Schlag seinen Plan. Um den Abfall der
norddeutschen Kurfürsten von dem schwedischen Bündniß zu verhüten, war
Bernhard von Weimar zu einer furchtbaren Diversion gegen die kaiserlichen
Erdtaube aufgebrochen. Unbemerkt von Aldriger und Feria, die ihm in
Schwaben gegenüberstanden, wandte er sich gegen Regensburg, zwang die
Festung durch überwältigenden Angriff zur Uebergabe (15. November), schob
seine Kolonnen unter furchtbaren Verheerungen die Donau abwärts bis dicht
an die österreichische Grenze vor. Unbeschreiblich war der Eindruck des Er¬
eignisses in Wien und München, und ein Eilbote nach dem andern flog nach
dem Norden, um Wallenstein herbeizurufen. Friedland zögerte nicht. Er dürfte
die österreichischen Lande nicht gefährden lassen, ohne sich selbst zu schaden;
auf der Stelle brach er auf, ging über Leitineriz und Rakoniz nach Pilsen;
von dort eilte er mit 4000 Reitern und auserlesenen Fußvolk am 28. November
gegen die bairische Grenze, war zwei Tage später in Furth. Aber der An¬
marsch Weimar's, der darauf brannte sich mit dem gefttrchteten Gegner zu
messen, die strenge Kälte, der Mangel an Lebensmitteln zwangen ihn zum Rück¬
züge; in Pilsen nahm er sein Hauptquartier.
Und hier entwickelte sich nun die entscheidende Krisis, die nach wenigen
Wochen zu blutiger Katastrophe führte. Sie entsprang nicht in erster Linie
aus einem Konflikte Friedland's mit seinem Kaiser, sondern mit der spanischen
Politik.
So tief erschöpft der spanische Staat jener Tage bereits war, so hoch¬
strebend und weltumspannend erscheint doch noch die Politik seines habsburgi-
schen Herrscherhauses, das den Wahlspruch seines Ahnherrn Karl's V. „?1us,
ultra", „mehr, weiter" unentwegt als den seinen festhielt und sich noch als die
führende Macht des Katholizismus ansah. Seit 12 Jahren rangen wieder
spanische Waffen um die Unterwerfung der abtrünnigen Niederlange, des reich¬
sten Landes der Welt, aber da sie als spanischer Besitz die Unabhängigkeit
Frankreich's, wo eben Kardinal Richelieu mit eiserner Hand jeden Widerstand
gegen das absolute Königthum zu Boden drückte, auf's Stärkste gefährdeten,
so unterstützte der Kardinal heimlich und offen die niederländischen Ketzer und
strebte zugleich durch Besitzergreifung des Elsaß den Spaniern die alte Heer¬
straße von ihrem Mailand nach Belgien abzuschneiden, den einzigen Weg, der
ihren Armeen dahin offen stand, seitdem ihre Seeherrschaft gebrochen war.
Eben deshalb wollte Spanien zwar den Frieden im deutschen Reiche, keines¬
wegs aber um den Preis des Verzichts auf das Restitutionsedikt, und nur zu
dem Zwecke, die Kräfte des Reiches in spanischem Interesse gegen Frankreich
zu wenden. Indem Wallenstein den Verzicht erstrebte, den Krieg gegen Frank¬
reich aber verwarf, stieß er in diesen Punkten zunächst mit Spanien feindlich
zusammen. Aber noch mehr. Jenen Einmarsch Ferias zum Schutze des
Elsaß gegen französische Angriffe hatte Friedland nur gestattet, weil der Kaiser
ihn dringend wünschte, doch mit innerem Widerstreben. Und vor Allem:
Spanien begehrte für sich selbst, um jene Rheinstraße fester in der Hand zu
halten, nicht uur das Elsaß, das ihm ein Vertrag von 1617 zugesichert, son¬
dern auch den Besitz der Rheinpfalz, deren Kurfürst Friedrich V., der böh¬
mische „Winterkönig", wie der Spott seiner Feinde ihn nannte, seit 10 Jahren
geächtet in der Fremde saß; eben dies Land aber strebte Wallenstein für sich
selbst zu erwerben, als ein „Rekompens" für das verlorene Mecklenburg, und
er konnte sich dafür auf ein mündliches Versprechen des Kaisers berufen, das
ihm ein Kurfürstenthum in Aussicht gestellt. So waren er und die Spanier
einander geschworne Gegner; allgemeine und persönliche Interessen machten
sie dazu.
Noch mochte der Feldherr deshalb unbesorgt sein. Denn zwar arbeitete
am Wiener Hofe der spanische Gesandte Marquis von Castaneda eifrig gegen
ihn, und der Thronfolger Ferdinand von Ungarn, der Gemahl einer spanischen
Prinzessin, überdies abhängig von seinem spanischen BeichtvaterQuiroga,
war ihm abgeneigt, aber beim Kaiser selbst überwog noch Wallenstein's Ein¬
fluß, den natürliche Dankbarkeit und die Fürsprache Fürst Eggenberg's stützte;
der spanisch gesinnte kaiserliche Beichtvater, der Jesuit Lämmermann, vermochte
in dieser Sache nichts, so sehr er gegen die Friedenspläne Wallenstein's ge¬
stimmt war, denn sie waren den Ketzern nur allzugünstig.
So war es die Aufgabe der spanisch-klerikalen Partei, den Monarchen
gegen der Feldherrn einzunehmen, seine Treue zu verdächtigen, und da der
Kaiser ohnehin von Herzen klerikal und finanziell von Spanien abhängig war,
so schien solche Minirarbeit nicht aussichtslos. In der That, nicht auf dem
Schlachtfelde, sondern auf den- Parquets fürstlicher Salons und in den Ge-
heimkabineteu der Paläste wurden die Kämpfe ausgefochten, in denen Wallen¬
stein unterlag.
Die Umstände begünstigten seine Gegner. Der Fall von Regensburg hatte,
wie natürlich, den Wiener Hof wie ein Donnerschlag getroffen; es wurde dem
neuen spanischen Gesandten Graf Orate, der eben erst nach Wien gekommen war,
nicht schwer, das Unglück wesentlich Wallenstein auf die Rechnung zu setzen
und seinen verspäteten Zug nach der Donau als böswillige Zögerung darzu¬
stellen, was er nicht war. Das erwachende Mißtrauen zu beschwichtigen, dazu
that Wallenstein gar nichts, sehr viel aber, um nicht bloß die Spanier, sondern
auch den Wiener Hof schwer zu reizen. Die kaiserliche Forderung zunächst,
statt im erschöpften Böhmen, in Thüringen und Brandenburg Winterquartiere
zu nehmen, schlug er rund ab, übrigens mit gutem Grunde, denn sie war, wie
die Dinge standen, unausführbar; dem Obersten Suys, welchem in der ersten
Angst der Kaiser direkt befohlen hatte, gegen Bernhard von Weimar vorzu-
gehn, rief er unter Androhung der Todesstrafe zurück. Jetzt kam ihm oben¬
drein, Anfang Januar 1634, durch Pater Quiroga — und Friedland liebte es
gar nicht, politisch-militärische Geschäfte mit Geistlichen zu verhandeln — die
Mittheilung zu, im Frühjahr werde der Kardinalinfant Ferdinand von Mai¬
land her durch Oesterreich nach den Niederlanden sich in Bewegung setzen;
(-000 leichte Reiter der Wallenstein'schen Armee sollten zu ihm stoßen. Ver¬
stieß das Erste gegen die Bedingung seines Dienstvertrags, daß kein selbstän¬
diges Kommando neben dem seinen im Reiche bestehen dürfe, so schwächte das
Zweite sein eignes Heer ohne Nutzen für den Kaiser, schlechterdings nur zu
Gunsten der verhaßte» Spanier. Er sah, ihr Einfluß gewann Terrain in
Wien i eben deshalb wies er beides ab, sprach aber auch davon, sein Kommando
niederlegen zu wollen.
Die Spanier hatten gesiegt in der Hofburg, kaum hätte es noch der ab¬
lehnenden Bescheide des Feldherrn bedurft. Deun schon Mitte Dezember hatte
Graf Orate die kategorische Erklärung abgegeben: sein Herr werde mit dem
Kaiser brechen, ihm jede Hilfe entziehen, wenn derselbe auf Wallenstein's Frie-
denspläue eingehen wolle. Diese Drohung mußte durchschlagen; bezog doch
Ferdinand II. monatlich 50,000 Thaler aus spanischen Kassen; er war ver¬
loren, wenn er die finanzielle Unterstützung Spanien's verlor, denn seit dem
Beginne des Krieges stand er am Rande des Bankerotts. Materiell und
geistig beherrschte die spanische Politik das Kaiserhaus so vollständig wie einst
in Karl's V. Tagen.
Und sie verfolgte dieselben Ziele wie er: Erhöhung der kaiserlichen Ge¬
walt, Niederdrückung, wenn nicht Vernichtung des deutschen Protestantismus,
durch beide Mittel Einfügung Deutschland's in das spanische System. Ein
Anhängsel der spanischen Monarchie sollte es sein, nichts mehr.
Indem Wallenstein sich diesen Plänen widersetzte, indem er den Frieden
Mit den Protestanten wollte' und den spanischen Einfluß in Deutschland be¬
kämpfte, war er mit allen guten Geistern unserer Nation verbündet. Noch
konnte er zu siegen hoffen, am kaiserlichen Hofe seine Feinde aus dem Felde
schlagen, aber nur unter einer Bedingung: er mußte seines Heeres unbedingt
sicher sein.
An der Frage: ob Friedland sich im Kommando behaupten könne, hing
eine welthistorische Entscheidung.
Er war fest entschlossen dazu. Am 12. Januar 1634 versammelte er seiue
Obervffiziere in Pilsen. Durch Feldmarschall Jlow (Illo) ließ er ihnen die kaiser¬
lichen Forderungen und seinen Entschluß zum Rücktritt mittheilen. Die Obersten
erklärten, das dürfe nicht geschehen, sie unterzeichneten alle jenen berufenen
Revers, der sie verpflichtete, bei ihrem Feldherrn auszuharren, damit ihm kein
Schimpf widerführe; sie thaten es in ihrem eigenen Interesse, bei guten Sinnen,
nicht in dem Taumel eiues Rausches; sie empfingen dagegen die feierliche
mündliche Versicherung Wallenstein's: er habe nichts gegen den Kaiser vor,
nur den Frieden mit Sachsen und Brandenburg wolle er auf seine Weise zu
Stande bringen.
Sehr ernstlich ging er jetzt wieder daran. Herstellung des Zustandes von
1618, anch in kirchlicher Beziehung, Abtretung der Lausitzer, der Stiftslande,
Magdeburg und Halberstadt, das war es, was er jetzt wieder in Berlin und
Dresden bot. Aber während man dort trotz Arnim's Drängen jetzt so wenig
wie früher zu einem raschen Entschlüsse zu kommen vermochte, arbeiteten in
Wien die Spanier und Klerikalen um so eifriger. Sie wollten Wallenstein's
Sturz, noch ging der Kaiser nicht so weit. Da kam dem Grafen Orate von
den verschiedensten Seiten, aus Baiern, Savoyen, Böhmen die verhängnißvolle
Meldung: Friedland beabsichtige sich zum König von Böhmen zu machen, die
Macht also des Hauses Habsburg bis in ihre Grundfesten zu erschüttern. In
der That ist von einem solchen Plane mehrfach die Rede gewesen, aber nicht
Wallenstein's Gedanke war das, sondern der der Franzosen und der böhmi¬
schen Emigranten, wie des Grafen Kinsky, der damals mit vielen andern in
Dresden sich aushielt. Auf das erste Anerbieten derart ging der Feldherr gar
nicht näher ein, ja er hat sogar dem Kaiser Andentungen davon gemacht, so
daß die Franzosen die Verhandlungen ganz abbrachen. Erst als die Dinge
zur Entscheidung drängten, im Januar, wurden die Besprechungen wieder auf¬
genommen, doch ohne daß die Erwerbung Böhmen's dabei als Hauptsache er¬
scheint, und zu irgend welchem festen Entschlüsse ist Wallenstein nicht gelangt;
nur als einen äußersten Rückhalt scheint er dies Verhältniß zu Frankreich be¬
trachtet zu haben. Er spielte aber doch mit dem Gedanken des Abfalls: „Die
Freiheit reizte ihn und das Vermögen" und das war sein Verhängniß und
seine Schuld.
Doch so genau kannten die Spanier die Sache nicht, ihnen war die sehr
unsichere Kunde, die sie davon hatten, eben erwünscht, um den letzten entschei¬
denden Druck auf die Entschlüsse des Kaisers zu üben. Er wie Fürst
Eggenberg wich jetzt den spanischen Vorstellungen und den klerikalen Einwir¬
kungen gegen Wallenstein's Friedenspläne, jetzt galt der Feldherr als Verräther.
Aber wie war es möglich, ihm beizukommen, ohne den Gewaltigen zum
offnen Aufruhr zu treiben, eben das also herbeizuführen, was man verhüten
mußte? Im tiefsten Geheimniß geschah der erste Schritt: ein kaiserliches
Patent vom 24. Januar übertrug Gallas das provisorische Kommando, verbot
den Obersten, Wallenstein zu gehorchen, verkündete allgemeine Amnestie Allen,
außer dem Feldherrn und zwei Andern. Doch so gespannt war die Lage, daß
nur unter der Hand Gallas, Piccolomini, Aldringer und andere zuverlässige
Generale davon Gebrauch zu machen wagten, um eine Anzahl Offiziere und
Truppentheile für den Hof zu gewinnen; ein Versuch Piccolominis dagegen,
im Verein mit Gallas den gefährlichen Mann in Pilsen zu verhaften, mußte
aufgegeben werden, weil Friedland der Garnison des Platzes ganz sicher war.
Peinliche Tage vergingen. Noch war kein offner Schritt zum Abfall nach¬
zuweisen, noch offen auch von Wien aus nichts geschehen. Entschlossen aber
ging Wallenstein auf sein Ziel. Aber jetzt dachte er auch daran, sich für den
äußersten Fall einen Rückhalt zu versichern: er sandte den Herzog Franz Albert
von Lauenburg zu Bernhard von Weimar. Er selbst verpflichtete in neuer
Versammlung am 18. und 19. Februar nochmals seine Offiziere zur Treue,
nach alleu Richtungen ergingen seine Befehle, um bis zum 24. seine Regimenter
um Prag zu konzentriren. Hier am Weißen Berge, auf dem Felde der Un¬
glücksschlacht, die Böhmen's Rechte und Religionsfreiheit zertrümmert, wollte
er den Frieden mit Sachsen und Brandenburg proklcimiren, der aus der Gleich¬
berechtigung beider Konfessionen auch in den österreichischen Erbländer, der
Wiederherstellung der böhmischen Emigranten, der Sicherung seiner eignen
Stellung sich auferbauen sollte. Wie wollte der Kaiserhof es wagen, seine
Anerkennung zu weigern, wenn die Armee ihren Feldherrn mit starkem Arme
aufrecht hielt?
Wenn sie es that. Daß Wallenstein fest auf ihre Treue baute, daß er
sie, die er in des Kaisers Namen geworben, auch gegen den Kaiser fortzu¬
reißen meinte, das war der größte Fehler im Exempel des klugen Rechners.
Auf die Nachricht von der beabsichtigten zweiten Versammlung zu Pilsen und
dem Scheitern des Verhaftungsversuchs war in Wien der letzte Schlag be-
schlossen worden: das kaiserliche Patent vom 18. Februar verfügte die sofortige
Entsetzung Wallenstein's, Jlow's, Trvka's*), und wies alle Offiziere an, sie zu
verlassen. Durch offne Erklärung, Wallenstein sei ein Verrüther, schwankend
gemacht, fielen die Prager Regimenter ab, schwuren dem Kaiser anf's Neue die
Treue. Ihrem Beispiele folgten rasch alle Truppen in Böhmen, Mähren,
Schlesien. Im Momente der Entscheidung versagte dem Feldherrn sein Heer.
Es ging zu Ende.
Am 21. Februar war es, da meldete in Pilsen Oberst Sparr, daß Prag
verloren sei. Der Eindruck war tief und niederschmetternd. In wildem Zorne
brauste Graf Tröka auf, stumm blickten Jlow und Kinsky zu Boden. Nur
Wallenstein verlor seine Haltung uicht. „Ich hatte den Frieden in meiner
Hand", sagte er dem Oberst Beck; er verbarg sich nicht, daß er verspielt habe.
Doch sein persönliches Interesse gab er keineswegs verloren. Noch verfügte er
über mehrere Tausend Mann, Pilsen, Eger, Ellenbogen hielt er in seiner Hand,
er war kein verächtlicher Bundesgenosse, wenn er jetzt, um sich selbst zu retten,
den Schweden sich in die Arme warf. Und das wollte er. Ein Schreiben
nach dem andern, immer eiliger, immer dringender — dreizehn Kuriere flogen
in diesen drangvollen Tagen zwischen Pilsen und Regensburg hin und her —
sandte Jlow nach Regensburg an Herzog Bernhard, er möge auf Eger mar-
schiren zur Vereinigung mit dem Feldherrn. Zögernd, mißtrauisch setzte sich
der Herzog in Marsch, noch meinte er einen Betrug, ein „Schelmstück des Un¬
ergründlichen befürchten zu müssen.
Nach Eger wollte auch Wallenstein gehen, denn schon drängten kaiserliche
Truppen heran. Dort war er den Schweden und Sachsen nahe, die Festung
war stark, die Kommandanten schienen, weil protestantisch, zuverlässig, die
Bürgerschaft, mit Gewalt erst vor Kurzem zum Uebertritt zum Katholizismus
gezwungen, dem Kaiser abgeneigt. So brach Wallenstein am Vormittage des
22. Februar mit etwa 2000 Mann von Pilsen auf, selbst verstimmt und leidend;
in einer Sänfte machte er den Weg. Unterwegs bei Mich, wo er nächtigte,
zwang er das irische Dragonerregiment des Obersten Butter, das auf seinen Be¬
fehl nach Prag marschiren wollte, sich ihm anzuschließen; er ahnte nicht, daß
es sein Henker war, den er da mit sich führte. Am Nachmittage des 24. zog
er in Eger ein, nahm sein Quartier in dem stattlichen Hanse des verstorbenen
Raihsherm Alexander Pachhälbel am großen Ringe, im Nebenhause Jlow und
TrÄ'a mit ihren Frauen. Butler's Dragoner, denen man nicht traute, lagerten
vor den Thoren, nur der Oberst mit den Fahnen in der Stadt, mehr als Geißel,
denn als Bundesgenosse.
Noch am Abend ließ Friedland den Oberstwachtmeister Leßley, den Oberst¬
leutnant Gordon und Butter rufen und theilte ihnen seine Absichten mit.
Die gewissenhaften schottischen Kalvinisten schwankten: ihr Eid band sie an
den Kaiser, ihre religiösen Sympathien drängten sie zu Wallenstein. Sie ver¬
hehlten ihre Bedenken nicht, erklärten noch am 25. früh dem Feldmarschall
Jlow offen ihren Standpunkt. Es war nicht möglich, eine bestimmte Zusiche-
rung ihnen zu entlocken.
Da, als sie schwankten zwischen ihrer Eidespflicht und ihrer Sympathie,
trat die finstere Gestalt des Obersten Butter an sie heran. Ans vornehmem
irischen Geschlecht entsprossen, eifrig katholisch und obwohl ein Fremder ent¬
schieden kaiserlich gesinnt, hatte er zwar Wallenstein's Achtung, nie aber sein
Vertrauen genossen. Als er sich ihm unterwegs anschloß, geschah es mit dem
Vorsatz, ihn, nunmehr den gefährlichsten Feind des Hauses Habsburg, unschäd¬
lich zu machen, so oder so; ob er dazu eine direkte Aufforderung von Piccolo-
mini*) oder vom Hofe erhalten, ist gleichgiltig, jedenfalls war er gewiß, im Interesse
des Kaisers und im Sinne der katholisch-spanischen Partei zu handeln. Auf's
Lebhafteste stellte er den beiden Schotten die Gefahren der Lage vor Angen
und mußte doch auch betonen, Wallenstein zu verhaften sei bei der Stärke
seiner Truppen und den Gesinnungen der Bürgerschaft ganz unmöglich. In
finsteres Sinnen verloren stand Leßley, stumm, unentschlossen Gordon, lauernd
beobachtete sie Butter. Da bricht das rathlose Schweigen Leßley mit dem
Rufe: „Laßt uns sie tödten, die Verräther." Eifrig stimmte Butter bei
— ihm nahm der Schotte das Wort vom Munde — zögernd gab Gordon
nach. Die furchtbare That ward beschlossen.
Die Verhältnisse lagen günstig. Arglos hatten sich Wallenstein's Ver¬
traute, Jlow, Tröka, Kinsky und Neumann, ihr Geheimsekretär, für den Abend
bei Gordon zu Gaste geladen — es war die Zeit fröhlicher Fastnachts-
fchmäuse —; an seiner eignen Tafel auf der Burg, die auf steilem Felsen hoch
über dem Egerflusse ragt, wollte Gordon feine Gäste ermorden lassen. Es
war in den ersten Abendstunden, als sie dort in einem Erker des großen
Rnudbogensaales im alten Pallas Friedrich Barbarossa's sich zu Tische setzten.
Noch genossen sie eine Stunde heiteren Muthes; ihre Gedanken flogen weit
voraus in eine glänzende Zukunft, sie brachten Trinksprüche auf Wallenstein
und seine Pläne, auf Bernhard von Weimar, den nunmehrigen Bundesgenossen.
Da wurden gegen 9 Uhr Leßley die Schlüssel des Burgthores überbracht, es
war das verabredete Signal. Die Seitenthüren des Saales fliegen auf, Dra¬
goner Butler's dringen herein, den blanken Stoßdegen in der Faust. Jäh gellt
ihr Ruf: „Viva Kaiser Ferdinando!" den überraschten Gästen an das Ohr.
Sie greifen nach dem Degen, aber noch ehe sie zum Widerstande fertig sind,
fallen sie bereits unter den Streichen der Iren. Nur Tröka reißt die Waffe
von der Wand, wie ein Verzweifelter fechtend sinkt auch er. Den Rittmeister
Neumann, der bis auf den Hof entkommen, streckt dort ein Schuß der Wache
zu Boden. In wenigen gräßlichen Minuten ist Alles vorüber.
Die Getreuen lagen in ihrem Blute, noch blieb ihr Führer. Leßley eilt
uach der Hauptwache, um die Leute dort zu unterrichten und für den Kaiser
in Pflicht zu nehmen, Butter's Dragoner besetzen die Straßen. Der Sturm,
der heulend und rasselnd um Giebel und Schornsteine durch die schwarze Nacht
einherfährt, verschlingt jedes Waffengeräusch. Noch einmal haben da im letzten
Augenblick die Verschwornen Rath gehalten, ob sie Wallenstein nicht schonen,
ihn nur gefangen nehmen sollten, aber die Nähe der Schweden, die Stimmung
seiner eignen noch ahnungslosen Truppen machten jeden milderen Ausweg un¬
möglich, man schritt zur That. Major Geraldin und Butter besetzten die Zu¬
gänge des Hauses am Markte, dann stieg Hauptmann Deveroux mit sechs
Dragonern die große Treppe hinauf zum ersten Stock. Eben hat der Kammer¬
diener dem Feldherrn den Schlaftrunk gebracht, als er zurückkehrend auf dem
Flur den Bewaffneten begegnet. Ein rascher Stoß macht ihn stumm, die Thür
zum Vorzimmer wird gesprengt, die Mörder dringen ein.--
Wallenstein war aufgesprungen, wahrscheinlich beunruhigt durch das
Jammergeschrei aus dem Nebenhause, wo eben die Gräfinnen Tröka und Kinsky
das Ende ihrer Männer beklagten, er stand am Fenster; da sah er Deveroux
vor sich, die Hellebarde gefällt. „Schelm und Verräther, Du mußt sterben!"
schreit ihm der entgegen. Da breitet der Feldherr die Arme weit aus und
ohne einen Laut empfängt er den tödtlichen Stoß der Partisane mitten in die
Brust. Er starb als Soldat und als Fatalist; ohne den leisesten Versuch zu
hoffnungsloser Gegenwehr ergab er sich in sein Schicksal.
So fiel der gewaltige Kriegsfürst, der acht Jahre hindurch die Welt mit dem
Rufe seiner Thaten und Entwürfe gefüllt, der zweimal dem Kaiser ein Heer
geschenkt, der allein den Siegeslauf Gustav Adolf's gehemmt hatte, durch den
Stahl seiner eignen Soldaten. Der kaiserliche Hof erkannte den Mord, den
er nicht befohlen, als eine berechtigte Exekution an, er belohnte reichlich die
Mörder, er zog Wallenstein's Güter ein als eines Verräthers. Und doch, wer
heute das ragende Friedland sieht, das ihm den Namen gegeben, oder das
vielthürmige Prag, in dem er sich seinen marmorschimmeruden Palast zu könig¬
licher Hofhaltung erbaute, oder endlich das düstre Eger, um das noch sein
blutiger Schatten schwebt, und das geweiht ist als der Schauplatz der größten
historischen Tragödie unserer Literatur, der mag immer darau denken: Wallen¬
stein fiel vor Allem deshalb, weil er einen ehrlichen Frieden wollte, der nicht
auf der Vernichtung der einen, sondern ans der Versöhnung beider Parteien
beruhte; erst als seine Gegner ihn dazu machten, ward er zum Verräther.
Der günstige Erfolg, den die erste von der königlichen Akademie der Künste
in dem provisorischen Gebäude auf der Spitze der Museumsinsel veranstaltete
Kunstausstellung im Jahre 1876 gefunden, hat bekanntlich zu dem Beschluß
geführt, die Ausstellungen unter dem Protektorate der Akademie fortan all¬
jährlich stattfinden zu lassen, während diese Ausstellungen bisher nur alle zwei
Jahre veranstaltet worden waren. Dieser Beschluß wurde fast allseitig mit
Freuden begrüßt. Man wies darauf hin, daß Berlin, nachdem es die Haupt¬
stadt des deutschen Reiches geworden, auch die Führerin ans dem lange ver-
nachlässigen Gebiete der Kunst werden müsse. Die Staatsregierung hatte die
ersten Schritte bereits mit einer Reorganisation der vollständig verzopften
Kunstakademie gethan. Das lange verwaiste Institut hatte in A. v. Werner
einen thatkräftigen Leiter erhalten, und in Krams, Gussow, Knille, Hertel,
Michael, Thumann, F. Meyerheim, F. Schayer u. a. war eine Anzahl tüch¬
tiger Lehrer gewonnen worden, deren gemeinsame Wirksamkeit die ersprießlichsten
Resultate hoffen ließ. Es waren ferner die Mittel für ein vor der Hand provi¬
forisches Kunstausstelluugsgebäude bewilligt worden, nachdem die beschränkten,
lichtlosen Räume in der alten Akademie schon längst das öffentliche Aergerniß
erregt hatten. Der jetzige Baurath Orth hatte, im Vertrauen darauf, daß das
Provisorium nicht länger als acht bis zehn Jahre andauern würde, in kurzer
Zeit einen äußerlich ganz schmucklosen, aber den Bedürfnissen vollkommen ent¬
sprechenden Fachwerksbau errichtet, der zum größten Theil auf Pfählen steht,
welche in die Spree eingerammt worden sind. Weshalb der Architekt sich zu
einem solchen „Pfahlbau" entschloß, hat seinen Grund darin, daß er das dis¬
ponible Terrain auf der Museumsinsel für den definitiven Bau, zu welchem
er bereits die großartigsten Pläne entworfen, frei halten wollte. Die Aussicht
ans eine Ausführung dieser Pläne, denen der Gedanke einer Verbindung der
Gemäldegalerie, der Kunstakademie und des Kunstausstellungsgebäudes zu einem
imposanten, terrassenartig sich erhebenden Bau zu Grunde liegt, ist jetzt mehr
als jemals in die Ferne gerückt, seitdem ganz andere und ernstere Sorgen die
Staatsregierung beschäftigen. Baurath Orth hat in dem provisorischen Ans-
stellungsgebäude zugleich die Beleuchtungsprinzipien durchgeführt, zu welchen
er auf Grund eingehender Studien in den wichtigsten Galerien Europa's ge¬
langt war und die sich seither, abgesehen von einigen geringen, noch nothwen¬
digen Modifikationen, als praktisch erwiesen haben. Diese Modifikationen be¬
stehen vorzugsweise darin, daß das allzu stark eindringende Licht durch horizontal
aufgehängte Velarien gedämpft werden muß, wie es in den Kunstabtheilungen
der Pariser Weltausstellung durchweg geschehen ist. Wenn früher über allzu
große Dunkelheit der Ausstellungsräume geklagt wurde, so klagt man jetzt über
ein zu scharfes, kaltes, gleichmäßiges Licht.
Die Auspizien, unter welchen die erste Ausstellung in diesem Gebäude er¬
öffnet wurde, waren also ungemein günstig, und die Stimmen der wenigen,
die sich gegen eine alljährliche Wiederholung der Ausstellungen erhoben hatten,
wurden durch den allgemeinen Jubel übertönt. Die letzteren hatten geltend
gemacht, daß Berlin bei weitem noch nicht der Mittelpunkt des geistigen Lebens
in Deutschland sei, daß andere Städte wie München und Düsseldorf ein viel
reicher entwickeltes Kunstleben und ein viel lebendigeres Kunstinteresse besäßen
als Berlin, daß die deutsche Kunst nicht genng Produktionskraft besäße, um
wie die französische alljährlich einen „Salon" mit neuen Werken zu füllen.
Auch wurde darauf hingewiesen, daß unter den Jahresansstellmigen die einzige
permanente Kunstausstellung, die noch in Berlin ihr dürftiges Dasein fristet,
die des Künstlervereins, erhebliche Einbuße erleiden würde. Diese letztere Be¬
fürchtung hat sich vollinhaltlich bestätigt. In den letzten zwei Jahren hat die
Ausstellung des Künstlervereius mit Ausnahme einiger Gemälde von Makart
und Gabriel Max, die von spekulativen Kunsthändlern aufgekauft waren und
für ein besonderes Eintrittsgeld gezeigt wurden, kaum ein einziges Bild von
hervorragender Bedeutung aufzuweisen gehabt. Ein jeder Maler oder Bild¬
hauer spart eben den Trumpf, den er für den besten hält, für die große aka¬
demische Ausstellung auf, und die des Künstlervereins muß sich mit dem Abfall
begnügen.
Aber auch im übrigen haben die Besonnenen, welche den Hinweis auf
Paris, welches alljährlich einen glänzenden Salon eröffnet, nicht für zutreffend
erachten konnten, Recht gehabt. Frankreich besitzt laut offiziellen Nachweises
5000 Künstler, von denen mindestens 2000 den jährlichen Salon beschicken. Für
Deutschland existirt zwar kein derartiger offizieller Nachweis; aber man wird nicht
weit von der Wahrheit abirren, wenn man die Zahl der in Deutschland thätigen
Maler und Bildhauer auf 2000 veranschlägt. Von diesen 2000 pflegen sich
aber — das beweisen die Kataloge der letzten zehn Jahre — nie mehr als
5 - L00 an den akademischen Ausstellungen in Berlin zu betheiligen, und zwar
erscheinen fast immer dieselben Namen. Es liegt auf der Hand, daß diese
Zahl nicht ausreicht, um die Berliner Ausstellung auf demselben hohen Niveau
zu erhalten, auf dem wir sie früher, als sie sich nur alle zwei Jahre wieder¬
holte und die in diesem Zeitraum geschaffenen Kunstwerke sammeln konnte, zu
sehen gewohnt waren. Diejenige Zahl, die erforderlich ist, um die zweiund¬
zwanzig Süle und Galerien des Ausstellungsgebäudes zu füllen, d. h. etwa
tausend Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen u. s. w. wird sich ja immer zu¬
sammenbringen lassen, besonders wenn die Jury, welche über die Aufnahme
der eingesandten Kunstwerke zu entscheiden hat, fortfährt, so nachsichtig zu sein,
wie sie es in diesem Jahre gewesen.
Es kommen noch einige besondere Umstände hinzu, welche ans die diesjährige
Kunstausstellung nachtheilig wirkten. In erster Linie die Pariser Weltaus¬
stellung. Sie nahm nicht blos einige ausländische Künstler, welche den
Berliner Salon fast regelmüßig beschickten, derartig in Anspruch, daß sie für
Berlin gar nicht oder doch nur unbedeutende Sachen übrig hatten, sondern sie
absorbirte auch einige unserer hervorragendsten deutschen Künstler, deren Mit¬
wirkung unserer Kunstausstellung charakteristische Züge ihrer gewöhnlichen
Physiognomie zu verleihen pflegte. So sind die Belgier, die Italiener und
Oesterreicher fast ganz zurückgeblieben. Nur Alma-Tadema ist erschienen, aber
mit einem Bilde, das nicht geeignet ist, seinen Ruf zu erhöhen. Von namhaften
deutschen Künstlern vermissen wir vor allen übrigen Kraus, der seine neuesten
Bilder, einen Trödler, der seinen jungen Sohn in die Mysterien des höheren
Kleiderhandels einweiht und das dazu gehörige Pendant, wie der Jüngling das
erste verdiente Markstück pfiffig schmunzelnd in sein schmutziges Portemonnaie
steckt, nach Paris geschickt hat, dann A. v. Werner, den einerseits das Arrange¬
ment des deutschen Salons in Paris, andrerseits die Vorarbeiten zu dem ihm
vom Berliner Magistrate aufgetragenen großen Gruppenbilde des Kongresses
in Anspruch genommen hatten, ferner Kuille, den phantasievollen Schöpfer des
Tannhäuserbildes in der Nationalgalerie, Gussow, den kühnen bahnbrechenden
Realisten, den phantastischen Böcklin und verschiedene andere, denen ein her¬
vorragender Antheil an dem Erfolge gebührt, welchen die deutsche Kunst in
Paris erzielt.
Auch die Noth der Zeit, die von Jahr zu Jahr schwerer auf unserer Kunst
lastet, mag ihre Schuld daran tragen, daß die diesjährige Ausstellung so er¬
heblich hinter ihren Vorgängerinnen zurück geblieben ist. Sie hat besonders
auf die Malerei großen Stils, auf die Historienmalerei gewirkt, die gerade in
diesem Jahre so dürftig vertreten ist wie nie zuvor. In Frankreich riskiren
die Maler auch in schlechten Zeiten ein Bild, das einen großen Zeit- und Geld¬
aufwand erfordert, weil die Aussicht eiues Verkaufs ohne jeden Vergleich größer
ist als in Deutschland, da dort der Staat planmäßig die Malerei großen Stils
durch Ankäufe für die Museen der Hauptstadt und der Provinzen unterstützt.
In Deutschland, speziell in Berlin, glaubt man genug gethan zu haben, wenn
man alle Jahre einem werdenden Künstler einen Staatspreis für einen zwei¬
jährigen Aufenthalt in Italien zuwendet. Was später aus ihm wird, darum
kümmert sich der Staat uicht im geringsten. Belohnungen und Ankäufe „zur
Ermuthigung", die in Frankreich zu den stehenden Institutionen gehören, kennt
Man in Deutschland nicht.
Wenn man die zweiundzwanzig Säle und Galerien des Knnstausstellungs-
gebäudes durchwandert hat, glaubt man nichts weiter gesehen zu haben als
Porträts und zwar überwiegend schlechte, Landschaften und Genrebilder. Und
in der That haben diese drei Spezies der Malerei numerisch ein so starkes
Uebergewicht, daß das Dutzend Historienbilder, das herauskommt, wenn man
den Begriff des Historienbildes ziemlich weit zieht und historisches Genre mit
hineinrechnet, neben den 112 Porträts, den 330 Landschaften und den 270
Genrebildern gar nicht zur Geltung gelangt. Was noch fehlt, um die Summe
von 836 Gemälden voll zu machen, vertheilt sich auf das Stillleben (41), das
Thierstück (18), das Architekturbild (14) und das mythologische Genre (10).
Daß das Stillleben, eine Gattung ziemlich untergeordneter Art, in solchen Massen
auftritt, ist auch ein Zeichen der Zeit. Es dokumentirt einerseits die an die Maler
dringender als jemals herantretende Nothwendigkeit, Gebiete zu kultiviren, die einen
leidlichen Absatz auf dem gewöhnlichen Kunstmarkt ermöglichen, andrerseits das
Ueberwuchern des Dilettantismus, der sich von jeher mit besonderer Vorliebe
der Blumen des Feldes und der Früchte des Südens anzunehmen pflegte.
An sich ist das kein großes Unglück für die Kunst. Solche Schlingpflanzen
haben sich immer am stolzen Stamme der deutschen Kunst eingefunden. Be¬
denklicher wird erst die Sache, wenn der Dilettantismus auch, wie es leider
in diesem Jahre sichtbar geworden ist, Invasionen in höhere Gebiete, besonders
in das der Porträtmalerei, macht. Unter solchen Umstünden bietet die akade¬
mische Kunstausstellung in diesem Jahre ein wenig erquickliches Bild: auf der
einen Seite der Dilettantismus, der sein Haupt immer höher erhebt, auf der
andern Seite die sich spreizende Unfähigkeit, das gedankenlose Streberthum,
das von allerlei Protektion getragen und großgezogen, sich herausnimmt, mit
riesigen Strecken bemalter Leinwand zu Paradiren, nur in der Absicht, ein ur¬
theilsloses Publikum zu verblüffen.
Wie anders würde sich die diesjährige Kunstausstellung ausgenommen
haben, wenn sich die Jury entschlossen hätte, mit resoluter Hand alles, was
sich in der breiten Gasse der Mittelmäßigkeit und noch weiter abseits bewegt,
auszumerzen. Es ist wahr: drei- bis vierhundert Bilder wären dann dem
Urtheilsspruch der Jury zum Opfer gefallen. Aber der Genuß an dem Uebrigen
wäre dann wesentlich erhöht und mancher unheilvolle Irrthum in dem Herzen
eines strebenden Kunstjttngers hätte durch die Ehre der akademischen Ausstellung
keine neue Nahrung erhalten.
Pekuniäre Interessen konnten dabei nicht in die Wagschaale fallen. Denn
daß die Menge noch nicht durch die Masse angezogen wird, beweist die einfache
Thatsache, daß die Ausstellung im Jahre 1876, dem ersten in dem neuen Ge¬
bäude, von 120,462 Personen besucht war, während sich die Frequenz im
folgenden Jahre nur auf 92,771 Personen belief, also eine Abnahme um ein
Dritttheil zeigte.
Bevor wir auf eine nähere Besprechung der bedeutendsten Werke eingehen,
bemerken wir noch, daß von den ca. 500 Künstlern, die sich an der Ausstellung
betheiligt haben, 195 auf Berlin, 104 auf Düsseldorf, 54 auf München, 26
aus Weimar, 17 auf Dresden, 17 auf Karlsruhe, 14 auf Königsberg, 7 auf
Rom, 6 auf London und 6 auf Wien kommen. Die übrigen vertheilen sich
auf die Städte Stuttgart, Amsterdam, Frankfurt a. M, Breslau, Hamburg
u. c>. in. —
Daß die meisten unserer Maler, auch diejenigen, die sonst auf diesem Ge-
biete obenanstanden, in diesem Jahre als Porträtisten keine Ehre eingelegt
haben, liegt zum großen Theile an dem, der sie alle meistert, an Gustav
Richter. Er ist mit einer so außergewöhnlichen Leistung ans den Schauplatz
getreten, daß uicht blos alle übrigen Porträts neben dem seinigen verbleichen,
sondern daß anch seine eigenen früheren Schöpfungen, selbst das glänzende
Bildniß der Fürstin Carolath, das gegenwärtig in der deutschen Abtheilung
auf dem Marsfelde glänzt, dnrch diese neue in den Schatten gestellt werden.
Es ist ein Bildniß der Gräfin Karolyi, der Gattin des österreichischen Bot¬
schafters am Berliner Hofe. Die Dame, eine der gefeiertsten Schönheiten der
Berliner Salons, ist ungefähr bis zu den Knieen dargestellt. Sie trägt ein
dunkelgrünes Seidenkleid mit einem gleichfarbigen lleberwurf von gepreßtem
Sammet. Der herzförmige Ausschnitt des Ueberwurfs ist mit breiten weißen
Spitzen garnirt, welche die Brust und einen Theil der Schultern bedecken.
An der linken Schulter ist eine halb erblühte Rose befestigt. Sie stützt den
schönen Kopf etwas nachdenklich mit der unbehandschuhten Linken leicht auf
einen mit braunem, gepreßtem Leder überzogenen Sessel, dessen steife, alterthüm¬
liche Form mit der schlanken, graziösen Gestalt der Gräfin pikant kontrastirt.
Auf der Lehne des Sessels liegt ein rother Sammetpelz auf, den die Gräfin
mit dem Ellenbogen festhält. Das andere Ende des Pelzes, das um den
Rücken geschlagen ist, hat sie mit der Linken gefaßt, die mit einem feinen grauen
Handschuh bekleidet ist. Den Kopf bedeckt ein schwarzer, breitkrämpiger Hut
mit einer großen weißen Feder, unter welchem das leicht gekräuselte, hellbraune
Haar auf die Stirn herabfällt. Die Gestalt hebt sich in vollkommen plastischer
Rundung von einem dunkelgrauen, ungemein fein abgetöntem Hintergrunde ab.
Das Arrangement des Bildes ist vielleicht zu gesucht; man merkt eben, daß es
arrangirt ist. Aber das Auge des Beschauers wird durch die Nebendinge, so
wunderbar sie auch, besonders der scnumetne Ueberwurf mit seinen eingepreßten
Blumen, gemalt sind, von dem herrlichen Kopfe nicht abgelenkt. Das Antlitz
ist mit einer unvergleichlichen Zartheit modellirt und mit einem goldigen
Glänze übergössen, der sich mit dem Rosenroth der Wangen zu einer bezaubernden
Wirkung vermählt.
Gustav Richter ist bisher in der glücklichen Lage gewesen, nur schöne
Frauen, charakteristische oder geistig bedeutende Männerköpfe und hübsche
Kinder zu malen. Es mag sein, daß ihm von dieser nur dem Kultus der
Schönheit gewidmeten Thätigkeit eine leichte Neigung zum Jdealisiren zu eigen
geworden ist. Aber dieser Neigung opfert er nur unwesentliche Züge, die nicht
bestimmend für den Charakter der darzustellenden Persönlichkeiten sind. Vor
seinen Bildern hat man dasselbe Gefühl wie vor den Portals eines Holbein,
eines van Dyk: man möchte darauf schwören, daß sie ähnlich sind, auch wenn
man die Originale nicht kennt, weil man in den klar und offen dargelegten
Zügen wie in einem aufgeschlagenen Buche zu lesen glaubt und den Charakter
des Urbilds mit leichter Mühe erkennt. Die vornehme Einfachheit seines
malerischen Vortrags streift nie an die süßliche Eleganz unserer Modemaler.
Die Form bleibt ihm immer die Hauptsache; sie geht ihm niemals unter pikanten,
malerischen Effekten verloren.
Von derselben charakteristischen und auf den ersten Blick überzeugender
Wahrheit ist auch ein Brustbild des Kaisers, das Richter im vorigen Jahre nach
der Natur gemalt hat. Es stellt den Monarchen im Hauskleide dar, d. h.
soweit von einem solchen bei Kaiser Wilhelm die Rede ist. Der Uniformrock
ist aufgeknöpft, sodaß die weiße Weste, die der Kaiser stets zu tragen pflegt,
in ihrer ganzen Breite und darüber das blaue, um den Hals gezogene Band
des Ordens xour 1s müriw sichtbar wird. Alle jene Charaktereigenschaften,
die wir an dem Kaiser verehren, seine gewinnende Herzensgüte, sein milder
Ernst, seine vertrauende Offenheit, vereinigen sich hier zu einem Gescunmtbilde,
dem trotz des legeren Kostüms das Jmponirende, Ritterliche nicht fehlt.
Keinem der andern Maler, die in diesem Jahre ein Bild des Kaisers auf
die Ausstellung schickten, ist es gelungen, diese nicht leichte Aufgabe, an der
schon Männer wie Lenbach und v. Angeli vollständig gescheitert sind, in ähn¬
licher Weise zu lösen wie es Gustav Richter geglückt ist. Freilich war es nur
einem von ihnen, dem Frankfurter Donner, vergönnt gewesen, eine Sitzung von
dem Kaiser bewilligt zu erhalten. Aber dieser eine, der den Monarchen in Zivil
dargestellt hat, wie er sich im Badeaufenthalt zu bewegen pflegt, besitzt nicht die
malerische Kraft, um ein irgendwie bemerkenswerthes Bild zu schaffen. Am
nächsten kommt dem Richter'schen Porträt noch Konrad Freyberg, der wenig¬
stens die Persönlichkeit des Kaisers in großen Zügen so wiedergegeben hat, daß
man den Eindruck des Lebens gewinnt. Durch das Bestreben jedoch, seinem
Porträt einen historischen Hintergrund zu geben — man sieht darin eine der
auf das belagerte Paris gerichteten Batterien — hat der Künstler die gute
Wirkung seines Bildes zum Theil wieder aufgehoben. Ihm fehlte nämlich die
Fähigkeit, den Hintergrund so weit zu vertiefen und so groß zu gestalten, daß
die lebensgroße Gestalt des Kaisers in ein richtiges Verhältniß zu seiner Um¬
gebung tritt. Jetzt erscheint der Hintergrund wie ein gemaltes Panorama,
vor welches die Figur eines Riesen getreten ist. Freyberg ist ein geschickter
und scharf charakterisirender Kleinmaler in der Weise eines Terburg, Metzü oder
richtiger eines Wouverman, der ein ebenso passionirter Sportsmen war wie
Freyberg. Denn der moderne Maler porträtirt mit Vorliebe die glänzenden,
ritterlichen Gestalten der Offiziere unseres Gardekorps mit ihren edlen Rossen,
bald in Einzelbildnissen, bald in größeren Gruppen, die er geschickt und lebendig
zu arrangiren weiß. So sehen wir auf der jetzigen Ausstellung ein Reiter-
Porträt des Grafen Lehndorff, des Generaladjutanten des Kaisers, und eine
Gruppe von Offizieren der Gardes-du-korps. Auf die kleinen Köpfe der
Porträtirten hat der Maler großen Fleiß verwendet, ohne in ängstliche Glätte
zu verfallen. Die koloristischen Schwierigkeiten, welche ihm eine Reihe gleich¬
artiger Uniformen verursuchten, hat er glücklich überwunden, und in der charakte¬
ristischen Darstellung der Pferde, welche nur das feine Auge des Sportsman
zu würdigen weiß, rivalisirt er erfolgreich mit Karl Steffeck, unserm Pferde¬
maler xar sxoollkiies, der in diesem Jahre ein Reiterporträt des Feldmarschalls
v. Manteuffel und ein paar Zigeunerknaben ausgestellt hat, die auf derben Klep¬
pern, ohne Sattel und Zaum, durch ein Gehölz galoppiren.
Während sonst Gustav Graef als Maler weiblicher Schönheiten Richter
am nächsten kam, hat ihm jetzt Fritz Paulsen den Rang abgelaufen. Das
Porträt einer jungen Frau in meergrüner Robe von der Hand dieses Malers,
der sich schon frühzeitig durch glücklich erfundene fein humoristische Genrebilder
bekannt gemacht, zeichnet sich ebensowohl durch eine vornehme, schlichte Auf¬
fassung wie durch geistige Belebung ans, während das Bildniß einer jungen
Dame in hellblauem Seidenkleide von Graef kaum mehr als eine rosig ange¬
hauchte Wachsmaske ist. Glücklicher ist diesmal Graef in dem Porträt eines
Herrn in den mittleren Jahren gewesen. Hier frappirt uns wieder die einfache,
charaktervolle Weise der alten Porträtmaler, die das Auge des Beschauers von
den Nebendingen immer wieder ans den Kopf zu lenken wußten und mit un¬
bestechlicher Treue, oft sarkastisch genug die Fäden des Charakters und der
Seele im Angesichte bloß legten. Man werfe nicht ein, daß der Maler kein
seelisches Leben ausdrücken könne, wo kein solches vorhanden sei. Man denke
nur an die kostbare Galerie feister, bornirter Mönche, welche der alte Holbein
einst im Se. Mrichskloster zu Augsburg mit flüchtigen Strichen konterfeit hat
und die nach vierhundert Jahren noch in unmittelbarer Lebendigkeit zu uns
sprechen. Heute hat freilich ein Modemaler genug mit der Bewältigung der
Atlasroben, Spitzen und Brillanten zu thun, auf deren Reproduktion im Grunde
von den Auftraggebern mehr gesehen wird, als auf eine richtige Zeichnung der
Hände und Arme und auf eine charakteristische Wiedergabe der Gesichtszüge.
Ich habe seit zehn Jahren noch auf keiner akademischen Ausstellung so viele
schlecht gezeichneten Hände und Arme gesehen wie auf der diesjährigen. Das
Studium des Nackten scheint vollends einseitigen koloristischen Bestrebungen
gegenüber an den Nagel gehängt worden zu sein. Wenn ich noch die tüchtig
gezeichneten und lebendig aufgefaßten Bildnisse zweier Knaben von Ziegler
und die Porträts zweier Damen von Schrödl erwähne, welche der Maler
a 1a David in ein griechisches Kostüm gesteckt und griechisch frisirt hat, die
aber in ihrer schon stark an Hautgout streifenden Pikanterie ganz modern sind,
so ist die Liste der nennenswerthen Porträts geschlossen. Man sieht, die Aus--
heute ist karg: von hundertzwölf Bildnissen bleibt kaum ein Dutzend übrig, das
eine ernsthafte Beachtung verdient.
Um seiner bestechenden Technik willen wäre auch noch das Porträt einer
alten Dame von dem ganz ans dem linken Flügel der Realisten stehenden
Alexander Struys zu nennen, wenn der Maler nicht in der Behandlung der
welken Hände, die wie aus Seife geformt erscheinen, in jenen widerlichen
Naturalismus verfallen wäre, der schon manches seiner Werke unerträglich ge¬
macht hat. Der Maler ist aus der Antwerpener Malerschule hervorgegangen
und in jener krassen realistischen Richtung thätig, die ihre Elemente zum Theil
aus den letzten Werken des Franz Hals, zum Theil aus dem eigensinnigen
Franzosen Courbet gezogen hat. Struys, der jetzt in Weimar als Lehrer an
der Kunstschule thätig ist, bringt zu diesen Elementen persönlich noch eine emi¬
nente Kraft der Charakteristik mit; wenn es ihm gelingt, die Grenze nicht zu
überschreiten, welche die Wahrheit von der Karrikatur trennt, weiß er packende
Wirkungen zu erzielen. Ein solcher günstiger Stern hat ihm in diesem Jahre
noch bei einem zweiten Bilde geleuchtet.
Kaum ein anderes Bild der gegenwärtigen Kunstausstellung ist so zeitge¬
mäß wie die soziale Tragödie, die sich auf dem seinigen zwischen zwei Personen
einerseits und der bitteren Nothwendigkeit andererseits abspielt. Vor dem Schau¬
fenster eines Schlächterladens steht ein altes Mütterchen in abgetragenen Klei¬
dern, das mit zitternden, ruuzligen Händen Kupferpfennige zählt. Das alters¬
schwache Haupt ist tief auf die Brust herabgebeugt; man kann ihre Augen
nicht sehen, aber man fühlt es: diese Augen haben durch zahllose Thränen,
welche Kummer und Noth ihnen abgepreßt, längst ihren Glanz verloren. Denn
an der Schürze der Alten hält sich krampfhaft die kleine Enkelin fest, die ihre
stieren Blicke instinktmäßig verlangend auf die appetitliche Waare heftet, auf
das strotzende Rindfleisch und die leckeren Würste, die verführerisch hinter den
Scheiben winken. Aus den hohlen Wangen, aus den eingefallenen glanzlosen
Augen, aus den blauen Lippen, aus jeder Falte des armseligen Kleides guckt
das Elend und der Hunger. Mit einer überzeugenden Wahrheit, einer flam¬
menden Beredtsamkeit, gegen welche alle Flugschriften und Hetzartikel der Sozial¬
demokraten wie Spreu im Winde verwehen, hat der Maler hier eine der Nacht¬
seiten der modernen Gesellschaft aufgedeckt und eine bittere Anklage gegen sie
geschleudert. Aber diese offenkundige Tendenz tritt uns zu brutal entgegen.
So große Hochachtung uns das eminente Talent des Malers abzwingt, die
letzte Wirkung seines Bildes ist eine tiefe Verstimmung, und eine solche im
Herzen des Beschauers zu erregen, das widerspricht dem innersten Wesen des
Kunstwerks, Der Maler hat das Fleisch, das im Laden des Schlächters hängt,
die langen Reihen fettglänzender Würste mit derselben Liebe und Ausführlichkeit
behandelt wie das zerknitterte Gesicht der Alten, die abgemagerten Hände der
Kleinen. So wird die in letzter Linie tragische Wirkung, die das Mitleid mit
dem Unglück in uns hervorruft, durch den Blick auf die kraß und aufdringlich
behandelten Nebendinge, die doch nur Mittel zum Zweck und nicht.Selbstzweck
sein sollen, wieder aufgehoben. Daß der Maler lebensgroße Figuren gewählt
hat, gehört mit zum Glaubensbekenntniß der modernen Realisten, die von
Frankreich, England und Belgien gleichzeitig auf uns einstürmen und natürlich
in Deutschland die gläubigsten Nachbeter finden.
Einer der obersten Grundsätze dieser Stürmer, die uns den alten Himmel
der Kunst rauben wollen, ist die Aufhebung jeglicher Luftperspektive. Sie
stellen die Gegenstände und die Figuren im Raume so dar, wie sie sich dem un¬
gebildeten Auge oder dem Auge zeigen, das sie, ein jedes einzeln, von
einer gleich nahen Entfernung aus betrachten würde, ohne die' zarten Ver¬
mittlungen und Uebergänge, welche die Luft bildet, ohne die mannigfachen
Abtönungen, welche das Licht in verschiedenen Intervallen hervorbringt. Es
ist einleuchtend, daß der Kunst überhaupt der Garaus gemacht wird, wenn
diese unheilvolle Richtung sich Bahn bricht. Vor der Hand tritt^sie nur in
den Formen einer epidemischen Krankheit ans, die zwar nicht blos unter der
niedrigen Heerde talentloser Nachahmer wüthet, welche sich mit begieriger Hast
auf alles Neue stürzen, sondern auch edlere Opfer fordert; aber es steht zu
hoffen, daß sich dieser Ansturm an dem Idealismus der deutschen Künstler
brechen wird. Die Kunst würde damit auf das Niveau der Photographie
herabsinken und, wenn erst die neuerfundene Farbenphotographie vervollkommnet
worden ist, am Ende ganz überflüssig werden. Aber damit hat es noch gute
Wege. Gerade auf der diesjährigen Ausstellung haben die jüngeren Anhänger
die neue Richtung diese durch eine Menge von Stümperarbeiten so gründlich
diskreditirt, daß sie sich sobald nicht von dieser Niederlage erholen wird.
Eines der edleren Opfer, welches die neue Theorie von der Aufhebung
der Luftperspektive gefordert hat, ist Alma-Tadema, der in England an¬
sässige, aus der Schule von Henri Leps hervorgegangene Holländer, der seit
sechs Jahren durch-seine Bilder aus dem klassischen Alterthum ganz Berlin in
Entzücken versetzt. Keiner kann das Marmorgetäfel eines römischen Fußbodens,
den Lüster einer Bronzeschaale, das Fell eines Tigers mit so täuschender
Wahrheit wiedergeben wie er. Um dieser Fertigkeit willen hat man ihm bereits
in Berlin das höchste verfügbare Ehrenzeichen, die große goldene Medaille,
verliehen; aber er scheint ans diese Auszeichnung uicht viel zu geben, da er
vergessen hat, sie im offiziellen Katalog der Pariser Weltausstellung unter den
zahlreichen übrigen, ihm zu Theil gewordenen anzuführen. In diesem Jahre
hat er das klassische Alterthum verlassen und uns ein Bild geschickt, dessen Stoff
dem Hofleben der fränkischen Könige entlehnt ist. Die Geschichte ist sehr weit
hergeholt und nicht Jedermann geläufig. Der Katalog muß daher aushelfen
und uns erzählen, daß die blonde Dame mit den ungeheuer langen Schenkeln,
welche auf einem Lederpolster hinter dem Vorhang eines Bogenfensters sitzt
und sehr mißvergnügt ins Freie blickt, Fredegunde ist, das Weib des Königs
Chilperich. Die Ursache ihres Mißvergnügens wird uns klar, wenn wir ihren
Blicken hinaus ins Freie folgen. Man sieht da eine wirre Menge kleiner,
bunter Figürchen, Frauen und Männer, welche jubeln und Blumen streuen,
Geistliche vor einem Altare, den König, der einer königlich geschmückten Frau
ein Diadem aufsetzt u. s. w. Der Katalog sagt uns, daß die empfangene
Fürstin die neue Gemahlin des Königs, Galeswintha, ist, und aus diesem Um¬
stand erklärt sich der Mißmuth der zurückgesetzten Fredegunde. Ob die schonen
Sachen, die vor ihr stehen, Spangen, güldene Ketten und Toilettengeräthe, zum
Hochzeitsgeschenk für die neue Gebieterin oder zu ihrem eigenen Gebrauch be¬
stimmt sind, ist nicht recht ersichtlich.
Die kleinen Figuren im Hintergrunde sind, wie gesagt, ohne Lnftperspektive
neben und hinter einander gestellt. So entsteht ein unklares Sammelsurium:
man weiß nicht, wer auf den vordersten Plan, wer auf den mittleren und
wer in den Hintergrund gehört. Die ganze Geschichte macht den Eindruck, als
sähe Fredegunde aus ihrem Fenster dem Spiele eines Puppentheaters zu. —
Dasselbe Bild ist übrigens auch im diesjährigen Pariser „Salon" in Aquarell
zu sehen. Dort bildet es den Mittelpunkt eines Cyklus von mehreren Bildern,
der erst die Geschichte verständlich macht, welche Alma-Tadema den Berlinern
nur bruchstückweise vorzutragen geruhte.
Nach Errichtung des deutschen Reichs hat wohl schon Manchem die Frage
sich öfter aufgedrängt, ob es nicht wünschenswert!) und möglich sei, dieses so
dicht an den deutschen Küsten liegende, von unseren Stammesgenossen bewohnte
und nur infolge der früheren Ohnmacht Deutschland's uns verloren gegangene
Eiland wiederzugewinnen. Zum mindesten will es für das neue deutsche
Reich nicht recht würdig erscheinen, daß uns die englische Flagge so dicht vor
der Nase weht. Wenn die Reichsregiernng auf Wiedererlangung der Insel
ausgegangen wäre, so würde sich die erste Gelegenheit dazu möglicherweise auf
dem Berliner Kongresse geboten haben. Wenigstens hätte es, wie es scheint,
vielleicht nicht allzuschwer gehalten, sich diese Bedingung für das ehrliche Mak¬
lergeschäft auszumachen. Gerade bei England ist so etwas sehr gebräuchlich.
Für dieses aber hat die Insel doch schwerlich den Werth, wie man sich früher
in Loudon eingebildet, vielmehr sollte man dort nach den gemachten Erfah¬
rungen froh sein, die Insel, ähnlich wie einst die jonischen Inseln, auf gute
Manier wieder los zu werden. Allein schwerlich denken die englischen Staats¬
männer so, selbst wenn wir ihnen sagen wollten, daß Deutschland eine solche
Insel, die in ähnlicher Weise vor der Themse läge, gern ohne Entgelt über¬
lassen würde. Aber auch weder auf Helgoland noch in Deutschland hat sich
ein ernstes Verlangen nach Abtretung kundgegeben, hauptsächlich wohl deshalb,
weil sich das deutsche Reich, abgesehen von einem etwaigen Kaufpreise, sehr
bedeutende Kosten aufgeladen haben würde. Das deutsche Handelsblatt allein
hat, und zwar 1871, seine Stimme für Erwerb der Insel durch Kauf ausge¬
sprochen. Es fand nirgends Anklang und auch wir verwahren uns, im Fol¬
genden etwa für eine demnächstige Erwerbung der Insel auftreten zu wollen.
So fern dies dem deutschen Reiche gegenwärtig liegen mag, so will es
uus doch scheinen, als habe es wegen der Stammesverwandtschaft der Helgo-
länder und mit Rücksicht auf die Vergangenheit wenigstens die moralische
Pflicht, für die endliche Herstellung ordnungsmüßiger Rechts- und Verfassungs¬
zustande auf der Insel sich bei der englischen Regierung zu verwenden. Es
wäre angemessen, wenn die öffentliche Meinung hierauf hinzuwirken suchte und
sich der bedrängten Insulaner annähme, die nicht mehr wissen, wie sie zu ihrem
Rechte gelangen sollen.
Als England 1807 ohne vorhergehende Kriegserklärung Helgoland in Be¬
sitz nahm, wurde in dem Uebergabevertrag, welchen der dänische Befehlshaber
mit dem Kommandeur Falkland schloß, der die dort erschienenen drei, nachher
zehn englischen Kriegsschiffe befehligte, den Bewohnern zugesichert, daß sie in
ihren Amtsverrichtungen, Rechten, Gewerben, „kirchlichen Verfassung und Kon¬
stitutionen" ungestört erhalten bleiben sollten. Diese Zusage ist nicht zurück¬
gezogen, als die Insel 1814 im Kieler Frieden formell abgetreten wurde, sie
ist auch 50 Jahre lang von der englischen Regierung im Ganzen ebenso treu
gehalten, als vordem eine ähnliche Zusage von der dänischen Regierung, welche
dort'seit 1714 geherrscht hatte.
Für die infolge der Lostrennung von Schleswig hervorgetretenen Aende¬
rungen und Verluste mußte natürlich angemessener Ersatz gefunden werden.
Namentlich waren durch das Wegfallen des Landvogts, des Obergerichts und
der Konsistorien Lücken entstanden. Diese wurden aber von englischer Seite
auf die unpraktischste Weise und unter großer Unkenntniß der Verhältnisse der
Insel ausgefüllt. Es genügt hier zu erwähnen, daß der Gouverneur eine
Art zweiter Instanz ausübte, was um so bedenklicher erschien, als er mehr¬
fach geradezu betheiligt war, z. B. in Strandungsfällen Prozente bezog. Es
kamen die wunderbarsten Urtheile vor, z. B. Beurtheilungen ans Grund mi߬
verstandener Stellen eines vor 500 Jahren erlassenen Gesetzbuchs zu Strafen,
die inzwischen längst abgeschafft waren.
Die Zustünde wurden derart, daß man auch in England die Nothwen¬
digkeit einer Aenderung einsah. Das Natürlichste wäre nun gewesen, man hätte
sich hierüber mit den Insulanern in Verbindung gesetzt und zu verständigen
gesucht; statt dessen wurden diese plötzlich durch eine Verfassung vom 8. Januar
1864 überrascht, durch welche das gesammte öffentliche Recht der Insel umge¬
stoßen und statt dessen wiederum die alleruupassendsten Einrichtungen getroffen
wurden. Die Verfassung war gar nicht wie für die kleine Insel mit ihren ein¬
fachen Verhältnissen bestimmt, sondern da sollte es auf einmal geben einen gesetz¬
gebenden Rath, ein Gemeindehaus, einen Kcibinetsrath u. f. w., lauter Dinge,
die sich für die Insel ziemlich komisch ausnahmen. Gleichwohl hätte es noch
gehen mögen, wenn ein einsichtsvoller, geschäftserfahrener, Vertrauen genießender
Mann zur Ausführung vorhanden gewesen wäre. Als solcher bewies sich
jedoch der 1863 zum Gouverneur ernannte Oberstlieutenant Maxse nicht. Der¬
selbe erließ eine lange Reihe von Verordnungen, welche von fortdauernder
Unkunde und Ungeschick zeugten und zugleich auf Mißverständnissen, Unwahr¬
heit und Entstellung beruhten. Es war kein Wunder, daß die Zustände noch
unerträglicher wurden. Was soll man auch zu der Leichtfertigkeit sagen, mit
welcher ein gar nicht vorhandenes „Schleswig-holstein'sches Zivil- und Krimi-
nalgesetzbuch" für eingeführt erklärt wurde?
Die Helgoländer wandten sich nunmehr im Jahre 1866 mit bitteren Be¬
schwerden an die Königin Viktoria. Sie erinnerten an die 1807 englischer-
seits ertheilten Verheißungen und klagten über die ohne Zuziehung der Be¬
wohner vorgenommenen Eingriffe, rügten auch namentlich die stattgehabte
„strafbare Gewissenlosigkeit bei der Verwaltung des Bürgerguts". Die Ein¬
gabe hatte jedoch trotz ihrer lebhaften Schilderung keinen Erfolg, sie wurde
vielmehr vom Kolonialamte in einer von der größten Unkenntniß der Verhält¬
nisse zeugenden Weise abgelehnt. Erst nachträglich suchte der Kolonialminister
dieselben kennen zu lernen, als er im Sommer 1867 die Insel besuchte. Die
Helgoländer suchten ihm nochmals alle Mißverhältnisse vorzuführen, es hatte
aber auch dies so wenig Erfolg, daß der Minister schließlich erklärte, an eine
Aufhebung der Verfassung von 1864 sei gar nicht zu denken.
Was blieb den armen Insulanern nun noch übrig zu thun? Von Natur
die loyalsten Staatsbürger, griffen sie nun zum Mittel der Steuerverweigerung.
Das schien endlich doch einigen Eindruck zu machen. Die Verfassung von
1864 wurde mit derselben Plötzlichkeit, mit der sie ertheilt war, wieder aufge¬
hoben und es sollten wieder neue Einrichtungen geschaffen werden. Das ge¬
schah jedoch abermals ohne Zuziehung einer Landesvertretung. Als Probe,
welcher Art die Verfassung vom 29. Februar 1868 ist, dient z. B. der Art. 3,
wonach der Gouverneur „von Zeit zu Zeit Gesetze machen kann für die Ruhe,
Ordnung und gute Regierung der Insel," oder der Artikel, wonach der Gou¬
verneur das Recht hat, alle Beamten und öffentlichen Diener, Geistliche, Richter
und Magistrate zu ernennen, und zwar — „alle nur auf die Dauer des Ge¬
fallens". Und wie wenig unter der neuen Verfassung reformirt worden, geht
unter Anderem daraus hervor, daß ein englischer Unteroffizier, welcher das
Deutsche und Helgoländische weder sprechen noch lesen kann, zum Unterrichter
ernannt worden ist.
Wenige der deutschen Badegäste auf Helgoland werden Neigung gehabt
haben, sich ihre Kur durch Beschäftigung mit diesen unerquicklichen Dingen
stören zu lassen, die sie ja auch nichts angehen. Aber Professor Taylor aus
Cambridge, der in Hamburg 1876 von den Zuständen hörte, besuchte die Insel,
eigens um sich von der Wahrheit zu überzeugen, denn er glaubte nicht, daß
unter der englischen Herrschaft so etwas möglich sei. Er fand indeß Alles
vollkommen bestätigt und kehrte voll größten Unwillens heim. Dann suchte er
sich beim Kolonialamte Einsicht in den Vertrag von 1807 zu verschaffen, dieses
schlug aber das Begehren rundweg ab. Darauf brachte er die Sache in eng¬
lischen Blättern zur Sprache und veranlaßte auch den Lord Roseberry, im
März 1876 im Oberhause die Vorlegung jenes Vertrags zu verlangen. Der
Kolonialminister lehnte abermals ab und hatte die Kühnheit, den Peers zu
versichern, die Verfassung von 1864 habe für Helgoland die glücklichsten Er¬
folge gehabt.
Das war jedoch zu stark; zwei Deutsche, welche die Dinge weit besser
kannten, erhoben hiergegen öffentlich Widerspruch: Herr Müntzel auf Helgo¬
land, welcher den obigen Vertrag der Öffentlichkeit übergab und der deutsche
Reichs- und preußische Landtagsabgeordnete Dr. Fr. Oetker, welcher in der
Kölnischen Zeitung 1876 auftrat. Nun erschien auf der anderen Seite eine
halbamtliche Denkschrift, welche den Erlaß der Verfassung von 1868 mit
der Steuerverweigerung und mehreren bis dahin bestandenen Mißständen ent¬
schuldigte, die jedoch lediglich durch das ungeschickte Verfahren der englischen
Regierung und Gouverneure veranlaßt waren.
So steht die Sache noch. Die Insulaner leiden noch immer unter den
traurigsten Rechts- und Verfassnngsverhältnissen; alle ihre Mittel sind erschöpft.
Da ist in diesen Tagen Dr. Oetker, der früher lange Zeit als Verbannter auf
Helgoland lebte und schon 1855 eine Schrift über die Insel herausgegeben
hat, mit einer zugleich deutsch und englisch erschienenen Schrift unter dem Titel
„Verfassung und Recht auf Helgoland" (Stuttgart 1878) aufgetreten. Er
nennt die Schrift einen „Appell an die öffentliche Meinung in England" und
legt, gestützt auf die genauesten Mittheilungen, dar, daß aus der Insel, insbe¬
sondere seit 1868, eine in der gebildeten Welt unerhörte schrankenlose Will-
kührherrschaft besteht, und daß die Gerichtseinrichtung dort die schärfste Brand¬
markung verdiene.
Möge vorstehender Hinweis dazu beitragen, die öffentliche Meinung auch
Deutschland's für die bedrängten Stammesgenossen zu gewinnen!
Die Kommission von 21 Mitgliedern, an welche der Entwurf des Sozia¬
listengesetzes am 17. September vom Reichstage zur näheren Prüfung gewiesen
wurde, hat, unter fortdauernder Aussetzung der Sitzungen des Reichstags, bei
ihrem am 19. September unter dem Vorsitze von Bennigsen's begonnenen Be¬
rathungen auch in der eben beendeten Woche sich ihrer schwierigen Aufgabe
mit großem Fleiße und offenbar mit dem allseitig aufrichtigen Bestreben
gewidmet, ein brauchbares, wirkungsvolles Gesetz mit den Regierungen zu ver¬
einbaren. Die Vertreter aller Parteien haben in der Kommission die von
der Sozialdemokratie drohenden Gefahren und die Nothwendigkeit, denselben
kräftig entgegenzutreten, anerkannt. Die Vertreter derjenigen Parteien, welche
ini Plenum sich überhaupt ablehnend gegen das Gesetz verhielten, die des Zen¬
trums und der Fortschrittspartei, erklärten sich wiederum für Ergänzungen be¬
stehender Strafbestimmungen für alle Staatsbürger; nach diesem Grundsatze
ausgearbeitete selbständige Gesetzentwürfe sind jedoch nicht vorgelegt worden,
obwohl Stauffenberg und Laster hierzu provozirt hatten. Eine aus 7 National¬
liberalen und 6 Konservativen bestehende Mehrheit entschied sich sür ein Spe-
zialgesetz, und selbst ein Mitglied des Zentrums mußte zugeben, daß vorbeu¬
gende Maßregeln nicht zu umgehen seien. Nachdem jene Entscheidung ge¬
troffen, haben sich auch die Mitglieder der grundsätzlich ablehnenden Richtungen
an den Arbeiten betheiligt.
Es ist anzuerkennen, daß bei der nach 8 Sitzungen am 27. September
beendeten ersten Lesung der Vorlage von allen Seiten ein erhebliches Maß
von Opferwilligkeit kundgegeben worden ist und daß man bei verschiedenen
Auffassungen durch tieferes Eingehen in die Sache ernstlich darauf bedacht war,
sich gegenseitig zu nähern, so daß die Parteigegensätze innerhalb der Kommission
bei Weitem nicht so sehr wie sonst hervortraten. Selbst über die schwierigeren
Punkte des Entwurfs, bei denen am meisten für das Gesetz befürchtet werden
mußte, ist, wenn auch zum Theil erst nach langen Erörterungen, eine vorläu¬
fige Einigung erzielt ohne daß von den Vertretern des Bundesraths ein
Veto entgegengesetzt wäre.
Beim Beginn der Einzelberathung schienen Hänel und mit ihm wohl die
ganze Fortschrittspartei sich schwer bedrückt dadurch zu fühlen, daß sie im
Plenum wiederum einen rein negativen Standpunkt eingenommen und so, für
Jedermann einleuchtend, als unpraktische Männer erscheinen mußten. Dazu
hatte der Kanzler am 17. September die Fortschrittspartei noch ganz extra in
derselben Weise beleuchtet, wenngleich die betreffenden Aeußerungen zunächst
nur gegen Richter gegangen waren. Das wollte die Partei nicht auf sich sitzen
lassen, sie stellte daher eine Fassung des Z 1 aus, welche zugleich als Gegenent¬
wurf angesehen werden sollte und durche welche, in Ergänzung des H 130 des
Strafgesetzbuchs, der von früher her berüchtigte sogenannte Haß- und Verach-
tungs-Artikel selbst nach dem Urtheile der fortschrittlichen Hauptpreßorgane be¬
deutend übertroffen wurde. Und um so wunderlicher nahm sich dies aus, als
gerade Hänel den Vorschlag vorzubringen hatte, er, der noch drei Tage zuvor
jene Philippika gegen den „unannehmbaren und unamendirbaren" Entwurf ge¬
halten hatte. „Wenn wir gewußt hätten", sagte die fortschrittliche Berliner
„Volks-Zeitung", „daß ein solcher Entwurf im Hintergründe lauerte, so wäre
es uns lieber gewesen, die wirklich prächtige Rede Hänel's wäre gar nicht ge¬
halten". Ein Versuch der Klausner'schen fortschrittlichen Korrespondenz, den
Widerspruch zu erläutern, rief selbst in den meisten übrigen Blättern dieser
Partei nur Hohn hervor; eins derselben sprach Hänel allen Charakter ab und
meinte, sein Vorschlag gehöre „zu dem Schlimmsten, was bisher im Genre der
legislativen Gummi-Artikel vorgekommen ist". Hänel und Genossen hatten
wohl selbst nicht an Genehmigung ihres Vorschlags geglaubt, aber es war doch
sehr gewagt, einen solchen Vorschlag blos deshalb zu machen, um, wie die
Vossische Zeitung erläuterte, die Partei vor dem Verdachte der Negation zu be¬
wahren. Nun, wir meinen, unpraktischer hätte bei dieser Sorge für's eigene
Haus nicht verfahren, ungeschickter der Boden des Positiven nicht betreten werden
können. Hänel sah für seinen Vorschlag nur Brttel und Reichensperger ein¬
treten und mag froh gewesen sein, als letzterer einen ähnlichen formulirte, zu
dessen Gunsten er sich flugs des eigenen wieder entledigte. Die Vorschläge
wurden abgelehnt, bleibend aber ist der Eindruck dieser fortschrittlichen Selbst¬
beleuchtung. Daran ändert auch die Darstellung nichts, welche Hänel in der
„Kieler Zeitung" vom 27. September gab.
Weit mehr Glück auf dem praktischen Felde hatte Laster, welcher seinem
Schweigen im Plenum die Wortftthrung der Nationalliberalen in der Kommis¬
sion folgen ließ, wie wenn er beweisen wollte, daß des Kanzlers abfälliger
Ausspruch über seine parlamentarische Wirksamkeit unbegründet wäre. Gleich
die Begriffsbestimmung der zu verbietenden Vereine wurde nach Laster's Vor¬
schlag genehmigt. Daß die gewühlte Bezeichnung der fraglichen Vereine als
solche, welche den „Umsturz" der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung
bezwecken, der Bezeichnung „Untergrabung" vorzuziehen sei, will uns nicht ein¬
leuchten. Der größte Theil der fraglichen Agitation ist weit mehr, ja ganz
wesentlich auf die mittelbare, allmählige, heimliche, unausgesetzte und vielge¬
staltige Thätigkeit des Untergrabens gerichtet; ein direktes und offenes Vor¬
gehen lassen Klugheit und Taktik den Agitatoren als unthunlich erscheinen;
freilich ist der Umsturz das Ziel auch des Untergrabens, allein deshalb hätte
man lieber beide Ausdrücke verbinden, statt sich gegenüber stellen sollen.
Die beschlossenen Aenderungen des Entwurfs laufen zum größten Theile
auf präzisere Fassungen und die Anbringung von Sicherheiten gegen etwaigen
Mißbrauch der den Behörden verliehenen besonderen Befugnisse hinaus. Beides
gilt namentlich von den ferneren die Vereine und Versammlungen sowie von
den die Druckschriften der fraglichen Art betreffenden Paragraphen. Der Bnn-
desrathsbevollmächtigte Graf Eulenburg hat einige dieser Aenderungen, nament¬
lich soweit sie eine genauere Fassung betreffen, ausdrücklich als Verbesserungen
anerkannt, andere offenbar nur als unschädliche vorläufig passiren lassen. Zu
letzteren gehört uuter Anderen die Ersetzung des Ausdrucks „Bereine (Druck¬
schriften), welche u. f. w. Bestrebungen dienen," durch den Ausdruck „in welchen
u. s. w. Bestrebungen zu Tage treten". Diese Aenderung ist gewiß sehr gut
gemeint und scheint im ersten Augenblicke zu bestechen, allein wir fragen: werden
dadurch uicht die Verwaltungsbeamten gehindert, umstürzenden Bestrebungen,
von deren Wirksamkeit hinter den Konlissen sie überzeugt, die aber nicht in
greifbarer Form an die Oberflüche oder „an den Tag" getreten sind, entgegen¬
zutreten? Es läßt sich noch gar nicht voraussehen, in welch' vielfältig neuen
Formen die sozialdemokratische Agitation nach Erlaß des Gesetzes versuchen
wird sich breit zu machen. Wie fatal, wenn man denselben mit Novellen
nachhinken müßte! Wie wäre es, wenn man sagte: „Bestrebungen, welche
zu Tage treten oder sonst erkennbar sind?" In einem anderen Falle, bei
§ 12, hat man, auf einen Hinweis Graf Eulenburg's, in der That von einem
anscheinend genaueren Ausdrucke lediglich deshalb wieder abgesehen, um nicht
den Sozialdemokraten damit Hinterthüren zu öffnen, die jetzt vielleicht noch
nicht sichtbar sind. Durch einen von Laster veranlaßten Beschluß hat sich die
Bestimmung von einer Verwarnung, welche dem Verbote einer periodischen
Druckschrift vorangehen soll, in dieses Gesetz verirrt. Es führt das nur ganz
unnöthig zu längerem Leben eines Blattes, welches den Tod reichlich ver¬
dient hat. Auf Besserung ist bei wirklich sozialdemokratischen Blättern nicht
Zu rechnen. Uebel angebrachte Humanität hat uns schon im Strafgesetzbuchs
vielen Schaden gebracht. Auffallend ist andererseits der zu Z 12 gefaßte Be¬
schluß, daß die Unkenntniß des Verbots eines Vereins von der Straffälligkeit
nicht ausschließen soll. Die Bestimmung wegen Untersagung des Gewerbebe¬
triebs ist, nach den Vorschlägen der Konservativen, von einer vorgängigen Ver¬
warnung abhängig gemacht und in einer Fassung genehmigt, welche den Ge¬
werbetreibenden wahrscheinlich größere Beruhigung gewähren wird. Die Be¬
stimmung, daß Druckereien, welche geschäftsmäßig zur Förderung der betreffen¬
den Bestrebungen benutzt werden, geschlossen werden können, ist seltsamer Weise
gestrichen. Für die Verhängung des sogenannten zivilem Belagerungszustands
ist die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit mit unmittelbarer Gefahr als Be-
dingung gesetzt.
Versuche zur Erschwerung mißbräuchlicher Anwendung des Gesetzes sowie
der möglichsten Ausschließung einer Mitleidenschaft anderer Bevölkerungsklasseu
mußten allerdings gemacht werden; es ist aber nicht zu verkennen, daß dies nur
geschehen konnte, indem in das Gesetz, zu dessen möglichster Wirksamkeit großes
Vertrauen zu den ausführenden Behörden erforderlich ist, nothwendig eine
Dosis gerade entgegengesetzten Geistes hineingetragen werde. Das ist nun ein¬
mal ein Verhängniß für dieses Gesetz, welches nicht abzuwenden stand; es kam
nur darauf an, jene Dosis so klein wie möglich zu greifen. Wir erkennen nun
an, daß auf der hierdurch gezogenen oft haarscharfen Kante die Balance in
den meisten Fällen nicht verloren ist, wenigstens soweit sich vorerst nach dem
Wortlaute der geänderten Paragraphen urtheilen läßt; es läßt sich aber die
Möglichkeit noch nicht ausschließen, daß sich später herausstellt, dem Gesetze sei
in der Praxis infolge einzelner Aenderungen der Kommission die Schärfe ge¬
nommen. Die Besorgniß, daß beim besten. Willen am Ende zu viel gedoktort
werde, konnten wir nicht los werden, begreifen auch vollkommen, daß eine
nervöse Natur sich bei gleicher Befürchtung recht aufregen konnte; das mindert
jedoch die ungemeine Taktlosigkeit des Zwischenrufs nicht, welchen die für zu¬
weilen vom Kanzler inspirirt geltende „norddeutsche Allgemeine Zeitung" sich
am 23. September erlaubte. Bei einem Reitpferde mag ein unmotivirter Hieb
mit der Gerte für alle Fälle ganz heilsam sein; gegenüber dem äußerlich noch
durch nichts gestörten Fortgange der Kommissionsarbeiten war aber die Drohung
mit abermaliger Auflösung plump und unwürdig. Dadurch konnte das Blatt
im Publikum nur dem leidigen Mißtrauen wieder Nahrung geben, welches
ohnehin schon dem Gesetze zu viel anhängt. Freilich hätten die National¬
liberalen klüger gethan, beim Verständigungs-Werke ihre Anträge nicht ge¬
rade in die Hände derjenigen Persönlichkeit zu legen, welche der Kanzler nun
einmal als ein Haupthinderniß parlamentarischer Verständigung bezeichnet hatte.
Und dagegen kam auch nicht in Betracht, daß, wie die „Elberfelder Zeitung"
vom 28. September sagt, die Anträge Laster's nur bestimmt waren, dessen
Rückzug aus der früheren Stellung zu decken.
Die größte Schwierigkeit bereitete die Bestimmung der obersten Rekurs¬
instanz. Dem Zwecke des Gesetzes würde der ursprüngliche preußische Vorschlag
eines Reichsamtes für Vereine und Presse am besten entsprochen haben, weil
auf diese Weise der Instanz wohl die nöthige größtmögliche Freiheit verliehen
wäre; nachdem aber dieser Vorschlag an der partikularistischen Richtung der
Bundesregierungen einmal gescheitert war, war auch für diese guter Rath theuer.
Der Bundesrath, in der Nothwendigkeit die Lücke auszufüllen, setzte in Ver¬
legenheit einfach das Nächstliegende: einen Ausschuß seiner selbst, im Grunde
aber hatte er damit die Auffindung jener Behörde wohl nur dem Reichstage zu¬
schieben wollen. Alle sechs in der Kommission aufgetauchten Vorschläge be¬
ruhten jedoch ebenwohl mehr oder weniger auf Verlegenheit. Man konnte sich
weder für das oberste Landesverwaltungsgericht, noch für den Kanzler nnter
parlamentarischer Kontrole, noch für das zu verstärkende Reichsheimathsamt recht
erwärmen. So kam, nach Ablehnung der bezüglichen Anträge Laster's, Stauffen-
berg's, Gneist's und von Kardorff's, Herr von Helldorf auf den Bundesraths¬
ausschuß zurück, nur mit der Aenderung, daß dessen Mitgliederzahl sich nur
auf drei belaufen und diesen sieben zum Richteramt befähigte Personen beige¬
geben werden sollten. Für diesen Vorschlag fanden sich nur drei Stimmen,
aber der darin liegenden Idee eines verkappten Reichsamtes für Vereine und
Presse bemächtigten sich Harmer, von Goßler und von Schwarze. Sie berei¬
teten ein Gebräu, wonach jedem Theile etwas gegeben zu sein scheint. Daß
der Bundesrath eine „Kommission" von neun Mitgliedern und hiervon vier
aus seiner Mitte wählen soll, scheint den Charakter des Bundesrnthsvorschlags
aufrecht erhalten zu sollen; sachlich jedoch ist der ursprüngliche preußische Vor¬
schlag wieder hervorgekehrt und so der Kreislauf des Suchens vollendet. Ein
Vorzug jenes Vorschlags lag darin, daß alle Mitglieder aus der Zahl der im
Reichs- oder im Staatsdienst angestellten Personen berufen werden und nur
fünf etatsmäßig angestellte Richter sein sollten, sodaß also das juristische Ele¬
ment in den Hintergrund gedrängt war. Nach dem Vorschlag von Harnier
und Genossen sollen aber fünf der neun Mitglieder ans den Richtern an den
höchsten Gerichten des Reichs oder der einzelnen Bundesstaaten genommen
werden. Schon die Art, wie dieser Vorschlag zur Annahme gelangte, kenn¬
zeichnet ihn erst noch als Verlegenheitsbeschluß. Es macht den Eindruck, als
ob Gneist im letzten Augenblicke, als die Ablehnung durch Stimmengleichheit
fast schon entschieden zu sein schien, nur deshalb zu den Zustimmenden über¬
getreten sei, um gleichsam das legislatorische Ansehen zu retten, denn nach Ab¬
lehnung von sechs mühsam zu Stande gebrachten Vorschlägen hätte sich, beim
Mangel jeder weiteren Aussicht, allerdings der Eindruck eiuer gewissen gesetz¬
geberischen Ohnmacht von der Verlegenheit, zum Triumphe der Gegner, kaum
trennen lassen. Sachlich steht er freilich mit dieser Frage vorerst auch jetzt
nicht viel besser. Die Berufung einer Mehrheit von Richtern erscheint bedenklich,
weil auf diese Art in einer mit dem Charakter des Gesetzes unverträglichen
Weise der juristische Gesichtspunkt zu sehr in deu Vordergrund würde gedrängt
werden. Daß die Mittelstaaten sich durch solche Wiederholung des preußischen
Vorschlags nicht dupiren lassen wollen, hat der württembergische Bevollmächtigte
schon angedeutet. Die Zufügung einer Zeitbeschränkung für die Giltigkeit des
Gesetzes erscheint im Hinblick auf die immerhin vorhandene Ungewißheit, wie
dasselbe in der Anwendung sich gestalten wird, wünschenswert!); ob aber gerade
der beschlossene Zeitpunkt (31. März 1881) der geeignete ist, darüber läßt sich
streiten.
Bei der am 1. Oktober, wie es scheint, unter Betheiligung des Reichs¬
kanzlers stattfindenden zweiten Lesung dürfte sich die zunächst entscheidende
Frage mehr heraus stellen, wie sich die Bundesregierungen zu den von der
Kommission beschlossenen Aenderungen stellen werden.
Wir haben den Titel des vorliegenden Buches mit aller bibliographischen
Genauigkeit wiedergegeben, weil uns dadurch eine Kritik des Buches halb und
halb erspart wird. Denn wie der Titel, so ist das ganze Buch: genau so
langwierig, genau so bieder, genau so geschmackvoll, genau so vollendet in der
sprachlichen Darstellung (ihrem Leben und Liedern!). Die Zusammenstellung
der drei im Titel genannten Dichter zu dem nicht mehr ganz ungewöhnlichem
und schon oft mit Glück verwendeten „Dreigestirn" mag man gelten lassen;
der Verfasser begründet sie im Vorwort, indem er die drei Namen als die
Repräsentanten dreier wichtiger „Dichterschulen" — er meint wohl Richtungen
der deutschen Poesie? — in Anspruch nimmt, Walther als den Vertreter des
„lieblichen Minnegesangs", Hans Sachs als den des „ehrenwerthen Meister¬
gesangs", Simon Dach als den der „gelehrten Poesie". Aber die Ausführung
dieser drei Lebensbilder ist doch derart auf den Horizont der Zuhörer des
Verfassers zugeschnitten, sie sind so philiströs „gekennzeichnet" und so mit
platten moralisirenden Gemeinplätze,: durchflochten, daß sie getrost auf den
Kreis, für den sie ursprünglich bestimmt waren, hätten beschränkt bleiben können.
Kein Zweifel, daß die Vortrüge herzlich gut gemeint sind, auch daß der Ver¬
fasser Freude damit gestiftet und wohlthätige Anregung damit ausgestreut haben
wird. Sie in den Buchhandel zu bringen, lag aber nicht die geringste
Nöthigung vor. Wenn alle Vorträge ans den letzten sechs, sieben Jahren,
in denen Walther von der Vogelweide das Thema der Erörterung gebildet
hat, gedruckt worden wären, welche Summe von Broschüren würde das er¬
geben haben! Biographische Vorträge wie die hier gebotenen, in denen weder
neue Thatsachen beigebracht werden, noch über die bekannten Thatsachen ein
neues Licht verbreitet wird, noch die bekannten Dichtungen in irgendwie neuer,
geistvoller Auffassung erscheinen, kann bei den vorhandenen Hilfsmitteln eben
heutzutage jeder einigermaßen wissenschaftlich gebildete Mensch zusammenhauen,
bessere sogar. Denn der Verfasser müht sich zum Theil mit älteren Quellen
ab und ist mit der neueren einschlägigen Literatur nicht vertraut. Wir wollen
kein Gewicht darauf legen, daß ihm für Hans Sachs und Simon Dach die
monumentalen Ausgaben des „Stuttgarter literarischen Vereins" unbekannt ge¬
blieben sind, aber wer heutzutage über Walther schreiben will, der sollte doch
wenigstens die Arbeiten von Uhland, Menzel und Pfeiffer kennen und benutzen.
Für „Volksbibliotheken" darf das Buch vielleicht empfohlen werden; uur hätte
eine darauf bezügliche Bemerkung im Titel angebracht werden sollen, damit
nicht Leser darnach greifen, für die es gar nicht bestimmt ist.
Ein oft besprochenes und leider nicht oft genug zu besprechendes Thema,
das aber vielleicht noch nie in so engem Rahmen nach so verschiedenen Gesichts¬
punkten und mit so reichem Beweismaterial behandelt worden ist, wie hier.
Das Schriftchen bildet eine willkommene Ergänzung gleichzeitig zu zwei Büchern,
die in der letzten Zeit ein gewisses Aufsehen gemacht haben: zu G. Umdrehen's
„Deutscher Volksetymologie" (Heilbronn, Gebr. Henninger) und zu A. Leh-
mann's „Sprachlichen Sünden der Gegenwart" (Braunschweig, Wreden). *)
Es klingt dies, etwas unwahrscheinlich, denn die erstere der beiden genannten
Schriften ist ja eine objektive populärwissenschaftliche Darstellung einer weit¬
verbreiteten interessanten sprachlichen Erscheinung, während die letztere gegen eine
Anzahl grammatischer Verstoße ankämpft, die leider in unsrer Muttersprache
jetzt mehr und mehr um sich greifen und auf eine bedauerliche Abstumpfung
und Vergröberung unsres Sprachbewußtseius schließen lassen. Die Fremd-
wörtersrage ist aber eben eine doppelte: einerseits eine wissenschaftliche, die sich
mit dem von Umdrehen behandelten Gegenstande eng berührt, zum Theil sogar
deckt, andrerseits eine beklagenswerthe „Zeit- und Streitfrage"; es kommt ganz
darauf an, was man unter Fremdwort versteht. Der Verfasser der vorliegende
Schrift erwirbt sich nun Das Verdienst, daß er beide Seiten der Frage
— natürlich, wie es das einzig Richtige ist, sorgfältig von einander getrennt —
behandelt. Er betrachtet zuerst die verschiedenen Stadien, die das Fremdwort
im Deutschen durchgemacht hat, vou der vollständigen Aneignung des Wortes
an, wobei es selbst von sprachlich gebildeten nicht mehr als fremdes Gut em¬
pfunden wird, bis herab zu dem von Jedermann noch als solches erkannten
Fremdworte. Hier wird unter andern: auch der Fall der „Umdeutschung" des
Fremdwortes durch sogen. Volksetymologie berührt und zu dem reichen von
Umdrehen zusammengebrachten Material eine hübsche Nachlese gegeben, ferner
die ebenfalls auf einer Art volksetymologischem Triebe beruhende Geschlechts¬
verwandlung des Fremdwortes und die Fortbildung, welche fremde'Wort-
stümme auf deutschem Boden gefunden haben, besprochen. Dann geht der
Verfasser die einzelnen Sprachen durch, die zu dem Fremdwvrtervorrath des
Deutschen beigesteuert haben, und deutet dabei zugleich die kulturgeschichtlich
interessanten Resultate an, die sich hieraus ergeben. Endlich geht er dem Fremd¬
worts auf den verschiedenen Gebieten des Lebens nach und zeigt, bis zu welchem
Grade der Wortschatz aller dieser Gebiete: Religion und Kirche, Staat und
Recht, Handel und Gewerbe, Münzen, Maße und Gewichte, Seewesen, Heer-
und Kriegswesen, Kunst, Wissenschaft und Privatleben, mit Fremdwörtern ver¬
setzt ist. In der Auswahl der Beispiele beschränkt er sich dabei durchaus auf
solche Worte, denen man die auswärtige Herkunft nicht auf den ersten Blick
ansieht.
In dem polemischen Theile seiner Schrift zeigt sich der Verfasser keines¬
wegs von übertriebenen Reinignngseifer beseelt, es kommt ihm nicht in den
Sinn, völlig eingewurzeltes und unentbehrlich gewordenes fremdes Gut ver¬
drängen zu wollen; er bekämpft nur die thörichte Sucht, durch Anwendung
überflüssiger Fremdwörter der Sprache einen vornehmeren Anstrich zu verleihen.
Um recht einleuchtend vor Augen zu führen, wie weit diese Sucht gegenwärtig
wieder um sich gegriffen hat/führt er scherzweise das Leben eines vornehmen
deutschen „Gar?on" vor, wie es vom Morgen bis zum Abend verläuft. Das
zweite, dritte, höchstens das vierte Wort in dieser Schilderung ist ein Fremd¬
wort, und dabei ist der Scherz fein und ohne Uebertreibung durchgeführt!
Beschämender kann unsre traurige Fremdwörterunart uns kaum vorgehalten
werden, als es hier geschieht. Mit Schrecken gewahrt man, welchen riesigen Um¬
fang die Unsitte bereits wieder erreicht hat. In allen deutschen Literaturge¬
schichten steht zu lesen, daß das 17. Jahrhundert die Zeit der traurigsten
Sprachverderbniß in Deutschland gewesen sei, daß zu keiner Zeit die Sucht
der Ausländerei schlimmer grassirt habe als damals. Es ist das eine einfache
Unwahrheit, wenngleich es eine Literaturgeschichte der andern nachbetet- und
dabei selbstgefällig darauf hinweist, wie doch in diesem Punkte es unsre Zeit
so herrlich weitgebracht. Die Wahrheit ist die, daß die Fremdwörter, die im
17. Jahrhundert im Deutschen eingeführt waren, zum Theil, aber auch nur
zum Theil, wieder ausgeschieden sind, daß aber dafür eine unverhältnißmäßig
größere Anzahl deutscher Worte inzwischen durch neue Fremdwörter verdrängt
worden sind. Man nehme das erste, beste Zeitungsblatt unsrer Tage und stelle
es sich so gedruckt vor, wie man im 17. Jahrhundert alles zu drucken Pflegte,
nämlich so, daß die als fremd empfundenen Worte oder Worttheile in lateinischer
Schrift dargestellt werden, vergleiche es mit dem ersten, besten Druck aus der
Zeit des 30jährigen Krieges, und man wird sich sofort überzeugen, daß unsre
Sprache heute mit dreimal so viel ausländischem Sprachgut verunziert ist,
wie damals.
Leider herrscht in denjenigen Kreisen, die vor allen über der Reinhaltung
unsrer Muttersprache zu wachen berufen wären, vielfach die größte Gleichgiltig-
keit gegen diese wie gegen alle anderen „sprachlichen Sünden der Gegenwart".
Mit wissenschaftlich klingenden Redensarten, wie die, daß die sprachliche Ent¬
wickelung ein natürlicher Prozeß sei, dem durch künstliche Mittel keine bestimmte
Richtung aufgeprägt werden könne und dürfe, sucht man Halbbildung, Unwissen¬
heit, Stumpfsinn, Denkfaulheit zu 'beschönigen. Die Schule, vor allem das
Gymnasium, wälzt fort und fort den Sisyphusstein, auf Richtigkeit und Rein¬
heit unsrer Muttersprache zu dringen. Aber wie lange wirkt ihre Mühe
nach? Eine unüberwindliche Macht steht ihr gegenüber, die ununter¬
brochen wieder niederreißt, was die Schule aufbaut: das ist die mit be¬
sinnungsloser Hast arbeitende, ewig geistig aus der Hand in den Mund lebende
Tagespresse. Für den größten Theil der Menschen bildet ja leider die tägliche
Zeitung den einzigen Lesestoff, zu dem sie greifen! Und gegen die gewissenlose
Sprachschlnderei, die von dort ausgeht, müssen alle Anstrengungen der Schule
fruchtlos bleiben. Das Uebel schreitet mit Riesenschritten vorwärts. Menschen
von einigem sprachlichen Feingefühl, die gewöhnt sind, nicht über das, was sie
lesen, hinzujagen, sondern mit Bedacht zu lesen und dabei auf die Form
zu achten, können eine Tageszeitung kaum noch anders als mit Ekel aus der
Hand legen. Von den amtlichen Bekanntmachungen an der Spitze des Blattes
an bis herab zu den telegraphischen Depeschen am Schlüsse — überall wird
man durch dieselben groben sprachlichen Verstöße verletzt. Was einmal in
fünfzig Jahren daraus werden soll, weiß Gott. Man möchte aber schon jetzt
unsre Enkel bedauern, wenn man sich ausmalt, in welcher lexikalisch verhunzten
und grammatisch verlodöerten Gestalt unsere theure Muttersprache sich ihnen
einst darstellen wird.
An die Herren Verleger!
Wir bitten um baldigste Zusendung der Werke, die in unsrer Weihnachts-
bücherschan berücksichtigt werden sollen.
Leipzig, Anfang Oktober 1878. Die Redaktion des Grenzboten.
Es geht wie man vernimmt eine Anzahl in Jena Studirender, die mit den
Anstalten, welche man dort zu Sicherung der öffentlichen Ruhe zu treffen*)
sür nöthig gefunden, unzufrieden sind mit dem Gebannten um: sich für deu
Augenblick von der Academie zu entfernen und nach Erfurt und andern Orten
Zu ziehen, um von dorther gleichsam als von einem wollte sac-ro mit den
Mri'vns zu kapituliren und sich beliebige Conditionen zu machen.
Man ist keineswegs gesonnen diejenigen aufzuhalten, welche sich in die
Anordnungen, die man zum allgemeinen Besten räthlich glaubt, nicht fügen
wollen und wird sie in Frieden ziehen lassen, umsomehr da die Academie nur
durch diese Crise gewinnen kann, indem sie rohe und unruhige Subjekte los
wird und so kann ihr dieser sonst unangenehme Vorfall zum Nutzen gereichen.
Ich werde durch die Herrn Geheimenrathe veranlaßt, Ew. Erzbischöflichen
Gnaden hiervon einige Nachricht zu ertheilen und halte es selbst umsomehr
für Pflicht als ich vermuthen kann, daß es denenselben angenehm seyn dürfte,
die Ankunft dieser Emigranten zum Voraus zu erfahren, wenn sich das Ge¬
rücht davon nicht schon verbreitet haben sollte.
Es scheint, daß wir in unsern Gegenden wenigstens das Bild jener grö¬
ßern Uebel nicht entbehren sollen, es ist nur gut, daß es diesmal nur eine
Kinderkrankheit ist, von der hoffentlich die größte Anzahl der Patienten ge-
meßen wird.
In wenigen Tagen habe ich das Glück Ew. Erzbischhöffliche Gnaden
persönlich aufzuwarten und mir Ihre Befehle nach den Rhein- und Mayn-
gegenden zu erbitten.
Hochwohlgebohrner Hochgeehrtester Herr Geheimderath. Ich danke Ew.
Hochwohlgeboren für die mitgetheilte Nachricht, deren wesentlicher Inhalt mir
bereits bekannt war. Diese kleine Stürme werden vorübergehen und die treff¬
lichen Anstalten in Jena werden bleiben. Bey jeder schicklichen Gelegenheit
werde ich die junge Leute zur Ruh, Ordnung und Verehrung ihrer Vorgesetzten
ernähren. Die Wahrheit und das eigne Wohl dieser Jugend legen mir diese
Pflicht auf. Ich freue mich, Ew. Hochwohlgeboren bald mündlich von der
großen Hochachtung zu versichern, mit der ich bin, Ew. Hochwohlgeboren er¬
gebenster aufrichtiger Diener
Erfurt d. 19. Juli 1792.
Am 19. July 1792 kurz nach der Mittagsstunde^) begab sich Endesunter¬
zeichneter in das Gartenhaus der Kriegsseeretair Meyern***), um die Ankunft der
wandernden Studenten zu beobachten, Er fand den Schlagbaum des Kegel¬
thors niedergelassen, der Adjutant hielt vor demselben zu Pferde, zwey Husaren
an der Seite der Brücke gegen die Mühle zu. Man sah viele Menschen die
Chausee herunterkommen, es waren Weimciraner, welche die Neugierde den
jungen Abentheurern entgegengeführt hatte. Die nachfolgenden Studenten
konnte man, weil sie auch ohne Ordnung gingen, von dem Trupp nicht eher
unterscheiden, der vor ihnen her nach der Stadt eilte, als bis sie auf der
Mitte der Brücke Halt machten, und wie mir es schien stutzig und mißtrauisch das
versperrte Thor, die ius Gewehr getretene Wache, den Adjutanten und die Husaren
ansahen. Sie blieben jedoch ohne Schein von Berathschlagung einige Minuten
stehen, endlich setzten sich die Vordersten in Bewegung, kamen herunter, be¬
grüßten den Adjutanten, der ihnen den Weg anzeigte, den sie zu nehmen hatten.
Die Husaren ritten gegen das Gerberthor zu und die Studenten folgten ihnen.
Es war ein Einziger dabey zu Pferde, der den Zug anführte, nachdem ohn-
gefähr ihrer dreyßig als Avantgarde vorausgegangen waren.
Sie suchten nunmehr ihrem Marsch einiges Ansehen zu geben. Drey
oder vier gingen Arm in Arm neben einander, einige die nebenher gingen be¬
mühten sich vergebens die Glieder in Ordnung zu bringen und eine langsam
anständige Bewegung einzuleiten.
Sie waren meistentheils sauber gekleidet, theils in sehr kurzen Jäckchen
theils in sehr langen Ueberröcken. Meist hatten sie Hirschfänger und Säbel
überhängen und ein Theil trug Stöcke. Wenige hatten Pistolen im Gürtel.
Sie gingen alle still und man dürfte wohl sagen verdrüßlich, keinen Ausdruck
von Frechheit oder Wildheit bemerkte ich. Man schätzt den Zug gegen 300,
ob ich gleich niemand gesprochen habe, der sie gezählt hatte.
Es folgten einige offene Fuhrwerke zu zwey bis drey Studenten. Sodann
^wa zehn Leiterwägen mit Koffern, jedoch nicht schwer beladen.
So ging der Zug, wie ich höre, ruhig den angewiesenen Weg bis zum Er¬
Nachstehendes Gutachten ging aus dem Drange nach der Verbesserung
der Uuiversitätsgesetze in Jena hervor, wo bekanntlich völlige Censurfreiheit
gewesen war. In Folge des Goethe'schen Gutachtens gelangte man am 20.
April zu dem Entschluß, daß Goethe's Ideen, insoweit sie die Schriften aca-
oemischer Personen betreffen, in weitere Berathung gezogen werden sollten,
da man es für wünschenswert!) erachtete, daß in den ernestiuischen Ländern
conforme Maßregeln für das Censurwesen überhaupt zu ergreifen seien. —
„Der Conflict zwischen den Autoren, welche eine unbedingte Freyheit der
Presse fordern und den Staatsverwesern, die solche nur mehr oder weniger
zu gestehen können, dauert seit Erfindung der Buchdruckerkunst und kann nie¬
mals aufhören.
Da sich voraussehen läßt, daß in der nächsten Zeit die Schriftsteller ihr
angemastes Recht immer weiter auszudehnen, die Gouvernements aber dasselbe
immer mehr einzuschränken suchen werden, woraus dann nothwendig heftige
Collisionen entstehen müssen, so ist es wohl Pflicht darüber nachzudenken: ob
nicht in dem Kreise, in welchem man lebt und wirkt, dem Uebel vorgebeugt
werden könnte.
Eine Censur nach alter Art, da wo sie jetzt noch nicht Statt hat, einzu¬
führen, würde wenn es auch zu rathen wäre, doch großen Schwierigkeiten unter¬
worfen seyn.
Nicht allein ist die Welt in zwey politische Partheien gespalten, sondern
fast jede Wissenschaft ist in verschiedene Meynungen und Vorstellungsarten ge¬
trennt, alles ist in so lebhafter Bewegung, daß sowohl im allgemeinen als im
besonderen schwer zu unterscheiden ist, was Vorschritt, Stillstand oder Rück¬
schritt sey. Noch schwerer ist es zu beurtheilen, was man zu begünstigen oder
zu verhindern habe, in so fern man es könnte.
Demohngeachtet finde ich um so nöthiger, daß irgend ein Schritt gethan
werde, da die Sache immer von Innen oder von Außen wieder zur
Sprache kommen muß. Ich thue daher zuerst für Weimar, wo bisher keine
Censur eingeführt war, folgenden Vorschlag: Man mache den beyden bestehenden
Buchdruckereyen zum Gesetz, kein Manuscript zu übernehmen, das nicht von
drey in fürstlichen Diensten stehenden Personen unterzeichnet sey.
Wenn ich diesen Vorschlag näher betrachte, so will mir dessen Fruchtbar¬
keit sehr ausgebreitet erscheinen.
Wollte man auch den Autor selbst unter diesen drey Personen, wenn er
ein einheimischer Gelehrter ist, gelten lassen, so wird die Berathung über ein
Manuscript theils eine frenndschafftliche Angelegenheit, theils würde sie von
mehrern von einem öffentlichen Standpuncte her betrachtet. Denn jeder der
hierbey gleichsam zum Garant, zum Zeugen, zum Theilnehmer aufgefordert
wird, sieht ein solches Manuscript nicht als eine gleichgültige Sache an, die
allenfalls auch öffentlich hingehen könnte, sondern er wird es näher beurtheilen
und sich fragen: ob es denn auch öffentlich erscheinen kann und soll.
Kein einheimischer Gelehrter ist dadurch genirt, denn er wird immer zwey
Freunde haben, die an seinen Arbeiten Theil nehmen und sollte er etwas
außerdem in die Welt zu wagen Lust haben, so würde ihm niemand verwehren,
es auswärts drucken zu lassen.
Bei Zeitschriften und Zeitblättern, welche fortdauern, könnten sich ein für
allemal drey Personen unterzeichnen, welches hier keine Schwierigkeit machen
würde. Wollte mau, da vieles hier über Kunst geschrieben wird: auch Künst¬
lern in ihrem Fache eine Stimme geben, so würde nichts dagegen zu sagen seyn.
So läßlich diese Einrichtung im Ganzen aussieht, indem sich jeder seinen
Richter selbst wählt, so möchte ich sie doch einer schiefen Fläche vergleichen,
wodurch man der Gewalt des Wassers am besten widersteht.
Drey Personen zusammen werden erst für ein Collegium gehalten und
mit Recht; denn gewöhnlich, wenn zwey sich über etwas allenfalls vergleichen,
so findet der dritte schon einen Einwurf.
Da man einem jeden namhaften Manne das Recht ertheilt, in seinem
Fache an dieser Quasieensur Theil zu nehmen, so ist vorauszusehen, daß nach
und nach ein allgemeines Censorat entstehen wird und derjenige, der seinen
Nahmen einmal unter ein Manuscript geschrieben, bekennt sich zur eensirenden
Klasse und unterwirft sich allgemeinen Regeln, die sich gewiß nach Vernunft--
und Klugheitsgesetzen von selbst bilden werden.
Ferner wird jeder, indem er andere oft zurecht weist, mehr oder weniger
ans sich selbst aufmerksam werden, und so hat, wie mich dünkt, diese Einrichtung
den Vortheil, daß sie mehr pädagogisch als legislatorisch ist.
Bedenkt man ferner die Neugierde, die Tadelsucht und andere löbliche
Eigenschafften des Publikums, so wird man sich überzeugen, daß diejenigen,
welche ein Manuscript auf diese Weise unterzeichnen, genug strenge Aufseher
finden werden.
Als Norm des Beyfalls oder Verwerffens würde nur im allgemeinen zu
bestimmen seyn, daß nichts gedruckt werden solle, was den bestehenden Gesetzen
und Ordnungen zuwider sey.
Man müßte deutlich erklären, daß übrigens der Garant eines Buchs wegen
seiner Unterschrift nicht zur Verantwortung gezogen werden solle.
Was Fremde betrifft, die etwas zum Druck hierher schicken, so ist unser
litterarischer Kreis weit genug ausgebreitet, daß Jeder hier durch Freunde und
Bekannte leicht die erforderliche Unterschrift bewirken kann. 'Ueberhaupt
wäre dies die Angelegenheit des Buchdruckers, diese Gefälligkeit allenfalls von
hiesigen Gelehrten zu erbitten.
Die Sache überhaupt wäre wohl fürstlicher Regierung zu unterwerfen
bey welcher die Buchdrucker uach jeder Messe eine Tabelle einzureichen hätten,
auf welcher folgende Columnen ausgefüllt wären: Tittel des Buchs, Format
und Bogenzahl, Nahme der Verfasser, Nahme der Verleger, Nahme der Ga-
rants oder wie man sie heißen will.
Was die Ausführung betrifft, so dürfften sich nur ein halb Duzend hießiger
aualifieirter Männer bereden: daß man gegen Einheimische und Fremde, in
entstehenden Falle, diese kleine Gefälligkeit ausüben wolle. Gewiß würden
bald mehrere dazu treten und die Einrichtung bald im Gange seyn.
Was die Aeademie Jena betrifft, so könnte die bisherige Einrichtung be-
stehen bleiben, daß nämlich die Decanen, die in ihr Fach einschlagenden Bücher
censirten. Die Professoren hingegen, welche bisher ganz Censurfrey gewesen,
hätten sich einer gleichen Einrichtung wie eben für Weimar vorgeschlagen worden,
zu unterwerfen.
So viel, nur gleichsam aus dem Stegreife, von einer Sache, die eine
weitere Bearbeitung fordert und wozu ich nach meinen Kräfften gern das
mögliche beytragen will, um so mehr, als ich wttusche, daß wir, die wir
bisher in dem Ruf der größten Liberalität gestanden, anch diese Liberalität
in einer nöthigen Einschränkung zeigen mögen."
'
Weimar am 15. April 1799.
Der Königliche Sächsische Kultusminister a. D. Herr Dr. Johann Paul von
Falkenstein hat vor Kurzem in der Verlagshandlung von Wilhelm Baensch
in Dresden eine Biographie und Charakteristik des Königs Johann von Sachsen
herausgegeben,^) welche wohl das schönste Denkmal der Pietät ist, das diesem
edeln und um sein Land so hochverdienten Fürsten gesetzt wurde. Kaum war
auch ein Andrer mehr berufen, dieses Buch zu schreiben, als der Mann, der
Jahrzehnte lang den Prinzen und König Johann kannte und verehrte, ihm vielleicht
persönlich näher stand als irgend ein andrer Minister,.und alle die schweren Prü¬
fungen, welche den Prinzen und König Johann als Menschen und Fürsten in seinem
langen Leben heimsuchten, auf das tiefste mit seinem Herrn empfunden hat
— namentlich die politischen Ereignisse, welche das Herz des Monarchen mit
Betrübniß und Wehmuth erfüllten. An dem Charakterbild, das Herr von
Falkenstein von diesem deutschen Fürsten gezeichnet, treu und wahr nach der
Natur, schrittweise folgend unwiderleglicher Urkunden und sonstigen zeitgenös¬
sischen Quellen, wird sich Jeder erfreuen, auf welchem politischen Standpunkte
er auch stehen mag. Denn viele der großen Züge unsres Kaisers, vor allem
die unermüdliche Pflichterfüllung im Dienste des Staates, das Streben jedes
Opfer zu bringen, das dem Glücke des Volkes dient, selbst das Opfer der aus
einer früheren Zeit überkommenen theuren Ueberzeugung, finden sich in dem Bilde
dieses Königs ausgeprägt. In dieser Hinsicht kann auch ein von Herrn von Falken-
stein völlig abweichender Standpunkt nicht anders urtheilen, als er gethan,
und es gereicht zu besonderer Freude, daß das Bild des Fürsten in Wahr¬
heit immer in den Tagen am reinsten sich zeigt, in denen politische Leiden¬
schaft es zu verzerren und zu verdunkeln bestrebt war: so 1845, 1848, 1866.
Wer die Quellen nachliest, die Herrn von Falkenstein zu Gebote standen, und
diejenigen, welche zu der nachstehenden Darstellung benutzt sind, wird erkennen,
wie vollständig sie sich decken in dem Bericht über das Verhalten des Prinzen
an einem der schwersten Tage seines Lebens, am 12. August 1845 in Leipzig.
Diese Uebereinstimmung der Auffassung ist um so unabhängiger, als die nach¬
stehende Darstellung jener Ereignisse bereits geschrieben und gedruckt war, als
mir das Buch des Herrn von Falkenstein zu Gesicht kam.
Das Eine aber, was dem Buche des Herrn v. Falkenstein vorzuwerfen ist
und worin er nicht königlicher, sondern bei weitem weniger weitsichtig ist, als
der König, den sein Buch feiert, ist seine beinahe hervorragende Unfähigkeit,
sich mit den Ideen, die seit etwa fünfunddreißig Jahren Deutschland und
Sachsen insbesondere bewegt haben, irgendwie zu befreunden. Im Jahre des
Heils 1878 bezeichnet uns Herr von Falkenstein alle die Ideen, welche in
Sachsen vom Jahre 1833 an bis zum Jahre 1848 sich regten, nnr als „den un¬
ruhigen, ins Ungewisse nach sogenanntem Fortschritt strebenden Zeitgeist", den
„Geist, der stets verneint"— Doch wer sich auch nur ganz oberflächlich mit
der sächsischen Geschichte beschäftigt hat, weiß, daß zu diesen Ideen haupt¬
sächlich das Streben nach einer gründlichen Reform des damaligen sächsischen
Strafrechts und Strafverfahreus gehört, an welcher der damalige Prinz Johann
den lebhaftesten Antheil genommen, durch deren gesetzliche Anerkennung und
Durcharbeitung er sich nicht den kleinsten Ruhm seiner Regierung als König
erworben hat. Und so könnte im Einzelnen noch an hundert Beispielen dem
Standpunkt des Herrn, welcher sich in den vierziger Jahren bis zum Jahre
1848 von dem mit reichster Hoffnung des Volkes begrüßten Minister Sachsen's
zu dem mit Recht bestgehaßten entwickelte, nachgewiesen werden, wie wenig ein
allgemeiner Steckbrief gegen den Zeitgeist zur schlichten geschichtlichen Wahrheit
und vor Allem auch zu dem großen Bilde des Fürsten paßt, welcher in jenem
Buche gefeiert werden soll. Aber ein solcher Nachweis würde Bogen füllen
und schließlich doch nur wenige Nichtsachsen interessiren. Dankbarer ist die Auf¬
gabe, Herrn von Falkenstein an einem einzelnen Falle nachzuweisen, daß er ganz ein¬
seitig urtheilt, daß er stets geneigt ist, wo ein Konflikt zwischen Volk und Regie¬
rung zu Tage tritt, dem Volke entschieden Unrecht zu geben, die Fehler der Regierung
— namentlich derjenigen, die er selbst mit leitete, — zu übersehen. In dieser
Hinsicht sind die Leipziger Augustereignisse des Jahres 1845 besonders lehrreich
für seine historische Auffassung. Er führt die Erzählung dieser Ereignisse ein
durch die Bemerkung: „Die revolutionäre Partei, die damals" — in der
Mitte des Jahres 1845, in der Schreckenszeit des reaktionären Ministeriums
Könneritz! — „das große Wort führte, hatte kein Mittel gescheut, den reli¬
giösen Fanatismus aufzuregen."*) Und S. 160 heißt es weiter: „Wahrschein¬
lich hatten freilich die Parteiführer dabei" — nämlich bei Erregung der Leip¬
ziger Exzesse des 12. August — „den Gedanken: zu Probiren, inwieweit für
spätere Zeiten auf die revolutionären Gesinnungen des Publikums zu rechnen
sein werde." Der Herr Minister a. D. insinuirt hier also: die revolutionäre
Partei habe damals in Leipzig den Ton angegeben. Ihre Parteiführer hätten
die Exzesse des 12. August planmäßig in Szene gesetzt, als Kraftprobe für
ihre revolutionären Absichten. Diese Behauptung wird wiederholt mit dem
Gewicht, welches das gedruckte Wort auch eines verabschiedeten Ministers
in den Augen deutscher Leser immer hat, im Jahre 1878, nachdem schon vor
dreiunddreißig Jahren gerade durch die Untersuchungen der sächsischen Regierung
selbst für alle Einsichtigen außer allem Zweifel steht, daß kein wahres Wort an
diesen Insinuationen ist. Zudem ist es klar, auf wen diese Anschuldigungen
zielen, auf den Führer der damaligen sächsischen Bewegung, der seit dreißig
Jahren todt ist, auf Robert Blum.
Es erscheint daher gewiß gerechtfertigt, ans meiner in wenig Wochen
(bei E. Keil) erscheinenden Biographie Robert Blum's diejenigen Abschnitte her¬
auszuheben, welche die Leipziger Augustereignisse des Jahres 1845 betreffen, um
zu zeigen, wie unrichtig die obigen Behauptungen des Herrn von Falkenstein
sind. Sein Bild und seine Thätigkeit nach jenen Ereignissen werden von den
Quellen freilich nicht in ungetrübter Schönheit zurückgestrahlt. Zunächst muß
hier ein flüchtiger Umriß der damaligen politischen Lage in Sachsen gegeben
werden.
Am 1. September 1843 war der tüchtigste, verdienstvollste und freisinnigste
Minister, den Sachsen je besessen, Bernhard von Lindenau, von seinem Amte
in das Privatleben zurückgetreten^ An seiner Stelle hatte der bisherige Justiz-
minister von Könneritz die Leitung des Ministeriums übernommen. Sein
Name an dieser Stelle bedeutete den Triumph der Reaktion. Das Ministerium
hatte dieser seiner Bedeutung entsprechend gehandelt: die Presse wurde ge¬
knebelt, mißliebige Schriftsteller wurden mit Ausweisung, Konzessionsentziehung,
Anklagen verfolgt; der Anspruch der II. Kammer des Landtags ans eine ent¬
scheidende Stimme bei der Gesetzgebung war von dem jetzigen Premier verhöhnt
worden, schon als dieser noch bloser Justizminister war.
Durch nichts jedoch war das verhaßte Ministerium von Könneritz unpo¬
pulärer geworden, als durch seine Haltung gegenüber den Ultramontanen, den
Deutschkatholiken und den Reformbestrebungen im protestantischen Lager.
Zunächst war die Klage über ultramontane und jesuitische Umtriebe im
Lande schon seit dem Jahre 1831 auf jedem Landtage erhoben worden. Die
Anträge, eine besondere katholische Fakultät zu begründen, und nur diejenigen
Erlasse katholischer Behörden mit gesetzlicher Gültigkeit zu versehen, welche sich
ausdrücklich auf das Plaeet des Staates berufen könnten, wurden schon unter
Lindenau abgelehnt. Und auch stete Klagen des Landes und der Landtage
über zunehmende Uebergriffe der katholischen Hierarchie waren schon unter
Lindenau vernommen worden. Entrüstet beschloß die zweite Kammer, daß pro¬
testantische Soldaten nicht mehr zur Kniebeugung in der katholischen Hofkirche
kommanoirt werden sollten. In scharfer Rede geißelte der ehrwürdige Super¬
intendent Großmann von Leipzig denselben Mißbrauch, die Härte der Regierung
gegen seinen Amtsbruder in Penig, als dieser ultramontane Umtriebe ans Licht
gezogen, das „auf Socken Einhergehen der hohen Behörden," wo es sich um
Uebergriffe der katholischen Hierarchie handle „als wenn sie glaubte, einen
Kranken oder Empfindlichen oder Reizbaren nicht im mindesten stören zu
dürfen." Diese Klagen veranlaßten selbst den Prinzen Johann, für den Weg¬
fall der Kniebeugung protestantischer Soldaten zu stimmen, „da die ersten
Protestantischen Geistlichen eine Beeinträchtigung ihrer Kirche darin fänden."
Kaum war indessen die Aufregung über diese Vorgänge im Schwinden
begriffen, so erscholl plötzlich der Alarmruf: „Jesuiten im Lande!" Hinter
dem Altar einer neuen Kirche in Annaberg fand man das bekannte jesuitische
Wahrzeichen, die Kirche selbst wurde dem vornehmsten, jesuitischen Schutzpatron
geweiht. In Brauna bei Camenz wurde ohne Wissen der Regierung eine
Filiale der Pariser Erzbruderschaft „vom unbefleckten Herzen Maria" zur Be¬
kehrung der Sünder errichtet. Eine Anzahl anderer gleichartiger Ueberhebungen
der ultramontanen Geistlichkeit,*) verstärkte die ungeheure Gährung, welche
diese Enthüllungen in der ganzen, namentlich in der protestantischen Bevölke¬
rung hervorrief.
Zum ersten Male verhielt sich die Regierung gegen alle Beschwerden, die
aus diesem Anlaß an sie gerichtet wurden, rein ablehnend. Selbst als die
Kreisdirektion zu Zmickau die Befürwortung der Vorstellungen übernahm,
welche Rath und Stadtverordnete zu Annaberg wegen der dortigen Jesuiten¬
geschichte an die Regierung richteten, erklärte die Regierung, daß dieser Vor¬
fall keinen Anlaß zum Einschreiten gegen die betr. katholische Behörde biete!
In schroffem Gegensatze zu dieser Gunst gegen den Ultramontanismus
stand die rauhe Behandlung, die das Ministerium Kvnneritz nnn den Deutsch¬
katholiken gedeihen ließ. Die Anerkennung einer besonderen Religionsgemeinde
hatte die Regierung den Deutschkatholiken zwar auch bisher schon versagt.
Sie hatte verboten, daß Kirchen und Gemeindehäuser den Deutschkatholiken zu
deren Gottesdienste eingeräumt würden, und hatte den Predigern der Deutsch¬
katholiken jede kirchliche Handlung verboten. Dagegen hatte die Regierung
bisher klug durch die Finger gesehen, wenn diese dem Rechtsstandpunkt der
Negierung entsprechenden Gebote übertreten wurden. Sie hatte geschehen lassen,
daß kirchliche und bürgerliche Gemeinden ihre Räume den Deutschkatholiken zur
Verfügung stellten; daß die Prediger deutsch-katholisch tauften, daß die prote¬
stantischen Pfarrer derartige Akte in die Kirchenbücher eintrugen, daß die deutsch¬
katholischen Wanderprediger überall, vor Glaubensgenossen wie vor Anders¬
gläubigen Reden und Andachten hielten. Nun auf einmal wurde das Alles
anders, in Allem das Gebot der Regierung auf's strengste durchgeführt. Die
allgemeine Mißstimmung stieg daher um so bedenklicher, als der Rechtsstand¬
punkt der Regierung keineswegs unbestritten war und die aufgeklärten Prote¬
stanten des Landes überall dem Deutschkatholizismus des Landes begeistert
zugejubelt, ihn nach Kräften unterstützt hatten.
Der letzte Zweifel über die kirchlichen Anschauungen der Regierung mußte
aber fallen und der Trägste und Gleichgültigste auch im Protestantische» Lager
aus seiner Ruhe aufgerüttelt werden, als die Regierung durch ihre berufene
Bekanntmachung vom 17. Juli 1845 erklärte „die Minister hielten sich durch
ihren Eid verpflichtet, für Aufrechthaltung der auf die Augsburgische Konfession
gegründeten Kirche zu sorgen, die Einheit derselben zu wahren und dem Ent¬
stehen von Sekten in solcher vorzubeugen." Damit war nicht blos, wie die
Regierung zunächst beabsichtigte, jenen dissidentischen und zugleich halb politi¬
schen glaubenslosen Sekten-Bestrebungen der „protestantischen Lichtfreunde"
die zu Pfingsten in Kochen eine Versammlung vieler Tausende abgehalten, und
dann in Schaaren Uhlig, Wislieenus und Anderen in Leipzig, Dresden und
Zwickau und wo diese sonst in Sachsen sich zeigten, zu Füßen gesessen hatten,
der Boden zu jeder weiteren, agitatorischen Thätigkeit entzogen. Nicht nur jede
Versammlung und Rede, jeder Zweigverein und jedes Preßvrgan dieser Nich-
lung konnte fortan einfach verboten werden, und wurde verboten, sondern die
Juliordonnanz des Ministeriums Könneritz erklärte geradezu der damals auch
in Sachsen herrschenden Richtung der protestantischen Kirche, der rationalisti¬
schen, den Krieg. Als ein Jahrzehnt vorher der Wunsch geäußert wurde, es
möchte auch in Sachsen, wie in Preußen, die Union der lutherischen und refor-
mirten Kirche vollzogen werden, durfte Großmann versichern, „dogmatisch und
im Herzen sei die Schranke längst gefallen, und das Weitere möge man ruhig
der Zeit überlassen."") Als derselbe Großmann im Jahre 1844 versuchte, die
Rosenmttller'sche Bekenntnißformel bei der Konfirmation durch das apostolische
Glaubensbekenntniß zu ersetzen, stieß er bei einem Theil der Leipziger Geist¬
lichkeit und in der Presse ans den heftigsten Widerstand. Namentlich machte
Blum in den „Vaterlandsblättern" auf das Gefährliche der Neuerung aufmerk¬
sam und die Bürgerschaft wurde lebhaft erregt. Gerade dieser Vorfall brachte
Allen zum Bewußtsein, was eigentlich der lutherischen Kirche fehle, eine Um¬
gestaltung ihres seit der Reformation unentwickelt gebliebenen Verfassungslebens,
die Mitwirkung der Gemeindeglieder an der innern und äußern Entwickelung
der Kirche. Eben infolge dieser aufsteigenden Klarheit hatte man den Reform¬
gedanken der Lichtfreunde sein Ohr geschenkt, und nun erklärte plötzlich das
Ministerium, daß es den im Protestantismus erwachten freien Geist gewaltsam
zurückdrängen wolle in die engen Fesseln eines starren Symbolglaubens, den
Großmann schon vor einem Jahrzehnt für gefallen erachtete, den die große
Mehrzahl der Bevölkerung und Geistlichkeit nicht mehr bekannte!
Die Gährung, welche diese Regierungsmaßregel hervorrief war ungeheuer.
An vielen Orten wurden öffentliche Versammlungen abgehalten, Proteste an
das Ministerium gerichtet, offen die Anklage erhoben, die Bekanntmachung vom
17. Juli sei verfassungswidrig, da sie die in der Verfassung allen Staats¬
bürgern gewährleistete Gewissensfreiheit verletze. Dieser Agitation hat auch
Robert Blum seine Zeit und Kraft geliehen. Namentlich gaben die „Vater¬
landsblätter" die kluge Losung aus, die Regierung ans ihrem eigenen Gebiete
zu bekämpfen, für sämmtliche Dissidenten die gesetzliche Anerkennung zu for¬
dern und dadurch von selbst eine Aufhebung der Verordnungswillkür der
Regierung zu erzielen. Infolge dessen reichten sämmtliche Dissidenten Sachsen's
am 20. August 1845 ein weit umfassenderes Glaubensbekenntniß und Verfas¬
sungsstatut ein, als dasjenige der Deutschkatholiken gewesen war und baten um
staatliche Prüfung desselben und um Anerkennung und Ertheilung kirchlicher
Korporationsrechte.
Ehe jedoch dieser letzte Schritt der Dissidenten geschah, hatte schon das
bisherige Verhalten der Regierung, welche auch die allgemeine Entrüstung der
Bevölkerung über die Juli-Bekanntmachung einfach ignorirte, zu einem furcht¬
baren Ausbruch des Vvlksunwillens geführt.
Seitdem das sächsische Regentenhaus, das solange der rühmlichste Vorkämpfer
der deutschen Reformation gewesen, um der unseligen Krone Polen's willen,
zum katholischen Glauben übergetreten war, machte das rege Mißtrauen des
protestantischen Volkes stets den katholischen Hof in erster Linie verantwortlich
sür solche Mißgriffe der Regierung, hier namentlich für die Begünstigung der
Jesuiten, die Unterdrückung der Deutsch-Katholiken. Unbegreiflicher Weise be¬
zeichnete damals die öffentliche Stimme in erster Linie den Bruder des regie¬
renden Königs Friedrich August, den Prinzen (und späteren König) Johann
von Sachsen als Förderer der jesuitischen Umtriebe und als geheimes Mitglied des
Ordens. Dieser Prinz hatte die reichste humanste Bildung genossen. Als ganz
jungen Mann hatte Jean Paul ihn kennen gelernt und ihm begeistertes Lob
gespendet. Seine literarischen Neigungen und Studien waren weltbekannt. Er
führte sein Leben am liebsten zurückgezogen, seiner Familie, seinen Studien hin¬
gegeben. Bei dem geringen Altersunterschied, der zwischen ihm und dem regie¬
renden, älteren Bruder bestand, dachte er kaum daran diesem jemals in der
Regierung zu folgen. Von seinem ersten öffentlichen Auftreten an in der
Sächsischen Ersten Kammer hatte er sich als scharfsinniger Jurist, als wohl¬
wollender und aufgeklärter Menschenfreund erwiesen, der jeder schroffen Partei¬
äußerung abhold war. Seine Aeußerung bei Gelegenheit des Kniebeuguugs-
streites zu Gunsten der von den protestantischen Superintendenten »erfochtenen
Meinung ist schon oben erwähnt worden. Seine ganze spätere Thätigkeit als
Prinz und als König hat niemals den Schatten eines Verdachtes dafür auf¬
kommen lassen, als sei er ein religiöser Fanatiker, zugeneigt kirchlichem
Hader, thätig für eine streitbare, von Grund ans unsittliche Ordensgewalt.
Aber wann wird jemals die Vernunft erfolgreich rechten mit vorgefaßten Mei¬
nungen des Volksglaubens? Genug, daß der Prinz im Jahre 1845 allgemein
als Träger der ultramontanen Bestrebungen in Sachsen, als die festeste Stütze
der reaktionären kirchlichen Politik der Regierung überhaupt galt. Es fehlte
nur der äußere Anlaß, um dieser Mißstimmung in grellen Dissonanzen Aus¬
druck zu verschaffen. Dieser Anlaß sollte sich leider finden.*)
Prinz Johann war General-Kommandant der Kommunalgarden des
Königreichs Sachsen. In dieser Eigenschaft kam der Prinz am 12. August
Nachmittags nach Leipzig, stieg im Hotel de Prusse ab und begab sich sofort
nach dem Exerzierplatz bei Gohlis zur Abnahme der Revue über die Kommu¬
nalgarden. Sein Gruß wurde von den Mannschaften nur lau erwiedert. Die
Uebungen der Bürgerwehr selbst dagegen wurden zur Zufriedenheit des Prinzen
ausgeführt; das Verhalten der Truppen bis zur Beendigung der Revüe war
tadelfrei. In das am Schlüsse derselben vom Kommandanten Dr. Haase auf¬
gebrachte Hoch auf den Prinzen wurde abermals nur matt und lau einge¬
stimmt und die Musik fiel in den Tusch nicht ein, weil sie über dem Schreien
und Pfeifen der Menge, welche sich um die Truppe drängte, das Hoch der
Garde nicht hörte und den Kommandanten nicht sah. Diesen ärgerlichen Zu-
fall legte die skandalsttchtige Menge als absichtliche Demonstration gegen den
Prinzen aus und steigerte ihr lärmendes und feindselig-höhnendes Pfeifen und
Schreien, bis der Prinz mit seiner Suite in die Stadt nach der Kaserne der
Pleißenburg ritt. Auf dem Wege dahin umdrängten Straßenbuben den Prinzen;
viele Neugierige folgten ihm, als er kurze Zeit nachher mit seiner Suite zu
Fuß von der Kaserne nach seinem Hotel sich begab. Irgend ein Exzeß fand
dabei nicht statt. *)
Während der Prinz in dem Hauptgebäude des Hotel's, das nach dem
Roßplatz und den Promenaden Ausblick gewährt, in der 'ersten Etage die
Spitzen der Behörden um sich versammelte und sich wiederholt lobend über
Leistung und Haltung der Kommunalgarde aussprach, hatten sich, wie gewöhn¬
lich, Neugierige vor dem Hotel versammelt. Heimkehrende Arbeiter kamen
hinzu. Doch war die Zahl der Menge nicht bedeutend. Vereinzeltes Pfeifen
und Schreien hörte man aus der Menge, die sich unruhig und bewegt zeigte.
Vor dem Hotel stand ein Doppelposten der Schützen.
Kurz vor 9 Uhr Abends setzte sich der Prinz mit den Spitzen der Be¬
hörden im Hofsaal (Gartensalon) des Hotels zur Tafel. Dieser Saal läuft
Parallel mit dem Hauptgebäude und ist von diesem durch einen Hof von etwa
dreißig Meter Tiefe getrennt. Man hörte hier anfänglich nichts mehr von
dem Geräusch auf dem Platze. Vor viertel zehn Uhr Nachts erschien der große
Zapfenstreich der Kommnnalgarde vor dem Hotel mit einem Theil der Wach¬
mannschaft und mit diesem eine große, heftig bewegte Volksmenge, welche so
laut schrie, pfiff und tobte, daß man die Musik fast nicht hören konnte. Nach
wenigen Minuten schon zog die Musik, ans Anweisung des Kommandanten
Dr. Haase, ab. Man glaubte, die unruhige Menge werde sich mit der Musik
verziehen. Aber man irrte. Die Menge blieb ans dem Roßplatz und ihre
Aufregung wuchs immer mehr. Rufe: „Es lebe Norge, Czerski! Nieder mit
den Jesuiten!" wurden laut. Plötzlich stimmte die gesnmmte Menge, die Kopf
an Kopf vom Hotel bis in die Promenaden, die sogenannte Lerchenallee hin-
eiustand, das ernste Trost- und Schlachtlied der Reformation an: „Ein' feste
Burg ist unser Gott". Alle Strophen des Liedes wurden gesungen. Dann
folgten andre Lieder: „Ein freies Leben fuhren wir", „Gute Nacht, gute
Nacht" u. f. w., gewöhnliche Gassenhauer. Gelächter, Toben, Schreien, Pfeifen,
gemeine Schimpfworte, die offenbar dem Prinzen galten, füllten die Kunst-
pausen aus.
Es war halb zehn Uhr geworden; der Prinz hatte die Tafel aufgehoben
und unterhielt sich im Gartensalon mit seinen Gästen. Das Geschrei vom
Platze war nun auch im Gartensalon hörbar. Der Prinz fragte einen der
Anwesenden: „Was ist das?" worauf dieser mit traurigem Byzantinismus
erwiederte: „Es wird ein Vivat sein, das man Ew, Kgl. Hoheit bringt, ein
Hurrah."
Schon bei Tafel hatten einige Bataillonskommandanteu der Kommnnal-
garde, Dr. Osterloh und von Canig, den Kommandanten Dr. Haase durch
Zeichen darauf aufmerksam gemacht, daß es wohl nöthig sei, Generalmarsch
schlagen zu lassen, um den Platz durch die Kommnnalgarde zu säubern. Die
Herren wiederholten diese Vorstellung nach Aufhebung der Tafel nachdrücklich,
da unterdessen der Tumult vor dem Hotel einen wesentlich ruchloseren Charakter
angenommen hatte. Der Pöbel nämlich, des Singens und Brüllens müde,
und keineswegs gewillt, in der milden Augustnacht schon nach Hause zu gehen,
hatte Massen von Steinen nach der vorderen Fensterfront des Hotels geschleu¬
dert. Durch einen dieser Steine ward sogar aus dem Gitter des Balkons der
ersten Etage ein Stück Eisen von drei Viertel Ellen Länge herausgeschlagen
Mehrere Steine flogen in die Hausflur des Hauptgebäudes und selbst bis in
den hinter demselben gelegenen Hof. Doch fand weder gegen den Doppelposten
vor dem Hotel, noch gegen die Chaine der Polizeimannschaften, die vor dem
Hotel noch einen kleinen Platz frei hielt, irgend ein persönlicher Angriff statt.
Wenn irgend einer der bei dem Prinzen versammelten Würdenträger eine An¬
sprache an die erregte Menge gehalten hätte, so wäre gewiß weiteres Unheil
vermieden, der bei weitem größte, blos aus neugierigen Zuschauern bestehende
Theil der versammelten Menge zum Nachyausegehen bewogen worden. Dazu
fehlte es aber alleu Anwesenden, und nicht am wenigsten den königlichen Be¬
amten, an persönlichen: Muth. Der Kommandant der Kommunalgarde, Dr.
Haase, hatte nicht einmal den Muth, Generalmarsch schlagen zu lassen. Auf
die Vorstellungen seiner Offiziere, ferner des Regierungsrathes Ackermann von der
Kreisdirektion und der Offiziere der Garnison, entschloß er sich vielmehr nach
langem Zaudern endlich nnr dazu, deu Hauptmann Dr. asa. Heyner nach der
Hauptwache auf deu Naschmarkt zu entsenden, um diese herbeizuholen. Es
war dies kurz nach halb zehn Uhr. Dr. Hehner seinerseits getraute sich An¬
fangs nicht durch die Menge über den Rvßplatz und verlor kostbare Minuten
um den Schlüssel zur Gartenthüre zu finden. Als dies nicht gelang,
eilte er zum Hauptthor des Hotels hinaus, verkündete mit seiner überaus kräf¬
tigen Stimme, daß er die Hauptwache hole und schritt in voller Uniform un¬
behelligt durch die Menge. Beweis genug, daß von wirklich gefährlichen Ab¬
sichten und vollends von einem planmäßigen Vorhaben der Massen gegen die
Sicherheit und das Leben des Prinzen gar keine Rede sein konnte.
Gleichwohl wartete man im Hotel keineswegs die Rückkehr des Dr. Heyner
ab. Der Weg nach dem Naschmarkte und zurück konnte frühestens in fünf¬
zehn Minuten zurückgelegt werden. Aber schon zehn Minuten, nachdem der
Befehl zur Herbeihvluug der Wachmannschaft an Dr. Heyner ertheilt worden
war, erhielt der Oberstlieutenant von Süßmilch auf Andringen des Regierungs¬
raths Ackermann, und ohne, daß die anwesenden Vertreter der Gemeinde, denen
zunächst die Bestimmung über die zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ord¬
nung anzuwendenden Mittel obgelegen hätte, auch nnr befragt worden wären,
durch den Obersten von Bnttlar den Befehl, ein Bataillon Schützen ans der
Kaserne herbeizuholen. Dieser Schritt ist nur daun vollkommen erklärlich,
wenn man die Kommunalgarde überhaupt uicht zur Wiederherstellung der Ord¬
nung verwenden wollte, wie auch später der Kriegsminister v. Nostiz-Wall-
witz offen vor der zweiten Kammer eingestand!*) Diese Absicht wurde auch
sofort klar durch die Behandlung, welche die Kommunalgarde nun erfuhr.
Fünf Minuten nach zehn Uhr treffen die Schützen unter Führung Süßmilch's
— den die Menge gleichfalls in voller Uniform unbehelligt nach der Kaserne
zu hatte passiren lassen — im Sturmschritt ein und stellten sich hakenförmig
vor dem Hütel auf. Zwei Minuten später trifft die Hciuptwache der Kommu-
ualgarde unter Dr. Heyner, über vierzig Maun stark, ein und wird von den Offi¬
zieren der Schützen verächtlich bei Seite geschoben, und Gewehr bei Fuß außer
Dienst unter den Akazien des benachbarten „Kurprinzen" aufgestellt, die Front
in der Verlängerung des Schrötergäßchens, fast im rechten Winkel zur Stel¬
lung der Schützen. Oberstlieutenant von Süßmilch ruft dem Hauptmann Dr.
Heyner gebietend zu: „Sie sind nicht mehr nöthig, gehen Sie zurück. Stellen
Sie sich aus der Schußlinie, stellen Sie sich hierher." Mehrere Gardisten
haben später zu Protokoll erklärt, daß Oberst von Buttlar auch geäußert habe:
„Es wird geschossen werden, hier können Sie nicht stehen bleiben"*); von
Buttlar hat diese Aeußerung in Abrede gestellt. Jedenfalls ist die Kvminunal-
garde absichtlich zur Zerstreuung der Menge nicht verwendet und in der un¬
gebührlichsten Weise zur Rolle müßigen Zuschauers der nun folgenden schweren
Katastrophe verurtheilt worden. Die Verwendung von Militär, bevor die
Kvmmnnalgarde zur Herstellung der Ruhe wirklich verwendet worden, war
geradezu ungesetzlich.
In wenig Minuten hatten die Schützen, Gewehr in Arm, ohne Anwen¬
dung des Bayonettes, den ganzen Platz gesäubert. Die ganze große Masse
war in die enge Lerchenallee und den dahinter laufenden Fahrweg zurückge¬
wichen und hier zusammengedrängt und strömte ab, so schnell das im dichten
Gewühl bei dem engen Raum anging. Die Schützen wichen nun wieder in
ihre vorige Stellung zurück. Der Platz blieb frei. Nur einige verwegene
Buben, nach allen Berichten blutjunge Menschen, übersprangen die Barrivren
der Allee, liefen auf das Militär zu, schimpften und warfen mit Steinen.
Deßhalb wurde, unter dem Vorantritt der Polizeimannschaft, der Lieutenant
Vollborn mit einem Peloton Schützen beordert bei Thaer's Denkmal in die
Lerchenallee einzurücken und die Menge aus dieser zu vertreiben. Er drang
da in der linken Flanke der Masse ein, und auch hier wich diese, von einzelnen
Steinwürfen Nichtswürdiger abgesehen, widerstandslos zurück, wie sämmtliche
abgehörte Polizeimaunschaften bekunden. Wegendes dichten Gedränges konnten
die Menschen nicht schneller weichen. Jedenfalls war nun längst jeder Schatten
von Besorgniß für die Sicherheit des Prinzen und seiner Leute, namentlich
auch der Truppe, zerstreut.
Da krachen mit einem Mal zahlreiche Schüsse durch die stille Nacht; vou
Süßmilch und Lieutenant von Abendroth lassen vom Hotel her über den Platz
in die Front der abströmenden Menge feuern, Lieutenant Vollborn läßt seine
Leute in Flanke und Rücken der Massen Rottenfeuer geben. Nach Versiche-
rung dieser drei Offiziere und einiger ihnen nahe Stehender war dem Schießen
eine Aufforderung an die Menge zum Auseinandergehen vorangegangen. Sehr
viele Andere aber, die dicht bei den genannten Offizieren standen, haben von
dieser Aufforderung nichts vernommen. Von der Menge, an die sie gerichtet
gewesen sein soll, hat jedenfalls nicht ein Einziger diese Aufforderung hören
können.
Die Wirkung des Feuers war furchtbar. Auf dem Roßplatz, zu dessen
Säuberung das Militär lediglich herbeigeeilt war, lag nur ein einziger Er¬
schossener — der Polizeidiener Urlaub. In Erfüllung seiner Pflicht hatte
ihn die im Namen der Ordnung entsendete Kugel hingerafft. Alle übrigen
Todten und Verwundeten waren in den Promenaden und sogar am Eingang
der Universitätsstraße — etwa 3 Minuten vom Roßplatz entfernt — von dem
mörderischen Blei getroffen worden. Die Meisten hatten die Todeswunde im
Rücken, zum Beweise dafür, daß sie auf dem Nachhausewege, unschuldig, ge-
tödtet worden waren. Am Arm seiner Braut fiel der Postsekretair Priem, nahe
bei ihm der Postsekretair Zehn; wenige Schritte von seiner eigenen Wohnung der
bejahrte Privatgelehrte Nordmann; zwei gesetzte Männer, der Markthelfer Klee¬
berg und der Schriftsetzer Müller, und ein vielversprechender Jüngling aus
gutem Bürgerhause, der Handlungskommis Freygang, lagen todt in ihrem
Blute. Die Verwundeten füllten die Krankenhäuser der Stadt.*) Es war
halb elf Uhr Nachts; seit dem Erscheinen des Militärs waren kaum zehn
Minuten verflossen!
Die Aufregung, welche die Kunde dieses grauenvollen Vorfalles in der
Stadt erzeugte, war ungeheuer. Das Entsetzen und die gerechteste Entrüstung
Tausender begleitete die Bahren der Erschossenen und Verwundeten.
Am bezeichnendsten für das Urtheil der Zeitgenossen über die That, ist
die Darstellung der gelesensten und maßvollsten politischen Zeitschrift jener
Tage. „Die Grenz boten" schrieben: „Ein plötzliches Kommando befahl
Feuer!" Die Schützen schössen unter die promenirende Menge! Keine Auf¬
forderung, keine direkte Drohung hatte die zum allergrößten Theile aus Neu¬
gierigen, darunter Weiber und Kinder, bestehende Masse ahnen lassen, daß zu
diesem fürchterlichen, alleräußersten, nur in Momenten eines Bürgerkrieges
oder einer Revolution zu entschuldigenden Mittel gegriffen werden könnte.
Dieses bezeugen Hunderte von Zuschauern mit dem heiligsten Eide. Kein An¬
stürmen, keine Beleidigung eines Soldaten hatte dieses unheilvolle Kommando
nöthig gemacht. Ja selbst im Falle eines Vordringens war das in Reih und
Glied stehende, mit Bayonetten und Munition versehene Militär dem gänz¬
lich unbewaffneten, ungeordneten, führerlosen Häuser unendlich überlegen."
Die Studenten erbrachen den Fechtboden und rotteten sich zusammen, um
die Schützen und deren Kaserne anzugreifen. Ihnen und Hunderten Gleich¬
gesinnter tritt die Kommunalgarde entgegen, die endlich um Mitternacht dnrch
Generalmarsch unter die Waffen gerufen wird, und ruhig und mühelos, ohne
Waffengewalt, die von neuem und in weit gefährlicherer Stimmung auf dem
Roßplatz sich sammelnde Menge zerstrent. Auch dahin war sie mit Hohn entsen¬
det worden. Als die Garde verlangte, selbst die Wache vor dem Hotel des
Prinzen zu übernehmen, erwiderte Oberst von Buttlar: „daß er unter keinen
Verhältnissen seinen Platz verändere, und so lange Se. Kgl. Hoheit im Orte
wären, das Militär von seinem Stande nicht abgehen lassen werde, anch daß
er von Niemandem, selbst nicht von S. Kgl. Hoheit, Befehle annehmen könne,
übrigens für die Kommnnalgardc, wenn sie, wie ihr zustehe, Exzedenten arre-
tiren wolle, Gelegenheit genug zum Einschreiten sich darbiete."")
Vou Verwünschungen und Steinwürfen verfolgt, von reitender Kommu¬
nalgarde aus der Stadt geleitet, enteilte am Morgen des 13. August auf Seiten¬
wegen, der an dem Gemetzel völlig schuldlose Prinz. Er hatte keine Ahnung
davon gehabt, welche Katastrophe der Uebereifer seiner Getreuen vorbereite, bis das
Entsetzliche geschehen war. Und dennoch glaubte am Morgen des 13. August
ganz Leipzig, der Prinz sei der Urheber des Feuerns gewesen. Ja, nicht ein
Einziger von allen Denen, die diesem traurigen Gerücht hätten entgegentreten
können, die mit dem Prinzen zu Tische gesessen, die mit ihm gesprochen bis
zur Katastrophe und bezeugen konnten, daß er durch das Feuern auf's Höchste
überrascht und bestürzt gewesen, nicht Einer von ihnen, außer dem mannhaften
Rektor der Universität, dem Domherrn Dr. Günther, hatte den Muth, der
Im Sommer 1875 hatte eine Stenereintreibung in der Herzegowina Un¬
ruhen zum Ausbruch gebracht, die sich rasch weiter verbreiteten, auch auf
Bosnien ausdehnten und bald in einen völlig politischen Aufstand der griechisch-
katholischen Christen dieser Landestheile übergingen, dessen ausgesprochenes Ziel
die Lostrennung von der Pfvrtenherrschcift war. Die Pforte bekämpfte diesen
Aufstand erst lau und mit unzureichenden Mitteln, dann zeitweis energischer;
zeitweis schien sie, völlig erlahmt, ihn ganz seinem Schicksale zu überlassen
Montenegro und Serbien unterstützten den Aufstand erst heimlich dann immer
offener, bis im Frühjahr 1876 seitens beider Staaten eine förmliche Kriegser¬
klärung an die Türkei erfolgte, indem zugleich Serbien sich von der Oberherr¬
schaft der Pforte völlig unabhängig erklärte. Der Aufstand trat damit in den
Hintergrund.
Die Pforte, nun offen erklärten Feinden gegenüber, raffte mit wachsender
Energie Streitkräfte zusammen, und während der Monate Juli bis Oktober
1876 gelang es ihr nicht nur, die Gegner erfolgreich abzuwehren, sondern so¬
gar, wenn auch sehr langsam und mit großen Verlusten, in Serbien einzu¬
dringen und das serbische Heer ernstlich zu schlagen. Der Erfolg der Tage
von Alexinatz (1. September) und Dyunis (23. Oktober), verbunden mit dem
kräftigen Auftreten des damaligen Großveziers Midhat-Pascha ließ sogar die
öffentliche Meinung Europa's wieder ein günstigeres Urtheil über die Kräfte
des türkischen Reiches fällen, und auch die Großmächte schienen von dieser un¬
erwarteten Kraftentwickelung zum Theil überrascht. Sie vermittelten zunächst
einen Waffenstillstand mit Serbien, um dieses vor völliger Eroberung und Be¬
setzung durch die Türken zu schützen; freilich mußte am 30. Oktober ein russisches
Ultimatum dieser Vermittelung erst den gehörigen Nachdruck geben. Mehr aber noch
als die Unruhen in Bosnien und der Krieg mit Serbien hatte ein Aufstand der
Bulgaren das Eingreifen der Großmächte herausgefordert. Die Pforte jedoch
hatte diesen Aufstand blutig unterdrückt und antwortete auf die Forderung von
Reformen, welche eine Konferenz von Vertretern der Großmächte in Konstan¬
tinopel für die aufständischen Völkerschaften als nothwendig festgesetzt hatte,
mit einem selbstbewußten „non xossumris". Das durch die Rundreise des
General Jgncitieff, russischen Botschafters in Konstantinopel, zu Stande ge¬
brachte Londoner Protokoll formulirte nur aufs neue die Wünsche der Gro߬
mächte, deren Erfüllung wiederum die Pforte in vornehmer Haltung, als mit
ihrer Souveränetät unvereinbar, versagte. Da trat Rußland nochmals für
dieses Programm drohend ein, und die erneute Ablehnung seitens der Türkei
führte zum Kriege.
Rußland hatte schon unterm 13. November 1876 die Mobilmachung von
6 Armeekorps angeordnet und seitdem seine Rüstungen vervollständigt; das tür¬
kische Heer stand noch vom serbischen Kriege her versammelt und bereit. Den
ernsten Worten konnten also die Thaten auf dem Fuße folgen.
Ehe wir aber die Ereignisse selbst an uns vorüberziehen lassen, scheint
es angezeigt, einen Blick ans die Heere zu werfen, welche ans den verschiedenen
Kriegsschauplätzen handelnd aufzutreten berufen waren. Es ist auf der
einen Seite das türkische Heer mit den Hilfstruppen der osmanischen Vasal¬
lenstaaten, auf der andern das russische Heer mit den Truppen der christlichen
Vasallenstaaten auf der Balkanhalbinsel, welche durch diesen Krieg die Ober-
Lehnsherrlichkeit der Pforte endgiltig abschütteln sollten.
Die türkische Armee bestand nach dem Organisationsplane von 1869,
der seitdem nur in Aeußerlichkeiten abgeändert worden war, aus dem stehen¬
den Heere (Nizam), der Landwehr (Redif) und dem Landsturm (Mustcchsiz).
Wehrpflichtig waren nach dem Gesetz alle männlichen Unterthanen der Pforte;
zum Dienst wurden jedoch nur herangezogen die Mohamedaner; von den
Christen wurde, und zwar gleich bei der Geburt jedes Knaben, eine Kriegssteuer
von 3000—5000 Piaster (600—1000 Mark) erhoben. Auch sür die Moha-
medaner galten eine Reihe lokaler Befreiungen, so für die Bewohner der Haupt¬
stadt, der Insel Creo, des Vilajet Skutari in Albanien, einiger Landstriche im
Taurus-Gebirge, eiues großen Theiles von Kurdistan u. f. w. Die Dienst¬
pflicht dauerte 20 Jahre, davon 4 (bei Kavallerie und Artillerie 5) im stehen¬
den Heere, 2 in dessen Reserve, 6 in der Landwehr und 8 im Landsturm. Bei
einer jährlichen Aushebung von planmäßig circa 50,000 Mann, welche die
Geldverhältnisse der Türkei aber auf weniger als 30,000 Mann eingeschränkt
hatten, sollte die Streitmacht auf Kriegsfuß zählen im stehenden Heere einschlie߬
lich der Reserve 220,000, in der Landwehr 300,000 Mann und ebenso viel
im Landsturm, zusammen 820,000 Köpfe. Diese Stärke sollte 1878 erreicht
werden. Ende 1875 betrug die Stärke nach dem damaligen Standpunkte der
Organisation 220,000 Mann im stehenden Heere und 115,000 Mann in der
Landwehr. Der Landsturm war noch nicht organisirt; dafür traten in der
Folgezeit in immer zunehmender Anzahl Freiwillige und Irreguläre auf, die
zu Fuß (Baschibozuks) und zu Pferde (Spahis) zunächst mit rund 70,000
Mann zu veranschlagen waren, so daß der Türkei zu Lande 405,000 Mann
mit beiläufig 672 Geschützen zu Gebote standen.
Formirt war das Heer in 7 Armeekorps, deren Stäbe der Nummer¬
folge nach ihren Sitz hatten in Konstantinopel, Schnmla, Monastir, Erzerum,
Damascus Bagdad und Sanaa, und deren Ergänzungsbezirke umfaßten: für
das I. Korps das nördliche Kleinasien, für das II. Bulgarien, Rumelien und
einen Theil von Kleinasien, für das III. Bosnien, Herzegowina, Albanien,
Thessalien, und den südwestlichen Theilvon Kleinasien, für das IV. Armenien und
Theile von Kurdistan und Aramauien, für das V. Syrien und Palästina, für das
VI. das südliche Kurdistan, El Dshesireh oder Mesopotamien und Irak Arabi, und
für das VII. Jemen und Hedshas, während in der Hauptsache dieses Korps sich
aus dem ganzen Reiche ergänzte. Jedes Armeekorps zählte planmäßig 6 Regi¬
menter Infanterie zu 3 Bataillonen, 6 Schützenbataillone, 4 Kavallerie-Regi¬
menter, 1 Artillerie-Regiment und 1 Geniekompagnie. Das I. Korps war um
1 Infanterie-Regiment, 3 Kavallerie Regimenter, 1 Artillerie-Regiment und
1 Schützeubataillon stärker, ebenso das III. Korps um 4 Infanterie-Regimenter
und 2 Schtttzenbataillone (dabei ist eine gesetzlich nur in Bosnien selbst zu ver¬
wendende böhmische Brigade mitgezählt), dagegen waren das VI. und VII. Korps
um je 1 Infanterie-Regiment, 1 Schützenbataillon und 2 resp. 3 Kavallerie-Regi¬
menter schwächer. Im Ganzen zählte das stehende Heer 45 Infanterie-Regi¬
menter — 135 Bataillone, 43 Schützenbataillone, zusammen also 178 Bataillone;
26 Kavallerie-Regimenter mit je 6 (eins nur zu 5, eins zu 4), dazu 2 selbstän¬
dige Eskadrons, im Ganzen demnach 155 Eskadrons; 7 Feldartillerie-Regimenter
mit 102 Batterien, daneben 10 Regimenter Küsten- und Festnngs - Artillerie
und 2 Regimenter Artillerie-Handwerker; endlich 7 Kompagnien Sappeure.
Ein Korps von 16 Regimentern Gendarmen (Zaptie) bot gleichfalls eine für
den Kriegsdienst verwendbare Truppe.
An Landwehr sollte jeder der 45 Regiments-Ersatz-Bezirke je 4 Batail¬
lone 1. und 4 Bataillone 2. Aufgebots stellen, doch war die Errichtung der
Kadres noch nicht beendet. Für 60 Eskadrons und 6 Artillerie-Regimenter,
welche planmäßig aufzustellen waren, fehlten noch Organisationsplan und
Kadres. Für etwaige Aufbietung des Landstnrms war noch gar nichts vor¬
gesehen.
Neben der rein lokalen Eintheilung in Armeekorps gab es keine bestimmten
Divisions- und Brigade-Verbände. Auch die Regimenter waren dnrch Ab-
kvmmandirungen schon im Frieden vielfach zerrissen, so daß eigentlich das
Bataillon derjenige Truppenkörper war, über den vom Kriegsministerium aus
direkt verfügt wurde.
Einen Generalstab im europäischen Sinne besitzt die türkische Armee
nicht. Die höheren Führer wählen sich ihre Organe nach Gutdünken. Die
Intelligenz ist im Heere vertreten durch die wenigen aus der Militürschnle von
Konstantinopel hervorgegangenen Offiziere; die Mehrzahl der Offiziere aber
steht an Bildung wenig oder gar nicht über ihren Untergebenen. Trotz feh¬
lender Bildung und Ausbildung aber geben Offiziere wie Mannschaften bei
der Folgsamkeit, der Ruhe im Gefecht, der Ausdauer und Genügsamkeit der
Türken ein sehr tüchtiges Material, dem nur die entsprechende Organisation
und Leitung fehlt, um mit ihm jede Operation erfolgreich durchzuführen.
Für die Mobilmachung des türkischen Heeres fehlte es an jedem Plane.
Schon seit Beginn der böhmischen Unruhen waren die Bataillone einzeln dahin
befördert worden, wo man sie gerade brauchte; dort wurden aus ihnen nach
Bedarf höhere Verbände gebildet. Eine regelmäßige Ergänzung fand nicht
statt. Man zog es vor, aus den eingezogenen Reservisten und Landwehrleuten
immer neue Bataillone zu errichten und diese dann, nothdürftig ausgerüstet,
uach dem Kriegsschauplatz zu befördern. Die Zahl der Bataillone stieg damit
über jedes normale Verhältniß, ihre Stärke aber hat wohl niemals dem Etat
entsprochen und sie kann während des Feldzuges nur zu höchstens 600 Mann
veranschlagt werdeu. Die Abgänge an Kavallerie wurden vollends ausschlie߬
lich durch irreguläre Truppen ersetzt, die reichlich beitrugen, die Kopfstürke der
Heere manchmal in unerwarteter Weise anschwellen zu lassen, und an denen
die asiatische Türkei sich besonders fruchtbar erwies.
Ein Ueberblick dessen, was die Türkei wirklich aufgeboten, ist bei dieser
Sachlage und in Ermangelung jeder offiziellen Veröffentlichung unmöglich zu
geben; nur annähernd lassen sich für einzelne Zeitpunkte die Zahlen der Trup-
penkörper berechnen, und nnr wo ganze Truppenkörper in russische Hände
fielen ließ sich die Kopfstärke derselben feststellen. Oben sind 178 Bataillone,
155 Eskadrons, 102 Batterien für das stehende Heer und 180 Bataillone des
1., 180 des 2. Aufgebots der Landwehr als etatsmäßige Truppeuzahl aufge¬
führt, (wobei vou letzterer Zahl die Menge der nicht völlig unterworfenen und
noch nicht organisirten Distrikte abzuziehen ist, so daß entsprechend den oben
angegebenen 115,000 Mann Landwehr höchstens 200 Bataillone als organi-
sirt gelten können). Nach türkischen Quellen werden aber für die Zeit der Er¬
öffnung des Krieges, Mitte April 1877, als auf den verschiedenen Punkten be¬
findlich aufgezählt:
Während also bei der Kavallerie und Artillerie noch nicht einmal die plan¬
mäßigen Friedenskadres der Feldarmee hatten kriegsbereit aufgestellt werdeu
können, waren bei der Infanterie schon Neuformationen in erklecklicher Anzahl
gebildet wobei allerdings für den Kriegsschauplatz in Asien auch schon irreguläre
Formationen mit eingerechnet sind.
Den türkischen Truppen zur Seite stand das Kontingent von Aegypten.
Dieses Land hat eine reguläre Armee von 16 Infanterie-Regimentern zu 4
Bataillonen, jedes 840 Köpfe stark, 8 Kavallerie-Regimentern zu 5 Eskadrons,
4 Feldartillerie-Regimentern mit zusammen 40 Batterien, 3 Regimentern Festungs-
Artillerie und einer Anzahl irregulärer berittener Truppen. Die 64 Bataillone,
40 Eskadrons, 40 Batterien sollten zählen 53,760 Mann, 5120 Pferde und
240 Geschütze. Die Armee war jedoch durch den vorangegangenen Feldzug
gegen Abyssinien empfindlich geschwächt und einigermaßen desorganisirt; ferner
hatte eine damals herrschende Seuche den Pferdebestand des Landes beträchtlich
gelichtet. Das von Aegypten gestellte Kontingent erreichte in Folge dieser Um¬
stände statt der vertragsmäßigen Stärke von 15 — 20,000 Mann Infanterie,
2000 Reitern, 24 Geschützen, im Ganzen nnr eine Kopfstärke von rund 12,000
Mann. Darüber, aus welchen Truppentheileu dies Kontingent bestand, fehlen
bis jetzt verläßliche Angaben. Die Truppen zeigten sich in dem strengen Klima
wenig verwendbar und mußten bald aus der vorderen Linie zurückgezogen
werden. Ihre Hauptaufgabe blieb dann die Deckung von Varna gegen das
russische Dobrudscha-Korps.
Das steheude Heer von Tunis sollte planmäßig aus 5 Jnfanterie-Regi-
mentern zu 4 Bataillons, 2 Eskadrons und 2 Regimentern Artillerie bestehen
und auf Kriegsfuß rund 20,000 Mann zählen, woneben noch ca. 10,000 Ir¬
reguläre aufgeboten werden konnten. Das Land war zur Stellung vou 4000
Mann Fußvolk, 1000 Reitern und 8 Geschützen verpflichtet, es wußte aber
uuter allerhaud Vorwänden sich dieser Vasallenpflicht zu entziehen, und tune¬
sische Truppen kamen nirgends zum Vorschein.
Die Streitkräfte zu Wasser, über welche die Türkei gebot, setzten sich
zusammen aus 19 Panzerfahrzeugen zur Verwendung auf hoher See und 12
Panzerfahrzeugen der Twnan-Flotille. Von Verwendung uugepanzerter Schiffe
nahm nur wohl von vornherein Abstand, entgegen dem, was auf Seite der
Russen geschah. Die Schiffe waren theils Breitseitschiffe älterer Konstruktion,
theils Thurm-, theils Käsemade-Schiffe. Ihr Werth war also sehr verschieden.
Bei der Verwendung aber machte sich besonders der Mangel ausgebildeter
Offiziere und Mannschaften fühlbar. Die Wirksamkeit der Flotte war wider
Erwarten gering. Es wird genügen, ihrer zu erwähnen, wo einzelne Schiffe
sei's auf der Donau, sei's im schwarzen Meere in Thätigkeit traten.
Rußland stellt bei der großen Ausdehnung seines Gebietes und der
Verschiedenartigkeit der dasselbe bewohnenden Völkerschaften auch an die Wehr-
haftigkeit seiner Bewohner verschiedene Ansprüche. Innerhalb des Rahmens der
seit 1874 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht sind, abgesehen von den zahlreichen
Befreiungen vom Dienste, vier große Gruppen zu unterscheiden. Für die Haupt¬
masse der Bevölkerung gilt 20jährige Wehrverpflichtung und zwar in Europa
6 jährige aktive Dienstpflicht, 9 jährige Reservepflicht, für die übrigen 5 Jahre
Verpflichtung zur Reichswehr. Die nicht Ansgehobenen gehören vom 2l. bis
40. Lebensjahre der Reichswehr an, deren vier jüngste Jahrgänge im Be¬
darfsfalle noch zum Heere einberufen werden können, während die älteren be¬
sondere Truppenkörper bilden. In Asien gilt 7 jährige aktive Dienstpflicht,
und uur 3 jährige Reservepflicht. Abweichend davon ist die Wehrpflicht der
Irregulären in den verschiedenen Kasakenländern und die Milizpflicht
einiger sogenannter Fremd Völker, meist in Kaukasien.
Rußland's Heer setzt sich zusammen aus 1., der eigentlichen Feldarmee
mit deu zugehörige» Reserve-und Ersatz-Truppen; 2., den Lokaltruppen und
zwar es, Festungs-Infanterie und -Artillerie, d) Lokaltruppen im engeren Sinne
(Regimenter, Bataillone und kleinere Komandos), welche zum Garnison- und
Sicherheitsdienst bestimmt sind in Gvuveruementshauptstädten, Etappenorten pp.,
wo keine Truppentheile der Feldarmee stehen, oder zur Uebernahme des
Dienstes, wo die Truppen der Feldarmee ausrücken, e) die zum Dienst in
den asiatischen Grenzländern bestimmten Linienbataillone im Kaukasus und den
asiatischen Gebieten, in größerer Zahl in Turkestan, wo auch eine Schützen¬
brigade von 4 Bataillonen und Artillerie in dieselbe Kategorie gehören; 3., den
Irregulären (Kasaken) und 4., den Milizen pp. der Fremdvölker.
Für den Orientkrieg kommen alle vier Bestandtheile des Heeres in Be¬
tracht; die Lokaltruppen hauptsächlich in so fern, als eine große Anzahl Festungs-
und Lokal-Bataillone in Neservebataillone umgewandelt, als solche mobil gemacht
und zu Reservedivisiouen formirt wurden, behufs Uebernahme des Etappen¬
dienstes in den besetzten türkischen Gebieten. Der Grund dafür lag in den
Ersatzverhältnissen der russischen Armee. Bei der früheren langen Dienstzeit
war die Zahl der ausgebildeten Reservemannschaften verhältnißmäßig gering,
Nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und Herabsetzung der aktiven
Dienstzeit von 15 auf 6 Jahre wurde nur allmälig die Zahl der jährlich ein¬
zustellenden Mannschaften von früher 100,000 auf in den letzten Jahren 218,000
Mann erhöht, die älteren Reserven aber schieden regelmäßig nach dem fünf¬
zehnten Dienstjahre ans. Bei Ausbruch des Krieges fehlten uun, uach erst
dreijähriger Wirksamkeit der allgemeinen Wehrpflicht, zwar nicht der Zahl nach
die nöthigen Mannschaften zur Aufstellung aller Kriegsformationen, wohl aber
die genügende Anzahl ausgebildeter Leute zur Ausfüllung der für Verwendung
im Felde bestimmten Truppenkörper. Mit dem ausgebildeten Material konnten
nur die Feldtruppen auf rund 800 Maun statt der etatsmäßigen 1000 für das
Bataillon gebracht werden, und für den Etappendienst nahm man lieber die
festgefügten Kadres der Lokaltruppen mit ihrem Friedensstande an ausgebildeten
Leuten, als lauter Neuformationen mit flüchtig ausexerzirten Mannschaften.
1. Die Feldarmee bestand aus 48 Infanterie-Divisionen (3 der
Garde, 4 der Grenadiere und 41 der Linie) jede zu 4 Regimentern, die 12 der
Garde ohne Nummer, 16 Regimenter der Grenadiere und 164 der Linie der
Nnmmerfolge nach den Divisionen angehörend. Die Regimenter der Garde
und der 7 Divisionen der kaukasischen Armee, (Kaukasische Grenadiere und Ur.
19. 20, 21. 38. 39. und 41) also 40 Regimenter hatten je 4, die 152 Regi-
acuter der übrigen 38 Divisionen noch je 3 Bataillone, erstere zu 4, letztere
zu 5 Kompagnien, die ganze Infanterie der Feldarmee zählte demnach 616
Bataillone zu planmäßig 1000 Mann auf Kriegsstärke. Daneben gab es in
8 Schützenbrigaden zu je 4 Bataillonen noch 32 Schützenbataillone von
derselben Stärke. Jeder Infanterie-Division war eine Feld-Fußartillerie-Bri¬
gade von 6 Batterien zu je 8 Geschützen zugetheilt, mithin in 288 Fußbatterien
2304 Geschütze. An Kavallerie gehörten zur Feldarmee, abgesehen von kleinen
Abweichungen in der Friedensformation 3 Garde-, 14 Armee- und 1 Don-Kasaken-
Kavallerie-Division, jede zu 4 Regimentern und (die Kasaken-Division ausge¬
nommen) 2 zugetheilten reitenden Batterien. Die 1. Garde-Division hatte 4
Kürassier-, die Kasaken-Division nnr Kasaken-Regimenter, die übrigen 16
Divisionen je 1 Dragoner-, 1 Ulanen-, 1 Husaren- und 1 Kasaken-Regiment.
Die Kasaken-Regimenter hatten 6 Ssotnien*), alle andern je 4 Eskadrons. Im
Kaukasus trat hinzu 1 kaukasische Kavallerie-Division aus 4 Dragoner-Regimentern
^ 16 Eskadrons und eine kombinirte kaukasische Kasaken-Division, aus 2 Kuban-
und 2 Terek-Kasakeu-Regimentern zu je 6 und 4 Ssotnien, zusammen 20 Ssot¬
nien gebildet. Die Kavallerie zählte mithin für das europäische Heer 208 Es¬
kadrons, 96 Ssotnien mit 34 reitenden Batterien zu je 6, zusammen 204 Geschützen,
für den Kaukasus 16 Eskadrons, 20 Ssotnien. Wie hier schon Kasaken-Truppen-
theile fest eingefügt in höhere Verbände der Feldarmee erscheinen, so führte die Mo¬
bilmachung in Gestalt neuer Kavallerie-Divisionen wie als Divisionskavallerie den
Heeren auf beiden Kriegsschauplätzen neue Bestandtheile an Irregulären zu. An
technischen Truppen waren (in 5 Brigaden) 15 Sappeurbatailloue zu je 4
und 8 Pontonnierbataillone zu 2 Kompagnien vorhanden.
Von Reservetruppen sollten planmäßig für jedes Infanterie-Regiment
1 Bataillon, für jede Artillerie-Brigade 1 Batterie, für jedes Kavallerie-Regi¬
ment 1—2 Eskadrons und dazu im Ganzen 20 Sappeurkompagnieu aufgestellt
werden. Ihre Errichtung erfolgte erst allmälig im Laufe des Feldzuges, zum
Theil, wie schon oben gesagt, aus Festungs- und Lokal-Bataillonen.
Die Zahl der Ersatztruppen betrug für jedes Infanterie-Regiment, jede
Schützen- und jede Sappeur-Brigade je 1 Bataillon, für die Artillerie-Brigade
je 1 Batterie, für das Kavallerie-Regiment je 1 Eskadron. Letztere bestanden
schon im Frieden, ebenso die Kadres für einige reitende Ersatz-Batterien.
Bis zur Mobilmachung im Herbst 1876 stand über den Divisionen nur
der territoriale Verband der 14 großen Militärbezirke (I. Petersburg, II. Finnland
III. Wilna, IV. Warschau, V. Kiew, VI. Odessa, VII. Moskau, VIII. Charkow,
IX. Kasan, X. Kaukasus, XI. Orenburg, XII. Westsibirien, XIII. Ostsibirien,
XIV. Turkestan), nur für die Garde war, wenigstens nominell, ein Korpsver-
band vorhanden, Ende 1876 und im Februar 1877 wurden 15 neue Korps¬
verbände geschaffen, einer für die drei europäischen Grenadier-Divisionen nnter
Zutheilung der 14. Kavallerie-Division, in die übrigen 14 wurden je 2—3
Infanterie-Divisionen und je 1 Kavallerie-Division nach der augenblicklichen
Dislokation eingereiht, so daß nur die 2. 3. 23. und 40. Infanterie-Division
und die obengenannten 7 kaukasischen Divisionen außerhalb der Korpsverbände
blieben^
Die Mobilmachung der Feldarmee ging nach einem bestimmten Plane
ähnlich wie in Deutschland ordnungsgemäß und, mit Rücksicht auf die uoch
unfertige Organisation und die großen Entfernungen, auch ziemlich rasch von
Statten. Indessen machte sich neben dem Mangel an ausgebildeten Reservisten
namentlich auch der an Offizieren geltend. Speziell den Train betreffend, der
bis dahin lediglich Sache der einzelnen Truppentheile war, wurden besondere
Formationen für das Verpflegswesen wie für den Krankendienst, die selbständig
neben den Trnppentheilen standen, erst während des Kriegszustandes neu ge¬
schaffen. Ebenso war der Etappendienst, wie er nach deutschem Vorbilde im
Rücken des Heeres eingerichtet und gehandhabt wurde, eine bis dahin dem
russischen Heere fremde Einrichtung. Die gleichzeitige Mobilmachung des
ganzen Heeres erfolgte übrigens nicht. Es wurde am 13. November 1876
zunächst nur die Mobilmachung von 6 Armeekorps (Ur. 7—12) mit 12 In¬
fanterie- und 6 Kavallerie-Divisionen für den Kriegsschauplatz in Enropa be¬
fohlen, also die Bataillone zu 800 Mann, die Eskadrons und Ssotnien zu 145
Pferden berechnet, von 144 Bataillonen, 108 Eskadrons und Ssotnien, 72
Fuß- 12 reitenden Batterien mit 115,200 Mann, 15,660 Pferden, 648 Geschützen.
Der Uebergang anderer Truppen auf Kriegsfuß, ja schon die Zutheilung von
Schützen und Kasaken zu dieser ersten Feldarmee, wurde uicht mehr öffentlich
bekannt gemacht, wir werden sie erst nach und nach in der europäischen Türkei
wie an der kaukasisch-türkischen Grenze auf den Kriegsschauplätzen erscheinen sehen.
2. An LvkaltrnpPeu waren vorhanden für den Festungsdienst: 24 Festungs -
Infanterie-Regimenter zu 4 Bataillonen, im Frieden meist nur Kadre-Batail-
lone, deren Vertheilung sich nach der Große und Bedeutung der festen Plätze richtet,
welche sie besetzen sollten, und nach denen sie auch benannt wurden. Ans
Kriegsfuß zählte die Festungs-Jnfanterie rund 100,000 Mann. Die Festungs-
Artillerie ist ebenfalls je nach dem Bedarf der einzelnen Festungen in Kom¬
pagnien und Bataillone formirt; im Ganzen bestehen im europäischen Nußland
und im Kaukasus 150 Kompagnien, und ihre Gesammtstärke berechnet sich auf
nahezu 50,000 Mann. Die theilweise Feldverwendung der Festungsinsanterie
ist oben augedeutet, wie viel Feftuugsartillerie zu den Belagerungstrains ?e.
herangezogen worden, darüber fehlt bis jetzt eine offizielle Mittheilung. Be-
lagernngs-Geschütz wurde sehr bald nach Beginn des Feldzuges an der Donau
verwendet, eine eigentliche Belagerung jedoch nur vor Kars durchgeführt.
Die eigentlichen Lokaltrnppen bilden theils (9) Regimenter zu 4 Batail¬
lonen, theils (13) Bataillone zu 2 und 4 Kompagnien von 400 bis zu 1000
Köpfen, theils (an 600) kleinere Lokalkommando's der verschiedensten Stärke
und Begleitkommando's zum Transport von Arrestanten, Insgesammt erreichen
diese Lokaltrnppen eine Kopfstärke von über 150,000 Mann, aber während
einzelne größere Garnisonen bestimmte feste Etats haben, wechselt die Stärke
der meisten Etats je nach dem Bedürfniß wie z. B. durch das Eingehen eines
bisher nothwendigen Wachpostens.
Von den 34 Linienbataillonen mit einer Gescimmtkriegsstärke von
rund 35,000 Mann, sind 7 kaukasische, die nur im Innern Kaukasien's zur
Verwendung kamen, sonst 2 orenburgische, 4 West- 6 ost-sibirische und 15 tnrke-
stanische.
3. Von irregulären Truppen, kamen für die letzten Feldzüge in
Betracht: die Kasakenheere des Don, des Kuban, des Terek und theilweise die
von Astrachan, vom Ural und von Orenbnrg. Die weiter östlich angesiedelten
Kasaken von Sibirien, Ssemirätschensk, Transbaikal und dem Amur waren
auf den Kriegsschauplätzen nicht vertreten-
Das Heer der Don-Kasaken stellt bei 20jähriger Dienstpflicht in drei
Kategorien 60 Reiter-Regimenter zu 6 Ssotnien und 21 Batterien zu 6 Ge¬
schützen. Ein Drittheil davon ist schon im Frieden im Dienst und ist daher
oben (bis aus 2 einzeln stehende Regimenter) in den Kavallerie-Divisionen der
Feldarmee nachgewiesen. Die dort genannte Don-Kasaken-Division erhielt schon
Batterien der zweiten Kategorie. Die übrigen Regimenter und Batterien der
zweiten und dritten Kategorie wurden theils zur Bildung zweier neuer Kavallerie-
Divisioneu und Streifkorps verwandt, theils als Divisionskavallerie den In¬
fanterie-Divisionen zugetheilt. Abgesehen von kleinen Abtheilungen der Ural-
und Kuban-Kasaken bei der Garde ?c. wurden in Europa nur Don-Kasaken verwendet.
Das Kuban-Heer stellt bei 22 Dienstjahren für die Pflichtigen 27
Reiter-Regimenter zu 6 Ssotnien, 6 Fußbataillone zu 5 Ssotnien (die Plaß-
tuny) und 5 reitende Batterien zu 8 Geschützen, das Terek-He er 14 Reiter-
Regimenter zu 4 Ssotnien und 2 Batterien zu 4 Geschützen. Die Regimenter
der oben genannten kaukasischen Kasaken - Division sind in diesen Zahlen mit
eingeschlossen: Das Heer von Orenburg stellt 17 Regimenter zu 6 Ssotnien
und 8 Batterien, das Ural-Heer 9 Regimenter, die übrigen sind noch schwächer.
Wie und wo die einzelnen Kasaken-Truppentheile zur Verwendung gekommen
sind, darüber ist bis jetzt noch wenig Zuverlässiges bekannt geworden.
4. Von den einheimischen Milizen, die, schon um sie aus der un-
ruhigen Heimath zu entfernen, der Operationsarmee in Asien zugeführt wurden,
sind zu nennen: Die Reiter-Regimenter von Daghestan und von Kutais zu
je 6 Ssotnien, die Grusinische Fuß-Drushina, die Gurische Fuß-Ssotnie, die
Milizen von Daghestan, vom Kuban und vom Terek, die Miliz des Andischen
Bezirks und die Suchum'sche Wache. Bei allen diesen Formationen handelt
es sich nur um eine geringe Anzahl von Kompagnien.
Eine Berechnung der Gescunmt-Stärke der russischen Wehrkraft hat
für den letzten Orientkrieg wenig Werth, denn die Kräfte kamen erst nach und
nach zur Geltung, und es' wird besser sein, bei den einzelnen Kriegsereig¬
nissen die Zahlen anzuführen, mit denen man in dem gegebenen Falle zu
rechnen hatte.
Die Seestreitkräfte Rußland's im schwarzen Meere, 2 Panzerschiffe
(Popowka's) mit zusammen 4 und 24 Kriegsdampfer mit rund 80 Geschützen,
kamen angesichts der starken türkischen Panzerflotte nur durch die kühnen Thaten
einzelner Schiffe zur Geltung; aber das Personal auch eines Theiles der Ost¬
seeslotte nahm sehr thätigen Antheil an dem Kampfe auf der Donau und be¬
mannte dort theils eine neu geschaffene Strom-Flotille, theils die den Türken
abgenommenen Fahrzeuge.
Als Bundesgenossen der Russen erscheinen in erster Linie die Rumänen,
dann auch gleich vom Beginn des Krieges an die Montenegriner, und in den
späteren Perioden des Krieges die Serben.
Das rumänische Heer zerfiel in das stehende Heer und die Territorial-
Armee. Bei im ganzen 26jähriger Wehrpflicht dienten die Ausgehobenen 4
Jahre im stehenden Heere, 4 Jahre in dessen Reserve, 6 Jahre in der Terri¬
torialarmee und 2 Jahre in deren Reserve, darüber hinaus in der nur für
Sicherheitsdienst im Innern aufzubietenden Miliz.
Das stehende Heer zählte 8 Infanterie-Regimenter zu 2 Feld-, 1 Depot-
Bataillon, 4 Jägerbataillone, 2 Kavallerie-Regimenter zu 4 Feld-, 1 Depot-
Eskadron, 2 Feldartillerie-Regimenter mit je 8 Batterien zu 6 Geschützen, 1
Sappenrbatcnllon und 1 Pontonnierkompagnie, Sanitätstruppen !e., im Ganzen
auf Kriegsfuß über 42,000 Mann.
Die Territorialarmee wurde am 1. Januar 1877 in 16 Regimenter
Fußvolk (Dorobcmzen) zu 2 Bataillonen und ein einzelnes Bataillon getheilt/')
ebenso sollten 33 Eskadrons (Kalaraschi) und 33 Batterien aufgestellt werden,
und schließlich die Miliz ebensoviel Bataillone und Eskadrons zählen. Die
Kriegsstärke der Territorialarmee war auf 36,000 Mann und 12,000 Pferde
mit 198 Geschützen berechnet.
Nach der schon im November 1876 aufgestellten Ordre-de-Bataille war
die Armee, entsprechend der Friedenseintheilung, in 4 Divisionen eingetheilt,
in denen jeder Infanterie-Brigade je 1 Linien-, 1 Dorobanzen-Regiment und
1 Jäger-Bataillon zugetheilt war. Spätere Veränderungen wurden nicht mehr
veröffentlicht. Die Armee hatte neben der Thätigkeit im Felde noch einen an¬
strengenden Besatzungs- und Etappen-Dienst zu leisten, so daß alle Theile der
Wehrkraft aufs äußerste angespannt waren. Das Heer zeigte sich dabei in
seiner ganzen Organisation, Ausbildung und Ausrüstung über Erwarten tüchtig
und kriegsbrauchbar.
Montenegro, dessen Thätigkeit während des russisch-türkischen Krieges
einen beträchtlichen Theil der türkischen Streitkräfte fesselte, ist in seiner ganzen
Verfassung wie Verwaltung militärisch organisirt. Dem Verwalter (Lsräu-r)
jeder der acht Radien des Landes steht ein Wojwode als Militärchef zur
Seite, welcher das in 3 bis 5 Bataillone zu formirende Aufgebot der Nahie
befehligt. Die Häupter der einzelnen Geschlechter (?1«zinsna.), deren 39 be¬
standen, waren zugleich Führer der entsprechenden, 5—12 Kompagnien zählen¬
den, Bataillone. Die Dienstpflicht dauerte vom 17.—50. Jahre und man
zählte rund 18,000 Pflichtige, dazu noch als 2. Aufgebot die Leute von 14—17
und von 50—60 Jahren, gaben weitere 7000 Mann, so daß 25,000 Mann
oder 15°/<, der Bevölkerung zum Dienst verfügbar waren. Die Stärke der
aufgebotenen Mannschaft richtet sich nach dem jedesmaligen Bedarf. Schon
der Verpflegung wegen entläßt man die Leute, sowie es irgend angeht, und
ruft sie zum nächsten Gebranchstage wieder zusammen. Im April 1877 wurde
die Streitmacht berechnet auf 15,804 Mann des 1., 2060 Mann des 2. Auf¬
gebots und 6890 Herzegowiner, welche in die montenegrinischen Truppen mit
eingereiht waren, zusammen 24,754 Mann.
Die serbische Armee war nach Beendigung des Feldzuges 1876 noch
im November des genannten Jahres vollständig neu organisirt und neben
einer kleinen stehenden Truppe war die frühere Miliz in die eigentliche aktive
Armee und deren Reserve umgewandelt worden. Wehrpflichtig ist jeder Serbe
vom 20. bis zum 50. Lebensjahre, davon 3 Jahre dienstpflichtig im stehenden
Heere, 3 in dessen Reserve, vom 26. Jahre an in der Nationalnrmee, der alle
Nichteingestellten sofort angehören.
Das stehende Heer bildet eine Brigade von 4 Bataillonen Infanterie,
2 Eskadrons Kavallerie, je 1 Bataillon Pioniere und Pontonniere (letztere
nur 3 Kompagnien), dann 1 Zug berittener Garde, Gendarmerie, Laboratorium-
Arbeiter, Train- und Sanitütsabtheilungen, zusammen rund 4000 Mann.
Die aktive Armee zerfällt in 4 Armeekorps, nach ihren Territorien
benannt 1. der Schumadya, 2. der Drina, 3. der Morawa und 4. des Ti-
not, jedes zu 4 Brigaden, und die Stärke beträgt 21, respektive 17, 17 und
20, zusammen 75 Bataillone, jedes planmäßig zu 800 Mann, also 60,000 Mann
Infanterie; an Kavallerie wurden aufgestellt 5 Regimenter, (2 beim Schumadya,
1 bei den andern Korps) mit zusammen 22 Eskadrons zu 155 Pferden, also
3410 Pferde; endlich 4 Artillerie-Brigaden zu je 8 Batterien, schwere zu 8,
leichte und Gebirgs - Batterien zu 4 Geschützen. Die Artillerie zählte in 25
schweren und 7 Gebirgs-Batterien zusammen 228 Geschütze. Ob diese Armee
im Dezember 1877 schon in der angegebenen Stärke in Thätigkeit trat, oder
was von den Formationen noch rückständig war, ist nicht genau anzugeben.
Nach dem unglücklichen und verlustreichen Feldzuge von 1876 trat das Heer in
seiner neuen Gestalt wieder erfolgreich auf und hatte, wenn auch nicht mehr
der ungeschwächten Türkei gegenüber, bei seinem Vordringen doch noch eine
Reihe hartnäckiger und blutiger Kämpfe zu bestehen.
Die Kommission zur Vorberathung des Sozialistengesetzes hat die zweite
Lesung desselben am 1. und 2. Oktober erledigt, leider aber ohne in einigen
Hauptpunkten eine Verständigung mit den verbündeten Regierungen erreicht zu
haben, sodaß diese Aufgabe, ihrem größten Umfange nach, für die beginnende
Woche dem Plenum zufällt, nachdem der Bericht an dasselbe am 4. Oktober
von der Kommission festgestellt worden.
Wir hatten uns von dieser zweiten Lesung in der That viel mehr ver¬
sprechen zu dürfen geglaubt, denn bei der ersten Lesung war die Stellung
einiger Kommissionsmitglieder nicht so klar und bestimmt hervorgetreten, wie
es bei ihrer Grundrichtung eigentlich hätte erwartet werden können, anscheinend
um ihre bevorstehende Zustimmung zu wesentlichen Punkten der Vorlage in
der Zwischenzeit noch gegen die Regierungen zu verwerthen. Man durfte im
Hinblick auf die schweren Folgen, welche nach dem unternommenen Anlaufe
ein abermaliges Scheitern des Gesetzes haben müßte, wohl annehmen, daß Die¬
jenigen, welche ernstlich für dessen Zustandekommen einzutreten gewillt sind,
den wesentlichen Wünschen der Regierungen schon in der Kommission zum
Durchbruch verhelfen würden. Es wäre von weit günstigerem Allgemein-Ein-
druck und geeigneter, den Reichstag für den vollen Geist des Präventivgesetzes
zu gewinnen, wenn eine Mehrheit der Kommission schließlich herzhaft und ent-
schlössen den Regierungen die wahrlich nicht geringe Verantwortlichkeit wesent¬
lich in der Weise aufgelegt hätte, wie sie dieselbe zu tragen wünschten. Aber
der tiefe Widerstreit der zwei grundsätzlichen Richtungen, welcher dieses Gesetz
von Anfang an auf seinem Wege begleitet, verhinderte, daß dasselbe in einer
den Umständen entsprechenden, auch äußerlich imponirenden Weise zur Ent¬
stehung geführt wurde.
Die Regierungen ließen der Kommission gegenüber die Absicht möglichster
Vermeidung von Konflikt deutlich hervortreten und nahmen durch Graf Eulen-
burg in der Art Stellung, daß sie in Betreff einiger Hauptpunkte den Be¬
schlüssen der ersten Lesung Widerspruch entgegensetzten, einige der beschlossenen
Abänderungen, z. B. die von einer Subkommission zu 1 ausgearbeiteten
Punkte über das Kasseuwesen, ausdrücklich als Verbesserungen anerkannten, die
übrigen aber durch Stillschweigen zu genehmigen schienen.
Der erste jener Hauptpunkte bezog sich auf die im Z 1 festzusetzende nähere
Bestimmung des Begriffs der sozialistischen Bestrebungen. Wir hoben schon
im vorigen Berichte den großen Unterschied hervor, der hervortritt, wenn man
von Untergrabung oder wenn man von Umsturz der bestehenden Staats- und
Gesellschaftsordnung redet, und wir hatten es den Regierungen schon verdacht,
daß sie dem letzteren Ausdruck nicht schon in erster Lesung bestimmter
entgegengetreten waren. Wie sich nun herausstellte, hatten sie dies entgegen¬
kommend in der Unterstellung unterlassen, daß in der Praxis Beides insofern
auf dasselbe hinauslaufen werde, als es selbstverständlich nicht Absicht sein
könne, das allmälige Wühlen der Sozialdemokraten von der Verfolgung aus¬
zuschließen. Die auf dieser Erwägung ruhende Absicht ist jedoch übel gelohnt
worden. Die erst in zweiter Lesung und mit dem Anspruch der Aufnahme in
den Kommissiousbericht von Laster vorgebrachten Motive für die in erster
Lesung beschlossene Aenderung des § 1 haben gewaltig enttäuscht, denn dnrch
diese sollte nach Absicht des Antragstellers gerade die allmälige und nach
unserer Meinung gefährlichere Agitationsart dem Gesetze entzogen werden.
Wenn, nach Laster, wirklich diejenige „reformatorische Thätigkeit" unverfolgt
bliebe, „welche die allmälige Anleitung der gegebenen in neue Verhältnisse
durch den Wechsel der Ueberzeugung herbeizuführen strebt und diese Ansicht
nicht durch bloßes Wortbekeuntniß, sondern durch die Wahl der Mittel dar¬
thut," so würde gerade ein von den sozialdemokratischen Blättern jetzt starkbe¬
tonter Wunsch erfüllt, durch welchen sie irre zu führen suchen. Wenn die
„Berliner Freie Presse" täglich auf Laster's grünem Tische läge, so mochten
wir doch wissen, ob er wirklich z. B. in der Art, wie dieses Blatt Jhering's
neues Buch über das Rechtspriuzip herausstreicht, uur eine unschuldige „refor¬
matorische Thätigkeit" erblickt. Diese in das Gewand von Humanität, Wissen-
schaft, Aufklärung und dergleichen gekleidete Wühlerei ist jetzt stark im Gauge.
Niemals waren wir daher von der Richtigkeit des Bismarck'schen Urtheils über
Laster's Thätigkeit mehr überzeugt, als nachdem dieser obige Motive verlesen.
Es war natürlich, daß die Regierungen nunmehr auf die Herstellung des
Ausdrucks „Untergrabuug" besonderes Gewicht legten und auch die Beseitigung
der Worte „in eiuer deu öffentlichen Frieden oder die Eintracht der Bevölke-
rnugsklassen gefährdenden Weise" wünschten; einmal aufmerksam gemacht ans
die bedenkliche Tendenz jener Motive, mußten sie nun auch darauf bedacht
sein, daß nicht etwa umstürzende Bestrebungen der bewußten Art, welche in
anderer, in indirekt gemeinschädlicher Weise zu Tage treten, als zulässig
erschienen Vou der Abstimmung über die Motive ist nun zwar, uuter dein Ein¬
drucke dieses Verlangens, in versöhnlicher Absicht abgesehen und somit wenig¬
stens eine unnöthige Verschärfung des Gegensatzes vermieden; es liegt aber
auf der Hand, daß nach den erwähnten Vorgängen die Regierungen nicht um¬
hin können werde», im Plenum auf jenem Verlangen zu beharren. Nachdem
dieser Gegensatz einmal zur Sprache gekommen, läßt er sich nicht mehr ver¬
tuschen; wenn Bennigsen gleichwohl die Kommission ausdrücklich hierzu veran¬
laßte, so mag dies geschehen sein, um der Kommissionsarbeit erst einmal vom
Flecke zu verhelfen; im Plenum ist die Sache um so mehr auszutragen, als
die Wiederherstellung des Ausdrucks „Untergrabung" von der Kommission ab¬
gelehnt und auch vom übrigen Zusätze nur ein Theil wieder beseitigt wurde.
Der zweite der hauptsächlicheren Differenzpunkte betrifft die Gestaltung
der Rekursiustanz. Der in erster Lesung schließlich mit knapper Noth zu
Stande gebrachte Beschluß, welcher auf eine theilweise Wiederaufnahme des
ursprünglichen preußischen Vorschlags hinauslief, hat wider Erwarten die Zu¬
stimmung der mittelstaatlichen Regierungen erhalten, der Bundesrath verlangt
jedoch die Beseitigung der Verschlechterung, dnrch welche der Vorschlag, wie es
scheint, den oppositionellen Elementen annehmbarer hatte gemacht werden sollen.
Nach dem ganzen Geiste und Zwecke des Gesetzes erscheint eine juristische Mehr¬
heit der Rekursiustanz so ungeeignet, daß sich der Gegenvorschlag der Regie¬
rungen, wonach die vom Bundesrath außerhalb seines Kreises zu wählenden
vier Mitglieder nicht blos den höchsten Gerichtshöfen, sondern auch den obersten
Verwaltungsgerichten der Einzelstaaten entnommen werden können, fast von
selbst ergab. Wohl um ganz sicher zu sein, daß der Behörde der Charakter
im Sinne des Gesetzes gewahrt werde, wurde regierungsseitig die freie Er¬
nennung des Vorsitzenden durch den Kaiser gewünscht. Aus den Verhandlungen
der Kommission über diesen von den Konservativen als Antrag aufgenommenen
Vorschlag ist nicht zu entnehmen, welche Anhaltspunkte, nachdem die Kom-
Mission denselben verworfen, für eine Verständigung über diesen Punkt im
Plenum vorhanden sind.
Auch der Wunsch der Regierungen nach einer längeren als 2^ jährigen
Geltungsdauer des Gesetzes hat in der Kommission keine Gnade gefunden.
Daß uach einiger Zeit das Gesetz und seine Wirkungen einer Prüfung der ge¬
setzgebenden Faktoren unterzogen werde, wird von den konstitutionellen Grund¬
sätzen in Verbindung mit dem Außerordentlichen der Maßnahmen erheischt.
Bis wann aber das Gesetz seinen Zweck völlig erfüllt haben werde, kann von
Niemandem vorhergesagt werden, gegenwärtig lassen sich darüber nur Ver¬
muthungen anstellen, welche aber auf ganz unmeßbaren Grundlagen ruhen.
Keiner der beiden Theile kann sich auf einen bestimmten Zeitraum steifen wollen;
allseitig feststehend dürfte nur das Eine sein, daß der Zeitraum nicht zu kurz
gegriffen werden darf, sonst konnte für die vollziehende Gewalt eine verschie¬
dentlich sehr fatale Lage eintreten. In erster Linie wollen denn auch die
Regierungen keine Aufnahme einer Zeitdauer und sie betrachten es schon als
Zugeständniß, daß sie unter Umständen hiervon überhaupt abzugehen bereit
sind. Wenn überhaupt, so wird im Plenum die Einigung über einen Zeit¬
raum zwischen 2^ und 5*) Jahren zu Stande kommen müssen.
Gegen die erwähnten Meinungsverschiedenheiten in den drei Hauptpunkten
will es wenig in Betracht kommen, daß die Kommission in zweiter Lesung
zwei an sich recht wesentliche Zugeständnisse gemacht hat, daß es nämlich zu
Z 6 wieder ausgegeben ist, das gänzliche Verbot einer periodischen Zeitschrift
vom zweiten Verbote einer einzelnen Nummer derselben abhängig zu machen
und daß in § 16 die Zulässigkeit der Gewerbeentziehung bezüglich der Gast¬
wirthe, Buchdrucker u. s. w,, welche für die sozialistischen Bestrebungen agitiren,
wieder hergestellt ist.
Die Zugeständnisse der Kommission sind nicht infolge eines besonderen
Kompromisses mit den Regierungen erfolgt. Mit welchem Grade von Ent¬
schiedenheit diese an ihrer Auffassung obiger Hauptpunkte schließlich festzuhalten
entschlossen sind, ist in der Kommission nicht sonderlich hervorgetreten; doch
glauben wir, daß kein Grund vorliegt, etwa das durchweg konziliatorische Ver¬
halten der Bevollmächtigten des Bundesraths als Zeichen minderer Entschie¬
denheit deuten zu wollen. Nach unserer Ansicht sind die Regierungen über¬
haupt außer Stande, in den Hauptpunkten viel nachzugeben, weil Zweck und
Charakter des Gesetzes sonst ganz verfehlt würde. Das scheint auch der Sinn
der Erklärungen des Fürsten Bismarck gegenüber einzelnen Abgeordneten
zu sein.
Nach der ersten der beiden Kommissionssitzungen in zweiter Lesung scheint
die preußische Regierung noch die besten Hoffnungen gehabt zu haben, denn
ihr halbamtliches Organ sprach am 2. Oktober die Zuversicht aus, daß bei
der zweiten Lesung in der Kommission eine natürlichere Mehrheit als bei der
ersten es zu einer Verständigung kommen lassen werde; derselbe Tag brachte
jedoch die Täuschung. Gleichwohl haben die Verhandlungen der Kommission
ohne jeden Mißklang geendet.
Wir vermögen nicht einzusehen, warum die in Gemeinschaft mit den Kon¬
servativen zur schließlichen Entscheidung berufenen Nationalliberalen es ver¬
schmäht haben, schon in der Kommission auch in Betreff der letzten Differenz¬
punkte nachzugeben- Als Opfer der Ueberzeugung kann doch die Zustimmung
zu diesem anomalen Gesetze überhaupt nicht angesehen werden, eine scheinbare
Sprödigkeit und zögernde Taktik in Betreff jener Punkte ist offenbar ganz aus¬
sichtslos und schließlich werden die Nationalliberalen letzteren im Plenum doch
zustimmen müssen, wenn anders sie ihr den Wählern gegebenes Wort halten
wollen, ein wirksames Gesetz zu Stande bringen zu helfen. Die nationallibe¬
rale Fraktion tritt zwar erst am K. Oktober zur Berathung des Kommissions¬
berichtes zusammen; es ist aber bei der überhaupt herrschenden Zerfahrenheit
der Ansichten sehr fraglich, ob die Fraktion es den Führern in vorliegender
Sache nicht eher verdankt, als verübelt hätte, ihrer Entscheidung in der Kom¬
mission vorgegriffen zu haben. Die am 9. Oktober im Plenum beginnende
zweite Lesung wird weitere Aufklärung und Entscheidung bringen.
Später, als uns selber lieb ist, bringen wir das erste der beiden vor¬
stehenden Werke zur Anzeige. Die Verzögerung hat aber wenigstens das
Gute gehabt, daß unsere Besprechung, nachdem durch eine Reihe angesehener
deutscher Zeitschriften für das hinlängliche Bekanntwerden des Buches in Deutsch¬
land gesorgt worden ist, gewisse Dinge übergehen, über die bisher erschienenen
Kritiken eine Art Superkritik üben und die inzwischen hernnsgegebene deutsche
Bearbeitung des englischen Werkes, deren Erscheinen ja vorauszusehen und nur
zu wünschen war, zum Vergleich mit heranziehen kann.
Sine's Lessingbiographie wurde bei ihrem Erscheinen auch in Deutschland
sofort mit allgemeiner Freude willkommen geheißen. Man wünschte beiden
Glück, den Engländern und uns, daß einer der größten Geister unseres Volkes
einen so trefflichen Biographen jenseits des Kanals gefunden, einen noch bes¬
seren als Schiller in Carlyle — die Bulwer'sche Skizze kann hier nicht in
Betracht kommen — und Goethe in Lewes; man freute sich um so mehr
darüber, da Lessing, trotzdem daß er der Bahnbrecher Shakespeare's in Deutsch¬
land gewesen ist und trotz der sonstigen zahllosen Berührungspunkte seiner
Studien mit der englischen Literatur, schon um seiner theologischen Richtung
willen dem englischen Volke bisher weniger sympathisch war als Schiller und
Goethe, es also einer doppelt gediegenen und gehaltvollen Darstellung bedürfte,
um diese mangelnden Sympathien anzufachen; ja man beneidete die Engländer
um dieses Buch, erneuerte die schon oft mit patriotischen Beklemmungen gezo¬
gene Parallele zwischen Lewes' Goethebiographie und dem bei uns in dieser
Richtung bisher Geleisteten und gestand sich, daß eine ähnliche für uns be¬
schämende Parallele von nun an auch in der Lessingliteratur werde gezogen
werden müssen. Darauf erhob die zünftige deutsche Literaturwissenschaft ihre
Stimme — eine der jugendlichsten unter ihren zünftigen Schwestern, die sich
aber trotzdem bereits gewaltig fühlen gelernt hat — und suchte der allge-
meinen Erregung einen kleinen Dämpfer aufzusetzen. Wozu der Lärm? hieß es,
das Buch von Sine enthält ja absolut nichts Neues, es ist nichts weiter als eine
geschickte Verarbeitung des in Deutschland längst bekannten Materiales, mit aller
Umsicht zwar und allem Fleiß veranstaltet, so daß von der einschlägigen
deutschen Literatur dem englischen Versasser nichts Wesentliches entgangen ist, aber
doch kein Buch darnach, um bei uns in Deutschland solches Aufhebens davon
zu machen. Bis dann endlich in der allerjüngsten Zeit sich noch einmal eine
halbzünftlerische Stimme im gegentheiligen Sinne vernehmen ließ, mit breitem
Behagen Auszüge aus dem Buche brachte, die immer mit den Worten einge¬
leitet wurden: „Hierüber sagt Sine" und „Darüber sagt Sine", so daß es
nun wieder fast den Anschein gewann, als ob in dem Buche des Engländer's
so gut wie alles neu, und als ob alles das, was „Sine sagt", vorher noch
von keinem Sterblichen gesagt worden sei.
Wie stehen nun die Dinge? Was ist eigentlich die Wahrheit? — Nach
unsrer Meinung Folgendes: Wir hatten bisher in Deutschland zwei biogra¬
phische Werke über Lessing, das umfassende Werk von Danzel und Guhrauer
und das bekannte Buch von Stahr. Danzel's Darstellung gehört zu jenen
wuchtigen Materialsammlungen, an denen wir Deutschen keinen Mangel haben,
die jeder respektvoll nennt, wenige lesen und niemand kauft, die auf Biblio¬
theken stehen und dann und wann von denen konsnltirt werden, die sx xro-
tö83o mit fachwissenschaftlichen Studien sich beschäftigen. Für den weiteren
Kreis der Gebildeten ist das Buch schlechterdings ungeeignet. Aus ihm hat
seiner Zeit Stahr mit geschickter, freilich auch etwas leichtfertiger Hand feine
Darstellung zusammengeschrieben. In eine lesbare Form hat er das Danzel'-
sche Material unzweifelhaft umgegossen, dabei hat es aber mehr als einen recht
unangenehmen Zusatz bekommen. Dahin gehört vor allem der ans die Dauer
unausstehliche panegyristische Ton, in dem das Ganze geschrieben ist. Stahr
drückt den Leser fortwährend mit der Nase darauf, was Lessing doch für ein
großer Mann gewesen, er kommt aus seiner krampfhaften Bewunderung nicht
heraus. Um diesen panegyristischen Ton nirgends herabstimmen, nirgends
einen Schatten neben das Licht stellen zu müssen, verrennt er sich sogar in
die seltsamsten Auffassungen. Man lese z. V. sein Kapitel über die „Emilia
Galotti", in welchem der alte Goethe sich von Adolf Stahr muß sagen lassen,
daß er das Stück gar nicht verstanden habe, und nun eine Charakteristik der
Emilia konstruirt wird, die in psychologischer Unmöglichkeit wahrhaft Haar¬
sträubendes leistet — nur, um andere Vorwürfe, die Lessing gemacht worden
sind, abzuweisen! Neben dieser plumpen Glorifizirung aber ein ewiges Rai-
sonniren und Lamentireu über die Noth, in der Lessing gesteckt, und über die
schlechten Menschen, die ihm das Leben sauer gemacht haben, gepfefferte Aus¬
fälle gegen Gott und alle Welt, gegen die Fürsten, gegen die traurigen politi¬
schen Zustände Deutschland's, gegen die „Pfaffen", gegen die „gelehrten Phi¬
lister" — kurz, eine Darstellung, die sich mit dem monumentalen Charakter,
den eine Biographie an sich tragen sollte, sehr schlecht verträgt, Lessing's aber
am allerwenigsten würdig ist.
Die Darstellung von Sine verbindet die Vorzüge der beiden deutschen
Biographien mit einander und vermeidet ihre Schwächen. Das ist die simple
Wahrheit. Ein größeres Lob aber kann dem Buche kaum gespendet werden.
Sine kennt unsre Lessingliteratur gründlich, bis herab auf den unbedeutendsten
Zeitungsartikel. Sachlich Neues, das ist wahr, enthält sein Buch so gut wie
nichts, wenn es auch keineswegs an neuen Gesichtspunkten darin fehlt. Aber
wer erwartet heute noch wesentlich neues biographisches Material über Lessing,
vollends von einem Ausländer, und wenn derselbe sich auch Jahre lang in
Deutschland aufgehalten hat und dabei den Spuren Lessing's überall ans's
gewissenhafteste nachgegangen ist? Auch „geistreich" kann man das Buch nicht
nennen; nach leuchtkugelartig schillernden Aperyus wird man sich vergebens
darin umsehen. Aber Sine hat das vorhandene Material sorgfältig und ver¬
ständig benutzt, alles, was er mittheilt, ist sachlich korrekt, er hat die klarste
Einsicht in Lessing's wissenschaftliche Methode und in die Eigenthümlichkeit
seines Stils, die Gruppirung des Materials ist augenscheinlich das Resultat
reifer Erwägung. Etwas flach ist gelegentlich der Hintergrund gezeichnet, von
dem die Hauptgestalt sich abhebt; hier hat sich Sine, wie er selbst bekennt, an
sekundäre Quellen, wie Biedermann's „Deutschland im achtzehnten Jahrhundert"
und Hettner's „Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" gehalten, und
es ist begreiflich, daß wir ans diese Weise nur einen vermittelten Eindrnck ge¬
winnen. Vor einem Urtheil wie das über Goethe's Faust, dessen tragisches
Motiv Sine (1,203) lediglich in der sucht nach Vergnügen (lovo ok x1«zg,8uro) findet
— im Gegensatz zu Marlowe's und Lessing's Faust, bei denen es in der Sucht
uach Macht (loof of xovsr) und in der Sucht nach Wissen stovo ok I:nov1o6Zo)
liege — hätte er übrigens durch Hettner bewahrt bleiben sollen. Musterhaft
dagegen in ihrer treffenden Auffassung und ihrer maßvollen Beurtheilung sind
die Kapitel über die Lessing'schen Hauptdramen, musterhaft vor allem auch
die beiden Kapitel über den „Laokoon" und die „Hamburgische Dramaturgie".
In dem Verständniß des ersteren ist Sine allerdings wesentlich gefördert worden
durch die erläuterte Blümner'sche Ausgabe, während er für die Dramaturgie
die inzwischen erschienenen Arbeiten von Cosack einerseits, Schröter und Thiele
andrerseits noch nicht verwerthen konnte. Auf jeden Fall gebührt ihm das
Verdienst, daß er den wohlgelungenen Versuch gemacht hat. Lessing's ästhetisches
Shstem, das ja entschieden in beiden Schriften niedergelegt ist, wenn es anch
in der Form, in der es vorliegt — hier in den oft nur lose zusammenhängenden,
von allerhand Exkursen unterbrochenen Kapiteln, dort in den völlig unzusammen-
hängenden Theaterkritiken — nicht hervortritt und nur den Blicken desjenigen sich
erschließt, der in langer, treuer Arbeit sich in diese Schriften vertieft und zwar
gleichzeitig in beide vertieft, dieses System herauszuschälen und in eine geordnete
Folge zu bringen.
Angenehm ist die Darstellungsweise Sine's. Zwar gewinnt man nicht
den Eindruck eines großartigen Gesammtbildes, dessen einzelne Partieen straff
konzentrirt, dessen Farben in feinen Uebergängen vertrieben find, sondern eher
den einer Frieskomposition, die in sauberer Mosaikarbeit an unserm Auge
vorüberzieht. Aber die schlichte Art, mit welcher der Verfasser die Thatsachen
reden läßt, hat — namentlich im Hinblick auf Stahr's Darstellung — etwas
ungemein Wohlthuendes. Wo er tadelt, da geschieht es mit der Bescheidenheit,
die Lessing gegenüber sich gebührt, wo er lobt, mit herzlicher, fast kindlicher
Freude und Aufrichtigkeit.
Es ist und bleibt zu bedauern, daß wir in Deutschland derartige Bücher
nicht fertig bringen. ^ Die tiefe Kluft zwischen fachwissenschaftlicher und po¬
pulärwissenschaftlicher Literatur, die bei uns lange Zeit bestanden hat, ist zwar in
der letzten Zeit ein wenig ausgefüllt worden. Namentlich durch die verführerisch
reichen Honorare, die einzelne der neu entstandenen deutschen Monatsschriften
zu zahlen im Stande sind, ist mancher zünftige Gelehrte von seinem hoch¬
ragenden Katheder herabgelockt worden in die gemischte Gesellschaft der „Schrift¬
steller" von Metier. Mit Verwunderung gewahrt man, wie gefeierte akademische
Namen es nicht verschmähen, unter der Anführung eines simpeln Journalisten
mit in Reih und Glied zu treten. Die Lust zu schnellem und leichtem Gewinn,
die man andern zum Vorwurf macht, hat auch in diesen Kreisen ansteckend
gewirkt. Aber zur Ausarbeitung eines im besten Sinne des Wortes populären
Buches, welches das vorhandene Material vollständig beherrscht und auch im
kleinsten Detail auf der Höhe der Forschung steht, welches nicht an die Fach-
genossen, sondern, um ein Lessing'sches Wort zu brauchen, an „die Besten und
Erleuchtetsten der Nation" sich wendet, welches die Resignation übt, den schwer¬
fälligen Aufputz, den die Abfälle des wissenschaftlichen Rohmaterials bilden,
ans der Werkstatt zu beseitigen und nur das reinliche literarische Kunstwerk
dein Leser zu zeigen, zu solcher Arbeit entschließt der deutsche Gelehrte sich doch
nur selten. Er überläßt das leider in der Regel unberufenen, halbunterrichteten
Federn. Es fehlt uus ja nicht ganz an solchen Büchern, namentlich die deutsche
Kunstwissenschaft hat mehr als eines davon auszuweisen; Springer's eben
vollendetes Werk über Raffael und Michel Angelo ist das jüngste leuchtende
Beispiel dieser Art. Aber gerade auf dem Gebiete der Literaturwissenschaft
werden ähnliche wohl noch lange auf sich warten lassen.
Die deutsche Uebersetzung, beziehentlich Bearbeitung des Sine'schen Buches
hat Strodtmcmn im Ganzen kalt- und geschmackvoll besorgt. Er hat Partieen
ausgeschieden oder verkürzt, die nur für das englische Publikum nothwendig
waren, und seine Uebertragung liest sich fast durchweg tadellos und glatt. Selten
begegnen verunglückte Konstruktionen, wie S. 431: „um eine auf seine Stief¬
kinder bezügliche Geschäftssache zu ordnen, die nach wie vor bei ihm lebten"
(im Original vollkommen deutlich: „to arrg-n^s soins do.8inss8 oormsowä ^led
IÜ8 stsx-LliilÄrsir, wdo eontwusÄ to lips viel dirri). An Flüchtigkeiten
und Mißverständnissen fehlt es freilich nicht ganz. Sine nennt sein Buch
kurz und gut: „I^sssinx". Wie kommt Strvdtmann dazu, daraus „Ilvssin^, Kis
Mo -in-itmM" zu machen? S. 20 schreibt Strodtmcmn von dem Unter¬
richt ans der Meißner Fürstenschule: „Ein großer Theil der Zeit ward auf
die Lektüre und Auslegung der Bibel verwandt, und die Knaben wurden
systematisch in der Theologie und Kirchengeschichte unterrichtet; doch wurden
auch die alten Sprachen nicht vernachlässigt. Einige Stunden waren der
französischen Sprache, der Mathematik, der Geographie und Geschichte gewidmet;
in den höheren Klassen ward auch Hebräisch, Logik und Ethik gelehrt. Das
Hauptgewicht lag jedoch, neben der Religion, auf dem Studium des La¬
teinischen und Griechischen." Wie auf einer Sache das Hauptgewicht liegen
kann, die drei Zeilen zuvor blos „nicht vernachlässigt" wird, ist schlechterdings
nicht einzusehen. Im Original steht aber auch etwas ganz anders; dort heißt
es: In otlnzr ro8xöets tdvir traininA °v?g,s eliisll/ „elNWie^I". — S. 21 nennt
Strodtmcmn den Mathematikus der Meißner Fürstenschule, an den der junge
Lessing sich besonders anschloß, Klemm, begeht also dieselbe Flüchtigkeit mit
diesem Namen wie Stahr. Siine hat ebenso wie Danzel die richtige Form,
Klima lVgl. I. A. Müller, Geschichte der Fürsten- und Landschule zu Meißen
1787. II, S. 278). Was hatte Strodtmcmn hier im Geringsten für einen
Grund, die Glaubwürdigkeit seines Originales anzuzweifeln? — In dem Kapitel
über die „Wolfenbüttler Fragmente" schreibt Sine: „I7x to tds last ^Sars ok
I^'s eng it not publiei^ Knovn ed.s,t I^ssiiiA pala leis smallöst attention
de> tdövlo^." Das übersetzt Strodtmann scheinbar wörtlich, aber durchaus
unverständlich: „Bis zu feinen letzten Lebensjahren war es Wenigen bekannt,
daß Lessing der Theologie die geringste Aufmerksamkeit widme." Wollte er
den Sinn des Originales wiedergeben, mußte er wenigstens schreiben: „auch
nur die geringste Aufmerksamkeit" oder „irgend welche Aufmerksamkeit". —
Ueber ein thörichtes Gerücht, das wegen der „Fragmente" über Lessing aus¬
gesprengt worden war, schreibt Sine (II, 336): „» rsxort vliioli d«z ässmeä
IinflortWt McmAk to <1«zinM<1 a, torirml clevi»!." Strodtmann giebt diese
Worte wieder: „ein Geschwätz, zu dessen förmlicher Widerlegung er sich herbei¬
ließ." Sie enthalten aber gerade das Gegentheil: Lessing ließ sich nicht zur
Widerlegung herbei. Kirchlichen Dingen scheint Strodtmann fern zu stehen;
sonst könnte er nicht S. 20 von einem „lutherischen Priesterstande" reden — I^tdorM
ZMtoi-s steht bei Sine. Auf kleinere Flüchtigkeiten wollen wir, nach diesen
Beispielen, kein Gewicht legen. Strodtmann scheint z. B. allen Ernstes zu
glauben, daß Formen, wie intriguant, Epikuräer, antecipiren grammatisch richtig
sind, während es doch bekanntlich merigard, Epikureer, anticipiren heißt. In solchen
Kleinigkeiten nehmen's ja unsre Herren „Schriftsteller" überhaupt uicht sehr
geuau. Eine unangebrachte Genauigkeit ist es dagegen, wenn Strodtmann da,
wo es sich nicht um wörtliche Anführungen aus Lessing, sondern um bloße
Wiedergabe seiner Ideen handelt, veraltete Lessing'sche Originalausdrücke, wie
Artist, Kuttstrichter, Aktriee, S. 254 sogar Mouvement (anstatt Tempo) in seiner
Uebersetzung anwendet.
Nicht ohne Beschämung kann man das englische Original und die deutsche
Bearbeitung hinsichtlich ihrer ünßeren Ausstattung vergleichen. Das englische
Buch präsentirt sich, was Papier und Druck betrifft, in einem so gediegenen
und vornehmen Gewände, wie es nun einmal — man rühme das deutsche
Buchgewerbe der letzten Jahre, so viel man will — nur der französische und
englische Buchhandel leistet. Außerdem ist jeder Band mit einem Porträt ge¬
schmückt: der erste mit einem Lichtdruck nach dem besten vorhandenen Bildniß
Lessing's, welches sich ehemals im Gleim'schen „Freundschaftstempel" in Halber¬
stadt befand und hier zum ersten Male in einer authentischen Nachbildung ge¬
boten wird, der zweite mit dem aus der Schöne'schen Publikation von Lessing's
Briefwechsel mit seiner Frau entlehnten Stahlstich nach dem Porträt von Eva
Lessing. Wie dürftig nimmt sich dagegen das dünne Kleidchen der deutschen
Bearbeitung ans! Sind wir Deutschen nur eine gar so arme Sippschaft, daß
wir nichts Besseres bezahlen können? Daß die Porträts hier weggefallen sind,
hat nicht viel auf sich. Aber die Verlagshandlung hat das Buch — dorri-
Ms 6iew! — auf zweierlei Papier gedruckt, von Bogen 1 —18 auf gelbes,
von Bogen 19 — 28 auf blaues! In solche Klemme zu gerathen, das kann
doch nur einem deutschen Verleger Passiren. Wenn sich jemand ein Dutzend
Porzellantassen kauft und er bekommt sieben bläuliche und fünf gelbliche, so
nennt er das „Ausschuß" oder „Rausch". Mit welchem Namen bezeichnet
der deutsche Buchhandel derartige zweifarbige Bücher? Uebrigens aber ist
das Buch als Publikation des „Allgemeinen Vereins für deutsche Literatur"
in den uniformen Einband der Schriften dieses Vereins gesteckt worden, an
dessen sterilem Stangenornament man sich nun auch nachgerade satt gesehen hat.
Und wie lange wird das Dosengesichtchen von einer Athene mit einer Filz¬
mütze anstatt eines Helmes auf dem Kopfe, wie lange der dumme Lederriemen,
der einen jetzt auf allen Briefbogen, Briefkouverts, Prospekten und Titelblättern
verfolgt, auf diesen Einbänden als Rahmen des Athenekopfes noch Paradiren?
So lange ein so vornehmer Verein, wie der „Allgemeine Verein für deutsche
Literatur," der in den Kreisen der höchsten Aristokratie seine Mitglieder hat,
an unser Buchgewerbe so äußerst bescheidene Ansprüche stellt, so lange wollen
wir uns doch ja nicht einbilden, daß von einer ernstlichen Hebung dieses kunst¬
gewerblichen Zweiges die Rede sein, kann. Unsre paar „Prachtwerke" thun's
wahrlich nicht.
An die Herren Verleger!
Wir bitten um baldigste Zusendung der Werke, die in unsrer Weihnachts-
bücherschau berücksichtigt werden sollen.
Leipzig, Anfang Oktober 1878. Die Redaktion der Grenzboten.
Vier Wochen nach Eröffnung der Ausstellung ist uns von München her
noch eine angenehme Ueberraschung gekommen: ein Meisterwerk ersten Ranges,
welches die winzige Zahl der Historienbilder in erfreulicher Weise vermehrt.
Freilich, wenn wir den Schöpfer dieses Bildes, Franz Defregger, auf seine
Nationalität prüfen, käme sein Werk nicht der deutschen Kunst zu gute. Aber
der Tiroler aus dem Pusterthale ist ebenso wie seine Landsleute Mathias
Schmidt und Alois Gahl, die als Schilderer tirolischen Lebens zu großem An¬
setzn gelangt sind, ganz und gar auf deutschem Boden erstarkt, in München,
in der Schule Piloty's, deren größte Zierde der nunmehrige Historienmaler
Franz Defregger bildet. Ursprünglich war auch er nur der liebevolle Schil¬
derer seines heimathlichen Lebens, der uns seine Landsleute gern bei Spiel und
Tanz in fröhlicher Festeslust zeigte. Ein bischen Schwermuth war zwar alle¬
mal dabei; aber sie streifte noch lange nicht an die trübselige Sentimentalität
der modernen Dorfgeschichtenerzähler. Dann wandte Defregger seinen Blick
aus der Gegenwart rückwärts in die Vergangenheit. Der Maler ließ dem
Patrioten den Vortritt, und so entstanden jene herrlichen, auf das tiefste er¬
greifenden Darstellungen aus dem Verzweiflungskampfe der Tiroler gegen ihre
Unterdrücker, von denen „die Heimkehr der Sieger" und vor allem „das letzte
Aufgebot", ein Bild von erschütternder Tragik, am bekanntesten geworden sind.
Aber diese Bilder waren am Ende nur historische Genrebilder in kleinem Rahmen.
Die ungemein scharf charakterisirten, sehr lebendigen Figuren erreichten kaum
den vierten Theil der Lebensgröße. Auch war der Held des „Trauerspiels in
Tirol" aus ihrer Mitte nicht in den Vordergrund getreten.
Jetzt ist aus dem Epiker ein Dramatiker, aus dem Genremaler ein Histo¬
rienmaler großen Stils geworden, der uns in lebensgroßen Figuren, von dem
Feuer patriotischer Begeisterung durchglüht, den „Todesgang Andreas Hofer's"
dargestellt hat.
Es war am 20. Februar 1810, als sie den edlen Kämpfer für die Frei¬
heit seines Volks aus den Kasematten der Beste Mantua zum Tode führten.
Seinen Mitgefangenen Landsleuten wurde gestattet, von ihrem Führer auf
seinem letzten Gange Abschied zu nehmen. Diesen Augenblick hat Defregger
auf seinem Bilde dargestellt. Auf dem dunklen Korridor, der ans den Hof
führt, wo ein Peloton französischer Soldaten des Verurtheilten harrt, ist Hofer
aufgehalten worden. Seine Getreuen, neun an der Zahl, umdrängen ihn von
allen Seiten. Drei sind ihm zu Füßen gestürzt und drücken krampfhaft seine
Hände oder umklammern seine Kniee. Ein alter Mann hat im Uebermaß des
Leids die Hand an sein Haupt gedrückt und schaut mit dem Ausdruck unsäg-
lichen Schmerzes zu seinem Helden empor, der stolz mit aufgerichtetem Haupte
dasteht und den Wehklagenden tröstende Worte der Zuversicht auszusprechen
scheint. Vor ihm kniet ein jüngerer, der sein Haupt in beide Hände verbirgt,
und von links her schleppt sich ein am Fuße Verwundeter an einer Krücke
herbei. Er und die neben ihm Stehenden blicken fragend zu Hofer auf, als ver¬
mochten sie die schreckliche Wahrheit noch nicht zu fassen. Auf Hofer und die
vor ihm Knieenden fällt aus der Thüröffnung ein breiter Lichtstrom, der sein
edles Haupt verklärt. Alle übrigen Figuren stehen im Halbschatten. Die letzten
verlieren sich in der Dämmerung'des Korridors: dort sieht man nur die ehr¬
würdige Gestalt eines Geistlichen, der mit innigem Mitgefühl auf die Abschieds¬
szene blickt, einen Soldaten, der zur Bedeckung gehört, und die Bajonette seiner
Kameraden.
Auf der Treppe, die in den Hof führt, kauert noch ein Tiroler, der am
Arme verwundet sich mühsam hinaufschleppt und nun sehnsüchtig die Ankunft
Hofer's erwartet, damit eines er noch einen letzten Hündedruck empfange. Bei
diesem Manne scheint die Kraft des Künstlers, der zum ersten Male einer so
umfangreichen Aufgabe gegenüberstand, erlahmt zu sein. Der französische
Offizier, welcher das Peloton kommandirt, und seine Soldaten im Hofe sind
sehr schlecht fortgekommen. Sie sind auffallend flüchtig und skizzenhaft behan¬
delt und dabei so hölzern, daß eine komische Wirkung nicht ausbleibe» kaun.
Der Offizier schaut zwar sehr martialisch drein; aber den Bart, den ihm der
Künstler verliehen hat, trugen noch nicht die Offiziere des ersten Napoleon.
Den brachte erst der Neffe des großen Odins in die Mode, und dessen Aus¬
sehen war, wie männiglich bekannt, ein gar wenig kriegerisches.
Durch diese Vernachlässigung ist leider die Harmonie des schönen Bildes
gestört. Man wird für mauche andere Mängel, für die nach akademischer
Schablone aufgebaute Komposition, für die etwas theatralische Haltung Hofer's,
der den linken Fuß wie tänzelnd vorgerückt hat, für gewisse Einförmigkeiten
in der malerischen Behandlung, besonders in der der Hände, für diese und
andere Mängel wird man durch die wunderbar scharfe und tiefe Charakteristik
der meisten Figuren, durch einige wahrhaft grandiose Köpfe und durch viele
koloristische Schönheiten, die eine ungewöhnliche Meisterschaft bekunden, vollaus
entschädigt; aber über die Komik der aufmarschirten Soldaten kommt man nicht
hinweg. Es scheint, als fehlte es dem Künstler, der im Kleinen so Großes ge¬
schaffen, an der geistigen Kraft, die nöthig ist, um eine Komposition von solcher
Ausdehnung in allen ihren Theilen gleichmäßig zu durchdringen und zu be¬
herrschen.
Trotzdem wird man dieses Bild neben dem Richter'schen Porträt der
Gräfin Karolyi als den Haupttreffer der diesjährigen Ausstellung bezeichnen
müssen. Es ist eine Arbeit, die jedem Beschauer den höchsten Respekt einflößt.
Koloristisch noch interessanter ist ein weiblicher Studienkopf, deu Defregger zu¬
gleich mit dem eines bärtigen Tirolers bereits früher eingeschickt hat. Ein
interessantes blasses Mädchenantlitz blickt, von einem schwarzen Schleier um¬
rahmt, den Beschauer mit schwermüthigen Augen an. Es spricht eine tiefe
Wehmuth aus den schönen Zügen, ein Seelenschmerz, dessen erste Bitterkeit be¬
reits überwunden ist, der aber noch schwer genug auf dem jungen Herzen lastet.
Das Bild ist nur in drei Tönen gemalt: in Schwarz, Weiß und Braun. Unter
dem schwarzen Schleier nämlich ist das schlicht gescheitelte, kastanienbraune
Haar sichtbar, welches den kalten Ton der alabasterweißen Stirn augenehm
belebt.
Von rein koloristischen Gesichtspunkten aus betrachtet, dürfte die große
Tartareuschlcicht, welche der in München ansässige Pole Joseph Brandt,
auch ein Pilotyschüler, der zugleich bei Franz Adam militärische Studie» ge¬
macht, für die Nationalgalerie gemalt hat, als das beste Bild der diesjährigen
Kunstausstellung zu gelten haben. Der furchtbare Kampf, der sich vor unseren
Augen entrollt, geht an den sumpfigen Ufern des Dnjestr vor sich. Rechts
vom Beschauer zieht sich ein kahler Höhenzug hiu, der von Seitenthälern durch¬
schnitten ist. Aus einem dieser Thäler scheint die Wolke polnischer Reiter her¬
vorgebrochen zu sein, die sich wie ein Gewittersturm über die tartarischen
Räuber entladet, welche sich mit ihren beutebeladenen Wagen eine kurze Rast
gegönnt haben. Es ist eine Episode aus den Kämpfen der Tartaren und
Polen am Beginn des 17. Jahrhunderts. Das gräßliche Handgemenge, das
Gemetzel, das der Maler mit genialer Kraft, mit packender dramatischer Ge¬
walt geschildert hat, entzieht sich jeder Beschreibung durch das Wort. Es läßt
sich nicht einmal der Gesammteindruck der Komposition wiedergeben, weil dem
schrecklichen Gewirr von Menschen, Pferden, Rindern und Wagen jede Einheit,
jede Konzentration auf einen Mittelpunkt, ja fast auch jede Sonderung in
Gruppen fehlt und auch fehlen mußte, wenn der Maler seinen Zweck, den An¬
prall der mit elementarer Gewalt heranrasenden Polen zu versinnlichen, er¬
reichen wollte. Mit einer regelrechten, leicht zu überschauenden Komposition
wäre hier nichts gethan. So mußte das Kolorit die Einheit und die Haltung
wieder einbringen, und das ist dem Maler durchaus gelungen. Gewitterschwere
Wolken haben sich am Himmel zusammengeballt, ein fahles, graues Licht fällt
auf das undurchdringliche Menschengewimmel, auf die aufgewirbelten Staub-
massen und die baumlose Steppe, die links vom Beschauer von Sümpfen kou-
pirt ist, durch welche sich einige von den Tartaren zu retten suchen. Ganz im
Vordergrunde jagt ein Mongole mit einem schönen polnischen Weibe davon,
das sich halbnackt mit der Kraft der Verzweiflung gegen den Räuber wehrt,
den im nächsten Augenblicke sein Geschick ereilen wird. Unweit davon erwartet
eine Gruppe vornehmer Frauen um einen Priester geschaart die heranstürmen¬
den Befreier. Jeder Zug, jeder Pinselstrich des Bildes ist vom höchsten In¬
teresse. Aber die eigenthümliche, fast wilde Genialität des Künstlers dürfte
mehr auf Rechnung seiner slavischen Herkunft, als auf die feiner deutschen Er¬
ziehung zu setzen sein. So könnten wir diese interessante künstlerische Indivi¬
dualität nur zum Theil für die deutsche Kunst in Anspruch nehmen.
Die neuere und neueste Geschichte hat unseren Malern in diesem Jahre
nur wenige Motive geboten. Camphausen würde sich mit seiner Episode
aus der Schlacht bei Fehrbellin, die uns nicht viel beredter als eine Illustra¬
tion für eine Jugendschrift den Augenblick schildert, wie der große Kurfürst
von seinen Dragonern aus einer gefahrdrohenden Umschlingung der Schweden
herausgehauen wird, kein neues Blatt für seinen Ruhmeskranz verdient haben,
wenn er nicht zugleich eine andere bedeutsame, für den Hauptbetheiligten minder
gut abgelaufene Katastrophe aus einer Entscheidungsschlacht, nämlich den Dezem¬
bermann im Granatfeuer von Sedan, dargestellt hätte. Es ist wirklich durch
glaubwürdige Berichte bestätigt worden, daß die Worte, mit denen Napoleon
seinen Brief an König Wilhelm begann: ^'a^ut mourir wilisu
as rues trouxss, nicht hohle Phrase gewesen sind. Die Granaten, die also vor
dem verzweifelten Kaiser niederfahren und explodiren, sind keine Mythe. Wir
wollen auch glauben, daß der Mann, der mit übernächtigen Mienen im Sattel
hängt, so geschlottert hat, wie es uns Camphausen in seiner Charakteristik zeigt.
Der Kaiser hält auf seinem Pferde, das in seiner Angst vor dem Prasseln der
zerspringenden Granaten meisterhaft dargestellt ist, ganz im Vordergrunde, hinter
ihm einige Generäle. Noch weiter im Fond sieht man Truppen vorüberziehen,
deren Disziplin bereits gelockert ist. Einer der Soldaten streckt die geballte
Faust nach dem gebrochenen Cäsar aus. Es ist ein Bild, das nach der Seite
des Malerischen wie nach seiner Charakteristik gleich wohl gelungen und um
so interessanter ist, als Bleibtreu, Camphausen's ebenbürtiger Rivale auf dem
Gebiete der Kriegsmalerei, die Katastrophe dargestellt hat, welche dem ersten
Napoleon definitiv den Thron kostete: die Schlacht bei Waterloo oder vielmehr
den letzten Akt dieses Drama's, die Flucht Napoleon's. In gestreckter Karriere
saust der Kaiser auf weißem Rosse, dem er nur widerwillig die Zügel schießen
läßt, dahin. Ihm zur Seite jagt der Marschall Soult, mit der Hand dem
Kaiser den Weg durch das Gedränge der Fliehenden weisend. Keine Fiber
zuckt in dem gelben pergamentenen Antlitz des Geschlagenen; nur die dunklen,
ni unheimlichem Feuer erglühenden Augen verrathen den furchtbaren Seelen¬
kampf, der den eisernen Mann bewegt. Im Hintergrunde stehen noch seine
Garden aufrecht, in deren Reihen das feindliche Granatfeuer starke Lücken reißt.
Auch Bleibtreu hat den tragischen Moment ergreifend dargestellt; nur war sein
Vorwurf dankbarer und würdiger als der schlottrige Mann, der den Tod an
der Spitze seiner Truppen nicht finden konnte.
Braun und Encke, die unermüdlichen Chronisten des deutsch-französischen
Krieges, haben auch in diesem Jahre einige ihrer interessanten Erinnerungs¬
tafeln an Hauptmomente und Episoden aus jener Zeit ausgestellt, die man
mit Vorliebe die „denkwürdige" zu nennen pflegt, deren Andenken aber in
unserer schnelllebenden, hastigen, Pietätslosen Generation von Jahr zu Jahr
verblaßt; indessen können sich die Bilder dieser beiden Maler mit der Meister¬
schöpfung Camphausen's nicht messen.
Einen glücklichen Griff in die nordische Sage hat der klassierende Roman¬
tiker A. v. Heyden mit einem Gemälde großen Stils, dem nächtlichen Ritt
Herrn Olof's über das Moor, gethan. Herder hat in seinen Stimmen der
Völker eine alte dänische Ballade mitgetheilt, die nachmals Goethe so mächtig
^griff, daß sie ihm seinen Erlkönig inspirirte. Der junge Herr Olof reitet
Zur Nachtzeit über das Moor, um Gäste zu seiner Hochzeit zu laden. Da
naht sich ihm die Tochter des Erlkönigs mit ihren Elfen und wirbt um seine
Liebe. Den echt dramatisch pulsirenden Dialog, den die alte Ballade von der
werbenden Elfe mit dem auf Tod und Leben dahinjagenden Ritter führen
läßt, hat Goethe genau nachgebildet.
Auch dem Maler ist es gelungen, den dämonischen Zug, der die Ballade
durchweht, auf seinem Gemälde, welches auch ohne das Gedicht verständlich
ist, zum ungeschmälerten Ausdruck zu bringen. Nur unterwärts von einem
Weißen, langhinwallenden Schleier bedeckt, dessen Enden sich in den Nebel ver¬
lieren, schwebt die schlanke Gestalt der Elfe, gespenstisch und wesenlos wie ein
Nebelstreif, über dem rabenschwarzen Rosse Olof's und streckt in liebendem
Verlangen die Hand nach dem Ritter aus, der mit entsetzensvollen Mienen zu
ihr emporschaut. Sein weiter rother Mantel flattert über seinem Haupt und
bildet so einen effektvoller Hintergrund für den zarten Oberkörper der Elfe
und ihren ausgestreckten Arm. Das Pferd jagt mit verhängtem Zügel über
das Moor, kaum daß seine Hufe die Spitze des Schliff berühren. Weißer
Schaum fließt aus seinem Maule, die Nüstern dampfen, und unter dem Brust-
riemen schäumt der Schweiß. Dem Pferde vorauf springt die Dogge des
Ritters in mächtigen Sätzen. Ein kleiner Elf, ein finsterer Geselle mit seltsam
dämonischen Blick und einem grünen Flammenkranz im buschigen Haar, be¬
rührt schon den Hals des Hundes, als wollte er sich auf seinen Rücken
schwingen und den tollen Ritt mitmachen. Vorn schweben über einem kleinen
Gewässer, über welches Olof's Roß eben hinwegsetzt, zwei andere Dämonen
und eine zweite Elfe in Schleiergewändern, ebenfalls mit grünen Flämmchen
in den Haaren, mit welchen der Maler in sehr geistreicher und anschaulicher
Weise die Irrlichter personifizirt hat.
Wenn wir noch eine in großem Stile komponirte, an den Ernst und die
Würde eines Cornelius erinnernde Madonna auf Golgatha mit dem todten
Christus im Schooße und zwei trauernden Engeln von dem jüngst verstorbenen
Alexander Teschner erwähnen, so ist damit die Uebersicht über die historische
Malerei für einen Bericht geschlossen, der die breite Mittelmäßigkeit und die
talentlosen Stümper bei Seite läßt, um nur die Spitzen einer verdienten
Würdigung zu unterziehen.
Die Berliner Genremaler haben sich diesmal von den Düsseldorfern
und Münchenern den Rang ablaufen lassen. Ich habe schon erwähnt, daß
Kraus und Gussow, die freilich beide nicht auf Berliner Boden erwachsen und
erstarkt sind, sich an der Ausstellung nicht betheiligt haben. Aber anch die
anderen, die sonst den Düsseldorfern und Münchenern wacker Stand hielten,
haben in diesem Jahre keine Treffer gezogen. Der liebenswürdige, empfind¬
same Amberg ist manierirt und schwächlich geworden. Er treibt ein an¬
muthiges, aber ziemlich langweiliges Spiel mit Sonnenstrahlen, die durch ein
grünes Blätterdach fallen und nach Bedarf ein oder zwei hübsche Mädchen
beleuchten. Carl Becker, der uns früher die Pracht der venetianischen Renais¬
sance so lebendig und so verführerisch zu schildern wußte, hat sich in eine
dekorative Mache, in eine oberflächliche Charakteristik verloren, die uns kein
Interesse mehr abgewinnt. Auch Breitbach, Brausewetter, Ehrentraut, Kraus,
Meyer von Bremen haben nichts geleistet, was neben den Arbeiten der Düs¬
seldorfer Beachtung verdient. Nur muß die Thatsache konstatirt werden, daß
die Berliner Genremaler allgemach aus dem Traum erwachen, in dem sie so
lange befangen waren. Sie schieben die alten abgedroschenen Kalendergeschichten
von Großvaters Liebling, von Brüderlein und Schwesterlein, von dem Schmach-
deuten Liebespaar unter der Linde und ähnliche interessante Stoffe nach und
nach bei Seite und schauen sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft um. So
ein Gänsemarkt auf dem Berliner Schillerplatz, wie ihn Albert Conrad gut
beobachtet und treu und charakteristisch wiedergegeben hat, ist hundertmal mehr
werth als ein paar schöne Dämchen in koketten Rokokokostümen, die in einem
mit allerhand Chinoiserieen ausstaffirter Salon sitzen. Nur aus der immer¬
währenden Berührung mit dem Leben der Gegenwart kann die Kunst neue
Impulse und neue Kräfte schöpfen. Mit der ewigen Stoff- und Modellpup¬
penmalerei kommt sie nicht einen Schritt vorwärts. Da ist die Verzopfung
unausbleiblich. Das haben glücklicherweise noch andere eingesehen, z. B. Kraus,
der einen Leiermann aus dem Berliner Thiergarten gemalt hat, dem sein Töch¬
terchen zur Winterszeit den erwärmenden Nachmittagskaffee bringt, und A.
Jacob, der zwei glückliche Griffe in das Berliner Straßenleben gethan hat.
Die Leser erinnern sich vielleicht aus meinen Berichten über die Pariser Welt¬
ausstellung des Jtalieners de Nittis, der mit so frappirender Wahrheit und
mit einem hervorragenden koloristischen Talente Szenen aus dem Leben und
Treiben der beiden Weltstädte Paris und London darzustellen weiß. An ihn
erinnert Jacob, der freilich mehr Landschafts- als Genremaler ist, während de
Nittis beide Seiten zu einer seltenen Harmonie vereinigt. Dem Berliner Maler
fehlt die Noblesse des Jtalieners und vor allen Dingen seine künstlerische Bil¬
dung. Er ist viel derber, sein Kolorit ist roher, sein Pinsel struppiger. Er
malt mit Vorliebe nicht das Schöne, das Angenehme, sondern das Reizlose,
Triste, Melancholische bis zum Häßlichen und Trivialen. So zeigt er uns
auf den beiden Bildern, die uns zu dieser Charakteristik den Stoff geliefert
haben, die Situation und den Verkehr einer Berliner Straße in der Vorstadt
bei Regenwetter und den Eingang zu einem Kirchhofe mit harrenden Wagen,
mit Blumenverkäuferinnen und Besuchern in trostloser Herbstzeit. Er gehört
einer Sekte von Berliner Malern an, die der wunderlichen Ansicht huldigen,
daß das Leben und die Natur von ihren Kehr- und Nachtseiten die dankbar¬
sten künstlerischen Motive darböten. Man würde über diese sonderbaren Käuze
kein Wort verlieren, wenn sich nicht unter ihnen einige von unleugbaren Talent
befänden, außer jenem Jacob noch Max Liebermann, ein eigensinniges Genie,
das sich am behaglichsten fühlt, wenn es im Schmutze waten kann.
Wir beeilen uns, von diesen Schmutzmalern wieder in reinliche Gesellschaft
zu kommen. Fritz Werner, der den Ehrennamen des deutschen Meissonnier
mit vollstem Rechte trägt, hat auch einmal die Zeit des Rokoko verlassen, um
einen Griff in die Gegenwart zu thun. Er hat sich zugleich wieder als aus¬
gezeichneter, das Charakteristische der Formen scharf erfassender Architekturmaler
gezeigt, indem er das alte Thor des märkischen Städtchens Tangermünde und
die von ihm in's Freie führende, mit kleinen Figuren belebte Straße darstellte.
Fritz Werner malt in kalten, scharf von einander abgegrenzten Lokaltönen ohne
Lustperspektive. Er weiß aber dafür mit der Linearperspektive so genau Be¬
scheid, daß kein einziges der Figürchen aus seinem Plan heraus- und in einen
anderen hineinfällt, wie es Alma Tadema auf seinem in dem vorigen Artikel
geschilderten Bilde passirt ist.
Unter den Düsseldorfer Genremalern steht dieses Mal L. Bokelmann
obenan, ein Künstler, der erst feit einem Jahre durch den jetzt in Paris be¬
findlichen „Zusammenbruch einer Volksbank" die allgemeine Aufmerksamkeit auf
sich gelenkt hat, weil er durch eine glückliche Stoffwahl den Nerv der Zeit be¬
rührte. War dieses Bild in den Gruppen der Verzweifelten und Wehklagen¬
den, die vor dem Bankgebäude versammelt sind, nicht ohne tiefe, herzbewegende
Tragik, so ist der Hauptzug seines neuen Bildes, das ebenfalls eine Straßen¬
szene darstellt, aber eine fröhlichere, ein feiner, liebenswürdiger Humor, jener
naive, schalkhafte Humor, der unseren Nachbarn jenseits des Rhein's so ganz
und gar ausgegangen ist, oder den sie vielleicht niemals besessen haben. Es
scheint, daß Bokelmann nicht unbeeinflußt von der französischen Technik ge¬
blieben ist. Seine Figuren sind scharf umrissen und vollkommen plastisch her¬
ausgebildet, auch ohne Luftperspektive, so daß jeder Lokalton isolirt wirkt. Das
ist die Manier, welche die junge Generation in Frankreich, die ans den Schul¬
tern Meissonnier's steht, in die Mode gebracht hat. Der Deutsche ist nicht so
fein und geistreich, aber dasür lebensfrischer und ergötzlicher. Vor der geöff¬
neten Thür eines durch ein paar Lampen erhellten Bazars, dessen Inhaber
hoch hinter dem Ladentische stehend ihre spottbilligen Waaren den staunenden
Kleinstädtern anpreisen, steht eine Schaar Frauen und Mädchen mit gerötheten
Wangen — es ist Winterszeit und der Schnee liegt dick auf der Straße, —
unschlüssig, ob sie den Rufen der Lockvögel folgen oder ihre Wanderung fort¬
setzen sollen. In der Thür drängen sich die Kommenden und die Gehenden.
An einem Fenster des Ladens sieht man zwei Bauerfrauen, die mit mißtraui¬
schen Blicken das Gewebe des eben erhandelten Linnenzeuges prüfen.
Neben diesem lebensvollen, keck hingeworfenen Bilde provinziellen Lebens
verblaßt selbst der Altmeister Vautier, dessen Tanzpause auf einer elsässischen
Hochzeit zwar einen seltenen Reichthum von hübschen, herzigen Mädchenge¬
stalten aufweist, aber so flau gemalt ist, daß man doch nicht zum rechten Ge¬
nusse kommt. Eine andere Tanzpause von dem Düsseldorfer Seyppel zeigt
wenigst eine scharf charcckterisirte Figur, einen langen Flötisten, welcher den
Moment der Ruhe benutzt, um den fälligen Obolus von den Dorfkavalieren
einzusammeln, und der gerade an einen Burschen gekommen ist, dem es offen¬
bar Schwierigkeiten macht, seiner Westentasche den Tribut abzuringen. Carl
Hoff ist auf einem Genrebilde mit Figuren in Kostümen des dreißigjährigen
Krieges — ein junger Soldat hat einer würdigen, vornehmen Dame, die von
einem Priester und einer jungen Dame getröstet wird, eine Trauerbotschaft ge¬
bracht — auch nicht tief in die Charakteristik gegangen und überdies in einen
schwärzlich grauen Ton gerathen, der nicht zu seinem Vortheil an die alte
Düsseldorfer Manier erinnert. Simmler entfaltet in seinen Wilddieben, die
eben dabei sind, einen erlegten Hirsch auszuweiden, aber durch des Försters
Mops, der hinten in einer Lichtung sichtbar wird und anschlägt, in ihrem Ge¬
schäft gestört werden, einen angenehmen Naturalismus, der sich von jeder Ueber¬
treibung fern hält. Auf einem Bilde des trefflichen Architekturmalers Seel,
der in diesem Jahre seine Berliner Rivalen Graeb und Wilberg ausgestochen
hat, erhebt sich die Staffage zu genrebildlichem Werth. Der Maler zeigt uns
das Innere eines ägyptischen Harems, eine ungemein reich gestaltete, maurische
Architektur, mit Frauen, Sklavinnen und Kindern, die auf den weichen Teppichen
sitzen und neugierig dem Spiele zweier Polichinells zuschauen, welche von einer
Negerin in Bewegung gesetzt werden. Die Wände des hohen Gemachs sind
über und über mit farbigen Fliesen dekorirt, der Fußboden ist mit bunten
Decken belegt, und ringsherum stehen allerlei zierliche Geräthschaften umher,
Sessel, die mit Perlmutter ausgelegt sind u. tgi. in>; aber das vielfarbige Ge¬
wirr ist fein harmonisch zusammengestimmt. Endlich ist von den Düsseldorfer
Genremalern noch Alfred Bö hin mit einer sehr gut beobachteten, wenn auch
mit photographischer Nüchternheit wiedergegebenen Szene nach einem Brande
zu erwähnen. Unterhalb einer Chaussee im Wiesengrunde liegt die Brandstätte
mit noch rauchenden Trümmern, umgeben von den Beschädigtem, die ihr arm¬
seliges, gerettetes Mobiliar zusammensuchen, und oben auf dem Wege stehen
Vertreter der Behörden und neugierige Gaffer, viele kleine Figuren, die mit
großer Liebe und Sorgfalt ausgeführt sind. Es ist ein kalter, grauer Früh¬
lingsmorgen, dessen trübe Stimmung mit dem traurigen Ereigniß, das sich unten
vollzogen hat, trefflich harmonirt.
Der Münchener Holmberg hat mit einer Darstellung des berühmten
Tabakkollegiums in Wusterhausen einen glücklichen Griff in die preußische Ge¬
schichte gethan. In die Gesellschaft der wettergebrüunten Haudegen, die hinter
den Bierkrügen um ihren König sitzen, tritt der kleine zarte Prinz Friedrich
mit seiner älteren Schwester Wilhelmine und begrüßt den gestrengen Herrn
Vater, der mit wohlgefälligem Lächeln auf den schmucken Knaben blickt. Adolf
Menzel ist diesmal mit einer denkwürdigen Episode aus dem Leben Friedrich's
des Großen, die er grau in grau für die bekannte Gustav Freytag-Galerie
gemalt hat, nicht so glücklich gewesen. Im Jahre 1750, als man die Särge
der Vorfahren des Königs aus der Gruft des alten Doms in die neuen über-
führte, wurde der Sarg des großen Kurfürsten im Beisein Friedrich's geöffnet.
Der König, so heißt es, ergriff die Hand seines großen Ahnen und brach,
Thränen im Auge, zu seinem Gefolge in die Worte ans: „NösÄours, der
hat viel gethan." Diese Szene hat Menzel dargestellt, aber nicht mit der frap-
pirenden Originalität und Verve, die wir selbst auf dem kleinsten Blatte von
seiner Hand zu finden gewohnt find.
Die beiden tiroler Bauernmaler Mathias Schmidt und Alois Gahl
sind wieder, wie schon erwähnt, mit einigen niedlichen Genrebildern ans dem
Bauernleben vertreten, Schmidt leider nur mit einem, auf dem wir ein bild¬
sauberes Tiroler-Mädchen auf einer Ofenbank eingeschlafen sehen. Unter den
Gahl'schen Bildern ist besonders dasjenige durch seine tiefe und scharfe Charak¬
teristik bemerkenswerth, welches eine Gesellschaft von Bauerndirnen darstellt,
die um eine Gefährtin neugierig staunend versammelt sind, welche eine Hand¬
nähmaschine probirt.
Das Erfreulichste ist von den Landschaftsmalern geleistet worden. Die
Landschaftsmalerei allein ist auch qualitativ aus ihrer alten Höhe geblieben.
Sie bildet gegenwärtig den festesten Grundpfeiler der deutschen Kunst, der zwar
auch schon stark von den Wogen des Realismus umspült wird', aber noch
Widerstandskraft genug besitzt, um sicher und fest zu stehen. Auf diesem Ge¬
biete zeigt sich auch der reichste und hoffnungsvollste künstlerische Nachwuchs.
Ich könnte eine Reihe von vierzig Malern aufzählen, die ein jeder auf der
Höhe seines Strebens stehen und die ein jeder für sich eine scharf ausgeprägte
künstlerische Individualität besitzen. Neben dem großen Marinemaler, Andreas
Ueberhand, der nicht blos der größte seiner, sondern aller Zeiten ist, behauptet
sich noch eine stattliche Anzahl anderer: die Berliner Eschke, Saltzmann,
Sturm, Hunde von Hassten, der Karlsruher Gude, der Düsseldorfer Ducker.
Ueberhand's Partie von der Znyder-See bleibt freilich an Groß artigkeit hinter
früheren Schöpfungen zurück. Aber mau schüttelt die Meisterwerke auch nicht
alle Jahre aus dem Aermel, Dafür hat Saltzmann mit seiner „Einfahrt in
den Colberger Hafen" ein Seestück von packender Gewalt und Großartigkeit
geschaffen, hie und da zwar noch etwas dekorativ und in der malerischen Be¬
handlung des Wassers nicht so klar und durchsichtig wie auf den Ueberhand'-
schen Mariner, aber im Ganzen doch von überzeugender Wahrheit.
Oswald Ueberhand hat auf drei italienischen Landschaften gewagte kolori¬
stische Experimente versucht, die ihm nicht geglückt sind. Ein etwas jüngerer
Düsseldorfer, Flaum, der augenscheinlich von ihm beeinflußt ist, hat ihm in
einem Campagnabilde mit der Aussicht auf das Albanergebirge den Rang ab¬
gelaufen. Ihm reiht sich ein junger Berliner, Flink el, an, der in einer
interessanten Partie ans dem Garten der Villa d'Este ein hervorragendes toto-
ristisches Talent besonders in effektvoller Beleuchtung durch die Sonne be¬
kundet. Aehnliche kühne Probleme, wie Ueberhand, hat sich Albert Hertel in
Berlin gestellt; aber er hat sie auch glücklich gelöst. Sein „nahender Sturm
an der genuesischen Küste" und ein Blick auf das Cap von Portofino bei
Genna sind zwei Bilder von feinster koloristischer Wirkung, die besten italieni¬
schen Landschaften der Ausstellung.
Bernewitz von Lösen, der Claude Lorrain der Mark Brandenburg, und
Karl Scherres wetteifern mit einander, der mit Unrecht verschrieenen Streu¬
sandbüchse des römischen Reiches immer neue malerische Motive abzugewinnen.
Beide haben einen stark melancholischen Zug gemeinsam, der ihren Bildern
einen fesselnden poetischen Reiz verleiht. Wir erwähnen noch im Fluge die
heroische» Landschaften von Kanoldt, die trefflichen Ansichten von der Insel
Rügen von dem Karlsruher Bracht, dessen Terrainbehandlung in der ganzen
deutschen Malerei nicht ihres Gleichen findet, die großartigen Alpenbilder von
Kameke, um mit Paul Meyerheim, der sich auf einer Landschaft aus den
bairischen Alpen als ein ebenso großer Thier- wie Landschaftsmaler gezeigt
hat, unsere Uebersicht über die Malerei zu schließen.
Auf dem Kupferstich lastet die Noth der Zeit am schwersten. Die Aus¬
stellung enthält auch nicht eine Reproduktion eines klassischen Werkes von Be¬
deutung. Von modernen Sachen ist nur ein Stich nach Kraus, die Gratu¬
lantin von Ludy, zu erwähnen. Als geistreicher Radirer hat sich der Land¬
schaftsmaler Baron von Gleichen-Rußwurm in Weimar, ein Enkel Schiller's,
rühmlich hervorgethan.
Fast eben so dürftig fällt das Resultat einer Umschau in der Plastik aus.
Streng genommen enthält die plastische Abtheilung nur ein hervorragendes
Werk: das Gipsmodell für das Kölner Bismarckdenkmal von Fritz sah aper, eine
Schöpfung von großer, monumentaler Wirkung. schlicht, echt wie der Fürst im
Leben aufzutreten pflegt, hat ihn auch der Künstler dargestellt: unbedeckten
Hauptes, im Jnterimsrock der Kürassieroffiziere, die Hand auf den Pallasch
gestützt, und gerade durch diesen Verzicht auf jeglichen Prunk, auf jede Dekoration
ist der mächtige Eindruck erzielt worden. Wie in der Malerei das Porträt
eine bedeutsame Rolle spielt, so überwiegt in der Plastik die Büste. Aber
das Resultat ist dort wie hier das Gleiche: wenig gute Büsten, viel mittel¬
mäßige und schlechte. R. Begas, Donndorf und Keil haben das geringe
Kontingent der ersteren gestellt.
Seit einem Jahre wird auch die Architektur zur akademischen
Kunstausstellung zugelassen. Die Betheiligung war in diesem Jahre im
Hinblick auf die ungünstigen Zeitverhältnisse eine ziemlich rege. Von großen
Monumentalbauten ist gegenwärtig nur einer in Berlin im Ban begriffen:
das Gewerbemuseum von Gropius und Schmieden, dessen Fayade uns in
einem plastischen Modell vor Augen geführt wird. Von hervorragenden Pri¬
vatbauten ist das riesige Eisenbahnhotel an einem Haupthciltepuukt der in der
Ausführung befindlichen Stadtbahn von Hennicke und van d.er Hute zu
nennen, dessen Kosten ans drei Millionen Mark veranschlagt sind, und ein
palastähnliches Haus für die Lebensversicherungsgesellschaft Germania, das,
wie der Entwurf zeigt, von den Architekten Kayser und v. Groß heim in den
Formen der deutschen Renaissance ganz aus hannöver'sehen Sandstein aufge¬
führt werden soll.
Was neulich in diesen Blättern über die Lessingbiographie des Engländer's
Sine gesagt wurde, gilt auch von einem vor kurzem erschienenen französischen
Werke über Goethe's Gedichte: Wir können uns und dem Auslande Glück
dazu wünschen, ja wir könnten das Ausland fast darum beneiden.*) Ernst
Lichtenberger, jedenfalls ein Elsasser, — sein Buch ist in Paris verlegt, aber
in Straßburg gedruckt — hat einen Beitrag zur Goetheliteratur geliefert, wie
wir Deutschen mit unsrer schwerfälligerem Gründlichkeit ihn nun einmal nicht
schaffen können oder wollen. Man wende nicht ein, daß der Verfasser im
Grunde vielleicht auch ein Deutscher sei, deutsch mindestens in seinem Namen,
in seinen Anschauungen, in der Richtung seiner Studien, wenn sein Bildungs¬
gang anch vielleicht ein französischer gewesen, denn solches Französisch wie er
schreibt kein Deutscher. Wir würden dann eben nur auf literarischem Gebiete
dieselbe Erfahrung machen, die die Pariser Ausstellung auf dem Gebiete der
Kunst und des Gewerbes so vielfach wieder ergeben hat: daß der Deutsche in
Frankreich dem Deutschen in Deutschland oft an Geschicklichkeit überlegen ist.
Wenn ein deutsches Talent für den Franzosen arbeitet, so ist es, als ob ein
Fisch in frisches Wasser gesetzt wllrde. Der deutsche Musterzeichner, der für
seine Anlagen und Kenntnisse bei uns keine Verwendung finden kann, geht
nach Paris und arbeitet für französische Geschäfte. Dann kommt seine Arbeit
nach Deutschland, und wir machen sie mühselig nach. Hätte Lichtenberger sein
Buch deutsch geschrieben, was er wahrscheinlich im Stande gewesen wäre, so
ist zehn gegen eins zu wetten, daß man in Deutschland die Nase gerümpft und
gesagt hätte: „Ach ja, ein ganz nettes Buch, geeignet für die Frauenwelt und
sür die reifere Jugend, aber was hat es neben so gelehrten Arbeiten wie denen
von Düntzer, Viehoff u. A. zu bedeuten?" Er schreibt es französisch — und
siehe da, es ist ein Schuß in's Schwarze, und wenn wir klug sind, sorgen wir
recht bald für eine gute deutsche Bearbeitung davon. Es ist eine alte Geschichte,
doch bleibt sie ewig neu.
Von Frankreich aus sind in den letzten Jahren eine Anzahl namhafter
Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte gespendet worden. Wir erinnern nur
an das zuletzt erschienene Werk von Joret: „Hsrclor se 1a, r<ZQÄ,i88Mos Mtö-
i-airs ^11<zM^Qs", womit das Ausland dem gegenwärtig auch in Deutsch¬
land wieder erwachten Interesse für Herder, welches in der großen Suphan'schen
Herder-Ausgabe und in Haym's Herderbiographie seinen Ausdruck findet, voraus¬
eilte. Diesen Werken reiht sich nun das Buch von Lichtenberger über Goethe's
Gedichte an.
Die erste Frage, die sich dem Buche gegenüber aufdrängt, ist die: Wie
stellt es sich zu den beiden bekannten deutschen Kommentaren von Viehoff und
Düntzer? Hierauf ist ein Doppeltes zu antworten. Erstens behandelt der
französische Kommentar nicht, wie die beiden deutschen, sämmtliche in der ge¬
wöhnlichen zweibändigen Ausgabe vereinigten Gedichte Goethe's, sondern nur
eine Auswahl derjenigen, die für weitere Kreise, zunächst in Frankreich, aber
wir können, wenn wir ehrlich sein wollen, getrost hinzusetzen auch in Deutsch¬
land Interesse haben. Ob die Auswahl das Richtige trifft, ob sie zu eng oder
zu weit ist, auf diese Frage kann nicht geantwortet werden, ohne zugleich des
zweiten, wichtigeren Unterschiedes zwischen dem französischen Werke und den beiden
deutschen zu gedenken. Die deutschen Erklärer geben einen Kommentar zu
jedem einzelnen Gedichte, und zwar schließen sie sich dabei natürlich derjenigen
Reihenfolge und Gruppirung an, in welche Goethe selber in späterer Zeit seine
Gedichte gebracht hat. Lichtenberger wagt es, den Versuch, den Hirzel und
Bernays in ihrem „Jungen Goethe" gemacht, die Gedichte wieder in ihre ur¬
sprüngliche chronologische Reihenfolge zu bringen, auf die Goethe'schen Gedichte
überhaupt, soweit sie hier berücksichtigt werden, auszudehnen und die Besprechung
derselben in einen fortlaufenden biographischen Faden einzuflechten. Hierin
liegt der Hauptwerth und der Hauptreiz des vorliegenden Buches. Die Vie-
hoff'schen und nun vollends die Düntzer'schen Erläuterungen wird kein Mensch
zur Hand nehmen, um sie zu „lesen"; sie sind nichts als Materialsammlungen,
Nachschlagewerke. Lichtenberger hat, bei aller Gründlichkeit der Arbeit, doch
zugleich ein angenehmes, im Zusammenhange zu lesendes Buch geschaffen. Das
ist es, wozu wir uns bisher aus allerhand Bedenklichkeiten nicht entschlossen
haben, und worin uns der Franzose wieder einmal den Rang abläuft.
Mehr als einmal hat Goethe selber es ausgesprochen, daß seine Gedichte
„Gelegenheitsgedichte" seien in dem tieferen Sinne, daß all' sein dichterisches
Schaffen von etwas in der Wirklichkeit gegebenem ausging, daß seine Poesie
nur dasjenige, künstlerisch gestaltet, gesteigert und geläutert, darstellte, wozu be¬
stimmte äußere Anlässe, bestimmte Lebensereignisse ihn drängten. Und wenn
auch natürlich ein Goethe'sches Gedicht, wie jedes echte Kunstwerk, zu genießen
ist von dem, der nichts davon weiß, wann und unter welchen Umständen der
Dichter es geschaffen, welche Erlebnisse er darin dargestellt hat, so wird doch
ein tieferes Verständniß seiner Dichtungen nur dem ermöglicht sein, der in die
Verflechtung zwischen Poesie und Leben, die bei keinem Dichter eine so innige
war wie bei ihm, sich klare Einsicht verschafft hat. Diesen Beziehungen bei
jedem einzelnen Gedichte nachzuspüren ist, wenn es in der Anordnung geschieht,
in der Goethe selber später seiue Gedichte nach allerhand stofflichen Gesichts¬
punkten geordnet hat, ein unerquickliches und vergebliches Bemühen, bei welchem
nichts als eine Unmasse vereinzelter Thatsachen gewonnen wird, die mit der
Zeit wohl oder übel sich zu einem Gesammtbilde fügen werden, aber freilich
zu einem Bilde, das überall wahrheitswidrig verwirrt und verzerrt sein muß.
Nur wer die künstlichen Gedichtgruppen Goethe's wieder auflöst und die
einzelnen Gedichte in ihre ursprüngliche Reihenfolge bringt, nur der kann
hoffen, das mit der Zeit ein richtiges und deutliches Bild des Dichters vor
seinem geistigen Auge erstehen wird.
Vollständig hat sich die chronologische Folge freilich nicht durchführen
lassen und wird sich auch nie durchführe!: lassen. Wenn auch unter den „Ge¬
dichten" Goethe's der Fall selten vorkommen dürfte, der sofort einträte, wenn
man Dichtungen von größerem Umfange mit berücksichtigen wollte, daß ihnen
nämlich kaum ein bestimmter Platz in der Zeitfolge anzuweisen ist, weil die
Arbeit des Dichters an ihnen sich auf Jahre erstreckt und vertheilt, so nöthigen
doch andre Ursachen bisweilen dazu, auf die chronologische Folge zu Gunsten
einer mehr stofflichen oder formalen Gruppirung zu verzichten. Lichtenberger
hat denn auch beide Eiutheilungsprinzipien mit einander verbunden. Er
sagt darüber im Vorwort: „Meine Darstellung sucht die Gedichte Goethe's
durch sein Leben, und sein Leben durch seine Gedichte zu erklären. Zu gleicher
Zeit betrachtet sie diese Gedichte an sich und befragt sie um das Geheimniß
ihrer Schönheit. Dieser doppelte Zweck erschwert auf den ersten Blick die
Wahl des zu befolgenden Planes. Wenn die Gedichte das Leben und die
Empfindungen Goethe's ausheilen sollen, so ist die chronologische Anordnung
gebieterisch gefordert: die verschiedenen Perioden seines Lebens bilden die natur-
lichen Abschnitte meiner Arbeit. Ganz anders 'gestalten sich diese Abschnitte
mit Rücksicht auf die Aesthetik. Diese stellt jedes Gedicht zu der Gattung, zu
der es gehört, und fordert, daß man nach und nach die Lieder, die Oden, die
Balladen, die Epigramme, die Elegien betrachte. Welcher von diesen beiden
Anordnungen empfiehlt sich's nun zu folgen? Wenn wir Goethe selbst fragen,
so scheint er uns die letztere zu neunen. Denn in seinen gesammelten Werken
sind die Gedichte, was ihre Entstehungszeit betrifft, bunt durcheinander ge¬
worfen, nach Kategorien gruppirt. Aber diese Methode, die man bei jedem
andern Dichter gelten lassen möchte, kann auf Goethe keine Anwendung finden.
Wir sind nicht berechtigt, die Wirklichkeit, die äußeren Umstände, die mannig¬
fachen Empfindungen, die seine Seele bewegten, in den Hintergrund zu drängen,
denn es handelt sich um einen Dichter, dessen Gedichte nach seinem eignen Ge-
stündniß Gelegenheitsgedichte sind. Andrerseits, an die chronologische Reihen¬
folge sich ohne Einschränkung zu binden, das hieße, die Analyse zerstückeln,
Anschauungen verzeddeln, die man doch verständiger Weise im Zusammenhang
geben muß. Im Hinblick auf die offenbaren Jnconvenienzen beider Methoden,
bin ich dazu gelangt, eine wie die andre zu verwerfen, oder vielmehr sie mit
einander zu verbinden, so daß beide gegenseitig Zugeständnisse machen müssen.
Diese Verschmelzung macht sich leichter als es anfangs scheint. Ein Dichter,
der, wie Goethe, nicht handwerksmäßig schafft, sondern die Inspiration abwartet,
bringt seine Empfindungen stets in die ihnen angemessenste Form: sind sie stürmisch,
so brausen sie in der Ode oder im Dithyrambus einher; sind sie sanft, so ver¬
breiten sie sich gemächlich in der Elegie. Nun entsprechen aber auch gewisse
Gattungen bestimmten Perioden von Goethe's Leben. In seiner Jugend hat
er keine Elegien geschrieben, nach seinem vierzigsten Jahre keine Ode mehr
gedichtet. Andre Gruppen, wie die Ballade, das Epigramm, die einen größeren
Raum einnehmen, haben wenigstens eine Zeit des Glanzes und der besonderen
Pflege: dies ist dann der Zeitpunkt, den ich zur Betrachtung wähle. Bieten
aber Gedichte, die zu diesen Gruppen gehören, in erster Linie biographisches
Interesse, so trage ich kein Bedenken, sie daraus abzulösen und in ihre Ent¬
stehungszeit zu setzen. Eine einzige Gattung breitet sich über das ganze Leben
des Dichters aus: das Lied. Es ist die Gattung, die dem Goethe'schen Genius
am natürlichsten war, der er das unauslöschlichste Gepräge aufgedrückt hat,
Ihr widme ich mehrere Kapitel, deren Platz nach der Entstehungszeit der Lieder
und nach den Gegenständen, die sie behandeln, bestimmt wird."
Nach diesen Grundsätzen, gegen die sich schwerlich etwas wird einwenden
lassen, theilt Lichtenberger seine Darstellung in 14 Abschnitte. Der erste Ab¬
schnitt behandelt das Leipziger Liederbuch, der zweite die Friderikenlieder, der
dritte die odenartigen Dichtungen, wie „Wandrers Sturmlied", „An Schwager
Kronos", „Prometheus" u. a. Im vierten Abschnitte sind diejenigen^ Gedichte
besprochen, die Goethe selbst unter der Ueberschrift „Kunst" zusammengestellt
hat, dazu „Hans Sachsens poetische Sendung", im fünften und sechsten die
Lieder ans Lili und Frau von Stein, im siebenten die beiden merkwürdigen
Gelegenheitsgedichte: „Auf Mieding's Tod" und „Ilmenau" nebst den Gedichten
aus „Wilhelm Meister". Dann folgen die Römischen Elegien, die Venetianischen
Epigramme nebst den Xenien und das zweite Buch der Elegien („Alexis und
Dora", „Der neue Pausias", „Euphrosyne" u. a.) Die vier letzten Abschnitte
endlich bringen die Balladen, die Sonnette und die geselligen Lieder, den „Divan",
eine kleine Anzahl von Gedichten philosophischen Inhalts und „Letzte Gedichte".
Mit der umfänglichen deutschen Goetheliteratur ist Lichtenberger sehr wohl
vertraut. Bis herab auf die neuesten Publikationen über Friderike von Sesen-
heim und Marianne Willemer, das Urbild und zum Theil die Verfasserin der
„Suleika", hat er alles Vorhandene benutzt. Die letzte abschließende Arbeit
von Creiznach über die Willemer ist erst nach Lichtenberger's Buche erschienen.
Um von der ganzen Art seiner Behandlung, die auch sonst wesentlich von der
unsrer deutschen Kommentare abweicht, eine Vorstellung zu geben, theilen wir
im Nachfolgenden eine Probe in treuer Uebersetzung mit. Wir wühlen dazu
das unvergleichlich anmuthige, zarte und tiefsinnige Idyll, dessen Entstehung
jedenfalls noch Goethe's Straßburger Zeit angehört: „Der Wandrer". Mit
Recht, wie uns scheint, ist Lichtenberger in der Datirung dieses Gedichtes uoch
einen Schritt weiter gegangen, als Hirzel und Bernays, die es in die Frank¬
furter Zeit (Herbst 1771 — Frühjahr 1772) setze», und hat ihm seinen Platz
am Schluß der Friderikenlieder angewiesen. Seine Besprechung beginnt mit
einer Konfrontation der auf die Entstehungszeit des Gedichtes bezüglichen
Dokumente und lautet, wie folgt:
Am 7. Mai 1831 schrieb Felix Mendelssohn aus Neapel an Zelter:
„Von dem Gedicht ,Gott segne dich, junge Frau' behaupte ich das Lokal auf¬
gefunden zu haben; ich behaupte sogar, daß ich bei der Frau zu Mittag ge¬
gessen; aber natürlich muß sie jetzt ganz alt, und ihr säugender Knabe ein
stämmiger Vignerol geworden sein, und an beiden sehlte es nicht. Zwischen
Pozzuoli und Bajä liegt ihr Haus, ,eines Tempels Trümmer' und nach Cumä
ist es ,drei Meilen gut'." Als Goethe diesen Brief zu Gesicht bekam, schrieb
er dem Freunde: „Was du nicht verrathen mußt, ist, daß jenes Gedicht ,Der
Wandrer' im Jahre 1771 geschrieben ist, also viele Jahre vor meiner italienischen
Reise. Das aber ist der Vortheil des Dichters, daß er das voraus ahnet und
werth hält, was der die Wirklichkeit suchende, wenn er es im Dasein findet
und erkennt, doppelt lieben und höchlich sich daran erfreuen muß." Wenn
aber Mendelssohn sich über die Entstehungszeit und die erste Anregung zu
diesem dialogisirten Idyll irrte, so beging Goethe selbst einen noch seltsameren und
unerklärlicheren Irrthum. Im September 1773 schrieb er nämlich an Kestner:
„Du wirst auf S. 15. (des Göttinger Musenalmanachs) den .Wandrer' an¬
treffen, den ich Lotten an's Herz binde. Er ist in meinem Garten an einem
der besten Tage gemacht, Lotten ganz im Herzen, und in einer ruhigen Ge-
nüglichkeit, all' eure künftige Glückseligkeit vor meiner Seele. Du wirst, wenn
du's recht ansiehst, mehr Individualität in dem Dinge finden, als es scheinen
sollte; du wirst unter der Allegorie Lotten und mich, und was ich so hundert¬
mal bei ihr gefühlt, erkennen." Was kann anscheinend klarer und bestimmter
sein? Mit welcher Zuversicht konnten die Erklärer sich in der Vorstellung wiegen, in
der jungen Bäuerin von Cumä die Züge der liebenswürdigen Lotte Werther's
wiederzuerkennen? Und doch, die Veröffentlichung der Briefe Herder's und
seiner Braut, Caroline Flachsland, sollte alle diese Vermuthungen umstürzen.
In einem Briefe vom April 1772 schreibt die Letztere an ihren Bräutigam:
„Goethe steckt voller Lieder. Eins von einer Hütte, die in Ruinen alter Tempel
gebaut, ist vortrefflich." Darauf eingehender, in einem späteren Briefe: „Der
Wanderer auf den Ruinen — die Frau mit dem Knaben auf dem Arm —
und der Wanderer mit dem Knaben auf dem Arm*) — und die letzte Bitte
um eine Hütte am Abend — o ich kann Ihnen nicht sagen, wie alles das
mir in die Seele geht! Gott, wo werden wir zwischen der Vergangenheit er¬
habenen Trümmern unsere Hütte flicken!"
So schreibt Caroline Flachsland im Mai 1772, und die erste Begegnung.
Goethe's mit Lotte fand einen Monat später statt! Wie soll man nun diesen
Irrthum erklären? Sollen wir annehmen, daß Goethe Kestner und Lotte habe
täuschen wollen? Aber die Natürlichkeit seines Herzensergusses selbst, das
Wohlgefallen, mit dem er seine Erinnerungen wachruft und sie sich wieder ver¬
gegenwärtigt, seine Festigkeit, seine Offenheit, alles sträubt sich gegen eine derartige
Annahme. Hat er, wie Viehoff meint, in Wetzlar fein Gedicht umgearbeitet
und dabei erst Beziehungen auf Lotte eingeflochten? Die Einzelheiten aus
dem letzterwähnten Briefe von Caroline Flachsland und die Einheit des ganzen
Idylls selbst berechtigen kaum zu einer Vermuthung, die doch nur dazu dient,
dem Erklärer den Rückzug zu decken. Die Lösung des Räthsels ist wo anders
zu suchen. Man erinnere sich, daß Goethe, als er nach Sesenheim kam, den Kopf
voll Reminiscenzen an Goldsmith's Erzählung „Der Landprediger von Wakefield"
hatte, daß er von zahlreichen Aehnlichkeiten überrascht wurde, die die Dichtung
mit der Wirklichkeit bot, und daß er beim Eintreten von Frideriken's jüngerem
Bruder sich kaum enthielt, auszurufen: „Moses, bist du auch da!" Seitdem
bestand bei ihm eine Art Wechselwirkung zwischen dem Roman und dem Leben.
Die Glieder der Familie Primrose entlehnten ihre Züge von der Familie
Brion und gewannen an Deutlichkeit und Schärfe; die Gestalten der Bewohner
von Sesenheim erschienen Goethe von dem poetischen Nimbus umgeben, mit
welchem Goldsmith seine Figuren zu umkleiden verstanden hatte. Er gab sich
in seiner augenblicklichen Freude keine Rechenschaft von diesem beständigen
Austausch, dieser unmerklichen Umbildung; später aber wurde er sich sehr wohl
darüber klar und zergliederte sie selbst in „Dichtung und Wahrheit". In Wetzlar
ging in seinem Innern sicher eine ähnliche Verschmelzung vor. Goethe hatte
eben den „Wandrer" gedichtet, eben das Bild jener jungen,^einfachnatürlichen,
liebenswürdigen, gastfreundlichen, glücklichen Frau in dem bescheidenen Rahmen
ihres alltäglichen Lebens gezeichnet — da begegnet er in Lotte ihrem leib¬
haftigen Ebenbilde. Ist es nicht natürlich, daß abermals dieses Spiel der
Reflexe entstand, und daß er, als er in schonen Sommertagen, in stillem Glücke,
„Lotten ganz im Herzen", seine Verse wieder las, sich selber täuschte und aus
den Zeilen seiner Dichtung das Bildniß der Geliebten lächeln zu sehen glaubte?
Thatsächlich knüpft unsre Dichtung noch an das Elsaß und an Friderike
an. Den Rahmen und das Motiv dazu erhielt Goethe in Niederbronn, auf
einem Ausflug in die Vogesen. „In diesen von den Römern schon angelegten
Bädern — so schreibt er in „Dichtung und Wahrheit" — umspülte mich der
.Geist des Alterthums, dessen ehrwürdige Trümmer in Resten von Basreliefs
und Inschriften, Säulen-Knäufen und -Schäften mir aus Bauerhöfen zwischen
wirtschaftlichem Wust und Geräthe gar wundersam entgegenleuchteten."
Die Entstehungszeit, der Kontrast zwischen der unbewußten Naivetät des
Weibes und den verfeinerten Empfindungen des Wandrers, alles weist auf
die Beziehungen Goethe's zu Friederike hin. Und die Gewißheit wächst noch,
wenn wir die letzten Zeilen unsres Gedichtes mit der dritten Strophe des Liedes
„An die Erwählte" vergleichen. An beiden Stellen gedenkt der Dichter der
Hütte in der Nähe des Pappelwäldchens, die er sich zum Zufluchtsorte seines
Glückes auserkoren hat.
Auch wenn Goethe nicht ausdrücklich in „Dichtung und Wahrheit" des
Einflusses gedacht hätte, den Lessing's „Laokoon" auf ihn ausgeübt, ein auf¬
merksames Studium unsres Gedichtes würde hinreichen, ihn außer Zweifel zu
setzen. Ju der That, alle die geistvollen und tiefbegründeten Vorschriften Lessing's
über die Auflösung der Beschreibung in Handlung, über die sparsame Verwen¬
dung malerischer Einzelheiten, über die Aufeinanderfolge der Bilder in der
Dichtung, alle finden wir sie hier beobachtet, und zwar plebe mit schülerhafter,
kleinlich sich anklammernder Aengstlichkeit, sondern mit dichterischer Freiheit
und Leichtigkeit und mit der schöpferischen Kraft des Genie's.
Wenige Worte, die gewechselt werden, ersetzen sofort im Anfange eine
weitläufige Exposition:
Wandrer: Gott segne dich, junge Frau,
Und den säugenden Knaben
An deiner Brust!
Laß mich an der Felsenwand hier
In des Ulmbaums Schatten
Meine Bürde werfen,
Neben dir ausruhn,
Frau: Welch Gewerb treibt dich
Durch des Tages Hitze
Den staubigen Pfad her?
Bringst du Waaren aus der Stadt
Im Land herum?
Der Wandrer lächelt, und anstatt der jungen Frau eine Antwort zu geben,
die sie doch nicht begreifen würde, bittet er sie, ihm einen Brunnen zu zeigen,
an dem er seinen Durst stillen könne. Sie sührt ihn einen Felsenpfad hinauf,
und er sieht allmählich die Trümmer eines alten Tempels auftauchen, einen
Architrcw, mit Moos bedeckt, eine verwischte Inschrift, einsame Säulen, „die
majestätisch trauernd herabschauen ans die zertrümmerten Schwestern zu ihren
Füßen." Er zürnt der Natur, die „ihres Meisterstücks Meisterstück" in dieser
Weise zerstört, er vergißt ganz die Fran an seiner Seite, hört nichts von ihren
Bemerkungen, ihren freundlichen Anerbietungen. Jedes von beiden verfolgt
seine eigene Gedankenreihe, der Wandrer in seiner Betrachtung und seinen
Klagen versunken, die junge Frau nur darauf bedacht, dem Wandrer eine Er¬
quickung zu bieten, seinem ersten Wunsche gemäß, dem einzigen, den sie begreift,
weil er natürlich und allgemein menschlich ist. Was ist es nun, was die Ge¬
dankenkreise beider einander nähert, sie auf ein und denselben Puukt richtet,
den Mann der Bildung, den Künstler, der über die Verstümmelung seiner ab¬
göttisch verehrten Kunstwerke empört ist, der die Vergangenheit in seiner Ein¬
bildung wiederherzustellen sucht, mit der Gegenwart, mit der Natur, mit dem
Leben aussöhnt? Der Uebergang ist von ebenso großer Simplizität wie Zart¬
heit, ebenso sinnreich wie rührend.
„Nimm den Knaben," redet die Mutter den Wandrer an, „daß ich Wasser
schöpfen gehe." So wird der Mann veranlaßt, sich niederzulassen, das Kind
auf seine Arme zu nehmen, und so richtet er seine Blicke und Gedanken von
den Ruinen, über die sie eben noch schweiften, auf die süße Last, die ihm an¬
vertraut ist.
Der Zauber ist gelöst: Das Interesse für die Vergangenheit weicht der
Gegenwart, dem Leben, welches auf allen Seiten seinen Blicken sich zeigt, im
Grün der Bäume, in der Hütte, die von den Ruinen sich abhebt, in der heitern
Lebhaftigkeit des Kindes, in dem treuherzigen Geplauder und dem gastlichen
Sinn der jungen Mutter. Der Wandrer söhnt sich mit der Natur aus, er
preist ihre nie versiegende Fruchtbarkeit, ihre unablässige Thätigkeit, das Leben,
das unaufhörlich über den Tod triumphirt:
Natur! du ewig keimende,
Schaffst jeden zum Genuß des Lebens,
Hast deine Kinder alle mütterlich
Mit Erbtheil ausgestattet, einer Hütte.
Hoch baut die Schwalb' an das Gesims,
Unfühlend, welchen Ziemth
Sie verklebt;
Die Ranp' umspinnt den goldnen Zweig
Zum Winterhaus für ihre Brut;
Und du flickst zwischen der Vergangenheit
Erhabne Trümmer
Für dein Bedürfniß
Eine Hütte, o Mensch,
Genießest über Gräbern!
Seine Gedanken nehmen hier, wie man sieht, poetischen Schwung an.
Während die junge Frau sich in schlichten, schmucklosen, alltäglichen Worten
ausspricht, sucht der Wandrer seine Worte dem Grade der Erregung anzupassen,
die ihn durchdringt. Es ist kein breiter, überfließender Redeschwall, sondern
eine Reihe von Bildern, mit deutlichen Umrissen, ein gehobener Ausdruck, der
maßvoll erscheint, weil seine Kühnheit immer glücklich ist. Wir haben bisher
in Goethe's Poesie den Gesang, die Musik der Sprache*) bewundert, die, wenn
man Bettina glauben darf, Beethoven zu der Aeußerung veranlaßte, daß sie
„das Geheimniß der Harmonieen schon in sich trage"; in dem vorliegenden
Gedicht enthüllt sich zum ersten Male sein Plastisches Genie, seine Fähigkeit
den Umriß der Dinge zu erfassen, sie aus Worten und Silben herausspringen
zu lassen.
Im „Wandrer" erkennt man den Gegensatz von Natur und Bildung
wieder, den Rousseau zuerst verkündet hatte. „Natur, Natur", rief Goethe in
seiner Rede zu Ehren von England's großem dramatischen Genius aus, „nichts
so Natur, als Shakespeare's Menschen!" Natur — das ist das Schlagwort
des neuen Geistes, der um 1770 in allen Zweigen der menschlichen Thätigkeit
wehte; es ist der Heerd, von dem die verschiedensten Ideen und Reformen
wie Funken aussprühten; es ist das Band, welches die entgegengesetztesten
Geister verewigte: in Frankreich Rousseau, Diderot, Bernardin de Saint-Pierre,
Mably, Raynal; in Deutschland Möser und Basedow, Herder und Hamann,
Bürger, Lenz, Klinger, die Stolberg. Politik, Moral, Erziehung, Wissenschaften,
alles wird erschüttert, umgestaltet, erneuert. Die alten Formen bersten, die
alten Götzen werden umgestürzt, „ein unbedingtes Bestreben, alle Begränzuugen
zu durchbrechen, ist bemerkbar." Im Jahre 1772 gründet Goethe mit seinen
Freunden Merck, Schlosser, Höpfner eine Zeitschrift, in der das neue Evangelium
verkündigt und gepredigt werden soll. „Warum sind die Gedichte der alten
Statten und Celten und der alten Griechen, selbst der Morgenländer so stark,
so feurig, so groß? Die Natur trieb sie zum Singen wie den Vogel in der
Luft. Uns — wir können's uns nicht verbergen — uns treibt ein gemachtes
Gefühl, das wir der Bewunderung und dem Wohlgefallen an den Alten zu
danken haben, zu der Leyer, und darum sind unsere besten Lieder, einige wenige
ausgenommen, nur nachgeahmte Copien." Damit die Poesie wieder natürlich
und ursprünglich werde, muß der Dichter vor allen Dingen Empfindungen
haben, die werth sind besungen zu werden, er muß lieben, er muß sich in den
Strudel des Lebens stürzen. Inbrünstig sehnt Goethe diesen befreienden Genius
der deutschen Poesie herbei, dessen mächtige Flügelschläge er in sich selber spürt; an
ihn richtet er jene wunderbare, wahrhaft lyrische Apostrophe, in der die Kritik zu
prophetischem Tonesich erhebt: „Laß, o Genius unsers Vaterlandes, bald einen
Jüngling aufblühen:c." —
Soweit der Kommentar Lichtenberger's zu dem vorliegenden Gedichte. Die
wunderbare, aus dem tiefsten Herzen quellende, zugleich von dem entzückenden
Bilde Lotte's durchwobene indirekte Prophezeihung Goethe's über seine eigene
zukünftige dichterische Größe, mit der die Besprechung abschließt, mag jeder
beim Dichter selber nachlesen. Sie steht in einer der von Goethe für die
„Frankfurter Gelehrten Anzeigen" während seines Wetzlarer Aufenthalts ge¬
schriebenen Kritiken (Gedichte von einem polnischen Juden. Goethe's Werke,
Hempel'sche Ausgabe, Bd. 29, S. 39, oder Der junge Goethe II, S. 440*)).
Ein Vergleich des französischen Kommentators mit den beiden deutschen
Erklärern fällt, auch abgesehen von den oben besprochenen prinzipiellen Unter¬
schieden, in mehr als einer Beziehung zu Gunsten des ersteren aus. Lichten-
berger verwendet nicht ganze Seiten dazu, die abweichenden Lesarten der ver-
schiedenen Ausgaben zu registriren und jeden einzelnen Versfuß zu bestimmen,
auch umschreibt er den Inhalt nicht in einer jener prosaischen Paraphrasen,
welche die unnachahmliche Spezialität der Diintzer'schen Kommentare bilden.
Er weiß eben, für wen er schreibt, worüber sich der deutsche Erklärer, der seine
Kommentare womöglich gleichzeitig für den „Goetheforscher" — daher die Les¬
arten — und für den Schulknaben — daher die Versfüße und die Para¬
phrasen — einrichten möchte, nie klar zu sein scheint. Aber das, was er
giebt, und die Art, wie er es giebt, verdient vielfach den Vorzug vor den
deutschen Kommentaren.
Wie anschaulich gruppirt er gleich am Anfange die Aktenstücke über die
Entstehungszeit des Gedichtes, so, daß der Widerspruch, der zwischen ihnen
herrscht, von selbst in die Augen springt! Bei Viehoff und Düntzer ist dies
nicht halb so geschickt geschehen. Mit welcher psychologischen Feinheit löst er
den Widerspruch dann auf! Viehoff nimmt an, daß Goethe das Gedicht in
Wetzlar nochmals „um- und durchgearbeitet" habe und überläßt es im Uebrigen
dem Leser, die Behauptung Goethe's, daß er das Gedicht in Wetzlar angesichts
von Lotte's zukünftigen Glück geschrieben habe, „auf das rechte Maß zurück¬
zuführen." Düntzer meint, diese Behauptung Goethe's müsse „auf einer Ver¬
wechslung beruhen"; wenn er auch das Gedicht in Wetzlar „noch einmal durch¬
genommen" haben möge, so sei es doch „unbegründet", es für eine Allegorie
auf sich und Lotte auszugeben. Lichtenberger versucht den Widerspruch in einer
Weise zu lösen, daß weder eine plumpe Verschiebung der Thatsachen noch eine
gewöhnliche Gedankenlosigkeit angenommen zu werden braucht.
Ferner sind in keinem der beiden deutschen Kommentare die ursprünglichen
Beziehungen des Gedichtes vollständig nachgewiesen. Der antiken Trümmer
von Niederbronn gedenken sie beide, aber damit ist nur die Hälfte des Gedichtes
erklärt. Die andere Hälfte wird erst verständlich, wenn man sich vergegen¬
wärtigt, daß Goethe's Seele im Herbst 1771 entschieden noch mit der Vorstellung
von der Möglichkeit einer dauernden Verbindung mit Friderike erfüllt war.
Es scheint also durchaus zutreffend, wenn Lichtenberger für das eigentliche
Original der jungen Bäuerin Friderike in Anspruch nimmt, an deren Stelle
erst später in Wetzlar in Goethe's Phantasie Lotte substituirt wurde. Treffend
ist auch bei Lichtenberger die Hindeutung auf den „Laokoon", die sich in den
deutschen Erklärungen nirgends findet, wenngleich auch sie auf die Geschicklich-
keit aufmerksam macheu, mit welcher der Dichter die Schilderung eines immer
wechselnden Lokales in den Dialog verflochten habe, treffend endlich auch am
Schlüsse der Hinweis auf den tieferen Zusammenhang auch dieses Gedichtes
mit den Ideen, welche die Sturm- und Drangzeit überhaupt bewegten, ein
Zusammenhang, der ebenfalls den deutschen Erklärern entgangen ist.
Wir empfehlen den gebildeten Kreisen Deutschland's das Lichtenberger'sche
Vues auf's wärmste. Es gewährt immer ein eigenthümliches Vergnügen, in
fremder Zunge so liebenswürdig, so verständig und zugleich so elegant über
einen deutscheu Dichter sprechen zu hören. Daß aber auch der spezifische „Goethe¬
forscher" das Buch nicht ganz wird umgehen können, ist gar kein Zweifel.
Wir haben absichtlich an einem einzelnen Beispiele ausführlicher gezeigt, daß
es ein ungerechtes Urtheil sein würde, wenn man an Lichtenberger's Kom¬
mentar nichts weiter rühmen wollte, als die sorgfältige und geschickte Benutzung
der deutschen Goetheliteratur, wenn man behaupten wollte, daß das Buch sür
uns „nichts Neues" enthalte. Und wenn es hie und da nur die Art der Be¬
handlung wäre, die wir uns zum Muster nehmen können! Aber neu oder
nicht neu, gleichviel; freuen wir uns, daß abermals eine tüchtige und berufene
Hand sich gefunden hat, die es unternommen, mit den friedlichen Waffen des
Geistes in dem wiedergewonnenen Elsaß nicht blos, sondern in ganz Frankreich
deutschem Geistesleben freie Bahn zu machen.
Völlig gelähmt durch den Schrecken über das ungeheure Ereigniß, das
sich am Abend des 12. August in Leipzig zugetragen, waren der Rath, die
königlichen Behörden, selbst das Militärkommaudo. Der Rath, an dessen Spitze
der unsühige Bürgermeister Groß stand, erließ eine der wunderbarsten Offen¬
barungen feiner Weisheit. „Gewiß hat jeder wohlgesinnte Bürger und Ein¬
wohner unserer Stadt den größten Unwillen und tiefsten Schmerz über die
beklagenswerthen Ereignisse empfunden, welche in der vergangenen Nacht statt¬
gefunden haben." Und „zur Aufrechterhaltung der auf so traurige Weise ge¬
störten Ordnung" verordnete der Rath, „zu diesem Endzweck (!): „1) Alle
Lehrherren und Meister, sowie alle Eltern unerwachsener (!) Kinder werden
dringend aufgefordert, ihre Lehrlinge und Kinder von acht Uhr Abends an zu
Hause zu behalten und bei eigener Verantwortung ihnen das Ausgehen nicht
weiter zu gestatten. 2) Alle Hausthüren sind von 9 Uhr an geschlossen zu
halten. 3) Alle Personen, welche nach dieser Zeit in größeren Truppen (!) aus
der Straße sich treffen lassen, haben auf erfolgte Bedeutung der Patrouillen
der Kvminnnalgarde sofort auseinanderzugehen. 4) Der Aufenthalt in öffent¬
lichen Schankstcitten ist Gästen nur bis 9 Uhr zu gestatten" u. s. w. Gleich¬
zeitig eröffnete der Rath der durch diesen Ukas nur noch mehr verstimmten
Bürgerschaft: „Der zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicher¬
heit allhier erforderliche Dienst der bewaffneten Macht ist ausschließend (!) der
hiesigen Kommnnalgarde, der sich zu diesem Zwecke die Herren Studirenden
auf das Bereitwilligste angeschlossen haben, übergeben worden."
Nichts bezeichnet wohl so sehr die Rathlosigkeit des Rathes und der könig¬
lichen Behörden, als daß man — und zwar mit Vorwissen der königlichen
Kreis-Direktion — „die Herren Studirenden", die noch vor wenigen Stunden
die bewaffnete Macht attakiren wollten, zu Hütern der Ordnung einsetzte; und
es war daher den Musensvhnen durchaus nicht zu verargen, daß sie, einmal
zu einer Art Leipziger Vorsehung erhoben, sich sofort anschickten ihre Rolle
würdevoll zu spielen. Sie ließen an allen Straßenecken eine Einladung zu
einer Versammlung der Studirenden, die im Schützenhause Nachmittags zwei
Uhr stattfinden sollte, anschlagen. Hier fanden sich etwa siebenhundert Stu-
dirende und etwa dreimal so viel Bürger ein.*) Immer wilder wogten die
Leidenschaften in der großen Versammlung. Den lebhaftesten Beifall ernteten
die extremsten Vorschläge. Immer höher stieg die Hitze des Zorns, immer
verwirrter wurden die Vorschläge, die Anträge, immer unheimlicher ward der
Ruf nach Sühne und Vergeltung; schließlich erschien das Verlangen nach Rache
um jeden Preis als der herrschende Grundton der Stimmung dieser Ver¬
sammlung. Wenn die wildeste Meinung siegte und dann die entfesselten Tau¬
sende, die studirenden Hüter der Ordnung an der Spitze, fraternisirend mit der
durch Militär und königliche Behörden tief gekränkten Kommunalgarde, sich
durch die Stadt ergossen, Rache heischend und suchend — was dann? Seit
dem Tage, da der fliehende Napoleon am Ende der Völkerschlacht seinen Myr-
midonen in Leipzig den Befehl hinterlassen, die Stadt nur als rauchenden
Trümmerhaufen dem einziehenden Sieger zu überliefern, hatte die Stadt nicht
mehr in so ernster Gefahr geschwebt, als heute.
Da trat, „von seinen Freunden auf die Tribüne gedrängt, und von der
Versammlung mit dem lautesten Beifall begrüßt," ^) Robert Blum als Redner
auf. Er war die vorhergehenden Tage in Geschäften verreist gewesen und
hatte eben erst am Bahnhof die Schreckenskunde des Geschehenen vernommen.
Sofort war er in die Volksversammlung des Schtttzenhauses geeilt. Sein Wort
zündete wie kein anderes zuvor; begeistert hingen die erregten Tausende an
seinem Munde, obwohl er, der erste unter allen Rednern, die Nothwendigkeit
betonte, nur auf gesetzlichem Boden das Verlangen nach Sühne geltend zu
machen. Hier feierte die mächtige Redegabe, der klare Blick und die maßvolle
Persönlichkeit des Mannes unstreitig den größten Triumph seines Lebens. Er
hat später noch stolzere, größere Tage gesehen, an denen die erwählten Ver¬
treter ganz Deutschland's mit derselben Spannung seinen Worten lauschten,
wie hier die mandatloser Bürger einer erregten Stadt. Aber einen schöneren,
größeren Erfolg hat er seinem Talent und Charakter kaum jemals verdankt,
als an diesem Tage. Ich will nicht leugnen, daß jenes Urtheil viel Wahres
enthält, das die Geschichtsschreiber dieser Zeit über ihn fällen und über fein
Auftreten in dieser Stunde, „da jener merkwürdige Mann, der von da an eine
so bedeutsame Rolle in der Geschichte Sachsen's, ja Deutschland's spielen sollte,
in den Vordergrund der politischen Schaubühne trat, schon hier die ihm eigene
Virtuosität bekundend, die Unruhe wollend, die Ruhe zu predigen."*) Hat er
doch selbst am 3. November 1845 an Johann Jacoby geschrieben: „Wohl
kann ich mit Schiller's Jungfrau sagen: „ach, es war nicht meine Wahl," daß
ich ein miserables Piano anstimmte, wo Zeit und Umstände, Hoffnungen und
Aussichten, Gegenwart und Zukunft ein Fortissimo gebieterisch forderten." Aber
ist es nicht gerade diese richtige Erkenntniß der Sachlage, die Unterordnung
individueller Anschauungen unter die Umstände, Kräfte und Menschen, mit
denen im Augenblick zu rechnen ist, um nnr einen Durchschnittserfolg anzu¬
streben und zu erzielen, sind das nicht die Eigenschaften, welche den Staats¬
mann zum Staatsmann machen? Und war es nicht eine wirklich staats¬
männische Leistung, daß Robert Blum, vielleicht der radikalste und unerschro¬
ckenste Geist der ganzen Versammlung, das große Wort gelassen aussprach,
das Alle um ihn vereinte: daß auf dem Boden des Gesetzes die Sühne sür
das vergossene Blut gefordert und gewährt werden müsse? Wer endlich gab
ihm das Recht und die Macht, in dieser Stunde und dann noch beinahe eine
volle Woche hindurch als leitender Führer der ganzen Bürgerschaft aufzu¬
treten? Abermals doch nur sein gesunder, maßvoller Sinn, und die völlige
Ratlosigkeit aller Behörden. In diesem Urtheil treffen alle zeitgenössischen
Quellen überein, auch solche, wie die D, Allg. Z/*) welche keineswegs mit
Blum denselben politischen Standpunkt theilten. Sie sagt, er habe „in län¬
gerer Rede auseinandergesetzt, daß nur in dem Boden des Gesetzes und der
Ordnung die Stärke der Versammlung und die Nothwendigkeit einer Genug¬
thuung ruhe; aber nur durch die ebenso entschiedene als gesetzliche Haltung
des Volkes, könne diese erreicht werden. Er schlug einen Zug — feierlich, ernst
und still wie ein Leichenzug, denn es gelte ja eben die Sühne geliebter Todter,
nach dein Markte vor, und dort solle die ganze Versammlung die Antwort des
Stadtraths erwarten. Dieser Vorschlag wurde sofort angenommen, Herr Blum
durch Akklamation dem Ausschuß einverleibt und man setzte sich in Bewegung.
Der Zug war würdevoll und imposant, die Masse so gewachsen, daß der An¬
fang sich mitten ans dem Markte befand, als das Ende erst die Post erreicht
hatte, kein Laut störte denselben, und es ist unmöglich, Menschen in ruhigerer
Haltung zu einer so ernsten und aufregenden Mission wandern zu sehen. Ans
dein Wege sendete der Kommandant der Koinmmmlgarde einige Gardisten an
die Führer, die Mitwirkung (!) der Versammlung für die Erhaltung der Ruhe
in Anspruch zu nehmen und erhielt beruhigende Versicherungen. Als die Ver¬
sammlung auf dem Markte angelangt war, ermahnte Herr Blum nochmals zur
Ruhe und Ordnung und Aufrechterhaltung der wahrhaften Majestät dieser
Volksversammlung*), worauf sich der Ausschuß auf das Rathhaus begab."
Ruhig wartete drunten die ans etwa zehntausend Kopfe angewachsene Ver¬
sammlung.
Endlich erscheint Blum wieder an der Spitze der Deputation, umgeben
von den anwesenden Mitgliedern des Stadtrathes — der Rath war in solcher
Stunde nicht einmal vollzählig beisammen! — und verkündet den harrenden
Tausenden von dem Balkon des Rathhauses herab, daß der Rath die Beschlüsse
der Schützenhausversammlung genehmigt habe. Im Grunde hatte Blum diese
Beschlüsse den anwesenden Nathsmitgliedern einfach diktirt und die Versicherung
dieser Rathsherren, daß der Stadtrath „diese Anträge theilweise schon in den
Vormittagsstunden beschlossen habe" und daß der andere noch nicht beschlossene
Theil derselben „ohne Zweifel die Zustimmung des Rathskvllegiums erhalten
werde," ^) war ebenso bezeichnend für das Würdegefühl dieser Herren, als die
Thatsache, daß der Rath nun nicht einmal selbst diese erfreuliche Ueberein¬
stimmung mit den Wünschen des „Volkes" verkündete, sondern in seinem Namen
Blum dies thun ließ! Eine Lithographie hat uns ein Bild der merkwürdigen
Szene erhalten. Blum steht inmitten der Deputation und des Rathes ans dem
Balkon und redet. Unter jubelt die Menge. Die Rathhausuhr zeigt auf vier
Uhr Nachmittags. —
Die Bedingungen, welche der Rath der erregten Bürgerschaft zugestanden
hatte, waren: 1. Daß die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in der
Stadt ausschließlich der Kommunalgarde überlassen werde. 2. Daß das Militär
aus der Stadt entfernt werde und ein Garnisonwechsel stattfinde. 3. Daß eine
strenge Untersuchung über die Vorfälle am 12. Angust eingeleitet und zwar
nicht nur gegen die Tumultuanten, sondern gegen Alle, welche bei jenem be-
klagenswerthen Ereigniß ihre Pflicht nicht gethan oder überschritten haben."
u. s. w. Die letzte Bedingung war die feierliche Beerdigung der Erschossenen.*)
Das Organ des besonnenen Fortschritts in Leipzig, die D. Allg. Ztg. schließt
ihren Bericht über diese unglaubliche Erniedrigung des Rathes mit den Worten:
„Wahrlich, diese imposante Volksversammlung, ihre Haltung und Würde, ihr
Sinn für Ordnung und Gesetzlichkeit unter so aufregenden Umständen, gibt den
Bewohnern Leipzig's das ehrenvollste Zeugniß."
Am nächsten Tage legte dann, beiläufig bemerkt, noch der Kommandant
der Garnison, Herr Oberst von Bnttlar, das glänzendste Zeugniß ab für die
Ratlosigkeit, in der er selbst sich den Ereignissen gegenüber befand. Auch er
empfing eine Deputation der Schützenhausversammlung, welche ihm „die Bitte
und den Wunsch aussprach, er möge die geeigneten Maßregeln treffen, daß an
dem Tage der Beerdigung sich kein Schütze in den Straßen sehen lasse (!),
damit bei der zu erwartenden größeren Aufregung der Gemüther die traurige
Feierlichkeit in keiner Weise gestört (!) werde. Oberst von Buttlar erklärte, daß
er bereit sei, den Wunsch der Versammlung zu erfüllen, auch dazu bereits die
nöthigen Einleitungen getroffen habe" — gerade wie der Rath Tags zuvor!
Noch fügte er hinzu: „die versammelten Bürger möchten aber auch bedenken,
daß die Schützen ihre Pflicht hätten erfüllen und gehorchen müssen; die
Bürger möchten ihre Vorwürfe auf den werfen, der den Be¬
fehl gegeben habe."**)
Auf den 13. August Nachmittags 5 Uhr hatte der Vorsteher der Stadt¬
verordneten, App. R. Dr. Haase das Kollegium zu einer Sitzung berufen. Hier
wurde eine Adresse an den König beschlossen, in der folgende Stelle vorkam:
„Unser Schmerz wird noch dadurch vermehrt, daß, um die gestörte Ruhe wieder
herzustellen, nicht die eigene Kraft unserer Stadt, unsere Kommunalgarde, in
Anspruch genommen worden ist, welche, folgen wir der allgemeinen Stimme,
nach der Revue nicht entlasten oder doch nach dieser zeitiger herbeigerufen, treu
ihrer Pflicht, nichts verabsäumt haben würde, das blutige Unglück abzuwenden,
das uns Alle mit gerechter Trauer erfüllt. Wir bitten Ew. König!. Majestät
ehrfurchtsvoll um eine strenge Untersuchung gegen Alle, welche bei diesen Er-
eignissen, von welcher Seite es sei, betheiligt sind." In der Sitzung selbst
fielen Anklagen, die direkt auf den Prinzen zielten. In der vom Stadtrath
gleichzeitig beschlossenen Adresse heißt es: „Mit uns beklagen alle loyalen
Bürger Leipzig's die verhängnisvollen Ursachen dieses Unglücks, deren weitere
Ermittelung auf dem Wege des Rechts gewiß erfolgen wird." Die Adreß-
depntation des Rathes und der Stadtverordneten reiste am vierzehnten August
nach Dresden und kehrte bereits am Abend des nämlichen Tages nach Leipzig
zurück. Am Ausgang des Bahnhofes wurde sie erwartet von einer Deputation
der Schützenhausversammlung, die bereits Tags zuvor sich neben den legitimen
Behörden der Stadt gleichsam als Sicherheitsausschuß etablirt hatte. Die
städtische Deputation sand keine Demüthigung, keine Inkorrektheit darin, daß
sie, unmittelbar von den Stufen des Thrones zurückgekehrt, der Aufforderung
dieser Schtttzenhansdelegirten folgte und der mandatloser Volksmenge im Schützen¬
hause den Bescheid des Landesvaters verkündete. Dieser Bescheid war wenig
trostreich. Wohl war der König, wie die Deputation versicherte „bis zu
Thränen gerührt und tief ergriffen." Aber er erklärte auch: Er fühle sich um
so schmerzlicher berührt, als mit den in den Adressen enthaltenen Aeußerungen
sofort Anträge verbunden worden wären, aus welchen ein Mißtrauen (?) her¬
vorzugehen scheine." „Weiteren Resolutionen haben wir entgegen zu sehen,"
schloß die städtische Deputation ihren Bericht.
Die große Schützenhausversammlung war zu sehr mit den Vorbereitungen
zum feierlichen Leichenbegängniß der Erschossenen beschäftigt, das am 15. August
früh stattfinden sollte, um die zweideutige Antwort des Königs eingehend zu
erwägen. Daß der Stadt alle Gerechtigkeit versagt werden könne, mochte ohne¬
hin damals noch Niemand glauben. Das Begräbniß der Erschossenen wurde
begangen von der ganzen Stadt als der denkbar imposanteste Volkstrauerakt.
Selbst or. Großmann, der die Weihrede hielt, sprach an den offenen Gräbern
die bedeutungsvollen Worte: „Wer wagt's, den Empfindungen der Bewohner
einer Stadt Sprache zu leihen, die sich mitten im tiefsten Frieden in eine
Wahlstatt verwandelt sieht? Wer ist im Stande, den Abgrund der Gefahren
zu beschreiben, die über das ganze Vaterland aus den Ereignissen dieser Tage
Heraufziehen? Denn die Feinde unserer Kirche, unserer Verfassung, unserer
bürgerlichen Freiheit, unserer Wohlfahrt, gewiß sie werden die traurige Ver¬
anlassung dieses traurigen Leichenzuges auf alle Weise auszubeuten bemüht
sein und Alles aufbieten, um das Vertrauen zwischen König und Volk zu er¬
schüttern, um Samen der Zwietracht auszustreuen, um wo möglich peinliche
und schreckliche Maßregeln hervorzurufen." Und später in der ersten Kammer
sagte er: „Ich habe die schauervolle Stunde erlebt, am 15. August vor den
sechs Särgenzu stehen, aber ich habe nicht verhehlt, daß der Fluch der
Sünde auch Unschuldige oft in den Strom des Verderbens hinabzieht." In
schweren Worten sprachen Dult, Dr. Zille, Dr. W. Jordan am Grabe, am
eindringlichsten und mächtigsten Robert Blum: daß volle Sühne für die grauen¬
hafte That sicher werde geboten werden, geboten werden müsse, vermöge allein
über das Entsetzliche in etwas zu trösten.
Die nächsten Tage enthüllten schon den Standpunkt der Regierung. Am
14. August war Minister von Falkenstein mit einem Extrazug nach Leipzig
gekommen und als er die Ueberzeugung gewonnen, daß die Ruhe der Stadt
keineswegs gefährdet sei, man also anch schroff auftreten könne, reiste er getrost
auf demselben Wege sofort wieder nach Dresden zurück. Sonderbarerweise
brachte noch an demselben 14. August die ministerielle „Leipziger Zeitung"
eine „Privatmittheilung" über die blutige Nacht, in welcher ans das Perfideste
nicht geradezu behauptet, aber doch angedeutet wurde, das Militär sei erst auf¬
geboten worden und eingeschritten, nachdem die Kommnnalgarde die Unruhe
nicht zu stillen vermocht habe. Biedermann wies in seinem „Herold" diese
wissentlich falsche Beschuldigung des Königlichen Blattes mit der gebührenden
Energie zurück. Am dritten Tage nach der blutigen Nacht, am 15. August
hatte der Kriegsminister, wie er später vor der zweiten Kammer bekannte, be¬
reits die Berichte seiner unfehlbaren Offiziere in Händen, welche ihm „die
Mittel an die Hand gaben, die Sache beurtheilen zu können", d. h. ihn getrost
den Versuch wagen ließen, dem Verlangen der treuen Stadt nach Untersuchung
und Sühne die eiserne Stirn zu bieten. Demgemäß wurde in Dresden ge¬
handelt.
In einer der nächsten Nächte weckte Robert Blum die Gattin mit geheim¬
nißvoller Miene und führte sie an das Fenster seines hochgelegenen Arbeits¬
zimmers. Der Mond bestrahlte fast tageshell das Gleis der Dresdner Bahn,
die am Garten des Hauses vorüberführte. Leise, ohne ein Wort zu sagen,
deutete er ans die Züge, die hier einer hinter dem andern herankenchten, ohne
Pfiff, ohne Signal und dicht vor seinem Garten Halt machten, ohne in den Bahn¬
hof einzufahren. In den Wagen flimmerte und klirrte es von Waffen, Pferde
hörte man stampfen und wiehern, dann kurze Kommando's, schwarze Massen
mit funkelnden Waffen in Reihen aufmarschirt, Infanterie, Kavallerie, Artillerie,
dann immer entfernter klingender Taktschritt der Truppen. Am Morgen war
Leipzig von einer erdrückenden Militärmacht besetzt, behandelt wie eine eroberte
Stadt. Im Schloßhof standen Kanonen aufgefahren.
Unter dieser kriegerischen Machtentfaltung hielt der königliche außerordent-
liebe Kommissar Geheimrath von Langen» am 16, August seinen Einzug in
die Stadt; der Mann, der Sühne und Gerechtigkeit bringen sollte und von
dem die Stadt dies vertrauensvoll erwartete, da er damals noch nicht für
immer gerichtet war durch die Todteugräberarbeit, die er später an dem Meck¬
lenburgischen Verfassungsrecht durch den Freienwalder Schiedsspruch vollzog.
Sein erstes Austreten in Leipzig zeigte freilich sofort, wessen man von diesem
Herrn sich zu versehen hatte. Noch konnte die Negierung nur die Berichte
ihrer Kreaturen über die unglückseligen Ereignisse besitzen. Kein Zeuge der
That, kein Mitglied einer städtischen Behörde, einschließlich der Kommnnal-
garde, war noch vernommen. Und gleichwohl trat dieser Manu vor die vou
ihm versammelten Gemeindevertreter und erklärte in der hochfahrendsten, schroff¬
sten Weise: „die Regierung wird die von ihren Organen ergriffenen Maßregeln
vertreten; zu irgeud einer Diskussion hierüber bin ich nicht beauftragt." Der
Schluß seiner Worte aber lautete: „Die bewaffnete Macht hat also den be¬
stehenden Gesetzen nach gehandelt!" Und gleichzeitig verlas der königliche
Kommissar den erstaunten Gemeiudevertretern die schriftliche Antwort des Königs
ans die Leipziger Adressen. Falkenstein hatte sie kontrasignirt.
Sie war herb und streng gehalten. Nachdem von dem „unwürdigen
Frevel" eingehend die Rede gewesen, dessen „Schauplatz das vielfach gesegnete
und blühende Leipzig" gewesen, lauteten die einzigen Sühne — aber welche
Sühne! — verheißenden Zeilen wörtlich also: „Strenge Untersuchung der
stattgefundenen Unordnungen und eine unbefangene Betrachtung des Ver¬
fahrens der Behörden wird Licht über das Ganze verbreiten") ... so daß
es hoffentlich nicht ernsterer Maßregeln bedürfen wird, um dein Gesetze seine
Geltung zu verschaffen. Aber mit tiefem Schmerze muß ich es aussprechen:
Wankend geworden ist mein Vertrauen zu einer Stadt, in deren Mittel?!)
anch nur der Gedanke einer solchen Handlung entstehen, unter deren Augen (?)
er ausgeführt werden konnte."
Mit diesen Eröffnungen war die Richtung der Erörterungen klar bezeichnet,
welche die Regierung über die furchtbaren Ereignisse vorzunehmen willens war.
„Strenge Untersuchung der stattgefundenen Unordnungen" und „eine unbefan¬
gene Betrachtung des Verfahrens der Behörden"! Um keinen Zweifel über
seine und der Regierung Tendenz bei der Sache aufkommen zu lassen, ließ
von Lcmgenn noch am nämlichen 16. August den Wortlaut seiner Anrede an
die Gemeindevertretung und die Antwort des Königs in die Leipziger Zeitung
einrücken.") Und wer es nur immer hören wollte, konnte von dem königlichen
Kommissar unverholen äußern hören, daß Leipzig eine Genugthuung
nur zu geben, nicht zu erwarten habe. Ueberall sprach er nur von
dem gar nicht zu sühnenden Frevel gegen den Prinzen, von dem Schießen aber
als einer ganz gerechtfertigten Maßregel.^)
Durch solche Erklärungen mußte das Vertrauen in die Unparteilichkeit der
außerordentliche» Untersuchungs-Kommission, die gleichzeitig mit von Langenn
in Leipzig eintraf, von vornherein untergraben werden. Dazu kamen mannig¬
fache andere Bedenken gegen ihre Arbeit. Diese Kommission empfing ihre In¬
struktionen direkt vom Ministerium: des Innern.^) Nicht sie, sondern das
Ministerium hat die Ergebnisse ihrer Erörterungen, und auch diese uur theil¬
weise, veröffentlicht. Die Kommission durfte, da es sich uicht um eine förm¬
liche richterliche Untersuchung, soudern nur um polizeiliche Vorerörterungen
handelte, die vernommenen Zeugen nicht vereitelt. Statt des Eides wurde die
bedenkliche „Versicherung auf Ehrenwort" bei Zivilisten, der „pflichtgemäße
Rapport" bei Soldaten, die als Zeugen abgehört wurden, substituirt.f) Auf
die außerordentlich bedeutenden Widersprüche zwischen den Aussagen der Zeugen,
namentlich der völlig neutralen Zeugen, welche weder eine thätliche Provokation
des Militärs seitens der Menge wahrgenommen haben wollten, ehe geschossen
wurde (zu diesen Zeugen gehörten sämmtliche Leipziger Polizeidiener, welche
an der Töte des Pelotons Vollborn die Promenade sauberem), noch auch ge¬
hört hatten, daß vor dem Schießen die gesetzlich nothwendige Aufforderung zum
Auseinandergehen vernehmbar verkündigt worden sei, hatte man fast gar kein
Gewicht gelegt. Man hielt eben für bewiesen, was man bewiesen wünschte.
Das Verfahren der Militärbehörde wurde als gerechtfertigt anerkannt und nnr
gegen die Zivilbehörde wegen zu späten Einschreitens gegen den Tumult eine
Disziplinaruntersuchuug vorbehalten.ff) Dieser Vorbehalt war um so unbe¬
greiflicher, als später in den Kammerverhandlungen über die Augustereignisse
der Minister von Nostiz-Wallwitz gleich zu Anfang der Debatte unaufgefordert
erklärte, „daß an jenem Abend in Leipzig die Kvmmunalgarde nicht ans Mi߬
trauen nicht berufen worden sei, sondern aus unzeitiger Schonung, aus Rück¬
sicht auf die von derselben während des Tages ausgehaltenen Strapazen!" I'l'l')
Um so härter wurde gegen die Schuldigen dritten und vierten Ranges,
d. h. die paar Exzedeuteu eingeschritten, die man am 12. August beim Kragen
gefaßt hatte. Gleichzeitig wurden „Erörterungen" angestellt gegen besonders
verhaßte Persönlichkeiten, denen man gern beigekommen wäre, aber nicht bei¬
kommen konnte, u. A. gegen Robert Blum. Diese Erörterungen wurden sehr
bald eingestellt. Man konnte ihm ja doch nichts vorwerfen, als daß er die
Stadt vor den wildesten Ausbrüchen der Anarchie gerettet habe. Um so be¬
quemer war die Stellung der Regierung den verhaßten „Schriftstellern" gegen¬
über. Selbst Dr. W. Jordan, obgleich in Sachsen naturalisirt, wurde ausge¬
wiesen. Die Schützenhausversammlungen, denen sich Bürgermeister Groß in
den Tagen der höchsten Gefahr blindlings untergeordnet hatte, wurden bereits
am 16. August von demselben Würdenträger verboten. Am 26. August folgte
seitens der Landesregierung das Verbot aller Volksversammlungen auf Grund
der Bundesbeschlüsse von 1832. Damit glaubte man den Heerd der Beun¬
ruhigung des Volkes mit einem Male verschüttet zu haben. Die Bürgervereine,
die vom Voigtland ans sich über einen großen Theil des mittleren Erzgebirges
und der Schönburg'schen Lande verbreitet hatten, waren damit in der That in
ihrer Wurzel bedroht.
Die Regierung würde übrigens sicher mehr Maß gehalten haben in ihrem
Verfahren wider Leipzig, wenn die Leipziger Gemeindevertretung sich auch uur
einigermaßen mannhaft gezeigt hätte. Statt jedoch das Verlangen einer ge¬
rechten Beurtheilung und Sühne für das vergossene Blut nachdrücklich festzu¬
halten, legten sich die Stadtverordneten in einer zweiten Adresse vom 2. Sep¬
tember 1845 dem König demüthig zu Füßen mit der Versicherung, sie „könnten
sich in ihrer Unschuld sagen, daß sie den Verlust der Gnade und des Ver¬
trauens ihres geliebten Landesherrn nicht verdient haben und glauben sich des¬
halb uur um so mehr der Hoffnung hingeben zu dürfen, daß die Gerechtigkeit
Ew. Majestät die Frevelthat von einigen Wenigen einer ganzen Stadt nicht
zur Last legen werde." Eine dritte gleichwertige Adresse wurde am nämlichen
Tage an den Prinzen Johann abgelassen. Der hochkonservative, aber freilich
mannhaft-unbeugsame Stadtverordnete Kramermeister Poppe, versagte beiden
Adressen seine Zustimmung. Selbstverständlich folgte der klägliche Rath sofort
am 5. September dem guten Beispiel der Stadtverordneten mit einer Adresse
von ähnlichem Inhalt an den Prinzen Johann. Der Rath sprach sogar von
einem gegen den Prinzen „verübten frevelhaften Attentat"! Die Antwort auf
diese Kriecherei erhielten die städtischen Kollegien durch den Leipziger Mund
der Regierung, Herrn von Langen». Allem bisher von der Regierung Ver¬
nommenen setzte diese Antwort die Krone auf, indem sie direkt gegen die er¬
hobenen Thatsachen, und recht eigentlich zum Hohne der überfließenden Loya-
litätsversichernngen der Leipziger Gemcindevertreter „die Hoffnung Sr. Maj."
aussprach, „es werde sich diese Gesinnung durch die That und namentlich durch
die Bemühungen, dem Geiste der Gesetzlichkeit und der Anhänglichkeit an Fürst
und Vaterland allenthalben wieder Eingang zu verschaffen, bewähren!"
Die Sitzung, in der diese Antwort verlesen wurde, war sehr bewegt und das
Kollegium beschloß die Erklärung in sein Protokoll aufzunehmen: „Nur
das beruhigende Bewußtsein, daß die Bürgerschaft Leipzig's an jenen unheil¬
vollen Ereignissen keinen Theil genommen, sich vielmehr zu allen Zeiten und
unter weit schwierigeren Umständen durch unerschütterliche Treue und Anhäng¬
lichkeit an Fürst und Vaterland bewährt habe, habe den höchst schmerzlichen
Eindruck zu mildern vermocht, den diese Antwort des Königs in den Herzen
Aller hervorrief."*)
Ungeheuer war die Entrüstung über die Leipziger Ereignisse, über das
Verhalten der Regierung in ganz Deutschland. Wenn die Regierung zweifel¬
los unschuldig war an dem exzessiven Waffengebrauch ihrer Soldaten, so machte
sie sich nun zu deren Mitschuldigen, indem sie vor aller Welt deren Hand¬
lungen vertrat. So ging denn das zürnende Gedicht von Hand zu Hand, von
Mund zu Munde, das Ferd. Freiligrath am 24. August in Meyenberg am
Zürcher See „Leipzigs Todten" widmete mit dem düstern Refrain:
„Ich bin die Nacht, die Bartholomäusnacht,
Mein Fuß ist blutig und mein Haupt verschleiert,
Es hat in Deutschland eine Fürstenmacht
Zwölf Tage Heuer mich zu früh gefeiert."
Es brauste grollend über Deutschland wie ein heraufziehendes schweres
Gewitter und unvergessen blieb überall die Leipziger Augnstncicht.
Unvergessen blieb aber auch beim Volke das Verhalten Robert Blum's
während dieser schweren Tage. An feinem Geburtstage überreichte ihm ein
sehr großer Theil der Leipziger Bürgerschaft eine künstlerisch ausgestattete Dank¬
adresse mit Tausenden von Unterschriften bedeckt. Zahlreiche ähnliche Adressen
trafen aus Sachsen und aus dem übrigen Deutschland bei Blum ein. Be¬
sonders merkwürdig unter ihnen ist diejenige aus Mannheim und Schwetzingen,
weil sie einträchtiglich die Unterschriften aller badischen Liberalen vereinigt, die
wenige Jahre später so hart sich befehden sollten. Da steht an der Spitze
Carl Mathy, neben und unter ihm Adam von Itzstein, Th. Welcker, Hecker,
von Soiron, Bassermann u. A. Blum spricht am 3. November 1845 über
das schmerzliche Ereigniß in einem Briefe an Johann Jcieoby. Besonders be¬
merkenswerth in diesem Briefe ist das Urtheil, das Blau über die wahrschein¬
liche Erfolglosigkeit der Anstrengungen der liberalen Partei im Landtage fällte.
Während Aller Augen gespannt ans dem Landtag hafteten und hoffnungsreich
von ihm Sühne für die Leipziger That und Abstellung aller übrigen Be¬
schwerden erwarteten, erklärte der Führer des Fortschritts in Sachsen ganz
offen: „Unsere Kammer ist gut, aber sie erzielt natürlich nichts."
Diese Voraussicht sollte im vollsten Maße sich bewahrheiten.
Endlich, nach einer Pause von drei Wochen, ist der Reichstag in die Mitte
der Alles bewegenden Frage getreten. Die am 7. Oktober für recht uninter¬
essante Wahlprüfungen wieder aufgenommenen Sitzungen führten am 9. Oktober
zur zweiten und entscheidenden Lesung des Sozialistengesetzes. Dicht vor ihr
erhob sich das drohende Gespenst einer mehrere Stunden raubenden Präsidenten¬
wahl. Sollten nicht Konservative und Zentrum, selbst auf die Gefahr dieser
langweiligen Prozedur, die Scharte vom 11. September auswetzen wollen?
Wirklich erhob sich zum allgemeinen Entsetzen Herr von Helldorf; aber er hatte
es so übel nicht gemeint und wollte blos für diesmal noch so gnädig sein, der
beantragten Wiederwahl des Präsidenten durch Akklamation sich nicht zu wider¬
setzen, für künstig aber will seine Partei eine Nichtberücksichtigung der Partei¬
stärke nicht wieder so hingehen lassen. Aha! denken wir; künftig gedenken die
Konservativen in dieser Frage sich mehr als das vorige Mal dem Zentrum
anzuschließen. Wirklich ergreift auch sofort Windthorst die Sache bei diesen,
Zipfel und stellt sich, als sei konservativerseits soeben zugesagt, die bei der ersten
Wahl weißgelassenen Zettel künftig mit dem Namen eines Ultramontanen zu
füllen. Nun, nach dem Verlauf, welchen die Dinge nehmen, glauben wir hier¬
von noch weniger als bisher. Das Präsidium, wie es da sitzt, wird rasch
wiedergewählt und die Berathung des Sozialistengesetzes nimmt ihren Lauf.
Und welchen Lauf! Zum ersten der 22 ZK sind zwei lange Sitzungen ver¬
braucht. In diesem Tempo wird es natürlich nicht weiter gehen; bei der
grundsätzlichen Bedeutung des Z 1 wurde eben eine thatsächliche Aufnahme
der Generaldiskussion unvermeidlich. Das Zentrum freilich, welches den Neigen
begann, ließ große Zurückhaltung feierlich ankündigen. Das kann auch gar
nicht auffallen: nach den neulichen Kundgebungen, beim Kulturkampfe aus¬
harren zu wollen, kann man, wie die Dinge zwischen Berlin und Rom neuer¬
dings stehen, doch nicht wissen, zu welcher Rolle die streitbaren Helden der
Mitte sich am Ende noch werden verstehen müssen. Wozu sich also unnöthig
vergaloppiren? Und so hält es diese Partei, wie aus der von Herrn von
Frankenstein verlesenen Erklärung der 91 Zeutrumsmitglieder und der 10 um
ihren Rockschößen hängenden wölfischen Hospitanten hervorgeht, für den Augen¬
blick am angemessensten, ihre Rolle eines Vertheidigers freiheitlicher Bestre¬
bungen gerade jetzt stark hervorzukehren und zu diesem Zwecke die Entscheidung
der Kommission für genügend zu halten, um die grundsätzliche Opposition gegen
das Ausnahmegesetz aufzugeben und vorwiegend in erhabenem Schweigen als
Hort der Freiheit zu glänzen.
Mit um so größerer Eloquenz trat ein neuer und ganz junger Kämpe
der Konservativen, von Marschall aus Mannheim, auf. Die Konservativen
leiden, wie sich immer deutlicher zeigt, an einem großen Mangel hervorragen¬
der Persönlichkeiten und Redner, sonst hätte man wohl nicht gerade den jüng¬
sten vorgeschickt; aber der junge Herr hat seine Sache ganz gut gemacht. Zum
§ 1 plädirte er für den Ausdruck „Untergraben" und erging sich dann in einer
ganz hübschen Wiederholung der grundsätzlichen Gesichtspunkte für die Vorlage;
sein Hauptverdienst aber besteht darin, daß er als der erste Herrn Hänel bei
seinem Vorschlage des Haß- und Verachtnngsparagraphen zweiten Grades fest¬
hielt. Der arme Herr Hänel scheint wirklich den Rückweg nicht recht wieder finden
zu können, so sehr es ihn treibt, zu den die Hände ringenden Genossen heim¬
zukehren. Es könnte ihm fast gruselig werden, da der junge Konservative, der
ihm so freundlich die Hand bietet, ihm sogar noch eine umfassende Revision
des Strafgesetzbuchs und vieler anderer Gesetze in lockende Aussicht stellt. Im
weitere» Verlaufe der Verhandlungen gerieth Herr Hänel noch mehr in Bedräng-
niß. Als Fürst Bismarck ihn wegen seiner Durchbrechung des Bannes der negi-
renden Fortschrittler belobte, erklärte er dreist, diese billigten sein Verfahren.
Ist dein wirklich so, dann steht eben die gesammte fortschrittliche Presse in
Kriegszustand mit ihrer eigenen Partei.
Das Loos brachte sodann eine Erscheinung auf die Tribüne, welche hier
gar nicht hinzugehören scheint. Wenn in Sonnemann's Rede nur die extremste
fortschrittliche Richtung zum Ausdruck gelangt wäre, so würde sie immerhin
noch als berechtigt erschienen sein; daß es sich um „ein Tendenzgesetz im
schlimmsten Sinne" handle, daß dasselbe „eine Reihe mühsam errungener Frei¬
heiten vernichtet und unser bestes Gesetz in der schärfsten Weise durchlöchert",
das war eben nur jene unglückliche beschränkte Auffassung, welche schon am
16. September von Hänel vorgebracht war; aber Sonnemann nahm außerdem
noch eine undefinirbare Stellung ein, welche sich durch Vertheidigung des Wesens
und der Haltung der Sozialdemokratie, sowie durch Herunterziehung und gif¬
tige Behandlung der staatstreuen Parteien und politischer Persönlichkeiten charak-
terisirt. Ganz wie seit lange seine „Frankfurter Zeitung", so machte Sonne-
mcmn den Eindruck, als gehe bei ihm die Aufgabe des deutschen Politikers auf
in Erfindung von Paradoxen, Schwarzfärbung aller Dinge um jeden Preis
und triviale Behandlung ernster Gegenstände. Stark trat denn auch der
Widerwille des Hauses, namentlich gegen die Art, wie Redner politische Hand¬
lungen von Kollegen berührte, hervor. Dabei sah er nicht einmal auf die noth¬
wendigste Korrektheit in Wiedergabe von Thatsachen, sodaß ihm Laster und
Bamberger Unwahrheiten nachwiesen, die er dann letzterem auch zugab. Großes
schien er sich von der Vorlesung einer Ansprache versprochen zu haben, in der
Bamberger vor 29 Jahren sich für die sozialdemokratische Republik ausge¬
sprochen habe, während in Wahrheit nur ein damaliger Berichterstatter über
die Ansprache in diesem Sinne geschlossen hatte. Zum wenigsten ist die Ab¬
sicht des Volksparteilers konstatirt: er ist ebenso, wie noch im Februar 1876
dem alten Gerlach nachgewiesen wurde, ein Feind jeder fortschreitenden Ent¬
wicklung der Ansichten, ein Freund der Stagnation, der auf einen politischen
Gegner einen Schatten werfen zu können wähnt, wenn er versucht, denselben
an dessen Ansichten aus längst vergangenen Zeiten anzunageln.
Noch unklar über das eigentliche Tendenzmixtum der Sonnemann'schen
Volkspartei, sahen wir plötzlich den Fürsten Msmarck ein ganz eigenthümliches
Licht auf diese Frankfurter Persönlichkeit und seine Zeitung werfen. Freilich
waren schon vor 6 Jahren dessen französische Sympathieen im Reichstage bei
einer Frage Elsaß-Lothringen's in bedauerlichster Weise hervorgetreten und bald
darauf von den französischen Blättern hoch belobt worden; es schien aber doch nicht
ohne besondere Absicht zu sein, daß der Kanzler die gerade ihm besonders be¬
kannt gewordenen gegenwärtigen Beziehungen jenes Mannes und Blattes mit
der französischen Regierung hervorhob, welche durch letzteres bestimmte Morde
in deutschen Angelegenheiten angeschlagen zu sehen wünsche.
Der übrige Inhalt der Bismarck'schen Rede ist von großer allgemeiner
und bleibender Bedeutung. Es gilt dies ebenso sehr von seiner Charakterisirung
der jetzigen Sozialdemokratie als von seinen Ausführungen bezüglich unserer
parlamentarischen Parteiverhältnisse. Wir wüßten wahrlich nicht, wie Diejenigen,
welche sich mit diesem Gesetze nicht befreunden können, besser in letzter
Stunde für dasselbe gewonnen werden könnten, als durch die unwiderleglicher
Hinweise des Kanzlers auf die allezeit negativen Bestrebungen der Sozial¬
demokraten, weil sie zu jedem positiven Vorschlage außer Stande sind und deren
Streben, im Gegensatz zu allen ähnlichen Bewegungen der Vergangenheit, auf
nichts gerichtet ist, als aufs Niederreißen, die Verführung der Massen und
Herabsetzung von Allem was dem Menschen heilig ist. Unendlich beschämend
ist es für unser Volk, daß Bismarck nach all' seinen Thaten, welche das
Vaterland groß gemacht, im Reichstag konstatiren mußte, wie ein erheblicher
Theil der Bevölkerung politischer Einsicht dermaßen ermangelt, daß die inter¬
nationale Banditenrotte und das Ausland darauf Pläne bauen konnten. Frei¬
lich hat das Bismarck nicht ganz mit diesen Worten gesagt, aber es ist nichts
anderes, wenn er zeigte, daß die Männer der in Frankreich darnieder geschla¬
genen Kommune seit 1870 für das beste Versuchsfeld Deutschland ausersehen
haben, dessen große Städte durch fortschrittliche Bearbeitung reichlich vorbe¬
reitet waren. Ja, es ist in der That so: es gibt keine geeignetere „Vorfrucht",
keinen stärkeren Dünger für die Sozialdemokratie, als die Agitation der Fort¬
schrittler! Noch jetzt bringt jeder Tag Beispiele, wie „die Anerkennung für
irgend etwas, was die Regierung thut, gleich in den Verdacht des Servilis¬
mus bringt", gleich als wenn wir in gewissen Kleinstaaten vor 1866 lebten,
in denen alle Verhältnisse auf den Kopf gestellt waren.
Die Aeußerungen des Kanzlers über die Schwierigkeiten der parlamenta¬
rischen Lage enthalten so offene und ehrliche Aussprüche, daß er damit auf's
Neue die Herzen der Patrioten, den Sinn aller ernsten Politiker gewinnen
muß. Er erwähnte die bedauernswerthen Erscheinungen des deutscheu Par¬
teiwesens und legte offen dar, wie er mit diesen Thatsachen zu rechnen ge¬
nöthigt ist. Es ist allerdings „eine traurige Lage der Regierung", daß ihr
„bei Verständigung mit dem Reichstage des Gebiets absolut verschlossen"
und dann auch noch der Rest nicht unter sich eins ist. Daß etwa eine noch¬
malige Auflösung des Reichstags schwerlich bessere Erfolge hervorbringen werde,
lag schon seit dem Ausfalle der letzten Wahlen auf der Hand. Eine Fernhal-
tung des doktrinären Elements aus dem jetzigen Reichstage ist nicht gelungen,
und der Ersatz des liberalen Ausfalles erscheint von zweifelhaftem Werthe,
denn mit den bei den Wahlen sich hervordrängenden Elementen, die stark nach
Reaktion rochen, konnte Bismarck nicht gedient sein. So sieht er sich denn zu
einer Wiederannäherung an die Nationalliberalen genöthigt. Er weist die
reaktionären Tendenzen, die man ihm jüngst beigelegt, entschieden zurück. Wir
haben nie an dieselben geglaubt, weil er damit seine eigenen Werke gefährdet
haben würde; aber der jetzige Ausspruch jagt wenigstens die finsteren Gestalten
wieder fort, die schon glaubten, ihre Zeit wäre wiedergekommen. Wir hätten
nur gewünscht, der Fürst hätte eine solche Kundgebung früher erlassen, wozu
es an Gelegenheiten wohl schwerlich gefehlt Hütte. Es wäre dann ein großer
Theil des Parteizwistes der letzten Zeiten erspart geblieben. Seine Empfind¬
lichkeit, von den Nationallibcralen in den Steuerfragen im Stich gelassen zu
sein, gibt er zu und, ohne auf eine Wendung des Zentrums mehr zu reflek-
tiren, fordert er die beiden konservativen und die nationalliberale Partei auf,
des Landes, nicht der Regierung wegen fest zu dieser zu halten und so eine
geschlossene Mehrheit zu bilden gegen das sechsfach zusammengesetzte Gros der
negirenden Parteien. Um dieses Zieles willen gibt der Kanzler bereits Fas¬
sungen des Gesetzes dran, durch welche „das Schiff umfänglich gezimmert" wird.
Er will um jenen Preis sogar riskiren, daß das Sozialistengesetz vorerst viel¬
leicht hie und da nicht ausreicht und später ergänzt werden muß.
Hiermit war die Durchführung des Gesetzes nach den Kommissionsbe¬
schlüssen, trotz ihrer mannichfach bedenklichen Punkte, gesichert. Glauben die
Regierungen bei solcher Gestaltung des Entwurfs die Verantwortlichkeit über¬
nehmen zu können, so ist das auch ein Standpunkt und vorläufig nichts da¬
wider einzuwenden. Im Uebrigen bezeichneten die Erklärungen Bismarck's einen
historischen Akt. Welchen Erfolg seine Aufforderung an die drei Parteien haben
wird, kann sich frühestens in der nächsten ordentlichen Session des Reichs¬
tags zeigen. Daß an eine Verschmelzung dieser Parteien vorläufig nicht ge¬
dacht werden kaun, darin geben wir Bennigsen vollkommen recht, der nach aus¬
führlicher Darlegung der Gründe seiner veränderten Haltung zum Ausnahme¬
gesetz den patriotischen Appell des Kanzlers freudig und mit Anerkennung auf¬
nahm und wir können es ihm nicht verdenken, daß er Angesichts der bedenk¬
lichen, unter die Deutschkonservativeu aufgenommenen Elemente von vorn her¬
ein die Zweifel in die Möglichkeit eines auch mir gemeinsamen Vorgehens an¬
deutete. Die Gelegenheit, ein solches zu persistiren, ließ sich Windthorst bei
späterer und ungeeigneter Gelegenheit nicht entgehen. Der Werth von Ben-
nigsen's Vortrag bestand übrigens zu nicht geringem Theile in der Art, wie
er, im Hinblick auf die Verhältnisse England's, die drohende Gefahr von einer
neuen Seite schilderte.
Eine große Geduldsprobe war dem Reichstag am 10. Oktober durch die
mehr als zweistündige Rede Hasselmann's beschieden. Gewidmet einer aus¬
führlichen Entwicklung der sozialdemokratischen bekannten Probleme, war die¬
selbe von einer Menge boshafter Angriffe auf den Kanzler durchsetzt. Seine
Partei schilderte der Agitator als die friedliche, das Eigenthum schützende, die
Familie achtende, die in ihrer Weltbeglückung nur durch die fatale „moderne
Gesellschaft" gehindert werde. Das Hauptverdienst der Rede war die an
ihren Schluß verlegte nahezu direkte Aufforderung zum Aufstand. Es nahm
sich eigenthümlich aus, daß gegen die Erklärung, „das durch dieses Gesetz ge¬
ächtete Volk werde sich mit Gewalt vom Druck der Tyrannei befreien" nur
ein Ordnungsruf zu Gebote stand. Eine wohlthuende Erscheinung nach diesen
Phrasen war Löwe mit seinem Hinweis auf den Schwindel, welchen solche
die Arbeiter terrorisirenden Agitatvrenbernss mäßig mit deren Noth treiben und
wie der Arbeiterstand sich mehr als jeder andere gehoben, wie Die, welche
das Meiste sür ihn gethan, von den Agitatoren verfolgt würden. Den welfi-
schen Oberkonsistorialrath Brück mußte man, da er einmal gewählt ist, an¬
hören; daß er mit einem Wehrufe über die Entthronung des Welfenhaufes
enden würde, war vorauszusehen. Auch der Elsässer Wiuterer tauchte nur auf,
um die Faust zu ballen; ebenso später ein Pole.
§ 1 ist schließlich nach der von der Kommission am 20. September in erster
Lesung beschlossenen Fassung genehmigt, sodaß also die Untergrabung wegfällt
und die anderen Erfordernisse aufgenommen sind, gegen die sich am 1. Oktober
die Regierungen in der Kommission erklärt hatten. Bezüglich des Kommissions¬
zusatzes wegen der zu verbietenden „Verbindungen" brachte Schultze für die
Stellung der Genossenschaften Besorgnisse zur Sprache, die jedoch, nach auf¬
klärenden Erörterungen einerseits von Goßlar's und Graf Eulenburg's, anderer¬
seits Laster's und Delbrück's, durch Genehmigung einer von Gareis vorge¬
schlagenen Fassung Erledigung fanden. Nachdem die KZ 2—4 am 11. Oktober
ziemlich glatt zur Annahme gelangt waren, entspann sich am 12. Oktober bei
§ 5 und 6 ein lebhaftes Treffen mit den 'negirenden Parteien. Zu beiden
88 erhoben sich Männer des Zentrums für die Volksfreiheit. In dieser
Richtung durfte ja dessen obiges Programm des Schweigens durchbrochen
Werden. Es schien gar nicht übel auf Streit berechnet zu sein, als zu Z 5,
wonach Versammlungen, in welchen sozialdemokratische u. s. w. Bestrebungen
zu Tage treten, polizeilich sollen ausgehoben werden dürfen, Brück Wahlver¬
sammlungen ausgenommen haben wollte. Aber das junge Verhältniß der po¬
sitiven Parteien hat diese Versuchung bestanden. Bei Freigebung der Wahl¬
versammlungen könnte das Gesetz gerade in wichtigen Zeitabschnitten illusorisch
werden. Es geht durchaus nicht, daß alles in der Zwischenzeit angesammelte
sozialdemokratische Gift sich in Wahlversammlungen ergießt. Die Diskussion
ergab, daß freilich sozialdemokratische Wahlversammlungen nicht schon als
solche verboten sein sollen, daß aber alle Wahlversammlungen unter dieses
Gesetz fallen müssen, praktisch also die Sozialdemokraten, wenn sie sich nicht
wunderbar reservirt verhalten, sich allerdings ganz um jenes Recht bringen
werden. Die Sache so scharf durchgeführt zu haben, ist das Verdienst des Mini¬
sters Grafen Eulenburg. Zwar glaubte Hänel, von Laster trotz Stcmffenberg's
Ausführungen unterstützt, noch eine Fassung gefunden zu haben, um jene
Nothwendigkeit herumzukommen, glücklicher Weise lehnte dies aber eine weit
größere Mehrheit ab als sich erwarten ließ, ebenso Brück's Vorschlag und
der ^ ging durch. Bei allen wichtigeren Fragen fällt die Diskussion leicht in
aller Breite in die Generaldislussivn zurück. So war schon zu 4 Windthorst
auf die veränderte Haltung Bennigsen's und Genossen zurückgekommen, hatte
sich weidlich über die neue dreigliedrige Partei Bismarck moqnirt, die Unter¬
grabungsfrage des ß 1 wieder behandelt und war schließlich sogar bei der
Glanbensverfolgung von 15 Millionen Deutscher angekommen. Je weiter die
Berathung fortschreitet, um so mehr treten die sozialdemokratischen Abgeordneten,
und oft recht ungeberdig hervor. So Bebel zu Z 2, Brake zu Z 4, wo er
„auf das ganze Gesetz pfeift" und Reinders, der zu Z 5 die Anhänger des
Gesetzes als Landesverräther bezeichnete.
Als bei dem das Verbot periodischer Druckschriften betreffenden § 6 der
ultramontane Freiheitsmann von Hertling, unter Bekämpfung des Liberalismus,
die schärferen Bestimmungen fern zu halten suchte, da war es sehr zeitgemäß,
daß Bamberger das volle und bewußte Eintreten der Liberalen selbst für
drakonische Bestimmungen akzentuirte. Im Uebrigen kam Bamberger mehr
als frühere Redner auf allgemeine Fragen zurück, auf Bismarck's Stellung
zu Lassalle, auf Wagener, Rodbertus, Meyer und Todt; das Beste war aber,
daß er die Zentrumsmänner als die eigentlichen Förderer der Reaktion hin¬
stellte, zu welcher die Sozialdemokraten die Gesetzgebung treiben. Mit dem
hieran sich knüpfenden, lebhafte Fortsetzung versprechenden Streite über die bei
den Wahlen vom Zentrum den Sozialdemokraten geleistete Unterstützung, ins¬
besondere mit einem gegen Windthorst gerichteten Ordnungsrufe, dem vierten
während dieser Verhandlungen, schloß am 12. Oktober die letzte Sitzung in
dieser Woche.
An die Herren Verleger!
Wir bitten um baldigste Zusendung der Werke, die in unsrer Weihnachts-
bücherschan berücksichtigt werden sollen.
Leipzig, Anfang Oktober 1878. Die Redaktion der Grenzboten.
Im Augenblicke der Kriegserklärung waren von den mobilgemachten sechs
russischen Armeekorps zwei (Ur. 7 und 10) unter Oberbefehl des General
Sscimeka als Küstenarmee längs der Küste des schwarzen Meeres von der
türkischen Grenze bis nach der Krym vertheilt, mit den Hauptkräften standen
sie bei Nikolajew und Odessa. Eine Division des 7. Armeekorps wurde
jedoch sehr bald zur Besetzung des unteren Donaulaufes von Galacz abwärts
an die Operationsarmee herangezogen und ging später ganz in deren Bestand
über. Die eigentliche Operationsarmee unter dem Oberbefehl des Großfürsten
Nikolas, Bruders des Kaisers Alexander II., bildeten das 8. 9.11. und 12. Armee¬
korps (bestehend aus den Infanterie-Divisionen Ur. 9. 14. 5. 31. 11. 32. 12. 33,
welche in dieser Reihenfolge zu je zwei den genannten Armeekorps angehörten,
und den Kavallerie-Divisionen Ur. 8. 9. 11 und 12.) Zugetheilt waren der
Armee außerdem eine Schützenbrigade mit 4 Bataillonen, eine aus
ausgewanderten Bulgaren gebildete Bulgarische Legion von 6 Bataillonen,
eine kombinirte Kasaken-Division und eine Anzahl einzelner Kasaken-Regimenter,
2 neugebildete Gebirgsbatterien, technische Truppen, ein Belagerungstrain und
4 Marinekompagnien (zwei der Garde, zwei des schwarzen Meeres) zur Be¬
mannung einer Donauflotille, für welche 24 zerlegbare Fahrzeuge mitgeführt
wurden. Als Eskorte des großen Hauptquartiers, in dem am 22. April anch
der Kaiser Alexander selbst eintraf, sollten dienen 2 Kompagnien Fuß-Kasaken
(Plastuny) V2 Eskadron gemischter Garde-Reiter und 1 Eskadron Ural-Kasaken.
Nach dem Einmarsch in Rumänien und während des Aufmarsches an der
Donau wurden durch Befehl vom 8. Mai der Operationsarmee noch zuge-
wiesen das 4. (Minsk), das 13. (Shitomis) und das 14. (Kiew) Armeekorps
mit den Infanterie-Divisionen Ur. 16. 30. 1. 35. 17. 18. und den Kavallerie-
Divisionen Ur. 4. 13. und der Don-Kasaken-Division. Ferner ward der Armee
zugetheilt eine zweite Schützenbrigade, eine neue Don-Kasaken-Division und
einige weitere Kasaken-Regimenter nebst 3 Kasaken-Batterien, so daß nun, bei
14 Infanterie- und 9 Kavallerie-Divisionen, die Armee zählte: 182^ Bataillon
Infanterie, 228 Eskadrons und Ssotnien, 84 Fuß-, 21 reitende- und Kasaken-
Batterien, 4 ganze (Sappeurs), 4 halbe (Pontonniere) technische Bataillone und
einen Belagerungstrain von 350 Geschützen.
In der zuerst angegebenen Stärke von 4 Armeekorps überschritt die Opera-
tionsarmee am 24. April die Grenze der Moldau, und damit die des türkischen
Reiches, nachdem schon am 16. April mit Rumänien eine, erst später bekannt
gemachte, Konvention abgeschlossen worden war, welche, kurz gesagt, den Russen
gestattete, soweit es die militärischen Interessen erforderten, in Rumänien zu
schalten und zu walten wie im eigenen Lande.
Der Uebergang erfolgte bei den drei Punkten Kübel, wo der größte
Theil des 11. Korps und die 3. Schützenbrigade stand, in der Richtung auf
Bolgrad, von Beschtamak, mit der kombinirten Kasaken-Division und einem
Theile des 11. Korps auf Leowo, und mit dem 8. 9. und am folgenden Tage
dem 12. Korps bei Ungheni, der Grenzstation der Eisenbahn nach Jassy.
Bemerkenswerth wurde der Uebergang über die Grenze namentlich durch
die Marschleistungen einzelner Truppentheile. So legte die Tete der Kasaken-
Division die Strecke von der Grenze bei Leowo bis zur Eisenbahnbrücke über
den Szereth bei Barboschi, 160 Ku, in 12 Stunden zurück. Das Gros dieser
Division traf nach 34 Stunden am Nachmittag des 25. bei Barboschi ein.
Ebendahin resp, nach Galatz gelangte am Abend des 25. von Kübel aus
(80 Ku>) der Oberst Mskupski, Chef des Generalstabes 11. Armeekorps mit
einem aus allen Waffen gemischten Detachement. Die Bahn, der Haupt-An¬
marschweg zur Donau, fiel unversehrt in russische Hände und wurde bald auch
durch Batteriebauten gedeckt. Unter dem Schutze des 11. Korps, welches die
zunächst bedrohten Punkte des unteren Donaulaufes, namentlich Galatz und
Braila besetzt hielt, vollzog sich dann unbehelligt bis zum 20. Mai der Auf¬
marsch der russischen Armee an der Donaulinie bis aufwärts zur Einmündung
der Aluta, während gleichzeitig die rumänische Armee, die Stellungen an der
Donau allmälig räumend, in der kleinen Walachei, um Krajowa sich konzen-
trirte, mit einer Division aber bei dem anfänglich geräumten Kalafat dem türki¬
schen Korps bei Widdin gegenüberstand.
In den letzten Tagen des Mai 1877 befand sich die russische Armee
ungefähr in folgender Aufstellung: die Vorposten standen zusammenhängend
längs der Donau. Dahinter war in dem Abschnitte zwischen Aluta und
Wede*), um Turnu-Magurelli, die 8. Kavallerie-Division mit 2 Kasaken-Regi-
mentern, als Reserve um Alexandria die Infanterie des 12. Korps aufgestellt,
noch weiter rückwärts um Statira an der Aluta lag als General-Reserve für
den rechten Flügel die 31. Infanterie- und die 9. Kavallerie-Division. Zwi¬
schen dem Wede und der Argisch-Mündung stand in erster Linie die kombinirte
Kasaken-Division mit der 4. Schützenbrigade um Schiurschewo und die 32. In¬
fanterie-Division um Oltenitza, in Reserve dahinter die Infanterie des 8. Korps
um Schilawa, in dritter Linie die 5. Infanterie- und die 12. Kavallerie-Divi¬
sion in der Gegend um Bukurescht. Abwärts der Argisch-Mündung war die
11. Kavallerie-Division um Slobosia, die 11. Infanterie-Division um Galatz
aufgestellt, weiter abwärts befanden sich schon Theile des 7. Armeekorps.
Im Lause des Juni gelangte nach Galatz das 14. Armeekorps, und das
11. Korps wurde um Oltenitza wieder vereinigt. Das 13. Korps wurde nach
Alexandria dirigirt, das 4. aber längs >der Eisenbahnlinie Galatz-Bukurescht
aufgestellt, um hier als allgemeine Reserve zu dienen.
Den Russen gegenüber standen südlich der Donau die Türken, soweit
Zeitungsnachrichten darüber Auskunft geben können, um Mitte April ungefähr
in folgender Vertheilung: In der Dobrudscha etwa 30,000 Mann, bei Sili-
stria 14,000 Mann, bei Ruschtschuk 13,000 Mann, dahinter bei Warna 10.000
Mann und bei Schnmla 22,000 Mann, ganz im Westen bei Widdin 36,000
und sonst in den übrigen Donauplätzen wie im Innern Bulgarien's vertheilt
16,000 Mann, endlich in Sofia in der Versammlung begriffen 20,000 und in
Konstantinopel 13,000 Mann. Für den Feldzug an der Donau kamen also
zunächst in Betracht 174,000 Mann, wohlverstanden einschließlich der Festungs¬
besatzungen. Eine Ordre de Bataille gab es nicht. Die Bildung größerer
Heerestheile lehnte sich lediglich an die Plätze, in und bei denen sie gebildet
wurden. Die Truppen waren übrigens seit Mitte April in vielfacher Bewe¬
gung und wurden fortwährend verstärkt; als im Juni der russische Angriff er¬
folgte, zeigte sich die Gruppirung der Streitkräfte schon wesentlich geändert.
Der türkischen Donau-Flotille waren noch 6 Fahrzeuge der Meeres-
Flotte zugewiesen und die Flotille trat zuerst in kriegerische Thätigkeit.
Die russische Heeresleitung hatte sich beeilt die gefährdeten Punkte des Donau¬
ufers besetzen zu lassen, und gleich nach der Besitznahme wurde mit der Anlage
von Batterien zur Beherrschung des Stromes sowie mit dem Versenken
von Torpedos zur Abwehr der türkischen Schiffe begonnen. So lange noch kein
Belagerungsgeschütz herangekommen war, wurden die Batterien mit Feldgeschütz
armirt. Mit der Ankunft an der Donau begann aber auch das Zusammen¬
setzen der zerlegbaren Boote, um von ihnen aus mit Torpedos die türkischen
Schiffe direkt angreifen zu können.
Am 30. April gelang es noch dein türkischen Admiral Hobart Pascha,
einem Engländer von Geburt, von Rnschtschuk aus mit einem Panzerschiffe
wieder die hohe See zu gewinnen und die Batterien von Braila und Galatz
unverletzt zu Passiren. Die national-türkischen Offiziere zeigten weniger Kühn¬
heit und Gewandtheit. Am 3. Mai veranlaßte das Feuer von 4 leichten Feld¬
geschützen 2 Monitors, welche vou Matschiu aus die Donau abwärts fahren
sollten, wieder in den Kanal von Matschin zurückzugehen. Am 11. Mai
wurde das Panzerschiff Litfi-Djelil von einer mit Belagerungsgeschütz
armirten Uferbatterie bei Braila aus durch zwei Treffer in die Luft ge¬
sprengt, am 15. Mai wurden, unter dem Feuer der türkischen Schiffe, im
Kanal von Matschin Stromsperren angelegt, und dadurch die dort befindlichen
türkischen Schiffe eingeschlossen; am 26. Mai früh nach 2 Uhr wurde im Kanal
von Matschin der türkische Monitor Chiwsi-Reichenau von den Marinelieu¬
tenants Dubassow und Schestakow mittelst Angriffs-Torpedos in die Luft
gesprengt, was nur dadurch zu ermöglichen war, daß die Sprengpatronen
an der Spitze der 6 in langen, 5 in über Bord hervorragenden, Stangen in
direkte Berührung mit dem feindlichen Schiffe gebracht wurden.
Angesichts dieser energischen Thätigkeit der Russen auf der Donau selbst
gaben die türkischen Schiffe ihre Unternehmungen so gut wie ganz auf, um
später, zum größten Theile ohne Kampf, in russische Hände zu fallen.
Die Thätigkeit der Landtruppen blieb während des Aufmarsches und, des
hohen Wasserstandes in der Donau wegen, noch wochenlang nachher ans wenige
kleine Ueberfalls-Versuche und auf das zeitweise Feuer der beiderseitigen Ufer¬
batterien beschränkt. Erst in der zweiten Hälfte des Juni fiel das Wasser
plötzlich und schnell, und damit war der Augenblick zu weiterem Vorgehen
gekommen.
Wie die Türken die ihnen gewährte lange Ruhe benutzten, ist nicht erkenn¬
bar. Starke Truppenverschiebnngen fanden südlich der Donau fortgesetzt statt,
namentlich die Dobrudscha wurde fast ganz von Truppen entblößt, für ener¬
gische Abwehr eines Ueberganges der Russen über den Strom war aber schlie߬
lich nichts vorgesehen.
Die russischen Truppen wurden für den Uebergang derart gruppirt,
daß die 3. Schützeubrigade und die 36. Infanterie-Division des 7. Korps den
Stromlauf unterhalb des Prnth deckte, das 4. Armeekorps in dem Donaubogen
südlich der Jalomitza gegenüber Silistria und Hirsowo, das 11. Korps mit je
einer Division bei Schiurschewo und Oltenitza stand, während das 14. Korps
bei Galatz und Braila, das 8. 9. 12. und 13. Korps mit der 11. Kavallerie-
Division bei Zimnitza und Tnrnu-Magurelli (gegenüber Nikopoli) konzentrirt
waren.
Am meisten gefährdet war diese russische Aufstellung, wenn es den Türken
gelang, von der weit nach Norden vorspringenden Dobrudscha aus die Donau
zu überschreiten, und so die Verbindung des ganzen Heeres mit der Heimath
zu unterbrechen. Wirksam konnte dieser Gefahr nur begegnet werden durch
Besitznahme der Dobrudscha selbst und durch Zurückdrängen der türkischen
Streitkräfte bis in die Höhe des übrigen Theils des von West nach Ost ge¬
richteten Donaulaufes, also über den Trajanswall hinaus bis in die Linie
Silistria-Mangalia. Eignete sich auch das trockene Hochland der Dobrudscha
nicht für die Bewegungen größerer Heeresmassen, so bedrohte doch ein dort
stehendes russisches Korps die Plätze Silistria und Warna, sowie mit letzterem
die Eisenbahn von Ruschtschuk, eine Hauptverbindungslinie der türkischen Armee.
Ihre Deckung allein mußte beträchtliche türkische Streitkräfte nach dieser Seite
fesseln. Dem 14. Armeekorps unter General Zimmermann fiel deshalb der
erste Uebergang zu. Am 19. Juni wurde bei Braila mit den Vorberei¬
tungen zum Bau einer Brücke (ans Kähnen und Flößen) begonnen, am 22. Juni
früh wurde von Galatz aus die Brigade Shukow der 18. Division zunächst mit
10 Kompagnien der Regimenter Ur. 69 Und 70 ans Kähnen über die Donau
gesetzt. Die Abtheilungen hatten auf der breiten Sumpf- und Stromfläche sast
6 Ku zurückzulegen und landeten, von heftigem Gewehrfeuer empfangen, auf
der Landzunge von Garbina. Das dort stehende türkische Bataillon wurde von
Matschin aus bald auf 3000 Mann mit 300 Reitern und 2 Geschützen ver¬
stärkt. Um 7 Uhr früh gingen diese gegen die russische Infanterie, die noch
ganz auf sich allein angewiesen war, umfassend zum Angriff vor. Die Kom¬
pagnien hielten sich aber, bis um 12 Uhr 2 Geschütze ankamen. Nun stürmte
General Shukow die Höhe von Budjak, welche die ganze Umgegend beherrschte,
und die Türken zogen sich zurück. Mit einem Verlust von 6 Offizieren, 138
Mann, wovon 3 Offiziere, 43 Mann todt, war der Uebergang über den breiten
Strom wie spielend gewonnen. Während der General vor weiterem Vor¬
dringen sich zu einer nöthigenfalls hartnäckigen Vertheidigung einrichtete, nahm
man von Braila aus wahr, daß die Türken anch die Festung Matschin
räumten. Ein Detachement Freiwilliger besetzte dieselbe noch in der Nacht
zum 23. An diesem Tage ging General Zimmermann mit dem 68. Regiment
auf einem Dampfer und einer Anzahl Boote ebendahin, die Kasaken-Division
folgte, General Shukow wurde dann ebenfalls nach Matschin berufen. Der
am 23. begonnene Bau einer Brücke von Braila nach Matschin ward am 26.
beendet, und der Rest des 14. Korps ging auf ihr über. Die Türken räumten
schon am 23. Jsaktscha und Tultscha, am 24. Hirsowa, und, während die
Russen nach Besetzung der genannten Orte sich auf Babadagh in Bewegung
setzten, konzentrirten sie ihre schwachen Kräfte in Rassowa. Das 14. Korps
besetzte demnächst ohne weiteren Widerstand zu finden die Dobrudscha, Mitte
Juli auch den Trajanswall, dann aber ward, einige Rekognoszirungen ausge¬
nommen, monatelang von weiteren Unternehmungen desselben nichts mehr berichtet.
Nachdem der erste Donauübergang so leicht gelungen war, wurde im
Westen des bulgarischen Festungsvierecks seitens der Hauptkräfte des russischen
Heeres der zweite ernstere Angriff ausgeführt.
Der zuerst für den 24. Juni beabsichtigte Uebergang konnte wegen nicht
rechtzeitiger Ankunft der Pontons erst am 27. früh bei Zimnitza zur Aus¬
führung gebracht werden. Inzwischen waren längs des ganzen Donauufers
von Kalcirasch gegenüber Silistria aufwärts bis nach Kalafat gegenüber Widdin
die Uferbatterien in ununterbrochener Thätigkeit und hielten die Türken überall
in Athem; von Turnu-Magurelli aus gelang es den Batterien, zwei türkische
Monitors so zu beschädigen, daß dieselben auch später den Hafen von Nikopoli
nicht mehr zu verlassen wagten. Die Uebergangsstelle ward überdies gegen
Angriffe zu Schiff durch Versenken von Torpedos gesichert. Durch diese Tor¬
pedosperre auf Zimnitza aufmerksam gemacht, hatten die Türken ihre Besatzung
in Schistowa noch in aller Eile verstärkt. Russischerseits war am Abend des
26. Juni die 14. Infanterie-Division des 8. Korps, Gi. Radetzki, die vierte
Schützenbrigade, die beiden Kasaken-Kompagnien des Konvoi und die beiden
Gebirgsbatterien zum Uebergang versammelt. Eine Anzahl Batterien wurden
am Uferrande eingegraben, von 10 Uhr ab brachte man die Boote in's Wasser,
um 1 Uhr bestieg die erste Staffel, das Regiment Ur. 53 (Wolhynien) mit
11 Kompagnien, 1 Ssotnie Plastuny und einer Gebirgsbatterie, die Boote und
fuhr in der Richtung auf die gegenüberliegende Mündung des Tekirbaches ab.
In der Dunkelheit kamen die Boote etwas auseinander. Nach etwa dreiviertel
Stunden landeten die ersten Kompagnien unbemerkt, bald stieß man aber auf
eine Patrouille, welche die Türken alarmirte, und kurze Zeit darauf sah man
sich überlegenen Kräften gegenüber auf die Vertheidigung des Uferrandes be¬
schränkt. Das Uebersetzen, mit anbrechendem Tage unter dem Feuer der tür¬
kischen Batterien, dauerte ununterbrochen fort. Nachdem bis 5 Uhr auch das
Regiment Ur. 54 zum größten Theile übersetzt war, stürmte der Brigadekom¬
mandeur Jolschin die Höhen am Tekirbache, und schaffte Raum zu weiterer
Entwickelung.
Inzwischen war auch der Divisionskommandeur, General Dragomirow und
die zweite Brigade, (Rgtr. Ur. 55 und 56) übergesetzt. Letztere rückte um 8 Uhr
gegen Schistowa vor, das sie bereits geräumt fand. Die 4. Schützenbrigade ging
von 10^» Uhr ab in direkt südlicher Richtung vor, wo die Türken erst gegen
3 Uhr den Widerstand aufgaben und gegen Bjela abzogen. In Erwartung eines
ernsten türkischen Angriffs ließ man der 14. Division zunächst ihre Artillerie
folgen, dann begann das Uebersetzen der 9. Division. So brach die Dunkel¬
heit herein ehe das 8. Korps südlich der Donau wieder vereinigt war. Der
erneute türkische Angriff blieb aber aus. Die türkischen Heerführer hatten sich
zum zweiten Male überraschen lassen, und mit einem Gesammtverluste von 29
Offizieren, 715 Mann, davon 6 Offiziere, 327 Mann todt, war die schwierige
Operation des Donau-Ueberganges glänzend gelungen. !
Das Uebersetzen der Russen dauerte während der Nacht fort. Am 28.
früh stand das 8. Korps, allerdings ohne Kavallerie, und ein Theil der 35. Divi¬
sion des 13. Korps, zusammen etwa 40,000 Mann, kampfbereit südlich der
Donau, doch erfolgte auch nicht ein Versuch der Türken, den weiteren Ueber¬
gang und das Vorrücken der Russen aufzuhalten.
Der Brückenbau begann am 28. Juni früh und war bis zum Abend beendet.
Nachdem die Infanterie und Artillerie des 13. Korps im Laufe des 28. mit
Booten völlig übergesetzt waren, passirte am 29. früh zuerst die Kavallerie-Divi¬
sion des 8. Korps die Brücke. In der Nacht vom 29. zum 30. Juni zerstörte
aber der Sturm einen Theil der Brücke und erst am 2. Juli ward sie völlig
wieder hergestellt. Am 3. Juli konnten die Russen weiter vorrücken. Am
5. ward nach leichtem Kavalleriegefecht Bjela an der Jcmtra, Uebergang der
Hauptstraße nach Ruschtschnk, besetzt, und wenige Tage später war die ganze
Jantra-Linie unbestritten im russischen Besitz. Schon im Laufe des 28. hatte
der Kaiser Alexander mit dem Großfürsten Nikolas die übergegangenen Truppen
begrüßt.
Das weitere Vorgehen sollte nun in der Art erfolgen, daß unter General
Gurko ein besonderes Avantgardenkorps gebildet wurde, zum Vorgehen gegen
den Balkan, diesem sollte das 8. und eventuell später das 11. Korps folgen;
dem 12. und 13. Korps unter dem Großfürsten Thronfolger wurde die Sicherung
dieses Vorgehens gegen die bei Ruschtschuk und Schumla gesuchten Hauptkräfte
des türkischen Heeres übertragen, gegen welche sich ja auch das Dobrudscha-
Korps fühlbar machen mußte. Dem 9. Armeekorps fiel die Sicherung gegen
Westen zu, wo ohnedies die Operationen der Rumänen von Kalafat aus be¬
deutende Streitkräfte bei Widdin festzuhalten bestimmt waren, soweit diese nicht
zum Schutze von Adrianopel hinter den Balkan zurückgenommen wurden.
Das Korps des General Gurko wurde gebildet aus der 4. Schützenbrigade
und der Bulgarischen Legion, 2 Ssotnien Plastuny nebst 2 Gebirgsbatterien,
dazu in 3 Kavallerie-Brigaden 3 Linien-Kavallerie- und 3 Kasaken-Regimenter
mit 3 reitenden resp. Don-Batterien, ferner Eskadron Garde-Kavallerie
und 1 Ssotnie Ural-Kasaken zusammen 10^ Bataillone, 31 ^/z Eskadrons, 5
Batterien nebst einem Detachement Pionniere. Eine vierte (Kasaken-) Brigade,
die einstweilen die Sicherung gegen Westen übernahm, blieb bald ganz bei
dem 9. Armee-Korps.
Die Korps des Großfürsten schoben allmälig ihre Vortruppen von Bjela
bis an den schwarzen Lom in der Richtung auf Ruschtschuk vor, doch verhielt
man sich hier beiderseits passiv.
Das Gurko'sche Korps, welches schon am 3. Juli 1877 den Vormarsch von
Schistowa angetreten hatte, gab das Vorgehen im Jantra-Thale gegen Tirnowa
bald auf und wandte sich westlich um ans der Straße von Selwi jene Stadt zu
erreichen. Nach kurzem Gefecht am 7. Juli mit ca. 400 türkischen Kavalleristen
bei Kajabunar, 14 Ka westlich Tirnowa, und leichtem Kampfe gegen Artillerie
und Infanterie am Eingange von Tirnowa selbst, wurde diese Stadt am 8.
Juli von den Russen besetzt; am 12. Juli gelangte auch die Tete der 9. Di¬
vision (8. Armeekorps) und mit ihr das Armee-Hauptquartier hierher. Die
türkische Besatzung hatte sich auf Osmanbazar zurückgezogen. Beim Ueber¬
schreiten des Balkan mußte man endlich auf ernsten Widerstand gefaßt sein.
General Gurko erfuhr jedoch von Bulgaren, daß nur auf der Hauptstraße
über Gabrowo nach Kesanlyk der Tschipka-Paß mit etwa 5000 Mann besetzt
sei, alle Nebenpässe aber, weil sie fiir unpassirbar galten, unbesetzt geblieben
seien. Er überschritt deshalb, unter Zurücklassung einiger Reiterei zur Beob¬
achtung des Tschipka-Passes in der Front, vom 10. Juli ab den Balkan auf
einem Saumpfade 35 Ka östlich des Tschipka-Passes, und besetzte am 14.
Juli Morgens nach leichtem Gefecht Chainköi, am Ausgange des gleichnamigen
Passes. Zur Deckung dieses Ortes blieben 4 Bataillone Bulgaren mit einem
Kasaken-Regiment und den Gebirgsbatterien zurück. Mit dem Rest von 6V2
Bataillonen, 14^ Eskadrons, 2 Batterien ging Gurko am 16. gegen Kesanlyk
vor, welches er aber nach wiederholten Kämpfen erst am 17. erreichen konnte.
Zu Gurko's Unterstützung ließ nördlich des Balkan General Radetzki Ab¬
theilungen des 8. Armeekorps über Gabrowa gegen den Tschipka-Paß vorgehen,
die am 17. auch einen ernsten Angriff gegen die Besatzung dieses Passes
führten, aber, weil der erwartete gleichzeitige Angriff Gurko's von Süden
ausblieb, unverrichteter Sache zurückgehen mußten. Am 18. ging Gurko
seinerseits mit einigen Schützenbataillonen gegen die Besatzung des Passes vor,
mußte sich aber nach Verlust von 150 Mann mit dem Festhalten des Dorfes
Tschipka begnügen. Einen am 19. Juli früh beabsichtigten allgemeinen Angriff
hielten die Türken durch Kapitulationsverhandlungen bis Mittag hin, und be¬
nutzten diese Zeit zu eiligem Abzüge, bei dem sie unter Anderm 8 Geschütze
stehen ließen. Die am 19. Juli Mittags von Nord und Süd vorgehenden
Abtheilungen fanden den Tschipka-Paß geräumt. Das 8. Armeekorps übernahm
die Sicherung des Passes und der anliegenden Gebirgs-Gruppen und -Ueber¬
gänge. Die weiteren Aufgaben im Süden des Balkan mußte von nun ab
der General Gnrko mit seinen schwachen Kräften selbständig verfolgen; denn
die russischen Truppen im Norden des Balkan wurden zu dieser Zeit nach
anderer Seite in Anspruch genommen. Gurko ließ seine ermatteten Truppen
in und bei Kesanlyk einige Tage ruhen, während nur einzelne Abtheilungen
im Dorfe und dem Passe von Tschipka standen. Am 22. Juli jedoch entsandte
er auf Ansuchen der Einwohner ein Kavallerie-Regiment mit 2 Geschütze» nach
Eski-Saghra. Auf die Nachricht von dem Erscheinen feindlicher Truppen an
den Bahuliuien Tyrnowa-Jambvly und Tyruowa-Philippopel schickte er dasselbe
Regiment nach der Station Kajadschik an der Eisenbahn nach Philippopel,
ein anderes nach Karabunar an der Bahn nach Jamlwly, um diese beiden
Stationen zu zerstören. Zugleich ließ er Eski-Saghra dnrch 4 Bataillone
Bulgaren mit Kavallerie unter dem Herzog Nikolas Leuchtenberg besetzen.
Das erstgenannte Regiment zerstörte Kajadschik und erfuhr die Versammlung
türkischer Truppen in Tyrnowa; das andere stieß bei Karabunar auf 4 türkische
Bataillone und mußte sich mit Zerstörung einer Bahnstrecke nördlich der
Station begnügen. Rekognoszirnngen am 27. Juli fanden die Station Kara¬
bunar und Jeui-Saghra mit je 6—7 Bataillonen besetzt. Gurko beschloß
letzteren Ort zu nehmen, damit nicht die Türken die Pässe von Chamkivi und
Twarditza bedrohen könnten; eine Brigade der 9. Division sollte ihn dabei
unterstützen. Am 29. Juli setzten sich alle Truppen ans Imi-Saghra in Be¬
wegung, am 30. sollte der Angriff konzentrisch in 3 Kolonnen erfolgen.
Schon in der Nacht vom 28. zum 29. Juli wurde die Anwesenheit türkischer
Truppen auch in Kalofer (30 Ku westlich Kesanlyk) gemeldet. Auf dem Marsche
üm 29. stieß der Herzog Nikolas Leuchtenberg, dessen Detachement die südlichste
Kolonne bildete, 12 Kur westlich Imi-Saghra auf ein starkes türkisches Deta¬
chement, das er erst am Abend wenige Kilometer zurückzudrängen vermochte,
und er bezog dann ein Bivcck bei Dalbvka 12 Ka von Imi-Saghra. Hier
erhielt er die Nachricht, daß von der Eisenbahnstation Karabunar her neue
türkische Truppen auf Eski-Saghra im Anmarsch wären. Er eilte in aller Frühe
mit den 4 Bataillonen Bulgaren und einer Batterie dorthin und besetzte es noch vor
dem Feinde. Den Herzog Engen Leuchtenberg hatte er mit der Kavallerie und
einer Batterie seines Detachements gegen Imi-Saghra stehen lassen. Dieser
hielt die vor ihm stehenden türkischen Truppen wenigstens so lange fest, daß
sie weder bei Imi-Saghra in das Gefecht eingreifen, noch ans Eski-Saghra
folgen konnten.
Es waren die von Reus Pascha über Adrianopel zur Vertheidigung des
Balkan herbeigeführten Truppen, die man bei Imi-Saghra bekämpfte; es war
die Avantgarde des Korps von Suleiman Pascha, der aus Montenegro abbe¬
rufen nud bei Dedeagatsch gelandet war, die jetzt ans Eski-Saghra vorrückte.
Am Abend vereinigten sich beide Leuchtenberg in einer Stellung bei Aidinlii
östlich Eski-Saghra; der Gegner, welchen der jüngere vor sich gehabt, folgte
dahin, während man auch südlich die Bivakfeuer des heranrückenden Suleiman
vor sich sah.
General Gurko hatte am 30. früh mit seinen beiden andern Kolonnen
verhältnißmäßig leicht Imi-Saghra genommen, ließ die Schützenbrigade dort,
und brach am Nachmittag mit den übrigen Truppen gegen Eski-Saghra auf.
Er bivcckirte etwa auf halbem Wege bei einem Dorfe Karabunar. Am 31.
Juli früh rückte er weiter zum Angriff vor. Suleiman hatte sich Gurkv's
Angriff gegenüber verschanzt, während er gegen die Stellung Leuchtenberg's
selbst angriffsweise vorging. Des Letzteren Truppen vertheidigten sich hart¬
näckig, und Gurko konnte nach langem Kampfe, nachdem er mühsam einen
türkischen Gegenstoß abgewehrt, mit der noch rechtzeitig eingeiroffenen Schützen¬
brigade selbst in die türkische Stellung eindringen. Suleiman ließ darauf von
seinem Angriff ab. Der Sieg war mit einem Verluste von 517 Mann erkauft.
Bei der Uebermacht Suleiman's aber konnte Gurko ohne neue Verstärkung
sich nicht mehr südlich des Balkan behaupten und zog daher am 1. August
unverfolgt wieder gegen den Chainkioi-Paß ab, den er am 3. passirte. Er
hatte vom 14. Juli bis 1. August bei seinen russischen Truppen 43 Offiziere
947 Mann verloren, von der bulgarischen Legion 22 Offiziere 600 Mann.
Die Verhältnisse im Norden des Balkan zwangen dazu die Früchte des
kühnen Zuges aufzugeben. Nur die gewonnenen Pässe über den Balkan blieben
in russischen Händen.
Wie oben gesagt, war nach gelungenen Donauübergange dem 9. Armeekorps
(General Krüdener), unter Zutheilung noch einer Kasaken-Brigade, die Aufgabe
zugefallen, das Vorgehen gegen den Balkan gegen die im Westen Bulgarien's
vorhandenen türkischen Streitkräfte zu sichern, deren Hauptmasse man bei
Widdin festgehalten glaubte. Das 9. Korps wurde am 8. Juli in Turnu-Ma-
gnrelli durch die 4. rumänische Division abgelöst, welche hier die Beobachtung
von Nikopoli übernahm, ging am 9. und 10. bei Zimnitza über die Donau,
und kam am 12. bei Nikopoli an, wo inzwischen die schon erwähnte Kasaken-
Brigade die Anwesenheit einer schwachen türkischen Division im nächsten Be¬
reiche der Festung ermittelt hatte. Von den Vorgängen jenseit des Wid war
auch den Kasaken noch nichts bekannt.
Die älteren Befestigungen von Nikopoli waren wesentlich nach der Donau
gerichtet. Auf der Landseite waren drei Redouten auf den die Stadt um¬
gebenden Höhen angelegt, die das Terrain östlich bis zum Ermeni-Bache, westlich
bis zur Osma beherrschten. Zwischen diesen Redouten und einigen daneben
angelegten Batterien hatten die türkischen Truppen unter Hassan Pascha sich
konzentrirt. Nach genauer Rekognoszirung am 13. und 14. wurden in der
Nacht zum 15. August gegenüber der mittleren Redoute fünf Batterien einge¬
richtet, die am frühen Morgen ihr Feuer eröffneten. Gleichzeitig begann anch
der Angriff. Auf dem linken Flügel ging General Schilder-Schuldner mit
der ersten Brigade seiner (5.) Division nebst einem Ulanen-Regiment und den
leichten Batterien der Division, die linke Flanke gedeckt durch die Kasaken-
Brigade, im Osma-Thale abwärts vor, vertrieb die Türken von den dortigen
Brücken und wandte sich dann, rechts schwenkend, gegen die Redoute No. 3,
vor der gegen 2 Uhr, mit Hilfe des rechts der Osma vorgegangenen Regiments
No. 123 (31. Division), auch eine Batterie genommen wurde. Darauf ließ
General Krüdener auch die Redoute No. 2 angreifen, welche das Regiment
No. 20 im ersten Anlauf nahm. Die Truppen des russischen rechten Flügels,
welche über Ermeni und im Donauthale heranrückten, nahmen später im Verein
mit der Reserve auch die Redoute No. 1. Gegen Abend waren die Türken
auf die Stadtbefestigung und die tapfer behauptete Redoute No. 3 beschränkt,
und zugleich von allen Seiten eingeschlossen. Ein nachts 11 Uhr von einigen
türkischen Kompagnien unternommener Durchbruchsversuch mißlang. Am 16.
früh sollte der Angriff fortgesetzt werden, aber schon um 4 Uhr kapitulirte
Hassan Pascha und übergab die Festung mit 7000 Mann und den beiden
früher erwähnten beschädigten Monitors. Die Russen hatten bei dem Angriff
1310 Köpfe verloren.
Während dieses Angriffs auf Nikopoli hatte die Kasaken-Brigade sich den
Wid entlang bis Sinnvoll gezogen, das Ulanen-Regiment des General Schilder
aber bei Samlikioi den Schutz nach Westen übernommen.
Erstere Brigade glaubte General Krüdener nach der Einnahme von Nikopoli
entbehren zu können, und dirigirte sie deshalb auf Tyrnowa; andererseits ließ
er das 19. Regiment seines Korps, das noch in Schistowa zurückgehalten war,
am 16. Juli in der Richtung auf Plewna am Wid aufbrechen, um dadurch
Schutz gegen Süden zu erhalten. Am 17. wurde Lowatz von Kasaken mit
2 Geschützen besetzt, und dort eine Bande Irregulärer vertrieben, sonst lagen
keine Anzeichen von der Nähe irgend eines Gegners vor.
Am 18. Juli kam jedoch die Meldung, daß auch in Plewna türkische
Truppen sich sammelten. Der General Schilder-Schuldner erhielt den Auftrag,
diese Truppen zu zerstreuen, und den wichtigen Wid-Uebergang der Straße nach
Sofia zu sichern. Zu dem 19. Infanterie-Regiment, das schon über Bnlgareni
hinausgerückt war, wurde ihm noch die erste Brigade seiner Division (Regi¬
menter No. 17 und 18) mit 4 Batterien, die in Vulgärem angehaltene Kasaken-
Brigade und noch ein Kasaken-Regiment überwiesen, zusammen 9 Bataillone,
18 Ssotnien, 4 Batterien.
Der General versammelte seine Infanterie und Artillerie noch am 18.
bei Tschejkowa, (22 Ka von Plewna), und rückte am 19. gegen Plewna vor,
wobei das letztgenannte Kasaken-Regiment dem Laufe des Wid zu folgen hatte.
Um 2 Uhr Nachmittags anf den Höhen von Plewna anlangend fand er die
Stadt und die nächste Umgebung besetzt. Die sofort auf der Höhe von Gri-
witza auffahrenden Batterien beschossen die türkische Stellung und theilweise
die Stadt bis zur Dunkelheit, ein Angriffsversuch der Kasakeu wurde abge¬
wiesen. Es war die Avantgarde Osman Pascha's, der, Anfang Juli von
Widdin aufgebrochen, am Wid eingetroffen war und hier vor weiterem Vor¬
rücken seine Streitkräfte zusammenzog. Während nun Osman zur Aufklärung
über den vor ihm stehenden Gegner diesen mit den bereits versammelten
Truppen am 20. anzugreifen beschloß, hatte auch General Schilder-Schuldner
für deu 20. früh eiuen allgemeinen Angriff befohlen. Die türkische Infanterie
kam schon vor dem Feuer der Kasakeu zum Stehen. Die russischen Regimenter
trieben, weit auseinander gezogen, den Feind bei ihrem Vorgehen von Stellung
zu Stellung bis in die Stadt zurück, wo sie etwa 7 Uhr früh eindrangen.
Der hartnäckige Kampf aber erschöpfte sie und ließ Zusammenhang und
Führung verloren gehen. Die Batterien, deren Munitionswagen in Bnlgareni
zurückgeblieben waren, hatten sich verschossen. Als gegen 9 Uhr türkischerseits
ein neuer Vorstoß mit überlegenen Kräften erfolgte, konnten die aufgelösten
Truppen demselben nicht mehr widerstehen. Der Rückzug erfolgte in verschiedenen
divergirenden Richtungen. Zuerst ging auf dem linken Flügel das 19. In¬
fanterie-Regiment, das noch nicht in die Stadt eingedrungen war, und mit
ihm die Kasaken-Brigade, auf Skalewitza zurück, gegen 11 Uhr nahm der
General auch das 17. und 18. Regiment zurück, die er unmittelbar vor sich
hatte, und deren Theile aus dem Innern der Stadt nur mit neuen großen
Verlusten herauszuziehen waren. Das eben eintreffende 20. Infanterie-Regi¬
ment konnte im Verein mit dem 9. Kasaken-Regiment nur noch den Rückzug
decken, der bis Bryslan 16 Ku nordöstlich Plewna an der Straße nach Niko-
pvli fortgesetzt wurde. Die Truppen des linken Flügels waren nach Bnlga¬
reni zurückgegangen. Erst am 21. Juli konnte die Division sich wieder ver¬
einigen. Die Verluste, welche namentlich die Regimenter No. 17, 18 und 19
betrafen, beliefen sich auf 74 Offiziere, 2771 Mann, über ein Drittheil der im
Gefecht gewesenen Stärke.
Es war der erste größere Zusammenstoß in diesem Kriege, wo die Russen
einen ebenbürtigen, an Zahl ihnen gewachsenen Gegner vor sich hatten; er war
zu einer Niederlage der 5. Division geworden. Trotz der vorhergegangenen
glänzenden Erfolge, bei den Donauübergängen wie vor Nikopoli, war der
Eindruck ein ungeheurer, nicht blos bei Freund und Feind, die sich fortan
mit andern Augen zu betrachten schienen, sondern auch in der öffentlichen
Meinung, die dem Kampfe auf der Balkan-Halbinsel die gespannteste Auf¬
merksamkeit zuwandte.
Auch das russische Hauptquartier schien wie gelähmt von der Erkenntniß,
daß hier ihm so plötzlich und ungeahnt ein Gegner erwuchs auf einer Seite,
wo man geglaubt hatte, sich voller Sicherheit hingeben zu können, ein Gegner,
von dessen Bewegungen man um so mehr überrascht war, als man ihn bereits
in vollem Rückzüge auf Adrianopel vermuthete.
Osman Pascha folgte wider Erwarten seinein geschlagenen Gegner nicht,
sondern richtete sich sofort in und bei Plewna zu langdauernder Vertheidigung
ein, zog dort seine ganze Armee zusammen, und besetzte nur noch zur Deckung
seiner rechten Flanke am 26. Juli Lowcch, aus dem die Kasaken wieder ver¬
trieben wurden.
Seitens des Oberkommandos der russischen Armee war um Mitte Juli
(nach Heranziehung einer ersten aus Festuugs - Infanterie gebildeten Reserve-
Division) auch ein Theil des 11. Armeekorps (General Schachowskoi) ans
seiner Stellung bei Schiurschewo pp. über den Strom gezogen und theilweise
südlich der Beobachtungsarmee von Ruschtschuk in der Richtung gegen Rasgrad
und Osmcmbazar aufgestellt worden. Bis dahin hatte uur eine Kavallerie-
Brigade eine lose Verbindung zwischen dem Großfürsten Thronfolger und
dem 8. Armeekorps hergestellt.
Auf die Nachricht von dem unglücklichen Ausgange des Treffens bei Plewna
rückte zunächst General Krüdener mit dem Reste seines 9. Korps u. z. der
61. Division von Nikopoli nach Bryslan, um dort mit der 5. Division ver¬
einigt einem Vorstöße auf Nikopoli zu begegnen. Das 19. Regiment, welches
am meisten gelitten hatte, wurde nach Nikopoli zurückverlegt. Ferner wurden
seitens des Oberkommandos dem General Krüdener überwiesen: eine Brigade
der 32. Infanterie- und eine der 11. Kavallerie-Division unter General Fürst
Schachowski, aus der Gegend zwischen Tyrnowa und Osmanbazar, dann von
Schistowa aus die eben dort anlangende 30. Infanterie-Division (vom vierten
Armeekorps). Diese Verstärkungen trafen am 25. Juli bei General Krüdener
ein. An demselben Tage ging auch die 4. rumänische Division von Turnu-
Magurelli aus über die Donan und übernahm die Mitbesetzung von Nikopoli.
Alle weiteren Verstärkungen waren noch jenseit der Donau im Anmarsch, und
Anordnungen, wie der Mas vom 22. Juli zur Einberufung von 183,000 Mann
Reichswehr 1. Kategorie zur Einreihung in die Ersatz- und Reservetruppen,
waren erst recht Bestimmungen für eine weit aussehende Zukunft, Auf dem
Kriegsschauplatze selbst verharrten die Türken in völliger Unthätigkeit, trotz der
Thatkraft Osmcin Pascha's und trotz des Kommandowechsels im Festnngsviereck,
wo am 18. Juli der greise Abdul Kerim abberufen und Mehemed Ali Pascha,
bisher Befehlshaber in Montenegro, an seine Stelle getreten war. Es schien
deshalb auch für die Russen ganz angezeigt, vor neuen Unternehmungen das
Eintreffen weiterer Verstärkungen abzuwarten. Sei's nun, daß man Osman
Pascha unterschätzte, sei's daß man das im Süden des Balkan Gewonnene
und jetzt ernst Bedrohte durch ein kühnes Wagniß retten zu können hoffte:
General Krüdener erhielt den bestimmten Befehl, am 30. Juli Osman Pascha
anzugreifen, trotzdem man wußte, daß Osman Pascha ihm an Streitkräften
überlegen und in einer jetzt gut vorbereiteten festen Stellung gegenüberstand.
Der General Krüdener mußte dem gemessenen Befehle, Plewna anzu¬
greifen, Folge leisten, vielleicht mit schwerem Herzen. Seine Anordnungen traf
er aber, ähnlich wie General Schilder am 20. Juli, wiederum so, daß der An¬
griff umfassend von mehreren Seiten erfolgen sollte, also bei bekannter Minder¬
zahl der nur 35,000 Kombattanten zählenden russischen Truppen, nirgends mit
entschiedener Ueberlegenheit, nirgends kraftvoll genug, um wenigstens an einer
Stelle den Erfolg unbedingt sicher zu stellen. Er gab ferner die Truppen so
weit aus der Hand, daß im Falle des Mißlingens bei nur einiger Thätigkeit
der Türken eine theilweise Katastrophe sür seine Heeresabtheilung fast mit Ge¬
wißheit vorherzusehen war. Und dabei war es sein Gegner, der durch Hin¬
weis auf den früheren Erfolg seine Truppen mit Zuversicht erfüllen konnte,
während Krüdener's Truppen zum Theil, auch ihrer Gefechtsstärke nach, noch
an den Folgen der Niederlage tränkten.
Die Disposition war derart getroffen, daß der nachher so viel genannte
General Skobelew II mit der Kasaken-Brigade, einem Bataillon und einer
halben Batterie, Plewna umgehend die südlich nach Lvwatz führende Straße
beobachten und einen etwaigen Rückzug der Türken beunruhigen sollte. General
Schachowskoi sollte mit einer Brigade der 30. und einer der 32. Infanterie-
Division, von Poradim (südwestlich Plewna) aus, die Stellungen bei Radi-
schewo im Südwesten der Stadt angreifen. Die 31. Infanterie-Division, von
der das 124. Regiment in Schistowa kommandirt war, und die 5. Division
sollten von Kojulowize und Trstenik (nordwestlich Plewna) aus, nördlich der
Chaussee nach Vulgärem und Bjela, gegen die Stellungen von Griwitza, west¬
lich Plewna, vorgehen, eine Kavallerie-Brigade aber mit einer Batterie von
Bryslan im Norden aus zur Beobachtung auf Plewna vorrücken und die
Flanke des Angreifers bis zum Wid decken. Endlich sollte die 2. Brigade der
30. Infanterie-Division in dem schon genannten Poradim, 4 Eskadrons mit
einer reitenden Batterie in Pelischat, südwestlich davon, als allgemeine Reserve
dienen. Einige Eskadrons waren bestimmt, die Verbindung zwischen den ver¬
schiedenen Kolonnen zu unterhalten. Der Angriff begann auf dem russischen
linken Flügel, wo Skobelew schon um 8 Uhr früh Krischina erreicht, von dort
gegen die Visiere von Plewna vordringt, von heftigem Feuer empfangen aber
unverfolgt wieder auf Krischina zurückgehen muß. Später, nach Beginn des
Kampfes gegen die Schanzen von Radischewo, besetzt er eine nördlich Krischina
gelegene Höhe dicht am Thalrande des Tutschenitza-Baches, und hält hier sechs
Stunden lang mit seinem einen Bataillon und 4 Geschützen die Angriffe von
acht türkischen Bataillonen aus. Er deckte so dem General Schachowskoi die
bedrohte linke Flanke. Erst nach dessen Rückzug ging Skobelew auch seiner¬
seits auf Pelischat zurück.
Der Augriff der südlich der Chaussee gegen die Stellungen bei Radischewo
bestimmten Kolonne führte diese um 9 Uhr auf die Höhen östlich und nörd¬
lich des genannten Dorfes. Hier empfing sie das Feuer der türkischerseits be¬
reits angelegten Batterien, das bis 2^ Uhr auch nur durch Artilleriefeuer
erwidert wurde. Um 2'/.^ Uhr läßt General Schachowskoi die Brigade der
32. Division (die Regimenter Ur. 125 und 126) zum Sturm auf die beiden
nächstgelegenen Werke vorgehen. Sie werden nach Ueberwindung von drei
Reihen Schützengräben in erbittertem Bajonnetkcunpse genommen, sofort von
türkischen Reserven wieder angegriffen, und nur nach Eingreifen eines Batail¬
lons der zweiten Brigade behauptet. Das Eintreffen eines Regiments der
Reserve ermöglicht dann um 5 Uhr noch die drohende Umgehung der rechten
Flanke abzuwehren, und weiter gegen den Tutschenitza-Bach und die Stadt
vorzudringen; aber die Ueberlegenheit der von allen Seiten anrückenden frischen
türkischen Truppen nöthigt am Ende zum Rückzug hinter die Höhen südöstlich
Radischewo, von wo am 31. Juli früh der weitere Rückzug unbehelligt ange¬
treten wurde.
Die nördliche Angriffskolonne, die beiden Divisionen des 9. Armeekorps,
war während des ganzen Tages ohne Verbindung mit der südlichen Kolonne
geblieben, und nur mit Mühe hatte ein Regiment der Reserve diese Lücke vor¬
übergehend auszufüllen versucht. Die 31. Infanterie-Division, deren Anmarsch
schon zeitig von der Griwitza-Redoute (nördlich des Dorfes gelegen) aus be¬
merkt und beschossen wurde, machte außerhalb des wirksamen Feuers Halt und
setzte gegen 9 Uhr ihre Batterien in Thätigkeit. Gegen 10 Uhr traten die¬
jenigen der 5. Division hinzu. Mehr als fünf Batterien kamen aber der
Terrainverhältnisse wegen nicht zur Wirksamkeit, und sie vermochten den gut
gedeckt stehenden Türken nichts anzuhaben. Als uach fünfstündigem Feuer um
Uhr die ZI. Division, mit den Truppentheilen der 5. Division als Reserve
hinter sich, zum umfassenden Angriff gegen die Redoute antrat, wurden die ge¬
schlossen vorgehenden Bataillone mit Feuer überschüttet; immer erneute mit
größter Tapferkeit ausgeführte Stöße drangen wiederholt bis in den Graben,
einzelne bis auf die Brustwehr hinauf, aber jeder Angriff brachte nur neue
schwere Verluste, das Feuer der noch ungeschwächten Türken wies jeden Ver¬
such des Eindringens ab. Das rechte Seitendetachemmt, hart bedrängt, mußte
durch ein Bataillon der Reserve unterstützt werden, nur 2 Bataillone waren
für den Angriff auf die Griwitza-Redoute uoch intakt verfügbar. Auch von
diesen wurde gegen Abend noch eins einem vergeblichen Sturmversuche geopfert.
Endlich wurde mit einbrechender Dunkelheit der Rückzug auf Trstenik und
Karagatsch angetreten, gedeckt von den wenigen noch kampffähigen Truppen
und dem eben von Schistowa eintreffenden 124. Regiment. Die Türken ver¬
folgten nur durch Feuer. Die Russen konnten sich am 31. Juli ungestört
wieder sammeln; um 11 Uhr Vormittags trafen die letzten Abtheilungen bei
Trstenik ein. Der Verlust, den die offiziellen Berichte erst ans 170 Offiziere,
7168 Mann bezifferten, wurde später auf 5810 Köpfe festgestellt.
Der Eindruck dieser Niederlage war ungeheuer. Auf dem Kriegsschau¬
platz selbst hatte er im ersten Augenblick eine förmliche Panik zur Folge, die
sich erst legte, als man sah, daß Osman Pascha anch diesmal sich mit ein¬
facher Abweisung des Angriffs begnügte und keinen Versuch machte, den er¬
rungenen glänzenden Erfolg irgendwie auszubeuten. General Krüdener blieb
um 31. Juli in einer Vertheidigungsstellung hinter der Osma stehen. Das
Hauptquartier des russischen Heeres wurde noch an demselben Tage von Tyr-
uowa nach Bjela zurückverlegt; denn jeder Gedanke an ein Vorgehen südlich
des Balkan entfiel, so lange man nördlich desselben sich auf's Aeußerste ge¬
fährdet wußte.
Während Rußland in die afghanischen Händel verwickelt ist, und die
englische Presse in ihm den Anstifter der Beleidigung sucht, welche der Emir
Shir Ali England angethan, erscheint das nordische Reich plötzlich noch an
einem anderen, tiefer in Asien gelegenen Punkte engagirt, zieht ein drohender
Streit mit China herauf, mit dem seit dem siebeiizehnten Jahrhundert Rußland
schon wiederholt gekämpft hat. China ist so zu sagen der „längste" Grenz-
uachbar Rußland's, denn auf tausende von Werst hin zieht sich, quer durch
Asien zwischen beiden gewaltigen Reichen die Grenze hin. Die Mongolen,
zwischen den Russen und Chinesen wohnend, hatten beide Reiche im 13. Jahr¬
hundert unterjocht, beide warfen später das Joch ab und kamen nun, nachdem
das trennende Mittelglied beseitigt, in Wechselwirkungen, die bis zum heutigen
Tage andauern. Rußland dehnte seine Besitzungen nach Osten, China nach
Westen aus und als sie auseinander stießen, mußten Reibungen zwischen ihnen
entstehen. Damals war China noch im Stande, Rußland Bedingungen auf¬
zuerlegen, wie dies 1689 im Vertrage voll Nertschinsk geschah, ohne daß Ru߬
land jedoch seine weit gehenden Pläne aufgab. Mit der ihm eigenthümlichen Zähig¬
keit und Geduld rückte es allmälig vorwärts. Waffengewalt und diplomatische
Kunstgriffe — alles wurde angewandt und noch 1860 fielen das Amurland
und die große Küstenprovinz am stillen Ozean bis an die Grenze Korea's
Rußland zu.
Als China zuerst mit Rußland in Grenzstreitigkeiten gerieth, war zunächst
aller Vortheil auf Seiten des Ersteren. China war ein mächtiges Land, das
nur die kriegerischen Mandschu aufzurufen brauchte, um über ein imponiren-
des Heer zu gebieten. Geld war im Ueberfluß vorhanden, weit mehr als in
Nußland; seine Bevölkerung war fleißig, produzirend und somit eine uner¬
schöpfliche Steuerquelle. China handelte vertheidigend, der Kriegsschauplatz lag
seinem heimischen Heerde nahe, seine Regierung war stark und intelligent; Ru߬
land war damals weit zurück und mußte von Moskau aus operiren. Erst
die Fortschritte, die es unter Peter I. und Katharina II. machte, gaben ihm
die Kraft, ebenbürtig gegen China aufzutreten, und Nikolaus und Alexander II.
konnten bereits das Uebergewicht russischer Machtfülle gegen das Blumenreich
der Mitte aufspielen. China war während der Zeit russischer Fortentwickelung
in Stillstand verfallen und hatte im englischen Opinmkriege 1840 den ersten
empfindlichen Stoß von Außen erhalten. Die verkommenen Mandschukaiser
hatten die Tugenden ihrer Väter ganz vergessen, waren in Sinnlichkeit unter¬
gegangen, und China war durch den Verfall seines Militärwesens während
einer langen Friedenszeit in eine hilflose Lage gerathen. Rußland's Ueberge¬
wicht dagegen stieg mit dem Aufschwünge seiner militärischen Organisation;
seine fortwährenden Kämpfe in Europa wiesen es auf die Ausbildung seiner
Armee hin und die Eroberungskriege in Asien verlangten Truppen in großer
Zahl. So stand es mächtig an China's Grenze, als dieses Land unter inneren
Revolutionen erzitterte, als auf die Taiping's die mohammedanischen Aufstände
folgten und das Reich Tau unter Kaiser Soliman, dann Ostturkestan unter
Jaknb Beg als selbständige Staaten abfielen.
In dieser Zeit war es auch, daß Rußland 1871 einen ursprünglich zu
China gehörigen Distrikt, den von Kuldsche oder Ili, an sich riß, und um diesen
handelt es sich jetzt. China, das bisher nur in London und Berlin europäische
Gesandtschaften unterhielt, hat jetzt auch einen Gesandten für Se. Petersburg
ernannt, und die Aufgabe dieses Diplomaten wird es sein, Kuldsche von
Rußland zurückzuverlangen.
Die wichtige Frage, welche die zwei größten Kaiserreiche in Konflikt bringen
muß, wird in Europa noch wenig verstanden, da es sich hier in der That um
sehr verwickelte innerasiatische Verhältnisse handelt. Die Sache spielt auf einem
äußerst entfernten Schauplatz, zieht sich durch ein Jahrzehnt hin, und es treten
dabei Personen und Völkerschaften auf, die selbst Politikern von Fach höchstens
dem Namen nach bekannt sind. Wir müssen daher, um den Leser zu orientiren,
einigermaßen ausgreifen.
Die Revolution der Taiping's, welche das ohnehin morsche Staatsgebäude
China's schon bedeutend unterwühlt hatte, mußte auch anderen nichtbnddhistischen
Unterthanen des chinesischen Kaisers als Ermunterung zum Aufstande dienen.
In den Provinzen Kan-su, Schen-si gibt es kaum einen Ort von Bedeutung,
wo die Mohammedaner nicht als besitzende und intelligente Leute eine wichtige
Rolle spielten, und obwohl China durch seine besondere Toleranz sich aus¬
zeichnet und die Moslem gewiß nie in Glaubenssachen beeinträchtigt hat, so
traten doch die heißblütigen mohammedanischen Fanatiker gegen ihre schweine¬
fleischessenden chinesischen Herren auf. Im Jahre 1855 begannen die Moham¬
medaner Jünnan's ihren Unabhängigkeitskampf, welcher zur Gründung des
ephemeren Reichs Tau führte, und bald standen auch ihre Brüder in Schen-si
und Kan-su in Waffen. Letztere, die den Namen Dung alten führen, brachen
im Jahre 1864 wie auf ein gegebenes Zeichen in den Städten Urumtschi,
Turfan, Kara-Schehr und Kutscha los, metzelten die chinesischen Machthaber
nieder und proklamirten die mohammedanische Herrschaft. Daß dieser Aufstand
nur infolge einer Ansteckung von dem östlichen Kan-su und Schen-si aus insze-
nirt werden konnte, ist zweifellos, trotzdem wir über die Einzelheiten der dor¬
tigen Vorgänge in gänzlicher Ungewißheit sind. Nichts konnte den erregten
Wogen dunganischer Religivnswuth widerstehen und in erstaunlich kurzer Zeit
hatten sie die Herrschaft in dem Gebiete entlang dem Tian-Schan-Gebirge bis
zu den „Sechsstädten" an sich gerissen.
Gleichzeitig war weiter im Westen, in Ostturkestan, ein glücklicher Aben¬
teurer aus Kotau, Jakub Kuschbegi, aufgetreten, der dort das mohammedanische
Reich Kaschgar gründete und der Herrschaft der Chinesen auch in dieser Gegend
ein Eude bereitete. So bestanden denn hier zwei mohammedanische, aus dem
Leibe China's herausgeschnittene Staaten, jener Jakub's und jener der Dun¬
ganen nebeneinander. Mehr und mehr befestigte sich das Gebäude der Herr¬
schaft des Ersteren; seine Armee, die alle jene unruhigen Elemente in sich auf¬
nahm, welche durch Rußland's Eroberungen am Jaxartes und am Serefshan
den Tummelplatz abenteuerlicher Gelüste verloren hatten, schwoll zu bedeutenden
Dimensionen an und erhielt durch ihres siegreichen Führers Umsicht, Energie
und Ausdauer eine Disziplin, wie sie in Mittelasien längst nicht bestanden hatte.
Nicht lange dauerte es und die beiden in der Revolution unabhängig ge¬
wordenen Mächte, Jakub Knschbegi und die Dunganen, geriethen in Streit.
Jahrelang wüthete ein wilder, blutiger Krieg zwischen beiden Theilen, bis
Jakub die Oberhand gewann und auch seine Hand nach der bedeutenden
Stadt Kuldsche am Ili auszustrecken begann. Bis hierher war Rußland ein
stillschweigender Zuschauer des mörderischen Kampfes gewesen, der an seiner
unmittelbaren Grenze sich abspielte; nun aber sah es seine Interessen bedroht,
denn in Kuldsche hatten kraft ihrer Verträge mit China die Russen Handels¬
niederlassungen und da durch die immerwährenden Kriege ihr Handel überhaupt
schwer geschädigt wurde, so beschlossen sie nun zuzugreifen. Im Mai 1871
besetzte General Kolpakowsky mit 2000 Mann Kuldsche. Die erste Maßregel
Kolpcckowsky's war die Freilassung von 75,000 Sklaven; Ordnung und Ruhe
kehrte in die Stadt zurück, in welcher zwei Parteien (Dunganen und Tarantschen)
um die Herrschaft gekämpft hatten. Rußland erklärte nun Kuldsche und den
Ili-Distrikt für ewige Zeiten als sein Eigenthum und kümmerte sich nicht um
Pekinger Proteste, die in der That machtlos verhallten, da ja weit und breit
um Kuldsche herum China's Macht aufgehört hatte zu existiren.
In Kuldsche fingen die Russen an sich häuslich einzurichten und unter
ihrer Herrschaft begann der von der Natur reich gesegnete Bezirk schnell auf¬
zubinden, während ringsum die Kriege auf ehemals chinesischem Boden fort¬
wütheten. Zahlreiche russische Kolonisten ließen sich hier nieder und Ackerbau
und Viehzucht nahmen einen mächtigen Aufschwung.*) Natürlich dachte Rußland
nicht daran, daß ihm jemals der Besitz Kuldsche's wieder streitig gemacht werden
könne. Und doch ist dieser Fall jetzt eingetreten.
Sobald China in den letzten Jahren wieder erstarkt war, mußte seine
ganze Kraft darauf gerichtet sein, die dnrch die mohammedanischen Aufstände
verlorenen Landesgebiete wieder zu gewinnen. Zunächst rückte 1875 eine
chinesische Armee gegen Jünnan und zerstörte das neue Reich des Kaisers
Soliman, der dabei sein Leben einbüßte, gründlich. Dann rückte es 1876 gegen
die Dnnganen vor; ihre Städte Hann, Barkul, Kutschen, Urumtschä und Mamas
wurden nach einander unterworfen und die Einwohner ausgemordet. Darauf
kam im Frühjahr 1877 der kühne Abenteurer Jakub Kuschbegi an die Reihe;
auch sein Reich fiel unter den Streichen der Chinesen, und die Hauptstadt
Kaschgar ergab sich im Dezember 1877 dem chinesischen Generale Tso Tsung
Tang. In Peking jubelte man, denn nun war die Einheit des Reiches wieder¬
hergestellt, alles verlorene Land zurückerobert bis auf den einen Distrikt Kuldsche.
Dicht vor diesem stand aber nun die siegreiche chinesische Armee, nur durch
einige Pässe des Tian-Shan-Gebirges von den Russen getrennt. Der ganze
Feldzug war einzig zu dem Zwecke unternommen worden, die Integrität des
Reiches wieder herzustellen; so lange aber Rußland im Besitz von Kuldsche
blieb, war jedoch diese Aufgabe unvollendet. Hier konnte natürlich nicht gleich
Waffengewalt angewandt werden, wie gegen die Dnnganen, wie gegen Kaschgar,
hier mußte zunächst die Diplomatie sprechen. „Knldsche war die Perle unserer
zentralasiatischen Besitzungen", sagen die Chinesen, „und erhalten wir es nicht
gutwillig von den Russen zurück, so werden wir es mit Waffeugewcilt nehmen."
Bisher waren die Verhandlungen wegen der Ansprüche Rußland's ans Kuldfche
dnrch die russische Gesandtschaft in Peking geführt worden, und Rußland soll
sich auch zur Rückgabe verstanden haben, indessen war die Gegenrechnnng,
welche es für die gehabten Auslagen der Besetzung und Verwaltung des
Distriktes vou 1871 bis 1878 beanspruchte, so ungeheuer groß, daß China
erklärte, dieselbe nicht bezahlen zu können.
Das ist die neue „Knldsche-Frage" zwischen Rußland und China, und um
sie zu lösen, hat China nun einen Gesandten in Se. Petersburg ernannt.
Hat nun Rußland auch in Peking eine Summe genannt, für welche es
Kuldsche an China herausgeben will — die Bestätigung bleibt abzuwarten —
so ist deu Russen doch dieses Zugeständniß schon leid geworden, denn das
Journal de Se. Petersbourg hat bereits erklärt, daß die russische Herrschaft in
Zentralasien einen argen Stoß erhalten würde, wenn Kuldsche herausgegeben
würde. Auch würde durch Rückgabe dieses wichtigen Platzes die Tian-Schan-
Greuze geschwächt.
Dagegen ist in der amtlichen Pekinger Zeitung — die Overland China
Mail bringt regelmäßig Auszüge aus derselben — zu lesen, daß China eine
wohldiszivlinirte Armee von 50,000 Mann nicht ferne von Kuldsche stehen
habe, eine Armee, die durch die Siege gegen Kaschgar und die Duugcmen ge¬
stählt und mit Hinterladern und Krupp'schen Kanonen versehen sei.
Schließlich würden auch diese europäischen Waffen den Chinesen gegen
die Russen nichts helfen. Aber Rußland, das in der Türkei noch nicht freie
Hand besitzt, das in die afghanischen Händel verwickelt werden kann, darf jetzt
einen Krieg mit China nicht vom Zaune brechen. Der chinesische Gesandte
nach Se. Petersburg ist unterwegs. Warten wir ab, was er mit Fürst Gvrt-
schakow für ein Abkommen trifft.
Jeder unbefangene Beobachter der sächsischen Zustände und namentlich jeder
aufrichtige Freund der Regierung mußte sich überzeugt halten, daß das Ministerium
Kvuueritz das Königreich entweder einem Staatsstreich oder einer Revolution
entgegentreibe. Mit gleich verblendeten Eigensinn hat nur noch Herr v. Beust
Zwanzig Jahre später das Land regiert und der Katastrophe von 1866 ent¬
gegengetrieben. Von Jahr zu Jahr war die Bewegung der Geister, welche die
Regierung einfach unterdrücken zu können meinte, gewachsen, mit jedem Jahre
auch die Zahl der Opposition im Landtag. Auch in dem neuen Landtag,
welcher am 14. September 1845 eröffnet wurde, hatte die Opposition neue
Sitze errungen. Zum ersten Mal trat hier jener „entschiedenere" Nachwuchs
im Landhaussaal auf, der sich zwar Todt's Führung noch unterordnete, aber
den alten Führer der sächsischen Opposition doch häufig auch weiter nach Links
führte, als ihm lieb war; dagegen sonderte sich dieser junge Fortschritt voll-
stündig von dem maßvollen Liberalismus der Braun, Georgi, Brockhaus u. s. w.
Diese äußerste Linke war hauptsächlich vertreten durch die nächsten Freunde
Blum's: Schaffrath, Joseph, Hensel, Rewitzer. Ueberhaupt schied sich seit den
Leipziger Augustereignissen mehr und mehr der radikale Fortschritt unter Blum's
Führung ab von dem gemäßigteren Liberalismus, der in der Presse haupt¬
sächlich durch Prof. Biedermann, im Landtag durch Braun u. f. w. vertreten war.
Doch vorläufig verband die reciktiouäre Haltung des Ministeriums noch
sämmtliche oppositionelle Elemente der Kammer zu gemeinsamer Schlachtreihe.
Männer aller Parteifarben hatten die treffliche Petition Biedermann's an den
Landtag unterzeichnet, welche Sühne für das in Leipzig vergossene Blut forderte.
Schon die Thronrede der Regierung war weniger herzlich, als sonst. Mit
mahnenden Ernst forderte der König die Stände auf, thu bei der Erhaltung
eines verfassungs- und ordnungsmäßigen Ganges im innern Staatsleben zu
unterstützen. Dagegen waren mehrere der brennendsten Fragen in der Thron¬
rede mit Stillschweigen Übergängen. Deshalb, und um dem allgemeinen Be¬
dürfniß zu entsprechen, welches eine offene Aussprache über die reichlich vor¬
handenen Beschwerden erheischte, wurde selbst von der ersten Kammer diesmal
zum Erlaß einer Adresse die Hand geboten. Selbst die Regierung fühlte bei
Beginn der Adreßdebatten das Bedürfniß ihrer Rechtfertigung. Könneritz ver¬
las eine ausführliche Vertheidigungsschrift seines Regimentes, welche um so
weniger befriedigte, da er mit der Behauptung, daß die Verfassung eine dem
Zeitbewußtsein nachgebende Entwickelung überhaupt nicht gestatte, den lautesten
Forderungen des Volkes eine schroffe Kriegserklärung entgegen warf. Noch
unglücklicher in seinem Debüt vor der Kammer war wo möglich derjenige
Minister, auf welchen der Liberalismus früher die größten Hoffnungen gesetzt,
Herr von Falkenstein, welcher sich dazu berufen fühlte, der Stadt Leipzig den
Rath zu ertheilen, „den Weg der Selbsterkenntniß zu betreten und sich wieder¬
zufinden," ja der sich sogar zum Vertheidiger der Zensur aufwarf. Mit wuch¬
tigen Worten traten Brockhaus und der konservative Poppe diesem anmaßlichen
Urtheil entgegen; und selbst in der ersten Kammer erklärte später am 19. Nov.
Dr. Crusius: „Leipzig braucht nicht erst zum Selbstbewußtsein zu kommen,
es braucht sich nicht erst wiederzufinden, denn es hat sich nie verloren."
Ihren absolut reaktionären Standpunkt trug die Negierung insbesondere
zur Schau allen Anträgen, Petitionen und Verhandlungen gegenüber, die eine
Abstellung der wahrhaft unerträglichen Zensurplackereien und Konzessionsent¬
ziehungen, überhaupt eine Entfesselung des freien gedruckten Gedankens aus
jenen Banden bezweckten, mit welchen diese Negierung unaushörlich und scho¬
nungslos die ganze inländische Presse und unliebsame Preßerzeugnisse umstrickte.
Die schroffe Unbeugsamkeit der Regierung in der Frage der Reform der
sächsischen Preßzustände erklärte sich, abgesehen von ihrem hervorragend bor-
nirten Standpunkte, welcher Zeitströmungen und selbst Meinungen mit Poli¬
zeimaßregeln unterdrücken zu können glaubte, hauptsächlich dadurch, daß in
dieser Frage fast die ganze erste Kammer hinter der Regierung stand. Mit
offener Schadenfreude über die Verfolgungen der verhaßten Presse, stimmte
dieses erlauchte Haus der Regierung in der Hauptsache durchaus bei , verwarf
namentlich den Antrag der zweiten Kammer, daß auch nur eine baldige gesetz¬
liche Ordnung des Konzessionswesens der Presse stattfinden möge!
Welches Schicksal bei diesem Bestände der ersten Kammer jene Petition
Biedermann's und seiner 1800 Genossen beim Landtag haben werde, welche
Gerechtigkeit für Leipzig verlangte, war hienach mit ziemlicher Bestimmtheit
vorauszusehen. Aber unerwartet war das traurige Schicksal, das sie schon in
der zweiten Kammer ereilte und begrub. Mannigfache Gründe wirkten hierfür
zusammen. Das Referat lag in den Händen des rein ministeriell gewordenen
alten Gegners von Leipzig, Eisenstück. Nicht unabsichtlich hatte er und die
Kommission die Sache über ein halbes Jahr hingeschleppt, ohne Bericht zu er¬
statten. Inzwischen hatte die Regierung alles nur mögliche Material herbei¬
gezogen, um das Verhalten der Schießossiziere als gerechtfertigt und Leipzig
als eine höchst ungezogene Stadt hinzustellen. Sogar das alberne Kunstmärchen
von einem sür den 12, August 1845 langgeplanten Aufruhr spukte durch die
Regierungsberichte, und Staatsminister von Könneritz erzählte dasselbe sogar
später noch vor der Kammer in neuem Aufputz Auch hoffte Herr Eisenstück
und seine Freunde, daß in fast sieben Monaten Gras über den Grübern der
Erschossenen wachsen und das Sühneverlangen Leipzig's sich wesentlich abkühlen
werde. Diesem dilatorischen Verfahren kam eine rührige Agitation der feudalen
Junkerpartei der ersten und zweiten Kammer zu Hilfe. Die edeln Herren
hatten allmälig gelernt, wie die Opposition Stimmen gewinne und hatten es
ihr geschickt nachgemacht. Die theilweise maßlose Sprache der jungen Linken,
welche in diesen feierlichen Räumen unerhört war, die häufigen persönlichen
Invektiven, die sie sich zu schulden kommen ließ, Anklagen, die nicht immer be¬
wiesen werden konnten, alles das schreckte einen großen Theil maßvoller, be¬
dächtiger, unentschiedener Abgeordneten zurück. Und als nun die adligen
Bauernwerber dem biedern Landmann vollends klar machten, daß der Umsturz
alles Bestehenden das geheime letzte Ziel der Opposition sei, zogen sie alle diese
Elemente auf ihre Seite.
Unter solchen Auspizien begann die Kammer am 14. Mai 1846 die Debatte
über die Leipziger Augustereignisse. Der Bericht der Deputativnsmehrheit ver¬
warf die Leipziger Petition und erklärte das Verfahren der Schießoffiziere für
gerechtfertigt. Der Bericht der Minderheit (Klinger, Todt, Hensel) forderte die
Regierung auf, Anordnungen zu treffen, daß wegen dieser Ereignisse „von:
kompetenten Untersnchungsgericht das diesfällsige Sach- und Rechtsverhält¬
niß legal erörtert und der Gebühr Rechtens allenthalben nachgegangen würde".
Dieser Bericht erklärte also, daß das Verfahren der Offiziere vorläufig noch
nicht als ein berechtigtes angesehen werde könne, eine förmliche Untersuchung
gegen sie stattfinden müsse. Der Antrag war so maßvoll gefaßt und motivirt,
daß auch Brockhaus, Braun, Harkort u. A. dafür stimmten. Auch stehen die
Reden der Abgeordneten, welche Gerechtigkeit und Sühne verlangten, hoch über
denen ihrer Gegner. Mit Hilfe der kläglichsten formellen Kompetenzeinreden
und der bedenklichsten Auslegungen einer militärischen Instruktion, die, wenn
sie richtig waren, mit klaren gesetzlichen Bestimmungen in Widerspruch traten,
suchten die Vertreter der Regierung und die wenigen Redner, die aus der
Kammer für den Majoritätsantrag das Wort ergriffen, eine Untersuchung von
den betheiligten Offizieren abzuwenden. Dabei erlaubten sich namentlich die
Minister einen Ton gegen die Redner der Opposition anzuschlagen, der uns
Heutigen geradezu unwürdig erscheint*). Das Resultat der mehrtägigen Ver¬
handlung war aber nur in Sachsen möglich. Bei der Abstimmung ergab sich
Stimmengleichheit sür beide Anträge (36 Stimmen). Am 18. Mai mußte uach
der Landtagsordnung die Abstimmung wiederholt werden. Da stimmten 37
Stimmen gegen das Majoritätsgutachten, das also verworfen wurde. Gleich¬
zeitig aber wurde auch das Votum der Minorität mit 41 gegen 32 Stimmen
verworfen. Zu deutsch hieß das Resultat dieser Abstimmung: die Kammer er¬
klärt das Leipziger Schießen für ungerechtfertigt, lehnt aber gleichwohl die Ein¬
leitung einer Untersuchung gegen die Urheber ab. Man bedürfte hiernach der
ersten Kammer gar nicht mehr, um die Gerechtigkeitshoffnungen Leipzig's zu
Grabe zu tragen.
So hatte denn in der wichtigsten Frage der Landtag die auf ihn gesetzten
Erwartungen getäuscht, und damit Blum's pessimistischen Ansichten mehr als
Recht gegeben. Das Traurigste war, daß gerade in dieser Angelegenheit, die
„für die große Mehrheit aller Unabhängigen im Volke eine wahre Herzens¬
angelegenheit war, weil es sich dabei um die Befriedigung des tiefempfundenen
Bedürfnisses nach Gerechtigkeit, um die Beseitigung der Besorgniß handelte,
daß Gewalt von oben nicht denselben Schranken der Gesetze unterworfen sei,
wie Willkühr von unten"**), nicht die Regierung und nicht das Hans des
Adels, sondern die Volkskammer die berechtigten Erwartungen getäuscht hatte.
„Ein schroffer Stachel des Unmuthes blieb in den Gemüthern zurück" ***). Die
paar Gesetze, die man dankbar diesem Landtag gut zu schreiben hatte, wogen
keineswegs seine Fehlarbeiten und Unterlassungssünden auf.
Es ist von uns bereits in Ur. 27 der „Grenzboten" darauf hingewiesen
worden, daß seit etwa fünf Jahren sozialdemokratische und kommunistische Agi¬
tationen in der nordamerikanischen Union bedeutend an Boden gewonnen haben;
leider ist dies nun während des Sommers dieses Jahres noch in erhöhtem
Maße geschehen, da die bevorstehenden wichtigen Herbstwahlen in verschiedenen
Unionsstaaten die politischen Parteileidenschaften noch mehr entflammt und Ver¬
anlassung zu deu stärksten Agitationen gegeben haben. In ganz besonderem
Grade sind der Muth und die Hoffnung der amerikanischen Sozialdemokraten
gestärkt worden dnrch das Resultat der Wahlen, welche Ende dieses Jahres für
eine Staatskonventivn behufs Revision der Staatsverfassung in Kalifornien
stattfanden. Das Staatsschiff des „Gvldstaates", wie Kalifornien genannt zu
werden Pflegt, war in der That in Gefahr, in den gefährlichsten aller Strudel,
d. h. in die Hände der Kommunisten und Sozialdemokraten, zu gerathen, schlie߬
lich ist es jedoch dieser Gefahr noch einmal entronnen. Von den 152 Dele-
girten, welche die Staatsverfassung Kaliforniens zu revidiren haben, zählen 51
zu der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, während die Fraktion der „Unpar¬
teiischen", die eine nicht geringe Anzahl rechtlicher und unbestechlicher Männer
in sich schließt, mit 81 Repräsentanten die absolute Majorität erlangt hat. Die
Republikaner haben 11, die Demokraten 7 und die „Unabhängigen" gar nur
2 Vertreter gewählt. Zu deu gegründeten Beschwerden und Uebelständen, für
welche die genannte Staatskouvention Abhülfe schaffe» soll, gehören vornehm¬
lich das gewissenlose Treiben der Landspeknlanten und Monopolisten in Kali¬
fornien, das ungerechte Verhältniß in der Besteuerung des dortigen Grund¬
eigenthums, der Kulihaudel und die damit zusammenhängende verzwickte
Chinesenfrage.
Was die zuletzt erwähnte Frage anbetrifft, so liegt es allerdings nicht in
der Macht der Verfassungskonvention von Kalifornien, den zwischen der nord¬
amerikanischen Union und China abgeschlossenen Vertrag, dessen Berechtigung
der höchste Gerichtshof in den Vereinigten Staaten anerkannt hat und dem ge¬
mäß die Chineseneinwanderung zulässig ist, zu annlliren; allein einen feier¬
lichen Protest gegen diesen Vertrag kann jene Versammlung wohl erheben, und
dieser Protest dürfte nach Allem, was bereits in dieser Angelegenheit geschehen
ist, bei der Bundesregierung und dem Kongreß in Washington City nicht un-
gehört und unbeachtet verhallen. Wie segensreich auch in vieler Hinsicht die
Chineseuarbeit den Pazifiestaaten gewesen und zum Theil noch ist, so darf
man doch seine Augen nicht vor den vielen Uebelständen, die in sozialer und
sittlicher Beziehung damit verknüpft sind, verschließen. Zu diesen Uebelständen
gehören unter Anderem das mit dem modernen Völkerrecht schwer zu vereini¬
gende System des Kulihandels und die schrankenlose Jurisdiktion, welche von
den reichen und mächtigen sechs chinesischen Einwanderungsgesellschaften (Ax
(ÜomxÄniss) auf die über 100,000 Köpfe zählenden chinesischen Bewohner der
Pazifieküste ausgeübt wird. Diese in San Fcmzisko befindlichen Einwande¬
rungsgesellschaften betrachten, obschon sie selbst der chinesischen Nationalität an¬
gehören, die nach Kalifornien eingewanderten Chinesen nicht anders als ihre
Leibeigenen und behandeln sie demgemäß; sie haben eine Geheinipolizei und
ein Geheimtribunal errichtet und belegen ihre in Amerika lebenden Landsleute
mit den höchsten Strafen, ja selbst mit der Todesstrafe, sobald letztere den
selbstsüchtigen und willkürlichen Anordnungen und Befehlen der genannten Ge¬
sellschaften nicht gehorchen. Es gilt, diesen Chinesenstaat so orwig-rurs im
amerikanischen Staat zu zerstören, und, wenn Kuliarbeit dort ferner fortbe¬
stehen soll, dieselbe wenigstens auf ein solches Maß zu beschränken, daß der
eigentliche Nutzen derselben Kalifornien und den übrigen Pazificstciaten und
der Löwenantheil nicht dem Auslande zufällt. Alle in den Ländern am Stillen
Meere lebenden Söhne des „Himmlischen Reiches" fürchten und respektiren die
amerikanischen Gesetze weit weniger, als das geheime Regiment der sechs Ein-
wanderungsgesellschasten, da ihnen jene Gesetze keinen genügenden Schutz gegen
die Gewaltmaßregeln der „Lix LoiQxs.riss" gewähren. Darüber also, daß die
Chineseneinwanderung besser geregelt werden muß, sind alle politischen Par¬
teien in den Pazificstciaten, vorzugsweise in Kalifornien, einig, mit alleiniger
Ausnahme derjenigen Elemente, die unmittelbar aus der Kuliarbeit Nutzen
ziehen. Die Schwierigkeit besteht nur darin, wie diese Regelung vorgenommen
werden soll. Jntriguante Politiker gebrauchen diese brennende Frage der Pazi¬
fieküste zur Erreichung selbstsüchtiger Zwecke. Die Kommunisten und Sozial¬
demokraten, deren Lage aller chinesischen Konkurrenz zum Trotz lange nicht so
beklagenswerth ist, wie vorgegeben wird, benutzen die geschilderte Lage der
Dinge zum Entschuldigungsgrund für ihre Umtriebe und übermäßigen Forde¬
rungen und haben sich auf diese Weise in vielen Distrikten Kaliforniens eine
so mächtige Stellung zu erringen gewußt, daß die anderen politischen Parteien
gewaltig an Ansehen und Einfluß verloren haben.
An der Spitze der kalifornischen Sozialdemokratie stand aber während der
Wahlen zur Staatskonvention und schon vorher ein gewisser Dennis Kearney,
dem jedes Mittel recht ist, um die bestehende Ordnung über den Haufen zu
werfen, sei es auch Mord und Brand. Dennis Kearney ist erst 31 Jahre alt
und stammt von irländischen Eltern ab. Er ist klein von Gestalt und besitzt
keine großen Körperkräfte; von einer ordentlichen Schulbildung ist bei ihm nicht
die Rede. Schon als Knabe 'ging er zur See und kam vor ungefähr zehn
Jahren als Matrose nach Kalifornien, wo er sich in San Franzisko als ein
gewöhnlicher Karrenführer (ärÄAm,im) niederließ. Unzufrieden darüber, daß
die Chinesen billiger, als er, arbeiteten, und daran verzweifelnd, daß er mit
leichter Mühe und ohne schwere Arbeit ein reicher Mann werden könnte, ver¬
band er sich mit den ebenfalls unzufriedenen Elementen der unteren und unter¬
sten Volksklassen und wurde nach kurzer Zeit der anerkannte Führer dieser
Ordnung und Gesetz verachtenden Banden. Begünstigt von einer natürlichen,
wilden Beredsamkeit und ausgerüstet mit einer verwegenen Dreistigkeit ließ er
keine Gelegenheit vorübergehen, als öffentlicher Redner aufzutreten und die
Massen der Arbeiter zum Kampf gegen die besitzenden Klassen aufzureizen. Da
er nicht selten seine Zuhörer und Anhänger aufforderte, alle Chinesen in Kali¬
fornien todtzuschießen und die Häuser der Reichen in Brand zu stecken, so
wurde er wiederholt vor Gericht gestellt und mit Gefängnißstrafen belegt.
Allein kaum war er wieder in Freiheit gesetzt, so begann er seine Wühlerarbeit
von Neuem gegen die „billige Arbeit der Chinesen" (odsax Olünss lador) und
gegen die „Landdiebe, Bankbrecher und höllischen Politiker" (iWärodderZ,
da,inn-"8iQÄ8Uhr8 g,na KsU-doiiQä xotitieians). Kearney sucht als öffentlicher
Volksredner seines Gleichen; in dem Gebrauche von Schimpfworten und Flüchen
ist er fast unübertrefflich; bei Alledem aber versteht er es ausgezeichnet, die
Menge bei ihren Schwächen zu fassen und sie seinen agitatorischen Zwecken
dienstbar zu machen. Da er, seit er das Karrenführergeschäft aufgegeben, ver¬
schiedene Bücher gelesen hat, deren Inhalt er natürlich oft nnr zur Hälfte ver¬
stand, so spickt er seine Reden hänfig mit wunderbaren Floskeln; so spricht er
z. B. von den „Rossen des Pegasus" (tus stssäs ok ?6Mörs), von seiner
Absicht, „die olympischen Höhen zu erklettern" (to soxüs OlM^xig-n tisi^es)
u. s. w. Religion und Sittlichkeit sind dem kalifornischen Agitator vollkommen
unbekannte Dinge.
Gleichsam die rechte Hand von Dennis Kearney ist ein gewisser Wellock,
von Geburt ein Engländer. Er war während des Krimkrieges Trommel¬
schläger in einem englischen Regiments; da ihm jedoch das Kriegshandwerk
nicht zusagte, so verließ er heimlich die Armee und wurde Schuhmacher; aber
anch dies Geschäft gab er bald wieder auf, um in England als politischer und
religiöser Agitator zu wirken. In dieser Eigenschaft ist er denn um auch in
Kalifornien, wohin er vor nicht langer Zeit auswanderte, thätig. Wenn Kearney's
Sprache und äußere Erscheinung rauh und derb ist, so erscheint Wellock auf
der Rednerbühne wie ein Stutzer, mit einem feinen Seidenhut, einem schwarzen
Leibrock und einer schweren goldenen Uhrkette. Die rohe Menge fühlt sich ge¬
ehrt, daß solch' ein feiner Herr auf ihrer Seite steht und sich herabläßt, zu ihr
zu sprechen. Wellock's Redeweise ist im Ganzen sanft und salbungsvoll; statt
der Kearney'schen Flüche braucht er Zitate aus der Bibel und andere liebliche
Redewendungen. Dieselben Leute, welche Kearney's gottlosen Wuthausbrüchen
zujubelten, spenden den frömmelnden Kapuzinaden Wellock's den lautesten Bei¬
fall; selbst Kearney hört scheinbar andächtig zu, wenn sein Kollege im Wühler¬
geschäft auf der Rednerbühne mit den Methodistenpredigern Moody und Sankey
in Anwendung von Bibelsprüchen wetteifert. Wenn man amerikanischen Blät¬
tern Glauben schenken will, so ist Wellock im Vergleich mit Kearney der grö¬
ßere Schurke — „tus vilsr Woiinärol", wie die „New-Iork-Tribüne" sagt.
Die Erfolge, welche Kearney als sozialdemokratischer Agitator in Kali¬
fornien erzielte, bewogen ihn Ende Juli dieses Jahres, uach dem Osten der
Union, namentlich nach seinem Gebnrtsstaate Massachusetts, zu gehen, um dort
sein Licht leuchten zu lassen und der vorzugsweise aus Sozialdemokraten und
verkommenen Politikern aller anderen Parteien zusammengesetzten „nationalen
Papiergeld-Arbeiter-Partei" (Mtioual ArkSQdÄcK-I^dor-I'Art/) zum Siege bei
den kommenden Herbstwahlen zu verhelfen. Kaum in Boston angelangt, wurde
Kearney von den dortigen Sozialdemokraten im Triumphe nach dem Hotel be¬
gleitet, wo man Zimmer für ihn gemiethet hatte. Dem Rufe der Masse fol¬
gend, erschien der Agitator am Fenster und hielt eine kurze Ansprache, ans der
wir nachstehende charakteristischen Sätze folgen lassen: „Ich bin ein einfacher
Arbeiter, und Ihr werdet mich entschuldigen, Arbeitsgenossen, wenn ich keine
wohlstilisirte Rede halte. Ich bringe Euch gute Nachrichten aus Kalifornien.
Die Ebenen, die ich dort verließ, sind bedeckt mit den faulenden Aesern öffent¬
licher Plünderer (virb. tlo tsstsririA careassizs ok xudlio xtunclerers). Ich
hoffe, die ganzen Vereinigten Staaten von Amerika werdeu sich ebenso orga-
nisiren, wie wir es an der Küste des Stillen Meeres gethan haben. Vom
Beginn dieser Bewegung an habe ich lant proklamirt: Tod den Maschinen-
Politikern, Tod den diebischen Kapitalisten, Tod und nochmals Tod den mor¬
denden und plündernden Landpiraten. Wir wollen uns organisiren als Arbeiter
und mächtiger werden, als die bewaffneten Legionen der Monarchen. Die
Arbeiter blicken auf das Sternenbanner, wie auf eine prunkende Lüge (s, it^un-
do^ lis), ein passendes Symbol für vom Staat beschützte Legionen mörderischer
Monopolisten, die tagtäglich die Arbeiter des Ostens zu Grnnde richten. Wir
wollen uns organisiren, wie in Kalifornien, wir wollen das Loos der Arbeiter
bessern und in der Wahl einen Gouverneur, der uns zusagt, wählen." Einige
Tage darauf hielt Kearuey eine größere Rede in der alten, historisch berühmten
„Fcmeuil Hall" zu Boston vor einer äußerst zahlreichen Versammlung. Er
wurde auch dort mit großem Beifall empfangen, allein seine Rede hatte diesmal,
obschon sie mit allen möglichen hochtönenden Phrasen und Zitaten geschmückt
war — er zitirte u. a. den Jupiter, die Venus, Mars und Uranus und ver¬
glich den bankerott gewordenen, berüchtigten Politiker Benjamin Butler mit
Bayard und Heinrich IV., dem „Navarresen mit dem weißen Helmbusch" —
doch im Großen und Ganzen keinen besonderen Erfolg. Die Arbeiter des
Ostens der Union stehen nämlich nicht auf einer so niedern Bildungsstufe, wie
die in Kalifornien, und das Thema von den Chinesen, welches in den Pazi-
fiestaaten sehr lohnend ist, hat in Massachusetts keine Bedeutung. Immerhin
aber ist Dennis Kearney auch in den Oststaaten der Union für die Gesetz und
Ordnung liebenden Parteien kein zu unterschätzender Gegner. Seine Mahnung
an die Sozialdemokraten und die übrigen unzufriedenen Elemente in den älteren
Unionsstaaten: „Werft Eure Streitfragen in einen Topf, und wenn wir die
gegenwärtigen Zustände niedergebrochen und die Kontrole über die Regierung
erlangt haben, dann wollen wir die Sachen nach unserm eigenen Geschmack
einrichten," — diese Mahnung kann leicht gefährliche praktische Folgen haben.
Benjamin Butter, der bereits der sozialdemokratischen und der republika¬
nischen Partei angehörte, ist jetzt der intime Freund Kearuey's geworden, er
befürwortet die unendliche Vermehrung des uneinlösbaren Papiergeldes, der
öffentliche Kredit der Vereinigten Staaten und die ehrliche Abzahlung der
Nationalschulden der Union sind ihm nicht der Rede werth, er hofft mit Hilfe
der Sozicildemokratie uoch eine große Rolle in Amerika zu spielen und Kearney
sagte von ihm: „Wenn Butler ehrlich ist und hält, was er verspricht, so
dürfte er einer der steigenden Männer des 19. Jahrhunderts sein." Wir glau¬
ben nun zwar nicht, daß die amerikanische Nation jemals so tief sinken wird,
daß ein so verkommener Mensch, wie Benjamin Butler, einen entschei¬
denden Einfluß auf ihr Gefiel auszuüben im Stande ist, aber Diejenigen
dürften sich doch in einem verhängnißvollen Irrthum befinden, welche die Ge¬
fahren, die der Union seitens der Kommunisten und Sozialdemokraten drohen,
nach den unsinnigen und lücherlicheu Aussagen und Forderungen beurtheilen,
die einzelne Sozialdemokraten vor der Kommission kundgaben, welche nach Be¬
schluß des Repräsentantenhauses des Kongresses unter dem Vorsitze des Demo¬
kraten Hew ne die sozialen Verhältnisse und Zustände in den Vereinigten Staaten
zu untersuchen hat. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß die sozialdemokra¬
tischen Lehren auch bereits auf dem Lande, nnter den Farmern, großen An¬
klang gefunden haben, weshalb es hohe Zeit sein dürfte, daß die besseren
Gesellschaftsklassen auch jenseit des Ozeans ihre Gleichgiltigkeit gegen politische
Dinge schwinden lassen, wenn nicht die Union in kurzer Zeit deu größte»
Seitdem (1785) die Jencier Literaturzeitung begründet war, hatte der Ruf
der Universität in so außerordentlicher Weise sich gesteigert, daß Jena unter
den deutschen Universitäten eine hervorragende Stelle behauptete. Plötzlich im
Sommer 1803 traten Verhältnisse ein, die nicht allein die Verlegung der
Redaction dieser Zeitung bedingten, sondern auch geeignet waren, die Univer¬
sität in ihren Fundamenten zu erschüttern. Eine Reihe bedeutender Männer
hatte sich im Stillen geeinigt, Jena zu verlassen, und die Kunde von diesem
Entschlüsse erregte um so mehr Aufsehen, als bestimmte Nachrichten durch einen
von Berlin datirten Artikel in der Hamburger neuen Zeitung, in die Weimar-
Jenaischen Kreise gelangten. Der gelehrte und berühmte Hofrath Schütz in
Jena und mit ihm die dortige Literaturzeitung, hieß es, werden nach Halle
übersiedeln, nachdem der König von Preußen diesen und den Mitredactenr
Professor Ersch unter sehr ehrenwerthen Bedingungen in seine Dienste ge¬
nommen, und für alle aus der Uebersiedelung der Literaturzeitung erwachsen¬
den Kosten eine Entschädigung von 10,000 Thaler bewilligt hat. Da nicht
nur diese Gelehrten, sondern auch der Geheime-Rath Loder in preußische
Dienste übertrat, auch Hufelandt und Paulus Weggang uach Bayern in Aus¬
sicht gestellt war, so stand man nahe daran, wie Goethe sich ausdrückte, daß
der Universität Jena der Todesstoß versetzt wurde.
Glücklicher Weise hatten die leitenden Kreise Weimar's, durch eine kleine
Indiscretion, frühzeitig genug Kunde von dieser „Verschwörung" gegen Jena
erhalten, und wenigstens Schritte gethan, daß die Jenaer Literaturzeitung der
Universität erhalten blieb, da sich Eichstädt und der preußische Commissions¬
rath Heult sofort bereit erklärten, die Redaction der Zeitung zu übernehmen.
Diese erhielt nicht nur die alte Censurfreiheit, sondern am 7. October auch das
erbetene Privilegium. Indeß war damit nicht viel erreicht, wenn die neue
Redaction nicht mit Gewandtheit und opferfreudiger Thätigkeit eintrat und den
Feinden in Halle zu begegnen wußte, die sich des Schutzes der preußischen
Regierung und ihrer materiellen Unterstützung in so hohem Maße erfreuten.
Die Kämpfe um die Existenz der Jenaer Zeitung ließen nicht lange auf
sich warten. Schon am 6. November betonten die Etatsräthe aus Berlin
in einer ausführlichen Beschwerdeschrift an die weimarische Regierung, daß die
Literaturzeitung in Jena in ihren Bekanntmachungen die ungegründete Be¬
hauptung von dem Fortbestehen des Institutes in Jena gewagt, und die
dortige Redaction nothwendig schon deßhalb geschäftliche Irrungen veranlasse,
weil sie nicht allein gleichen Titel, sondern anch in dein sonstigen Aeußern in
Druck und Format die Hallische Zeitung nachahme. Sie gaben zu erkennen,
daß mit Rücksicht auf diese Unzuträglichkeiten der König den preußischen Post¬
ämtern die Spedition der Jenaer Zeitung untersagt habe und stellten den An¬
trag, daß man sich in Jena der erwähnten Nachahmung nicht allein enthalten,
sondern dem Organe eine äußere Gestalt geben solle, die keinerlei Verwechse¬
lung beider Zeitungen gestatte. Eichstüdt der (22. Nov.) in Goethe's Gegenwart
von der preußischen Beschwerdeschrift durch Voigt Kenntniß erhielt, entkräftete
den hauptsächlichsten Vorwurf damit, daß das Organ „Jenaische Literatur-
zeitung" betitelt, unmöglich also die berührten Uebelstände hervorzurufen im
Stande sei, da gleiches Vorgehen sich dann auch gegen ähnliche Organe
wie z. B. die Oberdeutsche allgemeine Literaturzeitung richten müsse. Der
Redaction fiel nunmehr die Aufgabe zu, sich eingehend gegen die preußische
Anklage zu äußern, und Goethe übernahm es, diese Verantwortung eigenhändig
durchzueorrigiren, indem er sehr interessante Aenderungen vornahm. Von deren
Autorschaft würde man schwerlich etwas ahnen können, wenn uns dies Schrift¬
stück im Entwurf nicht erhalten wäre, auf welches er sogar Papierstücke auf¬
heftete, um mit seinen Aenderungen keinen Zweifel zu erregen. — Die Rein¬
schrift ging als Beilage zur Erklärung vom 25. November nach Berlin ab. —
Wenn nun auch damit der unerquickliche, so zu sagen vom Zaune gebrochene
Streit beigelegt schien, so war doch bei dem Verhältniß zwischen Halle und
Jena des Haders kein Ende, und es fehlte nicht an Unannehmlichkeiten aller
Art, die der Redaction in Jena durch die Verschärfung der Gegensätze sort und
fort erwuchsen. — .
Es läßt sich nicht läugnen, daß man in Weimar die großartigsten An¬
strengungen machte, die bedeutendsten Kräfte für die Mitarbeiterschaft zu ge¬
winnen. Goethe selbst trat mit dem Glänze seines Namens in die Schranken;
Männer wie Voß und Johannes v. Müller erwiesen sich als vorzügliche För¬
derer und der Großherzog Carl August blieb als Protector am wenigsten
hinter diesen zurück. Ohne Uebertreibung und Vorurtheil kann man behaup¬
ten, daß in den folgendem Unglückstagen Weimar's und Jena's das kritische
Institut der Allgemeinen Literaturzeitung fast allein noch die Celebrität von
Jena auswärts erhielt. Aber man vergaß in Halle die frühern Vorgänge
nicht; es bedürfte des kleinsten Anlasses, um den Hader wieder anzufachen, zu
dem zwölf Jahre später Eichstädt die Veranlassung geben sollte. — Daß dessen
Thatkraft die Wiederbegründung der Literaturzeitung zu verdanken war, konnte
am wenigsten die Partei in Jena vergessen, die sich um Schützers Schwager,
den Geheimen Kirchenrath Griesbach geschaart hatte. War er es ja, der gleich
im Beginn der Literaturzeitung eine scharfe Kritik erfahren und der deßhalb
zu dem allgemeinen Widerwillen gegen Eichstädt, so lange dieser lebte, getreu-
lich beitrug. Jetzt fand diese festgeschlossene Partei verschiedene Gründe zu
Beschwerden gegen Eichstädt; es handelte sich um nichts Geringeres, als ihn
völlig aus dem Sattel zu heben, ihn unschädlich zu machen. Wurde er an
maßgebender Stelle uicht gehalten, wozu zunächst wohl Aussicht vorhanden
war, so stand auch seine vorzügliche Thätigkeit für die Literaturzeitung in
Frage, und diese bekämpfte die Griesbach'sche Partei vor Allein.
Eichstädt mußte erfahren, daß mau ihn der Eigenmächtigkeit beschuldigte,
da er die Inspection, welche er über die Landeskinder hatte, anch ans die Söhne
der Professoren erstrecken zu wollen, beschuldigt wurde. Man bekämpfte feine
Weigerung, daß er die akademischen Programme nicht der Censur des Senats
unterstellen wollte, klagte ihn der Unthätigkeit im Lesen an der Universität an
und beschuldigte ihn, geflissentlich ungünstige Recensionen von schriftstellerischen
Arbeiten der Jenaer Professoren veranlaßt nud aufgenommen zu haben. Noch
war über die ihm zur Last gelegten Beschwerden nicht verhandelt, als Carl
August den Geheimen Rath Voigt beauftragte, Eichstädt womöglich zur Nieder¬
legung seiner Professur zu bewegen, und seine ganze Kraft der Redaction der
Literaturzeitung zu widmen. Der Ausweg empfahl sich, um wenigstens nach
der einen Seite hin des langen Haders ein Ende zu machen. Aber die Ver¬
handlungen führten zu keinem Ziele; denn Eichstädt sah damit seine physische
und moralische Existenz vernichtet, sich dem Spott und Hohn seiner Gegner
Preis gegeben. Ein Mann, der wie Eichstädt so sehr an sein Lehramt ge¬
wöhnt, sich zu demselben so geeignet und kräftig fühlte, konnte um so weniger
sich zu diesem Schritte entschließen, als er seinen Lebensberuf völlig aufgegeben
hätte und zu geistigem Schaffen unfähig geworden wäre.
Nach der andern Seite hin hatte er bereits zugegeben, was in seinen
Kräften stand. Er verzichtete auf die Inspection über die Professorensöhne
und unterstellte seine Programme der Censur zweier Senatsmitglieder, während
er es von den Entschließungen der Regierungen abhängig machte, ob die
literarischen Arbeiten von Jenenser Professoren blos anzuzeigen oder zu recen-
siren seien. —
Bei diesen Verhältnissen stand in der That zu befürchten, daß Eichstädt
die Redaction der Literaturzeitung aufgab, obwohl durch seine Erbietungen im
Grunde die Hauptquelle der Unzufriedenheit verstopft war, und man hoffen
konnte, daß ernstliche Verwarnungen nach beiden Seiten hin jedes weitere Ge¬
zänk unmöglich machen würden. Es wäre in der That Schade gewesen, wenn
ein kritisches Tribunal, wie die Literaturzeitung, wegen unnützer Querelen und
Streitigkeiten in Frage gestellt wurde, während man sonst Alles für die Wissen¬
schaft in Jena zu thun geneigt war. Was hätte vor Allem das übrige
wissenschaftliche Deutschland zu dem Ausgange des unerquicklichen Streites
sagen müssen!
Wie immer in hochbedeutsamen Fragen der Universität, durfte vor Allem
Goethe's Gutachten nicht fehlen, um welches der Geheime Rath Voigt bat.
Niemand als Goethe konnte die Sache gründlicher beurtheilen, der das Jenai¬
sche Wesen und Unwesen auf das Genauste kannte. Er allein konnte dem
Laufe der Dinge eine Richtung geben „n«z quick rss Mdlioas littsrarias ckstri-
MöQti es,xia>t", wie Voigt sich ausdrückte. Sofort gab Goethe sein interessantes
Votum ab, das folgender Maßen lautete:
„Ueber die Eichstädtische Angelegenheit seine Gedanken zu äußern, beson¬
ders schriftlich ist eine schwere Aufgabe, sie läßt sich kaum lösen, ohne in Ge¬
danken viele Jahre zurückzugehen, es fey mir vergönnt, mich so kurz als mög¬
lich zu fassen.
„Es heißt: ein Mann habe die Vortheile mißbraucht die ihm Gunst und
Glück im Gefolge seiner Verdienste zugewendet. Von seinen Verdiensten muß
ich zuerst reden.
„Das größte, was er für die Aeademie Jena gethan hat und wovon alles
Gute ausging, was er leistete und genoß, ist die Stiftung der Literaturzeitung
in den gefährlichsten Augenblicken. Nach gemeinsamer Verabredung, ja Ver¬
schwörung von Jena scheidender Professoren gedachte man mit hämischer
Schadenfreude, der Aeademie den letzten Todesstoß zu versetzen, wenn sie die
allgemeine Literaturzeitung mit fortschleppten und nach Halle versetzten. Der
Plan war so künstlich angelegt, daß mit dem neuen Jahr 1804 gedachte Zei¬
tung in Jena eessiren und in Halle beginnen solle.
„Durch Indiscretion eines unsern Zirkeln gleichfalls ungünstigen Menschen
ward zu unserm Glück schon im August 1803 die Sache öffentlich ruchbar,
die, uns schon vorher bekannt, nicht wenig Verlegenheit gegeben hatte.
„Hofrath Eichstädt war kühn genug aufzutreten, sich zur Redaction einer
neuen, völlig ähnlichen, wo nicht besseren zu erbieten und beyliegende Arten
zeigen alles was geschehen um es möglich zu machen, daß mit dem 1. Januar
1804 in Jena eine allgemeine Literaturzeitung erscheinen konnte, die mit den
größten Anstrengungen gegründet durch den'schweren Druck der Kriegszeiten
hindurch sich bis auf den heutigen Tag in Ehren und Würde erhalten hat.
Wer die Umstände bedenkt, in welche wir zu obengemeldeter Epoche gesetzt
waren, wird nicht läugnen, daß diese Anstalt der heilige Anker gewesen, an
welchem die Aeademie sich damals rettete und ich will gern gestehen, daß Eich-
städt's Unternehmungsgeist, sowie seine Beharrlichkeit mir von solchem Werth
schienen, daß ich zu Begünstigungen, die in meinem Kreise lagen, willig die
Hand bot.
„Des Einflusses nun und der Autorität, welche sich der Redacteur eines
solchen Blattes zueignet, soll Eichstädt mißbraucht haben, indem er ungünstige
Recensionen gegen Jenaische Professoren eingerückt. Ich habe es nie gebilligt,
denn ich halte davor, man thue besser die Mängel seiner Hausgenossen zu ver¬
heimlichen, als sie der Welt bekannt zu machen. Es läßt sich jedoch die Sache
auch von einer andern Seite ansehen.
Bey Uebernahme jenes gefährlichen Geschäfts eine neue Zeitung uumittel-
var neben einer berühmten auszustellen, mußte man gleich darauf ausgehen,
sich in Opposition zu setzen und zwar nicht etwa durch Widerspruch, sondern
dadurch daß man thäte, was jene unterlassen hatten und dadurch vorzügliche
Männer und bedeutende Meinungen, welche die allgemeine Literaturzeitung
verletzt oder beseitigt hatte, der neuen Anstalt zu gewinnen. Und so geschah
es, daß die erste Recension gegen Griesbach gerichtet war, welches der würdige
Mann, schon als Schwager von Schütz durch die Concurrenz beleidigt, nie¬
mals vergessen und zu dem allgemeinen Widerwillen gegen Erchstädt, so lang
er lebte, getreulich beygetragen hat.
„Durch diesen Beginn schien das Recht begründet, ungeheuchelte Critik
auch über Jenaische Professoren ergehen zu lassen, dessen man sich denn much
bis aus den heutigen Tag bedient hat.
„Daß dieses nicht zulässig sey, will man mit dem Beyspiel von Göttingen
bekräftigen. Man bedenkt aber nicht, daß wir uns in diesem Punkte, so wenig
als in manchen andern, mit Göttingen vergleichen dürfen.
„Göttingen bleibt bey seiner Weise nnr das Hergebrachte zu lehren, und
das Neue, es sey noch so gut, nicht eher aufzunehmen bis es gleichfalls herge¬
bracht ist und so kann man bei aufmerksamer Lesung der Göttingischen An¬
zeigen finden, daß eine Sache als bekannt angenommen wird, welcher man sich
vor zehn Jahren als falsch und unzulässig heftig widersetzte.
„In Jena erleben wir gerade das Gegentheil. Oken lehrt und druckt seineu
successiven Wahnsinn, und' ich zweifle sehr, daß die Nemesis in einem Göt¬
tinger Professor ihren Herausgeber gefunden hätte. Wenn wir nnn, wie von
jeher, einer unbedingten Preßfreyheit genießen, (wobey wie ich belegen kann,
seit mehreren Jahren gar manches vorgekommen, was nach Innen schädlich war,
ohne daß man es gerügt hätte), so kann man es dem Herausgeber der Literatur¬
zeitung nicht zum Verbrechen machen, daß er sich dieser Freyheit gleichfalls
bediene. Doch ist diesem Uebel sogleich abgeholfen, wenn man ihr zur Pflicht
macht, wie es ja schon in politischen Dingen geschieht, dergleichen Recensionen
in Manuscript zur Censur einzusenden.
„Bedenkt man nnn recht genau, worauf die Dauer einer solchen Anstalt beruht
so wird man nicht in Abrede seyn, daß der Redacteur ein Professor und zwar
Professor der Eloquenz seyn müsse. Es ist nicht genug, daß ein solcher Mann
Herr und Meister der alten Sprachen sey, sondern er muß auch Gelegenheit
haben, sein Talent öfters öffentlich zu zeigen, wozu die Programme und so
viel andere Ausfertigungen die erwünschteste Gelegenheit geben. Auch werden
hierin wenige in Deutschland seyn, die sich mit Eichstädt messen können. Ferner
steht er als Redacteur mit hundert und aber hundert Gelehrten in Verbindung,
welche seinen Kenntnissen und Fähigkeiten Achtung und Zutrauen schenken
müssen. Dieses geschieht gewiß vorzüglich, wenn sie ihn auch der Stelle nach,
die er bekleidet, als ihres Gleichen ansehen. Aber man sagt, er hat sich gerade
dieser Stelle, dieser Gelegenheit, öffentlich zu sprechen zum Schaden anderer
bedient. Die angeführten Fälle sind problematisch, und die Mißdeutung beruht
darauf, daß der ursprüngliche Sinn des Wortes, welches edel und rühmlich
war, nach und nach herabgekommen ist.
„Auch diesen: Uebel ist für die Zukunft abzuhelfen. Man gebe einem oder
ein Paar der lateinischen Sprache kundigen Männern den Auftrag, die Pro¬
gramme und andere öffentliche Schriften durchzusehen und Mißverständnissen
vorzubeugen.
„Das gegen Eichstädt zur Sprache gekommene dritte Gravamen berührt
ihn eigentlich gar nicht, denn es ist ja nnr in höherm Auftrage, daß er auch
die Inspection über die Professoren-Söhne erstreckt, welche sogleich durch höhern
Willen seiner Aufsicht entnommen werden können. Er selbst wünscht es in
seinem eingereichten Schreiben und da er, wie es scheint, nicht ganz abgeneigt
ist, in der Folge die Inspection überhaupt abzugeben, so wäre die Darstellung
der Lage der Sache, wozu er sich in seinem Schreiben erbietet, von ihm baldigst
zu verlangen.
„Das letzte öffentlich gegen ihn vorgebrachte Gravamen, daß er in der
letzten Zeit wenig Vorlesungen gegeben, beseitigt er durch eingesendete Unter-
schrifts-Verzeichni'sse Studirender. Auch kaun man überhaupt einem Jenaischen
Professor, wenigstens in der letzten Zeit, nicht zum Verbrechen machen, wenn
er sparsam Collegia liest, denn es finden sich nicht immer Studirende, die das
verlangen, was nicht unmittelbar nützlich ist. Man könnte mehrere Lehrer
nennen, die wider Willen pausiren.
„Betrachtet man nun alles Vorgesagte, so scheint daraus uicht hervorzu¬
gehen, daß man auf die Benutzung der Verdienste dieses Mannes völlig Verzicht
thun solle, da man ihn mit so wenigem unschädlich machen und durch ernste
Anmahnung vor künftigen Fehlschritten warnen kann.
„Ihn zu removiren, halte ich auch deßwegen nicht für politisch; denn
eigentlich wird er ja doch nur durch den Ostracismus der Menge, die so gut
über seine Verdienste und Glück neidisch, als über seine Fehler und Ver¬
gehungen ärgerlich sein mag, und von der, wenn es ihr diesmal gelingt,
zu befürchten steht, daß sie nach Belieben, Haß und Widerwillen ans einen
andern werfen, ihn Jahrelang untergraben und zuletzt, wider Absicht und Willen
der Obern, sprengen werden.
„Eine wichtige gleichfalls politische Betrachtung scheint mir ferner die, daß
wenn man Eichstädten gänzlich aus der Mitte der Academie heraus nimmt,
die Lücke zu groß wird, als daß sie schicklich ausgefüllt werden könne.
„Wie will ein neuer Professor der Eloquenz, er stehe an Wissenschaft und
Talent über oder unter Eichstädt oder ihm zur Seite, wie will derselbe an
Einem Ort mit Eichstädt existiren, wie wollen sie beide neben einander lehren?
Würde es nicht hundert Collisionen geben, die denn doch auch zuletzt an die
höchste Behörde gelangen.
„Ferner gebe zu bedenken, daß diejenigen, die jetzt Eichstädten anfeinden,
ihn verdrängen, seine Stelle einnehmen wollen, ebenfalls Menschen sind und
neben ihren Verdiensten gleichfalls Mangel haben. Eben so gut als er können
sie ehr- und geldgeizig sein, Nepoten und Günstlinge haben. Ja wer das Innere
der Academie kennt, darf mit Gewißheit voraussagen, daß nach Eichstüdt's
Entfernung zwey bis drey Parteien in Jena entstehen werden, die unter ein¬
ander mehr Händel anfachen, als sie bisher gegen Eichstädt verbunden, gehegt
haben. Beabsichtigt man Ruhe und Friede, so wird man den Zweck nicht er¬
langen. Ich getraue mir, das Drama vorauszuschreiben, welches sich alsdann
in Bewegung setzen wird.
„Vorstehendes, welches als Text einem weitläufigen Commentar unterliegen
könnte, habe aus dem Stegreife dictirt, weil ich die Sache nicht verzögern
wollte; hat es einige Tage Zeit, so erbiete mich zur Revision und Abschrift.
Nur*) füge noch hinzu, daß die Einstimmung der übrigen Höfe ja auch nötig
ist. S. in. W. d. 26. Jan. 1816." G.
Im Wesentlichen schloß sich diesem Gutachten Carl August an. „Es soll
mir lieb sein", bemerkte er, „wenn dieser Gewittersturm sich in einen fruchtbaren
Regen auflöst. In der jetzigen Zeit, wo so ungeheuer viel gedruckt, recensirt,
getadelt, gelobt, ge- und beschimpft und vergöttert wird, und welches das Publi-
eum uuter allerhand Formen, Titeln, Farben lesen, sehen und schlucken muß,
bedeutet eine einzelne literarische Zeitung nicht mehr so viel als sonst, wo
dergleichen geistige Nahrungsmittel seltener erschienen, und gewiß nicht genug,
um den Hausfrieden einer Aeademie zu stören. Deßwegen wird die Einschrän¬
kung, kein Buch, welches unter dem Namen eines Jenaer Professors gedruckt
wird, in der Jenaer Literatur-Zeitung zu recensiren, sehr wünschenswerth sein.
Die Inspection der Landeskinder kaun ganz aufgehoben, die des Couplets an
eine Commission übergeben werden. Was die Collegien betrifft, so beweist
Eichstädt, daß die Subscription erfüllt ist, nicht, daß er Collegien gelesen hat.
Dies ist an das Licht zu stellen."
Diese Forderung hatte für Eichstädt die ungünstigste Wirkung. Sofort
verbreitete sich in Jena das Gerücht seiner Entsetzung, die Studenten wurden
in ihrem Wahne bestärkt, daß die Klage über die Inspection für begründet er¬
achtet worden sei, Sie, die bisher ihren Inspector mit Ehrenbezeugungen über¬
häuft hatten, riefen ihm ein Pereat zu. — Aber Carl August's Befehl wurde
vollzogen. Keine Schrift eines Jenenser Professors durfte in der Literatur¬
zeitung recensirt werden, während die Censur der Programme von zwei Pro¬
fessoren abhängig gemacht und erwiesen werden mußte, ob Eichstädt, der der
Inspection über die Landeskinder überhoben ward, wirklich gelesen habe. Letzteres
war nicht von besonderer Tragweite, aber tief zu beklagen war, daß der Hader
in den Kreisen Jenenser Professoren das Urtheil in literarischen Beziehungen,
so wie es hier geschah, gänzlich unterdrücken konnte.
Nachdem sich der Reichstag während dieser Woche, zum Theil in langen
und ermüdenden Reden, unausgesetzt mit dem Sozialistengesetz beschäftigt, ist
dasselbe endlich am 19. Oktober in einer Weise zur Annahme gelangt, durch
welche die baldige Publikation und Wirksamkeit desselben in Aussicht gestellt ist.
Bei der Wichtigkeit des das Verbot von sozialdemokratischen Druckschriften
betreffenden § 6 nahm auch die am 14, Oktober aufgenommene Fortsetzung
der am 11. abgebrochenen langathmigen Verhandlung großen Umfang an. Und
dennoch galt in deu je eiustündigeu Reden von Richter, Kleist-Retzvw und
Windthorst mir der allerkleinste Theil diesem Paragraphen. Die Eigenthümlichkeit
der Lage brachte es eben mit sich, daß die Berathung dieses Gesetzes täglich mehr
den Anlauf zu umfassenden Auseinandersetzungen der Parteien sowohl mit der
Regierung als untereinander machte. Wenn sich nur infolge dieses In- und
Aussichgehens der Parteien wenigstens ein für das Staatsleben brauchbarer
Bodensatz zu bilden begönne! Trotz aller Erörterungen, Anregungen, Vor¬
würfe und Mahnungen, mit denen man sich gegenseitig regalirte, sind aber
die Parteien einem solchen Ziele kaum irgendwie nachgekommen; vielmehr wir¬
belt Alles, was infolge der Auflösung des vorigen Reichstags und Angesichts
der inneren Gefahr des Staates aufgerührt worden, nach diesem Parteien-
Renkontre erst recht wirr durcheinander; es zeigt sich sogar, daß die erhaltenden
Elemente noch gar wenig geeignet sind, sich in der vom Fürsten Bismarck am
9. Oktober empfohlenen Weise zusammenzuschließen, so sehr auch gleichzeitig das
Auftreten von Vertretern der negirenden Parteien täglich von neuem dazu
mahnte. Zum 6 traten solche Mahnungen recht lebhaft wieder hervor in
den Reden von Richter und Windthorst.
Es schien sast, als ob Ersteren die Lorbeeren, welche Hasselmann, Bracke und
Reinders in den Tagen zuvor sich aus der Rednertribüne geholt, nicht hätten
schlafen lassen. Dieselben waren ja auch an dieser Stelle noch Neulinge gegen
einen so erfahrenen Spezialisten im Herabziehen staatlicher Autoritäten, gegen
den seit lange anerkannt geübten Schützen im Entsenden spitzigster Pfeile wider
unsern großen Staatslenker. Wie konnten auch mir Andere ihm so in's Hand¬
werk gerathen! In der That hat sich auch diesmal Richter's Meisterschaft in
diesem Genre bewährt. Er hatte dazu aber auch einen gar zu reizenden
Stachel. Waren doch von Fürst Bismarck die Fortschrittler als die bisher
stets Negirenden hingestellt. Das verdiente grausame Rache, und Richter hat
sich diese aus seiue Weise genommen: er trat wie gewöhnlich mit einem sorg¬
fältig gefüllten Köcher von Pfeilen wider Bismarck auf und verband in sicht¬
lich großem Behagen deren Abschreitung kunstgerecht mit feuilletonistisch-
pciradoxer Behandlung einer Reihe ernster Dinge. Wenn man sieht, wie sich
bei diesem Parlamentarier noch immer keine Spur von Selbstbescheidung zeigt,
und wie er selbst in solcher Sache sich berufen glaubt, die allezeit schwarzen
Pläne der Regierung in ihrer ganzen Diabolik zu demaskireu, so möchte man
fast mit Händen greifen, wie der Parlamentarismus sich selbst almälig dis-
kreditiren kann. In der Behandlung seines Hauptthema's, daß das positive
Moment des Staatslebens in der Wirksamkeit der Fortschrittspartei und der¬
jenigen Kreise des Bürgerthums liege, ans welchen diese sich zu rekrutiren
pflege, drang Richter bis zu der dreisten Widersinnigkeit vor, die Fortschritts¬
partei sei in Wahrheit jetzt die „Altkonservntive Reichspartei", während umge¬
kehrt Fürst Bismarck das negirende Element bilde, ja sogar — Dasjenige
positiv nenne was er selbst sür positiv halte. So viele unberechtigte Abschwei¬
fungen der arme Z 6 schon erlebt, so war das doch noch nichts gegen die
Richter'schen Exkursionen. Mit besonderem Wohlgefallen schien dieser unfeine
Redner bei einem gehässigen Breittreten von Vorkommnissen der Wahlbeme-
gung zu verweilen, welche Bennigsen anständiger nur zart berührt hatte. Richter
kam auch noch ans den Kulturkampf, unter' dem Schmunzeln des Zentrums
auf eine Belobung der katholischen Kirche als Damm gegen die Sozialdemo¬
kratie, auf die Volksschulen, ans die „Genealogie der israelitischen Könige" und
uoch gar manches Andere, Alles zur Sache, Alles zum Thema der Unter¬
drückung von Zeitungen. Die Nationalliberalen kamen bei dem Redner diesmal
glimpflicher weg; Bennigsen's Rede glaubte er eben die Beruhigung entnehmen
zu können, daß dessen Berufung in die Regierung doch wohl noch nicht so
nahe sein könne.
Auch von Kleist-Retzow schüttete gewaltig sein Herz aus, ohne sich um das
Thema viel zu bekümmern. Er wies zwar die Nationalliberalen nicht geradezu
als Mitstreiter zurück, bekundete aber sehr deutlich, daß er und seine Genossen auch
unter obwaltenden Umständen nach ganz anderen Polen gravitiren wollten, so-
daß die Zweifel, welche Bennigsen am 10. Oktober in die Waffengemeiuschast
eines Theiles der Konservativen gesetzt, sich völlig bestätigt zeigten. Mit der
Brunst eines die Mähnen schüttelnden Silberlöwen wandte sich Kleist an das
Zentrum, welches er, nachdem es sich eben erst gegen die Regierung in neue
Positur gesetzt, so gerne Freund nennen möchte. Das war zum mindesten eine
entschiedene Regirung von Bismarck's patriotischem Appell. Nicht nur, daß
Kleist „sehnlichst" die Zeit „erwünschte", wo er mit dem Zentrum „Hand in
Hand gehen" könne, sondern er berührte mich den Kulturkampf und die Schul¬
fragen in der dem Systeme Falk's feindlichen Weise seiner Partei. Windt-
horst's alsbaldige Erwiderung enthielt zwar ein freundliches Kompliment, allein
der Führer des Zentrums will uicht, daß dieses sich durch die verspätete
Freundlichkeit der durch Bismarck's Appell etwas in Verlegenheit gerathenen
Altkonservativen in seiner jetzigen Position inkommodiren lasse, von welcher ab¬
wendig zu machen Kleist bald elegisch bittend, bald in zorniger Mahnung sich
abgemüht. So mußte sich der als Altkouservativer ergraute Kleist von Windt-
horst über den Begriff „konservativ" belehren lassen. Erst wenn die Konser¬
vativen zu diesem, zu eiuer „entschlossen reaktionären Politik im Staat und be¬
züglich dessen Verhältnisses zur Kirche" sich bekannt hätten, wolle das Zentrum
mit ihnen gehen. Nun wissen wir also auch in aller Form, welche Bewandt-
niß es mit der ostensibel freiheitlichen Richtung des Zentrums hat. Kleist
brachte noch eine Blumenlese bezeichnender Kraftstellen aus sozialdemokratischen
Blättern vor, wie sie Graf Eulenburg bei seinen Ausführungen in erster
Lesung gewiß recht vermißt hatte, doch war sie für die in Rede stehende
Frage des sofortigen Unterdrückers von Zeitungen nicht weiter brauchbar.
Nach diesen Vorgängen mußte der Z 6 einem traurigen Schicksale zueilen.
Wir verdenken es den Konservativen nicht, wenn sie nicht einzusehen vermochten,
warum den bewußten Blättern erst noch eine gewisse Besserungszeit gestattet
werden sollte, denn es ist gar zu naiv, an die Aenderung des Wesens eines
solchen Blattes zu glauben. Laster freilich legte recht großen Werth auf diese
gutmüthige und so übel angebrachte Absicht einer Erziehung, durch welche, wie
Kleist richtig sagte, der Charakter des Gesetzes geändert würde. Bei dem
Präventivgesetze von rückwirkender Kraft als von einem Popanz zu reden, hatte
nur Richter fertig bringen können; selbst Laster verwies ihm dies. Der
Gegensatz der von Bismarck unter Eine Fahne gerufenen Regimenter führte
zur Freude aller negativen Parteien die Entscheidung für die reine Negation
dieses wichtigen Z herbei. Gemeinsam mit jenen brachten zuerst die Konser¬
vativen den Vorschlag der Kommission, dann, in der Vorliebe für eine blos
halbe Maßregel, die Mehrheit der Nationalliberalen die Fassung des Entwurfs
zu Fall. Die gähnende Kluft dieser Lücke, des einzigen Ergebnisses zweier
langen Sitzungen, enthielt viel Beschämendes für Alle, welchen am Zustande¬
kommen des Gesetzes liegt; auch der Trost ans die dritte Lesung vermochte
diesen Eindruck kaum etwas zu mindern.
Die namentlich für das Zentrum ermuthigende Wirkung dieses Vorgangs
zeigte sich sofort, als bei § 11, welcher das Einsammeln von Beiträgen zur
Förderung der bewußten Bestrebungen verbietet, Monfang sich angeregt fühlte,
nochmals das klerikale Programm zur Lösung der sozialen Frage in allgemeinen
Zügen darzulegen. Aber das verstimmte Haus schien der Exkursionen endlich
müde und auch der Präsident begann denselben Einhalt zu thun. Selbst für
die durch Moufang nochmals berührte Frage eines Wahlbündnisses zwischen
Ultramontanen und Sozialdemokraten, welches Windthorst auf allgemeine
taktische Regeln zurückzuführen suchte, war kein rechtes Interesse mehr zu finden.
Nach Genehmigung des § 11 gingen die Strnfbestimmnngen der H K 12 — 15,
unter Bebel's Einwurf von „Ungeheuerlichkeiten", noch am glattesten dnrch.
Der üble Vorgang bei ez 6 hatte den harten Sinn der unter Eine Fahne
reagirten Kompagnieen keineswegs milder gestimmt, und so wiederholte sich am
15.'Oktober dieselbe Erscheinung bei 8 16, wo beide Kompagnieen in der Frage
gegen einander marschirten, inwieweit die geschäftsmäßigen sozinldemokratischen
Agitationen neben der Freiheitsstrafe auch in Betreff ihres Aufenthalts sollten
beschränkt werden dürfen. Bei dieser Frage sorgten drei Mitglieder des
Zentrums, welches so hübsch hatte schweige» wollen, für übermäßige Aus-
spinnung heterogener Punkte: Reichensperger aus Crefeld durch eingehende
Angriffe auf die Kirchenpolitik und, uuter entschiedenem Widerspruche des
Ministers Grafen Eulenburg sowie Friedberg's, auf die Selbständigkeit preu¬
ßischer Richter in Urtheilen über Majestätsbeleidigungen, Prinz Radziwill durch
eine in monotonster Ableiernng vorgetragene Kritisirnng eines der Maigesetze
und Brück durch einen Exkurs über Majestätsbeleidignngen. Von Bedeutung
erschien nur eine Erklärung Bennigsen's, welche nach ihrem Inhalt wie nach der
ungewohnten Schroffheit des Tons überraschte. Da die Beschlüsse der Kom¬
mission in den wichtigeren Punkten nur durch Scheiumehrheiten zu Stande
gekommen waren, so erschien es ganz selbstverständlich, daß im Plenum Ver¬
suche zur Erzielung einer natürlichen Mehrheit angestellt wurden. Daher fiel
es sehr aus, daß Bennigsen plötzlich Namens seiner Partei jene Beschlüsse
wegen der Schwierigkeit ihres Zustandekommens als unantastbar hinzustellen
versuchte. Zugleich ging er aber selbst hiervon wieder ab durch Anbietung
von Zugeständnissen zu H 20. Wenn Graf Eulenburg bei seinem gerechten
Erstaunen darüber, daß zum ersten Male bei dem Verständigungswerke von
Unannehmbcirkeit geredet werde, jene Eröffnung auf den ganzen Rest des Ge¬
setzes bezog, so hatte er nach dem Gehörten allen Anlaß dazu. Nun aber
hörte sich durch Bennigsen's einlenkende Erwiderung die Andeutung heraus,
daß es sich nur um einen taktischen Schritt handle, worauf denn anch von
Helldorf und von Kardorff bekundeten, daß sie bereits Anlaß zur Hoffnung
auf Verständigung bis zur dritten Lesung hätten. So mag sich denn anch die
andauernd große Zurückhaltung erklären, deren man sich vom Tische des
Bundesraths befleißigte. Vorläufig führten eben die zwei Kompagnieen sich
gegenseitig an den Abgrund der min wiederum entstandenen Lücke, sodaß
beiderseits die Gewissen wegen des bevorstehenden Nachgebens salvirt sein
konnten.
Die Rekursbehörde, so wunderbar sie auch im Schooße der Kommission
entstanden war, fand keine Anfechtung. Außer dem sächsischen Justizminister
gaben sich nur die Konservativen Schmid und Ackermann Mühe für Erfüllung
des Regierungswunsches wegen Zuziehung von Verwaltungsbeamten, es ging
jedoch nicht durch, obwohl auch Liberale dafür stimmten; wohl aber wurde zu
Laster's und Hänel's Beruhigung der durch von Goßler befürwortete Zusatz
Ackermann's genehmigt, daß jene Behörde in vollem Umfange soll Beweis er¬
heben lassen dürfen. Dabei hatte Windthorst nicht gesäumt, dieselbe als den
„Anfang für die Entziehung der Polizeihoheit der Einzelstaaten" hinzustellen.
Zum sogenannten kleinen Belagerungszustand des 8 20 fanden am 16.
Oktober, auf Grund der schon angekündigten Zugeständnisse der Nationalliberalen,
einige unbedeutenden „Verschärfungen" Annahme. Der 8 über die Giltigkeits-
dnner des Gesetzes brachte noch lange Reden von Lucius, welcher 4^ Jahre
setzen wollte, und des wortreichen Sozialdemokraten Bracke, bei dessen grandiosen
Abschweifungen dem Hause die Geduld erst verloren ging, als er nach fast
einstündiger Rede auf „die graue Vorzeit" übergehen wollte. Von sachlichen
Interesse waren nur die Ausführungen Kiefer's aus Baden. Angenommen
wurden leider nur die 2'/s Jahre.
Am 17. Oktober ruhten die Recken. Es war eine Art Bußtag, an dem
man auf allen Seiten nochmals ernstlich in sich zu gehen hatte. In der That
wurde denn auch sehr rasch nach dem Treffen im Plenum die Verständigung
erzielt. Nur im Sinne der von Bismarck am 9. Oktober angedeuteten höheren
Gründe läßt es sich begreifen, daß die Regierungen in zweien ihrer Kardinal¬
punkte, dem der Frist bei der Zeitungsuuterorückung und dem der Dauer des
Gesetzes, nachgaben. Vielleicht trösten sie sich in Betreff des ersteren Punktes
mit der Praxis und im Uebrigen nimmt Bismarck, nach seiner Schlußrede vom
19. Oktober, eine eventuelle spätere Verlängerung in Aussicht. Die Zugeständ¬
nisse der Liberalen beschränkten sich eigentlich nur auf die freie Wahl des Vor¬
sitzenden der Rekursbehörde durch den Kaiser; die Beschränkung der Aufent-
Halts-Versagung für den Agitator in seinem Wohnsitze auf den Fall, daß er
diesen nicht schon 6 Monate inne hat, ist kaum dahin zu rechnen. Die Siche¬
rung des Gesetzes auf Grund dieser Einigung war bei Beginn der 3. Lesung
am 18. Oktober Jedermann bekannt. Gleichwohl brachte diese Sitzung eine
neue, die dritte Generaldiskusfivn mit abermals weitem Zurückfallen in Ab¬
straktionen, v. Schorlemer raffte Alles, was er an Bosheiten gegen die Regie¬
rung in den verschiedenen Lagern noch aufzulesen vermochte, zusammen und
warf es zu guter Letzt der Regierung in's Gesicht. Fast keins der mehr als
zur Genüge behandelten Themata unberührt lassend, entwickelte er ein wohl-
berechnetes Mitraillensenfeuer von Malicen gegen Bismarck und hielt auch
Nachlese auf den Spuren der gegnerischen Vorredner, um sie durch Sophismen
lächerlich zu machen. Ein würdiges Seitenstück war eine Rede Liebknecht's,
der sich in „Enthüllungen" nach Art der verunglückten Versuche Bebel's er¬
ging. Eine Feier mit Petroleum, wie sie am 12. Oktober Hasselmann wegen
seiner Rede zu Theil wurde, hat er reichlich verdient. Im Uebrigen wußte
sich nur noch Laster Anfmerksamkeit zu verschaffen durch einen Rückblick auf
die Verhandlungen und eine Darlegung feines Standpunkts.
Trotz des erschreckend hervorgetretenen Parteihaders hat sich erfreulicher
Weise eine Mehrheit von 72 Stimmen für das Gesetz ergeben. Somit ist
wenigstens die Errichtung eines Dammes gegen die sozialdemokratische Hoch-
fluth erlangt. Hinsichtlich einiger Schwächen des Gesetzes gewährte uns die
Ansprache einige Beruhigung, mit welcher Bismarck am 19. Oktober die sechs¬
wöchige Session schloß.
An die Herren Verleger!
Wir bitten um baldigste Zusendung der Werke, die in unsrer Weihnachts¬
bücherschau berücksichtigt werden sollen.
Leipzig, Anfang Oktober 1878. Die Redaktion der Grenzboten.
Es gibt wissenschaftliche Leistungen, deren Werth nicht blos in der sorg-
fältigen Erforschung des einschlagenden Materials oder in der Fülle neuer, an¬
regender Gedanken liegt, sondern zugleich in der sittlichen Kraft, mit welcher
sie für gewisse bestrittene Wahrheiten eintreten. Solche Schriften belehren eben
so wie sie stärken. Es geht von ihnen eine Einwirkung auf die Gesinnung aus
F. Harms' Psychologie, der erste Theil seines Werkes: „Die Philosophie
in ihrer Geschichte", zählen wir dahin und glauben uns deshalb berechtigt, ein¬
gehender mit demselben bekannt zu machen.*)
Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Aufgabe, welche der Verfasser sich
gestellt hat. Er will uns nicht eine Geschichte der Philosophie geben, sondern
die Philosophie in ihrer Geschichte darstellen, d. h. ihm kommt es in erster
Linie nicht darauf an, die geschichtlichen Bedingungen aufzuweisen, an welche
die Entstehung, die Aufeinanderfolge, die Richtung der philosophischen Systeme
geknüpft ist, sondern vielmehr darauf, die letzteren nach ihrem Werth oder Un¬
werth zu beurtheilen, den Beitrag festzustellen, den die philosophische Erkennt¬
niß ihnen dankt, die bleibende Bedeutung zu bestimmen, auf welche sie An¬
spruch haben.
Den historisch-kritischen Untersuchungen geht eine umfangreiche Einleitung
voran, welche die philosophische Stellung des Verfassers klar legt. Sie han¬
delt zuerst von dem Begriff der Philosophie, die er als die Wissenschaft von
den Grundbegriffen und den objektiven Voraussetzungen der einzelnen Wissen¬
schaften bezeichnet, wie Trendelenburg und Zeller; sodann faßt sie die Ein¬
teilung der Philosophie in's Auge. Die Architektonik nach dem Unterschied
zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften, wie sie Aristoteles be¬
gründet hat, verwirft Harms ebenso wie die Organisation Herbart's nach dem
Gegensatz von Metaphysik und Aesthetik und die Eintheilung Hegel's in Natur-
und Geisteswissenschaften, da dieselben nur auf graduellen Unterschieden ruhen,
und ersetzt sie durch den Gegensatz der Philosophie der Naturwissenschaften
— Physik — und der Philosophie der geschichtlichen Wissenschaften — Ethik
Es finden sich in diesen Erörterungen die treffendsten Bemerkungen gegen
die gegenwärtig weit verbreitete Neigung, die Geschichte uach Analogie der
Naturwissenschaften zu beurtheilen. Mit vollem Recht betont Harms, daß die
Natur keine Geschichte hat, und die Geschichte keine Natur ist; daß alle Er¬
scheinungen innerhalb des Gebietes der Natur ans sich gleich bleibenden Kräften,
die in allen Zeiten gleiche Wirkungen haben und stets nach denselben Gesetzen
dasselbe mit Nothwendigkeit hervorbringen, zu erkennen seien, während in der
Geschichte nichts in einerlei Weise, sondern in mannichfaltigen Modifikationen
geschehe, immer neue Kräfte mit jeder neuen Generation in die Fort¬
setzung und Fortschreitung ihres Daseins eintreten. Dem widerspricht auch
nicht der Begriff einer Geschichte der Natur, da derselbe auf einer analogischen
Übertragung der geschichtlichen Erkenntnißart auf die Natur, deren Recht
zweifelhaft ist, ruht. Von Herder ist diese Uebertragung ausgegangen, von
Schelling fortgesetzt und von Darwin erneuert worden. Es liegt hier nicht,
wie gemeiniglich angenommen wird, eine Erweiterung des Begriffs der Natur,
sondern eine Erweiterung des Begriffs der Geschichte zu Grunde, indem in der
Natur eine Bedingung und Anlage für die Geschichte, eine Uebereinstimmung
mit der Geschichte erkannt wird.
Damit steht im Zusammenhange, daß Harms nur zwei Kausalitäten an¬
erkennt, die Kausalität des Zweckes oder Willens und die Kausalität der be¬
wegende!? Kräfte, jene dem Geiste, diese der Materie angehörig. Geist und
Materie felbst aber sind nicht Ursachen, sondern Existenzen. Denn alle Kau¬
salitäten sind Relationen, und man lost alles in Relationen ohne existirende
Dinge aus, wenn man nach dem Vorgang des Aristoteles auch den Geist und
die Materie als Ursachen ansieht, während vielmehr die immanenten Kräfte
derselben, die Bewegung der Materie und die Willenskraft des Geistes, so be¬
urtheilt werden müssen.
Der Physik und Ethik geht aber die Logik und Metaphysik voran, welche
den Begriff der Wissenschaften nach seineu Elementen und Bedingungen er¬
klären und begründen. So erneuert Harms die Platonische Eintheilung der
Philosophie in Logik, Physik und Ethik.
Wir unterlassen es, über den dritten und letzten Theil der Einleitung, der
„das System und die Geschichte der Philosophie" zum Gegenstande hat und
ebenso gegen eine aphoristische Konstruktion wie gegen eine empiristische Zusam¬
menstellung des Inhalts der Geschichte der Philosophie protestirt, näher einzu¬
gehen und wenden uns nun zu dem besonderen Thema des vorliegenden ersten
Theils des ganzen Werkes, der Geschichte der Psychologie. Wir schicken nur
voran, daß Harms die Psychologie als Bestandtheil der Physik, als Physik
oder Metaphysik der Seele, ansieht, uns also, wie es in der Natur der Sache
^ge, zugleich die allgemeinen Grundzüge einer Geschichte der Physik darstellt.
Die Psychologie der griechischen Philosophie, und in derselben die vorso-
kratische Philosophie bildet den ersten Gegenstand der Untersuchung. Von den
Joniern geht die philosophische Bewegung aus. Sie erscheint zuerst als Hylo-
zoismus, als Lehre von der an sich lebendigen und beseelten Materie auf Grund¬
lage der Evolutions- und Jdentitätslehre, die symbolisirend das Geistige nach Ana¬
logie des Körperlichen, das Körperliche nach Analogie des Geistigen beurtheilt, ver¬
treten dnrch Thales, Anaximenes, Diogenes von Apollonia und Hera-
klit; sie erscheint ferner als Dualismus von Geist und Materie in Verbindung
mit einer mechanischen Naturansicht bei Anaximander, Empedokles, Anaxa-
goras, welcher auf der Behauptung eines Kausalnexus qualitativer Elemente ruht
und, wenigstens bei Anaxagoras, zur positiven Entgegensetzung von Geist und
Körper gelangt; freilich so, daß der erstere universell als das handelnde, bewegende
Prinzip in der Körperwelt aufgefaßt wird, nicht blos als die denkende Substanz.
Die dritte Form der ionischen Philosophie repräsentirt der Materialismus oder
die Lehre von der alleinigen Substantialität der körperlichen Materie auf der
Grundlage des Atomismus. Die Atomenlehre ist eine Vielheits- und keine Ein¬
heitslehre. Die Atome werden nur durch den Zufall der Bewegung — die
Gottheit des Materialismus — zu Aggregaten zusammengewürfelt. Keine
eigenthümliche Qualität, nur Gestalt und Größe unterscheidet die Atome von
einander. Auch die Seele ist ein Aggregat; der Tod ist die Auflösung desselben.
Materielle Bilder, welche von dem Körperlichen ausströmen und durch die Sinne
in die Seele bringen, vermitteln die Erkenntniß; indem sie von der Seele wieder
ausströmen, das Begehren. Die Verkünder dieser Weltanschauung, welche als
Symptom des Verfalls anzusehen ist, sind Lenkipp und Demokrit. Sehr
richtig erinnert Harms daran, daß der Materialismus immer am Ende einer
Periode, in der Zeit der Auflösung der Philosophie eintritt, wenn das Denken
an Kraft und Stärke verloren hat. „Ein gewisser Stumpfsinn und eine ge¬
wisse Oberflächlichkeit muß erst eingetreten sein, wenn die Lehre von der Kör¬
perlichkeit der Seele entsteht." —
Die Psychologie der Pythagorüer sieht in der einzelnen Seele einen
Ausfluß der allgemeinen Weltseele, welche den Körper organisirt und harmo¬
nisch gestaltet. Die ihnen eigne Lehre von der Seelenwanderung ist ein Be¬
weis ebenso für die Selbständigkeit, die sie der Seele geben, wie für die
ethische Betrachtungsweise, die sie in Bezug auf das Leben der Seele zur Gel¬
tung bringen.
Die Eleaten — Xenophanes, Parmenides, Zenon, Melissus —
bestreiten die Realität des Werdens, sehen in der Natur nnr ein scheinbares
Werden und haben daher für Physik und Psychologie ein geringes Interesse.
Die Sophisten kennen keinen Begriff der Seele, sondern nnr Thatsachen
des Bewußtseins; die Seele ist ihnen nichts anderes, als eine Sammlung von
verfließenden Empfindungen und Begierden, Lust und Unlust, ohne ein statt¬
haftes Urtheil über Wahrheit und Irrthum, Gutes und Böses.
Hat bis dahin die Naturphilosophie deu Primat inne gehabt, so wird sie
durch Sokrates in eine bescheidenere Stellung geführt, sie muß Ethik und
Logik zu ihrem Rechte kommen lassen; bei Sokrates selbst wird die Physik
wenig beachtet, und die Psychologie erscheint fast nur als Ethik, die aber wieder
von Grundsätzen der Physik abhängig ist, durch welche sie leidet. So ist es
zu erklären, daß nicht der Wille das Prinzip der sittlichen Welt ist, sondern
die erkennende Intelligenz, deren Ideen, Begriffe und Gedanken als Kausali¬
täten aufgefaßt werden; daher denn alles Böse nur als Ergebniß des Unver¬
standes erscheint.
Für Platon ist die Seele die Vermittlung zwischen Vernunft und
Sinnenwelt, beiden Gebieten angehörig, Sterbliches und Unsterbliches in sich
vereinend. So stehen sich die denkende und begehrliche Seele einander gegen¬
über, zwischen ihnen die muthige, deren sich jene bedient zur Bestreitung dieser.
Diese drei Formen des Seelenlebens spiegeln sich in der Welt, denn die
Pflanzen reprüsentiren die begehrliche, die Thiere die muthige, der Mensch die
vernünftige Seele. Auch die Völker werden hiernach klassisizirt; in den Phöni¬
ziern und Egyptern, welche nach dem Erwerb der sinnlichen Güter trachten,
prävalirt die begehrliche Seele, bei deu nördlichen Barbaren die muthige und
in den Griechen die vernünftige Seele. In dem Menschen sind diesen Theilen
der Seele besondere körperliche Organe zugewiesen; die vernünftige Seele wohnt
im Kopfe, die muthige in Brust und Herz, die begehrliche im Unterleib.
Die vernünftige Seele ist präexistent, weil sie eine Idee ist, d. h. ein
wahres bleibendes Sein und Wesen, welches uuentstanden veränderliche Er¬
scheinungen bedingt. Und diese präexistirende Seele ist unsterblich. Es folgt
dies auch daraus, daß sie universell als Prinzip des Lebens gedacht ist, und
insofern kann sie ihrem Begriff nach nicht aufhören zu leben.
Die Psychologie als eine besondere Disziplin hat Aristoteles gegründet,
und zwar ist sie ihm ein Theil der Physik. Ihre Aufgabe ist, eine allgemeine
und vergleichende Wissenschaft von der lebendigen Natur der Pflanzen, der
Thiere und der Menschen hervorzubringen.
In dem Begriffe der Seele und des Geistes denkt sich Aristoteles eine Ein¬
heit der drei Ursachen, der Form, der Bewegung und des Zweckes im Unter-
schiebe und im Gegensatze mit der vierten Ursache, der Materie, weshalb in
dem Begriffe des Geistes und der Seele die Verneinung des Begriffes der
Materie enthalten ist.
In der Pflanzenwelt ist die Seele ernährend und erzeugend, in der Thier¬
welt gewinnt sie die Kraft der Empfindung, in der Menschenwelt die Fähig¬
keit der Vernunft.
Alles Werden in der Natur ist durch ein ewig Seiendes, als seine
Ursache, bedingt. Dies ist die absolute Wirklichkeit der göttlichen Vernunft.
Von ihr kommt die der Seele eignende Vernunft. Da die Vielheit der einzel¬
nen Seelen nur aus dem pluralisirenden Prinzip der Materie stammt, siud sie
nicht unsterblich. Nur die in ihnen wirksame allgemeine göttliche Vernunft ist
der Vergänglichkeit entnommen. Aristoteles unterscheidet die Sinne, die em¬
pfinden, und die Vernunft, die denkt. Durch die Sinne minime die Seele die
Form der Dinge in sich ans. Eine dreifache Wahrnehmung findet durch die
Sinne statt, die eigenthiimliche jedes Sinnes nach seiner Energie; die gemein¬
same durch die Sinne vermittelte von Bewegung und Ruhe, von Zahl, Gestalt
und Größe; und die mittelbare Wahrnehmung der Sinne, z. B., daß das
Braune, das wir sehen, das Pferd des N. N. ist. Jeder Sinn ist zugleich
sein eigener innerer Sinn, er empfindet nicht nur etwas, sondern auch, daß er
empfindet. Die fünf verschiedenen Arten der Sinne werden von dem Gemein¬
sinne mit einander verbunden, der auch das den Sinnen Gemeinsame und ihre
Verschiedenheit empfindet, da jeder Sinn nur seine Empfindungsweise und nicht
der anderen Sinne Energie kennt. Mit dem Empfindungsleben ist aber Lust
und Schmerz und die ihnen folgende Begierde unmittelbar verbunden.
Phantasie und Gedächtniß sind eine Fortsetzung der Sinne, eine von den
Wirkungen der Sinne zurückgelassene Bewegung.
Dem Sinne entgegengesetzt ist die Vernunft, die nach einem doppelten Ge¬
sichtspunkt als leidende und thätige, als theoretische und praktische Vernunft
aufgefaßt wird. Denn der leidende Verstand kommt durch die göttliche stets
seiende und thätige Vernunft aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Was den
andern Gegensatz anlangt, so gibt auch Aristoteles der theoretischen Ver¬
nunft den Vorzug, ist ihm doch auch die göttliche Vernunft nnr erkennend, nicht
handelnd.
Epikur stellt die Physik in Abhängigkeit von der Ethik, sie ist nur das
Mittel, den Menschen von Furcht und Aberglauben zu befreien und so die
Glückseligkeit zu steigern. Als eine diesem Zweck angemessene Physik erscheint
ihm die materialistische Atomistik.
Auch der Stoizismus hebt den praktischen Zweck der Philosophie, Weis¬
heit zu vermitteln, stark hervor. Seine Physik hat aber mannichfache Vorzüge
vor der Epikur's. Er erneuert den Hylozmsmns und die Evolntionslehre, sieht
im Geschehen das Walten einer unbedingten Nothwendigkeit, und in der Seele
nicht ein Aggregat, sondern eine Einheit. Er zeichnet sich vor dem Epiknris-
mus dnrch die Idee der Einheit und des innern Zusammenhanges der Dinge
aus, die in der Vielheits- und Zufallslehre dieses keinen Raum haben.
Mit der Auslösung der griechischen Nationalität erlosch auch die Produktions¬
kraft derselben auf philosophischem Gebiete. Die Weltanschauung erweiterte sich
zum Kosmopolitismus, der die nationalen Bestimmtheiten vermischt; aber der
Humanismus, der den Werth des Allgemein-Menschlichen trotz der bestehenden
natürlichen Unterschiede erkennt, war nicht sein Ergebniß. Orientalische Denkweisen
übten Einfluß. Die Emanationslehre, die ans dem unbewegten Absoluten in
immer mangelhafteren Abstufungen bis zur Materie hin die Dinge hervorgehen
läßt, gewann Eingang, obwohl sie dem griechischen Geiste durchaus wider¬
spricht, der das Unvollkommne zum Vollkommnen fortschreiten sieht. In dieser
Welt ist kein Zweck mehr für eine praktische und politische Thätigkeit, der
Mensch zieht sich daher von einer solchen zurück, um in innerer Beschattung
zu leben. Galt bis dahin für den griechischen Geist die Materie als das lei¬
dende, der Geist als das handelnde Prinzip, so ist jetzt die Seele nur noch ein
leidendes Wesen, das passiv dem Thun und Handeln zuschaut, das in der Welt
der Materie stattfindet. Damit verbindet sich die Annahme einer mystischen
und wunderbaren Anschauung des Absoluten als Quelle aller Erkenntniß,
welche eine Vermittlung durch die Sinne und das Denken ausschließt und so¬
mit jede That des Ich's aufhebt. In der Anschauung des Absoluten verfließt
das Ich wie der Tropfen im Ozean.
Die Physik der nen-enropäischen Völker ruht auf der durch das Christen¬
thum vermittelten Wahrheit der Schöpfung Harms hat den Muth, sich ent¬
schieden und offen zu derselben zu bekennen. Sie ist ihm ein erklärendes Welt¬
prinzip aus göttlicher Kausalität. Sie schließt die Zusallstheorie des Atomis¬
mus aus, weil sie in Allein Plan und Ordnung aus einem intelligenten Willen
sieht. Sie schließt ebenso den Gedanken Platon's und des Aristoteles aus. daß
die Welt aus der Materie durch Gott als Baumeister hervorgebracht sei. Der
Baumeister der Welt ist auch der Schöpfer der Materie.
Damit ändert sich der Begriff der Materie, sie wird eine gegebene That¬
sache, ein bestimmtes und meßbares Vermögen.
Die Welt ein Zufall, die Welt eine ewige Evolution, die Welt eine Ema¬
nation sind Annahmen, die eine Kausalerkenntniß ausschließen, welche letztere
nur voll und ganz zur Geltung kommen kann, wenn die Welt als Schöpfung
aus göttlicher Kausalität und Finalitüt augesehen wird.
Die christliche Philosophie trägt in ihrer ersten Periode einen theologischen
Charakter; das zeigt sich auch auf dem Gebiete der Psychologie. Für Augustin
ist sie nicht mehr ein Theil der Physik, sondern der Metaphysik. Die
Physik und die äußere Erfahrung wird gering geschätzt, denn Gott offenbart
sich der Seele in innerer Erfahrung. Die alte Philosophie hat mit dem Zweifel
geendet, die neue beginnt mit der Kritik desselben. Augustin beschreitet den
subjektiven Weg in der Begründung der Erkenntniß. Die unzweifelhafteste
Thatsache des Bewußtseins ist die Gewißheit von der Existenz des denkenden
Subjekts. Ebenso unzweifelhaft ist sodann, daß etwas vorhanden ist, das mir
erscheint. Die Sinne täuschen nicht, weder der innere noch der äußere Sinn,
sie liefern Erscheinungen und bezeugen das Vorhandensein einer Innen- und
einer Außenwelt. Drittens endlich ist unzweifelhaft der Begriff des Wissens
und der Wahrheit. Im Zweifel ist der Begriff des Wissens und die Forde¬
rung, daß es Wahrheit gibt, vorausgesetzt.
Drei Vermögen der Seele unterscheidet Augustin: das Gedächtniß, das
er universell als Vermittlung der Selbstbesinnung ansieht; den Willen, in
dem er das Sein und Wesen des Menschen erkennt und dem er den Primat
vor dem Verstände gibt, und den Intellekt. In der ersten Periode der mittel¬
alterlichen Philosophie herrscht der Plcitonismus, vertreten durch Hugo
und Richard vou Se. Victor, Bonaventura, Gerson, in hervorragender
Weise durch Hugo von Se. Victor. Die Seele ist ihm Mikrokosmos, sie stellt
die Welt in sich vor durch eigne Thätigkeit. Ihren Inhalt erwirbt sie durch
Lernen. Ihre Werkzeuge sind das äußere Auge, durch welches sie die in der
Körperwelt gesondert bestehende» einzelnen Ideen wahrnimmt, das innere Auge,
mit welchem sie in sich die Einheit der Ideen erkennt, und das Auge für Gott,
das sie befähigt, alles Sem auf sein letztes Prinzip zurückzuführen. Diese
Erkenntniß gewinnt aber die Seele nur als erlöste, da sie als von Natur böse
geblendet ist.
Innerhalb dieser Richtung wird die Psychologie mehr vom ethischen als
vom physischen Gesichtspunkt aus betrachtet, und die praktische Tendenz über¬
wiegt die theoretische.
Den Aristotelismus, der später die mittelalterliche Philosophie be¬
herrschte, lehrten Avicenna, Albertus der Große, Thomas von
Aquino. Johannes Duns Skotus. Bei dem berühmten arabischen
Philosophen und Arzte Avicenna (Ihr Sina) ist der Aristotelismus orienta¬
lisch gefärbt. Die Wahrheit wird durch Abstraktion und Negation des Sinn¬
lichen und durch eine plötzliche aus den Emanationen des allgemeinen Welt¬
verstandes ausgehende Erleuchtung erkannt.
Der Aristotelismus brachte den Gewinn, daß man die äußere Erfahrung
mehr schätzen lernte. Die orientalische Färbung, die er bei den Arabern trug,
wurde von den christlichen Philosophen abgestreift, ebenso wurde der Dualis¬
mus des Aristoteles von Materie und Form überwunden.
In einem sensu auftischen Nominalismus und in einem alle
Wissenschaft ausschließenden Mystizismus zeigt sich der Verfall der mittel¬
alterlichen Philosophie.
Die neuere Philosophie, insoweit sie eine einseitig naturalistische Rich¬
tung befolgt, wird im Ausgang des Mittelalters durch mannichfache Erschei-
nungen vorbereitet. Für Pvmponatius ist die Unsterblichkeit der Seele
allerdings dem Glauben gewiß, aber vom wissenschaftlichen Standpunkt aus
zweifelhaft. Telesius und Campanella lehren den Sensualismus, wenn
sie ihn auch uicht in seine letzten Konsequenzen verfolgen. Aber ebenso wird
auch die rationalistische Richtung der neueren Philosophie vorbereitet; der
scharfe Gegensatz zwischen Geist und Körper wird bei Aristotelikern und Pla-
tvnitern hervorgehoben, und damit das Problem gegeben, das die neuere Phi¬
losophie so vielfach beschäftigt hat, die Gemeinschaft zwischen beiden zu erklären.
Die Allgemeinheit in der Bestimmung beider, wie sie der antiken Weltanschauung
eigen ist, macht konkreten Ausfassungen Platz. Die Materie und der Geist
empfangen die positiven Prädikate der Allsdehnung und des Denkens. Eine
vermittelnde Stellung nimmt die deutsche Theosophie ein, welche den
beiden Grundsätzen des Nikolaus von Cusa folgt, daß in jedem Dinge die
Welt sich darstellt, und jedes individuell verschieden ist von jedem andern.
Die neuere Philosophie beginnt mit Cartesius. Die spezifische, nicht
graduelle Differenz zwischen der Materie, deren positive Qualität die Ausdehnung,
und dem Geist, dessen positive Qualität das Denken ist, bildet die Grundvoraus-
setzuug seines Systems. Der innern Erfahrung gibt er den Primat. Ihr
Gegenstand ist das Denken, denn den Geist faßt er universell als Denken auf.
Denlselbeu kommen zwei Thätigkeiten, die Passion der Erkenntniß -— denn sie
ist durch ihren Gegenstand verursacht — und die Aktion des Willens zu.
Zwei Klassen von Vorstellungen miterscheidet er, die verworrenen und dunklen
Vorstellungen der Sinne, denen keine objektive Realität entspricht, und die klare»
und deutlichen Vorstellungen des Verstandes, die einen ursprünglichen Besitz
desselben bilden. Die, Gewißheit von der Existenz des in ihnen Gedachten
ruht auf der Wahrhaftigkeit Gottes. Er kann uns nicht täuschen. Die Ge¬
meinschaft zwischen Geist und Körper wird durch die Zirbeldrüse vermittelt
gedacht, unter physischer Assistenz Gottes. Der Ort, der Sitz der Seele, soll
das Problem ihrer Wechselwirkung mit dem Körper erklären.
Ans dem Boden des Cartesianismus steht der Okkasionalismus eines
Arnold Geulinx, eines Nikolaus Malebranche, eines Georg Berkeley.
Derselbe sieht in den Bewegungen des Körpers nur gelegentliche Ursachen für
die Entstehung der Empfindungen und in den Gedanken nur Gelegenheiten
für die Bewegungen des Körpers; Gott ist es, der diese und jene hervorbringt.
In Berkeley verwandelt sich der Okkasionalismns in einen theosophischen
Idealismus, der in der Körperwelt nur Erscheinungen in den Sinnen und
Vorstellungen aus den Sinnen erkennt.
Der Standpunkt Spinoza's ist nicht die innere Erfahrung, sondern die
aprioristische Vernunftthätigkeit, und so bescheidet er sich nicht bei der Thatsache,
daß es eine Vielheit einzelner geistiger Wesen gibt, um den Zusammenhang
derselben mit einer leiblichen Organisation zu untersuchen, sondern die That¬
sache der Pluralität geistiger Wesen selbst nach ihrer innern Möglichkeit bildet
das Problem, welches er sich stellt. Die Lösung desselben sucht er darin, daß
er in allen besonderen Dingen Modi der allein existirenden göttlichen Substanz
sieht, durch welche die Attribute Gottes — Denken und Ausdehnung — in be¬
schränkter Weise dargestellt werden.
Denken und Ausdehnung lassen sich nicht auf einander zurückführen, nur
in Gott find sie eins. Eben deshalb muß aber auch alles, was im Denken
ist, in der Ausdehnung sein und umgekehrt. Es kann daher keinen körperlosen
Geist und keine unbeseelte Materie geben. Beide müssen mit einander über¬
einstimmen; eine Veränderung in der Gedankenwelt ist zugleich eine Modifi¬
kation in der Welt der Ausdehnung, ebenso wie Veränderung in dieser Modi¬
fikationen jener zur Folge hat. In beiden wirkt die gleiche göttliche Kausalität.
Auf die Frage nach der Entstehung einer Welt von Einzelwesen, dem
Grundproblem, bleibt das System Spinoza's die Antwort schuldig. Da es
keine immanenten Kräfte der Dinge kennt, nur Existenzformen der Attribute
der einen Substanz, die in einem unendlichen Werden des einen aus dem andern
ohne Kausalität und Finalität begriffen sind, so kaun es die lösende Antwort
uicht geben. In der Lehre von dem ewigen Sein der Natura naturans und
dem unendlichen Werden der Natura naturata ist unvermittelt die Evolutions¬
theorie des Heraklit und der Akosmismus der Eleaten verbunden.
Daß im System Spinoza's die Individualität nicht zu ihrem Rechte
kommt, ist der eine Grundfehler desselben; die unrichtige Voraussetzung eines
Parallelismus zwischen Leib und Seele, welche dem Materialismus Vorschub
leistet, der andere.
Spinoza unterscheidet an der menschlichen Seele Verstand und Willen,
beide gehören nur der endlichen Welt an. Der Wille besteht im Bejahen und
Verneinen der Gedanken und ist daher abhängig vom Verstände, aber auch
kein Gedanke entsteht ohne Bejahung oder Verneinung des Willens, und so ist
auch das Denken abhängig vom Wollen. Konsequent mußte Spinoza den
Begriff der Seele negiren, da es wohl Thätigkeiten des Wollens und Denkens
gibt, aber nicht ein Subjekt, das Träger derselben wäre. Denn die Seele
gilt ja nur als Modus der göttlichen Substanz. Es findet sich aber bei
Spinoza auch eine andere Auffassungsweise, nach welcher die Seele ein Selbst¬
bewußtsein des Geistes besitzt, eine Idee der Idee, einen Begriff dcwvn, daß
sie ein ewiger Begriff in dem unendlichen Denken Gottes ist. Die Seele, so
gedacht, hat aber kein Analogon im Leiblichen, es gibt keinen Körper des
Körpers, wohl aber eine Idee der Idee.
Leibnitz erweitert den Begriff der Seele, sie ist ihm Monade, d. h. eine
einfache Substanz, welche aus sich selber thätig ist und in ihrer Einheit ein
Mannichfaches umfaßt. Die einfachen Substanzen begreifen wir nach Analogie
unsrer Seele, welche die einzige Substanz ist, die wir unmittelbar erkennen.
So ist die Seele das wahre Sein und Wesen aller Dinge und die körperliche
Materie eine Erscheinung der an sich geistigen Substanzen. Diese unterscheiden
sich vou einander qualitativ. Es ist ein großes Verdienst von Leibnitz, daß er
das Prinzip der Individualität zur Geltung gebracht hat. Dagegen ist es
fehlerhaft, daß er, gestützt auf die Zustände des Unbewußten in der menschlichen
Seele, nach ihrer Analogie ein Seelenleben in die Natur hineininterpretirt hat,
d. h. in Zufälligkeiten der Seele ihr innerstes Wesen gesehen und das, was selbst
der Erklärung bedarf, als erklärendes Prinzip benutzt hat. Denn die Zustünde
des Unbewußten haben uur da Platz, wo das Bewußtsein das Wesen des
innern Lebens bildet. Negationen setzen eine Position voraus. Wilh uicht
Träger eines Bewußtseins ist, kann auch nicht Zustände des Unbewußten erfahren.
Das Unbewußte ist nur als Verdunkelung des Bewußtseins zu begreifen.
Leibnitz sieht im Körper ein Aggregat von Monaden, die auf der nied¬
rigsten Stufe der Entwicklung, der völligen Bewußtlosigkeit sich befinden.
Unbegreiflich freilich bleibt, wie ein solches Aggregat entstehen kann, da die
Monaden nicht auf einander zu wirken vermögen. Wenn nun in einem
Monaden-Aggregat eine Monate das herrschende Zentrum wird, und die
übrigen Monaden sich in den Dienst derselben als Werkzeuge stellen, so bildet
sich der Gegensatz von Seele und Leib und damit organisches Leben. Dagegen
ist nur zu sagen, daß nicht die örtliche Lage, sondern nur die innere Entwicklung
die Dignität einer Monate bestimmen kann. Die Entwicklungen und Ver¬
änderungen von Leib und Seele gehen parallel, stimmen mit einander überein,
aber keine ist Ursache und Wirkung der andern.
Jede Seele ist unsterblich, denn die Monaden sind einfache unvergängliche
Substanzen. Was nicht zu leben angefangen hat, kann auch uicht zu leben
aufhören,
Leibnitz betrachtet alles in der Natur als eine stetige Entwicklung, welche
zu immer höhern Stufen führt; aber er erklärt nicht, woher diese verschiedenen
Grade kommen, was hier auf einem niedern zurückhält, dort zu einem höhern
fördert.
Die Seele bringt dnrch ihre eignen Thätigkeiten ihre Erkenntnisse hervor,
zuerst in den dunklen Vorstellungen der Sinne, dann in den klaren Begriffen
des Verstandes.
Die Seele repräsentirt in sich die Welt, sie ist ein Spiegel des Universums
und sieht daher alle Dinge in sich. Die Seele hat alles a priori in sich in
unbewußter Weise. Da, aber nach Leibnitz die Monaden schlechthin selbständig
sind, keine Wechselwirkung auf einander ausüben, so ist wohl der Begriff einer
Summe von Monaden, aber nicht der Begriff eines Universums denkbar, und
ebenso wenig zu begreifen, wie die Vielheit der Monaden, die in keinem Kau¬
salitätsverhältniß zu einander stehen, sich in der einzelnen spiegeln, auf die
Sinne Eindrücke hervorbringen soll.
Es ist ein Verdienst von Leibnitz, daß er das Werden des Bewußtseins
durch den Willen vermittelt denkt, ihn als Kausalität desselben begreift. Nichts
desto weniger verfällt er einem psychologischen Determinismus, indem er das
Handeln als das nothwendige Ergebniß des Erkennens ansieht.
Zwischen den einzelnen Monaden besteht nur eine ideale Harmonie, ver¬
möge welcher die Veränderung der einen eine entsprechende Modifikation in der
andern zur Folge hat. Und diese Harmonie ist prästabilirt, da jede Monade
ihre Natur in Uebereinstimmung mit der Natur aller übrigen empfangen hat,
die Totalität der Monaden in einem und demselben Plane erschaffen ist. Hier
berührt sich Leibnitz mit dem Okkcisionalismus.
Die Einseitigkeiten des Rationalismus will der Empirismus ergänzen,
und er ist in seinem Recht, wenn er es betont, daß die Sinne eine Quelle des
geistigen Lebens und die Organisation der Materie eine Bedingung für dasselbe
seien. Er verliert aber sein Recht, sowie er sich als Universal-Methode der
Wissenschaften betrachtet.
Geschichtlich beginnt der moderne Empirismus mit Bacon und schon am
Schluß des ersten Abschnittes seiner Entwicklung gestaltet er sich bei Thomas
Hobbes zum Materialismus, der die geistigen Thätigkeiten in Bewegungen
der kleinsten Theile des Körpers auflöst. Die Freiheit besteht nur in der
Abwesenheit von Hindernissen der Bewegung. Da alles in der Körperwelt
nach Selbsterhaltung strebt, ist jeder Mensch nothwendig ein Egoist. Das
Allgemeine vertritt nur die Gesetzgebung und Zwangsgewalt des Staates.'
Die zweite Periode des Empirismus leitet der Sensualismus Locke's
ein. Alle Erkenntnisse, Begriffe, Vorstellungen und Gedanken werden in
Empfindungen ausgelöst und daraus zusammengesetzt. Das Denken ist formale
Thätigkeit, das Material liefern die Sinne. Der Verstand selbst bringt in-
haltlich keine Vorstellungen hervor, er ist insofern passiv, nicht aktiv. Strenger
ist der Sensualismns bei David Hume ausgebildet. Er ersetzt die formelle
Thätigkeit des Denkens durch die Associationen der ans den Empfindungen
entstehenden Reihen und Gruppen von Vorstellungen, die nach eignen Gesetzen
erfolgen, aus denen Gewohnheiten sich ergeben, die alles im Leben der Seele
erklären sollen. Hierbei wird aber übersehen, daß Gewohnheiten nur dann
sich in der Seele bilden können, wenn diese eine innere'Thätigkeit ist.
Die dritte Entivicklungsstnfe vertritt Condillac. Er leitet aus den
Sinnen Inhalt und Form des geistigen Lebens ab und beschränkt alle Wissen¬
schaft ans die Kenntniß unsrer Empfindungen. Was darüber hinausgeht, liegt
außerhalb unsres Wissens. In Condillac tritt der skeptische Charakter des
Empirismus deutlich hervor. Wie ist nun der Materialismus entstanden,
der geschichtlich deu Sensualismus abgelöst hat? Unmittelbar ist Letzterer nicht
für ihn verantwortlich zu machen, denn er ist nur eine Theorie über den Ur-,
sprung der Erkenntniß und verhält sich deu Fragen gegenüber, welche der
Materialismus beantwortet, skeptisch. Der Materialismus stammt aus einem
Dogmatismus, der willkührliche Annahmen zu Glaubenssätzen erhebt. Mittelbar
wird aber der Sensualismns für den Materialismus haften müssen, insofern
er das geistige Leben nach seinem übersinnlichen Charakter geleugnet und auf
eine Sammlung und Ordnung sinnlicher Eindrücke reduzirt hat.
Der neue Gesichtspunkt, den K ant zur Geltung bringt, ist darin zu suchen,
daß er Körper und Geist als verschiedene Erscheinungsformen des Dinges an
sich angesehen hat, den Körper als die äußere, den Geist als die innere.
Jener wird von der äußern Wahrnehmung in der Form des Raums, dieser
von der innern in der Form der Zeit angeschaut. Das ist der Standort der Kritik
der reinen Vernunft. Eine Ergänzung desselben bildet die Kritik der praktischen
Vernunft, in welcher der sittlich handelnde Geist sich als Ding an sich erkennt,
daraus ergibt sich das Postulat der Freiheit und der Unsterblichkeit der Seele.
Die Vermögen der Seele erkennt Kant als thatsächlich gegeben an; in
Uebereinstimmung mit Lessing und Jacobi hat er das Gefühlsvermögen der
Lust und Unlust als drittes zu dem Erkenntniß- und Begehrungsvermögen
hinzugefügt.
In der Erkenntniß unterscheidet er als Elemente die Anschauungen aus
der Receptivität der Sinne und die Begriffe aus der Spontaneität des Geistes.
Die Letztere begreift in sich den Verstand, der auf die Welt des Endlichen und
Bedingten gerichtet ist, und die Vernunft, welche sich ans das Unendliche bezieht.
Das Begehrungsvermögen wird als entweder abhängig von den Gegen¬
ständen und der sie begleitenden Lust oder Unlust oder als von der Freiheit
des Willens bestimmt gedacht. Der sittliche Mensch handelt unabhängig von
den Antrieben der Lust oder Unlust gemäß der Selbstgesetzgebung des freien
Willens.
Die Gefühle werden nach dem sie begleitenden Urtheil unterschieden, als
Gefühle der Lust, welche das Leben der Seele fördern, und als Gefühle der
Unlust, die dasselbe hemmen. Maßgebend ist das Gefühlsvermögen nnr in
Beziehung auf das Schöne, welches der Gegenstand eines freien und uuiuter-
essirten Wohlgefallens an den Objekten der Vorstellung ist.
Bei Kant hat der Wille den Primat, er ist gegenüber dem vorhergehenden
Naturalismus der Erneuerer einer ethischen Weltansicht in der deutschen
Philosophie.
Schleiermacher's Psychologie ist eigenthümlich und abweichend von den
überlieferten Formen. Sie sieht in den Vermögen die das Leben der Seele
kvnstituirendeu Faktoren und sucht aus der verschiedenen Kombination der¬
selben die Differenzen in dem geistigen Leben der Einzelwesen zu begreifen.
, Die Psychologie als Lehre von dem Leben der Seele in der Verwirklichung
ihrer Bestimmung, als Konstruktion der Geschichte des Bewußtseins aus seinem
Begriffe beginnt mit Fichte. Seinen Grundgedanken finden wir darin, daß
der Geist wesentlich Energie, ein Handeln, Thun und Wirken in sich selber ist,
und daß das Bewußtsein nicht gegeben, sondern nur erworben werben kann
durch die eigene That und Handlung des Geistes. Was er empfangen kann
durch die Sinne oder durch die Vernunft, er hat es nnr durch sein Sichselber-
setzen. Allem Wissen, Vorstellen, Denken, Bewußtsein liegt zu Grunde als
seine Bedingung eine spontane, freie That und Handlung, eine von sich selber
anfangende produktive Thätigkeit.
Schelling sucht das Wesen der Seele und des Geistes aus einer Kon¬
struktion der ganzen Natur zu erkennen. Ans der Natur entsteht der Geist
durch ihre fortschreitende Produktivität, sie stellt sich in ihm als Ganzes, als
Welt im Kleinen dar.
Von der Seele, die alles dnrch ihr Sein ist, unterscheidet er den Geist,
der alles durch eigne That wird. Wie aber die Seele zum Geist wird, kann
er nicht erklären, er sieht diesen Vorgang als einen Abfall an, der wieder
zurückgenommen werden muß. Der Zweck der Geschichte ist, daß der Geist
wieder zur Seele werde.
Hegel erkennt in der gesammten Wirklichkeit ein unendliches Werde», in
welchem mit innerer Nothwendigkeit die niedere Stufe der Entwicklung in die
höhere übergeht. Denn alles ist nur dem Grade nach verschieden. Dies un¬
endliche Werden ist aber weder ein physisches noch ein ethisches Geschehen,
sondern nur ein logisches Werden in der Aufeinanderfolge der Begriffe.
Die Aufgabe der Psychologie ist es, zu zeigen, wie die Natur Seele, die
Seele Geist, der Geist freier Wille wird. Abgesehen von den Erschleichungen,
deren sich die dialektische Methode Hegel's schuldig macht, krankt inhaltlich sein
System daran, daß er die spezifischen Differenzen zwischen Nothwendigkeit und
Freiheit. Bewußtlosigkeit und Bewußtsein auf graduelle Differenzen zurückführt.
Schopenhauer steht ebenfalls auf dem Boden der Evolutionstheorie,
doch sind ihm die Entwicklungsstufen uicht objektiver, sondern subjektiver Natur,
verschiedene Betrachtungsweisen. Als Atheist findet er weder für die Welt als
Ganzes, noch für das individuelle Seelenleben eine Einheit. Die Elemente des
blinden bewußtlosen Willens, der das Wesen der Dinge bildet, und des acci-
dentellen Bewußtseins sind nur zufällig und zeitweilig mit einander verknüpft.
Herbart faßt die Psychologie als Mechanik des Vorstellens auf meta¬
physischer Basis. Wie alle Metaphysik die Widersprüche, die unseren Erfahrungs-
begriffeu anhaften, zu lösen hat, so hat die Psychologie deu Widerspruch zu
beseitigen, der im Begriff des Selbstbewußtseins enthalten ist. Daß aber hier
ein solcher vorliegt, ist eine Behauptung Herbart's, sür die er keinen stichhaltigen
Beweis geliefert hat. Die Seele ist ihm ein einfaches Wesen unbekannter
Qualität, eine unveränderliche, alle Mannichfaltigkeit von sich ausschließende Sub¬
stanz. Der erfahrungsmäßige reiche Inhalt des Seelenlebens entspringt ans
dem Zusammensein einer Vielheit solcher einfacher Wesen. Da die Seele aber als
absolut gedacht ist, so widerspricht eine Vielheit von Erscheinungsformen dem
Begriff der Seele. Und da diese Vielheit an sich zusammenhangslos sein soll, so
kann nicht begriffen werden, wie sie doch in einem Zusammenhange stehend zu denken
ist. Es werde nun, fährt Herbart fort, jedes dieser Wesen seine Qualität an
dem andern geltend machen, dasselbe in seiner Qualität stören, hier aber auch
Widerstand finden, der aus dem Streben nach Selbsterhaltung entspringt. Wie
aber ein absolutes Wesen in seiner Qualität gestört werden kann und sich zur
Selbsterhaltung aufraffen muß, ist nicht einzusehen. Und ebenso läßt sich
nicht begreifen, wie diese Vorgänge statt haben sollen, wenn, wie die Voraus¬
setzung ist, diesen Wesen alle Kräfte und Vermögen fehlen, ohne welche sie ihre
Qualitäten doch nicht zur Geltung bringen können. Der Kardinalfehler dieser
Psychologie ist es aber, daß sie die Seele als ein willenloses bewegliches Ding
ansieht, daß sie auf willkührlicher Gleichsetzung der materiellen mit den psychischen
Erscheinungen ruht. Der Psychologie als Mechanik des Vorstellens liegt ein
sehr beschränkter Kreis psychischer Theorie zu Grunde, wenn sie das Wesen
und das Leben der Seele allein aus ihren Selbsterhaltungen gegen zufällige
Störungen glaubt begreifen zu können. Sie wird der ethischen Natur der
Seele nicht gerecht.
Wir stehen am Schluß unsrer Berichterstattung. Ueber Herbart hinaus
hat Harms den Entwicklungsgang der Psychologie nicht verfolgt, wenn er es
auch an Beziehungen auf die Gegenwart nicht hat fehlen lassen. Es sind die
Bestrebungen des Sensualismus, Skeptizismus und Materialismus in derselben,
denen seine Polemik in besonderem Maße gilt, und gegen die er die vernich¬
tendsten Schläge richtet. Wer sich von der wissenschaftlichen Richtigkeit dieser
Anschauungen überführen will, und wer nach Waffen sucht, um siegreich für
eine religiöse und sittliche Weltanschauung zu kämpfen, wird in diesem Werke
eine reiche Rüstkammer finden.
Im Kaukasus waren russischerseits, ohne daß dies offiziell bekannt gemacht
worden wäre, alle dort stehenden Truppen der Feldarmeemobil gemacht, die
Lokaltruppen auf Kriegsfuß gesetzt, die meisten dort ansässigen Kasakentruppen
und sämmtliche irregulären Reiterschaaren des Kaukasus aufgeboten, so daß im
Ganzen verfügbar waren: In 7 Infanterie-Divisionen 112 Bataillone, 42 Bat¬
terien, in der kaukasischen Schützen - Brigade 4, in der Sappenr-Brigade
3 Bataillone, in den Kavallerie-Divisionen 16 Eskadrons, 20 Ssotnien und
4 zugetheilte Kasaken-Batterien, zusammen 119 Bataillone, 36 Eskadrons und
Ssvtuien, und 46 Batterien der Feldarmee. Ferner waren aufgeboten: 6 Ka-
saken-Bataillone (Plastuny), 15 Kuban-Regimenter mit 90, 8 Terek-Regimenter
mit 32 Ssotnien, und 3 Kasaken-Batterien; endlich 15 Regimenter und 5 ein¬
zelne Ssotnien Irreguläre. Die Stärke dieser 125 Bataillone, 158 Eskadrons
und Ssotnien, 49 Batterien wurde berechnet zu 158,000 Maun reguläre und
Kasaken-Truppen, die irregulären Reiter zu rund 8000 Pferden. Den Ober¬
befehl über die sämmtlichen ans dem asiatischen Kriegsschauplatz verwendeten
Truppen führte der Statthalter des Kaukasus, Großfürst Michael von Ru߬
land, Bruder des Kaisers Alexander.
Bei den Unruhen im Kaukasus genügten die (vorstehend nicht besonders
ausgeführten) Lvkaltruppen nebst den Ersatztruppen ?c. bei weitem nicht, um
die Ruhe im Lande zu erhalten und die Verbindungen quer über das Hoch¬
gebirge hinweg zu sichern. Es mußten vielmehr auch beträchtliche Theile der
Feldarmee, zur Bekämpfung der Aufstände und zum Niederhalten ganzer Ge¬
bietstheile, im Innern des Landes zurückgelassen werden. So blieb die 20. In¬
fanterie-Division im Terek-Gebiet, die 21. Division in Daghestan und eine
Brigade der 38. Division (Regimenter 149 und 150) im Bezirk Eriwcm. Die
Regimenter Ur. 154, 155 und 162 wurden, mit Kasakentruppen vereint, in
fliegenden Kolonnen verwendet.
Für die mobile Armee waren nach Abzug der genannten Truppen nur
67 reguläre Bataillone verfügbar; die Kavallerie und Artillerie verminderten
sich allerdings nicht in dem gleichen Maße. Aber auch die vorhandenen Kräfte
traten nicht vereinigt auf, sondern wurden gleich bei ihrer ersten Versammlung
am unteren Rion, bei Alexandrapol und bei Eriwcm, also an Punkten zu¬
sammengezogen, die in grader Linie 300 Kra von einander entfernt und durch
fast unüberschreitbare Hindernisse getrennt waren. Diesen so weit getrennten
Abtheilungen waren selbstverständlich auch ganz verschiedene Aufgaben zuge¬
dacht. Eine Vereinigung der getrennten Kolonnen war nur nach weitem Vor¬
dringen in Feindesland möglich, oder auf großen Umwegen innerhalb der russi¬
schen Grenzen.
Auf dem Kriegsschauplatze in der europäischen Türkei sahen wir nach den
gelungenen Donanübergängen die Russen, unter gänzlicher Nichtachtung des
Gegners, sich so weit ausdehnen, daß sie, als endlich der Gegner anfing zu
handeln, ihm an keinem Punkte gewachsen waren; hier kann man von vorn
herein fragen: Wurde der Gegner so gering geschätzt? Welche Absicht ge¬
dachte man zu verfolgen? Warum blieb die lange Zeit der Vorbereitung so
gänzlich unbenutzt, um, wenn die Theilung ursprünglich geboten war, nicht
wenigstens an einem Punkte eine zweifellose Uebermacht zu versammeln und
so das Vorgehen gegen jeden Rückschlag zu sichern? Wir vergessen nicht, daß
die Versammlung, Verpflegung und Bewegung großer Heeresmassen in dem
unwirthlichen Hochlande Armenien's noch weit schwieriger ist, als in der euro¬
päischen Türkei. Aber was im Drange der Noth im Juli und August in's
Werk zu setzen möglich war, das konnte in voller Muße im April doch auch
geschehen. Ohne den so bald erfolgenden Rückschlag kam ja der Aufstand im
Kaukasus gar uicht so zur Blüthe, blieb die lange Gefährdung der Verbin¬
dungslinien auf dem Landwege erspart, so daß man direkt sagen kann, die
rechtzeitige Verstärkung des zum Kampfe gegen die Türkei bestimmten Heeres
machte auch weitere Truppen aus dem Inneren des Kaukasus zur Verwen¬
dung im Felde frei.
Wer erinnerte sich damals nicht des methodischen Vorgehens der Preußi¬
schen Heere in dem Feldzuge 1864, wo, auch dem kleinen Dänemark gegenüber,
jedem Schritte vorwärts die Heranziehung neuer Streitkräfte voranging, zur
Sicherung der vollsten Ueberlegenheit. Kaum hatten die zuerst versammelten
drei preußischen Divisionen (Garde, 6. 13.) in Gemeinschaft mit dem österreichi¬
schen Korps Gablenz die Grenze Schleswig's überschritten, so übernahm hinter
ihnen die 5. Division den Schutz der holsteinischen Küste. Mit dem Ueber-
schreiten der Kolding-Aa dnrch die Oesterreicher rückte eine neue Brigade vor
Düppel, und Truppen aus dem fernen Schlesien kamen, diese Brigade in Hol¬
stein zu ersetzen. So lange Düppel nicht genommen war, erfolgte kein Schritt
vorwärts über Friderieia und Vene hinaus. Als die Stellung genommen, die
dänische Feldarmee bereits geschlagen war, deckte das Belagerungskorps die
Küste Schleswig's, und ein volles Armeekorps vollzog neben den Oesterreichern
die Besetzung Jütland's bis zum Limfjord.
Wer sagte sich ferner nicht, daß durch stetes Bereithalten von Reserven
im Jahre 1866 die preußischen Armeen stärker an der Donau anlangten, als
sie seiner Zeit in Böhmen eingerückt waren? Und die Russen waren die Ersten
gewesen, das Gute und Richtige dieses Verfahrens, in Wort und Schrift, laut
»ut öffentlich anzuerkennen. Waren trotzdem diese Erfahrungen für Rußland
verloren gewesen? Freilich wußte 1864 wie 1866 alle Welt, daß neben der
diplomatischen Geschicklichkeit doch wesentlich das Ausbleiben jedes militärischen
Mißerfolges es war, welches die Einmischung des Auslandes in die deutschen
Kriege fernhielt -— aber hatte Rußland weniger Grund, einen solchen Mi߬
erfolg und seine Folgen zu fürchten? Hatte es vor allem Ursache, trotz der
Ueberlegenheit seiner Hilfsquellen, gerade der Türkei gegenüber, das Verhcing-
niß geradezu herauszufordern? Oder hatten die russischen Feldherren und
Diplomaten vergessen, daß man seinen Gegner nicht ungestraft verachten darf?
Mit gerechtem und unverhohlenem Staunen sah die denkende Welt Enropa's
dies Vorgehen der Russen in Asien. Die Russen selbst aber sollten ihren
Fehler zu spät erkennen, und hier wie in Europa mir der absoluten Unfähig¬
keit der Türken zu einer ernsten Offensive die Rettung ihrer Heere und die
Zeit zu weiteren Rüstungen verdanken.
Die Versammlung der russischen Streitkräfte erfolgte entsprechend den drei
Hauptstraßen, welche vom russischen Gebiet nach Erzerum, der Hauptstadt
Armenien's, führen, in drei völlig getrennten Abtheilungen. Ans dem rechten
Flügel, am untern Rion, wurden unter dem General Oklvbshio die 41. und
halbe 19. Infanterie-Division, mit je 6 und 2 Batterien, 3 Schützen-Batail-
lone, 1 Kasaken- und 1 Sappeur-Bataillon, 4 Regimenter Kasaken und Irre¬
guläre und noch 2 Batterien der 38. Division, im Ganzen 29 Bataillone,
20 Ssotnien, 10 Batterien, also nach deutschem Begriffe ein starkes Armeekorps
vereinigt, um längs der Meeresküste über Nikolaja auf Batna und eventuell
von dort auf Erzerum vorzugehen. Im Zentrum wurde die Hauptmacht bei
Alexandrapol versammelt, zum Vorgehen gegen Kars und von da auf der
großen Straße nach Erzerum. Einem Theile derselben wurde zunächst das
Vorgehen von Achalzich ans Ardahan zur Aufgabe gestellt. Diese Heeres-
Abtheilung unter dem Oberbefehl des General Loris-Melikow bestand aus zu¬
sammen 30 Bataillonen, 93 Eskadrons und Ssotnien und 16 Batterien. Davon
gehörten zu der gegen Ardahan bestimmten Kolonne unter General Dewel: 8
(bald 12) Bataillone der 38. und 39. Division, 1 Sappeur-Bataillon, 14 Ssot¬
nien Kasaken nud Irreguläre, nebst 5 Batterien, zu der Alexandrapol-Kolonne:
die Kaukasische Grenadier-Division mit 16 Bataillonen nud 6 Batterien,
1 Sappeurbataillon, die beiden Kavallerie-Divisionen (excl. ein Dragoner-
Regiment) mit 12 Eskadrons, 22 Ssotuien und 4 Batterien, endlich 45 Ssot¬
nien Kasaken und Irreguläre, nebst 1 Batterie, zusammen also 17 Bataillone,
79 Eskadrons und Ssotnien, nebst 11 Batterien. Schließlich wurde auf dem
linken Flügel bei Eriwan eine Kolonne gebildet, mit der Aufgabe, über Bajaset
auf Erzerum vorzurücken. Sie bestand unter dem General Tergnkassvw aus
der halben 19. Division (8 Bataillone, mit 2 Batterien), 1 Schützenbataillon,
1 Dragoner- und 1 Kasaken-Regiment mit 1 Batterie, 2 Regimentern Irregu¬
läre und 4 Batterien der 38. Division, im Ganzen aus 9 Bataillonen, 20 Es¬
kadrons und Ssotnien mit 7 Batterien.
Sei's erlaubt, vorauszuschicken, daß die Wirksamkeit dieser verschiedenen
Kolonnen so ziemlich in umgekehrtem Verhältniß zu der ihnen gegebenen Stärke
stand.
Der vorstehend angeführten Versammlung der russischen Streitkräfte gegen¬
über, die in 68 Bataillonen, 133 Eskadrons und Ssotnien, 33 Batterien, rund
55,000 Mann, 13,000 Pferde, 250 Geschütze zählte, wurde die türkische Auf¬
stellung um Mitte April angegeben, wie folgt:
Bei Batna 22,000 Mann, in Ardahan 6700, bei Kars 14,000, bei Ba¬
jaset 5000, bei Erzerum 13,000 und bei Wan 10,000 Mann; zusammen in
108 Bataillonen, 32 Eskadrons, 30 Batterien, 70,700 Mann, eingerechnet die
Festungsbesatzungen und irregulären Formationen.
Die beiderseits verfügbaren Streitkrüfte waren also im ersten Augenblick
an Zahl fast gleich, aber mit jedem Schritte, den die Russen vorwärts thaten,
wurde ihre Streitmacht schwächer dnrch die Nothwendigkeit, überall Besatzungen
zurückzulassen zur Sicherung des Rückens und zum Niederhalten der Ein-
Wohner. In gleichem Verhältniß wuchs die Zahl der Kämpfer bei den Türken,
direkt durch die Flüchtlinge, welche aus dem von den Russen besetzten Gebiet
als Irreguläre zum türkischen Heere gingen, indirekt durch den Widerstand der
zurückbleibenden Bevölkerung selbst.
Außerdem besaßen die Türken in ihrer Flotte ein Streitmittel, dem die
Russen nichts entgegen stellen konnten. Und die Flotte war von Batna aus
besonders thätig, sowohl in der Verhinderung des Vormarsches auf der Ufer¬
straße gegen Batna, als durch Beschießung der russischen Küstenforts und
dadurch, daß sie Streitkräfte an der kaukasischen Küste landete, und so den
Kampf direkt in den Rücken des russischen Heeres trug.
Am 24. April überschritten, wie in Europa so auch in Asien, die russischen
Heere die türkische Grenze. Bei der weiten räumlichen Trennung, in der sie
standen, müssen wir das Vorgehen eines jeden einzeln verfolgen.
Die rechte Flügelkolonne, das Rion-Detachement, war in drei Kolonnen
von Nikolaja, Osurgeti und östlich davon von dem Grenzposten Tscholcck auf¬
gebrochen und ging so auf schlechten Wegen, außerhalb des Schußbereichs der
türkischen Panzerschiffe, über den Grenzfluß Tscholok, Am 25. kam es beim
Ueberschreiten des Ochtschcunuri an mehreren Stellen zu Gefechten, die schlie߬
lich mit der Einnahme der Höhen von Mucha-estate endeten. Hier wurden
am 26. die drei Kolonnen vereinigt und die Höhen stark befestigt. Ein wei¬
teres Vorgehen verbot die Stärke und Stellung des Feindes, während zugleich
die Feindseligkeit der Einwohner immer offener zu Tage trat.
Am 11. Mai wurden in einem, fast den ganzen Tag dauernden Gefecht
die Höhen von Chutzubani genommen, und die Türken auf das linke Ufer des
kleinen Küstenflusses Atschkua zurückgetrieben. Schon jetzt aber hatte General
Oklvbshio seine Aufmerksamkeit wesentlich auch den Vorgängen in seinem
Rücken zuzuwenden und nach und nach 8 Bataillone mit Artillerie zur Be¬
kämpfung des Aufstandes in Abchasien zu detachiren.
Am 28. Mai gelang es, vorübergehend über den Kintryschi vorzudringen
und die Höhen von Scnneba zu besetzen. Eine am 23. Juni unternommene
gewaltsame Rekognoszirung gegen Tsichedsiri führte nach einem heftigen Rück¬
zugsgefechte am 24. Juni dazu, daß das Detachement von Chutzubani am
28. Juni wieder in die Stellung von Mucha-estate zurückging.
Die Thätigkeit des Rion-Detachements blieb so ohne Zusammenhang mit
den Vorgängen bei den übrigen Theilen der Operationsarmeen, dagegen reihen
sich ihr dicht an die Kämpfe in dem Küstengebiet des Kaukasus,
namentlich in Abchasien.
Die Türken hatten den Einmarsch vom 24. April schon am 26. beant¬
wortet durch eine, auch am 27. wiederholte, Beschießung des Postens Nikolaja
seitens dreier Panzerschiffe. Am 5. Mai folgte eine Beschießung von Poli.
Am 12. Mai wurde Dorf Gndanty, etwa halbwegs zwischen Poli und
Suchnmkale beschossen und hier 1000 Mann früher Ausgewanderte gelandet,
Truppen aus Suchnmkale unter General Krawtschenkv rückten ihnen entgegen.
Am 13. wird Otschamtschiri bombardirt, während rnssischerseits der Dampfer
Konstantin bei Nacht vor Batna erscheint und ein türkisches Panzerschiff ver¬
geblich durch Torpedos anzugreifen sucht. Vom 14. Mai ab wird Suchnm¬
kale beschossen, und am 16. von den Russen geräumt. General Krnwtschenko
ist dann bis zum 24. Mai von den Aufständischen vollständig eingeschlossen.
Vom 17. ab haben die Türken die Beschießung der Küstenorte fortgesetzt und
an verschiedenen Punkten früher Ausgewanderte gelandet. Ganz Abchasien ist
im Aufstand. Am 30. Mai aber langt General Alchasow vom Rion-Korps
am Flusse Kodor an und schlägt hier die Aufständischen zurück. Am 1. Juni
vereitelt er eine Landung bei Ssotscha; am 13. schlägt er einen Angriff zu
Land und Wasser ans Jlori ab; am 15. Juni wird ihm der Oberbefehl über
alle Truppen in Abchasien und Kulans übertragen, am 23. schlägt er die In¬
surgenten bei Mergula und Molina, am 27. Juni entreißt er ihnen nach hartem
Kampfe Otschamtschiri. Längere Zeit ist er dann ans reine Defensive angewiesen,
beginnt aber am 19. August das Vorgehen gegen Ssuchnmkalc, nimmt am 23.
die Stellung von Gudauty und eröffnet am 28. die Angriffsoperationen gegen
Suchumkale. Am 31. August wurde dieser feste Platz von den Türken und
Emigranten geräumt. Erst nachdem dies geschehe», war es möglich, den Auf¬
stand in Abchasien völlig zu unterdrücken, und konnten im Anfang September
dem Rion-Korps die so lauge entbehrten Kräfte wieder zugeführt werden. Der
Aufstand in andern Theilen des Kaukasus hatte keinen so direkten Einfluß auf
den Gang der Operationen gegen die Türken.
Bei dem Zentrum der Operationsarmee war die Achalzich-Kolonne, in
Widerspruch mit ihrem Namen, bei Achalkalaki zusammengezogen, und trat auf
beschwerlichen Wegen von hier ans den Vormarsch an. Nach Ueberschreitung
des 2100 in. hohen Kammes des Tschnldyr-Gebirges kam die Kolonne mit
ihrer Avantgarde am 28. April bei Bagrjachotun an. Hier wurde Halt ge¬
macht, und, nach schneller Beruhigung der Bewohner dieser Gegend, am I. Mai
durch Kavallerie-Detachements die Verbindung mit der bei Zaun stehenden
Hauptkolonne hergestellt. Die Festung Ardcchau wurde gleichzeitig möglichst
eingehend rekognvszirt.
Die Hauptkolonne hatte am 24. April bei Alexandrapol die Grenze
überschritten, und rückte in mehr offener Gegend, unter leichten Kämpfen mit
den türkischen, nahe der Grenze stehenden Vortruppen, aber ohne ernsten Wider¬
stand zu finden, bis in die Gegend von Kars. Auf dem Hinmarsche wurde
am 26. bei Dshemusli eine Brücke über den Kars-Fluß geschlagen, und das
vorwärts derselben gelegene Kürjukdara zur Sicherung der Verbindungen be¬
festigt. Am 28. April erreichte die Kolonne Zaun, noch 14 Ka von Kars
und 11 Ku nördlich der Hauptstraße von Alexandrapol, nach Ardahan zu ge¬
legen. Die südlich der Hauptstraße vorgegangene Reiterei begann an demselben
Tage, von Wisinkjew aus, eine Rekognoszirung um die Südseite von Kars
herum gegen die Straße nach Erzerum. Um einer drohenden Einschließung
zu entgehen, verließ Mukhtar Pascha, der Oberbefehlshaber der türkischen
Streitkräfte in Asien, am 28. April Kars mit 8 Bataillonen und ging in der
Richtung auf Erzerum zurück. Am 29. April kam die russische Kavallerie mit
dieser Kolonne in's Gefecht. Am 30. kehrte die Erstere nach einem neuen un¬
bedeutenden Gefecht gegen Ansfalltrnppen ans Kars in das Lager von Wisin¬
kjew zurück.
Die Truppen blieben während der Vorbereitungen zur Einschließung von
Kars und während der Heranziehung des Belagerungstrains in ihren Stel¬
lungen, nur Kavallerie-Detachements suchten die Verbindung mit den Nachbar¬
kolonnen auf. Am 6. Mai ward durch solche zur Eriwcm-Kolonne entsendete
Detachements Kagysman besetzt. Am 7. führte eine Rekognoszirung des
nördlichen Vorterrains vor Kars zu einem ernsteren Ansfallgefecht.
Inzwischen hatte General Dewel vor Ardahan erkannt, daß seine schwachen
Kräfte weder zur Einschließung, noch zu einem Angriff ans diesen Platz aus¬
reichten. Der General Loris-Melikow rückte deshalb am 10. Mai mit zwei
Grenadier-Regimentern, 12 Eskadrons und Ssotnien und 3'/z Batterien von
Zaun ab, und kam am 13. Mai bei Paulis, 9 Ku von Ardahan, 13 Ka von
der Stellung des General Dewel bei Bagrjachotun, an. Am 15. Mai traf
auch Belagerungsgeschütz vor Ardahan ein.
Loris-Melikow beschloß nun einen gewaltsamen Angriff zu wagen. Die
Befestigungen von Ardahan bestehen, abgesehen von der Umfassungs¬
mauer und einer Citadelle, aus einer Reihe einzelner, die Stadt umgebender
Schanzen. Vorgeschoben, etwa 3 Ku, liegen zwei größere Werke, eins, Fort
Ramasan, im Norden, das andere, die Befestigungen von Emir Ogly (ein
starkes geschlossenes Fort nebst einigen offenen Schanzen) auf den Höhen von
Gelya Werdy, im Südosten der Stadt. Gegen Letzteres, welches von anderen
Werken nicht unterstützt werden konnte, richtete sich zunächst der russische
Augriff.
In der Nacht zum 16. Mai wurden 11 Batterien angelegt und theils
mit Feld-, theils mit Belagerungs-Geschützen armirt. Fünf der Batterien be¬
schossen Emir Ogly, die übrigen die Befestigungen vor der Südseite der Stadt.
Am 16. Mai früh begann General Dewel die von mehreren Reihen Schützen-
gruben aus vertheidigten Höhen zu ersteigen; um 10 Uhr war der obere Rand
der Höhen erreicht, die Türken in das Fort zurückgetrieben, gegen 1 Uhr schritt
der General zum Sturm gegen das von 4 Bataillonen mit 10 Geschützen
vertheidigte Werk; nach wenigen Minuten war dasselbe mit einem Verlust von
118 Köpfen genommen.
In der Nacht vom 16. zum 17. Mai wurden auf den eroberten Höhen
neue Batterien gegen die Südfront eingegraben. Um 3 Uhr früh begann aus
allen Batterien das Feuer gegen diese Front. Bald nach Beginn desselben
glaubte man Truppenbewegungen und große Unruhe infolge der einschla¬
genden Granaten zu bemerken. Die von Kars herangeführten Truppen unter
General Heiman, verstärkt durch Theile der früheren Achalzich-Kolonne, wurden
deshalb sofort zum Sturme befehligt, ohne eine weitere Wirkung des Feuers,
oder das Eingreifen des General Dewel abzuwarten, der mit den Truppen,
welche deu Angriff am 16. ausgeführt, gegen die Werke nördlich des Kur-
Flusses deiuonstrireu sollte.
Der Seur in erfolgte in vier Kolonnen. Die Besatzung der Schanzen
wartete den Angriff nicht ab, sondern floh in die Stadt zurück. Die russischen
Bataillone drängten dicht nach. Ein langer regelloser Kampf an den Brücken
über den Kur und in den Straßen der Stadt folgte. Um 8 Uhr Abends war
Ardahan in den Händen der Russen, bis auf das vereinzelt liegende
Fort Ramasan. Auch dies wurde in der Nacht zum 18. Mai von den Türken
gerannt, ohne daß die dort stehenden Truppen des General Dewel es sogleich
bemerkt Hütten. Der Verlust der Russen am 17. betrug 300 Köpfe, die
Türken ließen allein 1750 Todte uns dem Platze. Die von 14 Bataillonen
vertheidigte, mit 92 Geschützen armirte Festung erlag so mit verhältnißmäßig
geringem Verluste dem Angriffe von im Ganzen 16 Bataillonen mit 65 meist
nur Feldgeschützen. Es war die erste größere Waffenthat des ganzen Krieges
und trug nicht wenig dazu bei, das Selbstgefühl der Russen gegenüber den
Türken zu steigern.
Ardahan blieb von einem Detachement unter Oberst Komarow besetzt.
Es wurden von hier aus zunächst nur Streifzüge gegen Peunek und Olti
unternommen, um die Verbindung zwischen Kars und Batna weit in's Innere
hinein zu unterbrechen und gegen Kars vorrückende türkische Streitkräfte in der
Flanke zu beobachten. Mit allen übrigen Truppen kehrte General Loris-
Melikow in das Lager von Zaun vor Kars zurück.
Hier hatte in seiner Abwesenheit der General Komarow am 16. Juli ein
neues ernsteres Rekognoszirungsgefecht bestanden, in dem unter anderem
blos die Daghestanische Reiterbrigade ihren Führer, General Tschelokajew und
80 Köpfe verlor. Nach Ankunft der Truppen von Ardahan am 24. und
25. Mai, also genau einen Monat nach Eröffnung der Feindseligkeiten, begann
die Ausführung der Maßregeln zur Einschließung und Beschießung von
Kars. Zur Angriffsfront war die Nordfront ausersehen.
Bald aber drohte dem Einschließungskorps eine neue Gefahr durch die
Annäherung der türkischen Kavallerie. Loris Melikow rückte deshalb, nachdem
noch am 25. ein neuer türkischer Ausfall zurückgewiesen war, am 29. Mai
mit der Grenadier-Division und einem großen Theile der Kavallerie nach
Hadschi-Chain, 15 Kra östlich Kars, und schob die Kavallerie nach Ardost am
Karsflnsse (ebensoweit von Kars, aber 10 Kra westlicher, nahe der Sraße nach Er¬
zerum) vor. Von dort aus überfiel die Reiterei in der Nacht vom 30. zum
31. Mai ein Korps von etwa 4000 türkischen Reitern im Bivak bei Begli-
Achmet, an der Straße nach Erzerum, 8 Ku westlich Ardvst, und zersprengte
dasselbe vollständig. Die Kavallerie ward dann gegen Midschingert auf
derselben Straße zur Beobachtung weiter vorgeschoben, und eine Grenadier-
Brigade zur Unterstützung bei Ardost aufgestellt, der Rest der Division kehrte
zum Belagernugskorps zurück.
Auf Grund der während dieser Zeit vorgenommenen Rekognoszirungen
wurde das Gros der Truppen aus dem Lager vou Zaun auf die Höhen
westlich Kars, nach Arawartcin, Bozgana und Kogaly verlegt. Vou hier wurden
Vorposten gegen die West- und Nordseite der Festung vorgeschoben, aber erst
am 8. Juni war Kars vollständig eingeschlossen.
Die Stadt Kars liegt im Thale des Kars-Flusses, eingeschlossen von
einer alten Stadtumwcillung und beherrscht von der, auf einem Felskegel, in
einer Biegung des Flusses, dicht an der Stadt gelegenen Zitadelle. Durch
einen Kreuz selbständiger Werke, welche in einer Entfernung von 2 — 3 Ka
von der Zitadelle, und in einem Bogen von 15 —16 Kri Länge, die umliegenden
Höhen krönen, ist Kars in ein großes verschanztes Lager verwandelt, die de-
tachirten Forts hießen, der Reihe nach, im Norden und auf dem rechten Ufer
des Flusses angefangen: 1. Fort Arad, 2. Karadag, 3. Hafiz-pascha, 4. Karly,
5. Ssuwari, dieses wieder dicht am Flusse südlich der Stadt gelegen. Ans dem
linken User lagen in einer inneren Linie, nahe über dem Thalrand des Flusses,
die Forts 6. Tschin, 7. Weli-Pascha, 8. Inglis; in der äußern Linie aber:
9. Techmaß, 10. Ties-tepessi, 11. Las-tepessi und 12. Mundus; dieses wieder
nördlich, nahe dem Flusse und 1100 in westlich von dem zuerst genannten
Fort Arad. Zum Angriff war die Nvrdfront ausersehen. Ehe die Erdarbeiten
beginnen konnten, gelang es den Türken noch einmal, in einem Ausfall am
15. Juni bis auf die Höhen von Tschiftlik, 6 Ka von den Forts, 4 Ka
von Arawartan, vorzudringen, und erst nach längeren Kampfe wurden sie end-
giltig in die Festung zurückgeworfen.
In der Nacht von 16. zum 17. Juni wurden 5 Batterien armirt und
eröffneten am 17. früh ihr Feuer gegen die Forts Mundus, Arad und Karadag.
Dieses Feuer dauerte unter geringen eignen Verlusten in den nächsten Tagen,
langsam, doch ohne Unterbrechung fort. Die Aufmerksamkeit der russische»
Heerführer aber wurde jetzt nach einer andern Seite abgelenkt.
Die südlichste Abtheilung der russischen Operationsarinee, die Eriwan-
Kolonne, war von dem General Tergukassvw bei Jgdir, 45 Kra nördlich
Bajaset, versammelt worden; von hier ging zunächst die Avantgarde bis zur
Grenze vor, um die Straßen für Truppen brauchbar herzustellen. Am 28.
April folgte das Gros der Kolonne und besetzte am 30., ohne Kampf, das
von den Türken geräumte Bajaset. Nach Einrichtung von Depots PP. und
Beruhigung der Gegend südlich der Stadt gegen Wein hin, wurde am 8. Mai
auf der Straße uach Erzerum Diadin erreicht, 30 Kra westlich Bajaset; am
13. Mai rückte die Avantgarde bis Surp Ohannes vor, einem alten armenischen
Kloster an der genannten Straße; am 15. folgte dahin das Gros, nachdem
die Avantgarde bereits Fühlung gewonnen hatte mit dem von Erzerum an¬
rückenden Feinde. Am 16. Mai mußte jedoch ein Theil der Truppen nach
Bajaset umkehren, weil diese Stadt durch einen Angriff von Süden, von Wan
her, bedroht erschien; die Annäherungen russischer Verstärkung verscheuchte die
Feinde. Am 26. Mai wurden Nekognoszirungs-Abtheilungen gegen Karakilissa,
45 Kra westlich Surp Ohannes, vorgeschickt und fanden dort 12 türkische
Bataillone in einem leicht befestigten Lager. Bei Annäherung des russischen
Gros räumten die Türken am 4. Juni Karakilissa, am 9. Juni Toprakkale
und am 10. Seidekan, beide westwärts Karakilissa. Damit hatte die Eriwan-
Kvlonne auf der Straße Bajaset-Erzerum die 2000 in hohe Wasserscheide
zwischeu dem Euphrat und Aras erreicht, auf der die Türken zu ernstem Wider¬
stand sich eingerichtet hatten.
Am 15. Juni fand am Fuße der Höhen die russische Avantgarde den
ersten Widerstand, am 16. griff Tergukassvw die starke türkische Stellung bei
Daghar an und nöthigte nach sechsstündigem Ringen den Gegner zum voll¬
ständigen Rückzüge, der aber nur bis Delibaba, 15 Kw, vom Gefechtsfelde,
ging. Tergukassow stand jetzt fast in gleicher Höhe mit der Reiterei des
Generals Loris Melikow, die wir vorhin bei Midschiugert, an der Straße von
Kars nach Erzerum, verlassen haben.
Ein weiteres Vordringen verbot dem General Tergukassow theils seine"
eigene Schwäche, theils eine neue Bedrohung seiner Rückzugslinie durch einen
Angriff ans Bajaset. Am 14. Juni hatte sich unerwartet eine Schaar
von gegen 13,000 Kurden und anderen irregulären Truppen bei Teporis,
18 Ka südlich Bajaset, gesammelt. Diese Schaar trieb am 17. Juni alle
russischen Vortruppen in die Stadt, nahm diese selbst am 18. Juni und schloß
die russisch e Besatz ung in die Zitadelle ein, gegen welche bald auch
mit einer Beschießung vorgegangen wurde.
Tergukassow, außer Staude, hier Hilfe zu bringen, verblieb einige Tage
abwartend und beobachtend in seiner Stellung. Am 21. Juni wurde er aber
von überlegenen (auf 20 Bataillone geschätzten) türkischen Kräften in Front
und beiden Flanken angegriffen und konnte nur mit Mühe und mit Verlust
von 454 Köpfen sich bis zur Dunkelheit in seiner Stellung behaupten. Froh,
daß die Türken am nächsten Tage den Angriff nicht erneuerten, blieb er bei
Daghar stehen.
Türkischerseits hatte Mukhtar Pascha jetzt alle in Erzerum verfügbaren
Verstärkungen herangezogen und so 35,000 Mann hinter dem Soghcinly-
Dcigh vereinigt. Ohne daß die russische Kavallerie bei Mioschingert es bemerkte,
hatte er einen Theil seiner Streitkräfte nach Delibaba auf die Straße nach
Bajaset geführt und dem Vordringen des General Tergukassow ein Ziel gesetzt.
Ismael Pascha deckte unterdessen in der verschanzten Stellung von Zewin
die Straße von Kars. General Loris Melikow erkannte, daß nur ein Vorstoß
ans Koprikoi, Uebergang über den Aras und Vereinigungspunkt der Straßen
nach Erzerum, der Eriwan-Kolonne Luft machen, und die Verbindung mit
dieser ermöglichen könne. Die Stellung von Zewin, von der er nicht einmal
wußte, wie stark sie besetzt war, konnte dabei nicht unbeachtet bleiben, ohne den
Rückzug ernstlich zu gefährden. Sie sollte zuerst genommen werden. Die ganze
Grenadier-Division wurde dazu in Marsch gesetzt und war am 24. Juni im
Lager von Midschingert vereinigt; am 25. erfolgte der Angriff. Ismael Pascha
stand mit 19,000 Mann in einer starken, gut eingerichteten Stellung auf den
steilen, zum Theil felsigen Höhen hinter dem Zewin-Flusse. Die Russen
konnten sich der Stellung ziemlich ungefährdet nähern, müßen aber dann im
feindlichen Feuer den Fluß durchschreiten und die steilen Höhen ersteigen.
Nach einem anstrengenden Marsche und zweistündiger Ruhe schritten die
Russen gegen 2 Uhr zum Angriff. Auf dem linken Flügel vertreibt das
16. Grenadier-Regiment die türkische Infanterie aus allen Stellungen, kommt
aber vor einer Batterie, die durch eine Felsspalte' gegen Annäherung gedeckt
ist, zum Stehen. Eine Umgehung durch Kavallerie scheitert ebenfalls an der
Ungangbarkeit des Terrains. Im Zentrum erklettern die Regimenter No. 14
und 15 mit großer Tapferkeit den felsigen Uferrand und nehmen mehrere
Schützengräben, oben angekommen aber treibt vereinigtes Artillerie- und In¬
fanterie-Feuer sie stets wieder hinab. Eine Umgehung des türkischen linken
Flügels durch das 13. Grenadier-Regiment bringen Kavallerie-Angriffe zum
Stehen, und weisen sie schließlich ab. Am Abend macht allgemeine Erschöpfung
dem Kampfe ein Ende. Die Russen hatten 850 Köpfe verloren.
Eine Erneuerung des Angriffs am 26. Juni hielt Loris Melikow nicht
für thunlich, denn Mukhtar-Pascha, dessen Kavallerie sich schon am 25. gezeigt,
war, von Chorasan heranmarschirend, in gefahrdrohender Nähe. Die russischen
Truppen wurden deshalb bei Millidüs (6 Ka nordöstlich Midschingert in der
Richtung auf Kars) konzentrirt und am 29. Juni der Rückzug auf Kars an¬
getreten. Die Verbindung mit der Eriman-Kolonne war damit aufgegeben.
General Tergukassow, sich selbst überlassen und seines Stützpunktes Bajaset
beraubt, konnte nur noch an den Rückzug deuten. Die Türken, von dieser
Seite nicht mehr bedroht, begannen mit verstärkten Kräften den Vormarsch
zum Entsatze von Kars. Am 9. Juli hoben die Russen die Einschließung
dieser Festung auf; das Belagerungsgeschütz wurde uach Alexandrapol zurück¬
geschafft; die Truppen zogen sich in den früheren Lagern von Zaun und Had-
shiwali zusammen. Von dort wurden sie bei weiterem Vorrücken Mukhtar
Pascha's allmälig bis zum 20. Juli in die schon aus dem Vormarsch einge¬
richtete Stellung von Kürjukdara zurückgenommen. Die Türken machten nach
dem Eutsatze von Kars Halt, ihre Offensiv - Fähigkeit war erschöpft. Statt
den geschlagenen Russen auf dein Fuße zu folgen, den Krieg auf russisches
Gebiet zu übertragen und hier die Früchte der im Kaukasus hervorgerufenen
aufständischen Bewegung zu ernten, machten sie vor der Grenze Halt und
ließen den Russen Zeit, sich zu erholen, bis sie zur Wiederaufnahme der An¬
griffsbewegungen stark genug geworden waren. In einer Stellung am
Aladsha-Dagh, bei Wisinkjew, stand Mukhtar Pascha den Russen wochenlang
unbeweglich gegenüber.
Der General Tergukassow erfuhr am 26. Juni den Ausgang des Gefechts
von Zewin. Am 27. trat er den Rückzug an, dem sich eine große Anzahl
flüchtender armenischen Christen mit ihrer Habe anschloß. Dieser große
Troß erschwerte und verlangsamte seine Bewegungen und nöthigte zu manche»
Kämpfen mit der irregulären Reiterei der Türken, die zunächst allein den
Russen folgte. Am 28. Juli erreichte die Eriwan-Kolonne Seidekan, am 30.
Karakilissa, am 2. Juli Surp Ohannes. Hier mußte man die große Straße
verlassen, um abseits derselben die russische Grenze zu erreichen. Am 4. Juli
durchzog die Kolonne die Grenzpässe und traf am 5. wieder an ihrem Aus¬
gangspunkte, in Jgdir ein. Die Thätigkeit der Truppen war damit noch nicht
zu Ende; es galt jetzt, eine Ehrenpflicht zu erfüllen und der seit 18. Juni
eingeschlossenen Besatzung von Bajaset wenn möglich Hilfe zu bringen.
Nach der nöthigsten Ruhe brach General Tergukassow wieder auf und traf am
9. Juli mit 8 Bataillonen, 19 Eskadrons und Ssotnien und 24 Geschützen
vor Bajaset ein. Am 10. griff er die Belagerer an, zog nach hartnäckigem Kampfe
die befreite Besatzung an sich, und kehrte dann mit derselben nach Jgdir zurück.
Diese Truppenabtheilung hatte am Tage der Einschließung, dem 18. Juni,
30 Offiziere, 1587 Mann gezählt. Während der 23tägigen Belagerung waren
geblieben 2 Offiziere, 114 Mann, waren verwundet worden 7 Offiziere, 359
Mann, alle Uebrigen waren durch Mangel und Anstrengungen im höchsten
Grade erschöpft. Ueber andern großen Ereignissen war diese heldenmüthige
Vertheidigung im vorigen Jahre weniger beachtet und schnell vergessen worden;
der Kaiser von Rußland sicherte ihr ein dauerndes Angedenken durch ein
silbernes Ehrenzeichen, das er allen Teilnehmern an der Vertheidigung von
Bajaset verlieh.
Um Mitte Juli waren alle russischen Kolonnen wieder auf den Punkten
eingetroffen, von denen sie Ende April ausgegangen waren. Bis auf die
Einnahme von Ardahan waren die Früchte des ganzen Feldzugs wieder verloren.
Die Meininger in Leipzig! Nach langer Bekanntschaft vom Hörensagen
und nachdem wir sie lange genug von einer Bühne zur anderen mit neidischen
Blicken begleitet, haben wir sie endlich von Angesicht zu Angesicht gesehen. Die
Meiniuger in Leipzig - mau muß die letzten Leipziger Theaterjahre mit all'
ihren Entbehrungen und Enttäuschungen durchlebt haben, um den ganzen
Zauber dieser paar Worte zu begreifen. Die Meininger in Leipzig — das
heißt so viel als: Dem Himmel sei Dank! Jetzt kann doch unser einer wieder
einmal in's Theater gehen.
Daß die Leipziger Bühne, seit sie sich in den Händen des Herrn Dr.
Förster befindet oder richtiger in den Händen derjenigen Leitung, welche „Or.
August Förster" firmirt, mit raschen Schritten bergab gegangen ist und
sich gegenwärtig auf einer Stufe befindet, auf der sie unter Laube's und
Haase's Direktion nie gestanden, ist auch außerhalb Leipzig's zur Genüge be¬
kannt. Im Laufe des letzten Jahres hat die Direktion, um der urtheilslosen
großen Masse einmal etwas zu bieten und zugleich die immer lauter werdenden
Stimmen der Unzufriedenheit zu beschwichtigen, ganze Monate, in denen sie
etwas zu einer durchgreifenden Hebung des Theaters hätte thun können, daran
vergeudet, einem nichtigen Phantom nachzujagen; kostbare Zeit und noch kost¬
barere Kräfte — wir denken mit Sorgen an unser treffliches, unverantwortlich
ausgebeutetes Orchester — hat man an das Einstudiren des Bahreuther
„Bühnenfestspiels" verschwendet. Die Enttäuschung ist, abgesehen von der
kleinen Schaar fanatischer Wagnersektirer, die sich natürlich schämen einzuge¬
stehen, wie total verfehlt diese letzten (hoffentlich letzten!) Produkte ihres großen
„Meisters" sind, eine allgemeine gewesen. Dazu kommen äußere Gründe der
Verstimmung. Durch Beschluß des Rathes oder vielmehr einer nicht sehr bedeu¬
tenden Majorität des Rathes und gegen den ausdrücklichen Willen der Stadt-
verordneten siud die Leipziger Theaterpreise auf wiederholtes Drängen des
jetzigen Direktors kürzlich wesentlich erhöht worden, und das, nachdem Herr
Dr. Förster schon vorher in der auffälligsten Weise bestrebt gewesen ist, seine
Einkünfte sort und fort zu steigern, gleich im Anfange seiner Direktion, in¬
dem er die Garderobeneinrichtung in seine Hand nahm und zu eiuer erkleck¬
lichen Nebeneiunahmequelle sür sich umgestaltete, dann indem er wiederholt billigere
Sitze einzog und sie in theurere verwandelte. Herr Dr. Förster hat bei seinem
Direktionsantritt dem Rathe und der Stadt das feierliche Versprechen abgelegt,
das Leipziger Theater zum Ideal einer Bühne zu machen. Wir besitzen jetzt
einige Erfahrung dafür, wie er dieses Ideal auffaßt. Das „Ideal einer Bühne"
scheint bei ihm dasjenige Theater zu sein, welches am raschesten den Säckel
füllt. Dem allen aber wird die Krone aufgesetzt durch die ununterbrochene, wahr¬
haft Ekel erregende Reklame, die das Theater — natürlich nicht Herr Dr.
Förster — in der Leipziger Tagespresse, vor allem in dem großen Reklame-
Instrument Leipzig's, dem „Tageblatte", selber für sich macht. Kein Tag
vergeht, ohne daß man in den Leipziger Tagesblättern*) (mitten unter
ähnlich glaubwürdigen Mittheilungen über die großartigen Leistungen der
„Künstler" im Schützenhanse, über neue Kneipen oder Kramläden, die „unsre
geehrten Mitbürger" Hinz und Kunz eröffnet haben, über die erstaunlichen
Erfolge irgend eines Männergesangvereins, einer Freiwilligenpresse, einer Musik¬
schule oder einer Dampfspritzenfabrik) jene gleichlautenden offiziösen Commnni-
ques über unser Theater zu lesen bekommt. Bald wird uns mitgetheilt, daß
der Herr Maschinist so und so nach dem oder jenem Theater gereist sei, um
dort Studien für eine bevorstehende Opern-Aufführung zu macheu, ein ander¬
mal, daß der Herr Dekorationsmaler aus Z. gegenwärtig „in Leipzig's
Mauern weile", um die großartigen Dekorationen zu der neuen Oper herzu¬
stellen, dann wieder, daß der Herr Operndirektor eine Reise angetreten habe,
um tüchtige neue Kräfte zu engagiren, daß irgend ein „berühmter Darsteller"
gegenwärtig unpäßlich sei, hoffentlich aber in den nächsten Tagen wieder herge¬
stellt sein werde, daß die Proben zu dem neuen Stücke bereits in vollem Gange
seien, daß die Generalprobe stattgefunden habe und der Herr Operudirektvr
dabei vou Rührung überwältigt folgende Ansprache an die mitwirkenden Künstler
gehalten habe (die natürlich vorher längst in der nöthigen Anzahl von Ab¬
schriften für die Zeitungen zurechtgemacht war), daß das neue Stück gestern
Abend vor „ausverkauftem Hause" und unter „rauschenden Ovationen" in Szene
gegangen sei, daß zu der heutigen Vorstellung zahlreiche telegraphische Billet-
bestellungen aus Berlin, Dresden u. s. w. eingelaufen seien, daß der „Meister",
der „Dichterkomponist", zu eiuer der nächsten Vorstellungen seines „Tondrcuua's"
erwartet werde, daß er folgenden hochinteressanter Brief an die Direktion ge¬
richtet habe, und was dergleichen Nichtigkeiten mehr sind. Tag für Tag diese
— natürlich nicht von Herrn Dr. Förster verschuldete — plumpe, das Publikum
beleidigende und verhöhnende Reklame, beleidigend und verhöhnend, weil sie das
ganze Publikum wie einen großen Hansen Schwachsinniger behandelt, die nicht
merken, daß alles das aus ein und derselben offiziellen Feder stammt und ein
und demselben Zwecke dient. Die Möglichkeit, daß gegen dieses wahrhaft
unanständige selbstverständlich nicht von Herrn Dr. Förster gebilligte —
Gebahren eine Stimme in der Leipziger Tagespresse selbst zu Worte käme,
scheint leider vollständig abgeschnitten zu sein. Die sogenannte „Eselswiese",
wie man im Leipziger Volksmunde diejenige Rubrik des „Tageblattes" bezeichnet,
in der persönliche Meinungsäußerungen aus dem Publikum zum Abdruck ge¬
langen, und die zu Laube's Zeit oft ganze Seiten füllte, sie ist seit dem
Direktivusantritt des Herrn Dr. Förster für Theaterfragen vollständig verödet.
Nach der Todtenstille auf der „Eselswiese" zu urtheilen könnte es scheinen,
als Hütten wir jetzt unter Förster's Leitung thatsächlich in Leipzig die Muster¬
bühne erreicht, die Laube vergebens aus dem Leipziger Theater zu machen sich
bemühte. In Wahrheit hat natürlich die Vereinsamung des ehemaligen Tum¬
melplatzes sehr handgreifliche andere Gründe. Es ist eine traurige Thatsache:
Leipzig besitzt kein öffentliches Organ, in welchem man über das Leipziger
Theater (und leider auch über sehr viele andere Dinge) die Wahrheit sagen
könnte. Kein Wunder, daß Hunderte und Tausende von gebildeten Theater¬
besuchern seit geraumer Zeit resignirend von ferne stehen und im Großen und
Ganzen uach dem Grundsätze handeln, den in der vielumstrittenen Laube'schen
Periode Einer täglich auf der „Eselswiese" predigte: „Macht's wie ich, geht nicht
hinein!" Ein Schauspiel eines klassischen Dichters sich auf dem Leipziger Theater
anzusehen, ist gegenwärtig ein äußerst zweifelhafter Genuß. Und Herrn Dr.
Förster immer wieder die Geschichte von dem „Mann im Osten", der drei
Söhne und blos einen Ring hatte, mit Sanftmuth deklamiren zu hören, ist
doch ein Vergnügen, das nachgerade den Reiz der Neuheit eingebüßt hat.
So ist denn das Gastspiel der Meininger für einen großen Theil des
Leipziger Publikums eine wahre Erlösung. Wenn irgend etwas mit der jetzigen
Leitung des Leipziger Theaters versöhnen kann, so ist es das, daß sie den Muth
gehabt hat, dieses Gastspiel, soll man sagen zu veranlassen oder zu gestatten?
Es ist ein räthselhafter Muth. Ist es der Wagemuth der Verzweiflung, der
zu jedem Mittel greift, um die immer allgemeiner werdende Mißstimmung von
sich abzulenken, sei es auch um den Preis, bei einem Vergleiche mit dem
Konkurrenten doppelt und dreifach zu verlieren? Oder ist es die Tollkühnheit
der Verblendung, die gar nicht ahnt, was sie thut, indem sie selbst dem Publi¬
kum den Vergleich mit solch' einem Konkurrenten ermöglicht? Es ist freilich
nicht das einzige Räthsel, das es hier zu lösen gibt. Ist es nicht eben so
räthselhaft, daß der langjährige ständige Theaterkritiker des Leipziger Tage¬
blattes, Herr Hofrath Rudolf von Gottschall, von dem Tage an, wo die
Meininger hier spielen, Plötzlich verstummt ist und seine Feder interimistisch an
eine andere Hand abgetreten hat? Aber wir wollen uns hier nicht mit Räthsel¬
lösen abmühen, sondern uns nur der Thatsache freuen, die in den vier Worten
liegt: Die Meiuinger in Leipzig.
Ziemlich sang- und klanglos sind sie hier eingezogen. Noch zwei oder
drei Tage vor ihrem ersten Auftreten war es so gut wie unbekannt, daß ihr
Gastspiel so nahe bevorstehe. Natürlich. Des Vortheils, den Herr Dr. Förster
bei der kläglichsten Operette genießt, die er zur Aufführung bringt, Wochen
lang vorher in der Presse, und zwar in einer täglich dicker auftragenden
Reklame, das wichtige bevorstehende Kunstereigniß in's öffentliche Bewußtsein
hineinsickern zu lassen, dieses Vortheils mußten die Meininger entbehren.
Niemand nahm sich ihrer an und rührte die Lärmtrommel für sie. Sie waren
eben eines schönen Tages da, und an den Anschlagsäulen war Shakespeare's
„Julius Caesar" angekündigt. Aber vom ersten Tage an hatten sie gewonnenes
Feld, und ihr Besuch in Leipzig ist bis jetzt eine ununterbrochene Kette von
Triumphen gewesen.
Es kann nicht die Aufgabe dieser Blätter sein, einzelne Theateraufführungen
zu besprechen. Die künstlerischen Bestrebungen der Meininger im Ganzen zu
würdigen, die Prinzipien zu erörtern, auf denen sie fußen, darauf nur kann
es uns ankommen. Die Aufgabe ist keine ganz leichte, und man kommt nicht
eben rasch damit in's Reine. Steht man doch einem vielfachen Novum gegen¬
über: Neu find einem alle Gesichter vom ersten Darsteller an bis herab zum
letzten Statisten, neu die Jnszenirung, die Auffassung, das ganze Spiel. Selbst
alte, oft gesehene Stücke erscheinen einem dabei selber als ein Neues, Fremd¬
artiges, von dem Gewohnten Abweichendes, und so ist denn der erste Eindruck,
damit wir's offen gestehen, ein etwas zwiespältiger gewesen.
Ueber eins war man sich bald klar: daß man hier Leistungen gegenüber¬
steht, die das Ergebniß größten künstlerischen Ernstes und künstlerischer Ge¬
wissenhaftigkeit sind, mag deren Quelle nun in der Brust jedes einzelnen
Mitwirkenden fließen, oder mag sie außer und über ihnen entspringen und sich
von außen her befruchtend über das Ganze verbreiten. Wenn man immer
dazu verurtheilt ist, Vorstellungen klassischer Schauspiele nach dem gewöhnlichen
Theaterschlendrian mit anzusehen, in denen man den Souffleur stets vor dem
Darsteller hört, die hastig einstudirt sind, mit genauer Noth klappen, und in
denen man immer mit einer gewissen Erregung sitzt, so thut es einem schon
wohl, einmal Aufführungen dagegen zu sehen, in denen alles: Auftreten, Vor¬
trag, Gestikulationen, Stellungen, Gruppirungen, Abgang, augenscheinlich das
Resultat langen und sorgfältigen Studiums ist. Man sieht doch wieder einmal,
was es heißt: eine nach einheitlichem Plane ausgearbeitete Vorstellung, und
die Sicherheit und Freiheit der einzelnen Darsteller, ebenso wie des Zusammen-
spiels, die nur durch anhaltenden Fleiß gewonnen wird, theilt sich in wohl¬
thätiger Weise auch dem Zuschauer mit und gibt ihm jene Heiterkeit und Frei¬
heit der Seele, ohne die kein wahrer Kunstgenuß denkbar ist.
Dasselbe Lob aber muß man allem spenden, was zur äußeren Ausstattung
der Stücke gehört. „Ich schweige von der äußeren Pracht", sagt zwar Lessing
in der „Hamburgischen Dramaturgie", „denn diese Verbesserung unseres Theaters
erfordert nichts als Geld". Auf die Aufführungen der Meininger würde das
Wort sehr schlecht passen. Was sie in Dekorationen und Kostümen leisten, die
sie ja sämmtlich zu ihren Gastspielen mit sich führen, dazu gehört allerdings
auch Geld, Geld und nochmals Geld, aber es gehört doch auch noch mehr
dazu: Studium, wissenschaftlicher Sinn, Kunstgejchmack. Die moderne Bühne
führt uns ja freilich schon längst ein Schauspiel, das im römischen Alterthum
spielt, nicht mehr als Degen- und Mantelstück vor, aber im Allgemeinen läßt
doch die historische Treue der Ausstattung oft sehr viel zu wünschen übrig.
Fleißigen Theaterbesuchern werden manche Dekorationen und Kostüme mit der
Zeit eben so gute Bekannte wie manche Darsteller; sie bleiben eben immer
dieselben, sie mögen erscheinen, in welchen Stücken sie wollen. Welche sinnlose
Verschwendung wird mit allerhand phantastischen Dekorationen in Opern,
Zauberpossen, dramatisirten Märchen u. tgi. getrieben, und im historischen
Schauspiel werden fort und fort die ärgerlichsten Schnitzer gemacht. Pracht und
Aufwand wären oft gar nicht Vonnöthen, mit wenigen Mitteln wäre eine stil¬
gerechte Ausstattung zu erzielen, aber auch das Wenige wird nicht beschafft.
Höchstens der einzelne Künstler, der Darsteller der Hauptrolle, gestattet sich,
aus eignen Mitteln, den Luxus eines gediegenen, geschichtlich treuen Kostüms.
Das Meininger Theater befriedigt auch nach dieser Seite hin große Anfor¬
derungen. Dekorationen, Kostüme, Möbel, Geräthe, Gefäße, Waffen, alles ist
genau in dem Stile, den Ort und Zeit der Handlung verlangen, angefertigt, ja
zum Theil besteht es sogar aus werthvollen Originalen.
Das Streben nach Wahrheit und Natur, auf welche diese Mittel abzwecken,
tritt nun aber vor allem auch im Arrangement der Massen hervor. Hierin
liegt geradezu eine Spezialität der Meininger. Was ist hier durch die Hand
eines einsichtsvollen, energischen Dirigenten aus der trägen, langweiligen
Statistenmasse geworden! Das sind keine Statisten mehr, die nur zählen und
den Raum füllen, das sind Individuen, die alle leben, reden und agiren, jedes
in seiner Weise, und die den lebhaftesten Antheil an der Handlung zu nehmen
scheinen. Man muß sie gesehen haben, diese bewegten, in buntester Mannich-
faltigkeit kostümirten, malerisch angeordneten Räubergruppen in den Schiller'-
schen „Räubern", diese erregten Volksmassen, die im „Julius Caesar" um die
Leiche des großen Imperators toben, den Anwnius auf der Rednerbühne um¬
drängen und in prächtig pyramidalen Aufbau hundert Arme nach dem ver¬
heißungsvoller Pergamente strecken, dem Testamente Caesar's, das Antonius in
hvcherhobener Rechten ihnen zeigt, man muß sie gesehen haben, um es zu glauben,
was mit solchem Material sich erreichen läßt. Eine Crux aller Theaterleitungen
ist die Vorführung von Heeresmassen, sind Schlacht- und Gefechtszenen; in der
Regel wirken sie unwiderstehlich komisch. Und mit welchem erstaunlichen Ge¬
schick greifen die Meiniuger dergleichen an! Im fünften Akte des „Julius
Caesar" treten vor der Schlacht bei Philippi die Führer der beiden Heere mit
ihrem Gefolge zu einer Unterredung einander gegenüber. Wie ist diese Szene arran-
girt! Links im Vordergründe die eine Partei, halb nach der Seite, halb in die Bühne
hinein gewandt; die Führer des feindlichen Heeres rechts im Hintergrunde auf einer
kleine Anhöhe. So treten sie zur letzten Unterhandlung einander gegenüber.
Die Illusion ist vollständig. Man könnte glauben, daß es nur die Spitzen
gewaltiger Heereskörper seien, die hier aufeinander treffen, daß beiderseits die
Massen drohend im Hintergründe stehen. Die kleine Bühne des alten Leipziger
Theaters schien sich zu erweitern, man hatte die deutliche Vorstellung, daß die
beiden Parteien, trotzdem daß sie keine zwanzig Schritt von einander standen,
in ziemlicher Entfernung von einander wären und nnr mit lauten Zurufen sich
vernehmbar machen könnten. Und dann die Schlacht selbst. Wie die Truppen da
so lautlos und gehalten anrückten und zum Gefecht sich aufstellten — <5t/H ^of«
Tr^-iovrx?, wie die Achäer in der Ilias - die Sache hatte wirklich etwas
Unheimliches, und es sah aus, als ob hier Ernst gemacht werden sollte. Auf
welchem Theater hat man jemals diesen Eindruck gehabt? In der Ausstattung
werden auch audere Bühnen, wenn sie wollen, in Kurzem mit den Meiningern
wetteifern können, diese Beseelung der Massen wird ihnen Niemand so leicht
nachmachen, denn dazu gehören zahllose Proben und eine Riesengeduld.
Freilich ist uun nicht zu leugnen, daß alle diese Vorzüge mit gewissen
Gefahren verknüpft sind. Wo viel Licht ist, ist starker Schatten. Die Forder-
ung der Wahrheit und Natürlichkeit auf der Bühne hat ihre volle Berechtigung,
nur muß man sich an die Vorschriften erinnern, die Hamlet den Schauspielern
gibt, und bedenken, daß, wenn das Streben nach Natnrwcchrheit dominirt, wenn
es nicht durch das Streben nach Schönheit unaufhörlich controlirt und in
Schranken gehalten wird, es leicht zu abstoßendem Naturalismus führt. „Zunächst
bedenke der Schauspieler", sagt Goethe, „daß er nicht allein die Natur nachahmen,
sondern sie auch idealisch vorstellen solle und er also in seiner Darstellung
das Wahre mit dem Schönen zu vereinen habe." Erst durch diese Vereinigung
entsteht das, was man „stilvolle" Darstellung nennt. Kunst bleibt eben Kunst,
sie darf und kann nie Natur werden. Wie die bildende Kunst, wenn sie nicht
in Naturalismus verfallen will, vielfach sich mit Andeutungen und Abbrevia¬
turen behelfen, vielfach stilisiren muß, so auch die Schauspielkunst, diese lebendige
bildende Kunst. Mit voller Naturwahrheit können und dürfen tumultuarische
Volksszenen auf der Bühne nicht erscheinen. Plötzlich und wie auf Kommando
ausbrechendes Geschrei der Massen, sei es auf dem römischen Forum oder
in den böhmischen Wäldern, es wirkt auf der Bühne immer als unschöne
Uebertreibung, und wenn nun vollends — die Galerie wird ja, heute so gut
wie zu Lessing's Zeit, selten ermangeln, „Gute Lungen mit lauten Händen zu
erwiedern" — der Vorhang sich wieder hebt und die Masse abermals wie auf
Kommando ihr Geschrei anstimme - vereinige das mit seinein Geschmack wer
da will — uns ist es als eine Ueberschreitung der Grenzen der Schauspiel¬
kunst erschienen. Nicht minder aber das langanhaltende, ganz naturalistische
Gelächter in den Clownszenen von „Was ihr wollt", die übertrieben zapplige
und geschäftige, an das Kribbeln in einem Raupennest erinnernde Beweglich¬
keit, mit der die Massen bisweilen die Rede eines Einzelnen oder einen Dialog
begleiten. Im Leben gewährt eine Volksmenge bei solcher Gelegenheit nicht
einmal diesen Anblick, denn die Menschen sind uicht alle einerlei Temperaments,
und wenn sie ihn gewährte, so dürfte er auf der Bühne nicht nachgeahmt
werden.
Aber auch die reiche und stilgetreue Ausstattung der Stücke hat eine kleine
Schattenseite, wenigstens ist es uns in den ersten Aufführungen so erschienen:
sie zieht von der Handlung ab. Und zwar waltet hier eine eigne Ironie. Dem
harmlosen Zuschauer aus der großen Masse ist es höchst gleichgiltig, ob ein
römischer Krieger aus Caesar's Zeit mit archäologischer Genauigkeit behelmt
ist, oder ob er eine Blechhcinbe trägt, die den nächsten Abend ein Knecht des
Götz von Berlichingen oder ein Pappenheim'scher Kürassier auf dem Kopfe haben
wird. Je gebildeter und kenntnißreicher der Zuschauer ist, desto mehr wird
sich die kritische Ader in ihm regen, desto mehr werden ihn auch diese Neben¬
dinge interessiren, und er wird dabei verweilen, ohne auf die Haupt-
sache zu achten. Wenn in der ersten Szene von „Was ihr wollt" das „illy¬
rische" Orchester dem liebeskranken, verschmähten Grafen Orsino schmachtende
Weisen vorspielen muß, wer kann es hindern, daß ich mich in die alterthüm¬
lichen Formen der Violen, Gauden und Lauten vertiefe, auf denen die Musik
ausgeführt wird, und inzwischen nichts von den lyrischen Ergüssen höre, die
aus Orstno's Munde fließen? Wenn im zweiten Akte des „Julius Caesar"
das Innere von Caesar's Palast, im dritten Akte das Forum Romanum, im
vierten das Zelt des Brutus bei Sardes, im fünften das Schlachtfeld von
Philippi vorgeführt wird, wie kann ich es umgehen, mir die Fragen vorzulegen,
ob wirklich in Caesar's Wohnung schwebende Figuren an den Wänden gemalt
sein konnten, ob wirklich zu Caesar's Zeit ein Triumphbogen am Formen
Romanum stand, ob wirklich — worauf ich auf dem Theaterzettel noch be¬
sonders aufmerksam gemacht werde — die Curie des Senats damals zerstört
war, Antonius wirklich an der Bahre Caesar's in weißer Toga seine Leichen¬
rede halten konnte, ob das sämmtliche Silbergeschirr im Zelte des Brutus zum
„Hildesheimer Silberfunde" gehörte oder ob auch noch andere Stücke zur
Dekoration mit herangezogen worden seien, aus welchen früheren Kämpfen bei
Philippi die griechischen Gräber stammen mögen, auf die der Zettel wieder aus¬
drücklich meine Aufmerksamkeit lenkt? Ist es nicht natürlich und verzeihlich,
daß alles das mich sekundenlang beschäftigt, zerstreut, vom Dialog ableitet?
Hielte mir Jemand ein, ich dürfe mich eben dnrch so gleichgiltige Nebendinge
nicht ableiten lassen, müßte ich ihm nicht erwiedern: Wozu dann die peinliche
Gewissenhaftigkeit, die auf diese Nebendinge verwandt wird?
Die Aufgabe, ein Stück in Szene zu setzen, hat ähnliche Klippen wie die,
ein Lied in Musik zu setzen. Moritz Hauptmann Pflegte von vielen unserer
neueren Liederkompositionen zu sagen, sie seien in Musik gesetzt, wie der Uhr¬
macher eine Uhr in Oel setzt, wo jedes Zäpfchen, jede Spindel des Werkes
mit einem Tröpfchen Oel betupft wird; sie müßten aber in Musik gesetzt
werden, wie man einen Fisch in's Wasser setzt. Diese Bilder sind sprechend.
Bei den Aufführungen der Meininger hat mir das Wort manchmal in den
Ohren geklungen. Zu viele interessante Einzelheiten erzeugen leicht die Gefahr,
daß das Ganze etwas zerbröckelt, daß man zu keiner recht einheitlichen Grund¬
stimmung kommt. Ich habe vor einiger Zeit „Was ihr wollt" an der Dresdner
Hofbühne gesehen. Die Aufführung war bei weitem nicht mit der Ueberlegtheit
im Detail, mit dem Glanz und dem Raffinement ausgestattet, wie die der
Meininger, aber es ging ein gewisser genialer Zug durch das Ganze, während
man bei den Meiningern hie und da nur den Eindruck eines allerdings mit
größter Promptheit und Akkuratesse arbeitenden Mechanismus hat. Auch das
feine, detaillirte Ausarbeiten kann übertrieben werden. Dahin gehört es z. B.
auch, wenn selbst unbedeutende Rollen, ich will einmal sagen „zu gut" gespielt
werden. Daß eine Rolle eine untergeordnete ist, darf auch in der leichteren
Behandlung sich aussprechen, die ihr zu Theil wird. Wenn Brutus seinem
Diener Lucius aufträgt, ihm die Lampe in's Lesezimmer zu tragen, und dieser
dann mit einer Betonung, als ob ein großer Entschluß zur Ausführung des
Auftrags gehörte, entgegnet: „Ich will es thun, Herr", so drängt sich das
Kleine zu anspruchsvoll neben das Große. Diese Gefahr, daß die Nebenrollen
zu wichtig gespielt werden, liegt bei den Meiningern doppelt nahe, bei dem
vorzüglichen Vorbilde, das die ersten Kräfte, die Vertreter der Hauptrollen den
Uebrigen geben und bei dem offenbar alle beseelenden Streben, auch das Kleinste
sauber auszuarbeiten und bedeutungsvoll zu gestalten.
voosw „erste Kräfte" — es heißt ja, es fehle den Meiningern an
„ersten Kräften", ja man spricht ihnen mit wunderlichen Argumenten geradezu
a priori die Möglichkeit, solche Kräfte zu haben, ab. Man erzählt sich schreck¬
liche Beispiele von der eisernen militärischen Zucht, mit der hier ein Völkchen,
das man sich so gern als das heiterste der Welt denkt, geleitet werde. Jede
Armbewegung, die Betonung jeder einzelnen Silbe werde höheren Orts diktirt,
gebilligt oder gemißbilligt, mit dem Kreidestrich werde die Linie vorgezeichnet,
auf der der Einzelne sich auf der Bühne vorwärts oder rückwärts zu be¬
wegen habe. Einem solchen Zwange, der jede künstlerische Individualität unter¬
drücken müsse, könne sich ein wahrhaft großer Künstler niemals fügen, das
würden immer nur Kräfte zweiten und dritten Ranges thun. Nichts kann
verkehrter sein, als solch' eine Argumentation; trauen wir doch unseren Augen!
Wenn mir ein Künstler wie Hellmuth-Bräu gestern einen solchen Brutus,
heute eiuen solchen Schweizer, morgen einen solchen Junker Tobias spielt, ein
Künstler wie Nesper gestern solch' einen Antonius, heute solch' einen Karl
Moor, ich dächte doch, da könnte von Unterdrückung künstlerischer Individua¬
lität nicht die Rede sein. Der Boden eines Kuustinstitutes, auf dem solche
Proteischen Talente ihre Kräfte entfalten können, muß ein durchaus gesunder
sein. Was heißt auch Kräfte ersten Ranges? Beruht die Künstlerschaft nur
w der Naturanlage? Wer steht höher, der Virtuos mit „phänomenalen"
Mitteln, oder der denkende, einsichtsvolle Künstler, der seine „mäßigen" Mittel
weise zu gebrauchen versteht? Der aufdringliche Protagonist, der alles um
sich her todt spielt, oder der Darsteller, der maßvoll dem Ganzen sich einfügt?
Den Meiningern fehlt's, in diesem Sinne, an ersten Kräften wahrlich nicht,
an Kräften, zu deren Besitz jede große Hofbühne sich Glück wünschen könnte.
Die drei Stücke, die die Meininger bisher in Leipzig gespielt haben, sind
schon genannt. Sechsmal hinter einander haben sie den „Julius Caesar",
dreimal die „Räuber", dreimal „Was ihr wollt" gegeben.'") In dem
erstgenannten Stücke waren neben Brutus und Antonius auch der Cassius des
Herrn Teller und der Casca des Herrn Kober vorzügliche Leistungen. Herr
Richard spielt den Caesar vielleicht etwas zu verlebt; er macht einen halbwegs
erloschenen Vulkan aus ihm. Zudem kehrt er den steifen, zugeknöpften Diplo¬
maten mehr heraus, als die überragende Genialität; man glaubt nicht genug
an die Gefährlichkeit dieses Mannes und an die Nothwendigkeit seiner Beseiti¬
gung. Unter deu Frauen erschien uns die Calpurnici der Fran Berg bedeutender
als die Portia des Frl. Habelmann; die Letztere deklamirte zu viel. Aber
auch die weniger bedeutenden Rollen waren meist vortrefflich besetzt. Eine
Szene, wie die in Brutus' Zelte, wo Lucius seinen Herrn durch Lauteuspiel
und Gesang einschläfern soll und selber dabei von Müdigkeit überwältigt zu¬
sammensinkt, konnte nur durch eine Künstlerin wie Frl. Pauli zu so ergrei¬
fender Wirkung gebracht werden.
Die „Räuber" machten kein ganz volles Halts. Es ist das am Ende
nicht zu verwundern. Selbst die Jugend von heute findet kein Gefallen mehr
an dieser ersten Explosion des Schiller'scheu Geistes, an diesem fratzenhaften
Produkt überschäumender Genialität und knabenhafter Unreife. Das Stück
selbst zu sehen, geht Niemand mehr in's Theater, höchstens zu sehen, wie die
Künstler sich mit dem Stücke abfinden. Franz Moor wird immer noch ge¬
legentlich in der zahmeren Auffassung gespielt, in welcher sich die Tradition des
älter gewordenen Jffland fortpflanzt. Schon Goethe hat lebhaft gegen diese
Abschwächung der Figur protestirt. Wenn mau dem Teufel die Hörner und
Krallen abseile, sagt er, ihn seiner physischen Häßlichkeit entkleide, seine mora¬
lische Abscheulichkeit vertnsche, so werde am Ende doch nur ein würdiger Hunds¬
fott fertig, während die grüßliche Harmonie verloren gehe, durch die allein die
„rohe Großheit" des Schiller'schen Stückes erträglich werde. Herr Kober — nur
diesen haben wir in der Rolle gesehen, während sie unseres Wissens in einer
zweiten Aufführung, ebenso wie die der Amalia, anders besetzt war — faßte
die Rolle durchaus in dem von Goethe gewollten Sinne; sie zu irgend welcher
Glaublichkeit zu bringen ist ihm nicht gelungen und gelingt wohl keinem.
Amalia mit ihrer schmachtenden Empfindelei ist uns verhältnißmäßig nie so
sympathisch gewesen als in der maßvollen und edlen Darstellung durch Frau
Bittner. Carl Moor bleibt ein trauriger Patron; wenn er am Schlüsse
hintritt, der einfältige Junge, der mit einem Heer solcher Kerle wie er selbst
Deutschland in eine Republik verwandeln wollte, gegen die Rom und Sparta
Nonnenklöster sein sollten, und nun jammert, weil er endlich einsieht, daß zwei
Menschen wie er den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grunde richten
würden — es ist zu kläglich. Man muß sich alle Mühe geben, dem Schau¬
spieler nicht entgelten zu lassen, was in der Rolle liegt; wir haben der treff¬
lichen Leistung des Herrn Nesper neben der Rolle Schweizer's bereits oben
gedacht. Auch der alte Moor des Herrn Godet und der Spiegelberg des
Herrn Heine reihten sich würdig den Uebrigen an. In keiner Aufführung
der Meininger aber ist uns so wie in den „Räubern" der temporäre Gehalt,
das Zwingende und Ueberzeugende der Zeitstimmung nahe getreten. Eine solche
Darstellung wirkt mehr, als ganze Kapitel Kulturgeschichte.
Auch „Was ihr wollt" stellt an den heutigen Geschmack starke Zumuthungen.
Eine jener naiven italienischen Erzählungen — sie stammt ans den Novellen
des Bcmdello — deren recht unwahrscheinliche Verwicklungen sich aus den
üblichen Verwechslungen und Verkleidungen von Zwillingen ergeben, hat
Shakespeare mit den possenhaften Intermezzi seiner Clowns durchflochten, so
daß der Hauptreiz der Handlung in dem fortwährenden Kontrast liegt zwischen
lyrischen Szenen, die voll tiefen poetischen Gehaltes, aber daneben auch voll
bloßen blinkenden Wortgepläukels sind, und Rüpelszenen, in denen dieses Ge¬
plänkel die massiveren Formen des Kalauers annimmt. Das Stück muß aus¬
nehmend geistvoll, frisch und munter gespielt werden, wenn es genießbar werden
soll. Und welch' ein lustiger Theaterabend war das! In die Lorbeeren des Abends
theilten sich die beiden Damen Frl. Pauli (Viola - Cesario) und Frl. Werner
(Olivia), die an Grazie und Schelmerei mit einander wetteiferten; die Wng-
schale des Beifalls neigte sich schließlich vielleicht etwas tiefer auf Seiten Viola's.
Die wenig dankbare Rolle des Herzogs Orsino stattete Herr Richard mit aller
Feinheit der Empfindung aus. Die Clownszenen, in denen Junker Tobias
von Junker Bleichenwang (Herr Gvrner) und Maria (Frl. Grevenberg) auf's
Beste fekundirt wurde, wirkten mit elementarer Gewalt anf die Lachmuskelw
neigten freilich, wie schon erwähnt, zur Uebertreibung. Der Narr des Stückes
ist keiner von den schlimmsten Shakespeare'schen Narren, er ist ein harmloser
Gesell, den Herr Teller mit Maß und feinem Verständniß spielte. Am wenigsten
sagte uns der Malvolio des Herrn Pückert zu, der allerdings in unserm Ur¬
theil zu leiden hatte unter der Parallele mit dem unnachahmlichen Dresdner
Malvolio, Herrn Jaffö. Herr Pückert trug von vornherein die Farben zu
dick auf, und gegen das Ende hin verblaßten sie merklich.
Die Meininger spielen bei uns im „alten Hause", wie der Leipziger sagt.
Ein wahres Glück, daß wir dieses alte Haus noch haben, denn ihm verdanken
wir ja zum Theil das interessante Gastspiel. Herrn or. Förster hindert nichts, in¬
zwischen im neuen Hause die Wagner'schen „Tvndramen" und den „Meineidbauer"
zu geben, oder noch ein „Konzert des (!) Josefsy" zu veranstalten, während die
Meininger im alten sich mit den altmodischen Stücken Shakespeare's und
Schiller's herumschlagen. Nur im alten Hause kann aber auch das distin-
guirte Spiel der Meininger zur Geltung kommen. Daß unsere großen,
neuen Theater keine Schauspielhäuser mehr sind, daß sie die feinere Schau¬
spielkunst heruntergebracht haben, weil sie blos auf die große Speetakel-
oper berechnet sind, ist oft genug ausgesprochen worden. Den Meiningern ist
offenbar in den bescheidenen Dimensionen der alten Leipziger Bühne sehr
wohlig zu Muthe. Nicht minder aber auch dem Publikum, vor allem dem „alten
Leipziger". Es geht zwar herzlich enge zu in den alten, schlichten Räumen,
und man begreift es heilte schwer, daß die Menschheit sich ein volles Jahr¬
hundert hindurch mit solchen Sitzen hat begnügen können; aber man vergißt
es bald, wie sehr man seine Gliedmaßen drängen und zwängen muß. wenn
der Geist so vollauf in Anspruch genommen ist, wie hier. Und noch eins:
Von der kleinbürgerlichen Einfachheit des Hauses lassen sich unwillkührlich
auch die Zuschauer beeinflussen. Wer in's „alte Theater" geht, macht keine große
Toilette; das sxvetizntur ut ixsg-v fällt hier vollständig weg, der ganze Zu¬
schauerkreis erinnert einen in seiner soliden Schlichtheit traulich und anheimelnd
an die gute alte Zeit, wo uoch nicht die goldbehcmgeue jüdische Kaufmannsfrau,
sondern der sür alles Edle und Schone begeisterte deutsche Student die Herr¬
schaft im Theater hatte; und der und jener läßt wohl auch seine Phantasie
noch etwas weiter zurückspazieren in die Zeiten, wo auch dieses „alte Haus"
einmal nagelneu war, und wo, nachdem der Oeser'sche Vorhang in die Höhe
gerauscht war, der Student Wolfgang Goethe an den Lippen der Schmehling
und der Schröter hing. Ja, ja, in solche Träume könne» einen die Meininger
wiegen — bei Herrn Dr. Förster sind wir vor dergleichen freilich sicher.
Unsere Gäste haben in Leipzig eine enthusiastische Aufnahme gefunden.
Das Leipziger Publikum steht mit Recht in dem Rufe, „kühl bis an's Herz
hinan" zu sein. Bei einem großen Theile ist's Thnerei, Blasirtheit, weiter
nichts, bei einem andern Theile aber, und das ist in der Hauptsache wohl der,
den die Meininger allabendlich um sich versammeln, ist es mehr als das: es
ist ein stark entwickeltes und wohlberechtigtes kritisches Bewußtsein. Wenn
diese Kreise warm werden und einem Künstler durch dreimaligen Hervorruf
lohnen, das will in Leipzig etwas bedeuten. Unter dieser Zahl thun sie's aber
jetzt an keinem Abend, und nie versäumen sie, wenn die Darsteller nun am Schluß
nach guter, alter Theatersitte Hand in Hand aus der Koulisse ziehen, auch
den verdienten Direktor, Herrn Cronegk, zu rufen, um auch ihm den gebührenden
Eine sehr lesenswerthe Schrift! Der reinste und größte der italienischen
Patrioten von 1848 wird hier mit Liebe und Sachkenntniß, schlicht-bürgerlich
wie er gewesen, im Rahme« der großen Tage, die er beherrschte, gezeichnet.
Die Form des Vortrags, die ungeändert beibehalten ist, rechtfertigt Kürzen
und Wendungen, die bei einer größeren biographisch-historischen Arbeit vielleicht
zu tadeln sein würden. Dafür bietet die kleine anspruchslose Schrift die
hochinteressante Geschichte Venedig's in dem Unabhängigkeitsjahr 1848—49 in
geschlossenem Bilde und den Lebensgang und die Charakteristik jenes großen
Patrioten, an dessen Heldenmuth Italien sich in seinen dunkelsten Tagen hoff¬
nungsreich aufrichten durfte, in voller historischer Treue. Daß der Verfasser
die vorhandenen Quellen eingehend studirt hat, weist der Anhang nach.
Ein anderes Bild aus gleich ernsten Tagen der deutschen Nation zeigt
uns die Jubiläums-Ausgabe der IsovAö Dxistolas Obsourorrirn
Virorum von Gustav Schwetschke (Halle, Schwetschke, 1878). Diese „Er¬
innerungen ans den Frankfurter Parlamentstngen" erscheinen hier*) mit Erläu¬
terungen. Leider, müssen wir sagen, sind diese Erläuterungen heute nothwendig
zu einem Schriftchen, das vor dreißig Jahren geradezu epochemachend wirkte
und von Mann und Weib, von Alt und Jung Verfehlungen wurde — der
günstigen Wirkung nicht zu gedenken, welche es auf pessimistisch ange¬
hauchte, weil durch das Parlament und die Ereignisse in Vergessenheit ge¬
drängte tleinstaatliche Staatsmänner zu äußern pflegte. „Die Zeitsatire, Zeit-
humoristik, ohne Kommentar hat für die Nachlebenden nur deu Werth eines
Torso." Mit diesen Worten begründet der Verfasser die Nothwendigkeit seiner
Erläuterungen. Leider, sagen wir, ist ihm darin nicht zu widersprechen. Die
Geschichte des Frankfurter Parlaments, seiner Fülle von bedeutenden und
interessanten Männern, seiner Vorzüge und Schwächen, ist dem lebenden Ge¬
schlecht sast zur fernen Sage geworden. Auf unseren Hochschulen hören wir
wohl einmal über das tolle Jahr lesen — und w i e selten! — Sonst aber ist
der Reichsbürger von 1878 froh, wenn er sich schlecht und recht mit den Ver¬
handlungen der laufenden Reichstagssession bekannt macht. Unter Hundert-
tausenden der Jüngeren kaum Einer, der sich mit den Verhandlungen und
Charakteren des Frankfurter Parlaments vertraut gemacht hätte in solchem
Maße, um diese köstlichste Gabe des geistigen Karikaturenkampfes jener Tage,
die Dxistolas 0dha:ura>r>irQ Virorum, Schwetschke's ohne jede Anleitung zu ver¬
stehen und zu genießen. Nun ladet diese kommentirte Jubiläums-Ausgabe
Alle zu mühelosem reichen Genusse ein. Auch diejenigen, welche nicht gerne
dreißig Jahre in ihren zeitgeschichtlichen Studien zurückgehen, verdanken der¬
selben Feder die liebenswürdigste, poetische Rückerinnerung an die interessante¬
sten Momente der neuesten Zeitgeschichte. Sie brauchen uur nach Gustav
Schwetschke's „neuen ausgewählten Schriften (deutsch und lateinisch)
zu greifen (Halle, Schwetschke, 1878). Da finden sie gesammelt die Bis-
marckias, Varzinias und alle die anderen Zeitgedichte bis zum Berliner
Kongreß-Gandeamus ((?un.clös.in,uL LmiArsWidUs), welche zunächst im Norden
Deutschland's bei ihrem Erscheinen dasselbe Entzücken hervorriefen, wie die
festlichen Tagesgaben Victor Scheffel's bei den Wanderversammlungen ?c. zu¬
nächst jenseits der berufenen Mainlinie. Dabei ist Schwetschke dem nllemani-
schen Konkurrenten „über" — wie Unkel Bräsig in seinem „Stil" den Hawer-
mcmn — in urbcmer Latinität.
Diese Abhandlung wurde ursprünglich am 3. August 1878 zum Gedächtniß
des Geburtstages des Stifters der Bonner Hochschule (König Friedrich Wil¬
helm's III.) in der Bonner Aula gehalten. Sie ist wohl werth, weiteren
Kreisen durch die vorliegende Ausgabe zugänglich gemacht zu werden. Denn
mit dem ganzen Ernst und der ganzen Klarheit seiner historischen Wissenschaft
prüft der Verfasser die Frage, die zu Anfang August die deutsche Nation so
tief bewegte: „Welche Bedeutung hat der gegenwärtige Moment in der poli¬
tischen Entwickelung des preußischen Staates? Auf welchem Punkte der Lebens¬
bahn unseres Volkes sind wir heute angelangt? Sind die Wege, welche unsere
preußische Verfassungsbildung in den letzten Jahrzehnten verfolgte, die rich¬
tigen —? d, h. in. a. W, in welchem Verhältnisse stehen die Ergebnisse unserer
vaterländischen Geschichte zu den politischen Zielen, die wir heute anstreben?"
Des Verfassers Darstellungskunst und Gründlichkeit ist den Lesern d. Bl. zu
bekannt, als daß wir nachzuweisen brauchten, wie er zur Untersuchung dieser
Fragen besonders berufen ist. Er verfolgt die Grundzüge der preußischen
Staatsverfassung uuter den Kurfürsten und Königen bis an die Schwelle des
modernen preußischen Verfassungslebens und zeichnet scharf und klar die
Gegensätze Mer vergangenen Zeiten zu den Wandlungen Preußen's unter
Stein und den Verfassnngskämpfen seit 1847 und 1850, um schließlich in
schlagender Weise darzuthun, wie unhistorisch und sinnlos die so viele Jahre
lang auf Seiten des Liberalismus festgehaltene Ansicht ist, die englische Ver¬
fassung auch in Preußen als höchstes Ideal anzustreben. Denn, so schließt
Maurenbrecher nachdrücklich: „Uns ist das preußische Königthum auch
heute noch die Grundlage unserer Verfassung und unseres gesammten
öffentlichen Lebens. Und unsere Hoffnung einer endgiltigen, befriedigenden,
dauerhaften Ordnung unserer staatlichen Verhältnisse beruht auch heute noch
in erster Linie auf unserem in der Geschichte Preußen's begründeten Glauben
an die bewährte, erprobte, altüberlieferte Staatsweisheit unserer Könige."
Unsere jetzige Generation, aufgewachsen unter dem Bann von Blut und
Eisen, hineingeworfen in den Wirbel heißer ParteWmpfe, sehnt sich vielleicht
hie und da zurück nach der guten alten Zeit fester Sitte und stillen Behagens,
kurz nach den Tagen süßen Friedens. Doch solch' gute alte Zeit, die im
Grunde genommen für den Einzelnen weiter nichts ist, als das Verlorne Para¬
dies der Jugend, hat es kaum jemals gegeben. So lange die Verheißung des
„Friedens auf Erden" noch nicht erfüllt, so lange noch Eisen im Blut des
Menschen rollt, bleibt das Schwert des Völkerlebens friedloses Symbol. Gleich
einem ehernen Blitz von Oben trifft es zwar Gerechte, wie Ungerechte, reinigt
aber die Luft und tilgt die unsaubern Geister.
Vielleicht weniger als irgend eine Staatsverfassung vergangener Jahr¬
hunderte gewährleistete die des deutschen Reiches, trotz des gebotenen ewigen
Landfriedens, den verschiedenen Stämmen ein stilles und ruhiges Leben. Abge¬
sehen von dem, was die Fremden gegen Deutschland sündigten, hörte auch im
Inneren Kampf und Streit mit gewaffneter Hand nie auf; denn das Reichs¬
regiment war zu schwach, um dem zu steuern. Die nachfolgenden Zeilen sollen
davon Zeugniß geben.
In der ersten Hälfte des Mittelalters galt in Deutschland überall das
Recht bewaffneter Selbsthilfe. Es entsprach dies den Anschauungen und Sitten
einer trotzigen Zeit, die das Anrufen richterlicher Gewalt für entehrend, dahin¬
gegen das Entscheiden von Rechtshändeln durch die Waffen für mannhaft und
ritterlich hielt. Das Faustrecht, ursprünglich sicher nicht ohne idealen Gehalt,
verlor denselben immer mehr, und schließlich handelte es sich bei den vielfachen
Vergewaltigungen nicht mehr darum, ein wenn auch nur vermeintliches Recht
mit gewaffneter Hand zu erlangen, vielmehr war es nur zu häufig lediglich
auf Raub und Plünderung abgesehen. Die verschiedenen Bündnisse von
Fürsten, Adel und Städten, welche diesem Unwesen zu steuern versuchten, er¬
wiesen sich als erfolglos. Selbst die aus rother Erde erwachsene heilige Vehme,
der Schrecken aller Straßen- und Kirchenräuber, vermochte nur wenig zu leisten.
Ein wohlthätiges Gegengewicht bot in dieser rohen Zeit die Kirche. Die Sonn-
und Feiertage, sowie der Freitag waren dem Gottesfrieden geweiht. Wer von
Donnerstag Abend bis Montag früh Gewalt verübte, verfiel dem Bann. So
mußten wenigstens einen Theil des Jahres die Waffen ruhen, und die viele»
Festtage förderten das Friedenswerk.
Von Seiten der Kaiser wurde zwar wiederholt der Landfriede geboten,
jedoch sonderbarer Weise immer nnr auf eine bestimmte Reihe von Jahren.
Nur die, welche ihm beitraten, hielten sich für gebunden, und Mindermächtige
vom Adel, so wie die Ritter, sahen in jedem Landfrieden nur das Mittel, sie
um ihre Gerechtsame und Freiheiten zu bringen. Daher das Sprichwort:
„Dem Landfrieden ist nicht zu trauen." Auch Rudolph von Habsburg, der
Faustrechtsbändiger, schloß einen solchen Landfrieden auf fünf Jahre. Er
brachte Furcht und Schrecken über die ritterlichen Landfriedensbrecher und zer¬
störte allein in Thüringen an die sechzig Ritterburgen. Die von hohen Felsen
hernbschaueuden letzten Ueberreste derselben erinnern uns noch heute daran,
daß ihre einstigen Bewohner zu den Wegelagerern schlimmster Sorte gehörten.
Riten und Roben dat is kein scheint,
Dat tun den Besten von dem Land!
Das war damals Rittermaxime! Auch Kaiser Rudolph vermochte sie
nicht auszurotten, und seine energischen Maßregeln blieben immer nur Palliative.
Das von Karl IV. auf dem Reichstage zu Nürnberg 1356 mit den
Stünden vereinbarte Reichsgesetz „die goldene Bulle" setzte zwar dem Faust-
recht Schranken, ließ jedoch das Fehderecht noch immer bestehen. Jeder An¬
griff war erlaubt, wenn nur drei Tage vorher ehrliche Absage erfolgt war.
Graf Eberhardt's von Würtemberg (f 1392) Wahlspruch „Gottes Freund und
aller Welt Feind" entsprach so ziemlich allgemein den Anschauungen der fehde¬
lustigen Ritterschaft. Man glaubte viel gethan zu haben, wenn man das Ver¬
wüster der Obst- und Weingärten, sowie das Abbrennen der Wohnungen fried¬
licher Einwohner untersagte, wenn man Geistliche, Gotteshäuser, Mühlen und
Pflüge als unverletzlich unter den Frieden stellte. Fürsten und Bischöfe
kämpften mit Adel, Prälaten und Städten, und diese wieder unter sich. Jeder
Stärkere hob seine Waffen gegen den Schwächeren. Jeder Vasall und jede
Innung hielt sich für berechtigt, Fehdebriefe zu erlassen. Die Leipziger Schuh¬
knechte schickten 1471 der Universität einen Absagebrief, und ein von Praun-
stein kündigte 1489 der freien Reichsstadt Frankfurt Fehde an, weil eine
Jungfrau daselbst seinem Vetter einen Tanz verweigert hatte. Gerade die
Psefsersäcke der reichsstädtischen Kaufleute waren eine vielbegehrte Beute. Tage
und Nächte hindurch lagerten die Ritter als Straßenräuber, wie Kaiser Max
sie nannte, an den Handelswegen; wurden sie von den Städtern aufgespürt,
so verloren sie häufig als Placker und adelsmäßige Taschenklopfer durch Hen-
kershand ihr Leben, blieben sie Sieger über die Bürger, so nahmen sie nicht
nur das Gut, sondern übten auch die rohesten Grausamkeiten an den reichs¬
städtischen Ballenbindern aus. Ruhme doch Götz von Berlichingen als Zeichen
besonderer Großmuth von sich selbst, er habe die Gefangenen niederknien und
sie ihre Hände auf den Stock legen lassen, als hätte er ihnen Hände und Kopf
abhauen wollen. „Dann aber," setzt er hinzu, „trat ich dem Einen mit dem
Fuß auf den H.......und gab dem Andern eins an das Ohr, das war
meine Straf gegen ihnen und ließ sie also wieder vor mir hergehen". Das
Ehrlose und Verwilderte eines solchen Lebens trat den Rittern nicht vor die
Seele; die Räubereien erschienen ihnen vielmehr als eine männliche und herz¬
hafte Unfrommheit, und hatten sie jedem Biedermann jegliche Zusage mit
Treuen und Glauben erfüllt, so glaubten sie sich, ungeachtet des Brennens,
Mordens und Raubens, gehalten zu haben, wie es sich für einen Frommen
und Ehrlichen vom Adel gebührt.
Endlich verkündigte Kaiser Maximilian I., von den Fürsten gedrängt,
auf dem Reichstage zu Augsburg 1495 den ewigen Landfrieden, so genannt
weil die früheren, wie bereits erwähnt, immer nnr auf eine bestimmte Reihe
von Jahren abgeschlossen worden waren. Gleichzeitig wurde das Reichs¬
kammergericht als höchste Instanz eingesetzt, um bei alleu Streitigkeiten zwischen
Gliedern des Reichs im Wege des Rechtens endgiltig zu entscheiden. Endlich
wurde auch noch eine Ordnung aufgerichtet, die dem Gebote des Landfriedens
den nöthigen Nachdruck geben sollte.
Der Fehdegeist ließ sich jedoch nicht so schnell bannen. Im Laufe des
16. Jahrhunderts handelt fast jeder Reichstagsschluß davou, „wie hinführo im
heiligen Reich Teutscher Nation Ruhe, Friede und Einigkeit gepflegt, bestän-
diglich erhalten und gehandhabt werden möge." Damit sah es jedoch noch
immer schlimm genug aus, und die Prozesse am Reichskammergericht wegen
Landfriedensbruchs nahmen kein Ende, ohne in der Sache viel zu ändern.
Zwischen Hessen und Pfalz tobte 1504 eine blutige Fehde, wobei die Land¬
gräflichen Kriegsvölker an der Bergstraße ebenso sengteu und brannten, wie
185 Jahre später die Franzosen Ludwig XIV. Im Norden wüthete 1519 die
sogenannte Hildesheim'sche Stiftsfehde zwischen dem Bischof von Hildesheim
und einem Theil seines Stiftsadels, unter dem Schutze von Braunschweig,
wobei in der Soltauer Schlacht 4000 Mann auf dem Platze blieben. Weniger
mörderisch war noch im Jahre 1555 eine Fehde zwischen Hans von Carlowitz
und Hans von Haugwitz, in den Annalen der Geschichte unter dem Namen
des Saukrieges bekannt, weil ersterer vom Schlachtfelde bei Würzen 700 Schweine
als gute Beute mit sich führte. Sickingen und Berlichingen kehrten sich auch
wenig genug an den ewigen Landfrieden, und als allerletzter Fehderitter darf
wohl Wilhelm von Grumbach gelten, der als Landfriedensstörer, Fürstenmörder
und Aechter 1567 auf dem Blutgerüste starb.
Solche Erfahrungen gaben Zeugniß, wie wenig die wegen Handhabung
des Landfriedens von Kaiser und Reich gegebenen Ordnungen, so viel auch an
ihnen fast auf allen Reichstagen herumgebessert und geflickt worden war, ihren
Zweck erfüllten. Als daher im Jahre 1555 auf dem Reichstage zu Augsburg
der Religionsfriede abgeschlossen wurde, sah man sich genöthigt, wegen Hand¬
habung desselben, sowie auch des Landfriedens, neue reichsgesetzliche Anord¬
nungen zu treffen. Sie sind zusammengefaßt in der sogenannten Reichsexeku-
tions-Ordnung, deren in späteren Reichsgesetzen öfters Erwähnung geschieht
und die, wenn auch vielfach verändert und verbessert, bis zu Ende des Reichs
zu Recht bestand.
Was es nun mit dieser Reichsexekutions - Ordnung auf sich hatte, das
besagt Z 96: „Es soll auch diese Ordnung und Handhabung des Fried¬
standes und Landfriedens gegen diejenigen, fo im heiligen Reich Teutscher
Nation Vergadderungen, Versammlungen, Aufwiegelungen und Notierungen
der Kriegsleut zu Roß und zu Fuß anstifften, auch wider diejenigen, welche
die Stände des Reichs, so jetzt gemelten der Kayserlichen Majestät, Unseren
und des heiligen Reichs Landfrieden unterworffen und in Landfriedbrüchigen
Sachen an dem Kayserlichen Cammer-Gericht Recht nehmen und geben, ver¬
gewaltigen, bekriegen, überziehen, ihr Land und Leut, Haab und Güter, wider
berührten Landfrieden einzunehmen und sie zu beschädigen unterständen, auch
verstanden und vollzogen werden."
In Neuhochdeutsch übertragen gab also die Reichsexekutions-Ordnung
Mittel und Wege an die Hand, um Aufruhr und Empörung im Lande zu
unterdrücken, so wie Meutereien bei den Truppen niederzuschlagen, den reichs-
kammergerichtlichen Urtheilen Geltung zu verschaffen und fehdelustige Stände,
die sich ihr Recht selbst suchen wollten, zur Raison zu bringen.
Hatten früher schon seit der von Kaiser Maximilian geschaffenen Kreis-
eintheilung sogenannte Kreishauptleute bestanden, zur Exequirung der Acht und
des Bannes, so enthielt die neue Exekutions-Ordnung eine ausdrückliche Be¬
stimmung, wonach jeder Kreis einen Kreis-Obersten; — nicht zu verwechseln
mit dem Obersten eines Kreis-Regiments, — nebst etlichen Zugeordneten zu
wählen verpflichtet war. Dieser Kreis-Oberste hatte die Handhabung des
Land- und Religivnsfriedens zu überwachen, da wo er gestört wurde einzu¬
schreiten, den kammergerichtlichen Urtheilen, sowie überhaupt den Reichsgesetzeu,
Geltung zu verschaffen und endlich auch die kaiserliche Acht zu vollstrecken. Zu
dem Ende waren die Stunde verpflichtet, auf Requisition des Kreis-Obersten,
„ohne einige cmfzttgige Ausflucht und Ausrede/' die etwa benöthigte Miliz,
und zwar nach Verhältniß der Reichsmatrikel, zu gestellen. Reinste die eigene
Truppenzahl nicht aus, so waren auch die benachbarten Kreise zur Hilfelei¬
stung verpflichtet.
Wenn auch keineswegs in der Regel, so wurde der Kreis-Oberst doch sehr
häufig aus der Zahl der Kreisansschreibenden d. h. der mächtigsten Fürsten des
Kreises gewühlt. Allerdings lag in diesem Falle für den Kreis-Obersten die Ver¬
suchung sehr nahe, sich über die Mitstünde eine Hoheit anzumaßen, die ihm
nach den Reichsgesetzen nicht zukam. Die ebenfalls aus der Zahl der Stunde
durch Wahl hervorgegangenen Beigeordneten, eine Art von Hofkriegsrath, sorgten
jedoch dafür, daß Alles in gehörige Erwägung gezogen und, keineswegs immer
im Interesse des Landfriedens, nichts übereilt wurde.
Nach dem Westphälischen Frieden, der das Neichsregiment nach allen
Richtungen hin schwächte, dagegen die Ungebundenheit der einzelnen Stände
besiegelte, kam naturgemäß das Amt eiues Kreis-Obersten immer mehr in Ver¬
fall. In einzelnen Kreisen fanden gar keine Wahlen mehr statt, so im ober-
und niedersächsischen Kreise, wo mehrere Jahrzehnte lang die Kreistage nicht
zusammenberufen wurden, und die Kreisverfassung vollkommen ruhte. Im
Jahre 1740 konnten sich die oberrheinischen Stände, nach dem Absterben des
Landgrafen von Hessen-Darmstadt, über die Wahl eines Kreis-Obersten nicht
einigen. Die Fürstlichen Deputirten verlangten einen Fürsten, ^speziell den
Regierungsnachfolger des verstorbenen Landgrafen, wogegen die Gräflichen
Deputirten protestirten: „Es sei jetzt die Reihe an ihren Herren Prinzipalen
und müßte sonach einer aus dem Grasenstand zum Kreis-Obersten erwählt
werden." Eine Einigung fand nicht statt, und so blieb denn die Stelle unbe¬
setzt. Wo ja noch ein Kreis-Oberster existirte, da war er, nach Moser, in
Msew nicht das, was er nach den Reichsgesetzen sein sollte. Es entwickelte
sich aus diesem Amt eine Kreis-Generalität, die jedoch mit den Funktionen
des ersteren kaum etwas gemein hatte.
Nichtsdestoweniger war man beim Westphälischen Friedensschlüsse auf
die Reichsexekutious-Ordnung wieder zurückgekommen, und die Kreisaus¬
schreibenden Fürsten, sowie die Kreis-Obersten erhielten ausdrücklich Anweisung,
wenn nöthig, dem Recht mit gewaffneter Hand Geltung zu verschaffen. Das
Verfahren wurde jedoch mit so viel Klauseln umgeben, daß, wie wir aus dem
demnächst mitzutheilenden Beispiele ersehen werden, selbst im besten Falle
meistens Jahre darüber hingingen, ehe dem gekränkten Rechte Geltung ver¬
schafft wurde. Erst wenn der Beleidiger des Gesetzes auf gar nichts eingehen
wollte, dann dürfte der Verletzte die vollkommene Exekution bei dem Kreisaus-
schreibeuden Fürsten, oder dem Kreis-Obersten, oder aber auch bei Kaiserlicher
Majestät selber, „durch absonderlich ohne Aufenthalt zu verordnenden OoiAnüssarins
ÄÄ loczg.," nachsuchen. Grade um diese Zeit, d. h. nach dem Westphälischen
Friedensschluß, wäre aber eine scharfe Handhabung der Reichsexekutions-
Ordnung recht nothwendig gewesen. Viele Stände weigerten sich, den Be¬
stimmungen des Friedens - Instruments nachzukommen, sofern dadurch ihr
Interesse geschädigt wurde, namentlich wenn es sich um Wiederabtretung während
des Krieges okkupirter Landestheile handelte. Die Streitigkeiten darüber nahmen
kein Ende und erstreckten sich bis in die ersten Jahrzehnte des neuen Jahr¬
hunderts hinein.
Ganz abgesehen von solcher Renitenz gegen völkerrechtlich gewordene
Friedensverträge gaben noch im Jahrhundert der Aufklärung wahrhafte Baga¬
tellen, wie Verletzung des Jagd- oder des Weiderechts, häufig genug Veran-
lassung zu Streitigkeiten, die nicht selten zu brutaler Selbsthilfe führten. Im
Jahre 1726 unternahm die Reichsstadt Nördlingen wegen verschiedener Klagen
gegen den Fürsten von Oettingen einen Streifzug in dessen Land und führte
eine Anzahl Gefangene als Geiseln mit sich. Der Fürst, nicht in der Lage,
die Stadt mit stürmender Hand nehmen zu können, verfügte eine Viktualien-
sperre gegen dieselbe. Es war dies eine für Nördlingen nicht ganz unbedenk¬
liche Maßregel, da es, überall von Oetting'sehen Gebiet umgeben, mit der Zeit
ausgehungert werden konnte. Der Kaiser legte sich in's Mittel, und die Reichs¬
stadt mußte die Gefangenen wieder herausgeben; damit hatte jedoch der Streit
noch lange kein Ende. Anno 1742 okkupirte der Kurfürst von der Pfalz un¬
versehens einen großen Theil der Grafschaft Sayn, Altenkirchen'schen Antheils,
worauf sich aber das westphälische Kreisausschreibe-Amt nachdrücklich in's
Mittel legte und den Kurfürsten vermochte, von seinen unbefugten „Attentatis"
wieder abzustehen. Noch im Jahre 1749 kam es zwischen Mainz und Würz¬
burg, — zwei geistlichen Fürsten, — zur offenen Fehde wegen eines streitigen
Forstes. Köln und Kurpfalz kämpften mit gewaffneter Hand um gewisse
Strombauten, welche der eine Staat anlegen, der andere aber nicht dulden
wollte. Zur Behauptung eines von Hessen-Darmstadt bestrittenen Rechtes des
Kurfürsten von der Pfalz auf einen im jenseitigen Gebiete zu erhebenden
Zehnten fielen kurpfälzische Truppen in Hessen ein und führten mit Gewalt
die eingesammelten Früchte aus den Scheunen der Unterthanen weg.
Waren Kaiser und Reich bei ihrer notorischen Schwäche nur zu oft nicht
im Stande, die offene Fehde zu verhüten, fo durfte man es schon als ein
Glück erachten, wenn sie wenigstens dem entbrannten Kampfe ein baldiges Ziel
zu setzen vermochten. Wir könnten noch eine reiche, allerdings auch recht
dornige Blumenlese von solchen Akten der Selbsthilfe geben, wollen uns jedoch
darauf beschränken, zum Schluß noch einen Fall ausführlicher zu behandeln,
der insofern von besonderen Interesse ist, als hierbei das durch die Reichs-
exekutions-Ordnung vorgesehene letzte Mittel, dem Recht Geltung zu verschaffen,
die Ultimi ratio durch Waffengewalt, zur Anwendung kam.")
Was zunächst die Veranlassung zu solchem Exekutions-Verfahren anbetrifft,
so hatte im Anfang des zweiten Jahrzehnts vorigen Jahrhunderts der Land¬
graf von Hessen-Kassel wegen angeblicher Forderungen an Hessen-Rothenburg
die diesem Hause vertragsmäßig zugehörige Niedergrasschast Katzenellenbogen,
sowie die Festung Rheinfels, nicht nur in Besitz genommen, sondern auch die
Rothenburgischen Beamten gefänglich eingezogen und die Einwohner durch
übermäßige Einquartierungslast, sowie durch schwere Auflagen hart bedrängt.
Nachdem der Kaiser wiederholt zum friedlichen Ausgleich gemahnt, wurde
endlich im Jahre 1716 der Landgraf von Hessen-Kassel peremptorisch zur
Wiederherausgabe der unrechtmäßiger Weise in Besitz genommenen Landestheile,
resp, zur Räumung der Festung Rheinfels aufgefordert, eventuell ihm mit
Exekution gedroht. Die Aufforderung blieb jedoch ohne Erfolg. Nach ver¬
schiedenen mißglückter Versuchen, Kaiser und Stände günstiger für sich zu
stimmen, schickte endlich der Landgraf Ende des Jahres 1717 einen Abgesandten
nach Wien an den Kaiser mit der Bitte, ihn wenigstens so lange im Besitz von
Rheinfels und Zubehör zu lassen, bis festgestellt und ihm vergütet worden, was
er an Unkosten bereits für diese Festung verwendet habe. Dem Landgrafen
wurde jedoch unter dem 11. Januar 1718 von Kaiserlicher Majestät die
Resolution zu Theil, daß er „zur Vermeidung ohnfehlbarer Exekution, sich
nur in deutsch-patriotischer Gelassenheit zu freiwilliger Abtretung, mit Vorbe¬
halt seiner suchend oder habenden Rechte, fügen möchte, weil sonst es Jhro
Kaiserliche Majestät vor Gott und dem Reich nicht verantworten könnten, mit
thätiger Hilfe dem klagenden Rheinfelsischen Landgrafen länger zu entstehen."
Da jedoch der Landgraf von Hessen-Kassel trotz dieser wiederholten eindringlichen
Aufforderung keine Miene machte, sich in deutsch-patriotischer Gelassenheit zu
fügen, so wurde endlich mit der angedrohten Exekution Ernst gemacht.
Zunächst wurde der oberrheinische Kreis damit beauftragt, gleichzeitig
aber angeordnet, daß der kurrheinische, der obersüchsische, der westphälische
und fränkische Kreis ^uxlli^toria zu stellen haben. Einzelne der Stände
suchten sich jedoch der ihnen auferlegten Verpflichtung zu entziehen, wie aus
einem von dein Kaiser an den Kurfürsten von Sachsen gerichteten Mahn¬
schreiben hervorgeht. Es heißt daselbst am Schluß: „Nachdem wir aber ver-
nommer, daß vorgemeldeter Euer Liebden Minister sich der in Unserer und
des heiligen Reiches Stadt Frankfurt am Main, besagter Exekution halber,
vorgewester Versammlung der Kreis-Direktor-Gesandten gegen alles Vermuthen
entzogen, so geben wir Jhro Freund - Oheim- Brüder- und nachbarlich zu
bedenken, wo man in dem Römischen Reiche endlich hinverfallen werde, wenn die
von einem Römischen Kaiser zum Vollzug der Friedensschlüsse und zumal zur
Handhabung der Gott gefälligen lieben Gerechtigkeit, denen Reichs- Satz-
und Exekutious - Ordnungen nach, auf genannte Kreise und zuförderst deren
Direktorin die Gebühr und Schuldigkeit zu verrichten, sich aus eignen Neben¬
absichten willkürlich entziehen und solche nur nach ihrer Gelegenheit üben
wollen u. s. w." Kursachsen fügte sich anscheinend, schließlich trat jedoch der
ganze obersächsische Kreis aus ganz nichtigen Gründen der Exekution dennoch
nicht bei. Ebenso wußte sich auch der westphälische Kreis ungeachtet aller
Kaiserlichen Mahnungen der Exekntions-Ausführung zu entziehen. Trotzdem
kam es nach langem Wort- und Briefwechsel endlich doch zur That. Anfang
Juli 1^18 sammelten sich unter dem Befehle des knrpfälzischen General-Feld¬
zeugmeisters Freiherrn von Jsselbach die Exekutionstruppen im Darmstndtischen.
Dieselben sollten bestehen aus:
Mit der in Aussicht gestellten Reserve von 600 Mann Hütte sonach die
Exekntions-Armee eine Stärke von 368K Mann haben müssen. Daß diese
Stärke nicht erreicht wurde, war uach dem bei alleil Gelegenheiten, wo es sich
um irgend welche Leistungen der Stände handelte, beliebten Moderationssysteme,
selstverständlich. Von den drei und zwanzig Stünden des Fränkischen Kreises,
welche an den 800 Mann partizipirten, stellte ein Stand sein Kontingent gar
nicht und zehn das ihrige es nur unvollständig.
Endlich sollte am 21. Juli Nachts 12 Uhr in das Hessen-Kassel'sche Gebiet
eingerückt und der Kameral-Hof Fortenbach besetzt werden. Infolge eines
Protestes des hessischen Generals von Boyneburg kam jedoch die Besetzung
erst am 23. Morgens zur Ausführung. In der Zwischenzeit berichtete der
Oberst Treskau der fränkischen Kreistruppen an seine hochgebietenden Herren
über die Präkautionen, welche der Gegner getroffen, und da heißt es denn
nnter anderm: „Die hessischem Dispositiones aber sind solcher Gestalt beschaffen,
daß sie von den ärgsten sind, nicht wachsamer sein könnten, indem nicht allein
die mehrsten an der Grenze gelegenen Dörfer verschanzet, verpallisadiret und
mit Kavallerie, auch Infanterie durch und durch besetzet sind, sondern auch
durch beständiges Patrouilliren alle Movements von den Unsrigen gar fleißig
rekognosciren lassen, welches ihnen um so leichter zu thuen, als wir durch die
hiesigen Quartiersleute, die alle gut hessisch sind, verrathen und verkaufet
werden."
Trotz aller dieser Fährlichkeiten faßte aber General-Feldzeugmeister von
Jsselbach dennoch den heroischen Entschluß, die Grenze zu überschreiten. Es
geschah dies am 23. Juli Morgens mit Tagesanbruch, jedoch nur mit einer
Heeresmacht von 1400 Mann Infanterie und 100 Reitern, demnach fehlte an
der Sollstärke weit über die Hälfte. -Zunächst basirte man sich gehörig, um
gegen alle Eventualitäten gesichert zu sein. Zu dem Ende wurde der Kameral-
Hof mit einem Kapitän und 150 Mann besetzt und zwar, wie es in der offi¬
ziellen Relation ausdrücklich heißt: „der Retirade halber im benöthigten Falle."
Die Relation fährt dann weiter fort: „Als wir nur etwas über eine Viertel-
stunde avcmciret waren ersahen wir auf dem Felde ohnweit Eßdorf drei hessische
Eskadrons in ordre und rechter Hand ebensoviel rangiret, von welchen sogleich
ein Officier uns entgegengeschicket wurde mit Protestation und mit der Ver¬
sicherung, die Herren General von Sack und von Bohneburg würden die
nöthigen Mesures dagegen vorkehren, dem dann in Antwort ertheilet worden,
daß wir im Namen Ihrer Kaiserlichen Majestät und des gescunmten Römischen
Reichs, von Herren General von Jsselbach dahin beordert wären, die schon
längst allergnädigst zuerkannte Exekution zu vollziehen, worüber uns das mit¬
gegebene Kaiserliche Patent legitimiren würde." Trotzdem die pfälzische In¬
fanterie und Kavallerie, welche zur Sicherung der rechten Flanke weiter rechts
marschirt, sich mittlerweile mit den übrigen Reichsvölkern in Verbindung gesetzt
hatte und sonach die ordrs as da.eg.111s hergestellt war, trat dennoch im Vor¬
rücken ein Stillstand ein. Es wurde hin und her parlamentirt, und der General
so eust zeigte trotz des Kaiserlichen Patents in seiner Tasche eine Geduld, welche
mit der Schwäche wohl sehr nahe verwandt war, denn den Hessen ward eine
nochmalige Bedenkfrist von achtundvierzig Stunden gewährt. Infolge dessen
verließen die Exekutivnstruppen wieder das feindliche Gebiet und nahmen an
der Greuze im Amöneburg'schen und Darmstädtischen abermals ihre Quartiere.
Was nun weiter geschah, entnehmen wir einem Berichte des schon oben
erwähnten Obersten Treskau, der unter dem 28. Juli 1718 an das fränkische
Kreisdirektorium wie folgt schreibt: „Alldieweilen nach der expirirten Dilation
der zwei mal vierundzwanzig Stunden von Hessen-Cassel'scher Seite keine
genauere Deklaration erfolget und man wahrnehmen können, daß die Herren
Hessen um mehrere Zeit zu gewinnen die Exekution desto länger zu verhindern,
uns nur mit höflichen Complimenten aufzuziehen sucheteu, so ist von diesseitig
kommandirenden Herren General von Jsselbach die endliche Ordre gestellet und
denen sämmtlichen Kommandirenden der Rendez-vous in dem Kur-Mciinzischen
Walde auf dem sogenannten Hufeisen angewiesen worden. Wir haben uns
also den 27. hujus in der Frühe obenerwähntenmcißen gesammelt, und nachdem
alles Nöthige verabredet worden, marschirten wir auf dem Wald gegen das
hessische Dorf, Ergesdorf genannt, allda wir uns auf der Höhe folgendermaßen
formirter: Auf beiden Seiten hatten wir unsere Kavallerie, die Kommandirten
von Mainz und Trier formirter den rechten Flügel, Kur-Pfalz den linken und
die Franken in der Mitte. Die Hessen dagegen hatten sich mit 18 Eskadrons vor
ihrem Dorf in grader Linie gegen uns übergesetzt. Das Dorf an sich selbsten
war wohl verpallisadiret, auch überdies stark mit Infanterie gespickt, welcher
die Bauern mit Heugabeln, Dreschflegeln, Spießen und Stangen zur Seite
stunden."
„Wie wir uns um wandten, rechts oder links, dergleichen thäten die Hessen
mit ihrer Kavallerie auch. Endlich wurde befohlen orärs as Lat-Mils mit
aufgesteckten Bajonnet und mit geschultertem Gewehr anzumarschiren, bei Leib-
und Lebensstrafe aber Niemand zu schießen, uoch einige Thätlichkeit zu verüben,
es sei denu Sache die Hessen gäben dann mit dem Vorgang Anlaß dazu
Sollte sich aber begeben, daß die Kavallerie sich nicht wehrete und nur ge¬
schloffen hielte, doch nicht weichen noch Platz machen wollte, so sollte unsere
Infanterie mit gefällten Bajonnetten ihren Marsch prosequiren, die Reiterei
würde dann schon Platz machen. Als wir nun Sir tronts mit klingendem Spiel
anmarschiret und etwa noch einen kleinen Pistolenschuß von den Hessen waren,
kam General Herr von Boyneburg zu dein vor unserer Fronte herreitenden Herren
General-Feldzeugmeister von Jsselbach gejaget, fragend: „Jhro Exellenz was
seind Sie zu thuen resolviret?" Dieser: „Den Kaiserlichen Befehl zu exequiren!"
„Ille, so sage ich dem Herren, daß wir Ordre haben uns zu wehren! Adieu,
votre serviteur!" Damit sprengte General von Boynebnrg wieder zu seiner
Kavallerie zurück."'
Das Exekutionsverfahreu schien nunmehr eine ernste Wendung zu nehmen,
denn wenn beide Feldherren mit Entschiedenheit dabei beharrten, ihre beider¬
seitigen Aufträge durchzuführen und Gewalt der Gewalt entgegenzusetzen, dann
mußte es unfehlbar zum Kampfe kommen. Die ganze Affaire verlief jedoch
mehr in der Art und Weise, wie man auf der Theaterbühne Schlachten liefern
sieht, und der schließliche Ausgang war weniger tragisch, als vielmehr tragikomisch.
Doch gönnen wir dem kreisoberstlichen Berichterstatter wieder das Wort: „Wir
marschirten nichtsdestoweniger fort und fanden, daß die Kavallerie hessischer Seits
kein Gewehr angerühret, sondern sich solchergestalt geschlossen hielt, daß ohne Gewalt
zu gebrauchen nicht durchzukommen sei. Es ging sodann das Bajounetfüllen an,
allwo wir ziemlich untereinander meurt wurden, und obschon einige Hessische
Kavallerie das Seitengewehr ausgezogen, haben sie es doch gleich wieder ein¬
gesteckt und solche eoQtsrmlios gehalten, dergleichen wenig von Soldaten ist
gesehen noch gehöret worden. Die Menge der Officiere hatte zu thuen die Leute
mit den Bajonetten abzuhalten und dennoch sind gleich auf dem Platze drei
Pferde todtgestochen und noch verschiedene andere, wie auch Officiere und Ge¬
meine, blessirt worden. Die Hessische Kavallerie ließ uns dann Passiren, setzte
sich aber gleich hinter uns wieder und dichte an dem Dorf rückten zwei andere
Eskadrons Hessischen Regiments neben hervor, hinter welchen die Infanterie
im Dorf war. Wir waren also in der Mitte und war nicht rathsam, um zu
einer entsetzlichen Masacre keinen Anlaß zu geben, etwas zu tendiren, allermaßen
das Volk beiderseits sehr verbittert war. Wir hielten über eine halbe Stunde
beisammen, sahen einer den anderen an, endlich sind wir linker Hand ab nach
dem Kurmainzischen Alendorf marschiret. Wir werden nun allem Anschein nach
in das Riedeselsche, Darmstadt und Fuldaische, um größeren Renfort abzu¬
warten verleget werden."
So schloß bei Egersdorf eine große Haupt- und Staatsaktion, die uns
lebhaft an den großen Schlachttag von Bronzell erinnert. Hier der berühmte
Schimmel, dem allerdings trotz Verwundung noch ein langes Leben beschieden
War, dort die drei gebliebenen Pferde. Gegen das Feldherrntalent des Herrn
Kreis-General-Feldzeugineisters ließe sich allerdings manches einwenden; er hatte
seine Truppen in eine ganz verzweifelte Lage gebracht. Dicht vor sich ein
wohl verpallisadirtes Dorf, stark mit Infanterie und bewaffneten Bauern besetzt,
hinter sich 18 Eskadrons hessischer Kavallerie. Im Ernstfalle war eine blutige
Niederlage oder eine Kapitulation auf offenem Felde gewiß. Doch der General
von Jsselbach wußte sich mit mehr diplomatischer Klugheit als Feldherrngröße
aus der Affaire zu ziehen. Sich links seitwärts in die Büsche schlagend, er¬
reichte er bald mit seinen Truppen die nahe Grenze und nahm in befreundeten
Nachbarländern, auf bessere Gelegenheit harrend, wieder von neuem Quartier.
Es würde zu weit führen und nicht zur Sache gehören, die nunmehr
wieder aufgenommenen Verhandlungen eingehend zu besprechen. Jedenfalls
wurde die fortgesetzte Bedrohung von der Grenze her mit der Zeit dem Land¬
grafen unbequem, und er versuchte dadurch ein Abkommen zu treffen, daß er
versprach, die Festung Rheinfels u. f. w. räumen zu wollen, jedoch unter der Be¬
dingung, daß zuvor die Exekutionstruppen wieder nach ihren heimathlichen
Standorten abrücken sollten. General von Jsselbach hielt jedoch, seiner aus¬
drücklichen Instruktion gemäß, den Zweck der Exekution nicht eher für beendet,
bis die Räumung des Rothenburg'schen Gebiets von Seiten des Landgrafen
Wirklich erfolgt sei. Er drohte wiederholt mit nochmaligem Einrücken in das
Hessen-Kassel'sche Gebiet, wogegen der Landgraf die bestimmte Erklärung ab¬
geben ließ, der Gewalt mit Gewalt entgegentreten zu wollen. Endlich aber,
nachdem alle Verhandlungen zu keinem Resultate führten, die Exekutioustruppen
vielmehr in unbequemer Nachbarschaft verblieben, fügte sich der Landgraf in
das unvermeidlich Erscheinende. Gegen Ende des Jahres wurden die Festungen
Rheinfels und die Kees von dem kampflustigen Vetter geräumt, und der Land¬
graf von Hessen-Rothenburg nahm wieder Besitz von seinen Landen.
Wenige Jahre bevor das Stundenglas des heiligen Römischen Reiches
abgelaufen war, bedrohte uoch einmal ein Fürst aus dem Stamme der Kalter
den Landfrieden. Nach dem Ableben des Grafen Philipp Ernst zu Schaum¬
burg-Lippe, im Anfang des Jahres 1787, rückten Hessen-Kassel'sche Truppen
in die Grafschaft ein, um dieselbe als angeblich heimgefallenes Lehn für den
Landgrafen in Besitz zu nehmen. Hätte die Wittwe des verstorbenen Grafen
ihren kampfesmuthigen Truppen nicht ausdrücklich jeden Widerstand untersagt,
so würde es unfehlbar zum Blutvergießen gekommen sein. Die Lippischen
Völker fügten sich in das Unvermeidliche, nur die dreißig Mann starke Be¬
satzung der Feste Wilhelmstein im Steinbilder Meer wies jeden Kapitulations¬
antrag zurück. Zum Glück ließ es dies Mal der Landgraf ans eine Exekution
nicht ankommen, zog vielmehr auf ernstes Mahnen des Kaisers seine Truppen
wieder zurück, und der tapfere Kommandant des Wilhelmstein's, Hauptmann
Rottmann, konnte seiner Herrin „das imprenable Bollwerk" in jungfräulichen
Zustande wieder überliefern.
Besser als eine lange Abhandlung über das frühere deutsche Staatsrecht,
dürsten die vorstehenden Schilderungen Zeugniß davou geben, was es noch im
vorigen Jahrhundert mit der llvörtas AczrMiuiie^, mit der altehrwürdigen
Reichsverfassung und ihren Rechtszuständen zu besage» hatte. Auch die deutsche
Wehrverfassung wird dadurch in ihrer ganzen Verkommenheit gekennzeichnet.
Die hier folgenden Notizen sind einer Arbeit entnommen, wie sie zur
Freude aller Verständige:? gegenwärtig in Frankreich häufiger an Stelle der
chauvinisten Elaborate der letzten Jahre treten.*) Der Verfasser hat 1858
bis 1859, zwei Jahre, an der Berliner Universität studirt und ist, wie schon
der Gegenstand seiner Arbeit beweist, nicht allein der deutschen Sprache mächtig,
sondern auch, für einen Fremden, vollkommen heimisch in der deutschen klassi¬
schen und modernen Literatur. Im Jahre 1873 wurde er, wie es scheint in
vertraulich offiziöser Mission, vom Minister Simon nach Deutschland gesendet,
um das hiesige Schulwesen zu studiren, und man kann nicht sagen, daß der
Minister seineu Mann schlecht gewählt habe. Urtheile mancher Art, die dem
deutschen Leser in den nachfolgenden Zeilen mindestens sonderbar erscheinen
werden, selbst einige ganz entschieden unrichtige Behauptungen, wird von einem
Franzosen Niemand anders erwarten können. Sie können einmal nicht aus
ihrer Haut heraus, und diese ist dermaßen mit Nationaleitelkeit durchtränkt,
daß sie eher alle Thatsachen der Weltgeschichte verkehren und verzerren, als
zugeben, Unrecht zu haben. Sollte einmal ein einsamer Freund der Wahrheit
den Muth haben, anders zu handeln, so kann er sicher sein, daß seine Be¬
mühung nutzlos verhallen wird in dem wüthenden Geschrei einer tobenden
Opposition, wie Oberst stosset und Andere es sattsam erfahren haben. Dem
Praktischen Weltmann, der von der Veröffentlichung seiner Ansichten sich irgend
welchen Erfolg verspricht, bleibt daher gar nichts anderes übrig, als mit den
Wölfen zu heulen, was denn auch M. Brcal, und zwar mit einer gewissen Passion,
thut. Er würde sonst eben besten Falles todt geschwiegen werden, und am
allerletzten hätte ihm die Revue ihre deutsch-feindlichen Spalten geöffnet. Für
uns aber, die wir objektiver zu urtheilen verstehen, ist es nicht ohne In¬
teresse, über unser Schulwesen Urtheile zu lesen, die ein Spiegelbild unserer
eigenen abgeben, wenn auch der Spiegel, keineswegs immer tren ist. Der
Verfasser erzählt einleitend, daß er sich durch Lektüre einer Anzahl pädagogi¬
scher deutscher Werke für seine Aufgabe vorbereitet haae, aus denen er eine
Anzahl namentlich anführt. Da hierdurch sein ganzer Standpunkt fixirt wird,
so gebe ich sie ebenfalls an: Korne, Wiese, Berichte über preußisches Schul¬
wesen. Pädagogische Enzyklopädie von A. Schmidt, 10 Bde. 1859—74. Pro¬
tokolle verschiedener deutscher Lehrerversammlungen.
Vor Allein hebt der Verfasser einen Gegensatz zwischen deutschem und
französischem Schulwesen hervor, das deutsche ist national — das französische
beruht auf deu kosmopolitischen Anschauungen der Revolution von 1789.
Natürlich erscheint ihm das letztere im Ganzen, man möchte sagen ans Prinzip,
empfehlenswerther, denn in allen Details, wie der Leser sogleich sehen wird,
geht seine Wahrheitsliebe sozusagen mit ihm durch und zwingt ihm zuweilen
aufrichtige, herzliche Anerkennung ab. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung,
die aber für den Kenner der französischen Verhältnisse sehr erklärlich ist, daß
seit 1866 das Nationalitätsprinzip in Frankreich ebenso allgemein für verwerf-
lich erklärt wird, als es vorher blind angebetet wurde. Es ist eine Folge der
Zentralisation ans allen Gebieten, daß man auch hierin blind einer gegebenen
Parole folgt. Es war ordentlich rührend zu sehen, wie sie einig darin waren,
alle Parteien, Legitimisten, Orlecnnsten, Bonapartisten, Republikaner, ein Prinzip
zu verdammen, das unerwarteter Weise nun auch ihnen Pflichten auferlegte,
auch an sie Forderungen stellte. Seit dieser Zeit schwärmt man plötzlich für die
vaterlandslose Kosmogenie der Enzyklopädisten von 89, von der man 30 Jahre
lang in Frankreich nichts mehr wissen wollte. Nach Ansicht des Verfassers (Brcal)
ist es schon seit dem Beginn dieses Jahrhunderts nicht mehr wahr gewesen, daß
wir das Volk der abstrakten Denker waren, schon seit der Zeit Napoleon's I.
hätten wir mit wilder Energie alle unsere philosophischen, literarischen und
historischen Studien in den Dienst einer energischen, thatkräftigen Politik ge¬
stellt. Ach dn lieber Gott, leider ist's nicht so gewesen, wir wissen das am
besten! —
Zuerst schildert Herr Breal einen Geschichtsunterricht des Direktor Bonnet
in der Ober-Prima des Werber'schen Gymnasiums in Berlin. Er nennt's
Friedrich-Werber-Gymnasium. Hierbei berührt ihn angenehm der Gegensatz zu
den französischen Anstalten gleichen Ranges, daß der Direktor eine, häufig
mehrere Lehrdisziplinen am deutschen Gymnasium selber vorträgt, währeud
sein französischer Kollege niemals selbst lehrend auftritt. Sehr richtig erkennt
B. alle vortheilhaften Folgen solchen innigen Verkehrs zwischen dem Leiter der
Anstalt und den Eleven. Ebenso sympathisch berührt ihn die persönliche Er¬
scheinung des alten ehrwürdigen Herrn, der ein Abkömmling französischer
Refugie's ist, welche nach Aufhebung des Edikts von Nantes aus Frankreich
flohen. Schmerzlich aber berührte es ihn natürlich, zu sehen, daß ein Sohn
Frankreich's es war, der in geistreicher und feuriger Vortragsweise über die
Regierung Friedrich's des II. hier zu einer Versammlung von 60 jungen Preußen
in einer Art sprach, die nothwendiger Weise ihren Patriotismus ebenso wie
ihre Kenntnisse vermehren mußte, wenn er daran dachte, daß Aehnliches
der Jugend seines Landes nicht geboten werden könne. In der That ist es
ein Fluch des unsinnigen Parteihaders, der Frankreich seit 90 Jahren zerreißt,
daß es unmöglich ist, einen eingehenden Geschichtsunterricht zu ertheilen, ohne
von den vier großen Parteien drei zu „froissiren". Die Bestrebungen unserer
Zentrumspartei zielen ja schon lange darauf ab, ähnliche hübsche Zustände
bei uns einzuführen, vorläufig bei dem Religionsunterricht, und unsere ortho¬
doxen Hofprediger steuern in demselben Fahrwasser.
Einige Tage später machte B. eine Lektion in einem Lehrerseminar mit,
nachdem ihm der Direktor vorher Einsicht in die Hefte der Eleven gestattet,
um sich eine Anschauung über den Gang des Geschichtsunterrichts an dieser
Anstalt zu bilden. Die Themata waren Schilderungen der Schlachten des
Monats August 1813. Erklärlicher Weise interessirte dieses Thema den Ver¬
fasser ganz besouders, und er spricht sich auch hier mit offener Anerkennung
aus, die seinen „patriotischen Beklemmungen" hoch anzurechnen ist. Er sagt:
„Mit einiger Neugier blätterte ich in diesen Studien künftiger Schulmeister:
aber ihre Arbeiten zeichneten sich sehr ans durch die Genauigkeit, mit der sie
den Hergang der strategischen Bewegungen wiedergaben. Die Positionen der
Armeen Vandamme's, Oudinot's, Macdonald's einerseits, die Stellungen
Blücher's, Bernadotte's, Schwarzenberg's andrerseits waren mit scharfer
Deutlichkeit wiedergegeben. Man fühlt überall heraus, daß dem Deutschen
geographische Kenntnisse in Fleisch und Blut übergegangen sind. Bemerkens¬
werth erschien mir auch die Sorgfalt, mit der überall kleine anekdotenhafte
Züge behandelt waren, um wichtige Personen oder Verhältnisse im Gedächtnisse
der Kinder zu fixiren. — Ueberall auch fand ich eine loyale Anhänglichkeit an
das Königshaus, die sich in ruhiger, durchaus nicht deklamatorischer Art und
Weise aussprach, ebenso eine große Begeisterung für die nationalen Helden
und die Freiwilligen. Die unvermeidlichen Ausfälle gegen den Erbfeind, so¬
wie die „Hinweisung ans Gottes Strafgericht schienen mir mehr offiziösen
Ursprungs zu sein" (!). —
Ganz besonders aber frappirt den Verfasser ein Besuch in einer oberen
Klasse der Viktoria-Mädchen)schule.*) Wer den Unterricht französischer Mäd¬
chenpensionate — Schulen kann man derartige Dressiranstalten nicht nennen —
kennt, wird über das Erstannen des Verfassers keineswegs erstaunen. — Auch
hier wählte der Verfasser den Geschichtsunterricht für seinen Besuch: „Der
Lehrer, ein entschiede» oratorisches Talent, hatte seinen Vortrag dem Zwecke
durchaus angepaßt. Daten und Namen traten mehr in den Hintergrund,
während das Interesse der Schülerinnen auf Sittenschilderung und Personen,
namentlich hervorragender Weiblichkeiten der Epoche (Karl's V. Zeit) gelenkt
wurde. So verweilte der Lehrer mit besonderer Betonung bei der Gemahlin
des Kurfürsten von Sachsen, welche mit kluger Energie das Land und Erbe
ihrer Kinder regierte und vertheidigte, da ihr Gatte dem kaiserlichen Zorne
weichen mußte." — Bewundernswerth fand der Verfasser die Einrichtung,
daß jedes Kind ein Blatt aus dem betreffenden Geschichtsatlas der Periode
vor sich hatte, um so dem Gang der Ereignisse besser folgen zu können. Charak¬
teristisch für seinen Standpunkt schildert Hr. B.: „Der Lehrer erwähnte den
Namen der Festung Torgau und setzte hinzu: „Suchet ans der Karte!" Als¬
bald senkten sich die jungen Köpfe nieder. „Habt Ihr gefunden?" „Ja!"
„Nun wohl, das ist eines unserer Bollwerke im Westen, wir Haben's gewonnen
und wollens behalten!" (Bewegung unter den Mädchen!) setzt Herr B. in
Klammer dabei. Ich fürchte, wenn jene Bewegung unter den jungen Damen
wirklich stattgehabt hat, daß sie einen anderen und weit prosaischeren Grund,
als überwallenden Patriotismus hatte, wie Herr B. anzunehmen scheint. —
Der Lehrer plauderte nach der Stunde mit dem Verfasser und erzählte ihm,
daß der Unterricht in der Mädchenschule ihn mehr interessire, als seine frühere
Thätigkeit auf dem Gymnasium und der Realschule, die er ebenfalls geübt
habe. Sehr richtig sagte ihm der betreffende Herr, daß man durchaus nicht
glauben dürfe, hier sei eine sanftere Disziplin zuzulassen, als bei einer Knaben¬
schule. Im Gegentheil sei häufig mehr Energie, vor Allem aber eine uner¬
bittliche Konsequenz in allen Beziehungen das einzig Nichtige einer Mädchen¬
klasse gegenüber. „Während bei dem Manne das Leben die Disziplin fortsetzt,
ist die Schule der Regel nach der einzige Ort, wo das Mädchen Disziplin,
Pünktlichkeit, Konsequenz lernen und sich über die Pflichten und deren Wechsel¬
wirkung zwischen dem Staat und dem Leben des Einzelnen unterrichten kaun!"
Einem Franzosen, der dabei an die Frauenerziehung im (üouvsnt av. saeiü
Lvsur zu Paris denkt, muß allerdings etwas „schwül" werden! Der Verfasser
befürwortet daher auch durchaus die Einführung ähnlicher Methoden betreffs
der Mädchenschulen und fügt einen Grund hinzu, der mir eben so neu war,
als er den Lesern erscheinen wird. Er sagt: „In einem Lande, wo die all¬
gemeine Wehrpflicht herrscht — wie ja auch jetzt bei uns — und der Mann,
selbst wenn er verheirathet ist, jeden Augenblick unter die Waffen gerufen
werden kann, ist es nöthig, die Erziehung der Frau so zu leiten, daß sie ihrem
Manne eintretenden Falles keine Schwierigkeiten macht!" — Das ist denn doch
mehr Theorie als Praxis, wie er denn auch gleich darauf selbst ausspricht,
daß im letzten Kriege die Frauen in Frankreich mehr als nöthig zum Kriege
hetzten. Für den, der den Zusammenhang kennt, den der Beichtstuhl zwischen
Pfaffen und Frauen herstellt, ebenfalls sehr erklärlich.
Der schwächste Passus der Berichte des Herrn B. ist unstreitig der nächstfolgende,
in welchem er sich bemüht, nachzuweisen, daß sämmtliche Forscher und Dichter alt¬
deutscher Mythologie und Geschichte „auxiliaires an xg,t,riotl8in«z" gewesen seien,
und der Gewinn, den die Wissenschaft aus den Erfolgen der Gebrüder Grimm und
ihrer Nachfolger, aus deu Errungenschaften der vergleichenden Sprachwissenschaft
gezogen hat, nur im Dienste des Patriotismus verwendet würde. Ju völligem
Vergessen des „si Ärw ka-plume lahm, rwir sse lahm" verlangt er für Frank¬
reich eine Neubelebung der Rolandssagen und Karlskreise, des Königs Arthur :e.
Es ist kaum möglich, eine Sache schiefer und einseitiger zu beurtheilen. Wenn
Siiurock's Dichtungen sicherlich lehren, das Vaterland zu lieben, so dienen sie
und alle verwandten Bestrebungen doch weit höheren Zwecken. Klopstock und
sein Bardengebrüll liest kein Mensch mehr, wie der Verfasser irriger Weise
glaubt. Dabei übersieht er vollkommen, daß ganz homogene Bestrebungen im
Süden Frankreich's, die um^us ä'Oe wieder zu beleben, von Regierung und
Volk im Norden mit sehr scheelen Augen angesehen werden, weil man politische
Tendenzen dahinter muthmaßt. Ein längere Deduktion, welche seiner Zeit
Professor Palmer als Direktor der öffentlichen Unterrichtsanstalten Würtem-
berg's über den wünschenswerten Einfluß der Schule auf den Patriotismus
des Volkes veröffentlicht hat, dient dem Verfasser dazu, um zu beweisen, daß
der deutsche Schulunterricht auch die Politik der Jetztzeit in den Bereich seiner
Thätigkeit gezogen hat. Ich kenne die angezogne Schrift nicht, nach der mit¬
getheilten Probe scheint sie ein in's Würtembergische übersetzter Stiele zu sein.
Jedenfalls ist sie sür Deutschland nicht maßgebend. Unter Anderem wird
darin dasjenige Volk, das einen guten Fürsten habe, aufgefordert, dem Himmel
für diese „Gottesgabe" zu danken. Ein sehr hübscher Gedanke, aber nicht ganz
frei von der Gefahr, unter Umstünden als Satire angesehen zu werden
— meint Herr B>, und ich auch. —
„Man kann sich vorstellen," sagt der Verfasser, „wenn von fremden
Nationen die Rede ist, daß der Erbfeind (das sind wir Franzosen, meine Herren
Landsleute, wenn Sie Nichts dagegen haben) nicht vergessen wird. Sobald
von Frankreich die Rede ist, stößt man auf eine solche Muth von Gehässig¬
keiten, daß es schwer ist Auswahl zu treffen. Er begnügt sich zum Beweise
da sür mit einer Stelle aus dem zweiten Bande von Schmidt's obenerwähnter
Enzyklopädie (Seite 708), wo der Haß in Bibelworte sich kleidet. Es be¬
zieht sich der Passus auf ein Schulprogramm der Stadt Magdeburg aus
dem Jahre 1856, wo der Verfasser es tadelt, daß man verabsäume, den
Patriotismus der jungen Leute hinreichend zu wecken."
Um zu beweisen, daß die deutsche Philosophie im Gegensatze steht zu der
kosmopolitischen Verflachung der vaterlandslosen Redensarten der Enzyklopä¬
disten der Revolution, zitirt er eine Stelle ans den Werken des 1870 verstor¬
benen Professor Thilo in Berlin. Die Stelle, die Herrn B. so kränkt, lautet:
„Mau muß eben in jedem Volke seine entwickelte Eigenart ehren und rücksichts¬
voll behandeln. ' ?rvxrwin hör LÄruirl. selbst dem Polen!" —
In einer Berliner Gewerbeschule hört er einen Vortrag über die Ursachen
der französischen Revolution und ist entrüstet, daß der Professor als einender
ernstesten Gründe anführt: die Erbitterung der ganzen höheren Stände und
namentlich der Land- wie Seeoffiziere über die schmachvolle Rolle, welche
Frankreich's Heere und Flotten unter der elenden Regierung auf allen Kriegs¬
schauplätzen seit zwei Menschenaltern fast allgemein spielte, und welche den so
leicht verwundbaren Nationalstolz auf das Aeußerste verwundete." — Kein
vernünftiger Mensch wird diese Ansicht falsch finden. Unser Mann aber seufzt:
„Allerdings ist es schwer, solche Behauptung zu widerlegen, aber es ist doch
traurig, wie man uns so niedrige Eitelkeit an Stelle hoher philosophischer und
kosmopolitischer Gesichtspunkte unterschiebt!" —-
Ferner hört er in Leipzig an der Universität einen Vortrag des Professor
Voigt vor circa 300 Hörern, über die Zeit vom 10. August 1792 bis zur
Hinrichtung Ludwig's XVI. mit an. Auch hier wird sein Gefühl „froissirt."
„Mit viel Kunst und schönem Vortrag waren alle inneren Motoren jener
großen Epoche zusammengestellt und wurden in ihrer Wechselwirkung zur An¬
schauung gebracht. Da war aber keine Spur jener erhebenden Begeisterung,
welche die Größe der Bühne, die Tragik des Drama's beanspruchen können.
Die Zuhörer erhielten ein Bild, das sie mit Widerwillen (inüxris) gegen alle
Parteien jener Zeit erfüllen mußte. Es wurde der Hofpartei Egoismus und
Verblendung, den Girondisten schwächlicher Ehrgeiz und Prinzipienreiterei, den
Jakobinern Habgier und Grausamkeit nachgewiesen. — Wohl waren mir alle
diese Anklagen bekannt, aber so aus einem Munde zusammengefaßt sie zu
hören, bedrückte mich. Bald glaubte ich einen Redner unserer Legitimisten,
bald einen Radikalen zuhören!" Wer jemals einen französischen Vortrag in seiner
gänzlich abgeschlossenen Subjektivität, der zudem in seiner outrirten Redeweise
und Gestikulation an einen keineswegs guten Schauspieler erinnert, gehört hat, der
wird erst ganz das mißvergnügte Erstaunen unsers Verfassers über eine Lehr¬
methode verstehen, die in ruhiger Objektivität nicht durch die Phantasie, sondern
durch die brutale Logik der Thatsachen wirkt. Der Franzose hat in der Haupt¬
sache weder Sinn noch Verständniß für historische Wahrheit. — Während in
Frankreich der Versuch des französischen Unterrichtsministers Duruy, die Ge¬
schichte der Jetztzeit in den Unterricht der Lehranstalten zu ziehen, den erbit¬
terten Widerstand der ganzen Presse in's Leben rief, da keine politische Partei
soviel ehrenhafte Männer bei der andern voraussetzte, um diesen Unterricht in
würdiger Weise, und ohne das parteizerrissene Land zu schädigen, auszuführen,
sieht der Verfasser mit stillem Neide, aber ehrlicher Anerkennung, auf die ana¬
logen deutschen Schulverhältnisse in hohen und niederen Schulen. Daß sein
Patriotismus auch hier häufig zu scharfe Worte findet, ist natürlich, aber ge¬
wiß kaum zu tadeln von dem, der im wirklichen Leben statt in Wolken lebt.
Selbst der biedere „Kohlrausch" macht ihm patriotische Beklemmungen. Der
gereizte Dünkel in Verbindung mit dem oben behaupteten geringen Wahrheits¬
sinn des Franzosen machen den sonst — für seine Verhältnisse — sehr ma߬
vollen Mann zum vollkommen unwahren Sophisten, wenn der Ausdruck nicht
zu schwach ist. Eigentlich nämlich müßte man es anders nennen, wenn Herr
B. uns versichert, in Frankreich würde der Jugend niemals auf solche Weise
systematisch der Fremdenhaß eingeimpft, da die neueste Geschichte vom Lektions¬
plan der Schulen gestrichen worden sei. Während ich dies schreibe, liegen zwei
französische Broschüren neben mir, die ich, so wie viele Tausende meiner
Kameraden, als Andenken von französischen Schlachtfeldern des letzten Krieges
gesammelt habe. Das eine ist eine populäre „Schießiustruktion" für das Chasse-
potgewehr, die entschieden von der Regierung herausgegeben und vermuthlich
gratis in den Departements vertheilt worden ist, sogleich oder kurz nach der Ein¬
führung der vom Marschall Niet entworfenen Neuformation der Mobilgarden
im Jahre 1868. Es trägt die Jahreszahl 1869 und gibt seinen Inhalt in
der Form eines Dialogs zwischen einem Soldaten und seinem jungen Bruder,
der keine rechte Lust hat, in die neue Mobilgarde einzutreten, selbstverständlich
aber im weitern Verlauf als begeisterter Krieger abzieht. — In dem ganzen
Büchlein wird von Anfang bis zu Ende von keinem anderen Feinde gesprochen,
als von „dem Prussien", der dann im weiteren Verlauf einfach mit „er" be¬
zeichnet wird. Stellen wie: „Siehst Du, mein Freund, er wird sich ver¬
dammt wundern, wenn er sieht, wie uns sein Zündnadelgewehr gar nicht mehr
imponirt, wenn ganz Sttddeutschland, das nur darauf wartet, unter unsern
Fahnen diesen anmaßenden und brutalen Feind zu Boden werfen wird. — Wenn
wir ihm seinen Raub von 1866 wieder abnehmen und an seine rechtmäßigen
Eigenthümer vertheilen werden", u. tgi. wiederholt sich auf jeder Seite. — Die
zweite Flugschrift ist ein Pamphlet der Kriegsliteratur von 1870, es ist auf
lithographischen Wege als Manuskript gedruckt und ohne Angabe des Druckers,
wegen der groben Verstöße gegen die Sittlichkeit. Es ist eine Spott- und
Schmähschrift mit schmutzigen Bildern im Sinne einer Literatur, wie sie unter
den Muhammedanern viel gelesen wird. Vermuthlich sind das moralische Er¬
oberungen, die die Franzosen von den Eingebornen Algerien's sich zu eigen
gemacht. Unter der Firma, die einzelnen Waffengattungen der preußischen
Armee zu beschreiben, werden Invektiven und Schmutzereien aller Art, theil¬
weise im Jargon der Pariser Pöbelsprache, auf uns gehäuft. Fast jeder Tornister
der französischen Infanterie enthielt eines oder das andere dieser Bücher, es
ist also eine offenbare Unwahrheit, zu sagen, in Frankreich kennt man diese
Sitte nicht, zum Haß gegen einen „Erbfeind" anzureizen. In der That könnte
ein frommes Gemüth sehr wohl „den Finger Gottes" und „eine gerechte Ver¬
geltung" darin erblicken, daß gerade ein so systematisch mißhandeltes und be¬
schimpftes Volk es gewesen ist, welches den französischen Dünkel zerbrach. Diese
beiden Ausdrücke verletzen nämlich den Verfasser ganz besonders, wenn er sie
in Bezug auf die „äöWstrss as ig, KsUs?ra,nos" regelmäßig anwenden sieht.
Ja, der Verfasser leugnet geradezu die Richtigkeit jener Behauptung, welche
sich in der Einleitung des Generalstabswerks 1870/71 befindet, und wo es heißt,
daß selbst in den Lehrbüchern für Dorfschulen sich häufig der Passus findet:
„Frankreich habe das Recht und die Pflicht nach Herstellung seiner natürlichen
Grenzen zu trachten." Dergleichen ist einfach lächerlich. Selbst in einem
Mädchenpensionat zu Ermenonville, das, von den Bewohnern verlassen, mir
und meinen Kameraden einige Tage zum Quartier diente, fanden sich Schul¬
bücher mit derartigen Stellen zu Dutzenden schon damals, im Jahre 1870.
In dem Protokolle der Konferenzen über das höhere Unterrichtswesen, abge¬
halten im königlich preußischen Unterrichtsministerium im Oktober 1873, findet
sich ein Passus, der die Frage auswirft, durch welche Mittel dahin zu wirken
sei, das Nationalbewußtsein der Schüler recht lebhaft zu erwecken. Auch dies
findet B, höchst tadelnswerth, fast unmoralisch. Obwohl nnn der Referent über
die Sache, der Direktor Dr. Jäger, ausdrücklich in seiner Rede hervorhebt, daß
man bei solchen Bestrebungen vor Allem die Gefahr meiden müsse, „tendenziös"
zu werden, und sich darauf beschränkt, Bilder und Statuen vou historischen:
Werth und Gehalt zum würdigen Schmuck der Unterrichtsräume zu empfehlen,
sowie auf passende Feier von Königs Geburtstag und Sedan-Tag hinzuweisen,
hierbei aber auch sich gegen jede Vermehrung derartiger Festtage ausspricht, so
erscheint auch dies dem empfindlichen Franzosen noch zu viel.
Vollen Beifall dagegen findet die sorgsame und genaue Kontrole, welche
bei uns der Staat ausübt in Bezug auf die Ertheilung des Unterrichts in
öffentlichen und Privatanstalten. Der Verfasser, obwohl ganz entschieden
katholisch gesinnt, scheint dennoch in dem Unterricht der geistlichen Schulan-
stalten sehr trübe Erfahrungen gemacht zu haben, und seine Klagen beweisen,
wie richtig bei uns Staat und Abgeordnetenhaus gehandelt haben, indem sie
der immer wachsenden Ausdehnung dieser Verdnmmnngsanstalten einen energischen
Riegel vorgeschoben haben. Herr B. stellt die entsprechenden Z Z des deutschen
und französischen Schulgesetzes einander gegenüber und behauptet, die unseren
seien viel weitgehender Und energischer. Das erscheint nun keineswegs richtig,
denn wenn die französischen Gesetze nnr von energischen Richtern gehandhabt
würden, so könnten' sie vollkommen ausreichen. Das Gesetz vom 12. Mai
1850 sagt nämlich: „Im Sinne des Gesetzes werden zwei Arten von Schulen
unterschieden: niedere und höhere. § 1. Die von Seiten der Gemeinden, De¬
partements oder dem Staat unterhaltenen Schulen heißen öffentliche. Z 2. Alle
andern Schulen heißen freie. Die Ueberwachung der Schulen richtet sich nach
dem vom obersten Unterrichtsministerium entworfenen Reglement. Bei den
freien Schulen beschränkt sich diese Ueberwachung auf die Sittengesetze, die
Hygieine und Sanitätspolizei. In den Gang des Unterrichts darf die Ueber¬
wachung nur insoweit eingreifen, als sie für Aufrechterhaltung der Gesetze der
Moral, her Staatsgesetze und der Verfassung verantwortlich ist." Nun, wenn
dieses Gesetz energisch gehandhabt wird, so ist gewiß alles Wünschenswerthe
damit zu erreichen. Daß die deutsche Schule in Polen, in Schleswig, in
Elsaß-Lothringen auf Widerstand stößt, dafür gibt der Verfasser einen Grund
an, der in seiner ganzen Lächerlichkeit nur dem klar wird, der in den erwähnten
Gegenden selbst gelebt hat und die Bevölkerung keunt. Nun habe ich das
zweifelhafte Glück genossen, sowohl uuter Polen wie in dem kleinen 28 Meilen
messenden Theil Nordschlesmig's gelebt zu haben, in dem überhaupt von einer
Opposition gegen die deutsche Schule die Rede ist; dieselbe ging von den be¬
zahlten dänischen Agenten und deren Publikum aus. In Polen kannte man
überhaupt vor zehn Jahren in diesem Sinne keine Opposition, diese danken
wir erst dem widerlichen Versuch der Pfaffen, den Verstand des 19. Jahrhunderts
zu ignoriren. Früher waren die polnischen Zöglinge ans den deutschen Schulen
nicht nur häufige, sondern bei den Lehrern sehr beliebte Schüler, da ihre große
geistige Beweglichkeit, wenn erst der edle Wissensdurst erweckt war, dem Lehrer
wirklich viel Freude machen konnte. Da muß man aufrichtig lachen, wenn
Herr B. in seiner Denkschrift sagt, daß die Opposition gegen die deutsche Schule
daher käme, daß sie nicht — kosmopolitisch genng wäre, sie verbreitete nicht
in hinreichendem Maße jene Kenntnisse und Empfindungen, welche Gemeingut
der ganzen Welt seien. Da sieht man sofort den barfüßigen, ungekannten
Polaken, den eigensinnigen, so recht zum „Nörgeln" erschaffenen „Danske" mit
seinen Holzpantoffeln, wie ihnen die Schule nicht „kosmopolitisch" genug vor¬
kömmt! Um diese etwas dunklen Phrasen zu illustriren macht Herr B. unvor¬
sichtiger Weise noch einen Zusatz, und da kommt denn allerdings der Pferdefuß
ganz naiv zu Tage, und er verräth seinen geheimen Zorn. Er zitirt nämlich
aus den Reden jenes Pädagogen, der schon einmal seinen Zorn reizte, des
Prof. Thilo folgende — meiner Ansicht nach, goldenen — Worte: „Eine roma-
nisirende Jesuitenschule, eine französirende Dressiranstalt für die sogenannte
Kants-volvs find bei uns in Deutschland ebenso entehrende und einfältige
Einrichtungen, als es in Arabien, im Nedschdi-Lande, ein Gestüt für Berliner
Droschkeupferde sein würde!" Uwe illas laeriinak!
Indem der Verfasser das Resume seiner Studien über den deutschen
Schulunterricht gibt, gelaugt er schließlich zu dem Resultat, daß es für Frank¬
reich, wie er offen bekennt, infolge seiner Parteiwirthschaft unmöglich ist,
dieselben Wege einzuschlagen. Er sagt: „Man muß meiner Ansicht nach eine
Politische Thätigkeit und eine patriotische Wirksamkeit bei dem Schulunterricht
unterscheide!?. Ju Bezug ans diese erstere, politische Einwirkung der Schule
kann man sich keinen Augenblick täuschen, sie ist bei uns unmöglich, auch wenn
sie wünschenswert!) sein sollte. Unter dem ersten Kaiserreiche strebte man nach
etwas Aehnlichem, aber der Gang der Weltgeschichte ließ keine Zeit dazu, auch
wäre der Versuch wohl kaum geglückt. Heut ist unser niederer wie höherer
Unterricht getheilt im Besitze der verschiedenen Parteien, welche weder in Ver¬
gangenheit noch Zukunft gemeinsame Wege haben. Er ist ein treues Spiegel¬
bild unseres Volkslebens. Nun hätte man denken sollen, daß man sich wenigstens
bemüht hätte, diese zentrifugalen Tendenzen zu vermindern oder wenigstens in
ihre momentane Grenzen zu bannen. Das Versailler Unterrichtsgesetz zeigt,
daß wir einen andern Weg gehen." (Der Verfasser schrieb diese Zeilen im
Dezember 1874 und spielte also auf die damals erfolgreichen Bestrebungen
des Klerus an, das Land wie in alter Zeit mit geistlichen Schulen und Uni¬
versitäten zu vergiften. Seitdem haben diese Verhältnisse sich, zum Glück für
die französische Nation, ja wesentlich verbessert.) „Es ist solche Zersplitterung
des Unterrichtswesens sehr bedauerlich, aber sie ist in tiefliegenden Ursachen
begründet, in der Geschichte und Zusammensetzung unseres Volkslebens." In
einer Weise, die unwillkührlich an die Geschichte von den sauren Trauben
erinnert, fährt er dann tröstend fort: „Uebrigens scheint mir bei alledem ein
gut Theil Ueberspannung in den Bestrebungen unserer Nachbaren zu liegen.
Wer die Schule hat, hat deswegen noch keineswegs vollkommen die Jugend
seines Landes in der Hand. Da ist vor allem der Einfluß der „verborgenen
Mitarbeiter", wie der Philosoph Herbart sie nennt, zu berücksichtigen. Dies
sind: die öffentliche Meinung, die Presse, das Privatleben, der Einfluß der
Höherstehenden, die Gewalt der Thatsachen, Nicht zum ersten Male ist der
Versuch gemacht, wie jetzt in Deutschland, wenn man aber den Bogen zu straff
spannt, so läuft man Gefahr, aus den jugendlichen Gemüthern Heuchler zu
machen oder sie zum Widerstande anzureizen!" Nun ich denke, ans die Gefahr
hin können wir es schon wagen, unsere Schule beizubehalten, und was den
Einfluß betrifft, so haben die Ereignisse jederzeit in Frankreich wie in Deutsch¬
land gezeigt, wie furchtbar tiefgreifend ein systematischer Schulunterricht wirkt.
Es ist eine traurige, aber wahre Thatsache, daß hier, wie bei vielen andern
menschlichen Einrichtungen, die Folgen schlechter und verwerflicher Einflüsse
sich deutlicher und empfindlicher zeigen, als die der guten und humanen Be¬
strebungen. Zeigen aber thun sie sich sehr deutlich. Laxignti sat! Was nun
den zweiten Theil seines Resümees anbelangt, nämlich die Wirkung der Schule
auf die Vaterlandsliebe der Jugend, so sagt er: „Auch in Bezug auf diesen
zweiten Punkt befinden wir uns in anderer Lage als Deutschland. Bei uns
nämlich ist der Patriotismus kein künstliches Schulprodukt, das aus den
höhern Bildungsschichten herabträufelnd dem Volke infiltrirt wird. Bei uns
besteht er in dem allgemein verbreiteten Bewußtsein einer glorreichen Vergangen¬
heit, der gemeinsamen Erinnerungen an die Großthaten Frankreich's in Krieg
und Frieden. Dieses Gefühl ist allgegenwärtig, und es ist nicht nöthig, es
alle Augenblicke durch den Unterricht zu wecken und zu befestigen." (Man
sieht, der brave Abgeordnete, der vor einiger Zeit die Kosten für die Bildungs-
schule französischer Seeoffiziere streichen wollte, weil er meinte, jeder Franzose
habe den Instinkt des Kampfes, steht nicht allein. Auch hier hat der einfältigste
Mensch, der weder lesen noch schreiben kann, immer noch das „allgegenwärtige"
Gefühl von ruhmvoller Vergangenheit seines Landes. „Ich möchte aber doch,
daß man diese Gefühle ein wenig leitete. Die Schulen unseres Landes legen
uicht genug Werth auf die Kenntniß des alten und modernen Frankreich's, mit
seinen Literaturperioden, mit seinen Erinnerungen jeder Art, mit seinen örtlichen
und provinziellen ruhmvollen Thaten, aus deren Gesammtheit erst der Ruhm
des französischen Namens besteht. Statt daß wir den Patriotismus der Pro¬
vinzen vernachlässigen und ignoriren, sollte man ihn zur Grundlage der
weiteren Belehrungen machen. Was endlich jene große Erbschaft der Revolution,
die allgemeinen Humanitären Grundsätze der Gleichheit und Brüderlichkeit be¬
trifft, so dürfen wir sie nicht fallen lassen. Mögen Andere sagen, daß die
Erziehung nach den Grundsätzen Rousseau's und Pestalozzi's eine veraltete
Sache sei, die nur den kleinen Nationen gezieme. Wenn wir auch dem Vater¬
lande seinen Antheil gönnen am Unterricht, so wollen wir doch die Erbschaft
des 18. Jahrhunderts bewahren. Der Geist jener Zeit ist noch immer mäch¬
tiger, als die kleinen Geister, die ihn verdrängen wollen."
Das gnädigste Rescript wegen Besetzung beyder Theologischen Stellen**)
mögte wohl auf das baldigste zu erlassen seyn.
Man könnte vorerst von Bläschen***) schweigen. Obgleich die Sache bald
(wäre es auch nur wegen des Lecktions-Catalogi wo ihm sein Rang ange¬
wiesen wird) zur Sprache kommen muß.
Von Coburg ist, wie ich vernommen habe, ein Rescript eingelaufen, das
ihm Sitz und Stimme im Senat zutheilt, vermuthlich wird das Meiniugische
gleichlautend seyn.
Ich habe auch bey gepflogenen Unterhandlungen,*) nach Maasgabe der
mir gleichsam als Jnstrucktion, mitgegebenen Aelter Extrackte, seiner Sitzung im
Senate nicht entscheidend widersprochen, sondern nur auf das festeste behauptet,
daß man ihm, wenn es ja seyn sollte, seinen Platz unter Polzen anzu¬
weisen habe.
Durchlauchtigster Herzog, gnädigster Fürst und Herr! Auf Ew. Hoch¬
fürstlichen Durchl. gnädigsten besonderen Befehl, habe ich mich bisher, die in
Jena nunmehr verbundene Naturalienkabiuette in die nöthige Ordnung bringen
zu lassen, bemühet. Wie weit man mit diesem Geschäfte gekommen, werden
Höchstdieselben aus dem von dem Professor Loder vor seiner Abreise einge¬
reichten unterthänigsten Berichte zu ersehen geruhen. Es bleiben nunmehr» noch
einige Punkte zurük, welche in dessen Abwesenheit zu berichtigen seyn möchten
und welche ich gegenwärtig submissest in Anfrage stelle. Schon in dem vori¬
gen Jahre befahlen Ew. Hvchfürstl. Durchl. gedachtem Professor Loder für den
Unteraufseher Magister Lenz, ingleichen für den Aufwärter Dürrbnum Instruk¬
tionen zu entwerfen, worauf man dieselben weissen und sie in der Folge dar¬
nach beurtheilen könnte. Die von ihm hierauf entworfenen Punkte werden
Ew. Durchl. in beygebogeuen Blättern vorgelegt und erwarten höchste Ge¬
nehmigung und nähere Bestimmung. Was sodann Ew. Durchlaucht wegen
Verpflichtung obgencmnter beyden Personen nicht weniger wegen künftiger Ab¬
nahme der Rechnung, welche für diesmal Ew. Durchl. hiermit vorgelegt wird,
zu befehlen geruhen werden, wird bey diesem Geschäfte zur fernerer Richtschnur
dienen. Der ich mit aller Devotion unterzeichne.
Bey der Büttnerischen*) Bibliothek-Angelegenheit ist verschiedenes zu be¬
denken. Besonders da, außerdem was bisher vorgekommen, Magister Grell¬
mann eine nicht unwahrscheinliche Aussicht giebt, daß Büttner wohl seinen
Büchern nach Jena folgen mögte.
Serenissimus haben einmal diese Bibliothek acquirirt und es wird selbige
wenigstens an 8000 Thlr. zu stehen kommen. Diese Ausgabe sei nun successiv
oder nicht, so ist sie immer ansehnlich genug. Nächst diesem kommen die Trans¬
portkosten , worunter ich die Douceurs vor Grellmann anrechnen will. Ferner
was die Notierung des Platzes hier oder in Jena, wo sie aufgestellt werden
soll, kosten wird. Diese drey Ausgaben sind ganz und gar unvermeidlich und
sind zum Theil ganz noch bevorstehend, man wird also darüber sogleich zu
denken haben. Magister Grellmann wünscht, daß sogleich einige Fuhren nebst
Kisten von hier nach Göttingen gehen mögten. Was diesen Punkt betrift, so
mögte es wohl nothwendig seyn, vorhero noch einmal an Grellmann zu schreiben,
ob er so weit in Bereitschaft sey, daß die Bücher gleich gepackt werden könnten
und die Fuhren nicht aufgehalten würden. Vor allen Dingen aber wäre
wegen des Platzes, wo die Bibliothek hinzubringen, in Jena sich umzusehen.
Da ich mit völliger Ueberzeugung gegen alle neue Acquisitionen und weitaus¬
sehende Pläne stimmen muß, so würde ich mein Auge vorzüglich auf das neue
Convictoriengebäude wegen Nähe der Bibliothek richten. Sollte dieses nicht
angehen, so wäre meines Bedünkens im Schlosse hinreichender Platz. Unten
auf der Erde linker Hand ist ein großer Saal, worinn die Studenten Comödie
gespielt haben. Rechts eine Art von Gallerte, die eine schöne Breite und Höhe
hat. An beyde Orte kann schon eine ungeheure Menge Bücher placiret werden.
Wollte man eine Treppe hoch, wenn man hinauskommt, rechts die Zimmer
"och dazu nehmen, so garantire ich daß die Büttnerische Bibliothek Platz haben
soll. Wie denn auch das Naturalienkavinet im zweiten Stocke noch einmal so
reich werden kann, ehe es mehr Platz braucht, als es gegenwärtig einnimmt,
so blieben alsdann noch immer Serenissimo, wenn Sie nach Jena kommen
alle die Zimmer im ersten Stock, wenn man hinauf kommt linker Hand und
sum Speißen, wenn sie viele Personen hätten, das runde Säcilgen im Thurm,
der Zimmer in der Reitbahn, wo ich noch nicht gewesen bin, nicht zu gedenken.
Hier hätte man denn also einen sehr schicklichen und geräumigen Platz und die
Ausgabe wäre allein sür Repositorien und Schränke, welche immer noch ein
ansehnliches betragen würden. Man könnte daher auf das baldigste, weil
dieses das erste ist, von Grellmann Nachricht einziehen, wie viel Quadratfüße
Wand ohngefähr die Bibliothek bedecken werde, welches, da sie gegenwärtig
noch steht, sehr leicht auszurechnen ist. Nach diesem also wäre keine Frage,
daß man mit dem Transport den Anfang machte und Büttner von Michael
an seine 300 Thaler Pension jährlich erhielte.
Ich komme nunmehr zu dem zweiten Punkt, der Büttners Person selbst
betrifft. Es scheint mir nach seinem Verhältniß zu der Akademie als auch zu
seinen Kreditoren, daß er besonders, wenn Grellmann*) zu manövriren fort¬
fährt, in Friede weder bleiben noch scheiden mögte, worauf man sich denn
allerdings vorzusehen hat. Daß er für Jena von großem Nutzen seyn werde,
glaube ich nicht, ob es gleich immer den Lärm und den Ruf vermehrt und von
der Seite gute Wirkung thun kann, wenn man ihn ohne große Anstalten da¬
hin bringen könnte, nach Jena zu ziehen. Dort zu privatisiren und sein Leben
zuzubringen und dort sein Geld zu verzehren, mögte nicht übel seyn. Man
könnte ja allenfalls seine jährige Pension erhöhen, weil man nicht viel ver-
löhre, sondern nur geschwinder von dem ganzen Kapital loskäme. Ein freyes
Quartier ließe sich ihm villeicht sehr leicht und angenehm verschaffen, wenn
man Lodern ein andres Quartier miethete und ihm die Zimmer, die der Obrist
inne gehabt eingäbe. Einige Umstände, die dies erleichtern, werde ich mündlich
eröffnen.
Wenn seine Gläubiger sich regen und ihm beschwerlich werden wollen,
müßte und würde man freylich am Ende sich ins Mittel schlagen. Besonders
wenn man sich wegen des früher bezahlten Kapitals an dem verminderten
Preiße des Ganzen villeicht noch einigermaßen zu entschädigen suchte. Ueber¬
haupt muß ich in dieser ganzen Sache wünschen, daß auf das mencigirlichste
zu Werke gegangen werde. Besonders auch, damit man nicht etwa am un¬
rechten Orte knickern müsse, da Serenissimus gegen den alten Mann schon so
großmüthige Gesinnungen gezeigt, die (er) auch in der Hauptsache und ohne
zu große Anstalten der fürstl. Casse soutenirt wünschet.**) Vorerst wäre also
an Grellmann zu schreiben 1. Wieviel Platz die Bibliothek eingenommen.
2. Ob es so weit, daß einige Fuhren, die man abschickte, nicht zu warten
brauchten. 3. Kasten wolle man schicken, sie alsdann auspacken und leer wieder
Nach Ew. Hochfürstl. Durchlaucht gnädigsten Befehle habe ich diejenigen
Aufträge, welche mir Höchstdieselben an den Hofrath Büttner in Jena zu er¬
theilen geruhet, bey meiner Anwesenheit daselbst auszurichten, ohnermangelt.
Es erkennt derselbe das gnädigste Anerbieten der 8000 Thaler als den höchsten
auf seine Bibliothek gesetzten Preiß mit untertänigstem Dank und behält sich
vor etwa in der Folge, wenn er es benöthigt seyn sollte, Ew. Durchlaucht um
Erhöhung seines Pensionsquanti anzugehen. Und da ihm solches bisher nur
in cassemäßigen Sorten bezahlt worden, im Kontrakte aber ihm Louisd'or zu
5 Thaler zugesichert sind: so bittet er hierüber um gnädigsten Befehl an die
hiesige Kammer.
Aus beiliegenden an Endesunterzeichneten gerichteten Promemoria werden
Ew. Hochfürstl. Durchl. in Gnaden zu ersehen geruhen, was mir der Berg¬
rath Bucholz von Ew. Hochfürstl. Durchl. Absichten auf dessen bisherigen
Provisor Göttlina/*), die mir schon zum Theil bekannt gewesen, neuerdings
eröfnet hat. Wie ich um nicht zweifle, daß gedachter Göttling Ew. Hoch¬
fürstl. Durchl. Absichten zu erfüllen, völlig im Stande seyn werde; so habe
ich es für meine Schuldigkeit erachtet, gegenwärtiges einzureichen und Ew.
Hochfürstl. Durchl. zu überlassen, was Höchst Dieselben etwa vorerst wegen
der Summe, die er während seines Aufenthaltes in Göttingen zu erhalten
hätte, an die Behörde gnädigst zu rescribiren, geruhen wollen.
Was den zweyten Puncte die Anschaffung der nötigen Instrumente betrifft,
so wird wohl selbiger am füglichsten bis dahin ausgesetzt werden können, bis
Göttling sich mit den Wissenschaften noch bekannter gemacht, sich während
seiner akademischen Laufbahn von dem, was zu einem Apparat am vorzüg¬
lichsten und nothwendigsten gehöret, unterrichtet und auf seinen Reisen sich
umgethan, woher man die Instrumente am besten und wohlfeilsten erhalten
könne. Es möchte also wohl die Anschaffung derselben bis dahin aufgeschoben
werden, um so mehr, als von Jahr zu Jahr neue Entdeckungen gemacht und
solche Instrumente verfeinert und verbessert werden.
Indessen bietet sich doch gegenwärtig eine Gelegenheit an, wo man um
einen leidlichen Preiß verschiedenes, was in der Folge sich nothwendig macht
anschaffen kann.
Es hat nehmlich der Bergrath von Einstedel während seines Aufenthaltes
allhier ein chymisches Laboratorium eingerichtet und solches bei seiner Abreise
hinterlassen. Es findet sich in demselben sowohl eine Anzahl guter und brauch¬
barer Werkzeuge und Gerätschaften, als auch solche Präparate, welche zu den
mannigfaltigen Untersuchungen dieser Kunst erforderlich und nöthig sind, in¬
gleichen einige gute Schriftsteller.
Alles ist nach einem mäßigen Anschlage 122 Thlr. gewürdet und Göttling
der selbiges in Augenschein genommen glaubt, daß man um den Preiß von
100 Thlr. eine sehr gute Acquisition machen werde.
Wollten Ew. Hochfürstl. Durchl. erlauben, daß man dafür die erwehnten
Stücke erkaufe; so würde ich mir es zur Pflicht machen, zu sorgen, daß sie
in gehörige Verwahrung gebracht, für die Zukunft aufbewahrt und dereinst
den Bergrath, das Nöthige zu veranlassen- Seitdem wurden dem Provisor Lehrer für das
Lateinische und Englische gehalten.
Am 9. Februar äußerte sich der Herzog, daß Göttling Ostern nach Göttingen gehen
möge, und sagte 2S0 Thlr. für das erste Studienjahr an Unterstützung zu. Göttling sollte
Phhsik bei Lichtenberg, Mathematik bei Kcistner, Botanik bei Murray treiben, im Winter
dagegen sich der Naturgeschichte, Chemie und Technologie zuwenden; dann würde sich das
Weitere ergeben. Auch sagte der Herzog zu, daß uach und nach die meisten physikalischen
Instrumente angeschafft werden sollten, für die er jährlich 160 Thlr. aussetzen wolle. Am
4. März verfügte auch der Herzog den Ankauf der v> Einsiedel'schen Nachlassenschaft aus
den Mitteln der Kammcrkassc.
mit dem Keinen Laboratorio, welches Hofrath Büttner in Jena angelegt an
Göttling übergeben und zum weiteren nützlichen Gebrauch überlassen würden,
worüber ich mir unterthcinigste Berhaltnngs-Maase erbitte und mich mit lebens-
wieriger Verehrung und Treue unterzeichne
Als Durchl. der Herzog im Jahre 1779 das Walchische Naturalien Cabinet
acquirirten und sich ein Aufseher über selbiges nötig machte, ward diese Stelle
dem Magister Lenz konferirt und er erhielt von Ostern 80 an für seine Be¬
mühung 50 Thlr. In der Folge ward die hiesige Kunstkammer dazu ge¬
schlagen, das Cabinet durchaus umrangirt und die Arbeit vermehrte sich, und
Hofrath Loder, als Oberaufseher bat, daß Durchlaucht die Gnade haben mögten,
den Lenzischen Gehalt zu erhöhen. Ich erinnere mich ganz eigentlich, daß
Joh. 1783 davon die Rede war und daß Serer. Absicht dahin ging, das Quan¬
tum so auf das Cabinet verwendet werden sollte, bis auf 300 Thlr. zu er¬
höhen und von dieser Summe Mag. Lenzen 50 Thlr. abzugeben. Wegen des
ersten Punktes erging ein Rescript an die Cammer unter dem 7. Januar 84,
in welchem der Lenzischen Zulage nicht gedacht wurde. Sie ist ihm jedoch
mit meinem Vorwissen seit Joh. 83 gereicht worden und ich stand in dem
Wahne, als wenn in erst angeführtem Rescripte das nötige deßhalb an die
Kammer ergangen wäre. Nur jetzo bey Justification der Rechnungen kommt
das Monitum zum Vorschein, daß zu dieser Abgabe kein ausdrücklicher Befehl
vorhanden und Durchl. werden wol die Gnade haben, etwa durch ein gu.
Rescript an die Cammer oder einen Extr. Protokoll! an Hofrath Lodern oder
durch beydes zugleich das damals vergessen, nachbringen und die Abgabe der
50 Thlr. von dem c^meo der 300 Thlr. an Sekret. Lenz von Joh. 83 an
Ich lege hier die Buchbinderrechnung bey, welche die Büttnerische Biblio¬
thek noch zu bezahlen schuldig ist. Würde diese abgeführt und von Michaelis
an etwa 50 Thlr. zum Einbinden der rohen Bücher jährlich bestimmt, so
würde viel Nutzen gestiftet und der Untergang manches guten Buches verhütet.
Das Geld könnte vierteljährig mit der fürs Cabinet bestimmten Summe an
Herrn Hofrath Loder ausgezahlt werden, auch demselben etwa durch einen
Extractum Protokolli die Absicht der Verwendung angezeigt werden. Daß sich
die beyden Herrn Büttner und Loder über diese Angelegenheit vernehmen, da¬
für will ich Sorge tragen.
Weimar d. 8. Oct. 88.
Auf Ew. Hochwohlgeboren Veranlassung habe ich mich sogleich nach den
Wiedeburgischen**) hinterlassenen Maschinen erkundigt. Es liegt ein Verzeich-
niß hierbey nebst der Taxe. Es sind mancherley brauchbare Sachen drunter,
besonders was sich auf die Statik bezieht. Vieles veraltete freylich auch dar¬
neben. Außer diesem Verzeichnis? sind noch Kleinigkeiten vorhanden, die sich
etwa auf 20 Thlr. schätzen lassen. Wollten Sereniss. für alles weg 150 bis
160 Thlr. geben; so wäre es eine Gnade für die armen Kinder und es würde
denn doch manches accquirirt (sie!), was theils Prof. Göttlingen W seinen
Lehrstunden nützlich seyn, theils auch in dem Museo seinen Platz finden könnte.
Allenfalls könnte man den Handel durch Professor Göttling schließen, er be¬
hielte was er benutzen kann und gäbe das Uebrige, nebst einer Quittung über
die Stücke, die bey ihm verblieben an das Museum, so daß bey seinem der-
einstigen Abgang die Sachen wieder vindicirt werden können. Eben so könnte
es mit dem kleinen Laboratorio gehalten werden, welches bisher in meiner
Verwahrung stand und welches ich an denselben nunmehr abgegeben habe.
Ew. Hochwohlgeboren habe die Ehre hiermit das Grießbachische Billets)
zu übersenden, wodurch der Handel der Wiedeburgischen Instrumente geschlossen
worden. Ew. Hochwohlgeboren werden die Güte haben, die Auszahlung ge¬
dachter Gelder an die W. Kinder zu besorgen. Die Uebernahme werden Herr
Loder und Prof. Göttling gemeinschaftlich besorgen. Recht herzlichen Antheil
nehme ich an der fortdauernden Unpäßlichkeit Ihrer Frau Gemahlin und
wünsche baldige Besserung. Dero
Bey den hier wieder zurückgehenden Rechnungen und Acten äußere ich
folgendes:
Serenissimus haben ja wohl die Gnade unsere über die herzoglichen
Bibliotheken zu führende Oberaufsicht, auch über die Museen zu erstrecken und
davon fürstlicher Kammer Nachricht zu geben. Ich würde alsdann den Amts¬
schreiber Bartholomä vorschlagen, dem man sowohl den Vorrath als das
Michaelisquartal zur Kasse geben könnte. Man gäbe ihm zugleich von Com-
missions wegen eine Verordnung, daß er dem Bergrath Lenz vierteljährig
12 Thlr. 12 Gr. in Laubthalern zu 1 Thlr. 12 Gr. als Besoldung auf¬
zählte, übrigens aber commissarisch autorisirte Zettel allein respectirte, so würde
sich dieses kleine Geschäft ganz leicht machen lassen.
Jena am 7. Nov. 1803.
Wegen des herzoglichen, zu didacktischen Zwecken anzulegenden Museums
ist folgendes verabredet worden.
1. Das Verhältniß der zur Oberaufsicht der Museen bestellten fürstl. Com¬
mission, wie solches während der Vacanz zum anatomischen Theater be¬
standen, cessirt gänzlich.
2. Herr Geh. H. R. Ackermann bedient sich des anatomischen Theaters, wie
seine Vorgänger, ohne Ein- oder Mitwirkung fürstl. Cammer.
3. Er gebraucht die Zimmer über der Reitbahn theils zum Auditorium, theils
zu Aufstellung von Präparaten, wozu einige Abtheilungen ans herrschaft¬
liche Kosten schon eingerichtet sind. Das große Zimmer hinten hinaus
wird zu andern Zwecken reservirt. Die angeschaften Präparate werden
numerirt und Hr. G. H. R. Ackermann nach einem Verzeichniß übergeben.
4 Z>i Conservarion derselben, sowie zu Anschaffung neuer verwilligen Sere¬
nissimus sür's erste Jahr 200 Thlr. (Zahl von Voigt's Hand.)
5. Die neuen Präparate werden jedesmal zu Ostern fürstl. Commission vor¬
gestellt, sodann numerirt und in den Catalog eingetragen,
6. Bey der Auswahl dieser Präparate wird hauptsächlich auf den didacktischeu
Zweck gesehen um nach und nach das zu einem anatomischen Cursus
Nöthige zusammenzubringen.
7. Zu Completirung dieser Anstalt können auch Zeichnungen und Modelle
angeschaft werden.
8. Herr G. H. R. Ackermann rangirt die Präparate mit den seinigen in eine
nothwendige Reihe die sich durch die farbigen Zeichen und Nummern ge¬
nugsam auszeichnen.
9. Nach Verlauf des ersten Jahrs bestimmen Serenissimus was höchstdieselben
weiter aufzuwenden gedencken.
10. Der Gebrauch bleibt dem Herrn Prof. der Anatomie, wobey möglichste
Schonung empfohlen wird.
Als am vergangenen Michael die Veränderung in Jena sich ereignete, war
es einer besondern Ausmercksamkeit Werth, wie man die Anatomie den Winter
über leisten (sie!)") und zugleich für die Zukunft nützliche Vorkehrungen treffen
könne. Mau setzte daher den Prof. Fuchs in den Stand dieses Collegium zu
lesen und gab' ihm zugleich auf, mit Hülfe des Prosecktors, die Anlage zu
einem anatomischen Museum zu besorgen. Hierauf sind nach beyliegender
Berechnung (folgt 382 Thlr. 15 Gr.) .... verwendet. Da nun die zweyte
Summe von 179 Thlr. 3 Gr. 6 Pf. nächstens zu bezahlen seyn möchte, auch
bey dergleichen Fällen, wohl noch eine Nachforderung eingereicht wird, so
wäre unterthänigst zu bitten, etwa» 200 Thlr. an den Amtsschreiber Bartho-
lomä gnädigst auszahlen zu lassen, welcher alsdann deßhalb die nöthigen Ver¬
ordnung erhalten soll.
Was den Prosector betrifft, der gleichfalls noch einige Forderungen for-
miren möchte, so wird demselben durch Berechnung nunmehr gezeigt werden,
daß nach dem Befund bey der Uebergabe derselbe eher noch etwas zu leisten
als zu fordern hat.
Wie man denn überhaupt das Geschüft für das Vergangene rein abzu¬
schließen und für die Folge einzuleiten bemüht seyn wird.
W. d. 10. Juli 1804.
Um gefällige Umänderung beykommenden Postseripts nach den Bleystift¬
bemerkungen am Rand bitte nunmehr gehorsamst, damit die Expedition an
Ackermann abgehen könne.
M. Die 18 Thlr., welche hier zugelegt werden, hatte Geh. Rath Loder
schon dem vorigen Anatomiewärter ans seinem Beutel gegeben, eine Ausgabe,
welche Herrn Ackermann unter den gegenwärtigen Umstünden nicht zuzu-
muthen ist.
Weimar d. 1. Aug. 1804.
Durch ein gnädigstes Rescript vom 3. Julius 1804 haben Ew. Durchlaucht
das Quantum von 200 Thalern für das anatomische Museum auf ein Jahr
zu bewilligen geruhet. Es sind uns auch die Quartale Johannis, Michael,
Weihnachten und Ostern 1804 und resp. 1805 nach einander ausgezahlt worden.
Auch haben wir, von letztgedachten Termin an, die Anstalt nach Höchst Jhro
Intention fortgesetzt.
Da aber fürstliche Cammer nur auf ein Jahr autorisire ist, so kann die¬
selbe eine fernerweite Zahlung nicht leisten. An Ew. Hochfürstliche Durch¬
laucht ergeht daher das untertänigste Gesuch, Höchstdieselben möchten fürst¬
liche Kammer dahin anweisen daß sowohl auf das nun laufende Jahr, als
auch auf künftige Jahre die Summe von 200 Thalern vierteljährig mit
50 Thalern an die Jenaische Mnseumskasse entrichtet werde.
Die wir uns verehrend unterzeichnen
Weimar d. 8. Jan. 1806. Ew. Durchl.
unterthänigst treugehorsamste
Ew. Wohlgeboren nehmen gewiß Antheil, wenn ich versichere, daß im
Bibliotheksgeschäste alles nach Wunsch geht, wobey ich denn freilich gestehen
muß, daß die Vorarbeiten des Herrn Staats-Minister von Ziegesar, des Herrn
Geheime Cammer-Rath Stichling, ingleichen die Einleitung der Weimarisch-
Gothaischen Herren Commissarien mich vorzüglich in den Stand setzen, ent¬
schiedene Schritte mit Sicherheit zu thun. Meine nächsten Wünsche habe des¬
halb in beiliegenden Blättern einzeln verzeichnet. Möchten Ew. Wohlgeboren,
in diesen überdrängten Geschäftstagen, die hiernach erforderliche Expedition
gefällig beschleunigen; so werden Sie Sich um mich und um das gegenwärtige
Vornehmen abermals besonderes Verdienst erwerben. ergebenst
Jena den 13. December 1817.
Ew. Wohlgeboren erhalten einen verspäteten Danck sür Ihre freundlichen
Zuschriften; Ihre lebhafte Theilnahme an dem Museumsbericht war mir sehr
viel werth, denn was sollte man mehr wünschen, als ein Geschäft, das man
in Liebe und Leidenschaft so viele Jahre betrieben, mit jugendlicher Kraft neu
aufgenommen zu sehen und eine fortschreitende Dauer für die Zukunft hoffen
zu können. Lassen Sie sich diese Geschäfts- und Wissenschaftszweige jetzt
und immer treulich empfohlen seyn.
Nun einige Anfragen! In dem neuen akademischen Etat finde ich 300 Thaler
für die Bibliothek ausgesetzt; von welchem Termin an sind sie zu erheben? ist
Befehl ertheilt sie auszuzahlen? wohin ist schon etwas ausgezahlt? Rentcunt-
mann Lange kann mich nicht in's Klare setzen.
Ferner sind 50 Thaler für den Bibliotheksschreiber und 50 Thaler für
anzustellende Studenten ausgesetzt. Ich muß wünschen, daß diese Posten in
suspenso bleiben, denn die Leute nehmen dergleichen Gelder sehr gern als
Pfründe und wollen nachher für jede Arbeit bezahlt seyn. Diese 100 Thaler
können im einzelnen abverdient werden zum wahren Vortheil des Geschäfts.
Ew. Wohlgeboren äußerten einmal: es sey von verschiedenen Posten des
Etats vielleicht etwas abzudingen, und zu anderweitigen Gebrauch zu ver¬
wenden. Könnte es geschehen, so würde es wohlgethan seyn, um neue Ver-
willigung nicht nöthig zu machen. Dabey erlaube ich mir eine Bemerkung.
Der Etat war bestimmt und ausgesprochen, als mir am 7. November ein
Geschäft aufgetragen wird, so weit aussehend, Zeit, Kraft und Geld verlangend,
wie wenige, ich soll es ausführen mit Güldenapfel und Baum, die (ihre mora¬
lischen Kräfte nicht herabzuwürdigen) ohngeachtet der ihnen gegönnten und zuge¬
dachten Zulage immerfort in Dürftigkeit und Zeitkargheit leben.
Indem ich nun ohngeachtet der unzulänglichen Mittel doch ungesäumt vor¬
wärts schreite, ersuche Ew. Wohlgeboren um vorläufige Notiz über jene erste
Fragen, und um fortgesetzte Theilnahme, wie ich denn vorstehendes nur ver¬
traulich zur Notiz bringe, mir in einer nächsten Unterredung das Weitere vor¬
behaltend.
Wollten Sie die Gefälligkeit haben, mir die aeltern Geh. Canzley Acten
zu übersenden, worinnen die Anstellung des Geh. Hofrath Eichstädt's nach
Müllers Tode beliebt wurde.
Mich zu geneigten Andenken empfehlend.
Des Herzogs von Gotha Durchlaucht, haben mir einen sehr gnädigen
Brief in Betreff der Jenaischen Bibliotheksangelegenheit zugesendet. Darf ich
bitten beikommendes Antwortschreiben gefällig bestellen zu lassen.
Ew. Wohlgeboren den Brief des werthen und wohlgesinnten Mannes und
Freundes in Gotha, dankbar zurücksendend, füge noch den Wunsch hinzu, daß
diese Angelegenheit vor der Hand ja ruhen möge. Wenn man den eigentlichen
Zweck einer solchen Anstellung bedenkt, so läßt sich mehr als eine Form finden,
unter welcher das beabsichtigte Gute statt haben kann, ohne daß gerade zu ein
auffallend verneinender Entschluß ausgesprochen zu werden braucht. Ich werde
die Sache, an der mir mehr in wissenschaftlicher als esthetischer Hinsicht gelegen
seyn muß, fernerhin überdenken, und in vertraulichem Gespräch mich weiter
darüber äussern. Bis dahin empfehle ich Ihnen die sämmtlichen Geschäfte,
auf die ich einigen Bezug habe, zu geneigter Mitwirkung, wie ich sie bisher
und noch in diesen letzten Tagen erfuhr.
Ew. Wohlgeb. haben die Gefälligkeit mir wissen zu lassen ob für uns
nach dem in der Beylage ausgesprochnen Wunsche etwas zu hoffen wäre.
In ungesänmter Erwiederung der an mich ergangenen geneigten Anfrage
gebe zu erkennen, daß nach Inhalt des, von des Herrn Staatsminister
von Voigt sel. unter dem 11. October 1818 an Herrn Geheime Hofrath Eich-
stcidt erlassenen Schreibens, Nentcuntmann Müller an heute beauftragt worden,
denen nunmehr benamsten Gehülfen an der A. L. Z.^) Rath Hogel und Pro¬
fessor Schad, das von Serenissimo unter dem 6. October 1818 bewilligte Frucht¬
deputat von 8 Scheffel Korn und eben soviel Scheffel Gerste, jedem zur Hülste
vom 1. Januar an bis zu anderweitiger Anordnung vierteljährig abzureichen.
Zu allen Erläuterungen in diesen Angelegenheiten jedesmal bereit und
willig.
Weimar d. 19. Juny 1819.
Ew. Exzellenz erlauben, daß ich, nach meiner Rückkunft von Jena, wohin
ich auf einige Tage mich begebe, persönlich für geneigte Mittheilung beykom¬
mender wichtigen Acten meinen verbindlichsten Danck abstatte; wobei ich zu¬
gleich den erwünschten Erfolg eines so nothwendigen Schrittes**") zu ver¬
nehmen hoffe. Verehrungsvoll
Weimar d. 26. Juni 1819.
gehorsamst Ew. Wohlgeboren ersuche durch Beygehendes um eine kleine Nachhülfe in
einem bekannten Geschäft und lege zu schnellerer Uebersicht die Akten bei.
Soll ich nicht das Vergnügen haben vor Ihrem Abgange Sie noch zu
sehen, so wünsche glückliche und vergnügte Reise.
Mich angelegentlichst empfehlend und zugleich versichernd, daß mit Herrn
Geheime Kammerrath die Jenai'schen Angelegenheiten ich nächstens weiter be¬
sprechen und vorbereiten werde. ergebenst
Weimar d. 4. July 1819.
Ew. Excellenz verfehle nicht beyliegender schuldigen Erwiederung meinen
verbindlichsten Dank hinzuzufügen, für die dem Jenaischen*) sowohl als Wei¬
marischen Bibliotheksverwandten gegönnte Aufmunterung; es wird beyden An¬
stalten zu wahrem Vortheil gereichen, indem sowohl die begünstigten Personen
hieraus neuen Muth schöpfen, als auch der Vorgesetzte ein doppeltes Recht er¬
hält, nach seiner Ueberzeugung, das Möglichste von ihnen zu fordern.
Unserm gnädigsten Herrn habe meinen gefühltesten Dank' sogleich abge¬
tragen, welchen jedoch gelegentlich zu wiederholen Ew. Excellenz die Gefällig¬
keit haben mögen. Ew. Excell.
Weimar d. 4. Septbr. 1825.
ganz gehorsamster Diener Obwohl dieses Werk kaum zwanzig Bogen stark ist, enthält es doch eine
so gründliche und werthvolle Charakteristik und Lebensgeschichte des Marschall
Vorwärts, daß ein guter Theil der bisherigen Literatur über den Feldmar¬
schall, namentlich die romanhafte Arbeit Scherr's und die wie immer unge¬
nauen Erzählungen Varnhagen's über Blücher, dadurch cmtiquirt sein dürfte.
Der Verfasser ist mit der ganzen Belesenheit, Sorgfalt und Umsicht eines be¬
rufsmäßige» Quelleuforschers bei der durch viele Jahre fortgesetzten Vorberei¬
tung seines Stoffes zu Werke gegangen und dabei auch vom Glücke sehr be¬
günstigt worden. So sind ihm sast sämmtliche Blücher'schen Briefe, welche das
Geh. Staatsarchiv zu Berlin besitzt — es erwarb dieselben ans einem Anti¬
quariate — und ebenso die reichen handschriftlichen Schätze des Archivs des
Großen Generalstabs zu Berlin zur Verfügung gestellt worden — lauter un-
gedruckte Sachen. Die vertraulichen gleichfalls ungedruckten Briefe Blücher's
an v. d. Knesebeck, an seinen intimen Geschäftsfreund Kutscher u. f. w. u. f. w.
stellten Nachfahren der Adressaten zur Verfügung. Außerdem benutzte natür¬
lich der Verfasser die große Menge gedruckter Briefe Blücher's, welche Dorow,
Varnhagen, v. Bodelschwing (im Leben Vincke's), Kuppel (im Leben Scharn-
horst's), v. d. Marwitz, v. Ottens und vor Allem v. Colomb (Briefe Blücher's
an seine Gemahlin aus der Zeit der Feldzüge von 1813—15) herausgegeben
haben. Für die genealogischen und Familienverhältnisse des Helden standen
dem Verfasser, der ja der Geschichtsschreiber der „Familie v. Blücher" ist und
insbesondere auch die vorliegende Biographie auf speziellen Wunsch des 1875
verstorbenen Enkels des Feldmcirschalls unternommen hat, selbstverständlich
das reichste Material zu Gebote. Endlich hat der Verfasser mit Umsicht und
Fleiß auch die weitzerstreuten glaubhaften Nachrichten über den dunkelsten
Theil dieses berühmten Lebens, die Jugendgeschichte Blücher's, gesammelt und
aus der „unübersehbaren" Literatur der Befreiungskriege bei Deutschen, Fran¬
zosen, Schweden u. s. w. mit scharfem kritischen Blick das Zuverlässigste aus¬
gelesen. So entsteht vor unsern Augen ein vielfach neues und doch in allen
großen Zügen nur von neuem belebtes Bild des großen Helden der Befrei¬
ungskriege. In Nichts wird der Marschall Vorwärts kleiner oder geringer
durch diese gewissenhafte treue Arbeit. Im Gegentheil: manchen köstlichen Zug
dieser heroischen Naivetät und dieses naiven Heroismus hat der Verfasser ganz
neu entdeckt, und überall ist es von höchstem Interesse, den Marschall selbst in
seinem eigenen kernhaften unfertigen Deutsch die weltgeschichtlichen Ereignisse,
an denen er Theil nimmt, schildern zu hören. Hierfür bietet Wigger reichste
Ausbeute. In Allem ist der deutschen Nation hier das bisher treueste und
beste Spiegelbild des großen Befreiers gegeben, für dessen Rostocker Stand¬
bild schon Goethe die Worte dichtete:
In Harren und Krieg,
In Sturz und Sieg,
Bewußt und groß.
So riß er uns
Vom Feinde los.
Das Werk unternimmt, in quellenmäßiger, wenn auch in etwas trockener
und weitläufiger Weise, die großen Reformen darzulegen, welche Nußland der
Regierung seines jetzigen Kaisers dankt. Inwieweit diese Aufgabe durch den
Verfasser gelöst ist, kann natürlich erst nach Abschluß des Ganzen beurtheilt
werden, um so mehr, da mehr als die Hälfte des bisher vorliegenden Anfangs
dem Krimkrieg und dem Pariser Frieden von 1856 gewidmet ist, d. h. Dingen,
welche eigentlich nur zur Exposition des Stoffes gehören. Dennoch verspricht
das Buch reiche Belehrung über Zustände und Ereignisse, die auch in unserem
Volke noch als größtentheils unbekannt, mindestens als ungenügend bekannt
bezeichnet werden müssen. Und diese Unkenntniß muß immer peinlicher em¬
pfunden werden in Tagen, da die Politik, die Zustände und die Geschicke
Rußland's in Aller Munde sind. Deshalb darf sich das Werk allerdings im
vollsten Maße als ein „zeitgemäßes" bezeichnen. Seine Aufgabe vollkommen
lösen wird der Verfasser freilich nur dann, wenn er seine in der Vorrede
ausgesprochene Absicht: „alle Leser von dem erfolgreichen Streben des russischen
Kaisers und seines Volkes zu überzeugen und auch die Gegner desselben zu
einer vollständigen Anerkennung der Leistungen zu bewegen" dahin erweitert,
daß er nicht blos die unleugbaren Vorzüge und Verdienste des jetzigen
russischen Regiments, sondern auch seine das russische Volk selbst und dessen
Nachbarn gefährdenden Nachtheile und Schattenseiten zur Darstellung bringt.
Das dritte Heft bietet vor allem drei Abhandlungen, die ein lebhaftes Zeit¬
interesse befriedigen: „Das Gesetz über die Abänderung der Gewerbeordnung"
von Gensel; „zur Tabaksteuerfrage" von O. Frhr. v. Aufseß und „der fran¬
zösische Arbeiterkongreß" von Harrison. Die beiden ersten Aufsätze über den
„progressiven Strafvollzug nach den neuesten Erfahrungen in Ungarn und
Kroatien" von Emil Tauffer und den „Verein für die Reform und Kodi-
fizirung des Völkerrechts" von E, E. Wendt bieten wenigstens schätzbares Material
sür Fragen, deren Lösung im Schooße einer vielleicht nahen Zukunft ruht.
Das vierte Heft desselben Jahrbuchs bietet zunächst einen interessan¬
ten Beitrag zum Kulturkampf in der Abhandlung Th. Zorn's „Papst¬
wahl und Ausgleich". Die vielfach bestrittene Frage der „Gefängnißarbeit
und ihres Verhältnisses zum freien Gewerbe", welcher eben von Reichswegen
durch eine Enquete näher getreten wird, hat durch A. Bauer, zunächst an den
Ergebnissen der Strafanstalt Bruchsal, eine interessante Beantwortung gefunden.
„Der Pariser Post-Congreß" ist von A. v. Kirchenheim behandelt, „die öster¬
reichischen Städteordnungen" von F. v. Juraschek. A. Bulmerincq macht „Vor¬
schläge zur Reform der Prisengerichtsbarkeit", und Wilhelm Stieda endlich
entwirft ein Bild der Geschichte und Bestrebungen der „französischen Syndikats¬
kammern für Arbeitgeber und Arbeitnehmer". Sie sind nicht etwa mit unsern
Gewerbeschiedsgerichten zu verwechseln, sondern enthalten einen sehr interessanten
spontanen Versuch zur Lösung der sozialen Frage. Den Schluß des Heftes
bilden literarische Abhandlungen.
Während der verdientermaßen zu fünf Jahren Zuchthaus verurtheilte
vormalige deutsche Botschafter des deutschen Reichs in Paris, Graf Harry von
Arnim, seine ohnmächtige Wuth gegen sein Vaterland und dessen leitenden
Staatsmann in einer neuen Broschüre auszutoben sucht, unter dein Titel
„der Nuntius kommt", die er nach seinen Gewohnheiten Anfangs anonym
erscheinen ließ, danken wir fast gleichzeitig einem gläubigen Protestanten, dem
Lie. theol. Mücke eine lesenswerthe kleine Schrift „der kirchenpolitische
Kampf und der Sieg des Staates in Preußen und im deutschen Reiche",
(Brandenburg, Wiesike, 1878), die in mehr als einer Beziehung zu den erfreu¬
lichsten Erscheinungen der Broschürenliteratur der jüngsten Vergangenheit zählt.
Vor Allein wegen der entschiedenen, wenn auch maßvollen Verurteilung, die der
Verfasser manchen Konservativen und „kirchlich Evangelischen" angedeihen läßt,
weil diese in ihren „vorurtheilsvoller Anschauungen" schließlich glücklich bis zu
jenem Abgrunde des Vaterlandsverrathes gediehen waren, lieber Frieden mit
dem „vatikanischen Idol, dem neuciufgelebteu Phantom theokratischer Weltherr¬
schaft", dem unfehlbaren Papst, als mit dem deutschen Staat der Gegenwart
zu suchen! Diesen bedenklichen Strebungen gegenüber, die leider in sehr hohen
Kreisen ihre Werber und weiblichen Bundesgenossen zählen, war es hohe Zeit,
daß wieder einmal ein protestantischer Geistlicher von dem Abschluß und Ruhe¬
punkt aus, den die kirchenpolitische Gesetzgebung Preußen's und des Reichs
seit 1876 gefunden, den ganzen Kulturkampf in seinen Motiven, Zwecken und
Erfolgen betrachtete. Das Ergebniß dieser Studien liegt in der erwähnten
Schrift zu Jedermanns Nutz, den Feinden Deutschland's zum Trutz, vor uns.
Es ist ein großartiges Bild deutscher Staatsmacht und Staatskunst, das hier
entrollt wird, und weithin erhebt sich ein trostsicheres Gelächter, wenn Graf
Armin aus seinem Miethschloß bei Graz graulich zu machen sucht durch seinen
Schreckruf: Der Nuntius kommt!
Im Anfang August 1877 waren die russischen Streitkräfte auf dem Kriegs¬
schauplatze in Bulgarien in folgender Weise gruppirt. Im Westen stand hinter
der Osma auf den Straßen, welche von Nikopoli, Schistowa und von Bjela
an der Jantra auf Plewna führen, der bei Plewna geschlagene Heertheil des
Generals Krüdener (9. Armeekorps und Theile des 4. und 11. Korps). Im
Süden, von Selwi über Tyrnowa bis Elena und in den südlich von dieser
Linie liegenden Bnlkanpässen stand das 8. Korps, verstärkt durch die bulga¬
rische Legion und die 3. Schützenbrigade vom Detachement Gurko, unter General
Radetzki. Im Osten waren unter dem Großfürst Thronfolger das 12. und
13. Korps im Begriff, über den schwarzen Lom vorzugehen und zur Einschlie¬
ßung von Ruschtschuk zu schreiten. Südlich davon, mehr in Verbindung mit
dem 8. Korps, deckten Theile des 11. Korps die Front gegen Osmanbazar
und Eski-Dschnma. Das Hauptquartier befand sich in Bjela.
Diese weit getrennten Aufstellungen waren allseitig von Angriffen bedroht.
Wie von Plewna aus Osman Pascha, so konnte im Süden des Balkan
Suleiman und, vom Festungsviereck aus, im Osten Mehemed Ali Pascha jeden
Augenblick zum Angriff schreiten, und nirgends waren Streitkräfte genug ver¬
sammelt, um mit möglichster Gewißheit des Erfolges einen energischen Angriff
abwehren zu können. Wohl mag die Frage des Rückzuges und einer größeren
Konzentration der Kräfte im russischen Hauptquartier ernstlich erwogen sein.
Vielleicht war es nur die Anwesenheit des russischen Kaisers, welche die russi¬
schen Armeen in ihren Stellungen südlich der Donau festhielt. Aber jeder
Schritt zurück öffnete den Türken ein weites Thor, so daß, mochte der An-
griff von der einen oder der anderen Seite kommen, sofort der Rückzug bis
hinter die Donan in Frage kam.
Um diesen Rückzug zu erzwingen, dazu fehlte den Türken — der Sultan.
Der Herrscher allein hätte vielleicht vermocht, seine uneinigen drei Feldherrn
gleichzeitig zu energischem Vorgehen zu zwingen, und hätte die Verantwortung
anch für die kühnste That und die damit verbundenen Opfer übernehmen können.
Der Sultan blieb aus, die Russen blieben stehen, die Gelegenheit zum Siege
für die Türken ging unwiderbringlich verloren.
Die Verstärkungen für das russische Heer wurden nun in ununterbro¬
chener Reihenfolge herangezogen. Zunächst galt es, Krüdener in Stand zu
setzen, einem Vorstöße Osman Pascha's auf Schistowa zu widerstehen. Von
russischen Truppen war zunächst nur noch eine Division des 4. Armeekorps
zum Uebergang über die Donau bereit; eine rumänische Division stand schon
in Nikopvli. So sehr man bis jetzt die Rumänen bei Seite gehalten, in der
Noth mußte man sie rufen. Beide genannten Divisionen trafen in den ersten
Augusttagen beim General Krüdener ein. Bald sehen wir auch eine zweite
und dritte rumänische Division in den Verband der gegen Plewna operirenden
russischen Armee treten. Aus dem Innern Rußland's stießen zur Operations¬
armee: die 2, und 3. Infanterie-Division, beide außer jedem Kvrpsverband,
die 24. und 26. Division, welche als dritte Divisionen dem 1. und 2. Armee¬
korps angehörten, dann die Garde mit 3 Infanterie-Divisionen und der
unter General Gurko vereinigten Garde-Kavallerie (die Garde-Kürassier-Division
blieb jedoch in Petersburg); zuletzt noch 2 Infanterie- und 1 Kavallerie-Divi¬
sion des Grenadierkorps. Vom 7. Korps, dessen eine (15.) Diviston bereits der
Dobrudscha-Armee angehörte, wurde die 36. Division an die Donau gegenüber
Silistria gezogen. Drei neu formirte Reservedivisionen blieben theils an der
Küste, theils in Rumänien. Auch Theile der 24. und 26. Division blieben
noch längere Zeit nördlich der Donau namentlich gegenüber Ruschtschuk stehen.
Wie die zunächst verfügbaren Truppen dem General Krüdener, so wurde
die 2. Infanterie-Division bei ihrem Eintreffen der Südarmee zugetheilt, die
übrigen Verstärkungen werden wir im Laufe der Ereignisse selbst die ihnen
angewiesenen Plätze einnehmen sehen.
Nach Eintreffen der 16. Division 4. Armeekorps beim General Krüdener
wurde die dort stehende Brigade des 11. Korps zu diesem zurückgeschickt. Gleich¬
zeitig übernahm General Zotow, Kommandirender des 4. Korps, als älterer
General das Kommando der „Westarmee", die also nun aus dem 4. und
9. russischen Armeekorps und der 4. rumänischen Diviston bestand.
Osman Pascha unterließ, wie schon früher gesagt, jedes Vorgehen und
richtete sich nur zur Abwehr eines erwarteten neuen russischen Angriffs in Plewna
ein. General Zotow ließ deshalb das 4. Korps wieder auf die Höhen von
Pelischat und Skalewitza vorgehen, mit den Vorposten aber bis Tutschenitza
und Bogot sich ausdehnen, zur Beobachtung der Straße nach Lowatz. Das
9. Korps übernahm nördlich davon die Sicherung der Straßen auf Ruscht-
schuk. Die rumänische Division deckte im Anschluß daran den Raum von
Wrbiza über Tschalisewat bis Kasamnniza am Wid mit der Straße nach
Nikopoli.
Nachdem diese Aufstellung genommen, wurde das große Hauptquartier
am 9. August nach Gorni Stuben verlegt, wo es sich mehr im Mittelpunkt der
drei Armeen befand.
Zwei leichte Ausfälle Osman Pascha's in der Richtung auf Tutschenitza
wurden ohne Mühe zurückgewiesen, sonst herrschte bis zum letzten Augusttage
vor Plewua völlige Ruhe. Eine größere Unternehmung Osman Pascha's fand
nur von Lowatz aus gegen die Südarmee statt. Inzwischen wurde mit dem
Fürsten von Rumänien eine Vereinbarung getroffen, nach der zu der 4. auch
die 2. und 3. rumänische Division westlich des Wid über die Donau gehen
und die Verbindung von Plewna mit Widm unterbrechen sollten. Nachdem
am 24. August Kavallerie von Nikopoli aus bis an den Ister vorgegangen,
auch ein Infanterie-Regiment von Selischtoare aus mit Booten übergesetzt war,
erfolgte der Brückenschlag bei Korabia, und war am 30. August beendet.
Nach dem Uebergange der beiden rumänischen Divisionen übernahm am
31. August der Fürst Karl von Rumänien den Oberbefehl über alle gegen
Plewna operirenden Truppen. Ehe aber noch dieser Wechsel im Kommando
vollzogen war, erfolgte am 31. August der Ausfall Osman Pascha's gegen
Pelischat.
Russischerseits stand bei Pelischat, mit Vorposten in Bogot und Tutsche¬
nitza, die 16. Division, nördlich sich allschließend bei Poradim und Skalewitza,
Vorposten zwischen Tutschenitza und der Chaussee nach Schistowci, die 30. Divi¬
sion, beide zum 4. Korps gehörig; nördlich der genannten Chaussee stand die
31., an der Chaussee selbst in der Höhe von Poradim die 5. Division, letztere
beide das 9. Armeekorps bildend. Die Türken hatten um 6'/, die Vorposten-
Kavallerie südlich der Chaussee zurückgetrieben und um 8 Uhr eine Verschan-
zung vor Pelischat genommen, verloren sie aber wieder durch das Eingreifen
russischer Reserven. Osman entwickelte nun gegen 9 Uhr seine Truppen zum
Angriff auf die ganze Front des 4. russischen Korps, beschränkte sich aber bis
Mittag auf Artilleriefeuer und ließ erst nach 12 Uhr die Infanterie vorgehen.
General Zotow zog die Divisionen des 9. Korps heran, ließ namentlich eine
Brigade der 5. Division von der Chaussee aus gegen die Flanke des auf
Skalewitza gerichteten Angriffs vorgehen. Ehe jedoch diese noch wirksam werden
konnte, war der Angriff bereits in der Front abgewiesen. Eine Wiederholung
desselben um 3 Uhr Nachmittags hatte keinen besseren Erfolg. Um 4^ Uhr
zog Osman Pascha seine Truppen in die Befestigungen von Plewna zurück.
Die Russen hatten 1060 Köpfe in dem langen Kampfe verloren. Aber der
einzige ernste Angriffsversuch Osman Pascha's war gescheitert, und das Selbst¬
gefühl der russischen Truppen war durch einen Erfolg gegen den zweimal sieg¬
reichen Feldherrn gehoben.
Bei der russischen Südarmee erwarteten die Vortruppen in den Balkan¬
pässen von Tage zu Tage den Angriff Suleiman Pascha's. Dieser aber war
dem Abzüge des General Gurko am 1. August nicht gefolgt, sondern konzen-
trirte erst seine Truppen theils bei Imi-Scighra, theils bei Eski-Saghra. Vom
Tschipka - Passe stieg sogar Generalmajor Stoljetow' am 14. August mit
4 Bataillonen nach dem Dorfe Tschipka hinab und holte sich am 15. Proviant
aus Kesanlyk, ohne anders als durch türkische Irreguläre dabei behindert zu
werden. Erst am 16. August griffen 6 türkische Bataillone die Russen im
Chainköi-Paß an, begnügten sich aber mit Demonstrationen. Am 18. August
erschien Suleimcm's Avantgarde vor Kesanlyk, ihre Vortruppen besetzten Janina
und Senowo. Am 19. rückte das Gros der Avantgarde selbst nach letzterem
Orte (2 Kra vom Dorfe Tschipka). Gleichzeitig wurden von Sliwno aus
die russischen Vorposten in Stararjeka angegriffen und bis Bebrowa zurück¬
geworfen, fo daß General Radetzki eiligst Verstärkungen dahin abgehen ließ.
Am 20. waren 40 türkische Bataillone vor dem Tschipka-Paß versammelt,
und am 21. August begann der ernste Angriff auf diesen. Russischerseits
hielt das 36. Infanterie-Regiment und die bulgarische Legion den Paß und
seine nächste Umgebung besetzt. Erschwert war die Vertheidigung dadurch, daß
der Aufstieg der Türken bis zur Paßhöhe ziemlich gedeckt erfolgen konnte, und
daß die Flanken des Vertheidigers auf den Höhen keine Anlehnung fanden,
sondern stets mit Umgebung bedroht waren. Das Schußfeld der wenigen
Geschütze, die man aufstellen konnte, war beschränkt. Durch Anlage von Bat¬
terien und Schützengräben aber war die Stellung zu möglichst hartnäckiger
Vertheidigung eingerichtet worden. Den linken Flügel der Stellung bildeten
die besonders festen Vertheidigungsanlagen auf dem Nikolai-Berge.
Der türkische Angriff erfolgte auf dem geraden Wege vom Dorfe Tschipka
aus, zur Unterstützung wurde sogar auf einem nahen Höhenpunkte, dem kleinen
Berdek, eine Batterie in Thätigkeit gesetzt. Die Russen wiesen alle Angriffe
von früh bis 8 Uhr Abends erfolgreich ab. Um Mittag war übrigens schon
das 35. Infanterie-Regiment zu ihrer Unterstützung hinter der Paßhöhe ange¬
kommen. Am 22. August wurden nur einige schwache Vorstöße gegen die
Redoute auf dem Nikolai-Berge versucht, das Artilleriefeuer aber dauerte un¬
unterbrochen fort, und wurden dadurch namentlich die russischen Reserven
empfindlich beschädigt. Am 23. August, dem blutigsten Kampftage, wurden
unter noch heftigerem Artilleriefeuer die türkischen Angriffe hauptsächlich gegen
die beiden Flanken der russischen Stellung, der Hauptangriff mit 20 Bataillonen
von 61/2 Uhr früh an gegen die rechte Flanke gerichtet, wo ein noch unbesetzter
bewaldeter Berg gedeckte Annäherung und Umgehung gestattete.
Mit zähester Ausdauer weisen die hier stehenden 2'/.^ Bataillone der
Regimenter 35 und 36 (9. Division) bis 2'/z Uhr Nachmittags alle Angriffe
der Türken zurück, um 2Vs Uhr kommen ihnen noch 2 Kompagnien aus der
Nikolairedoute zu Hilfe; mehr ist auch dort nicht entbehrlich, und Reserven
sind nicht mehr zur Stelle. So wird der Anprall bis 5 Uhr ausgehalten,
dann erlahmt die Kraft, und es beginnt ein allgemeiner Rückzug. Mühsam
halten die beiden Regimentskommandeure die wenigen noch unverwundeten Leute
fest — da naht die Hilfe. General Radetzki erscheint mit 200 Mann des
16. Schtttzenbataillons, die auf Kasakenpferden beritten gemacht sind, und mit
denen er der 4, Schützenbrigade vorausgeeilt ist. Bald ist auch das vorderste
Bataillon der Brigade zur Stelle. Ermuthigt durch die neue Hilfe wenden
die ermatteten Vertheidiger sich wieder zum Vorgehen, die lange behauptete
Stellung wird den Türken wieder entrissen. Die größte Gefahr ist überwunden.
Nach drei ruhelosen Tagen bringt die einbrechende Nacht den müden Kämpfern
eine kurze Ruhe. Am frühen Morgen des 24. August trifft die Tete der
zweiten Brigade der 14. Division auf dem Passe ein, im Laufe des Tages find
dort 21 russische Bataillone versammelt, welche die immer erneuten türkischen
Angriffe erfolgreich abweisen. Bis zum 25. früh ist auch die erste Brigade
der 14. Division von Selwi angekommen. General Radetzki dehnt nun seine
Stellung so weit aus, daß er den bewaldeten Berg in der rechten Flanke den
Türken entreißt und besetzt. Ein weiterer Vorstoß gegen die türkische Stellung
hat wenig Erfolg. Am 26. werden zwei türkische Angriffe auf die zeitweis ihnen
entrissenen niedrig gelegenen Schützengräben abgewiesen, dann aber alle russi¬
schen Truppen in die eigentliche Stellung auf der Paßhöhe zurückgezogen. Vom
27. August an beschränken sich beide Theile auf gegenseitige Beschießung mit
Artillerie- und Gewehrfeuer. In den Kampftagen vom 21. bis 26. August
hatte der russische Verlust mehr als 100 Offiziere, 3500 Mann betragen, der
der angreifenden Türken wurde auf 10,000 Mann geschätzt. Zur vermehrten
Sicherheit wurde russischerseits noch eine Brigade der 11. Division in die Pa߬
stellung gezogen, doch verhielten sich die Türken bis Mitte September, das
langsame Feuer ausgenommen, vollständig ruhig.
Zur Unterstützung des Angriffs auf den Tfchipka-Paß hatte auch Osman
Pascha von Lvwcch aus am 21. und 22. August Demonstrationen gegen Selwi
ausführen lassen, welche aber die Vortruppen der dort stehenden 2. Infanterie-
Division abzuweisen genügten.
Die blutigen Frontal-Angriffe auf den Tschipka-Pciß mißlangen. Vergeb¬
lich fragt man nach ihrer Ursache, wo der Zweck, die Räumung des Balkan
zu erzwingen, ja viel sicherer zu erreichen war, wenn Suleiman sei's im Osten
über Bebrowa der Armee im Festungsviereck die Hand reichte, oder weiter
westwärts über den Etropol-Balkan mit Plewna in Verbindung trat. Das
Auftreten eines so starken und zur Offensive befähigten Korps im Norden des
Balkan konnte gerade in dieser Zeit noch für die ganze russische Armee südlich
der Donau verhängnißvoll werden. Bei der gewählten Angriffsart wurden
die kostbaren Kräfte in erfolglosen Anstürmen nutzlos vergeudet.
Im Osten Bulgarien's standen nnter dem Oberbefehl Mehemed Ali's
zu Anfang August das etwa 20,000 Mann starke Korps Achmed Ejub's bei
Nnschtschuk und etwa 40,000 Mann weiter südlich bei Nasgrad und Osinan-
bazar. Ihm gegenüber hatte der Großfürst Thronfolger von Rußland
mit dem 12. und 13. russischen Korps starke Stellungen am linken Ufer des
schwarzen Lom inne, während die Linie der Vorposten am weißen Lom bis
Spachilar aufwärts stand und sich von dort nach Arablar am schwarzen Lom
zurückwandte, also etwa der türkischen Linie Rasgrad-Eski-Dschnma-Osman-
bazar so ziemlich parallel lief. Von Arablar hatte die Armee des Großfürsten
Verbindung mit dem um Slawritza vereinigte» 11. russischen Korps, welches,
jetzt ganz der Südarmee zugetheilt, mit den bei Kesrowa stehenden Abthei¬
lungen die Front gegen Osmanbazar genommen hatte, während den Vortruppen
in Bebrowa und Elena noch wesentlich die Deckung von Balkanpässen gegen
die türkische Südarmee oblag.
Bis Mitte August standen beide Theile sich unthätig gegenüber; nur am
13. August gingen schwache türkische Abtheilungen von Nasgrad zur Rekognos-
zirung gegen Sabina am weißen Lom vor.
Am 16. August erfolgte von Nnschtschuk aus ein ernsterer Angriff auf
die russischen Vorposten bei Dolob (7 Kri von Ruschtschny, während an dem¬
selben Tage eine russische Rekognoszirungs-Abtheilung gegen Osmanbazar vor¬
ging. Am 21. rekognoszirten 4 russische Bataillone in der Richtung auf Eski-
Dschuma, wurden aber ans die Höhen des rechten Lom-Ufers zurückgedrängt.
Am 22. August früh gelang es sogar den Türken, die Russen von den Höhen
und über den Lom nach Ajcizlar zurückzuwerfen. Die russische 1. Division
(des 13. Armeekorps) nahm die Höhen an demselben Abend nach 9 Uhr wieder,
aber von Mitternacht an erfolgten neue türkische Angriffe, die nur unter Her¬
anziehung auch von Theilen der 35. Diviston desselben Armeekorps abgewiesen
werden konnten. Schon nach wenigen Stunden, um 4'/°, Uhr früh am
23. August, griff jedoch Derwisch-Pascha von neuem an, und zwang endlich
die Russen zum Rückzüge. Die Höhen und der Uebergang von Ajazlar blieben
in den Händen der Türken; zur Ausbeutung des Erfolges aber geschah von
Seiten derselben — nichts. Was an demselben Tage Snleiman im Tschipka-
passe nur gezwungen und am späten Abend that, hier that es Mehemed Ali
freiwillig, und ließ vom Angriff ab, als alle Vorbedingungen für einen wei¬
teren Erfolg erfüllt waren. Das 13. russische Korps zog nur den rechten
Flügel seiner Vorposten etwas zurück und blieb sonst unbehelligt stehen.
Am 30. August erfolgte ein neuer Angriff durch drei türkische Brigaden
gegen den linken Flügel des 13. Korps auf Sabina und Karahassankioi. Die
dort stehende Brigade Leonow mußte nach hartnäckigem Widerstande dem sechs¬
mal wiederholten überlegenen Angriffe weichen und mit einem Verluste von
600 Mann die Lom-Linie aufgeben. Das 13. Korps zog sich infolge dessen
in die Linie Ossikowa-Tscherkowna-Bejin-Verbowka-Tschairkioi zurück, nur noch
einen kleinen Marsch vorwärts der Jantra, aber noch in gleicher Höhe mit
dem benachbarten 12. und nach Süden mit dem 11. Korps.
Am 31. August wurden wieder- die Vorposten des 12. Korps von Ruscht-
schuk aus bei Kadikioi angegriffen, durch herankommende Reserven aber ward
der Vorstoß eben so abgewiesen, wie eine Wiederholung desselben am 4. Sep¬
tember. Erst am 5. September früh erfolgte durch fünf türkische Brigaden
(die Divisionen Nedjib- und Fuad-Pascha und die Brigade Raschid-Pascha)
ein ernster Angriff von Solenik (am weißen Lom) her auf Kazelewo und
Ablanowo (am schwarzen Lom) gegen die dort stehende 33. Division (12. Korps).
Nach elfstündigem Kampfe unter Verlust von 1300 Köpfen gelang es zwar, ein
Vorgehen der Türken über den schwarzen Lom zu hindern, doch nahm der
Großfürst Thronfolger Angesichts einer weiteren Bedrohung seiner Flanke jetzt
auch dieses Korps auf die Höhen von Trstenik zurück und konzentrirte so seine
Truppen in einer neuen festen Stellung näher um Bjela, aus deren rechten
Flügel auch Theile des 11. Armeekorps von der Südarmee und der zur Ver¬
stärkung angelangten 26. Division zur Armee des Großfürsten herangezogen
wurden. Ein Angriff auf diese Stellung erfolgte erst am 21. September.
Seine Bedeutung wird mehr hervortreten, wenn wir sehen, was inzwischen vor
Plewna geschehen war.
Im Westen hielt Osman Pascha außer der Hauptstellung von Plewna
auch noch Lowatz an der Osma, dessen Besitz wesentlich seine Verbindungen
über deu Balkan wie mit der Südarmee sicher stellte. Das Vorgehen von
dort auf Selwi während der Kämpfe im Tschipkapaß hatte zwar keinen Ein¬
fluß auf die Entscheidung ausgeübt, lenkte aber die Aufmerksamkeit der Russen
wiederholt auf diesen schon mehrfach umstrittenen Ort. Nachdem die Behaup¬
tung des Tschipkapasses Ende August gesichert schien, waren die Reserven der
Südarmee, die 2. und die inzwischen auch eingetroffene 3. Division, zur Ver¬
wendung nach Westen, zunächst gegen Lowatz dann gegen Plewna, verfügbar.
Die Wegnahme--des ersteren Ortes war um so nothwendiger, als von hier ans
die Verbindung der russischen West- und Südarmee und die Flanken beider
Armeen stets zu bedrohen waren. Von Plewna aus war deshalb auch ein
Detachement (4 Bataillone des 4. Korps, die kaukasische Kasaken-Brigade und
3 Batterien) unter General Skobelew zur Beobachtung gegen Lowatz aufge¬
stellt. Dies Detachement trat jetzt neben der 2. Division, einer Brigade der
3. Division und der 3. Schützenbrigade unter die Befehle des Generals Fürsten
Jmeretinski, Kommandeur der 2. Division.
Lowatz liegt auf beiden Ufern der Osma. Auf dem rechten Ufer,
4—5 Ku östlich der Stadt, bildet eine dem Flusse ziemlich parallel laufende
Höhenreihe eine natürliche vorgeschobene Stellung, die sich nördlich bis zu
einem Dorfe Presjeka erstreckt, und deren höchster Punkt, der Rothe Berg, dicht
südlich der Straße Selwi-Lowtscha liegt.
Skobelew stand bereits bei Kakrina, 10 Irin von der türkischen Stellung
und nördlich der obengenannten Chaussee. Am 1. September rückte er dicht
vor die türkische Stellung und legte hier in den Nächten zum 2. und 3. Sep¬
tember Geschützemplaeements an. Fürst Jmeretinski langte mit den übrigen
Streitkräften/am 2. September in Kakrina an, beide Flanken durch Kavallerie
gedeckt. Am 3. September erfolgte der Angriff auf Lowatz mit den Truppen
des General Skobelew links, einer Brigade der 2. Division in der Mitte und
der 3. Schützenbrigade auf dem rechten Flügel, also mit 14 Bataillonen in erster
Linie, 2 Brigaden der 2. und 3. Division (12 Bath.) als Reserve dahinter.
Um 51/2 Uhr früh eröffneten die eingegrabenen Batterien ihr Feuer, um
7 Uhr versuchten die Türken ihrerseits einen Offensivstoß gegen die Schützen¬
brigade, wurden aber abgewiesen und bis 11 Uhr hinter die Osma zurückge¬
trieben. In der Mitte und auf dem russischen linken Flügel wurde erst um
2 Uhr die beherrschende türkische Stellung am Rothen Berge genommen und
von hier aus allmälig die Stadt erreicht. Von einer neuen Stellung aus be¬
schoß dann, die Artillerie die türkischen Werke am linken Ufer der Osma.
Unter dem Schutze dieses Feuers überschritt die russische Infanterie die Osma
und ging zum Sturme gegen die Verschanzungen auf dem linken Ufer vor.
Die Türken warteten diesen Sturm nicht ab, sondern gaben die Werke auf.
Die russische Kavallerie verfolgte die Fliehenden. Der Verlust der Russen in
diesem Kampfe betrug 1516 Köpfe, der türkische ist nicht bekannt. Angeblich
sind in den eigentlichen Werken vor und in Lowatz allein 2200 türkische Todte
begraben worden. Ein Versuch zur Wiedereinnahme von Lowatz am 4. Sep¬
tember wurde leicht abgewiesen.
Fürst Jmeretinski ließ nun die Brigade der 3. Division und die Kasaken-
Brigade zur Besetzung der Stadt und zur Beobachtung der Türken stehen;
mit den übrigen Truppen rückte er am 5. September vor Plewna, wo er
im Anschluß an den linken Flügel der dort schon stehenden Truppen nächst
der Straße nach Lowatz bei Bogot Aufstellung nahm. Die Einschließung auf
dem rechten Wid-Ufer vollendete im Süden eine Kavallerie-Brigade, die sich
westwärts an die Stellungen des Fürsten Jmeretinski anschloß. Im Norden
waren östlich des Wid am 3. September drei rumänische Divisionen in dem
Raume vereinigt worden, den bis dahin die 4. rumänische Division allein ge¬
sichert hatte. Auf dem linken, westlichen Wid-Ufer war Plewna durch russische
und rumänische Kavallerie jetzt wenigstens leicht zernirt. Außer der vermehrten
Kavallerie traf aber am 4. auch .ein Theil des Belagerungstrains (20 Vier-
undzwanzigpfünder) ein.
Unter dem Oberbefehl des Fürsten Karl von Rumänien waren nunmehr
allein an Infanterie mehr als 8 Divisionen um Plewna versammelt; man war
den Türken um das Doppelte überlegen. Der Erfolg von Lowatz, der Nicht-
erfolg der Türken bei Pelischat und am Tschipkapciß hatten das Selbstgefühl
der Truppen wieder gehoben. Anderseits ließ die Thätigkeit Mehemed
Ali's, der die Ostarmee bereits genöthigt hatte, sich nahe um Bjela zu konzen-
triren, täglich ernste Ereignisse an der Jantra erwarten. Alle diese Umstände
mögen zusammengewirkt haben, das russische Hauptquartier zu dem Entschlüsse
zu führen, der Zwangslage, in welche namentlich die türkische Stellung in
Plewna die russischen Heere versetzte, mit einem Schlage ein Ende zu machen
und nach besserer Vorbereitung, sowie mit entschiedener Ueberlegenheit, einen
neuen gewaltsamen Angriff auf Plewua zu versuchen.
In der Nacht vom 6. zum 7. September wurden vor den Fronten der
russischen Korps für 136 Geschütze*) Batterien angelegt, für die Belage¬
rungsgeschütze zwischen den Rumänen und dem 9. Korps. Am 7. früh eröff¬
neten diese Batterien ihr Feuer gegen die türkischen Schanzen. An demselben
Tage ließ Fürst Jmeretinski von Bogot aus die Türken ans zwei vorgescho¬
benen Schanzen vertreiben, wobei er 500 Mann verlor; das 4. und 9. russische
Korps rückten näher an die türkischen Stellungen heran. Am 8. September
wurde Brestowatz westlich der Straße «ach Lowatz ohne Kampf besetzt, ein
Versuch aber, die Höhen von Krischina zu nehmen, wurde mit 900 Mann Ver-
lust abgewiesen. Am 9. versuchte Osman Pascha seinerseits einen Vorstoß
gegen den linken Flügel des Fürsten Jmeretinski unter General Skobelew,
hatte aber damit keinen Erfolg. Auf den übrigen Fronten wurden an diesem
Tage die Feldbatterien näher an die türkischen Schanzen heran verlegt, so daß
sie theilweise die Lager der türkischen Truppen hinter den Schanzen beschießen
konnten. Das beiderseitige Feuer nahm an Lebhaftigkeit zu. Am 10. Sep¬
tember wurde das russische Feuer noch mehr verstärkt. Am Abend dieses Tages
gelang es dem General Skobelew, die am 8. vergeblich angegriffenen Höhen,
den sogenannten grünen Hügel, zu nehmen.
Nachdem man die türkischen Stellungen für genügend erschüttert erachtete,
sollte am 11. September der Sturm erfolgen. Ein heftiges Artilleriefeuer
von Tagesanbruch bis 9 Uhr, dann von 11 bis 1 Uhr und schließlich wieder
von 22/2 Uhr ab sollte den Angriff der Infanterie vorbereiten, dessen Beginn
auf 3 Uhr festgesetzt war. Aber schon um 11 Uhr Vormittags griffen die
Türken selbst den linken Flügel der Artillerie des 4. russischen Korps an
Dieses Korps wurde dadurch vorzeitig in einen hartnäckigen Kampf verwickelt.
Die Infanterie drang zwar zeitweise in die vorderen türkischen Verschanzungen
ein, aber beim Angriff auf die Redoute von Radischewo, die das eigentliche
Kampfziel für dieses Korps war, wurde dasselbe schließlich mit einem Verluste
von 110 Offizieren, 5249 Mann abgewiesen. Bei den anderen Truppen be¬
gann, der Disposition gemäß, der Angriff viel später, das Ineinandergreifen
aller Truppen war dadurch von vorn herein gestört, und die russische Heeres¬
leitung erwies sich als zu schwerfällig, um Uebereinstimmung und Zusammen¬
hang in die Thätigkeit der einzelnen Heerkörper zu bringen; selbst die Mel¬
dungen über die Vorgänge auf beiden Flügeln gelangten an das Oberkommando
zu spät. Nördlich der Chaussee nach Schistowa hatten die rumänischen Divi¬
sionen und ein Theil des 9. russischen Korps (dessen Verluste von den Kämpfen
bei Nikopoli und am 20. und 31. IM vor Plewna noch nicht ersetzt waren)
gemeinschaftlich das Fort Abdul Kerim, die sogenannte erste Griwitza-Redoute,
anzugreifen. Das Vorgehen erfolgte aber ohne Zusammenhang, und erst ein
dritter Angriff um 6^ Uhr Abends führte Rumänen und Russen gleichzeitig
in das genommene Werk. Drei Versuche der Türken, in der folgenden Nacht
das Fort wieder zu nehmen, wurden vereitelt. Die 1. Brigade der 5. russischen
Division verlor bei diesem Kampfe allein 22 Offiziere, 1305 Mann. (Der
Sturm auf die Düppelstellung am 18. April 1864 kostete den Preußen 70
Offiziere, 1118 Mann).
Auf dem russischen linken Flügel hatte General Skobelew in hartem
Kampfe drei türkische Schanzen genommen, sein Vordringen rief in Plewna
eine solche Panik hervor, daß die Besatzung der südlichen Front die Werke
vor der Stadt vollständig verließ. Seine Schwäche aber, er hatte bereits
1500 Mann verloren, und der Mangel jeder Reserve gestattete ihm nicht weiter
vorzudringen. Am 12. September wurden ihm, ohne daß er Unterstützung
erhielt, durch sechsmal wiederholte türkische Angriffe nnter neuen gewaltigen
Verlusten auch die genommenen Schanzen wieder entrissen. Auf den übrigen
Fronten wurde am 12. und 13. September nur ein mäßiges Artillerie-Feuer
unterhalten. Am 14. Abends versuchten die Türken noch einmal das Fort
Abdul Kerim wieder zu nehmen, gaben aber nach dreiviertelstündigen Kampfe
den erfolglosen Angriff auf. Mit einem Gesammtverluste, den für die Tage
vom 6. bis 14. September die Russen auf rund 300 Offiziere, 12,500 Mann,
die Rumänen auf 60 Offiziere, 3000 Manu bezifferten, war also nichts ge¬
wonnen als eine Schanze, die, wie man jetzt sah, von einer zweiten, nahe
gelegenen Griwitza-Redoute dominirt und völlig uuter Feuer gehalten wurde.
Die gesuchte große Entscheidungsschlacht war verloren, der Stern Osman
Pascha's leuchtete Heller wie je; er selbst aber war nicht im Stande den Ring,
der nach wie vor ihn umschlossen hielt, zu durchbrechen. Der Anstoß, der die
Türken auch offensiv zu einem entschiedenen Erfolge führen konnte, mußte von
anderwärts kommen. Die russische Armee, durch den gewaltigen Schlag er¬
schüttert, dnrch den ungeheuren Verlust der Tage vou Plewna mehr wie je
geschwächt, mußte das Kommende über sich ergehen lassen. Jeder Tag, den
es gelang, die früher inne gehabten Stellungen im Westen wie im Süden und
Osten festzuhalten, war ein neuer folgenreicher Gewinn. Die Türken waren
mehr wie je darauf angewiesen, die Russen von dem erhaltenen Schlage sich nicht
erholen zu lassen, sondern durch energische Angriffe von allen Seiten den großen
Erfolg auszubeuten und zu einem Wendepunkt des Krieges zu gestalten. Die
Indolenz der Türken, die Uneinigkeit ihrer Führer, um schon Gesagtes zu
wiederholen, die Abwesenheit des Sultans von seinen Heeren, rettete noch ein¬
mal wie im Anfang August die russische Armee und ließ sie sast unbelästigt
in allen ihren Stellungen.
Erst am 17. September unternahm am Tschipkapaß, nach mehrtägiger
heftiger Beschießung, Suleiman Pascha einen neuen Augriff. 3 Kolonnen zu
je 1000 Freiwilligen stürmten von früh 3 Uhr gegen den östlichen Theil des
Nikolai-Berges an, 6 Bataillone folgten ihnen. In den ersten den Russen
abgenommenen Schützengräben wurden sofort starke Deckungen angelegt dnrch
mitgebrachte Faschinen und Schanzkörbe. Ein um 6 Uhr ausgeführter neuer
Vorstoß gegen die Nikolai-Redoute führte nicht zum Ziele. Der um 8 Uhr
unternommene Hauptaiigriff wurde dnrch 20 Kompagnien der 14. Division nur
mühsam abgewehrt, bis der Gegenstoß des letzten verfügbaren russischen
Bataillons die Türken zum Stutzen und schließlich zum Weichen brachte. Ein
Nebenangriff auf die russische rechte Flanke wurde gleichfalls abgewiesen. Um
1 Uhr Mittags zogen sich die Türken überall zurück. Die Russen hatten über
1000 Köpfe verloren.
Nach diesem abgeschlagenen Angriffe stellten die Türken alle weiteren Ver¬
suche, gewaltsam in den Tschipkapaß einzudringen, ein. Erst nachdem zu An¬
fang Oktober Reus Pascha den Befehl über die Südarmee übernommen hatte,
wurde am 11. November wieder ein kleiner Infanterie-Angriff versucht. Zwei
unbedeutende am 24. September und 3. Oktober auf Marian unweit Elena
gerichtete Ueberfallsversuche gegen die linke Flanke der Südarmee hatten bei
ihrer Isolirtheit keinen Erfolg.
Bei der Ostarmee konnte nach dem Kampfe vom 4. September Mehe-
med Ali erst am 21. September, also volle 10 Tage nach der Schlacht bei
Plewna, dazu gelangen, noch einmal angriffsweise gegen die russische Ausstellung
vorwärts Bjela vorzugehen. Die Unbotmäßigreit seiner Unterführer gegen ihn,
den deutschen Renegaten, hemmte überall die Schritte des Feldherrn; auch die
Entfernung Achmed Ejub's von dem Kommando des Korps von Ruschtschuk
hatte an dieser Sachlage wenig geändert.
Der rechte Flügel der Armee des Großfürsten Thronfolgers stand wie oben
gesagt bei Tschairkioi auf den Höhen am linken Ufer des Kajatshik-Baches,
je 25 Kiu, von Bjela einer- und Thruowa anderseits entfernt. Hier stand
unter General Tatischew eine Brigade der 32. Division (11. A.-K.) und je,
ein Regiment der 1. und 26. Division (letztere eben zur Verstärkung von der
Donau angelangt), 1 Brigade der 11. Kavallerie-Division und 6 Batterien.
Mehemed Ali erschien vor der Stellung mit 3 Divisionen, darunter die egyp-
tische. Die russische Stellung ward am 21. September von 11 Uhr ab
von Norden und Osten aus angegriffen. Die russischen Vortruppen mußten
allmälig in die Hauptstellung zurückweichen, als aber um 4 Uhr die egyptische
Division zum Augriff gegen das Zentrum vorgeführt wurde, wies das russische
Feuer sie derart ab, daß sie einen neuen Angriff nicht mehr wagte. Der
Angriff von Osten kam ebenfalls um 4 Uhr zum Stehen; Mehemed Ali be¬
orderte die in Reserve zurückgehaltene Division Sahn Pascha heran, sie war
— nicht aufzufinden. Hier versagte der Führer, dort die Truppe. Mehemed
Ali gab den Angriff auf. Um 7 Uhr endete das Gefecht. Die Russen hatten
etwa 500, die Türken an 2000 Mann verloren. Der lang erwartete und be¬
fürchtete Durchbruchsversuch, der, wenn gelungen, alle Pläne der russischen
Heerführung durchkreuzen und das Aufgeben des Balkan zur Folge haben
mußte, war zu einer wirkungslosen Demonstration geworden.
In der Nacht vom 24. zum 25. September zog sich Mehemed Ali auf
Popkioi hinter den Lom zurück, marschirte nordwärts nach Kadikioi ab, ver-
sammelte dort noch einmal am 29. September volle fünf Divisionen zum An¬
griff auf den russischen rechten Flügel, das 12. Armeekorps, aber Intriguen
der Führer hielten ihn ans's Neue bei Ausführung seiner Absicht auf. Am
2. Oktober erhielt er seine Abb erufung, und Suleim an Pascha übernahm
das Kommando der Ostarmee.
Die Russen hatten ihre Vorposten wieder bis an den schwarzen Lom vor¬
geschoben. Suleiman rekvgnoszirte am 7. und 15. Oktober von Kadikivi aus
gegen die russische Aufstellung am Lom, ließ aber dann nur die Division
Assad bei Kadikioi südlich Rnschtschnk und die Division Sable bei Solenik
weiter südlich an dem gleichnamigen Flusse stehen und rückte mit den Divisionen
Nedfchib, Fazli und Fuad Pascha am 19. und 20. Oktober nach Rasgrad. Die
egyptische Division war bereits nach Warna zurückgeschickt.
Um sich über die Aufstellung der Türken zu vergewissern, wurden seitens
der Russen am 24. Oktober starke Rekognoszirungen über den schwarzen
Lom gegen den weißen Lom und den Solenik vorgeschickt, wobei es an
verschiedenen Punkten zu ernsteren Kämpfen kam, in denen die Russen im Ganzen
über 300 Maun verloren. Eine zusammenhängendere Reihe von Kämpfen brachte
auch hier erst der Monat November.
Vor Plewna hielten nach dem abgeschlagenen Angriff vom 11. September
die Russen alle früher innegehabten Stellungen fest und nahmen das Feuer
gegen die Schanzen wieder auf. Die eigene Stellung östlich des Wid war
sogar so gut eingerichtet, daß man die nächsten heranzuziehenden Truppen,
Theile der 24. und die 26. Division der Südarmee und der Ostarmee überwies.
Die Aufmerksamkeit im Westen wandte sich zunächst der Einschließung von
Plewna auch auf dem linken Ufer des Wid zu, und diese Aufgabe wurde der
Kavallerie übertragen.
Am 14. September trat unter dem General Krylow ein Kavalleriekorps
von 46 Eskadrons mit 6 reitenden Batterien bei Dolnje-Dabuik, 10 Ka westlich
der Wid-Brücke bei Plewna, auf der Chaussee nach Sofia zusammen und ent¬
sandte nach verschiedenen Richtungen Detachements, um überall die Verbindungen
mit Plewna zu unterbrechen. Am 20. September stieß ein solches Detachement
bei Telisch, 20 Kur südwestlich Plewna, auf überlegene feindliche Kavallerie,
hinter der auch Infanterie sich entwickelte. Es war ein Theil der in Sofia
und Orchanie unter Schewket Pascha formirter Entsatzarmee, der, etwa 12,000
Mann stark, mit einem großen Proviant- und Munitionstransport für Plewna,
am 20. und 21. September in Telisch anlangte. Ein kleiner Vorstoß von
Kavallerie gegen Telisch am 21. wurde abgewiesen; am 22. mußte General
Krylow vor dem anrückenden Gegner und einem Ausfall-Detachement, das
aus Plewna ihm entgegen kam, über Gorni Netropol auf Trstenik, am Wege
von Plewna nach Widdin, ausweichen. Am 1. Oktober wies eine Kavallerie-
Abtheilung eine Fouragirung gegen Dolnje Netropol zurück. Am 2. jedoch
besetzte eine stärkere türkische Abtheilung Netropol und sicherte dadurch die
Straße nach Sofia vor einer Bedrohung durch die bei Trstenik stehende
Kavallerie. Auch Dolnje Dabnik ward von Plewna aus besetzt.
Schewket Pascha brach mit dem Rest seiner Truppen am 4. Oktober
von Orchanie auf und besetzte, nachdem er am 6. eine russische Kavallerie-
Abtheilung von Radomirze über den Ister gedrängt hatte, die Orte Lukowitz und
Nadomirze an der Chaussee uach Sofia mit je 5000 Mann, Telisch mit 6000
Mann unter Ismail Pascha und Gorni Dabnik mit 6000 Mann unter Achmed
Hiszi Pascha, der zugleich deu Oberbefehl über alle diese Etappenposten führte.
Beim Oberkommando der Armee von Plewna war dem Fürsten von
Rumänien mit Anfang Oktober der General Todleben zur Seite getreten, und
die Geschäfte als Chef des Generalstabes übernahm, an Stelle des General
Zvtow, der General Fürst Jmeretinski. Schon nach dem 14. September hatte
man mit theilweiser Aushebung von Parallelen begonnen, aber am 18. Sep¬
tember versuchten die Rumänen nochmals einen gewaltsamen Angriff gegen die
zweite Griwitza-Redoute. Nach einem Verlust von 417 Köpfen standen sie
davon ab. Die Thätigkeit vor Plewna ging mehr und mehr in das Verfahren
bei einer förmlichen Belagerung über. Die Sappeurarbeiten richteten sich
namentlich gegen die Redouten von Griwitza und Radischewo. Gegen die
Erstere waren sie von den Rumänen am meisten gefördert worden und wurden
den Türken sehr lästig. Am 8. Oktober versuchten die Türken durch einen
Ausfall die rumänischen Arbeiten zu zerstören, wurden jedoch mit starkem Ver¬
luste zurückgewiesen. Die Arbeiten gediehen am 18. Oktober bis zu einer vierten
Parallele, nahe vor dem Glacis der Redoute; am 19. unternahm die 4. rumänische
Division noch einmal selbständig, anscheinend ohne Genehmigung des Ober¬
kommandos, da das Vorgehen von keiner Seite eine Unterstützung erhielt, einen
Sturm auf die Griwitza-Redoute. Jnfanteriefener in der Front und
Angriffe türkischer Reserven in die Flanke nöthigten sie nach hartnäckigem
Kampfe, mit einem Verluste von 927 Köpfen zum Rückzüge.
Das Oberkommando der russischen Heere mußte behufs vollständiger
Einschließung von Plewna und deren Sicherung auch auf Beherrschung
der Verbindungslinien Osman Pascha's nach dem Balkan hin in weiterem
Umfange bedacht sein. Auf dem rechten Ufer des Wid erhielt die Ende
September ganz um Lowatz versammelte 3. Division den Auftrag, das Gebiet
von Selwi und Lowatz festzuhalten, womöglich auch die Ausgänge der südlich
vorliegenden Balkanpässe zu sperren. General Karzow ließ zu diesem Zwecke
vom 3. Oktober an seine Kasaken immer weiter südwärts, zunächst gegen den
Paß von Tetewen, rekognosziren.
Auf dem linken Ufer des Wid hatte die Kavallerie des General
Krylow die Verbindung Plewna's mit Sofia nicht zu unterbrechen vermocht.
Diese Aufgabe ward jetzt dem Gardekvrps zugedacht, das unter General Gurko
gegen Ende September staffelweise an der Donau eintraf und im Oktober
zwischen Plewna und Lowatz versammelt wurde, Gurko übernahm auch am
4. Oktober den Befehl über das Korps des General Krylow, das er einstweilen
bei Trstenik stehen ließ.
Die Stellung von GorniDabnik erwies sich als der Punkt, dessen
Wegnahme die Etappenlinie nach Sofia in wirksamster Weise durchbrach. Der
Ort war durch Verschanzungen u. s. w. zur hartnäckigen Vertheidigung einge¬
richtet, aber die Ueberlegenheit an Truppen, über welche Gurko verfügte, ließ
den Erfolg eines Angriffs fast zweifellos erscheinen.
In der Nacht vom 23. zum 24. Oktober überschritten die Garden den Wid.
Zum direkten Angriff auf Gorni Dabnik waren bestimmt und gingen bei
Tschirikowo und Swinar über den Fluß: die 2. Garde-Infanterie-Division
und die Garde-Schützenbrigade, oder 20 Bataillone mit zugetheilten 4 Es¬
kadrons und 6 Batterien. Die Deckung nach Süden gegen Telisch ward dein
Garde-Jäger-Regiment und 2 Kavallerie-Brigaden, zusammen 4 Bataillonen
und 16 Eskadrons mit 3 Batterien übertragen. Nach Norden gegen Doluje
Dabnik sollte sichern die 1. Garde-Division ohne das Jäger-Regiment, 1
Kavallerie-Brigade und einige einzelne Eskadrons, zusammen 12 Bataillone
und 11 Eskadrons mit 6 Batterien, die bei Kruschewiza über den Wid gingen;
außerdem aber sollten von Trstenik aus gegen diesen Ort demonstriren: 33
Eskadrons, unterstützt durch 7 rumänische Bataillone. Die Besatzung von
Plewna wurde an diesem Tage durch ein heftiges Bombardement beschäftigt
und festgehalten.
Der Angriff auf Gorni Dabnik am 24. Oktober begann um 8
Uhr früh, um 8i/z Uhr war das Artilleriefeuer eröffnet, um 9^ Uhr wurde es
von beiden Flügeln gegen die Haupt-Redoute konzentrirt; um 10 Uhr war eine
kleine Redoute und eine Anzahl Schützengräben vor der Haupt-Redoute ge¬
nommen, in diese selbst einzudringen gelang zunächst noch nicht. In das
längere Zeit dauernde stehende Gefecht griffen auch 2 Bataillone der 1. Garde-
Division mit ein. Ein auf 3 Uhr angesetzter konzentrischer Angriff gegen die
Redoute führte die Truppen in vereinzelten Vorgehen nur auf etwa 300, einzelne
bis zu 30 ro. an die Redoute heran, wo alles möglichst gedeckt liegen blieb.
In der Dämmerung wurde das Werk genommen, und Achmed Hifzi Pascha
ergab sich mit 53 Offizieren, 2235 Mann, die noch unverwundet waren. Die
Russen hatten 117 Offiziere, 3195 Mann verloren. Vor Telisch kostete ein abge¬
schlagener Angriff dem Garde-Jäger-Regiment weitere 26 Offiziere, 907 Mann. Im
Norden wurde nur demonstrirt/ Die Garde verlor also an ihrem ersten Ge¬
fechtstage im orientalischen Kriege 143 Offiziere, 4102 Mann.
Ismail Pascha hatte das Zurückweichen des Garde-Jäger-Regiments von
Telisch uicht zu einem Eingreifen in das Gefecht bei Gorni Dabnik benutzt,
dafür wurde er am 28. Oktober vollständig eingeschlossen und ergab sich nach
vierstündiger Beschießung mit 100 Offizieren und 5500 Mann. Die Besatzung
von Radomirze zog sich am 29. ans Orchanie zurück, die von Dolnje Dabnik
nahm Osman Pascha am 31. Oktober nach Plewna hinein. Am 1. November
begann die Schließung des Zernirungsringes um Plewna.
Gurko gab nach diesen Erfolgen einen Theil seiner Kräfte, die 1. Brigade
der 3. Garde-Division zur Einschließung von Plewna ab, mit dein übrigen
drang er in Gemeinschaft mit der 3. Division, General Karzow, weiter nach
Süden vor, um den Türken das Heraustreten aus den Balkan-Pässen von
Baba Konak, Slatitza, Trojan und Rosalita endgiltig zu verwehren, ferner
um im Westen dieselben durch Einnahme von Wratza und Berkowitza bis über
den obern Ogust zurückzudrängen. Wir werden auf dieses Vorgehen an anderer
Stelle zurückkommen.
Auch an der Donau wurde das besetzte Gebiet weiter nach Westen aus¬
gedehnt, namentlich durch die Einnahme von Rahowa am 20. November, bei
der ein ans Rumänen und Russen gemischtes Detachement 308 Köpfe verlor,
und die am 30. November ohne Kampf erfolgte Besetzung von Lom Palanka.
Die Einschließungslinie um Plewna wurde auf dem linken Wid-
Ufer durch Schützengräben, Batterie-Einschnitte und Feldwerke in der vordersten
Linie wie in der Linie der Reserven verstärkt. Jeder neue Angriffsversuch
wurde den Truppen untersagt. Die Truppen, zu denen im Laufe des Oktober
uoch die 3. Garde-Division und das Grenadierkorps hinzukamen, waren so
vertheilt, daß von Nord nach Süd 3 Divisionen Rumänen, das 9. Korps, die
mit 2. Division, 1. Schützen-Bataillon, das 4. Korps mit der 3. Schützen¬
brigade und die 3. Garde-Jnfanterie-Diviston die Stellungen auf dem rechten
Wid-Ufer besetzt hielten, während auf dem linken Ufer das Grenadierkorps
und 1 Brigade der 5. Division aufgestellt war. Auch die Stellung der
2. rumänischen Division auf dem rechten Wid-Ufer war mit dem Oberbefehl
des Generals Ganetzki Kommandeur des Grenadier-Korps unterstellt.
Ein Gefecht entstand im Laufe des November nur dadurch, daß General
Skobelew am 9. sich der ersten verschanzten Linie der Türken auf der Höhe
westlich Brestowatz, des grünen Hügels, bemächtigte und sie befestigte; gleich¬
zeitig besetzte er Dorf Brestowatz. Die Türken versuchten am 10. November ver-
geblicUdiese Stellung wieder zu nehmen. Bis zum 11. ward sie dann heftig
beschossen. Drei neue Angriffe durch 10 Bataillone in der Nacht vom 14.
zum 15. November hatten keinen besseren Erfolg.
Am 12. November wurde Osman Pascha zur Kapitulation aufgefordert,
am 13. lehnte er ein Eingehen auf diesen Antrag ab.
Die Aushungerung war bei der völligen Abschließung von Plewna nur
eine Frage der Zeit. Die Anfang Dezember häufiger sich meldenden Deserteure
bewiesen, daß die Lebensmittel auf die Neige gingen. Vor dem Falle von
Plewna war aber uoch ein letzter Drnchbruchsversuch zu erwarten. Am
8. Dezember ließ das türkische Artilleriefeuer nach, am 9. verstummte es gänz¬
lich. Zugleich wurden starke Truppenansammlungen auf beiden Ufern des
Wid und das Schlagen einer zweiten Brücke über denselben wahrgenommen.
Für den 10. Dezember ordnete deshalb General Todleben an, daß südlich
Plewna eine Garde-Brigade in eine Reservestellung hinter das Grenadierkorps^
eine Brigade der 16. Division nach Dolnje Dabnik über den Wid gehen sollte;
der Befehl über beide Brigaden wurde dem Geueral Skvbelew übertragen.
Nördlich Plewna wurden 4 rumänische Bataillone mit 3 Batterien auf das
linke Wid-Ufer nach Dimirkioi beordert. Einige weitere Truppen-Verschie¬
bungen wegen der zu erwartenden Demonstrationen fanden ans dem rechten
Ufer statt.
In der Nacht vom 9. zum 10. Dezember erfuhr General Skobelew durch
einen Ueberläufer die Räumung der Redouten von Krischina und ließ sie so¬
fort durch Bataillone der 30. Division besetzen.
Am 10. Dezember früh 7 Uhr begann der Angriff Osman Pascha's
gegen die Stellung des Grenadierkorps. Das von dem ersten Stoß getroffene
9. Grenadier-Regiment muß die vordere Linie aufgeben, 2 Batterien lassen
8 Geschütze in den Händen der Türken; das 10. Grenadier-Regiment bringt
mühsam den Rückzug zum Stehen. Bis 10 Uhr ist die 2. Brigade der 3. Gre¬
nadier-Division in der Front in die Gefechtslinie eingerückt, und ist auf den
Flügeln eine Brigade der 2. Grenadier-Division, sowie ein Theil des 18. Regi¬
ments zur Unterstützung eingetroffen. Um 10^/-, Uhr gehen diese Truppen
gemeinschaftlich zum Angriff über und treiben die Türken in ihre ursprüng¬
lichen Stellungen auf dem linken Wid-Ufer zurück. Inzwischen ist auf dem
rechten Ufer die Entblößung der türkischen Stellungen erkannt. Um 9 Uhr
besetzen die Rumänen die geräumte zweite Griwitza-Redoute; gegen 10 Uhr
wird das Vorrücken aus allen Abschnitten befohlen. Die Rumänen finden
einen kurzen Widerstand bei der dicht am Wid gelegenen Redoute vor Opanesch,
bald aber ergeben sich in ihr 2000 Manu. In dem Südabschnitt zwischen
dem Wid und dem Tutschenitza-Bache nimmt die Garde-Division mit 18 Köpfen
Verlust 4 Schanzen und macht 3854 Gefangene. Die übrigen Werke werden
ohne Kampf besetzt. Gegen Mittag dringen die russischen Truppen auf dem
rechten Wid-User gegen den Rücken Osman Pascha's vor. Dieser hat bereits
an 6000 Todte und Verwundete verloren und ergibt sich nun mit 10 Ge¬
neralen, 2130 Offizieren und 41,200 Mann.
Nach heldenmüthigen Widerstande war endlich Plewna bezwungen. Die
durch dreimalige harte Schläge hier stark engagirte Ehre des russischen Heeres
war wieder eingelöst. Die jetzt überall an Zahl überlegene Armee des Siegers
hatte nunmehr die volle Freiheit des Handelns. Es fragte sich nur, ob und
inwieweit sie nun mitten im Winter in der Lage sein würde, den mit so
großen Opfern und so bedeutendem Zeitaufwands errungenen Erfolg auch so¬
fort uoch weiter auszubeuten.
Was der Vater der griechischen Kunstgeschichte, Winckelmann, vor hundert
Jahren geträumt, was ueben seiner Kunstgeschichte das andere Ziel seines
Lebens war, auf der Stätte des alten Olympia den dort verborgenen Resten
der alten Kunst nachzuforschen, das ist hente glänzend vollendet worden. Man
hat uus Deutsche, die wir 200,000 Mark und mehr ausgegeben haben, um den
Griechen ein Museum zu füllen, idealistisch gescholten, weil wir uus, ähnlich
den Siegern in der Attis, mit einem idealen Siegespreise begnügt haben, mit
dem Ruhme, unsere neu erworbene Machtfülle, unsere Geldmittel in den interesse¬
losen Dienst der Wissenschaft gestellt zu haben. Aber ohne unseren viel be¬
spöttelten Idealismus wäre das große Ziel, zu dem wir in überraschend kurzer
Zeit gelaugt sind, nimmermehr erreicht worden. Das griechische Gesetz ver¬
bietet ohne Ausnahme die Ausfuhr von im Lande gefundenen Antiken. Der
egoistische Engländer, der praktische Franzose, die anßer uns allein die Mittel
und das Interesse für derartige Unternehmungen besitzen, würden sich niemals
mit Bedingungen einverstanden erklärt haben, welche den Löwenantheil dem¬
jenigen sichern, der bei dem Pakt die geringsten Opfer gebracht. Was also
erreicht worden ist, ist durch den deutschen Idealismus erreicht worden, durch
die selbstlose Opferfreudigkeit, welche stets eine Zierde der deutschen Wissenschaft
war. Und am Ende können sich die Gelehrten aller Nationen Glück wünschen,
daß die Oberleitung des Unternehmens, auf welches die Blicke der ganzen
zivilisirten Welt gerichtet waren und noch sind, in deutsche Hände gelegt wurde,
da — wir können es ohne Ruhmredigkeit sagen — die deutsche archäologische
Wissenschaft die sicherste Bürgschaft des Gelingens einer solchen Ausgabe bietet.
An der Spitze des Unternehmens stand der gelehrte Geograph des Pele-
ponnesus, der Griechenland bis in seine fernsten Distrikte durchforscht hatte,
Professor Curtius. Auch seine kühnsten Wünsche waren seit langen Jahren
auf eine Durchforschung des Alpheiosthales gerichtet. Er gab ihnen im Jahre
1852 in einem Vortrage Ausdruck, den er in der Berliner Singakademie hielt.
„Von Neuem", so sagte er am Schlüsse desselben, „wälzt der Alpheios Kies und
Schlamm über den heiligen Boden der Kunst, und wir fragen mit gesteigertem
Verlangen: wann wird sein Schoosz wieder geöffnet werden, um die Werke der
Alten an das Licht des Tages zu fördern?" Unter seinen Zuhörern saß
damals einer, der später so wesentlich zur Beantwortung dieser Frage beitragen
sollte: der Kronprinz von Preußen. Seiner warmen Antheilnahme und der
Bereitwilligkeit des deutschen Reichstages ist es zu danken, daß im April des
Jahres 1874 ein Vertrag mit der griechischen Regierung abgeschlossen wurde,
der freilich dem deutschen Reiche alle finanziellen Lasten auferlegte, der unseren
Kommissären auf der andern Seite aber auch die Machtbefugnis; gab, die
Ausgrabungen nach ihrem Ermessen zu leiten und die gefundenen Gegenstände
ausschließlich für Deutschland abformen zu lassen. Das Recht der ausschlie߬
lichen Abformung bleibt auf fünf Jahre vom Zeitpunkt der Entdeckung eines
jeden Gegenstandes an gerechnet in Kraft.
Dank diesen Vereinbarungen sind wir in den Stand gesetzt, auch fern von
Olympia uus an den Schätzen erfreuen zu dürfen, welche deutsche Energie nach
tausendjährigem Schlafe dem Schlamme des Alpheiosthales entrissen hat. Seit
wenigen Tagen sind die Gipsabgüsse der gefundenen Reste griechischer Herkunft
in einem überdachten Raume der Domruine in Berlin ausgestellt. An derselben
Wand, die einst bestimmt war, mit den Fresken des Cornelius geschmückt zu
werden, sind jetzt die Trümmer der Statuen, welche einst die Giebelfelder des
olympischen Zeustempels füllten, in architektonischer Umrahmung zu lebensvollen
Gruppen vereinigt. Zwar haben wir noch schmerzliche Lücken zu beklagen,
die schwerlich jemals ausgefüllt werden dürften. Denn das Terrain um
den vollständig aufgedeckten Zeustempel herum ist mit größter Sorgfalt unter¬
sucht worden. Wir werden uns mit dem Gefundenen, das ohnehin unsere
kühnsten Erwartungen überstieg, begnügen müssen. Zwei Bevölkerungen
haben sich nach dem Niedergange der antiken Kultur aus der Ebene von
Olympia niedergelassen. Was der Verwüstung der Gothen und Skythen ent-
gangen ist, mag ihnen als willkommenes Baumaterial gedient haben. Ver¬
brannter Marmor gibt einen vortrefflichen Mörtel.
Indessen sind die deutschen Schatzgräber im Großen und Ganzen derart
vom Glücke begünstigt worden, daß wir über die Komposition der beiden
Giebelgruppen, welche Pausanias als die Werke des Paionios von Meute
und des Alkcunenes von Athen bezeichnet, vollständig im Klaren sind. Schon
diese Thatsache ist ein unberechenbarer Gewinn für die archäologische Wissen¬
schaft. Außer den beiden Giebelfeldern des cieginetischen Athenatempels ist
uns bisher keine Giebelkomposition der griechischen Kunst so genau bekannt
geworden wie gerade diejenige des berühmtesten Tempels der alten Welt.
Wohl sind uns imposante Reste von den herrlichen Skulpturen erhalten, mit welchen
Phidias die Giebeldreiecke des Parthenon schmückte. Aber die Stürme der Zeit,
Erdbeben, Belagerungen und Feuersbrünste, haben aus beiden Giebelgruppen
die bedeutsamsten Stücke, die Zentren, herausgerissen oder bis zur Unkenntlich¬
keit zerstört. Und gerade diese Mittelgruppen sind uns in Olympia so gut
erhalten worden, daß uns nicht mehr der leiseste Zweifel über ihre Anordnung
übrig bleibt. Wir sehen im vorderen, dem Ostgiebel, einen mächtigen Torso,
dessen Gewandung ihn als Zeus charakterisirt. Zeus als Eideshüter steht
inmitten der zum Wettkampf sich Rüstenden. Wie wir auf unteritalischen
Vasenbildern den König Oinomaos und seinen zukünftigen Eidam um den
Altar des Zeus zu feierlichem Opfer vereinigt sehen, so steht hier die Majestät
des Gottes selber, der in seinem Tempel als Kampfrichter verehrt wird, statt
seines Altars. Zu seiner Rechten steht Oinomaos; sein Gesicht ist abgeschlagen,
aber der Helm auf seinem Haupte, dessen Pausanias ausdrücklich erwähnt, sichert
seine Identität. Die Fran zu seiner Rechten ist seine Gattin Sterope. Dann
folgt das Viergespann des Oinomaos mit seinem Wagenlenker Myrtilos und
zwei hockende Knaben, welche Pausanias zwar als Männer, aber sonst richtig
als Pferdeknechte des Oinomaos bezeichnet. Wo der Giebel sich zum spitzen
Winkel schließt, liegt endlich der Flußgott Alpheios.
Die andere Seite entspricht genau der eben beschriebenen. Neben dem
Pelops steht Hippodamici, der Preis des Sieges, vor seinem Viergespann sitzt
ein Mann und hinter demselben ein zweiter. Dann folgt aber statt des Knaben
der andern Seite ein Mädchen, das sich durch sein Gewand als solches charak¬
terisirt. Den Abschluß bildet auch hier ein gelagerter Flußgott, der Kladeos.
Diese Anordnung, wie sie in der Berliner Ausstellung versucht worden ist,
entspricht ziemlich genau der Beschreibung des Pausanias; nur daß die Flu߬
götter vertauscht worden sind. Indessen hat man geltend gemacht, daß der
Körper des behelmten Maunes, deu Pausanias ausdrücklich als Oinomaos
bezeichnet, eine jugendlichere Bildung verrathe, als der von ihm Pelops
genannte, und da auf der linken Seite statt der von dem Periegeten ausge¬
führten zwei Männer ein Mann und ein Mädchen aufgefunden worden sind,
so glaubt man auf Grund dieses augenscheinlichen Irrthums die ganze
Schilderung des Pauscinias als irrig verwerfen zu dürfen. Man wird diesen
Einwendungen eine gewisse Berechtigung nicht absprechen können. Aber es
sind jedenfalls alle Elemente vorhanden, um dereinst eine Restauration der
Giebelgruppe zu versuchen, die nicht allzu weit von der ursprünglichen Komposition
des Paionios abweicht.
Glücklicher sind wir bei der Rekonstruktion des Westgiebels, welcher den
Kampf der Kentauren und Lapithen bei der Hochzeit des Peirithoos darstellte.
Zwar wird auch hier die Autorität des Pausanias umgestoßen, welcher berichtet,
daß der thessalische Held den Mittelpunkt der Komposition eingenommen habe.
Die ideale Gestalt von übermenschlicher Bildung und Hoheit, von der freilich
nur der trefflich erhaltene Kopf und der Oberkörper übrig ist, könne, so hat man
gemeint, nur ein Gott sein, der „strafend in das wilde Getümmel eintritt". Mail
hat keinen andern als Apollon ausfindig machen können; indessen ist es noch
Niemandem gelungen, den Zusammenhang des Lichtgottes mit dem Zeustempel
von Olympia nachzuweisen. Man sieht, wie sich trotz der großen Zahl der vorhan¬
denen Trümmer die Schwierigkeiten der Interpretation auf Schritt und Tritt häufen.
Der Zusammenhang der übrigen Gruppen läßt sich dagegen sicherer nach¬
weisen. Wir haben nämlich zu beiden Seiten der Mittelgestalt drei eng mit
einander verbundene Gruppen, von denen die erste und letzte aus je drei
Figuren bestehen, während die mittlere nur je zwei umfassen. In der Letzteren
ist je ein Kentaur mit einem Lapithen in wildem Kampfe vereinigt, während
zu den anderen Gruppen noch je eine Lapithenfrau hinzukommt, welche sich
gegen die Umschlingungen der trunkenen Unholde wehrt. In einer dieser
Gruppen wird man den Kentauern Eurytion, den frevlen Friedensbrecher zu
erkennen haben, welcher die Braut des Peirithoos, die Hippodamia, davonschleppt.
Es wird wahrscheinlich die sein, welche mit beiden Armen den Kopf des zu¬
dringlichen Räubers von sich stößt. Der Gattin des Helden steht eine so
energische Aktion jedenfalls besser zu Gesicht als die Passivität der anderen
Frau, die von einer Ohnmacht befangen zu sein scheint, wie ihr gesenktes Haupt
errathen läßt. Den Abschluß bilden auf beiden Seiten je zwei liegende Figuren.
Die Ersteren, Frauen mit alten, nnhellenischen Gesichtszügen, scheinen vor
Schreck niedergefallen oder mit Gewalt umgeworfen zu 'sein, während man in
den ruhig gelagerten, weiblichen Figuren der Ecken wiederum Ortsgottheiten,
die Berguymphen des Pelion zu erkennen hat.
Die Inschrift auf dem Postamente der Nike des Paionios, die wir nach¬
her besprechen werden, sagt uns, daß Paionios in der Verfertigung der Giebel-
gruppen seinen Nebenbuhler Alkcunenes besiegt habe. Wir freilich sind geneigt,
auf Grund der ausgeführten Kompositionen, wie wir sie aus den Resten zu¬
sammengesetzt haben, viel eher dem Alkcimenes den Kranz zu reichen. Paionios
hat nicht viel mehr gethan, als Figuren, welche die Sage ihm an die Hand
gab, feierlich nebeneinander gereiht. Mamenes dagegen hat lebendig bewegte
Gruppen erfunden, in denen sich eine dramatische Kraft offenbart, welche die
hellenische Kunst nie zuvor gekannt hatte. Seine Kampfgruppen sind jedenfalls
von großem Einfluß auf die Fortentwickelung der griechischen Kunst gewesen,
die später in den Amazonen- und Perserkämpfen Erfindungen von gleicher und
größerer Kühnheit ausgestattete.
Wir werden indessen diesen Zwiespalt zwischen unserer nachträglichen
Kritik und dem Urtheilsspruche der elischen Tempelbehörden, welche den Paionios
mit dem ersten Preise auszeichneten, sehr leicht ausgleichen können, wenn wir
annehmen, daß vor der Anfertigung der beiden Giebelgruppen eine Konkurrenz
zwischen den Künstlern stattfand, entweder auf Grund bereits vorhandener
Werke oder auf Grund von neuen Entwürfen. Darin, daß man dem Sieger
in dieser Konkurrenz, dem Paionios, den Ostgiebel übertrug, mag ein Theil,
wenn nicht der ganze Siegespreis gelegen haben. Der Ostgiebel, der dem
Sonnenaufgang zugekehrt ist, uuter dem sich der Eingang in die Zella mit
dem Bilde des Gottes befindet, ist der heiligere von beiden. Ihn durften nicht
die wilden Leidenschaften verunstalten, welche im Westgiebel toben. Hier
mußte nach dem Tempelritus eine feierliche Ruhe herrschen, und darum wählte
Paionios, wenn ihm überhaupt freie Wahl gelassen war, die Ruhe vor dem
Sturm, die Vorbereitungen zur Wettfahrt.
Wenn auch Paionios in der Konkurrenz zu Olympia über Mamenes
siegte, so scheint der letztere doch der größere von beiden gewesen zu sein. Denn
nach der Ueberlieferung des Pausanias erkannten ihm die Alten die zweite
Stelle nach Phidias zu. Doch scheint auch Paionios, wie uns seine Nike be¬
weist, dem Kreise des Phidias angehört zu haben.
Wir wissen aus Inschriften, besonders aus den Baurechnungen des Erech-
theion's in Athen, daß die antiken Bildhauer ebenso wie die modernen nicht
ihre Arbeiten selbst in Marmor ausführten, fondern derartige handwerksmäßige
Geschäfte den Steinmetzen überließen. Je nach der Schulung derselben fiel
dann die Arbeit aus. Die Parthenonskulptnren verrathen in ihrer sorgsamen
Ausführung, welche die feinsten Intentionen des erfindenden Künstlers wieder¬
gibt, die leitende Hand des Phidias, die nimmer ruhende, immer nach der
Vollendung strebende attische Schule, die gerade in diesen Arbeiten ihr Höchstes
eistete. Wie die Vorderseite war auch die Rückseite der Giebelfiguren, welche
nach der Berechnung ihrer Verfertiger doch für immer dem menschlichen Auge
entrückt waren, auf das Sorgfältigste durchgeführt. Aus diesen Figuren spricht
das Behagen des echten Künstlers an seinem Werke, der nicht auf den Beifall
und die Bewunderung der Menge sieht, sondern zu eigener Befriedigung schasst.
In den Peloponnes konnten Alkmnenes und Paionios die Marmorarbeiter
der Athemlöcher Werkstätten nicht mitnehmen. Sie waren hier auf die Beihilfe
von einheimischen Steinmetzen angewiesen, die nach der ihnen überkommenen
Tradition noch in alterthümlicher Befangenheit arbeiteten. Die zwölf Metopen
mit den Thaten des Herakles, welche die Vorder- und Rückwand der Zella
des olympischen Zeustempels schmückten, sind augenscheinlich das Werk ihrer
Hände, das langsam ohne Ueberhastung entstand. Bei dem ersten Ausgra¬
bungsversuche, den die Franzosen im Jahre 1829 auf dem Boden von Olympia
unternahmen, und der sogleich die Lage des Zeustempels offenbarte, wurden
Bruchstücke von fünf verschiedenen Metopen gefunden. Die deutschen Ausgra¬
bungen förderten noch zwei Fragmente, die zu den jetzt im Louvre befindlichen
Stücken gehören, und die Fragmente von drei anderen Metopen zu Tage.
Eines derselben, Herakles, den Himmel tragend, mit König Atlas und einer
Hesperide, gibt die ganze ursprüngliche Komposition bis auf die Beine der
beiden Männer wieder. Wir sehen an diesen Resten, daß ihre Verfertiger sich
auf eine gute Durchbildung des nackten Körpers verstanden, daß sie aber die
Gewänder noch in der steifen Feierlichkeit der archaischen Kunst anordneten.
Diese alterthümliche Gebundenheit der elischen Künstler vermochte weder dem
freien Naturalismus des Paionios noch der kühnen Aktion zu folgen, welche
für die Gruppen des Alkameues charakteristisch ist. Wir sehen aus ihren
Arbeiten, daß ihnen die attischen Künstler nicht Gipsmodelle in natürlicher
Größe, sondern nur kleine Skizzen zur Verfügung stellten, denen gegenüber die
guten Provinzialen völlig rathlos waren. Es scheint außerdem mit großer
Hast gearbeitet worden zu sein.
Die Rückseiten der Statuen wurden roh gelassen. Glieder, die nach rück¬
wärts gekehrt waren, wurden nicht einmal augedeutet. Man vertraute eben
auf den hohen Aufstellungsort — 17 Meter über dem Erdboden —, der manche
Unbeholfenheit, manche Rohheit dem Auge des Beschauers entzogen hat. End¬
lich kam noch die Farbe hinzu, die belebte und, wo es noth that, verdeckte.
Die Giebelgruppen von Olympia wollen nicht als selbständige Kunstwerke
betrachtet sein. Als solche würden sie vor keiner Kritik bestehen. Sie sind
Glieder eines architektonischen Organismus, mehr dekorative als selbständige
Skulptur, und darum wird man nur zu einer richtigen Werthschätzung der
gefundenen Trümmer gelangen können, wenn man sie in der Höhe aufstellt,
für welche sie ihre Urheber berechnet haben.
Immerhin enthalten sie aber eine kunstgeschichtlich sehr wichtige Bestäti-
gnug der Thatsache, daß es in der Glanzepoche der griechischen Kunst keine
Kunst neben der attischen gab. Die herrlichsten Kunstschätze, welche die Ebene
von Olympia zierten, waren Werke attischer Kunst. Die Perle derselben, das
Goldelsenbeinbild des Olympiers, das gefeierte Werk des Phidias, ist unwider-
briuglich dahin, und von den zahllosen Erzfiguren — es soll ein ganzer Wald
gewesen sein — wird schwerlich jemals eine wieder das Tageslicht erblicken.
Das schimmernde Metall reizte die Raublust der Barbaren, die zweimal in
das stille Thal des Alpheios einbrachen. Aber zwei Werke attischer Kunst hat
uns dennoch ein glücklicher Zufall erhalten, zwei Werke, die unsere Kenntniß
der griechischen Kunst auf das Glücklichste bereichern, die uns aber zugleich
schwere Räthsel aufgeben: Die Nike des Paionios und den Hermes
des Praxiteles.
Das Werk des Ersteren ist nicht blos durch das Zeugniß des Pausanias,
sondern auch durch die Zuschrift auf der ebenfalls mit aufgefundenen Basis
gesichert. Die Inschrift erzählt uns, daß die Messenier und Naupaktier das
Werk dem olympischen Zeus vom Zehnten der Kriegesbeute geweiht haben, die
sie den Feinden abgenommen, und daß sie Paionios von Meute verfertigt
habe, der auch bei der Verfertigung der Giebelgruppen der Sieger war. Pau¬
sanias erläutert diese Inschrift, die scheinbar geflissentlich den Namen der
Feinde umgeht, dahin, daß die Lakedämonier damit gemeint seien, welche die
Messenier in Gemeinschaft mit den Athenern im Jahre 425 v. Chr. auf der
Insel Sphakteria gefangen genommen. Paionios war diesmal glücklicher in
der Wahl seines Marmorarbeiters. Es war unzweifelhaft einer, der in den
Athemlöcher Werkstätten gelernt hatte. Vielleicht ist die Statue sogar in Athen
unter den Augen des Meisters und unter seiner Beihilfe gearbeitet worden.
Die Schwierigkeit des Transportes spräche nicht dagegen. Denn die Statue
besteht, soviel wir noch jetzt sehen — Kopf, Arme, Flügel und der linke Fuß
fehlen —, aus zwei Marmorblöcken, die an Ort und Stelle zusammengesetzt
werden konnten.
Die Nike stand auf einem dreieckigen, sich nach oben verjüngenden, etwa
fünfzehn Fuß hohen Postament, das aus sieben Marmorblöcken bestand, welche
auf einer Basis von zwei Kalksteinblöcken standen. Der Künstler hat sich die
Siegesgöttin in dem Augenblick gedacht, wie sie, vielleicht mit Kranz und
Palme in den Händen, vom Olympos herabschwebt, um dem beglückten Sterb¬
lichen den Siegespreis zu überreichen. Bei der heftigen Bewegung des stür¬
mischen Fluges ist ihr das Gewand von der linken Schulter herabgeglitten,
und der jungfräuliche, stark naturalistisch gebildete Busen ist dadurch frei
geworden. Während der rechte Fuß noch die Basis berührt, tritt der linke,
fast bis zur Hälfte entblößt, aus der prächtigen Fluth der sich nach rückwärts
bauschenden Gewandung heraus. Man merkt an der Bewegung des Beins,
daß er frei in der Luft schwebte. Da überdies an der Basis noch ein Vogel
sichtbar ist, hat man angenommen, daß sich Paionios die Nike überhaupt noch
in der Luft schwebend dachte, und die Farbe wird dann hinzugetreten sein,
um an dem Marmor der Basis das Element anzudeuten.
Der schwungvolle Faltenwurf, die herrliche Anordnung des Gewandes,
die sich nirgends in kleine knitterige Brüche verliert, sondern sich stets in gro߬
artigen Partien bewegt, zeigt uns den Schüler des Phidias, der an den maje¬
stätischen Giebelfiguren des Parthenon, namentlich an der wundervollen Gruppe
der sogenannten Thauschwestern, studirt hat. In einer Partie scheint der
Marmorarbeiter aber auch dieses Werk in seiner Gesammtwirkung beeinträchtigt
zu haben. Der Unterleib ist nämlich so übertrieben stark gebildet, daß die
Annahme, der Gürtel presse diesen Körpertheil so stark heraus, oder der Bild¬
hauer sei der Individualität seines Modells zu sehr gefolgt, nicht ausreicht,
um diese Abnormität zu erklären. Vielleicht mag sie aber durch den hohen
Standort, durch die Einwirkung des Lichts, durch den Glanz des metallenen
Gürtels u. s. w. beträchtlich gemildert worden sein.
Das Räthsel, von dem wir oben gesprochen haben, gibt uns erst der
Hermes des Praxiteles auf, der in der Zella des Heratempels gefunden
wurde, welcher sich nördlich vom Zeustempel an den Fuß des Kronionhügels
lehnt. Pausanias sagt bei der Aufzählung der Kunstwerke, die er im Heraion
sah: „Geweiht ist auch ein Hermes von Marmor. Er tragt den kleinen
Dionysos und ist ein Werk des Praxiteles." Daß der aufgefundene Hermes
mit dem von Pausanias erwähnten identisch ist, unterliegt keinem Zweifel. Man
fand nicht blos den bis auf die Kniee vollständig erhaltenen Körper des Hermes,
sondern auch den Rumpf des kleinen Dionysos, welchen der Gott auf dem
Arme trug. Der Kopf des Hermes ist so vortrefflich erhalten, wie kaum ein
zweiter in unserem antiken Denkmälervorrath. Nicht einmal die Nasenspitze
war verletzt.
Ob nun dieser Hermes in der That von der Hand des großen Praxiteles,
des Schöpfers der Kindischen Venus, herrührt, ist eine Frage, die sich auf
Grund der Autorität des Pausanias nicht ohne Weiteres bejahen läßt. Wir
haben oben gesehen, wie oft sich Angesichts der Funde der Bericht des Pau¬
sanias als irrthümlich erwies. Er hat Knaben für Männer und Madchen für
Knaben gehalten, er schreibt ferner, daß die Nike des Paionios auf einer Säule
stand, während das Postament dreieckig ist u. tgi. in. Warum sollen die Ciceroni
in Olympia, die dem wißbegierigen, etwas beschränkten Fremdling imponiren
wollten, ihm nicht den berühmten Namen angegeben haben, den er in seine
Schreibtafel eingrub? Vielleicht hat in der That auch an der Basis gestanden,
daß der Hermes ein Werk des Praxiteles, des Sohnes von Kephisodot ans
Athen, war. Aber es folgt daraus noch nicht, daß dieser Praxiteles mit dem
Schöpfer der Kindischen Venus und des Eros von Thespiae identisch ist. Wir
wissen, daß in der Familie des großen Bildhauers, in welcher die plastische
Kunst sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbte, die beiden Namen Kephisodot
und Praxiteles lange Zeit hindurch mit einander wechselten. Wir wissen
speziell, daß um 300 v. Chr. ein gleichnamiger Enkel des Praxiteles als Bild¬
hauer thätig war.
Es sind zwingende Gründe vorhanden, die uns nöthigen, die schöne Illusion,
ein Originalwerk des großen Praxiteles gefunden zu haben, nach allen Rich¬
tungen hin auf's Schärfste zu untersuchen, wenn nicht gar zu zerstören. Schon
der erste Archäologe, der die Statue alsbald nach ihrer Entdeckung sah, Dr.
Hirschfeld, zweifelte an der Urheberschaft des Praxiteles. Er wies mit Recht
darauf hin, daß unter dem Namen keines andern großen Künstlers im Alter¬
thume so viele Werke gegangen sind, wie unter dem des Praxiteles, und warf
dann schüchtern die Frage auf: „Ist dieser Hermes nicht etwa blos ein Werk
aus der Schule, in der Kunstart des Praxiteles?" Dieser Zweifel hat den
Unmuth eines andern Archäologen, des Dr. Treu, seines Nachfolgers in der
wissenschaftlichen Leitung der Ausgrabungen, erregt. Dr. Treu hat den Hermes,
noch bevor ein Gipsabguß nach Deutschland gelangte, nach einer Photographie
in Steindruck publizirt und in dieser Publikation (erschienen bei Ernst Wasmuth
in Berlin) zugleich mit bewunderungswürdigem Scharfsinn eine stilistische
Untersuchung der Statue gegeben. Trotzdem er von der Autorschaft des Praxi¬
teles überzeugt ist, hat er Unbefangenheit genug besessen, um das Werk ganz
Vorurtheilslos zu prüfen. Immer und immer wieder drängt sich ihm im Laufe
seiner Untersuchung die Wahrnehmung auf, daß gewisse stilistische Eigenthüm¬
lichkeiten ans den Kunstcharakter des Sikyonischen Bildhauers Lysippos hinweisen,
der ein Menschenalter nach Praxiteles auftrat und sich der Ueberlieferung
zufolge durch eine große Selbständigkeit und Unabhängigkeit vor seinen Vor¬
gängern auszeichnete. Die Behandlung gewisser Theile der Brust und des
Halses, „der Einschnitt, welcher die Stirn in der Mitte theilt, die Buckel über
dem Ansatz der Nase, die bewegte Bildung der Augenknochen, der Umriß der
Wangen und die Oeffnung des Mundes — alles kehrt beim Apoxyomenos
wieder," der bekannten Athletenstatue im Vatikan, die auf ein Original des
Lysippos zurückgeht. Treu findet die Uebereinstimmung in der Bildung der
meisten Theile zwischen dem Hermes und dem Apoxyomenos geradezu „frappant".
Der Wiener Archäologe Benudorf hat in einer Kritik der Treu'schen
Publikation (Kunstchronik 1878, Ur. 49) die von Hirschfeld aufgeworfene Frage
weiter ventilirt und ist nach einer Reihe scharfsinniger Kombinationen zu dem
Resultate gelangt, daß, wenn wir nicht unsere aus erhaltenen Monumenten
gewonnene Anschauung von den Eigenthümlichkeiten Lysippischer Kunst aufgeben
wollen, der aufgefundene Hermes unmöglich ein Werk des großen
Praxiteles sein kann. Er nimmt schließlich als eine Eventualität unter
andern an, daß es sehr wohl ein Werk des jüngeren Praxiteles sein kann, der
bereits unter dem zwingenden, genügend bezeugten Einfluß des Lysippos
arbeitete.
Wie dem nun auch sein mag, wir stehen vor einem kunstgeschichtlichen
Räthsel, das dringend einer Lösung bedarf. Eine Konfrontation beider Gips¬
abgüsse, des Hermes und des Apoxyomenos, die uoch nicht erfolgt ist, wird
vielleicht diese Lösung herbeiführen. Jedenfalls hat der Gipsabguß des Hermes
der Hypothese Benndorf's, der nur nach der Zeichnung urtheilte, eine sichere
Basis geschaffen. Alle charakteristischen Grundzüge Lysippischer Kunst treten
an dem Abguß auf das Deutlichste hervor.
Was die Ausgrabungen von Mykenae an Material für die Geschichte
der Anfänge der griechischen Kunst herbeigeschafft, das haben die Ausgrabungen
in Olympia für die Geschichte ihrer Blüthezeit gethan. Dort wie hier häuft
sich Problem auf Problem, das wahre Lebenselixir für jede vorwärts strebende
Wissenschaft.
So nennt sich ein soeben (Leipzig, Grunow) erschienenes zweibändiges Buch
von Moritz Busch, welches, wie man auch über die politischen Ansichten und
die Methode des Verfassers urtheilen möge, als eine ungewöhnliche Erscheinung,
ja als eine solche bezeichnet werden muß, die in der Literatur kaum Ihres¬
gleichen hat.
Wenigstens ist zur Charakteristik Bismarck's, abgesehen von dem, was er
selbst in seinen Parlamentsreden und den von HeseNel, vom Figaro u. A. mit¬
getheilten Briefen geäußert, nichts in die Oeffentlichkeit gelangt, was den hier
gelieferten Beiträgen an Vielseitigkeit und Glaubwürdigkeit irgendwie verglichen
werden könnte.
Der Verfasser war, wie bekannt sein wird, mehrere Jahre — irren wir
nicht, von 1870 bis 1873 — im Auswärtigen Amte angestellt, und er beglei-
tete den Kanzler während der ganzen Dauer des siebenmonatlichen Krieges in
der Weise, daß er sich unausgesetzt in dessen unmittelbarer Umgebung und in
täglichem Verkehr mit ihm befand. Er hat, beauftragt, die Gedanken und
Absichten desselben in der Presse zu vertreten, Blicke in die Entwickelung der
Dinge thun können wie Wenige, er ist in hochbedeutsamen Momenten in dessen
nächster Nähe gewesen, und er hat, indem er beinahe ausnahmslos an der
Tafel des Kanzlers speiste, beim abendlichen Thee zugegen war und wiederholt
im Reisewagen der Mittheilsamkeit des Fürsten lauschen durfte, reichlich Ge¬
legenheit gehabt, auch zu sehen und zu hören, wie er sich im Privatleben giebt
und verhält. Und wenn Busch das Glück hatte, beobachten zu können, so
hat er, durch frühere Reisen zu literarischen Zwecken und strenge dienstliche
Uebung geschult, auch zu beobachten verstanden. Er brachte zur Erfüllung
der Aufgabe, die er sich gestellt, ein vorzügliches Gedächtniß selbst für das
Kleine und scheinbar Nebensächliche mit, und bei der Aufzeichnung seiner Be¬
obachtungen leitete ihn, wie jede Seite zeigt, trotz seiner stark ausgeprägten
Gesinnung, mit der wir ihn unter die unbedingten Verehrer des Fürsten zu
stellen haben, eine entschiedene, beinahe peinliche Wahrheitsliebe, die nichts
glättet, was rauh ist, nirgends aus dem Eigenen höhere Lichter aufsetzt, nirgends
Pointen hinzufügt, wo sich keine finden, und die andererseits auch solche zur
Charakteristik des Kanzlers nothwendig scheinende Dinge nicht übergeht, die
dem Berichterstatter — wir denken dabei an die ihm gelegentlich ertheilten
Verweise — beim Leser schaden können. Mit diesen Eigenschaften, zu denen
die Gabe, gut zu erzählen und lebendig zu schildern, tritt, führte Busch zu¬
nächst ein genaues und ausführliches Tagebuch, welches sich auf Notizen
gründete, die an Ort und Stelle gemacht wurden, und aus diesem theilt er
hier in reichlichen Auszügen mit, was sich ohne Pflichtverletzung, ohne Takt¬
losigkeit und ohne Schaden gegenwärtig mittheilen läßt.
Daß Vieles verschwiegen bleiben mußte, würden wir auch ohne die Be¬
zeichnung der Lücken durch Gedankenstriche, denen man namentlich in den letzten
Kapiteln häufig begegnet, von vornherein annehmen. Wahrscheinlich ist so¬
dann, daß jene Lücken ganz besonders interessante Vorkommnisse und Aeuße¬
rungen betreffen. Aber auch in dieser von den Verhältnissen gebotenen
UnVollständigkeit ist das Buch mit seiner photographischen Treue ein werthvoller
Beitrag zur Charakteristik des Kanzlers nach den verschiedensten Seiten seines
Wesens, eine trefflich durchgeführte Chronik des Krieges, soweit es sich dabei
um ihn handelte — zumal für den, der zwischen den Zeilen zu lesen ver¬
steht — und so eine wahre Fundgrube für die spätere Geschichts¬
schreibung. Eine Fülle neuer Charakterzüge und Aussprüche des Kanzlers,
der überall den Mittelpunkt der Darstellung bildet, wird geboten, das gesammte
Leben des Auswärtigen Amtes entwickelt sich vor unseren Augen bis ins Ein¬
zelne, die wechselnde Stimmung der Mitglieder der Expedition wird sichtbar,
wir hören die Tischreden des Fürsten über Vergangenes und Gegenwärtiges
und zwar meist dem Wortlaut nach, ohne die übliche verschönern sollende Zu-
that, wir bekommen ausgeführte Charakterzeichnnngen von seinen hervorragenden
Räthen, während andere sich im Verlaufe der Erzählung durch die oder jene
Aeußerung selbst charakterisiren, und damit es nicht an Abwechselung fehle,
werden wir zuweilen auch auf die Schlachtfelder und nach Aussichtspunkten
geführt, die der Kanzler während des Krieges besuchte. Endlich sind anch
selten gewordene oder sür das größere Publikum ganz verloren gegangene
Aeußerungen der deutschen und ausländischen Presse eingeflochten, die geeignet
sind, über die öffentliche Meinung und den Stand der Dinge in den einzelnen
Phasen des weltgeschichtlichen Prozesses, von dem hier ein besonders interes¬
santer Ausschnitt vorliegt, Licht zu verbreiten.
Der Eine und der Andere mag diese Zeitungsartikel wegwünschen. Der
Verfasser aber kann deren ' Einschaltung mit einer Aeußerung des Kanzlers
rechtfertigen, die sich auf Seite 375 des zweiten Bandes findet und folgender¬
maßen lautet:
„Wenn sie einmal Geschichte schreiben darnach (nach Gesandtschaftsberichten
nämlich), so ist nichts Ordentliches daraus zu ersehen. Ich glaube, nach dreißig
Jahren werden ihnen die Archive geöffnet; man könnte sie viel eher hineinsehen
lassen. Die Depeschen und Berichte sind, auch wo sie einmal was enthalten,
solchen, welche die Personen und Verhältnisse nicht kennen, nicht verständlich.
Wer weiß da nach dreißig Jahren, was der Schreiber selbst für ein Mann
war, wie er die Dinge ansah, wie er sie seiner Individualität nach darstellte?
Und wer kennt die Personen allemal näher, von denen er berichtet? Man muß
wissen, was hat Gortschakoff oder was hat Gladstone oder Granville mit dem
gemeint, was der Gesandte berichtet? Eher sieht man noch was ans den Zei¬
tungen, deren sich die Regierungen ja auch bedienen, und wo man häufig
deutlicher sagt, was man will."
Auch sonst findet sich in den Mittheilungen des Verfassers Einiges, was
der eine oder der andere Leser als wenig bedeutend oder ganz irrelevant weg¬
wünschen kann, Wetterbeobachtungen z. B., Berichte über Culinarisches, über
gastronomische Neigungen des Kanzlers, über Jugenderinnerungen desselben und
andere Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten. Er selbst hat das nach der Vorrede
gefühlt, aber man wird ihm bis zu einem gewissen Grade beipflichten müssen,
wenn er sich gegen dahingehende Vorwürfe folgendermaßen vertheidigt:
„Vieles von dem, was ich berichte oder schildere, wird Manchen als
Kleinigkeit oder Aeußerlichkeit erscheinen. Mir erscheint nichts so. Denn nicht
selten lassen die Kleinigkeiten, um die der Prätor sich nicht kümmert, das Wesen
der Menschen oder die Stimmung, in der sie sich gerade befinden, deutlicher
erkennen als anspruchsvolle Großthaten. Dann mögen hin und wieder an sich
ganz unbedeutende Dinge und Situationen dem Geiste Anlaß zu Gedanken¬
blitzen und Jdeenverbindungen geben, die fruchtbar und folgenreich für die Zu-
kunft sind. Ich denke dabei an den oft sehr zufälligen und unscheinbaren
Ursprung von epochemachenden Erfindungen und Entdeckungen, an die hell¬
blinkende Zinnkanne, die Jakob Böhme in die metaphysische Welt verzückte,
und — an einen gewissen Fettfleck auf unserm Tafeltuch in Ferneres, der
dem Kanzler zum Ausgangspunkte für eine sehr merkwürdige und ungemein
charakteristische Tischrede wurde. (Dieselbe findet sich, soweit sie untheilbar
war, Band I, Seite 209—211 und ist in der That sehr bemerkenswerth). Der
Morgen wirkt auf nervöse Konstitutionen anders als der Abend. Das Wetter
mit seinem Wechsel beeinflußt Dinge und Menschen. Sogar das wird zu be¬
achten sein, daß Gelehrte (der Verfasser denkt hier wohl an Feuerbach) Theorien
aufgestellt haben, die kraß ausgedrückt ungefähr auf die Ansicht: der Mensch
ist, was er ißt, hinauslaufen; denn, so komisch das klingen mag, wir wissen
nicht, wie weit sie darin Unrecht haben. Endlich aber dünkt mich, daß über¬
haupt alles von Interesse ist, was zu dem hochherrlichen Kriege gehört, der
uns ein deutsches Reich und eine sichere Westgrenze gewann, und daß auch
das scheinbar Kleinste seinen Werth hat, was zu dem Antheile in Beziehung
steht, den der Graf Bismarck an den Ereignissen während desselben hatte.
Alles sollte deshalb aufgehoben werden. In großer Zeit erscheint das Kleine
kleiner; in späteren Jahrzehnten und Jahrhunderten ist es umgekehrt. Das
Große wird größer und das bedeutungslos Gewesene bedeutnngsreich. Oft
wird dann bedauert, daß man sich von den oder jenen Ereignissen oder Per¬
sönlichkeiten kein so lebendiges und farbiges Bild machen kann, wie man möchte,
weil Anfangs für unwesentlich angesehenes, jetzt wünschenswert!) gewordenes
Material mangelt, da sich kein Auge, das es sah, und keine Hand, die es be¬
schrieb und bewahrte, gefunden hat, als es Zeit war. Wer wüßte jetzt nicht
gern Genaueres über Luther in den großen Tagen und Stunden feines Lebens,
bestände es auch aus sehr harmlosen und wenig bezeichnenden Zügen, Um¬
ständen und Beziehungen? In hundert Jahren aber wird der Fürst Bismarck
in den Gedanken unseres Volkes seine Stelle neben dem Wittenberger Doktor
einnehmen, der Befreier unseres politischen Lebens vom Drucke des Auslandes
neben dem Befreier der Gewissen von der Wucht Rom's, der Schöpfer des
deutschen Reiches neben dem Schöpfer des deutschen Christenthums."
Ein gutes Buch spricht am besten für sich selbst, und so geben wir im
Nachstehenden einige Auszüge aus der in Rede stehenden Schrift, wobei wir
uns einfach an die Reihenfolge der Kapitel halten und nur die Mittheilungen
des Tagebuchs berücksichtigen, welche die Versailler Tage betreffen.
„Während des Diners (am 14. Oktober 1870) bemerkte der Chef (so be¬
zeichnet man Bismarck in gewöhnlicher Rede unter den Herren vom Auswär¬
tigen Amte), nachdem er einen Augenblick nachgesonnen, lächelnd: „Ich habe
einen Lieblingsgedanken in Bezug auf den Friedensschluß. Das ist ein inter¬
nationales Gericht niederzusetzen, das die aburtheilen soll, die zum Kriege ge¬
hetzt haben — Zeitungsschreiber, Deputirte, Senatoren, Minister." — Abeken
setzt hinzu, auch Thiers gehöre mittelbar dahin, und zwar ganz vorzugsweise,
wegen seiner chauvinistischen Geschichte des Konsulats und des Kaiserreichs. —
„Auch der Kaiser, der doch nicht so unschuldig ist, wie er sein will," fährt
der Münster fort. „Ich dachte mir von jeder Großmacht gleich viel Richter,
von Amerika, England, Rußland u. f. w., und wir wären die Ankläger. In¬
deß werden die Engländer und Russen darauf nicht eingehen, und da könnte
man das Gericht aus den Nationen, die davon am Meisten gelitten haben,
zusammensetzen, aus französischen Deputirten und Deutschen." Bismarck kam
später, wie wir erfahren, mehrmals ans diesen Plan zurück, so daß man ver¬
muthen darf, es sei ihm damit Ernst gewesen.
Vom größten Interesse ist ferner die Mittheilung, die wir S. 264 des
I. Bandes über eine Aeußerung Bismarck's in Betreff der Polen lesen. „Später
gedachte er der Notiz im „Kraj" (in der fälschlich behauptet worden, er habe
unlängst einem galizischen Edelmanns gerathen, die Polen sollten sich von
Oesterreich abwenden) und hiermit der Polen überhaupt. Er verweilte dabei
längere Zeit bei den siegreichen Kämpfen des Großen Kurfürsten im Osten
und bei dessen Verbindung mit Karl dem Zehnten von Schweden, die ihm
große Vortheile verheißen habe. Schade nur, daß sein Verhältniß zu Holland
ihn gehindert habe, diese Vortheile zu verfolgen und gehörig auszunutzen. Er
habe sonst gute Aussichten gehabt, seine Macht im westlichen Polen auszu¬
dehnen. Als Delbrück darauf äußerte, dann wäre Preußen aber ja kein deut¬
scher Staat geblieben, erwiderte der Chef: „Nun, fo schlimm wäre es doch
nicht geworden. Uebrigens hätte es nicht so viel geschadet, es hätte dann etwas
im Norden gegeben wie Oesterreich im Süden. Was dort Ungarn ist, das
wäre für uns Polen geworden," — eine Bemerkung, an die er die schon vor¬
her einmal von ihm gegebene Mittheilung knüpfte, er habe dem Kronprinzen
den Rath ertheilt, seinen Sohn die polnische Sprache lernen zu lassen, es
wäre aber zu seinem Bedauern unterblieben." Man vergleiche hierzu auch
Band II, S. 156.
Gleichfalls sehr interessant ist die Band II, S. 14 enthaltene Stelle über
Gagern. Der Chef sagte u. A. von ihm: „Er läßt seine Töchter katholisch
erziehen. Nun, wenn er den Katholizismus für besser hält, so ist dagegen
nichts einzuwenden; nur sollte er dann selber katholisch werden. So ist es
nur Inkonsequenz und Feigheit. — Ich entsinne mich, 1850 oder 1851, da
hatte Manteuffel Befehl bekommen, eine Verständigung zwischen den Gagern'schen
und den Konservativen von der preußischen Partei zu versuchen — wenig¬
stens so weit wie der König in der deutschen Sache gehen wollte. — Er nahm
mich und Gagern dazu, und so wurden wir eines Tages zu einem souxsr
Z, trois zu ihm eingeladen. Zuerst wurde wenig oder gar nicht von Politik
gesprochen. Dann aber ergriff Manteuffel einen Vorwand, uns allein zu
lassen. Als er hinaus war, sprach ich sogleich von Politik und setzte Gagern
meinen Standpunkt auseinander und zwar in ganz nüchterner, sachlicher Weise.
Da hätten Sie aber den Gagern hören sollen. Er machte sein Jupitersgesicht,
hob die Augenbrauen, sträubte die Haare, rollte die Augen und schlug sie gen
Himmel, daß es förmlich knackte, und sprach zu mir mit seinen großen Phrasen,
wie wenn ich eine Volksversammlung wäre. — Natürlich half ihm das bei
mir nichts. Ich erwiderte kühl, und wir blieben auseinander wie bisher.
Als Manteuffel dann wieder hereingekommen war, und der Jupiter sich ent¬
fernt hatte, fragte er mich: Nun, was haben Sie zu Stande gebracht mit¬
einander? — Ach, sagte ich, nichts ist zu Stande gekommen. Das ist ja ein
ganz dummer Kerl. Hält mich für eine Volksversammlung — die reine Phra¬
sengießkanne. Mit dem ist nicht zu reden."
Um dem Buche nicht zu viel zu entnehmen, übergehen wir eine große
Anzahl gleich merkwürdiger Stellen und schreiben nur noch folgende ans:
S. 172 des II. Bandes: „Die Rede kam auf Napoleon den Dritten, und
der Chef erklärte denselben für beschränkt. „Er ist," so fuhr er fort, „viel
gutmüthiger, als man gewöhnlich glaubt, und viel weniger der kluge Kopf, für
den man ihn gehalten hat." — „Das ist ja," warf Lehndorf ein, „wie mit
dem, was Einer vom ersten Napoleon geurtheilt hat: ,eine gute Haut, aber
ein Dummkopf/" — „Nein," erwiderte der Chef, „im Ernst, er ist trotzdem,
was man über den Staatsstreich denken mag, wirklich gutmüthig, gefühlvoll,
ja sentimental, und mit seiner Intelligenz ist es nicht weit her, auch mit seinem
Wissen nicht. Besonders schlecht bestellt ist's mit ihm in der Geographie, ob¬
wohl er in Deutschland erzogen worden und auf die Schule gegangen ist, und
er lebt in allerhand phantastischen Vorstellungen." — „Im Juli ist er drei
Tage umhergetaumelt, ohne zu einem Entschlüsse zu kommen, und noch jetzt
weiß er nicht, was er will. Seine Kenntnisse sind derart, daß er bei uns
nicht einmal das Referendarexamen machen könnte." — „Man hat mir das
nicht glauben wollen, aber ich habe das schon vor langer Zeit ausgesprochen.
1854 und 1855 sagte ich es schon dem Könige. Er hat gar keinen Begriff
davon, wie es bei uns steht. Als ich Minister geworden war, hatte ich eine
Unterredung mit ihm in Paris. Da meinte er, das würde wohl nicht lange
dauern, es würde einen Aufstand geben in Berlin und Revolution im ganzen
Lande, und bei einem Plebiscit hätte der König Alle gegen sich. — Ich sagte
ihm damals, das Volk baute bei uns keine Barrikaden, Revolutionen machten
in Preuszen nur die Könige. Wenn der König die Spannung, die freilich vor¬
handen wäre, nur drei bis vier Jahre aushielte, — die Abwendung des
Publikums von ihm wäre allerdings unangenehm und unbequem — so hätte
er gewonnen Spiel. Wenn er nicht müde würde und mich nicht im Stiche
ließe, würde ich nicht fallen. Und wenn man das Volk anriefe und abstimmen
ließe, so hätte er schon jetzt neun Zehntheile für sich." — „Der Kaiser hat da¬
mals über mich geäußert: „<us n'sse xg.s an Iroiruris svrisQx," woran ich
ihn im Weberhause bei Donchery natürlich nicht erinnerte." Man wolle hier¬
mit Band I, S. 318 vergleichen.
S. 325 ff.: „Er erzählte darnach, daß er heute auf dem Wege nach Samt
Cloud vielen Leuten mit Hausrath und Betten begegnet sei; wahrscheinlich seien
es Bewohner der Dörfer hier in der Nachbarschaft gewesen, die aber nicht aus
Paris gekommen sein könnten. „Die Frauen sahen ganz freundlich aus," be¬
merkte er dazu, „die Männer aber nahmen sofort, nachdem sie der Uniformen
ansichtig geworden waren, eine finstere Miene und eine heroische Haltung
an. — Das erinnert mich, bei der früheren neapolitanischen Armee, da gab es
ein Kommandvwort — wenn bei uns kommandirt wird: „Gewehr zur Attacke
rechts!" so hieß es da: „^ovis, isroos!" Alles ist bei den Franzosen gro߬
artige Stellung, pompöse Redensart, imponirende Miene wie auf dem Theater.
Wenn's nur recht klingt und nach etwas aussieht — der Inhalt ist einerlei,
's ist wie mit dem Potsdamer Bürger und Hausbesitzer, der mir einmal sagte,
daß eine Rede von Radowitz ihn tief gerührt und ergriffen Hütte. Ich fragte
ihn, ob er mir eine Stelle sagen könnte, die ihm besonders zu Herzen ge¬
gangen wäre — oder besonders schön vorgekommen. Er wußte keine anzu¬
geben. Ich nahm darauf die Rede her und erkundigte mich bei ihm, welches
die rührende Stelle wäre, indem ich das Ganze vorlas, und da ergab sich's,
daß gar nichts derart darin stand, weder was Rührendes noch was Erhabnes.
Es war eigentlich immer nur die Miene, die Stellung des Redners, die aus¬
sah, als spräche er das Tiefste, Bedeutendste und Ergreifendste - der Denker¬
blick, das andächtige Auge und die Stimme voll Klang und Gewicht. — Mit
Waldeck war's ähnlich, obwohl der kein so gescheiter Mensch und keine so
vornehme Erscheinung war. Bei dem war's mehr der weiße Bart und die
Gesinnungstüchtigkeit." — „Die Gabe der Beredsamkeit hat im parlamenta¬
rischen Leben Manches verdorben. Man braucht viel Zeit, weil Alle, die da
was zu können glauben, das Wort haben müssen, anch wenn sie nichts Neues
vorzubringen wissen. Es wird zu viel in die Luft gesprochen und zu wenig
zur Sache. Alles ist schon abgemacht in den Fraktionen, und so redet man
im Plenum blos für das Publikum, dem man zeigen will, was man kann, und
noch mehr für die Zeitungen, die loben sollen." — „Es wird noch dahin
kommen, daß man die Beredsamkeit für eine gemeinschädliche Eigenschaft an¬
sieht und bestraft, wenn sie sich eine lange Rede zu Schulden kommen läßt." —
„Da haben wir Einen," fuhr er fort, „der gar keine Beredsamkeit treibt, und
der trotzdem mehr für die deutsche Sache geleistet hat als irgend jemand
sonst — das ist der Bundesrath, Ich erinnere mich zwar, zuerst wurden
einige Versuche in der Richtung gemacht. Ich aber schnitt das ab,--—.
ZZnür>, ich sagte ihnen ungefähr: Meine Herren, mit Beredsamkeit, mit Reden,
welche überzeugen sollen, da ist hier nichts zu machen, weil Jeder seine Ueber¬
zeugung in der Tasche mitbringt — seine Instruction nämlich. Es gibt
blos Zeitverlust. Ich denke, wir beschränken uns hier auf die Darstellung von
Thatsachen. Und so wurde es. Niemand hielt eine große Rede mehr. Dafür
ging es mit den Materien um so rascher, und der Bundesrath hat wirklich
viel geleistet."
Wir schließen unsere Auszüge, indem wir nochmals zu dem ersten Bande
zurückkehren, mit einer Reihe von Aeußerungen des Kanzlers über den Papst,
welche die Katholiken interessiren werden, und bemerken dazu, daß Aehnliches nach
Busch's Bericht wiederholt vom Fürsten ausgesprochen worden ist. Die äußerst
merkwürdige Stelle findet sich dort S. 337 ff. und lautet folgendermaßen:
„Hcchfeld fragte: „Haben Excellenz schon gelesen, daß die Italiener in den
Quirinal eingebrochen sind?" — Der Chef antwortete: „Ja, und ich bin neu¬
gierig, was der Papst dagegen thun wird. Abreisen? — Aber wohin? — Er
hat bei uns schon gebeten, wir möchten bei Italien vermittelnd anfragen, ob
man ihn abreisen lassen würde, und ob dieß mit der ihm gebührenden Würde
geschehen könne. Wir haben das gethan, und sie haben geantwortet, man würde
seine Stellung durchaus achten und darnach verfahren, wenn er fort wollte." —
„Sie werden ihn nicht gern gehen lassen," versetzte Hatzfeld. „Es liegt in ihrem
Interesse, daß er in Rom bleibt." — Chef: „Ja, gewiß, aber er wird doch
vielleicht gehen müssen. Wohin aber? Nach Frankreich kann er nicht, da ist
Garibaldi. Nach Oesterreich mag er nicht. Nach Spanien? — Ich habe ihm
Baiern vorgeschlagen." — Er sann einen Augenblick nach, dann sagte er: „Es
bleibt ihm nichts als Belgien oder — Norddeutschland." — „Es ist in der
That schon angefragt, ob wir ihm ein Asyl gewähren könnten. Ich habe
nichts dagegen einzuwenden. — Köln oder Fulda." — „Es wäre eine uner-
hörte Wendung, aber doch nicht so unerklärlich, und für uns wäre es recht
nützlich, wenn wir den Katholiken als das erschienen, was wir in Wirklichkeit
sind, als die einzige Macht gegenwärtig, die dem obersten Fürsten ihrer Kirche
Schutz gewähren könnte und wollte. Stofflet und Charette und ihre Zuaven,
die gingen gleich nach Hause. Für die Opposition der Ultramontanen hörte
jeder Vorwand auf — in Belgien, in Baiern. Malinkrott träte auf die Seite
der Regierung."---„Uebrigens mögen Leute mit vorwiegender Phan¬
tasie, besonders Frauen, in Rom beim Anblicke des Ponys und des Weihrauchs
des Katholicismus und des Papstes auf seinem Thron und mit seinem Segen
Neigung empfinden, katholisch zu werden. In Deutschland, wo man den Papst
vor Augen hätte als hülfesuchenden Greis, als guten alten Herrn, als einen
der Bischöfe, der wie die andern ißt und trinkt, eine Prise nimmt, wohl gar
auch seine Cigarre raucht — da hat's keine so große Gefahr." — „Na und
schließlich, wenn nun auch etliche Leute in Deutschland wieder katholisch würden
ich werd's nicht — so hätte das nicht viel zu bedeuten, wenn sie nur
gläubige Christen wären. Die Konfessionen machen's nicht, sondern der Glaube.
Man mich toleranter denken."--Er entwickelte diese Gedanken in in¬
teressantester, hier aber nicht mittheilbarer Weise noch weiter."
Vielleicht geben wir später noch einige Proben, was der Verfasser uns
vom Hauptgegenstande seines Berichts zu erzählen hat. Für heute wollen wir
nur auf den ganz außerordentlichen Reichthum des Buches an merkwürdigen
Aeußerungen des Kanzlers aufmerksam gemacht haben und unsere Ueberzeugung
aussprechen, daß dasselbe, da es nicht blos für Politiker und Historiker von
Profession, sondern zugleich für das große gebildete Publikum geschrieben ist,
in keiner Bibliothek sehlen sollte, die Anspruch darauf macht, eine gute zu sem.
Trotz der erfreulichen Reformen, die im Laufe der letzten Jahre in vielen
Zweigen des Gewerbes hervorgetreten sind, gibt es doch noch auf diesem Ge¬
biete eine ganze Reihe von Erscheinungen, ja selbst ganze gewerbliche Branchen,
die von jenen auf Geschmacksverbesserung gerichteten Bestrebungen so gut wie
unberührt geblieben sind, auf die die Kreise, von denen jene Bestrebungen
namentlich ausgehen, noch gar nicht geachtet zu haben scheinen, und die daher,
sich selbst überlassen, ruhig auf dem Wege des früheren gedankenlosen Schlen¬
drians weitertrotten, Wenn man sich im Gewerbe ein wenig umsieht, so ge¬
wahrt man mehr solche Erscheinungen, als man nach den vielfachen Wendungen
zum Bessern, die ja unleugbar stattgefunden haben, erwarten sollte. Ich habe
die Absicht, in einer Serie von Artikeln auf einige solcher Erscheinungen auf¬
merksam zu machen. Vielleicht, daß es gelingt, die maßgebenden Kreise für sie
zu interessiren und so auch ihnen den Segen der reformatorischen kunstgewerb¬
lichen Bewegung unserer Zeit zu Gute kommen zu lassen. Ich beginne mit
der Monogrcunmen-Manie.
Daß die Liebhaberei, auf allen erdenklichen Erzeugnissen des Gewerbes
das Monogramm, d. h. das aus den verschlungenen, über einander gelegten
oder durch einander gesteckten Anfangsbuchstaben des Vor- und Zunamens
bestehende Zeichen des Besitzers anzubringen, in der letzten Zeit eine immer
weitere Ausdehnung gewonnen hat, bedarf wohl keines Beweises. Die Sache
steht bereits in dem Stadium, wo sie zur Krankheit, zur Manie zu werden
droht, ja vielleicht schon geworden ist. Der Parvenu, der sich eine Villa erbaut,
läßt im Schlußstein des Portals und in dem Gitterwerk der Gartenpforte sein
Monogramm anbringen; er bestellt sich geschnitzte Möbel für seine Villa, und
das Monogramm prangt in der Bekrönung jedes Schreins, jedes Büffels,
jeder Stuhllehne; er schafft sich Wagen und Pferde, und es schimmert an der
Wagenthür, an der Pferdedecke und am Lederzeug. Wer sich Uhr, Siegelring
oder Petschaft kauft, läßt sich sein Monogramm hineingraviren, die Braut,
der ihre Ausstattung angefertigt wird, will in den Zipfeln ihrer Tisch-, Bett-
und Leibwäsche ihr Monogramm sehen, allerhand Galauteriewaareu, wie Brief¬
taschen, Cigarrenetuis, Cigarrenspitzen, Pvrtemvnnais, werden auf gut Glück hin
gleich vom Fabrikanten mit Monogrammen versehen, der Schenkwirth läßt sich
das seine in die Deckel seiner Biergläser stechen. Und man denke vollends
an die Briefbogen und Enveloppen! Wo ist heutzutage noch ein Backfisch, der
nicht seine Papeterie voll „kvuleurter Stimmnngsbogen" Hütte und jede „Koulenr"
wieder mit einem anders gefärbten Monogramm bedruckt? Selbst aus Elfen¬
bein geschnitzter Damenschmuck, Broschen, Armbänder, Ohrgehänge, bleiben nicht
vom Monogramm verschont, und der geschniegelte Pflastertreter, der in der
offiziellen Flanirstunde das Trottoir der Hauptstraße für sich in Anspruch
nimmt, hat auf dem tellergroßen Knopfe seines sogenannten „Amüsirknüppels"
sein Monogramm stehen, und wenn das Amüsement mit dem Knüppel im
Gange ist, d. h. wenn der liebenswürdige Inhaber seinen Mitmenschen damit
vor dem Gesicht herumfuchtelt, so wird an seinem Arme ein Manschettenknopf
sichtbar, abermals in Tellerformat und abermals mit dem Monogramm des
gebildeten jungen Mannes verziert. Es ist entschieden eine hochgradig ent¬
wickelte Krankheit.
Damit kein Mißverständniß entstehe: ich rede nur gegen das Monogramm,
nicht gegen die Besitzanzeige durch den Namen. Wer wollte es dem Glücklichen
verdenken, der sich Garten und Hans, Wagen und Pferd erschwungen, daß
er mit Stolz und Freude sich den Vorübergehenden als den Besitzer nennt?
Aber auch in den übrigen Fällen hat das Anbringen des Namens meist seinen
guten Sinn. Entweder sind es Gegenstände, die oft verloren gehen oder ver¬
gessen werden, wie Uhr, Brosche, Portemonnaie und Stock, oder solche, die viel
durch andere Hände als die des Besitzers gehen, wie Wäschstllcke und Wirth¬
schaftsgeschirr, vor deren Verlust man sich durch Anbringen des Namens zu
schützen sucht. Auf Briefbogen und Kouverts übernimmt der gedruckte Name
gleichsam die Bürgschaft dafür, daß der Brief auch wirklich aus der Feder
stamme, die sich am Fuße des Briefes unterschreibt, und wenn dies auch natür¬
lich vor allem im geschäftlichen Verkehr von Wichtigkeit ist, so ist es doch auch
im Privatverkehr mitunter nicht bedeutungslos. Aber wozu in aller Welt
nur immer und ewig das Monogramm?
Was beim Monogramm, klar oder unklar, für ein Zweck vorschwebt, ist leicht
ersichtlich. Des Monogramms bedienten sich früher ausschließlich adliche Kreise
und Künstler. Der Ladenjüngling also, der sich sein Monogramm, womöglich
mit der Grafenkrone darüber — warum nicht? wer hindert ihn an dem Ver¬
gnügen? — auf seine Briefbogen drucken läßt, fühlt sich aristokratisch und künst¬
lerisch zugleich angehaucht. Dazu kommt ein anderes Moment. Zwei simple,
neben einander gestellte Anfangsbuchstaben oder gar ein voll ausgeschriebener Name
können nimmermehr als Zierrat dienen. Ans einen Zierrat aber ist es, wenn
auch nicht ausschließlich, so doch gleichzeitig mit abgesehen. Das Monogramm
soll einen doppelten Zweck erfüllen: es soll den Namen bezeichnen, und es
soll als Ornament dienen. In dieser Verbindung aber von zwei absolut un¬
vereinbarer Zwecken liegt eben die schwache Seite des Monogramms.
Alle unsere Monogramme werden aus lateinischen Buchstaben hergestellt.
Nun sind unter den 25 Buchstaben des großen lateinischen Alphabets kaum
fünf oder sechs, die sich mit Mühe und Noth dazu eignen, als ornamentales
Element verwendet zu werden. Alle übrigen sind und bleiben Buchstaben,
nichts als Buchstaben, und als solche für das Ornament gänzlich unfruchtbar.
Dazu kommt, daß von den 25 mal 25, d. i. 625 Kombinationen von je zwei
Buchstaben zu einem Monogramm — nur an diese einfachsten, aus zwei
Buchstaben zusammengesetzten wollen wir uns einmal halten — kaum 50 ein
einigermaßen erträgliches Bild für das Auge abgeben, ein Bild, das, natürlich
immer nur auf den unklaren Geschmack der großen Masse, den oberflächlichen
Eindruck eines Zierrath macht. In allen übrigen Fällen muß entweder dem
einen Buchstaben, öfter aber beiden, so lange Gewalt angethan werden, sie
müssen durch Dehnen, Zerren, Quetschen, Abstumpfen, Schwänzen, Umbrechen,
Verdrehen, Stürzen u. tgi. so lange malträtirt werden, um sich zu dem er¬
sehnten Monogramm zu fügen, bis die Buchstaben als solche gar nicht wieder¬
zuerkennen sind. So sind eben nur zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder die
Buchstaben fügen sich in ihrer normalen Gestalt leicht, bequem und deutlich
erkennbar zum Monogramm; dann machen sie nicht entfernt irgend welchen
dekorativen Eindruck, sondern sie bleiben eben nüchterne Buchstaben, und man
sieht nicht recht ein, wozu überhaupt das Verschlingen und Durcheinanderstecken;
beide könnten eben so gut neben einander stehen. Oder man hat bei ober¬
flächlichem Hinsehen ungefähr den Eindruck eines, wenn auch äußerst abge¬
schmackten Ornaments; dann muß man sich aber mühselig die verzerrten Zeichen
erst wieder zu Buchstaben umdenken, um sie lesen zu können. Buchstaben aber,
und folglich auch Monogramme, sind doch wohl dazu da, gelesen zu werden.
Daß ich in dem Vorstehenden nicht übertreibe, davon kann sich der Leser an
dem Schaufenster der ersten besten Luxnspapierhandlung, lithographischen An¬
stalt oder Aceidenzdruckerei überzeugen, oder er nehme die erste, beste Nummer
eines unserer verbreiteten Modejournale zur Hand, er wird auch dort das
Gesagte bestätigt finden. Wer aber die ganze Narrheit dieses Mouogrämmen-
uufugs einmal in ihrer vollen Blüthe sehen will, der suche sich das vor einiger
Zeit unter dem Titel „Das Gewerbemonogramm" erschienene Prachtwerk zu
verschaffen.*) Dieses Buch, übrigens eine Glanzleistung des Holzschnitts wie
der Typographie, enthält auf 84 Tafeln in Großqnart in brillantester Aus¬
stattung weit über tausend aus zwei Buchstaben und gegen 50 aus drei Buch¬
staben zusammengesetzte Monogramme, außerdem eine Anzahl solcher — eine
unfaßbare Kinderei —, in denen sämmtliche Buchstaben eines Vornamens durch
einander verschlungen sind (!), endlich 12 Tafeln mit Kronen, heraldischen Dar¬
stellungen und gewerblichen Emblemen. Was dieses Buch als „Monogramm"
ausgibt, das spottet geradezu jeder Beschreibung; man muß es gesehen haben,
um es zu glauben. Vier Jahre lang ist der Zeichner dieses Buches der Schrulle
nachgegangen, neue und immer neue Monogramme zu erfinden. Bei allen er¬
denklichen Gattungen des Stils und der Technik hat er Anleihen gemacht und
seine Phantasie in der unglaublichsten Weise gemartert; vieles davon sieht aus,
als ob es unter Krämpfen oder Delirien geboren wäre. Und wozu nun dieser
ganze Aufwand von Zeit und Mühe? Höchstens der zehnte Theil von dem
Inhalte des ganzen Buches ist zu brauchen, alles Uebrige ist leere, müßige,
zwecklose Spielerei.
Einzelne Beispiele aus dem Buche auszuheben und hier des Breiteren zu
beschreiben ist überflüssig, denn die Anschauung kann durch die Beschreibung
doch nicht ersetzt werden. Eine einzige Probe nur will ich ausheben, um zu
zeigen, wohin sich Jemand verirren kann, wenn er Jahre lang, ohne rechts
und links zu blicken, einer solchen fixen Idee nachgeht. Aus Blatt 41 ist
folgendes Gebilde zu sehen: Auf einer Basis, die rechts und links auf je einer
Konsole, in der Mitte auf einem Widderköpfe ruht (die Zwischenräume zwischen
dem Kopfe und den Konsolen sind durch Laubgewinde und flatternde Bänder
ausgefüllt), erheben sich drei Pfeiler auf hohen Basen, in der Mitte ein breiter,
an der Seite zwei schmälere, und schließen zwischen sich zwei Rundbogen ein.
Darüber Architrav und Fries. In den Rundbogen stehen zwei Dreifüße mit
lodernden Feuerbecken. Von jedem Dreifuß geht der eine der drei Füße
in einen großen, kreisförmigen Bogen über; beide Bogen schneiden sich unten
hinter dem Sockel des mittleren Pfeilers, schwingen sich dann nach rechts
und links um die Architektur herum, schneiden sich oben wieder über dem
Pfeilersims und endigen beide in einer Palmette. Die leeren Stellen sind noch
mit gräcisirenden Flachornament gefüllt. Was ist das? Ein Monogramm aus
G und T. Es steht drunter, also muß man's doch wohl glauben. Derartige
Seltsamkeiten sind in Menge in dem Buche. Mindestens die Hälfte aller
dieser angeblichen „Monogramme" würde keine Menschenseele für Buchstaben
halten, wenn nicht die Buchstaben, aus denen sie bestehen sollen, jedesmal darunter
gedruckt wären. Man begegnet neuerdings in manchen Zeitungen einer
Spielerei, die eine Abwechselung bieten soll zu den altmodischen Rebus und
Rösselsprungaufgaben: den sogenannten Kryptogrammen. Es wird ein Abbild
irgend eines Gegenstandes gegeben, das aus lauter Buchstaben zusammengesetzt
ist. Auch die Stenographie hat durch Verwendung ihrer Schriftzüge allerhand
scherzhafte Figuren und Rebus geschaffen. Viele Monogramme des vorliegenden
Buches erheben sich, weder was ihre Deutlichkeit, noch was ihre künstlerische
Form betrifft, wesentlich über jene Spielerei; sie sind selbst nichts weiter als
Kryptogramme und Rebus, und nicht eben schöne.
Ich bin überzeugt, daß das Buch in gewerblichen Kreisen bereits mannich-
fach in Gebrauch sein wird. „Ist es schon Tollheit, hat es doch Methode,"
sagt Polonius. Mau bringe den größten Unsinn in eine Art System, kodifizire
ihn, und er wird seine Anhänger finden. An Beispielen dafür fehlt es nicht,
gerade auf künstlerischem Gebiete. Vor etwa drei Jahren hatte einmal einer
den närrischen Einfall: Mo alle andern Menschen einen Haarstrich schreiben,
da will ich einen bindfadendicken Grundstrich machen, und wo die andern den
Grundstrich, da mache ich den Haarstrich." Man sieht: ein offenbarer schlechter
Witz. Der Betreffende konstrnirte sich zur Ausführung seines Einfalls eine
besondere Feder, sogar in verschiedenen Größen und Breiten, er schrieb in
vollen? Ernste eine Gebrauchsanweisung zu seinem Späßchen — und siehe da,
die „Sönnecken'sche Rundschrift" war in die Welt gesetzt, eine der absurdesten
Geschmacklosigkeiten, trotz Neulaux's Empfehlung, die je ersonnen worden ist,
und sofort waren tausende von wunderlichen Käuzen bei der Hand, die die
Sache allerliebst fanden und nachmachten. Auch der Herausgeber des „Gewerbe-
monogramins" hat System in seine Sache gebracht und behandelt sie mit Ernst
und Feierlichkeit. Er spricht von dem „in Kunst und Industrie fühlbar ge¬
wordenen Bedürfniß uach einem Wegweiser, der auf der Basis der elementaren
Alphabete ruhend (!) alle jene künstlerischen Wendungen und Verzierungen
zur Darstellung bringen soll, die im Laufe der Zeit die Monogramm-Anwen¬
dung auf allen möglichen Erzeugnissen der Industrie hervorgebracht"; er betont,
daß das Monogramm „in unsern Tagen in Kunst und Gewerbe eine Verbrei¬
tung gefunden, die früher kaum geahnt worden (!)". Dann redet er von den
„Grundsätzen, welche die Zusammensetzung eines Monogramms bedingen". Zu
diesen „Grundsätzen" scheint es z. B. zu gehören, daß man jeden Buchstaben ohne
Weiteres doppelt im Monogramm verwenden darf, einmal in seiner wirklichen
Form, das andremal im Spiegelbilde, wenn sich aus gar keine andere Weise
eine leidliche Kombination erzielen lassen will. Es hat etwas Rührendes, den
Mann mit solcher Wichtigkeit von seiner Spielerei reden zu hören. Offenbar
hält er sein Werk für eine künstlerische That. Wenn er freilich dann auch das
Gesetz aufstellt, daß „die Konturen der Buchstaben auch bei der reichsten Orna-
mentirung klar durchleuchten" müssen, so weiß man nicht, was man dazu sagen
soll. Denn gegen dieses Gesetz verstößt ja, wie gesagt, der größte Theil seiner
eignen Muster.
Jammerschade um die Zeit, die Mühe und die jedenfalls bedeutenden
materiellen Mittel, die an die Herstellung dieses Buches gewendet worden sind.
Damit der Herausgeber keinen Schaden erleide, sollten alle Kunstgewerbe¬
schulen und Kunstgewerbemuseen das Buch kaufen und anstatt der Ornament¬
stiche der alten Meister zur Abwechselung dann und wann die Gerlach'schen
Mvnogrammtafeln ausstellen. Ich glaube, daß das Publikum am raschesten
von seiner Monogrammenmanie geheilt werden würde, wenn es die Verrauntheit
sähe, mit der hier die äußersten und verschrobensten Konsequenzen dieser Manie
In seinein Romane „Neuland", welcher die moderne russische Gesellschaft
wie in einem Spiegel zeigt, schildert Iwan Turgenjew unter andern Anhängern
des Nihilismus auch ein junges Mädchen, Marianne Wikentjewna Ssinezki.
Die Tochter eines Generals, welcher wegen schwerer Veruntreuung uach Sibirien
verbannt worden und nach seiner Begnadigung im äußersten Elende verstorben
ist, lebt sie im Hause einer reichen Verwandten in einem der südrussischen
Gouvernements. Aber eine stolze, unabhängige Natur, wie sie ist, empfindet
sie diese Lage als eine herbe Demüthigung, sie erfüllt sich mit tiefem Wider¬
willen gegen die ganze aristokratische Gesellschaft, der sie doch durch ihre Ge¬
burt selbst angehört, gibt sich mehr und mehr dem Gedanken hin, für das
Volk thätig sein zu müssen, die große Sache seiner Befreiung von Unwissen¬
heit und äußerem Druck in die Hand zu nehmen. In ihrem ebenso ehrlichen
als unklaren Enthusiasmus verläßt sie mit einem jungen Manne, Alexej
Neshdanow, der in Petersburg sich den Nihilisten angeschlossen und kurze Zeit
vorher in der Familie, der Marianne angehört, als Hauslehrer Aufnahme ge¬
funden hat, das Hans ihrer Verwandten, um sich von dem Geschäftsführer
einer nahen Fabrik, Wassily Ssolomie, den beide sür einen Anhänger ihrer
Meinungen halten, „aussenden" zu lassen. Dort entleibt sich Neshdanow, an
feiner eignen Sache verzweifelnd und niedergedrückt von dem Gefühle, daß er
Marianne's ehrliche Begeisterung täusche, Marianne aber wird eben durch den
Verkehr mit wirklichen Leuten aus dem Volke und namentlich mit Ssolomie
inne, daß die große „That", die sie thun will, ein reines Abstraktum ist und
sich in der Wirklichkeit aus lauter kleinen unscheinbaren Thaten zusammen¬
setzt ; sie geht in die Lehre bei der Bäuerin Tatjana und wird endlich Ssolomie's
verständige Hausfrau. Diefer selbst aber übernimmt die Leitung einer neuen
Fabrik, die er auf dem Grunde einer freien Assoziation in's Leben ruft.
Im Folgenden möchten wir dieser Darstellung des Dichters, die versöh¬
nend abschließt, ein Bild ans der Wirklichkeit entgegenstellen, nur daß ans ihm
die düstre Färbung tragischen Geschickes liegt.
Während des Jahres 1873 ließ sich von irgend welchem nihilistischen
Konnte' eine junge Russin gebildeten Standes zur Propaganda in's „Volk"
entsenden. Sie hat ihre Erlebnisse ausführlich in der Genfer „Obschtschina"
(„Kommune") geschildert. Damals etwa 30 Jahre alt, von guter Bildung, weiß
sie scharf zu beobachten, anschaulich und eingehend zu berichten. Es stört sie
nicht, daß sie, schwerer Arbeit ungewohnt und körperlich überhaupt nicht eben
kräftig, Monate durch von jedem ihr angemessenen Umgänge abgeschlossen auf
dem Lande unter Bauern und Fabrikarbeitern leben muß; sie kleidet sich
ruhig in die Tracht einer russischen Bäuerin, läuft barfuß, sucht scheinbar ihr
Brod als Stickerin oder Näherin, oder im Hausirhandel mit Leinwand, scheut
sich nicht, mit rohen Männern zu verkehren, läßt sich nicht durch Gleichgiltig-
keit oder offne Abweisung niederdrücken, zeigt stets und überall die ungebro¬
chene Energie des Fanatismus. Daß der Schauplatz ihrer Wirksamkeit in drei
südrussischen Gouvernements gelegen ist, bereitet ihr noch ganz besondere
Schwierigkeiten; denn sie ist der kleinrussischen Sprache, welche sich von dem
Großrussischen bedeutend unterscheidet, nur unvollkommen mächtig; aber sie
weiß auch dies Hinderniß zu überwinden. Doch was will sie überhaupt, was
thut sie? Es gilt, in dem Volke das Bewußtsein feiner elenden Lage zu er¬
wecken durch eingehendes Gespräch mit dem Einzelnen, dessen Vertrauen zu
gewinnen bei der Art ihres Auftretens und dem gutmüthigen Charakter der
Kleinrussen ihr nicht schwer fällt, durch Vorlesen kleiner populärer Schriften
nihilistischer Tendenz auch in größerem Kreise, und so den Boden vorzubereiten
für die allgemeine Erhebung der Massen gegen die bestehende Ordnung des
Staates und der Gesellschaft. Eben daß sie das gesprochene Wort durch das
gedruckte belegen kann, gibt ihr über diese Menschen, die in stummer Ehrfurcht
die Künste des Lesens und Schreibens als eine fremdartige Weisheit bewun¬
dern, eine von ihr selbst Anfangs nicht geahnte Autorität. Wenn sie trotzdem
niemals Verdacht erregt hat, so erklärt sie dies selbst einmal aus der Ge¬
wöhnung der Bauern in den größeren Orten Südrußland's, mit städtisch Ge¬
bildeten zu verkehren, und dann aus ihrer Gutmüthigkeit, die selbst das, was
an einem neuen Bekannten etwa auffällig hervortritt, zu seinem Besten aus¬
lege. Nur die Frauen, meint die Verfasserin, hätten sich gelegentlich anzüg¬
licher Bemerkungen nicht enthalten.
So hat sie 3^ Monate hindurch an verschiedenen Orten für die „Volks¬
sache" gewirkt. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Erfolgen, das
mag zum Theil mit ihren eigenen Worten erzählt werden.
Sie kommt zuerst in ein großes Dorf von etwa 1000 Einwohnern. Im
entferntesten Winkel desselben lebt in elenden Lehmhütten eine bunt gemischte
Gesellschaft: entlassene Soldaten und herrschaftliche Bediente, arme Stadtbürger
und lautlos gewordene Bauern. „Aber nicht nur ärmlich, fährt sie fort, son¬
dern auch in beständiger Furcht lebte dieser Haufe von Elenden, über ihnen
hing fortwährend die Wetterwolke, welche bei der ersten kühnen Bewegung von
Seiten dieses halbverhungerter Ameisenhaufens sich entladen konnte. Und es
war schwer, Muth zu haben unter den Bedingungen, welche ihn umgaben.
Jedes Mitglied des Ameisenhaufens fürchtete jeden Tag für seine Existenz und
die Existenz seiner Habe. Die Alten und Kinder zitterten stets davor, daß der
Pvlizeikvsak sie im Staatsforste ertappe, aus dem sie auf ihren Schultern das
gefallene Holz holten, ohne welches sie buchstäblich ihre Hütten nicht heizen
konnten, weil sie weder Stroh noch Dünger besaßen. Die Weiber und Kinder
sannen nur darauf, früher aufzustehen als andere, um zuerst die seit der
Nacht zum Vorschein gekommenen Pilze und Beeren zu sammeln, denn glückt
das nicht, dann können sie nicht auf dem Markte erscheinen und folglich nicht
Grütze und Schmer einkaufen. Bauer und Bäuerin sehen betrübt zu, wie der
Wind ihre Gartenbeete mit Sand überschüttet, wie der hungrige, von der un¬
aufhörlichen Arbeit abgemagerte Ochse sich langsam nach Hause schleppt. Aber
etwas fürchteten die Bewohner der „Sandgrube" — fo hieß dieser Winkel
des Dorfes — mehr als Alles: das war der „Einbruch des Steuereinnehmers."
Sie schildert nun drastisch, wie der Gewaltige in Begleitung etwa des
Dorfschulzen und eines verabschiedeten Soldaten den nahenden Steuertermin
ankündigt, wie er dann, salls die Pflichtigen nicht rechtzeitig bezahlen, in ihren
Hütten eine heillose Verwüstung anrichtet, wie er die weißgetünchten Wände
und den Lehmofen mit Ruß beschmiert und Löcher in den letzteren schlägt, wie
er alle etwa vorhandenen Flüssigkeiten ausschüttet und das Thongeschirr zer¬
trümmert, während die Kinder sich verkriechen, die Weiber alles Geschirr und
alles Flüssige wegschaffen, um ihre Hütte, deren Reinlichkeit ihr ganzer Stolz
und ein Hauptgegenstand ihrer Arbeit ist, wenigstens vor dem Aergsten zu be¬
wahren, die Männer endlich ihren letzten Rock in der Schenke versetzen, um
eine Flasche Branntwein zur Besänftigung ihrer Peiniger zu kaufen.
Hier ist doch, wenn irgend wo, gewiß ein Boden für die radikalste Propa¬
ganda. Unsere Nihilistin macht die gegentheilige Erfahrung. „Die Leute
murren," schreibt sie, „verwünschen ihr Schicksal und ihre mächtigen Feinde, die
Behörden, aber die Stimme des Protestes erhebt sich nicht unter ihnen. „»Du
wirst nichts ausrichten, es ist klar, das ist uns so bestimmt,"" wandten mir
die Unglücklichen auf meine ehrlich gemeinten Reden ein." Und sie fügt hinzu:
„Wenn auf der einen Seite Noth und ewiger Druck den Menschen zu ver-
zweifelten Schritten treiben können, so führen sie auf der andern zum Stumpf¬
sinn." Sie mag Recht haben, aber hat sie sich selbst niemals im Ernste die
Frage vorgelegt, ob denn nun ihre Schützlinge, die sie zur Erhebung gegen
harten Druck zu Hetzen strebt, dadurch, daß sie ihr folgten, ihre ohnehin schlimme
Lage nicht noch schlimmer machen würden, ob nicht in der Abweisung ihrer
„ehrlich gemeinten" Rathschläge mehr Verstand gelegen hat, als in eben diesen
Rathschlägen?
Doch kommt sie zu keinem Ziele unter diesen Leuten, die eine Erlösung
aus ihrem Elende gar nicht mehr für möglich halten, so ist der Erfolg ihrer
Mission unter anderen, die sich ein größeres Maß von Willenskraft bewahrt
haben, kein anderer.
Zum nächsten Versuchsselde erwählt sie sich einen großen Flecken mit
einer zahlreichen Fabrikbevölkerung. Diese besteht zum großen Theil aus
Bauern des Gouvernements Ssamara, welche noch zur Zeit der Leibeigenschaft
hierher verpflanzt worden sind, einige Arschinen (zu 0,71 Meter) Land erhalten
haben und fast ihre ganze Zeit in den Fabriken arbeiten müssen. Sie sind in
der That höchst unzufrieden mit ihrer Lage und klagen, zu ewiger Sklaverei
in den Fabriken verdammt zu sein. Hier um sucht unsere Nihilistin, die als
Stickerin auftritt, Bekanntschaften anzuknüpfen; sie besucht die Leute in ihren
Hütten, mischt sich unter sie, wenn sie Abends auf der Straße sich unterhalten,
stellt ihnen das Unleidliche ihrer Lage vor. Zunächst empfinden es die Leute
wohlthuend, daß überhaupt Jemand sich um sie kümmert. Ja sie gerathen
selbst auf den Gedanken einer allgemeinen Arbeitseinstellung, um eine Lohner¬
höhung durchzusetzen, kommen aber eben so schnell wieder davon zurück, da sie
sich überlegen, daß sie die Fabrikherren dadurch schwerlich in Verlegenheit
bringen würden, da Ueberfluß an Arbeitskräfte« vorhanden sei, ein Streik also
seinen Zweck verfehle, und die wahrscheinliche Entlassung der Streitenden sie
dem Hungertode preisgeben werde. Doch mit solchen Mitteln will ja auch
ihre neue Freundin gar nicht operiren. „Ich suchte selbstverständlich," sagt sie,
„nach den tieferen Ursachen, wies auf radikalere Mittel hin. Da traten be¬
sonders scharf jene Charakterzüge hervor, welche die Leute abhalten, für die
allgemeine Sache einzustehen: die Scheu, selbst etwas für ein Glück zu wagen,
das erst die Kinder oder gar die Enkel genießen könnten, die Furcht, die be¬
kannte Gegenwart für eine unbekannte Zukunft hinzugeben, und hauptsächlich
das Mißtrauen in die eigene Kraft und die Einmüthigkeit des Volkes."
Und doch fehlt es diesen Arbeitern nicht an jedem Gemeinsinn, sie gelten
in weitem Umkreise sogar für besonders energisch, für Leute, die ihre Interessen
zu vertreten wissen. Ja sie haben eine Genossenschaft, ein „Obschtscheßtwo",
es ist nicht recht klar, zu welchem Zwecke, aber sie hat sich auch gelegentlich
gegen die Behörden als ohnmächtig erwiesen.
Wenn so die ganze Masse nicht vorwärts zu bringen ist, meint die Ver¬
treterin des Nihilismus es mit Einzelnen versuchen zu müssen. Sie hat die
Bekanntschaft eines Bauern Namens Iwan Tsch, gemacht, eines verständigen,
„verhältnißmäßig" aufgeweckten, nüchternen Menschen und guten Familienvaters.
„Er klagte," schreibt sie, „besonders über die armselige Lage der Fabrikbauern,
begriff klar alle Ungerechtigkeiten von Seiten der Behörden und der Regierung,
die ganze Macht der Ausbeutung, von der die Arbeiter unterjocht worden sind.
Iwan war nicht nur traurig, sondern stellte sich selbst anch die Frage, wodurch
denn so schreiende Ungerechtigkeit entstanden sei und inwieweit der Mensch sie
ruhig ertragen müsse. Lange sprach ich mit ihm darüber, daß und wie die
Unterdrückten handeln müßten, daß sie sich von ihren Feinden befreien müßten,
und er hörte mit größter Aufmerksamkeit zu, fast ohne etwas einzuwerfen.
Bald uach diesem Gespräche ging ich zu ihm mit einer Druckschrift, welche
das, was ich gesagt hatte, vollkommen bestätigte. Man mußte sehen, mit
welcher Anstrengung, mit welcher freudigen Aufmerksamkeit Iwan ans das
hörte, was ich las. Es war spät Abends, es war für ihn nach vierzehnstüu-
diger Arbeit in der Fabrik Zeit zu schlafen, aber er hörte zu und hätte wie
es scheint die ganze Nacht zugehört. Als die Lektüre zu Ende war, strahlte
Iwan's Gesicht und er sagte triumphirend: „„Sieh, mein Täubchen, als Du
das letztemal von mir weggingst, dachte ich: sie ist gut, sie spricht gilt, aber
es ist eben uicht möglich, daß dies geschieht, daß wir selbst mit all dem
Schlimmen fertig werden und den Zaren entbehren könnten; jetzt aber sehe ich,
daß Deine Worte die reine Wahrheit sind und daß es so sein muß, wie Du
gesagt hast."" — Ich triumphirte. Ohne Zeit zu verlieren, erscheine ich am
nächsten Tage wieder bei Iwein, komme auf die Frage zurück und sage ihm
offen, daß ich meine Sympathie für die Volkssache nicht aus Worte und nutz¬
lose Trauer zu beschränken gedächte, sondern bereit sei die Sache selbst anzu¬
greifen und ähnliche Leute suche, welche bereit wären im Falle der Noth mit
ihrer Person für die Interessen des Volkes einzustehen. Iwan sah fast mit
Ehrfurcht auf mich. „„Hört,"" sagte ich zu ihm, „„Ihr lebt hier schon viele Jahre,
Ihr kennt alle Fabrikbauern genau; zeigt mir die, auf die ich mich verlassen
konnte und mit denen ich über Alles sprechen könnte, ohne fürchten zu müssen,
daß sie ans Furcht oder Dummheit der Sache schaden."" Iwan schlug die
Angen nieder, war augenscheinlich verwirrt und antwortete mit schwacher, un¬
sichrer Stimme: „„Da kenne ich keine, ich kenne keine solchen Leute, und das
ist eine schwierige, eine gefährliche Sache."" Damit zog er eilig seine Stiefeln
an und ging auf die Gasse. Seitdem unterhielt sich Iwan niemals wieder
mit mir über die Volkssache."
Aber so leicht ist ja eine Nihilistin nicht abzuschrecken. Sie hört gelegent¬
lich von einem Arbeiter Sö. reden, der ein kühner, eifriger Vertreter der ge¬
meinsamen Interessen sei und sich vor Niemandem fürchte. Obwohl er am
äußersten Ende des Ortes wohnt, macht sie sich doch zu ihm auf, begibt sich
unter einem Vorwande zu seiner Frau und trifft den Gesuchten auch glücklich
zu Hause, da er an den Füßen leidet und nicht ausgehen kann. „Ein Riese
in einer Lederschürze (er war Schmied in einer Fabrik) — so schildert sie
ihn, — mit ungeheuren muskulösen Fünften, mit pechschwarzem krausen Haar
und Augen, die wie Feuer funkelten, so erschien mir Sö. als der Typus eines
bäuerlichen Helden." Sie lenkt denn auch unschwer das Gespräch auf die
Fabrik; ihr Mann wird zutraulich, schlägt sie auf die Schulter, ohne daß sie
vor seiner Donnerstimme erschrickt; im Gegentheil sie ist freudig erregt, sie
glaubt den Rechten gefunden zu haben. Doch was erwidert ihr endlich dies
Musterbild eines bäuerlichen Helden? „Dn sprichst von der Fabrik, mein
Täubchen. Weißt Du, was unsere Fabrik ist? Unsere Fabrik ist die erste in
ganz Rußland; eine solche wie die wirst Du nirgends sonst finden! Wir
haben die besten Maschinen, und nirgends hält man nur die Hälfte der Arbeiter
wie bei uus. Im Winter sind bis 4000 Arbeiter zusammen. Du bist keine
Hiesige, Du weißt das nicht. Und wir haben den größten Herrn im ganzen
Gouvernement; solche gibt's vielleicht in Piter (Petersburg) nicht viel." Und
damit ging mein Sö. hinaus. Er war stolz darauf, daß er die Ehre habe in
einer solchen Fabrik zu dienen und damit ans einer für andere unerreichbaren
Höhe zu stehen." Gewiß, das war niederschlagend, aber war denn dieser
Korporationsgeist des Arbeiters, der stolz ist ans das Ganze, in das er sich
einfügt, nicht auch etwas werth und mehr werth, als die fressende Unzufrieden¬
heit, der giftige Haß, den die Nihilistin erwartete?
Sie gibt indeß diesen „Helden" noch nicht verloren. Sie kommt ein
zweites Mal zu ihm. da liegt er sinnlos betrunken im Hofe.----.
Mit andern ist sie nicht glücklicher. Da haben einige Leute sie gebeten,
ihnen etwas aus Druckschriften vorzulesen. Der nächste Feiertag wird dazu
bestimmt, bei einem bekannten Hause will man sich treffen. Sie geht denn auf
die Gasse, ihre Zuhörer zu erwarten. Es haben sich indessen andere Arbeiter
eingefunden, und ihr guter Freund Iwan Tsch. theilt diesen wahrscheinlich in
einem Anfluge von Pflichtgefühl mit, sie habe da eine Schrift, in welcher die
„ganze Wahrheit" gesagt werde. Natürlich bitten die Arbeiter sie vorzulesen.
Sie hat zwar dazu keine Neigung, indeß willigt sie schließlich ein und gibt
den Leuten aus einem Büchlein eine — selbstverständlich nihilistisch zugespitzte —
Erzählung zum Besten. Endlich aber beginnt sie auf vieles Bitten auch noch
jene Schrift zu lesen. „Anfangs hörten sie aufmerksam zu. Aber da kamen
noch ein paar Leute; die jungen Arbeiter fingen an einander zu begrüßen und
die Vorlesung zu stören. Dann kam auch ein entlassener Soldat mit einer
neuen Uhr, und einige von meinen Zuhörern beschäftigten sich damit sie zu be¬
trachten. Ich begann die Geduld zu verlieren, was denn aus meinem Lesen
und meinen Blicken deutlich wurde. Inzwischen kamen meine Bauern ans
ihren Häusern und begannen sich vorsichtig am Orte der Zusammenkunft ein¬
zustellen. Sie hatten schon einen kleinen Trupp neben einer Hütte gebildet,
als sie bemerkten, was auf der Gasse vorging, nämlich die Gruppe von Arbeitern
und mich mitten darunter. Ich fuhr auf vor Ungeduld über ihre Ängstlich¬
keit, doch die Alten sahen sich um und gingen davon. Was mußte das auch
für eine Schrift sein, die man auf der Straße am hellen lichten Tage unter
dem ersten besten zufammengelaufenen Haufen vorlesen konnte! Welcher Leicht¬
sinn, welche Profanirung!" Die einen also, welche zufällig dazu kommen,
hören nicht auf die Vorleserin, die andern, welche sie bestellt hat, haben das
Ganze für ein so wichtiges und geheimnißvoll zu behandelndes Vorhaben ge¬
halten, daß sie entrüstet sind, als der erste beste Trupp derselben Mittheilung
gewürdigt wird. In jedem Falle ist auch hier der Erfolg gleich Null.
Um das Mißgeschick voll zu machen, erfährt unsere Nihilistin bald darauf,
daß sie die Aufmerksamkeit der Gensdcirmerie erregt habe. Da ist ihres Blei¬
bens nicht länger indem Orte, und damit zerreißen auch alle Fäden, die sie
mit den Fabrikarbeitern angeknüpft hat.
In einem Kreisstädtchen nimmt sie einen allerdings nur ganz kurzen Auf¬
enthalt, um „nothwendige Nachrichten", jedenfalls Instruktionen des Komites,
das sie ausgesendet, zu erwarten. Sie hat sich bei einer wohlhabenden Fran
eingemiethet, deren Angehörige wie fast alle Männer des Städtchens ans einige
Zeit nach südlicher gelegenen Gegenden gewandert sind, um dort lohnendere
Arbeit zu suchen. Ihre Wirthin hat währenddem ein paar Tagelöhner ange¬
nommen, um das Nothwendigste in Feld und Garten besorgen zu lassen. Der
eine derselben, aus einem benachbarten Dorfe stammend, erzählt unsrer Be¬
richterstatterin schon am zweiten Tage eine Geschichte, die in ihr die freudige
Hoffnung erweckt, einen überaus günstigen Boden für die Aussaat revolutio¬
närer Ideen gefunden zu haben. Wir lassen sie wörtlich folgen und schicken
nur die Bemerkung voraus, daß der Vorgang mit den im Jahre 1870 im
Gouvernement Kijew ausbrechenden Banernunruhen ohne Zweifel im Zu¬
sammenhange steht. „Vor drei Jahren," meldet ihr Gewährsmann, „hatten wir
Feldvermessung und da nahm man den Bauern alles gute Land."') Unser
Verein stritt sich anfangs mit dem Edelmann und dem Feldmesser herum, aber
sie gaben nicht nach und ließen uns nur die öden Striche. Da brachten wir
beim Friedensrichter (Mirowoj possrednik) die Klage vor, doch zur Autwort
kam der Kreishauptmann (Jssprawnik) und ließ das ganze Dorf durchpeitschen.
Darauf entschlossen wir uns, die Beschwerde an den Generalgouvemeur selbst
zu senden. Wir wählten aus unserem Verein drei zuverlässige Leute und
schickten sie mit der Bittschrift ab. Lange blieben die Abgesandten in der Gou¬
vernementsstadt, **) endlich kehrten sie zurück. Sie sagten: „„Wir sind beim
Generalgouvemeur und beim Gouverneur gewesen, wir haben bei allen ge¬
beten, haben allen unsere Sache auseinandergesetzt und überall haben wir eine
abschlägige Antwort erhalten."" Wir dachten: was jetzt thun? Wir ent¬
schlossen uns, unsere ganze Genossenschaft, bis zum letzten Bauern, solle zum
Generalgouvemeur gehen. Wir waren unsrer 200 Menschen. Wir gingen.
Wir kommeu in die Gouvernementsstadt. Kaum sind wir über die große
Dujeprbrücke, als von allen Seiten Soldaten uns umringen und uns in die
Stadt führen. Was haben wir nicht gesagt, was haben wir nicht versucht!
Wir zeigten die Bittschrift an den Generalgouvemeur vor — man läßt uns
nicht los. Man sagt: er selber hat befohlen so mit Euch zu verfahren! Uns
alle schleppten sie auf die Polizei. Gegen Abend kam der Bescheid: sechs von
uns nach Sibirien zu schicken und von den übrigen den zehnten Mann aus¬
zupeitschen. Nun und da peitschten sie uns! Drei Bauern kamen nicht nach
Hause zurück, sie starben unterwegs. Nachher erfuhren wir, daß als wir ans
dem Dorfe gezogen, der Kreishauptmann eine Stafette an den Generalgou¬
vemeur geschickt habe mit der Nachricht, die Bauern seien im Aufstande; des¬
halb begegnete man uns so. — Nach diesem Vorkommniß plagte man uns
sehr, mau riß die besten Höfe nieder, so daß die wohlhabendsten Leute unter
die Tagelöhner gingen. Jetzt sind nur noch drei übrig, welche zu allem bereit
siud; von den andern hat sich der versöhnt, jener ist auf Arbeit gegangen."
Können wir schon, die wir der Sache fern stehen, nicht ohne lebhaftes
Mitgefühl diese schlichte Erzählung lesen, deren Kern zu bezweifeln uns der
Charakter der russischen Büreaukratie leider keinen Grund gibt, wie mußte
vollends ein nihilistisches Gemüth aufflammen bei dieser Schilderung grausamer
Härte und vollendeter Rechtlosigkeit! Zwar sagt der Gewährsmann unsrer Bericht¬
erstatterin zu ihr: „Mit einem Dorfe wirst Du nichts ausrichte«. Man muß
eine Schrift schreiben und sie durch das ganze Land schicken, damit das ganze
Volk sich erhebt. Dann kann man mit der Regierung streiten und mit dem
Heere;" sie will diese günstige Gelegenheit sich nicht entschlüpfen lassen, und
verabredet deshalb mit ihm eiuen Ausflug nach dem Dorfe, um sich mit den
drei Bauern, von denen er gesprochen, in Verbindung zu setzen. Aber das
Glück ist ihr nicht hold; schon am andern Morgen zwingt sie eine Nachricht,
weiter zu gehen.
Wir brechen hier ab. Das Geschick, welches sie mehrmals schon bedrohte,
hat die Abgesandte des revolutionären Komites schließlich ereilt. Die Verhaf¬
tung eines Gesinnungsgenossen, der ihre vollständige Adresse bei sich führte,
verrieth ihre Spur. Auch sie wurde verhaftet. Man führte sie zur Feststel¬
lung des Thatbestandes durch dieselben Orte, in denen sie „gearbeitet" hatte,
und dabei hatte sie wenigstens die Genugthuung, daß keiner der Bauern gegen
sie aussagte, daß sie nur erklärten, sie habe unter ihnen gelebt, mit ihrem
Handwerk beschäftigt, aber weder Bücher bei sich sehen lassen noch irgend
welche „besondere" Gespräche geführt. Es half ihr wenig. Andere schwer
gravirende Indizien müssen hinzugekommen sein. In den Prozeß der 193
Nihilisten verwickelt, welcher im Oktober und November 1877 in Moskau zur
Verhandlung kam, wurde sie zu Zwangsarbeit (Katorga) verurtheilt.--
Aus dem, was sie ehrlich berichtet, scheint uns zweierlei mit Sicherheit
hervorzugehen. Einmal: die nihilistische Agitation findet, trotz zahlreicher un¬
leugbarer schwerer Uebelstände im russischen Volksleben, wenigstens vorläufig
uuter den Massen des Landvolks, auf die es in Rußland allein ankommt,
keinen Boden. Sie sind entweder so abgestumpft, daß sie an die Möglichkeit
einer Aenderung ihrer Lage nicht glauben können, oder sie weisen mit sicherem
Instinkte die Heilspredigten nihilistischer Agitatoren als phantastisch ab. Vor
allem aber bleibt ja diesen bei dem niederen Bildungsgrade des russischen
Bauern, der wenig oder gar nichts liest, nur der eine Weg der persönlichen,
mündlichen Wirksamkeit; die gewaltige Waffe einer weitverbreiteten Presse existirt
für sie gar nicht, und so lauge sie dieser entbehren und entbehren müssen, so
lange werden ihre Erfolge niemals über lokale hinausgehen. Sodann aber:
es find nicht eben die schlechtesten Leute, welche sich dem heillosen Gewerbe
nihilistischer Propaganda widmen; sie bringen einen Fond von Aufopferungs¬
fähigkeit, von zäher Entschlossenheit mit, der — um die triviale Redensart
anzuwenden — einer besseren Sache würdig wäre. Sollte es dem: ganz un¬
möglich sein, diese Kräfte vou der Thorheit ihres Treibens zu überzeugen und
sie in die Dienste einer vernünftigen, reformatorischen, nicht revolutionären
Arbeit zu ziehen? Von der Beantwortung dieser Frage, fürchten wir, hängt
ein guter Theil der russischen Zukunft, der Zukunft eines Volkes von sechszig
Millionen ab.
Vor einiger Zeit (Nummer 12 des laufenden Jahrgangs) wurde an dieser
Stelle eingehender das Institut der preußischen Fabrikinspektoren geschildert.
Es wurde an den entscheidenden und glänzenden Einfluß erinnert, den die
englischen Fabrikinspektoren auf die Herbeiführung jenes leidlichen Zustandes
sozialen Friedens gehabt haben, der augenblicklich in dem industriellen Muster¬
karte herrscht, und es wurde nachzuweisen versucht, daß die preußische Ein¬
richtung zwar noch in der ersten Entwickelung begriffen sei, aber ebenfalls er¬
freuliche Ergebnisse zu zeitigen verspreche. Ein neuer Band von Jahresbe¬
richten dieser Beamten bietet willkommenen Anlaß, auf ihre segensreiche Wirk¬
samkeit zurückzukommen.Ist es an sich schon eine ernste Pflicht der Presse,
gerade in gegenwärtigen Zeitläuften die Erkenntniß unserer sozialen und wirth¬
schaftlichen Zustände in den weitesten Kreisen zu fördern, so wird diese Pflicht
in dein vorliegenden Falle noch dnrch besondere Umstände verschärft. Gemäß
der im verflossenen Frühjahre erlassenen Gewerbeordnnngsnovelle sind alle dent-
schen Staaten zur Einsetzung von Fabrikinspektoren verpflichtet, und es ist
dringend zu wünschen, daß den nen zu ernennenden Beamten die langwierigen
und mühseligen Anstrengungen erspart werden, welche ihren preußischen Kollegen
dadurch bereitet wurden, daß sie erst unzählige Mißverständnisse zerstreuen
mußten, um in allen betheiligten Schichten der Bevölkerung die richtige Kennt¬
niß von ihren Rechten und Pflichten zu verbreiten. Ferner aber haben die
bisher erschienenen Jahresberichte die öffentliche Theilnahme nicht entfernt in
dem Maße gefunden, auf welches sie den gerechtesten Anspruch haben, ein
Uebelstand, der nicht eifrig genug abgestellt werden kann.
Hier zeigt sich wirklich ein recht fauler Fleck in unserm öffentlichen Leben.
Die wissenschaftlichen Vertreter des Sozialismus pflegen darüber zu klagen,
daß selbst die gebildete Welt unendlich wenig wisse von dem, was auch nur
die Weltverbesserer der Gasse planen, aber so bedauernswerth ohne Zweifel
diese keineswegs unrichtige Thatsache ist, so tritt sie doch noch weit zurück gegen
den anderweitigen Uebelstand, daß überhaupt so geringe, geschweige denn zu¬
treffende Kunde von dem innern Organismus des sozialen Körpers verbreitet
ist. Jeder brave Patriot fühlt sich namentlich heutzutage von Gottes- und
Rechtswegen verpflichtet, seine mehr oder minder glücklichen Gedanken darüber,
wie die soziale Frage nun eigentlich zu lösen sei, auf dem Altar des Vater-
lautes niederzulegen, aber nicht Einem unter Tausenden fällt es ein, sich
ernsthaft und sachlich erst über die Zustände zu unterrichten, die er heilen will.
Seit langen Jahren erhitzen wir unsere Köpfe, ob einschneidende Aenderungen
in den herrschenden Besitz- und Eigenthumsverhültnissen und damit die revo¬
lutionärsten Umwälzungen nothwendig seien, aber die Thatsache, daß die Ansätze
eines modernen Arbeiterrechts, welche die Gewerbeordnung, das Haftpflicht-
und manches andere Gesetz immerhin enthielten, wesentlich nur auf dem Papier
standen, ließ uns völlig kalt. Hier hat erst die bescheidene und unbeachtete
Thätigkeit der Fabrikinspektoren einige Abhilfe geschaffen und gerade ihre Be¬
richte liefern theilweise unglaubliche Beispiele, wie weit jene beklagenswerthe
Unkenntnis; reicht. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben oft nicht die leiseste
Ahnung von den Bestimmungen der Gewerbegesetzgebnng, welche ihre unmittel¬
barsten Interessen berühren. Dem liegt gewöhnlich keinerlei böser Wille zu
Grunde; die weitaus meisten Unternehmer thun gern ihre Pflicht, so bald sie
nur wissen, was ihre Pflicht ist, und vollends den Arbeitern fehlt jeder er¬
sichtliche Grund, sich geflissentlich der Kenntnißnahme von Rechten zu entziehen,
welche ihnen verliehen sind. Es ist nur die holdeste, unbefangenste Unwissen¬
heit. Eine wesentliche Schuld hieran trägt offenbar ein Umstand, den die
gesetzgebenden Faktoren wohl einmal gebührend erwägen sollten, nämlich die
unzulängliche Veröffentlichung der Gesetze, die besonders bedauerliche Folgen
haben kann in Zeiten, in welchen die gesetzgeberische Maschine so eifrig arbeitet,
wie augenblicklich. Nach der Reichsverfassung gewinnt jedes Gesetz rechtsver¬
bindliche Kraft durch seine Veröffentlichung im „Reichsanzeiger", d. h. in
einem öffentlichen Organe, welches in das eigentliche Publikum gar uicht ge¬
laugt. Nun pflegen zwar die größeren Zeitungen wenigstens die wichtigeren
Gesetze im Wortlaute zu bringen, aber auch sie dringen nur in die oberen
Schichten der Bevölkerung, ganz abgesehen davon, daß diese Art der Publikation
allein von dem guten Willen der Redaktionen abhängt und selbst wenn dieser
gute Wille vorhanden ist, oft genug am Raummangel scheitert. Die kleine
Presse, welche so gut wie ausschließlich von der großen Masse gelesen wird,
thut nicht einmal so viel und kann auch nicht so viel thun. In dieser Be¬
ziehung könnten wir wirklich etwas von Frankreich lernen, wo alle Gesetze
durch öffentlichen Anschlag in den Gemeinden verkündet werden. Schwerlich
auf anderm Wege lassen sich die mangelhaften und schiefen Vorstellungen sern
halten, die gegenwärtig leider noch über den öffentlichen Rechtszustand nament¬
lich in wirthschaftlicher Beziehung herrschen.
Dock dies mehr nebenbei. Jedenfalls kann, wer einen schnellen und dabei
sichern und weiten Ueberblick über unsere sozialen Verhältnisse gewinnen will,
keinen bessern Wegweiser finden, wie die Jahresberichte der preußischen Fabrik-
Inspektoren. Sie umfassen freilich nur eine» Theil des deutscheu Gebiets, aber
es ist immerhin der weitaus größte Theil und er darf vorläufig wenigstens
als maßgebend auch für das übrige Deutschland gelten. Denn nicht nur um¬
faßt der preußische Staat alle denkbaren Arten von Industrien, sondern in
seinen einzelnen Theilen stellt sich der industrielle Betrieb in den eigenthüm¬
lichsten und mannichfachsten Abstufungen zu dem gesammten Wirthschaftsleben
der entsprechenden Bevölkerung, von den fast nur ackerbauenden Bezirken in
Pommern und Posen bis zu jenen rheinischen und schlesischen Distrikten, in
denen die große Dampfindustrie des Jahrhunderts ihre höchste Entwickelung
zeigt. So gestaltet sich selbst die aktenmäßige Darstellung zu einem cibwechse-
lungs- und farbenreichen Bilde, das tausend Schlaglichter auf die brennenden
Tagesfragen des sozialen Problems wirft. Um nur eiuen Puukt zu erwähne»,
welcher augenblicklich von besonderm Interesse ist: die Fabrikinspektoren haben
weder den Beruf, noch zeigen sie irgendwie die Neigung, gegen die Sozial-
demokratie zu polemisiren, aber die Thatsachen sprechen selbst, und so liefern
diese Berichte wahrhaft durchschlagendes Material für die Nothwendigkeit des
Sozialistengesetzes. Man kann es wirklich nur der vorhin erwähnten Indolenz
selbst gebildeter Politiker in solchen Fragen zuschreiben, wenn dieser Umstand
in den Verhandlungen der letzten Reichstagssession nicht mit besonderer Schärfe
hervorgehoben worden ist. Denn gerade an ihm läßt sich schlagend die boden¬
lose Nichtsnutzigkeit der kommunistischen Agitation nachweisen, ihre völlige
Verzichtleistung auf jeden geistigen Kampf, der allein ihr das Recht gegeben
hätte, auch nur mit geistigen Waffen bekämpft zu werden. Vom sozialdemo-
kratischen Standpunkte aus war nur eine Taktik gegenüber den Fabrikinspektoren
angezeigt: die Arbeiter zum Anschlusse und Vertrauen zu ermuntern, sie anzu¬
leiten, daß sie die Aufmerksamkeit dieser Beamten auf unzweifelhafte Uebelstände
lenkten und so von vornherein zwischen den Trägern der Staatsgewalt und
den Unternehmern ein feindseliges und schroffes Verhältniß zu schaffen, was um
so näher lag, als die Fabrikanten Anfangs die neue Einrichtung vielfach mit
schlecht verhehltem Aerger und Mißtrauen betrachteten. So konnten die sozial¬
demokratischen Wühler bleiben, was sie waren, und doch sich als Arbeiterfreuude
erweisen; so konnten sie wenigstens den Arbeitern wirklichen Nutzen schaffen
und doch gerade dadurch den Kampf bis auf's Messer gegen das Kapital
führen. Aber dieser relativ vernünftige Standpunkt ist ihnen noch viel zu ver-
nünftig gewesen; nichts von alledem haben sie gethan. Den Fabrikinspektoren
scheint es selbst verwunderlich gewesen zu sein, gerade in Gegenden, wo die
Umsturzpartei Oberwasser hatte, auf die größte Gleichgiltigkeit der Arbeiter
gegenüber ihren Bestrebungen zu stoßen; so schreibt einer von ihnen: „Aust
fallender Weise haben die mir zugänglichen Arbeiterparteiblätter ihre Leser
über die Funktionen des hauptsächlich zum Besten der Arbeiter geschaffene»
Instituts zu belehren nicht für nöthig oder zweckmäßig erachtet." Man könnte
in der That einen Preis auf das sozialdemokratische Zeitungsblatt sehen, das
in den letzten Jahren auch nnr einen sachlichen Artikel über die Jahresberichte
der Fabrikinspektoren gebracht hätte. Entweder wurden sie kurzweg todtge¬
schwiegen oder als „elende Machwerke" „abgefertigt", oder allerbesten Falls
wurde, wenn sich in ihnen ein ganz besonders schimpflicher Fall von Pflicht-
Vergessenheit eines Unternehmers verzeichnet fand, derselbe mit hundertfacher
Uebertreibung in gellenden Posaunenstößen als Beweis für die Nichtswürdig¬
keit der heutigen Gesellschaft verwerthet. Auch sonst zeigen diese neuesten Be¬
richte wieder, was es mit der Beschönigung gutmüthiger Seelen auf sich hat,
daß die sozialdemokratische Agitation die Arbeiter wenigstens gewöhnt habe, im
eigenen Interesse zu denken und zu handeln. Was im vorigen Jahre von
einem Hauptsitze der Partei, dem Regierungsbezirke Düsseldorf, konstatirt wurde,
daß nämlich die Arbeiter selbst ihre unmündigen Kinder in die „Lohnsklaverei"
der Fabriken schleppten wollten, und nur die Barmherzigkeit der „Schlotjunker"
verhinderte, daß die heranwachsende Jugend von Grund aus verwüstet würde,
wird jetzt sogar von Berlin berichtet. Der dortige Fabrikinspektor klagt, daß
Kinder unter 14 Jahren von ihren Eltern zu zehnstündiger Arbeitszeit ange¬
halten und zugleich unterrichtet würden, wie sie dem revidirenden Beamten
auszusagen hätten, damit die Uebertretung des Gesetzes nicht zu seiner Kenntniß
gelange. Von Düsseldorf wird noch fortdauerndes Überhandnehmen der Aus¬
schreitungen, Rohheiten, namentlich unmäßiges Schnapstrinker ze. gemeldet.
„Die lautesten Klagen", schreibt der betreffende Beamte, „wegen des Schnapses
und des Mangels an Disziplin hörte ich in dem Solinger Bezirke, wo die
sozialdemokratischen Vereine als festgegliederte, unter strammer Organisation
stehende Interessengruppen den lose oder gar nicht verbundenen Arbeitgebern
gegenüberstanden." Ein besonderer Lieblingssport der Agitatoren scheint in
den letzten Jahren die völlige Ruiuirung des Haftpflichtgesetzes gewesen zu sein.
Dies völlig ungenügende und in seiner praktischen Handhabung mit tausend
Schwierigkeiten verknüpfte Gesetz führt zu unzähligen Zwistigkeiten zwischen
Unternehmern und Arbeitern; die letzteren zu verhetzen und von jedem gütlichen
Ausgleiche abzuhalten, der nach Lage der Sache meist nur zu ihrem Vortheile
sein konnte, ist zur höheren Ehre des Klassenhasses vielfach mit nur zu gün¬
stigem Erfolge versucht worden.
Was nun aber das Institut der Fabrikinspektoren selbst anlangt, so ist es
in steigender Entwickelung geblieben. Es hat sich mehr und mehr eingebürgert;
zwischen den Beamten und den Unternehmern bestehen meist freundliche und
gute Beziehungen, und auch die Arbeiter, wo sie noch nicht sozialdemokratisch
infizirt sind, zeigen Verständniß und Vertrauen. Schritt für Schritt geht es
dabei freilich immer uur weiter; noch fehlt viel, daß auch nur der gesetzmäßige
Zustand überall herrsche, und lange Jahre angestrengter Arbeit wird es noch
kosten, ehe die gewerbegesetzlichen Bestimmungen in Fleisch und Blut der in¬
dustriellen Bevölkerung übergegangen sind. Selbst die verhältnißmäßig einfachen
Bestimmungen über die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern und Kindern
in Fabriken siud noch weit entfernt davon, überall durchgeführt zu sein »der
dauernd beobachtet zu werden. Wie schon angedeutet ist, zeigen sich die Eltern
oft selbst härter und liebloser, wie der Fabrikherr. Im Allgemeinen nimmt
die Beschäftigung jener beiden Kategorien ab, was bei den jugendlichen Ar¬
beitern oft genug auf den traurigen Grund der schlechten Zeitverhältnisse zu¬
rückzuführen ist, während es bei den Kindern erfreulichere Ursachen hat. Viele
Fabrikanten verzichten lieber ganz auf Kinderarbeit, ehe sie sich den beschwer¬
lichen Weitläufigkeiten ihrer gesetzlichen Beschränkungen unterziehen. So darf
man den Zeitpunkt immer näher rücken sehen, an welchem das Gesetz überhaupt
die Fabrikarbeit schulpflichtiger Kinder untersagt, ein Erfolg, der moralisch uoch
glänzender und wirkungsvoller sein würde, als materiell. Einige der eifrigsten
Fabrikinspektoren plädiren unausgesetzt für diese Reform. Auch ist nicht zu
verkennen, daß die geltende Bestimmung der Gewerbeordnung, wonach Kinder
zwischen zwölf und vierzehn Jahren in Fabriken sechs Stunden beschäftigt
werde» dürfen, aber' dann mindestens drei Stunden die Schule besuchen müssen,
dauernd nicht haltbar ist. Erfahrungsmäßig leisten sie dann weder hier noch
dort etwas; weder nützen sie der Industrie, noch nützt ihnen die Schule. Dazu
verkehrt sich praktisch der gute Wille des Gesetzes oft genug in sein Gegen¬
theil. Namentlich in großen Städten und auf dem platten Lande kann
der Weg zwischen Fabrik, Haus und Schule mehrere Stunden in Anspruch
nehmen, so daß dann die Kinder thatsächlich schlechter gestellt sind, als die
jugendlichen Arbeiter, die täglich nicht über zehn Stunden beschäftigt werden
sollen.
Mit weit größeren Schwierigkeiten ist eine andere Bestimmung der Ge¬
werbeordnung verknüpft, deren Erfüllung die Fabrikinspektoren gleichfalls zu
überwachen haben: Die Pflicht nämlich, welche den Unternehmern auferlegt
ist, für Gesundheit und Leben der Arbeiter die möglichste Fürsorge zu tragen.
Hier wird beiderseits noch viel gefehlt. So wunderlich es klingt, zeigen sich
hierin die Arbeiter selbst häufig als ihre grüßen Feinde. Schutzvorrichtungen,
welche nicht niet- und nagelfest gemacht sind, beseitigen sie selbst, theils aus Bequem¬
lichkeit, theils aus alberner Grvßthuerei. Die Fabrikanten wieder lassen es
in dieser Beziehung namentlich dadurch an sich fehlen, daß sie mit allen
Mitteln ihre Haftpflicht für Unglücksfälle zu umgehen suchen. Das betreffende
Gesetz, welches vorläufig für Eisenbahnen, Bergwerke, Steinbrüche, Gruben
und Fabriken gilt, weist nur bei Eisenbahnen dem Unternehmer den Beweis
dafür zu, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes Verschulden
verursacht ist, während in allen übrigen Fällen der Verunglückte oder seine
Hinterbliebenen zu erhärten haben, daß die Schuld aus den Unternehmer oder
seine Beamten fällt. Die Sicherung der Arbeiter gegen Beeinträchtigung oder
Vernichtung ihrer Erwerbsthätigkeit, die dadurch erreicht werden soll, wird
aber völlig illusorisch gemacht, indem der Arbeitgeber einfach nur eine Sicherung
gegen die finanzielle Schädigung sucht, die ihm etwa aus dem Gesetze erwachsen
könnte, die Haftpflicht auf eine Unfallversicheruugs-Gesellschaft überträgt, der¬
selben die Regulirung der Ansprüche verletzter Arbeiter überläßt und sich um
Gesundheit und Leben seiner Arbeiter nunmehr wo möglich gnr nicht mehr
kümmert.
Damit ist aber der ganzen Haftpflicht die Spitze abgebrochen; statt die
Gegensätze in der Industrie zu versöhnen, schafft sie vielmehr ewige Unzufrieden¬
heit. Bei Verhandlungen über Berechtigung und Werth der erhobenen Ansprüche
tritt nicht selten der Fall ein, daß der Fabrikant, um die Forderungen der
Arbeiter überhaupt möglichst niedrig zu halten, seine Ansicht eher zu Gunsten
der Versicherungsgesellschaft als seiner Arbeiter einrichtet. Dies erschwert die
gütliche Einigung, die ohnehin nicht leicht ist, weil einerseits der Arbeiter von
seinen guten Freunden, zu denen in solchen Fällen noch gewissenlose Wiulel-
kousuleuten hinzutreten, aufgehetzt wird und anderseits bei vielen Versicherungs-
gesellschaften die Praxis sich ausgebildet hat, prinzipiell keine Entschädigung
zu zahlen, ohne von den Gerichten verurtheilt zu sein. Zudem erlischt der
Anspruch auf Schadenersatz in zwei Jahren, und so schreitet der Arbeiter zum
Prozeß. Die erste Folge ist dann meist seine Entlassung, weil es sich mit der
Erhaltung der Disziplin in der Fabrik nicht gut verträgt, daß Arbeitgeber und
Arbeiter mit einander Prozessiren. Vor dieser Eventualität schreckt mancher
Arbeiter zurück; die augenblickliche Existenz ist ihm lieber, als der immerhin sehr
unsichere Ausgang eines Prozesses, unsicher auch deshalb, weil er auf das Zeug¬
niß seiner Mitarbeiter, die nicht seinetwillen ihre Stellung verlieren wollen, nicht
immer rechnen kann und weil ihm die Mittel fehle», sich den nöthigen Rechtsbei¬
stand zu verschaffen. Läßt er sich aber doch auf den gerichtlichen Weg ein, so tritt
die Versicherungsgesellschaft an Stelle des verklagten Unternehmers und führt
den Prozeß. Während der Klüger den Beweis zu erbringen hat, daß er durch
die Schuld seines Brodherrn verunglückt ist, tritt ihn: der sachverständige Be¬
amte entgegen und erbietet sich zum Gegenbeweis; bei seiner großen Routine
wird es ihm nicht schwer, dem Verunglückten ein eigenes Verschulden nachzu¬
weisen. In der Regel schleppen sich die Prozesse lange Jahre fort; der
geschädigte Arbeiter muß alles, was er besitzt, opfern, um zu seinein Rechte zu
gelangen, das er bei den ungleichen Waffen, mit welchen gekämpft wird, doch
nicht oder nur in den seltensten Fällen erhält.
Diese traurigen Zustünde sind in verschiedenen Berichten der Fabrikinspek¬
toren mit dankenswerther Klarheit aufgedeckt; mit besonderem Eifer behandeln
die Beamten für die Stadt Berlin, die Provinz Pommern und den Regie¬
rungsbezirk Frankfurt a. O. die äußerst wichtige Frage. Offenbar ist hier eine
gründliche Abhilfe nothwendig. Ein Theil der Fabrikanten versichert seine
Arbeiter gegen alle, anch die nicht haftpflichtigen Unfälle, allein dieser Modus
läßt sich schwer allgemein durchführen, weil die Prämien meistens unverhält¬
nismäßig hoch sind und alsdann auch keine genügende Bürgschaft mehr gegen
Leichtsinn und Sorglosigkeit der Arbeiter vorhanden ist. Eine entschiedene
Verbesserung würde zweifellos die Ueberwülzung der Beweislast auf den Unter¬
nehmer sein, wie in der letzten Frühjahrssession des Reichstags schon durch
mehrfache Anträge angeregt wurde. Gewisse Unzuträglichkeiten werden bei
Regelung der Haftpflicht niemals zu vermeiden sein; es ist nicht mehr, als
billig, daß sie wenigstens auf die stärkeren Schultern fallen. Allein das Pro¬
zessiren wäre dann auch nicht zu vermeiden; Streit und Unfriede bliebe an
der Tagesordnung und in vielen Fällen würden die Arbeiter nicht bester daran
sein, wie zuvor. Es ist somit kaum etwas anderes möglich, um das Haft¬
pflichtgesetz zur vollen Wahrheit zu machen, als Selbsthilfe der Arbeitgeber
und Arbeiter.
Der Fabrikiuspektor für Frankfurt ni. O. berichtet, daß innerhalb der
Textilindustrie seines Bezirks sich mehrere Lokal-Unfallversicherungs-Institute
der Unternehmer mit Svlidarhaft aller Mitglieder gebildet hätten, und er
glaubt mit Recht, hierin einen fruchtbaren Anfang zur gedeihlichen Lösung der
Frage zu erkennen. Es ist klar, daß ein Lokalverein, bestehend aus den Nächst-
betheiligteu, vor Allem für möglichste Verhütung von Unglücksfällen, demnächst
aber auch für eine gerechtere Entschädigung derselben sorgen wird, weil ihm
die nähere Kenntniß der Familien und wirthschaftlichen Verhältnisse seiner
Arbeiter moralische Verpflichtungen auferlegt, welche einer fernstehenden Ge¬
sellschaft jederzeit fremd bleiben. Der gedachte Beamte führt dann aber weiter
in sehr treffender Weise aus, daß die Idee nach zwei Richtungen hin einer
Erweiterung und Vertiefung eben so bedürftig wie fähig sei. Für besonders
schwere Unglücksfälle bedürften die Lokalvereine der Anlehnung an einen grö¬
ßeren Versicherungskreis, am besten an Provinzial-Unfall-Versicherungsverbünde,
die sich in jedem einzelnen Industriezweige zu bilden hätten. Weiter aber sei
es durchaus angezeigt, die Arbeiter zu den Versicherungsbeiträgen heranzuziehen,
selbstverständlich mit gleichzeitiger Theilnahme an der Verwaltung. Das Be-
wnßtsein der persönlichen Beitragspflicht mahnt den Versicherten viel ernst¬
hafter zur Vorsicht während der Arbeit, als wenn sein Arbeitgeber den Bei¬
trag für ihn zahlt. Auch ist die Betheiligung von Arbeitern bei Verwaltung
der Kasse, bei Beurtheilung der Eutschädigungsfrage ?e, keineswegs bedenklich.
Im Gegentheil wird ihre Theilnahme solchen Kassen größeres Vertrauen ihrer
Kameraden zuführen, und dann ist es eine bekannte Thatsache, daß die Arbeiter
im Punkte der Entschädigung meist ökonomischer zu Werke gehen, wie der
Arbeitgeber. Daß übrigens solche Vereinigungen über ihren ursprünglichen
Zweck hinauswachsen, Schiedsgerichte, Invaliden- und Krankenkassen :e. aus
sich entwickeln und somit sehr aussichtsvolle Anfänge zu gewerblichen Fachgc-
uossenschasteu darstellen würden, welche in durchaus gesunder Weise Arbeitgeber
und Arbeitnehmer verbänden, liegt auf der Hand.
Den besondern Wohlfahrtseinrichtungen zu Gunsten der Arbeiter widme»
die Fabrikinspektoren gleichfalls eine eingehende Aufmerksamkeit. Sie haben
nach dieser Richtung von viel gutem Willen zu berichte», dem freilich die
schwere Noth der Zeit oft enge Schranken setzt. In die Einzelheiten einzu¬
gehen, würde an dieser Stelle zu weit führe», und so mag nur noch ein inter¬
essanter Gesichtspunkt hervorgehoben werden. Der Fabrikinspektvr für den
Regierungsbezirk Düsseldorf hebt den überaus günstigen Einfluß der dortigen
Arbeiterinnen-Hospize und -Vereine auf alleinstehende Frauen und Mädchen
hervor. Es sind solcher Vereine bisher nur rein konfessionelle vorhanden; sie
bestehen in Orten, wo die Arbeiterbevölkerung vorwiegend katholisch, ihr kon¬
fessioneller Charakter demnach so gut wie selbstverständlich ist und wo die von
den leitenden Geistlichen ausgeübte, seelsorgerische Zucht vom besten Einflüsse
sein kann. Von der protestantischen Kirche ist nirgends Aehnliches berichtet ;
die soziale Weisheit ihrer leitenden Kreise scheint noch immer von der Firma
Stöcker-Todt gepachtet zu sein. Uebrigens meint der Düsseldorfer Fabrik¬
inspektvr, daß für evangelische oder paritätische Bezirke sich ähnliche Bestrebungen
wohl eines ähnlich günstigen Erfolges zu erfreuen haben würden, wenn die
Leitung derselben in die Hände gebildeter Frauen gelegt würde, deren tägliche,
Persönliche Einwirkung auf die jungen Arbeiterinnen zur Geltung käme. So
bietet sich den Frauen der Fabrikbesitzer ein dankbares und reiches Feld der
Thätigkeit dar.
Damit mögen diese Andeutungen beendet und die neuesten Jahresberichte
der preußischen Fabrikinspektoren dem geneigten Leser selbst zum Forschen und
Graben überlassen bleiben. Er darf einer reichen Ernte sicher sein, und im
Uebrigen sei es diesen lehrreichen Bänden beschieden, von Jahr zu Jahr tiefer
zu haften im Gedächtnisse des Volks als feste Grundsteine der sozialen Reform!
Vor kurzem ist der zweite Band der von Professor Böttger bearbeiteten
deutschen Ausgabe des Werkes von Henry M.Stanley „Durch den dunkeln
Welttheil' (Leipzig, F. A. Brockhaus) erschienen. Wir haben aus dem ersten
Baude im 3. Quartal dieses Jahres in d. Bl. einige der interessantesten
Schilderungen unsern Lesern mitgetheilt. Eine erschöpfende Darstellung der darin
enthaltenen Forschungen und Entdeckungen konnte in d. Bl. nicht einmal ver¬
sucht werden, weil hierzu der Raum fehlte. Zu diesem Zwecke hätte die Stan-
ley'sche Forschungsreise, die schon im ersten Bande einen Weg durchmißt, der vom
40. bis zum 30. Grade östlicher Länge in den Aeauatorialgegenden Afrika's sich
erstreckt, verglichen werden müssen mit den Ergebnissen früherer Reisen. Ohne
eine größere Anzahl von Karten hätte sich ein Ueberblick kaum gewinnen lassen.
Und durch die kritische Sonderung der nicht seltenen Stellen, in denen Stanley
die Kombination oder wohl auch einmal die Phantasie an die Stelle unum¬
stößlicher Thatsache» setzt, wo diese nicht zu ermitteln sind, wäre abermals ein
so erheblicher Raum beansprucht worden, wie ihn nur geographische Fach¬
schriften gewähren können. Deshalb begnügten wir uns bei Besprechung des
ersten Bandes zunächst mit einer Skizze, welche die Ergebnisse der bisherigen
Afrckaforschuug in jenen Gebieten zusammenfaßte und die Verdienste Stanley's,
insbesondere seiner letzten gewaltigen Entdeckungsreise, in wenigen Strichen an¬
deutete; in den folgenden Artikeln gaben wir das Jnteressanteste über seiue
Reisevorbereitungen, Anschaffungen und Werbungen, seine Abreise und die
ersten Märsche auf dem Festlande. Wir berichten zur Anknüpfung der nach¬
stehenden Blätter an diese früheren Schilderungen nur, daß Stanley am Ende
des ersten Bandes in Udschidschi am Tanganika-See angekommen war, sich also
immer noch auf einem durch Livingstone u. A. der geographischen Wissen¬
schaft leidlich erschlossenen Gebiete befand.
Die Verdienste, welche sich Stanley um die Erforschung der Gestade und
Grenzen, der Entstehung und des Abflusses dieses großen Sees erworben hat,
erhellen nun aus den ersten Kapiteln des zweiten Bandes seines Reisewerkes.
Nach einer Seereise an Bord des trefflichen Bootes „Lady Allee", welche in
51 Tagen etwa 240 geographische Meilen der Gestade des Tanganika-Sees
bestrick) und die Gestalt und sonstige Beschaffenheit der Seeufer genau feststellte,
die Hydrographie des Sees und die Legenden der Eingeborenen zum ersten
Mal Europa vermittelte, kehrte Stanley nach Udschidschi zurück. Fesselnd und
farbenreich schildert er die mannichfachen Abenteuer und Reize der Seefahrt,
das wunderbare Völker-, Sprachen- und Waarengewimmel des großen Handels-
Platzes von Jnnerafrikci, Udschidschi. Bei seiner Rückkehr findet er hier die
Bande der Mannszucht bedenklich gelockert. Die lange Abwesenheit des
Führers ist weniger schuld daran, als eine bösartige Pockenepidemie, welche
die Stadt heimsucht und auch unter Stanley's Mannschaft zahlreiche Opfer
fordert. Dazu kommt die zu Desertion immer ermunternde Furcht vor den
Gefahren und Wagnissen einer Weiterreise in unbekanntes Land. Vergebens
sucht der Führer durch freigebige Geschenke diese bösen Gelüste niederzukämpfen.
Ueber vierzig Mann seiner Truppe verlassen ihn treulos, nachdem soeben sie die
reichen Gaben des „Meisters" schmunzelnd eingestrichen. Es ist hohe Zeit
geworden, den Weitermarsch anzutreten. Denn inmitten der Wildniß, umgeben
von Feinden und bedrängenden Naturgewalten aller Art, legt jede Kreatur
willenlos ihr Schicksal in seine Hand.
Die Reise geht also weiter über Ruanda und Ka-Bamberre, wo Livingstone
monatelang sich aufgehalten, nach Mcmyema. Noch haben die Eingeborenen,
die stolz im Kostüm Adam's sich dem Beschauer darbieten, den großen „weißen
Vater" (Livingstone) nicht vergessen. Der einzige Esel, den Stanley's Kolonne
mit sich führt, ist aber das Jmponirendste, was sie je gesehen. Die Stimme
des Esels erfüllt sie mit unendlichem Entzücken. Das -kindlich - gutmüthige
Volk wird vou den habsüchtigen und listigen Arabern zu unaufhörlichen zwecklose»
Fehden und Schlächtereien getrieben. Durch das Thal des Luama wird (zu
Anfang des vierten Kapitels) der Zusammenfluß dieses Stromes mit dem
mächtigen Lualaba, den Stanley bekanntlich Livingstone nennt, und dessen
Jdentitätsnachweis mit dem Congo die Hauptfrucht seiner Entdeckungsreise ist,
erreicht. Damit ist Stanley an der letzten Grenze früherer Entdeckungsfahrten
— derjenigen von Cameron und Livingstone — angelangt. 220 Meilen war
Stanley dem Zufluß des große» Stromes gefolgt, ehe er diesen in weitem
Bogen seine blcißgranen Wogen heranwälzen sah. Schon hier, an dem obersten
Lauf des Stromes, den Stanley erreichte, war der Lualaba 1300 Meter breit.
Der stolze Amerikaner muß sich herablassen zu dem Bekenntnisse, daß schon
hier kein andrer Fluß den Vergleich mit ihm aushalte, als der mächtigste
Strom Nordamerika's, der Mississippi.
Obwohl nun schon beim ersten Anblick des Lualaba Stanley's Entschluß
feststand, diesem Strom bis zum Ozean zu folgen, so hatte er eben doch mit
schwachen Menschen (darunter vielen Frauen und Kindern), nicht mit Heroen
die Reise zu bestehen; und diese Begleiter waren sämmtlich frei, Herren ihrer
Entschließung, wo es sich um deu Weitermarsch in eine an Schrecknissen und
Gefahren reiche unbekannte Wildniß handelte. Wer nur immer in der Stadt
Nyangwc mit seinem erbetenen oder unerbetenen Rath gehört wurde, warnte
vor der Weiterreise wie vor sicherem Tod. Grauenhafte Geschichten von einem
bösartigen Zwergvolk, das am Wege Hause, wußten die weitgereiste« Araber
zu erzählen. Daß der Strom auf seinem unteren Laufe vou kriegswichtigen,
mordlustigen Kannibalen bewohnt sei, versicherten Alle, die stromab gefahren.
Nur durch eine imponirende Machtentfaltung meinte Stanley selbst die Gefahren
der Weiterreise bezwingen zu können. Er miethete deshalb den mächtigsten
arabischen Kaufmann und Führer der Gegend, Tippn-Tih, denselben verschmitzten,
weitherzigen Gesellen, den Cameron zu seiner Fahrt über den Lualaba bis
Urotera als Begleiter erlesen, für 5009 Dollars zu sechszig Tagemärschen,
mit 140 Mann, die Stanley auf der Hin- und Rückreise mit Mundvorrath
zu versehen sich verpflichtete. Bei kleinmüthiger Rückkehr dieser Eskorte vor
dem bedungenen Endziel sollte Stanley aller Verpflichtungen gegen sie und
Tippn-Tid frei sein. Dieser Vertrag wurde am 24. Oktober 1876 abgeschlossen,
nachdem Stanley sich versichert hatte, daß sein treuer, allein noch überlebender
weißer Reisegefährte, Frank Pocock, mit Freuden bereit sei, dem großen unbe¬
kannten Strome bis zum Ozean zu folgen. —
Etwa 830 geographische Meilen längs des Parallelkreises des 4. Grades
südlicher Breite hatte Stanley auf der östlichen Hälfte des dunkeln Welttheils
durchschritten, erforscht, ausgezeichnet und vermessen, als am 5. November seine
Karawane, die ohne die 700 Mann Tippu-Tid's*) 154 Menschen (einschließlich
der Weiber und Kinder) zählte, zum Marsche nach der unbekannten größeren
westlichen Hälfte des schwarzen Erdtheils aufbrach. In direkter Linie längs
desselben Breitengrades lagen von Nycmgwc bis zum Meere noch 956 geogra¬
phische Meilen vor ihn?, davon über 900 gänzlich unbekannt. Aber an eine
Verfolgung des kürzesten Weges zum Ozean war vorläufig gar nicht zu denken,
denn nicht nach Westen, sondern direkt nach Norden floß der Strom von
Nyangwc ab. Und „immer nach Norden", versicherten die Eingeborenen und
Araber, fließe er, fo weit er bekannt sei. So folgte denn Stanley mit den
Seinen zunächst dem Ostufer des Stromes, um jede Ungewißheit über seine mögliche
Krümmung nach Osten zum Mulm Nzige oder zum Nil zu beseitigen und, falls
er, wie Stanley schon damals annahm, sich später nach Westen wende, zu
entdecken, welche Zuflüsse er von Osten erhalte.
Vom 6. bis 19. November ging der Marsch der Kolonne durch dunkeln
Urwald, zuerst in nördlicher, dann in nordwestlicher Richtung. Ursprünglich
war es die Absicht Stanley's, die 240 Stunden Landes, welche der Urwald
(Mitamba) bedeckt, im Walde zurückzulegen. Aber sehr bald überzeugte er sich
von der gänzlichen Unausführbarkeit dieses Neiseplanes. Das Dunkel des
Waldes war so tief, daß Stanley oft die Bleistiftnotizen, die er in sein Tage-
duch eintrug, beim Schreiben nicht lesen konnte; ein Zwielicht „so matt und
feierlich wie in gemäßigten Zonen eine Stunde nach Sonnenuntergang. Wir
wußten nicht, ob draußen die Sonne hell scheine, oder ob der Tag dunkel, trübe
oder neblig sei." Die Temperatur war die eines russischen Dampfbades. Eine
klebrige Feuchtigkeit stieg in Schwaden aus dem Boden, tropfte unablässig von
den großen gedunsenen Blättern der Bäume, wie Regen. Der Pfad wurde
bald zu einem zähen, lehmigen Teig, und bei jedem Schritte spritzte man
schlammiges Wasser über die Beine der Vorder- und Nebenmänner. Kein
Wunder, denn der Boden ist ein dunkelbrauner vegetabilischer Humus, aus
dem die seit Jahren angehäuften Ueberreste faulender Blätter und Zweige ein
ständiges Mistbeet gemacht haben. Bis zu zwanzig Fuß Höhe schießt allein
das Unterholz in tropischer Ueppigkeit empor. Kein Wind dringt in das tiefe
Gefängniß dieses Waldschattens ein. Geschähe es, so würde er die ganze
Waldherrlichkeit zu Boden werfen, denn selbst die stolzesten Stämme legen den
größten Theil ihrer Wurzeln bloß und sind nicht tief in den weichen Boden
eingewachsen. Unendlich mühevoll wankt die Kolonne in Schlamm und Dunkel
vorwärts. Uebermenschliche Anstrengungen haben die Bootträger zu leisten.
Als man ihnen einen Pfad durch das Dickicht mit Aexten zu hauen sucht,
zwingt jeder gefallene Baumriese zu mißlichen Umwegen. Bald mußte Stanley
und sein weißer Begleiter das letzte Paar Schuhe aus dem Koffer hervorholen,
obwohl sie die Hälfte des Weges barfuß gingen. Das Barfußgehen war aber
uicht sehr geheuer auf einem Pfade, ans welchem sie, abgesehen von ganzen
Armeen von Beißameisen und von sechs Zoll langen Tausendfüßen, sowie vou
Käfern und Insekten aller Art, auch einem zehn Fuß langen Python (Riesen¬
schlange), einer grünen Viper und einer scheußlichen Pusfnatter begegneten.
Und die armen schwarzen Männer, Frauen und Kinder, die Stanley das
Geleit gaben, mußten barfuß gehen. Ein Ausblick von der Höhe eines Baumes,
der erklommen wurde, zeigte nach allen Seiten hin eine trostlose, unendliche
Waldwildniß. Auch die spärlichen Negerdörfer, die inmitten dieser Baumwüste
angetroffen wurden, vermochten nicht zu trösten. Die Dorfstraßen waren
überall eingesäumt mit Schädeln, welche die Eingeborenen wohl für Schädel
des „Solo" (Schimpanse) ausgaben, die aber Stanley für Negerschädel hielt,
eine Vermuthung, die später Prof. Hu-xley bestimmt bestätigte, als ihm Stan¬
ley zwei Exemplare dieser schauerlichen Dorfstraßengarnirung zur Prüfung
vorlegte. Man befand sich also bereits mitten unter heuchlerischen Kannibalen.
Unter diesen Umständen war es Tippu-Tid kaum zu verargen, wenn er
bereits am 15. November seinem Herrn rundweg erklärte, daß er auf einem
Wege nicht weiter anziehe, der nnr „für nichtswürdige Heiden, für Affen und
wilde Thiere geschaffen sei." Die Heiligkeit der Verträge, die ihm Stanley
pathetisch entgegenhielt, machte auf den kaltblütigen Araber gar keinen Eindruck.
Sie würde auch auf manchen Christensohn wenig überzeugende Kraft geübt
haben, zumal da Tippu-Tih in der Hauptsache vollständig im Rechte war,
wenn er den Weitermarsch im Walde für unmöglich erklärte. Der Lualaba
selbst war zweifellos die gegebene Straße für die Entdeckung und Aufzeich¬
nung des Stromes, nicht das Waldesdickicht. Das geographisch-naturwissen-
schaftliche Interesse, welches die Neise durch den Urwald bieten konnte, die
Möglichkeit, alle kleinen östlichen Zuflüsse des Riesenstromes durch Ueberschreitung
derselben genau kennen zu lernen, konnte doch gewiß nicht in Betracht kommen
gegenüber der großen Verantwortlichkeit, die Stanley für die Gesundheit und
das Leben Hunderter ihm anvertrauter Menschen übernommen hatte. Wir
finden hier, wie früher und später im Laufe der Stanley'schen Entdeckungsreise
noch oftmals, eine eigenthümliche Kasuistik in der Art, wie Stanley sich diese
Verantwortlichkeit zurechtlegt. Er läßt z. B. sein ganzes Gefolge bei der
Durchfahrt durch die inselreichen Gebiete der Kaunibalenstämme längs des
Livingston beinahe Hungers' sterben, nur um nicht durch einen Schuß auf
das in üppiger Fülle vorhandene Wild aller Art die Kriegslust der Wilden
zu wecken — obwohl er sicher weiß, daß schon der ganz unvermeidliche Anblick
seiner kleinen Flotte die Kriegstrvmmeln und den Angriff der stets kriegsbereiten
Uferbewohner erregen wird. Ja noch mehr: als er nahe der Seeküste des
atlantischen Ozeans, Anfang August 1877, mit seiner ganzen Mannschaft bei¬
nahe dem Hungertode erliegt,"') läßt er lieber einen seiner Häuptlinge wahn-
sinnig werden und fünf seiner Leute wegen Diebstahls der nothwendigsten
Nahrungsmittel in der Sklaverei zurück, als daß er vom Rechte des Nothstandes
Gebrauch macht und mit gewaffneter Hand nimmt und nehmen läßt, was die
Seinen zum nothdürftigen Unterhalt brauchen. Da will uns die mohamme¬
danische Auffassung von Verantwortlichkeit, die Tippn-Tid äußerte, doch beinahe
natürlicher erscheinen, als die christlich-zivilisirte Stanley's. Schließlich gelang
es Stanley nach stundenlangen Zureden, deu arabischen Führer wenigstens
noch ans zwanzig Tagemarsche zu halten, gegen das Versprechen Stanley's,
die Expedition unverzüglich aus dem Walde an den Strom zu führen.
Der Livingstone wurde am 19. November erreicht. Seit dem 6. war die
Kolonne nur 10^ deutsche Meilen in nördlicher Richtung von Nycmgwe vor¬
gedrungen. Stanley hält nun hier eine große Rede an sein versammeltes
Volk, in welcher er ausführt, daß man fortan auf dem Strome selbst weiter
reisen müsse. Nur 38 Leute der Mannschaft fühlten sich durch diese Rede
überzeugt. Die andern standen!, seitab und schmollten. Allmälig werden in¬
dessen anch sie gewonnen. Die Lady Alice wird zusammengesetzt und ihrem
Element übergeben. Mit den Wenya, die auf dem rechten Ufer des Stromes
wohnen, wird Blutsbrüderschaft geschlossen; und nachdem der Versuch eines
verrätherischen Bruches dieses Bündnisses vereitelt worden ist, setzen die Wilden
bereitwillig Stanley's Korps auf das rechte Stromufer über, wo ein Lager
errichtet wird. Wegweiser, Führer und Dolmetscher glaubt Stanley an ihnen
gefunden zu haben. Aber am nächsten Morgen sind sämmtliche Eingeborenen
entflohen. Denn der Fremde gilt als Feind — se äcma tsrens — und wenn
er überwunden wird, als Fraß. Die nächsten Tage erhärten diese schreckliche
Wahrnehmung immer von Neuem. Die Mannschaft Stanley's theilt sich in
zwei ungleiche Hälften. Die kleinere befährt stromab den Fluß. Die größere,
uuter Frank Pocock's Befehl, strebt mühsam danach, durch die Dschungels und
Waldungen des rechte« Ufers mit der Flotte Schritt und Fühlung zu halte».
Aber sie verirrt sich, sie hat überall, wo sie auf Eingeborene stoßt, harte
Kämpfe zu bestehen, ebenso wie Stanley selbst. Ueberall schießen die Wilden
mit vergifteten Pfeilen, glücklicherweise nicht mit Pulver, das hier unbekannt
ist, überall gewahrt man die gräßlichen Straßenzänne von Menschenfchüdeln.
Nicht selten gerathen die Fußwanderer am Ufer in die Irre, bis fünfzehn
Stunden vom Strome ab. Schreckliche Geschwüre sind die Folge der Wunden,
welche die Dornen und Stacheln reißen, über welche ihr Weg hinwegführt.
Ruhr und Pocken stellen sich bei der marschirenden Kolonne ein. Schon macht
es sich nöthig, die Kranken ans einem schwimmenden Lazarett) von sechs ver¬
lassenen Kanoes unterzubringen, die aneinander gebunden werden. Täglich
sind Leichen in die braunen Fluthen des Livingstone zu Versenden. Schließlich,
am 26. November, stellt ein neuer Feind sich ein: die Stromschnellen von
Ukassa. Vier Snidergewehre gehen in denselben verloren. Die Kanoes schlagen
um, die Insassen retten das nackte Leben und reiten auf dem Rücken der
Boote. In dieser Lage selbst werden sie von den blutdürstigen Menschen¬
fressern angegriffen. Nur rechtzeitiges Feuern der Freunde zwingt die An¬
greifer zum Rückzug und erspart wenigstens den Verlust von Menschenleben
unter den Begleitern Stanley's.
Die Geduld der Araber und Tippn-Tih's jedoch ist abermals er¬
schöpft. Abermals reden sie von Umkehr. Stanley ist indessen nicht geneigt,
sich in nochmalige Redekünste einzulassen, sondern läßt ruhig die Boote am
Land über das Gebiet der Stromschnellen hinaustragen, und dann geht die
Reise unter gleichen Verhältnissen, nur unter stets steigender Heftigkeit und
immer rascherer Aufeinanderfolge der Gefechte mit den Wilden, weiter stromab¬
wärts bis zum 20. Dezember, wo nach Kämpfen, die Tag und Nacht nnunter-
brochen fortdauerten, ein glücklicher nächtlicher Handstreich ans 36 Boote
der Feinde, die sich ans eine Insel zurückgezogen hatten, Stanley in den Stand
setzt, mit seiner ganzen Mannschaft stromab zu fahren, ohne fernerhin einen
Theil zu Fuße reisen zu lassen. Freilich war Tippn-Tih mit seinen Leuten
nicht zu bewegen, diese Wasserreise mit zu unternehmen. Sein beharrliches
Verlangen nach Umkehr wurde daher am 22. Dezember erhört, und er und
seine Leute erhielten fürstlichen Lohn für ihre Dienste. Tippu-Tih allein bekam
2600 Dollars, einen Reitesel, eine goldene Kette, 30 Doll feines Zeug, 150
Pfund Perlen, 16300 Muscheln, einen Revolver, Munition für 200 Salven
und 50 Pfund Messingdraht. Zu Weihnachten wurden fröhliche Feste veran¬
staltet. Auch Tippu-Tid mit seinen Begleitern nahm daran noch Theil. Der
Araber siegte im Wettlauf über Frank Pocock. Auch die Mädchen und Frauen
der Expedition hielten unter sich einen Wettlauf ab.
Am 28. Dezember schiffte sich Stanley's ganze Mannschaft ein. Tippu-
Tib rief ihnen seine Abschiedsgrüße vom Ufer in wehmüthigen Klängen seiner
Musikinstrumente zu. Stanley hielt wieder eine seiner napoleonisch-kindischen
Anreden an seine Begleiter: „Söhne von Zanzibar! Die Araber und die
Wanyamwezi blicken ans Euch. Die ganze Welt lächelt vor Freude. Seht
diesen Strom hier an, hier geht die Straße nach Zanzibar" u. s. w. Aber
er gesteht wenigstens selbst, daß „die armen Kameraden mit mattem Lächeln
auf seinen frischen Zuruf antworteten".
Der Livingstone war hier 1600 Meter breit, die Gegend herrlich, der
Strom mit waldigen Inseln durchsetzt, die Ufer besäumt mit dem üppigsten
Urwald der Tropen. Eine unendlich mannichfaltige kräftige Thierwelt belebt
Wald, Luft und Wasser. Ewiger Frühling lacht über dem hochgelegenen,
wasserreichen, dichtbevölkerten Lande, das an allen Schätzen der Natur über¬
reich ist. Bäche, Flüßchen und bis 900 Meter breite Ströme münden, meist von
Osten oder Siidosten her, in den Livingstone. Vom 19. bis 30. Dezember
werden an solchen Zuflüssen der Ruiki, der Miriwa, Lloa, Kasnku, Urindo
und Lvngwa gezählt und vermessen. Nur die ersten beiden ergießen sich auf
dem linken Ufer des Livingstone (also von Westen oder Südwesten her) in
diesen. Von paradiesischer Anmuth wäre die Fahrt durch diese Naturreize,
wenn nicht die wildesten, rohesten und kriegslustigsten Menschenfresser hier
hausten, Menschen, die kaum diesen Namen verdienen, da sie im Mitmenschen
nur das Fleisch achten und anstreben. Die Thalfahrt auf dem Livingstone ist bis
Mitte Februar (zu Ende des zehnten Kapitels) ein fast steter harter Kampf
mit den Wilden, die beim bloßen Anblick der fremden Stromfahrer ihre Kriegs¬
trommeln rühren, ihre 5iriegshörner blasen und hurtig wie Möven in unzähligen
Kanoes über deu »icilenbreiten Strom zum Angriff fliegen. Wohl decken
riesige dichte Schilder, die wo immer möglich den Angreifern abgenommen und
im Kampfe längs der Bootsründer erhoben werden, die Angegriffenen leidlich
gegen die giftigen Geschosse der Eingeborenen. Und bis gegen Ende Januar
auf dem nordwestlichen Laufe des Stromes der Aeqnator erreicht ist, sind
die Begleiter Stanley's schon durch ihre Feuerwaffen den Wilden bei
weitem überlegen. Aber hier gewahrte Stanley's Mannschaft zum ersten Mal
vier uralte Büchsen in der Hand der Wilden, die fast vierhundert Jahre ge¬
braucht haben mögen, um von den Gestaden des atlantischen Ozeans bis in
das Herz Afrika's vorzudringen. Und bald zählen die Feuerwaffen der Wilden
nach Hunderten. Die schwersten Tage in dieser durch mehr als dreißig Treffen
und Schlachten bewegten Zeit waren die Tage vom 2. bis 27. Januar 1877.
Denn in diesem beinahe vierwöchigen Zeitraum waren die sieben Fälle des
Livingswne, in der Nähe des Aequators, die Stanley-Fälle, unter unaufhörlichen
Kämpfen am Land zurückzulegen. Die Schiffe werden mit unsäglicher Mühe
über die Uferberge an den Wasserfällen vorbeigezogen. Mancher Mann und
manches Konoe geht in diesen schweren Kämpfen mit den entfesselten Elementen
und den tobenden Wilden verloren. Zwölf Todte allein forderten die
Kämpfe im Dezember, Januar und Februar unter Stanley's Begleitern,
drei ertranken von ihnen und kamen in einem Gewitter um. Und dennoch hatte
die großartige Naturschönheit, welche hier monatelang die ganze Reisegesellschaft
umgab, auf Alle so tiefen Eindruck gemacht, daß sie bald alle Drangsal und
Pein dieser Wochen vergaßen und im ganzen späteren Verlauf ihrer Reise an
die Gestade des Livingstone am Aeqnator als an die schönsten Bilder ihrer
tausendtägigen Reise zurückdachten.
Die Raumanschauung und die Axiome der Geometrie bilden seit Jahren
in immer steigendem Maße das Lieblingsthema für Philosophen und Mathe¬
matiker. Den ersten Anstoß dazu hat Gauß gegeben, zwar nicht durch aus¬
führliche, eigens diesem Thema gewidmete Arbeiten, sondern blos durch ge¬
legentliche Aeußerungen in Abhandlungen über andere Gegenstände und in
Briefen; aber der Umstand, daß Gauß durch große Leistungen auf mehreren
Spezialgebieten der reinen und angewandten Mathematik in der wissen¬
schaftlichen Welt eine so bedeutende Autorität besitzt, ist für kleinere Mathe¬
matiker Grund genug gewesen, ihm unbedenklich mich auf einem Gebiete zu
folgen, auf dem der ganz unphilosophische und der Philosophie sogar abgeneigte'
Mathematiker offenbar in's Verfehlte und Widersinnige gerathen war. Gauß
behauptet, der bekannte Satz von der Winkelsunune des Dreiecks, den wir alle
noch aus unsrer Schulzeit kennen, sei nicht richtig, die Summe der drei Winkel
im geradlinigen Dreieck brauche nicht nothwendig zwei Rechte zu betragen; sie
könne vielmehr beliebig kleiner als zwei Rechte gemacht werden, wenn man
nur die Seiten des Dreiecks hinreichend groß nehme. Freilich würden bekannte
kosmische Entfernungen dazu nicht ausreichen, da alle bisherigen astronomischen
Dreiecksmessnngen zwei Rechte als Winkelsumme ergeben hätten. Eine solche
Behauptung war kein schlechter Spaß oder blos scheinbarer Widersinn, der
sich in eine nüchterne und alltägliche Wahrheit auflösen ließe, wenn man ihn
nur des Uneudlichkeitsjargous entkleidete und in eine verständliche Sprache
übertrüge. Sie war ernstlich gemeint, und da sie auch ernstlich genommen
wurde, so schössen aus ihr alle jene höheren geometrischen Verschrobenheiten
empor, welche es in ihren Konsequenzen gegenwärtig bis zu einer ganzen
Hypergeometrie gebracht haben, während Ganß gelegentlich noch mißmuthig klagen
mußte, daß wir es in Betreff der geometrischen Axiome und der Theorie der
Parallelen trotz vielfachen Bemühungen doch wenig weiter gebracht hätten, als
Euklid und die alten Geometer. In dieser neuen Art von Geometrie, die sich
arti-euklidische Geometrie nennt, hat der Raum, wenn nicht mehr, so doch
mindestens vier Dimensionen; parallele Linien schneiden sich im Unendlichen
wirklich, bilden dort einen Winkel und schließen ihrer drei ein Dreieck ein;
in dieser Geometrie hat die gerade Linie nicht mehr allein das ausschließliche
Privilegium, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu sein, sie läuft
— was entschieden das Prächtigste ist — dnrch die Unendlichkeit hindurch in
sich selbst zurück. Wären diese Dinge richtig, so würde die Geometrie damit
zu einer Erfahrungswissenschaft umgewandelt und ihre Axiome zu bloßen
Hypothesen, deren Giltigkeit erst an der Erfahrung zu erproben wäre.
So lange diese metaphysischen und hypergeometrischen Gespinnste und
Spielereien die Privatdomäne Einzelner bleiben, sind sie ohne Bedeutung und
haben auf den Gang der Wissenschaft weiter keinen Einfluß; sobald sie aber
ansteckend wirken, ist Gefahr vorhanden, daß sie den regelmäßigen Fortschritt
im Wissensschaffen unterbrechen, Dieser Fall kann für Deutschland um so eher ein¬
treten, als im letzten Jahrzehnt zwei Physiker von Ruf der Hypergeometrie nicht nur
ihren Beifall gezollt, sondern anch an ihrem Ausbau positiv zu arbeiten gesucht
haben. Es siud dies Helmholtz und Zoellner. Jeder von beiden ist dabei auch
uoch in seiner eignen Weise epochemachend geworden; Helmholtz, indem er nicht
blos die hierher gehörigen Ideen in wissenschaftlicher und für das weitere
Publikum in populärer Form reprodnzirte, sondern ihnen auch noch eine ent¬
sprechende Theorie der Entstehung der Raumanschauung beigab; Zoellner, indem
er der erstaunten Welt zum ersten Male zeigte, wozu ein Physiker das Phantom
des vierfach ausgedehnten Raumes gebrauchen kann, Zoellner sucht nämlich
nichts Geringeres, als die Wunder und Geisterzitirungen spiritistischer Art
durch den Raum vou vier Dimensionen begreiflich zu machen.^) Er laßt die
spiritistischen Medien gewissermaßen eine vermittelnde Rolle spielen zwischen den¬
jenigen Wesen, mit denen er den vierdimensionalen Raum bevölkert, und den
dreidimensionalen Menschen, weil erstere nur in Gegenwart solcher Medien
auf kurze Zeit in unserem Raume erscheinen und allerlei Experimente ausfiihren,
welche die meisten Dreidimensionalen für Trug und Taschenspielerei zu halte»
meistens beschränkt genug sind. Das allerdings sind die pikantesten Früchte,
die im Garten der mathematischen Mystik bisher gereift sind, die aber immer¬
hin das Gute haben, dem fernerstehenden Publikum zu zeigen, was in der
strengen Wissenschaft alles möglich werden kann, wenn sie anfängt, mit der
Metaphysik anstatt mit der Wirklichkeit sich zu befassen.
Eine Vorstellung von dem vierfach ausgedehnten Raume hat uns übrigens
noch kein Hypergeometer zu geben vermocht, was ja auch der Natur der Sache
nach nie gelingen kann. Angesichts dieser Unmöglichkeit tröstet sich Zoellner
mit der vermeintlich gleichen Unmöglichkeit, jedem Bauern die Richtigkeit des
Pythagoreischen Satzes darzuthun, indem er zugleich jene höhere Raumanschauung
darwinistisch für eine höhere Stufe in der Entwickelung des menschlichen In¬
tellekts ansieht, die sich zur gegenwärtigen etwa so verhalten würde, wie diese
zum thierischen Intellekt; Ganß begnügt sich damit, die Sache sür so einfach
zu erklären, daß nur ein Böotier kein Verständniß dafür habe. Bei solcher
Sachlage bleibt allerdings der durch seine drei (zu einander rechtwinkelig
stehenden) Dimensionen und die Axiome charakterisirte Raum vorläufig uoch
der einzige, von dem wir einen Begriff haben können. Zwar kann die Geo¬
metrie mit diesem Begriffe der allgemeinen Raumvorstellung, weit und leer
wie er ist, allein noch nichts ausrichten; sie hat vielmehr begriffliche Regeln,
nach denen bestimmte Gebilde entworfen werden, als weitere Grundlage vor¬
auszusetzen. Durch diese Nothwendigkeit bekommt sie einen rein logischen
Bestandtheil, mit welchem sich eine Hypergeometrie ganz besonders auseinander
zu setzen hat, sobald sie nur einen einzigen positiven Satz entwickeln will.
Darum würde nach unserer Ansicht anch die wirksamste Zurückweisung der
hypergeometrischen Zumuthungen in einer Untersuchung nud Begründung der
logischen Verfassung der Geometrie bestehen oder vielmehr der gesammten
Mathematik, um überhaupt jedem mathematischen Mystizismus für immer den
Boden zu nehmen.
Vorläufig hat die Lehre von der vierfachen Ausdehnung des Raumes
noch große Chancen, Fortschritte zu machen. Ja man darf auf uoch Gro߬
artigeres gefaßt sein. Man darf erwarten, daß in nicht zu ferner Zeit ein
Grübler vom Raume auf die Zeit überspringt und sich Gewissensskrupel darüber
macht, daß die Zeit sich nur nach einer Richtung, nach vorwärts, ausdehnt und,
uni diesem Uebelstande abzuhelfen, ihr eine zweite miegt, eine Richtung nach
der Seite. Der Widersinn ist zum Lachen, aber auch ein fruchtbarer Boden
für neue Entdeckungen. Man bedenke doch, das Zählen vollzieht sich in der
Zeit; hat die Zeit nun eine neue Richtung erlangt, so wird es zweifelhaft, ob
2 mal 2 nicht auch etwas anderes als 4 sein kann. Der alte Adam Riese
ist antiquirt und das, was bisher als das Sicherste gegolten hat, steht mit
einem Male anf wankenden Füßen. Die Schiller'sche Rechtsfrage:
„Jahre lang schon bedien' ich mich meiner Nase zum Riechen,
Hab' ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?"
ist eine wahre Kleinigkeit gegen solche erhabene Fragen der strengen Wis¬
senschaft.
Mit dem Mystizismus in der Mathematik aufzuräumen, eine so umfang¬
reiche Aufgabe hat sich allerdings das Buch^), das uns zu den vorstehenden
Bemerkungen veranlaßt, nicht gestellt; aber wir glaubten obige Skizze voraus¬
schicken zu müssen, Um den Leser mit dem Gegenstände des Buches im Großen
und Ganzen bekannt zu macheu, umsomehr, als darin die geschichtliche Ent¬
wickelung der Streitfrage keine Berücksichtigung gefunden hat.
Der Verfasser hat Kant und Helmholtz gleichsam als typische Vertreter für
die beiden entgegengesetzten Standpunkte gewählt. Wir billigen das in Betreff
von Helmholtz; da der Verfasser ans die Entstehung der Hypergeometrie nicht
eingeht, so thut er recht daran, gerade die Helmholtz'schen Theorien zu be¬
kämpfen, weil Helmholtz unter den lebenden Hypergeometern beim Publikum
der bekannteste ist und sich über die Entstehung der Raumanschannngen am
ausführlichsten ausgelassen hat. Daß er aber berechtigt wäre, Kant den Hyper¬
geometern durchweg entgegenzustellen, leuchtet nicht in derselben Weise ein. Das
Unding des unendlichen Raumes als eine an sich vorhandene Wirklichkeit ver¬
nichtet zu haben, ist allerdings das unsterbliche Verdienst der Keine'schen Raum-
und Zeitkritik; aber sie ist mit Zweideutigkeiten und Unentschiedensten derartig
durchwoben, daß es den heutigen Mystikern und Spiritisten möglich ist, ihre
Phantasmen in der Kant'schen Jdealitätstheorie ganz bequem unterzubringen.
Sie vergessen dann allerdings zu bemerken, daß es nicht der große Begriffs-
kritiker ist, auf den sie sich berufen, fondern der weniger bekannte Kant, der
den Geistern von der Berkeley'schen und gar von der Swedenborg'schen Gattung
nahestand und in jüngeren Jahren, ehe er aus seinem dogmatischen Schlummer
erwachte, sogar auch Vierdimensionale Anwandlungen hatte. In dieser Auf¬
fassung der Kant'schen Philosophie wird der Verfasser durch seine nur kurzen
Bemerkungen über diesen Punkt schwerlich Jemanden wankend gemacht haben.
Und doch hätten wir gerade hierüber im Rahmen der vorliegenden Schrift eine
ausführlichere Erörterung gewünscht, umsomehr, als besonders Zoellner mit so
großem Nachdruck — und wir glauben mit einigem Recht — die Autorität
Kant's in Anspruch nimmt und häufig zitirt. Zoellner würde das nicht wagen
dürfen, wenn Kant durchweg eine entschiedene Stellung eingenommen hätte,
oder der Nachweis geführt werden könnte, daß dieselbe so unzweideutig ist, wie
der Verfasser annimmt.
Seinen Stoff hat der Verfasser umsichtig angeordnet. Die eigentliche
Streitfrage ist in sieben Einzelfragen zerlegt, und am Schlüsse einer jeden
finden wir die Resultate der Untersuchung kurz zusammengefaßt, wodurch dem
Leser die Uebersicht erleichtert wird. Die Einzelfragen mögen hier anstatt einer
detaillirteren Inhaltsangabe Platz finden. Es sind folgende: Auf welchen
Beifügungen ruht überhaupt die Möglichkeit, daß wir Raumanschauung be¬
komme!? köunen? Wie wird diese Möglichkeit zu wirklicher Rnnmanschannng?
Wodurch erhält die Raumanschauung ihre Eigenthümlichkeit? Wie entsteht
ans den Eigenthümlichkeiten der Raumanschauung die Erkenntniß der geome¬
trischen Axiome? Ist es denkbar, daß der Raum noch andere Eigenthümlich¬
keiten habe? Wäre es möglich, daß wir veränderte Eigenthümlichkeiten des
Raumes und daraus folgende veränderte geometrische Axiome erreichen könnten?
Welchen Grad der Sicherheit haben also die Eigenthümlichkeiten und Gesetze
der Raumanschauung, welche die Axiome der Geometrie aussprechen? Die Be¬
antwortung dieser Fragen knüpft überall an die Bekämpfung der Helmholtz'-
schen Theorie an und findet im Sinne des Apriorismus statt. Auf die
Mathematik und eigentliche Hypergeometrie ist dabei leider wenig Rücksicht
genommen, wo es geschieht, geschieht es ohne tieferes Verständniß für die Sache.
Der Verfasser scheint sogar zu glauben, daß hinter der Niemann'scheu Hyper¬
geometrie eine ganz besondere mathematische Weisheit stecke, während doch
Riemann, soweit sich aus seinen abgerissenen Auslassungen ein Schluß ziehen
läßt, von der Raumgeometrie ans nur einen analytisch verallgemeinernden
Schritt machte, ähnlich dem, welchen man zu unternehmen genöthigt ist, wenn
man von der ebenen Geometrie zur räumlichen übergeht. Den Beweis, daß
eine derartige Verallgemeinerung noch Boden unter den Füßen behalte, hat
er zu führen unterlassen. Er hat wohl auch schwerlich einen Beweis gehabt,
was anzunehmen man umsomehr berechtigt ist, als Riemann sich bei dieser
Frage in direkter Abhängigkeit von Gauß und Herbart befand. Wir sind des¬
halb geneigt, den ersten Theil der Schrift für den brauchbareren zu halten.
Das vierwöchentliche Gastspiel der Meininger in Leipzig ist vor wenigen
Tagen zu Ende gegangen. Am 15. November hat die treffliche Künstlerschaar,
nachdem sie sich mit jedem Tage mehr in der Gunst des hiesigen Publikums
befestigt und schließlich auch die in Leipzig ziemlich große Anzahl der Mi߬
trauischen, Spröden und Widerwilligen, die immer erst abwarten und horchen,
„wie's den andern gefallen hat", besiegt hatte, mit einer nochmaligen Wieder¬
holung von „Was ihr wollt" sich verabschiedet. Eine kleine Partei, deren
Provenienz und Gesinnung unschwer zu erkennen war, machte in der letzten
Woche ein paar Mal den Versuch, den allgemeinen Strom der Begeisterung
einzudämmen, erreichte aber damit, wie immer in solchen Fällen, weiter nichts,
als daß sie das Gegentheil ihrer Bemühungen beförderte: die Begeisterung
war, obwohl man das bei der enthusiastischen Aufnahme, die die Meininger
von vornherein gefunden, kaum für möglich hätte halten sollen, bis zum letzten
Tage in fortwährendem Steigen.
Von den Aufführungen, die anfänglich in Aussicht gestellt waren, mußten
leider, wie es heißt, wegen der beschränkten Bühnenräume des alten Theaters,
in denen die mitgeführten Dekorationen nicht alle zu verwenden waren, die
Kleist'schen Stücke („Käthchen von Heilbronn" und „Prinz von Homburg")
wegfallen. Es war dies namentlich um des ersteren Stückes willen zu bedauern,
dessen Darstellung durch die Meininger noch überall bis jetzt als die Perle
aller ihrer Leistungen bezeichnet worden ist. So beschränkte sich denn das
Repertoire seit unserm ersten Bericht auf folgende vier Aufführungen: „Fiesco"
(fünfmal), „Wintermärchen" (dreimal), Grillparzer's „Esther" und Moliere's
„Kranker in der Einbildung" zusammen an einem Abend (dreimal) und
„Wilhelm Tell" (viermal).
Die Wahl dieser Stücke ist zum Theil eine etwas gewagte. Ich denke
dabei weniger an das zweiaktige Grillparzer'sche Fragment, das allerdings nur
bis zu Esther's Erhebung zur Königin geführt ist und über die geplante Fort-
Setzung keine Andeutung enthält, aber doch in der großen Schlußszene zwischen
Ahasver und Esther, die ebenso durch feine Seelemnalerei wie dnrch drama¬
tische Steigerung hervorragt, einen befriedigenden interimistischen Abschluß findet.
Mit der Aufnahme dieses Bruchstückes in ihr Repertoire haben die Meininger
sogar einen guten Griff gethan. Bedenklich ist die Wahl des Shakespeare'schen
und des Moliere'sehen Stückes — übrigens merkwürdiger Weise der letzten
Stücke, die beide Dichter vor ihrem Tode geschrieben. Das „Wintermärchen",
die Bearbeitung eines Greene'schen Ritter- und Schäferromans, ist eins der
wunderlichsten Produkte der Shakespeare'schen Muse: ein Schauspiel, das eigent¬
lich in zwei Schauspiele zerfällt, in den ersten drei Akten eine düstere Tragödie
der Eifersucht mit scheinbar tragischen Ausgange, in den letzten beiden ein
halb sentimentales, halb possenhaftes Idyll, an dessen Schluß die vorausge¬
gangene Tragödie einen heiteren Ausgang findet, die zwischen beiden Hand¬
lungen liegende Kluft aber phantastisch überbrückt durch ein Mittelding von
Epilog und Prolog, der der Allegorie der „Zeit" in den Mund gelegt ist.
Dazu die tolle Phantastik, mit der der Dichter — in engem Anschluß an seine
Quelle — mit Geographie und Geschichte umspringt: zwei Fürsten, Polyxenes
und Leontes, von denen der eine über Böhmen, der andere über Sicilien
herrscht, in gastfreundschaftlichem Verkehr mit einander; Hermione, die Gemahlin
des Letzteren, eine Tochter des Kaisers von Rußland; die Unschuld der Hermione
bewiesen durch ein Apollonorakel, das von der „Insel" Delphi in einem gothischen
Reliquienschrein gebracht wird; Böhmen an der Meeresküste liegend; im Innern
des Landes arkadische Schäfer, die sich an dem altenglischen Schafschurfeste
ergötzen; Giulio Romano als Bildhauer und Verfertiger einer Statue der
Hermione — von all' der andern märchenhaften Zuthat zu schweigen — wie
soll sich das heutige Publikum zu einer solchen Schöpfung stellen! Und nicht
viel anders, wenn auch immerhin etwas anders, verhält sich's mit dem Lust¬
spiele Moliere's, Die übermüthige Satire, mit der der Dichter sich hier selbst noch
am Rande des Grabes in der Figur des Argau dem Gelächter der Masse
Preisgibt, verzweifelnd, daß alle Mittel der Heilwissenschaft ihn im Stiche- ge¬
lassen, und der grausige Galgenhumor, mit dem er die ganze Arzneikunst als
eitel Quacksalberei und Charlatanerie verspottet, die blos die Dummheit der
Menschen aufhenke -— wie steht einem solchen Tendenzstücke, trotz allen An¬
hangs, dessen sich die Wasserdokterei und der Geheimmittelschwindel gegenwärtig
erfreut, doch im Ganzen das verständige und aufgeklärte Publikum unserer
Tage gegenüber? Es gehört entschieden eine gute Dosis kultnr- und literar-
geschichtlichen Interesses dazu, um an solchen Stücken volle Freude zu haben,
und ihr allgemein menschlicher und poetischer Gehalt würde nicht ausreichen, sie
jetzt über Wasser zu halten, wenn es der Darstellung uicht gelingt, auch dem
gewöhnlichen Zuschauer aus der großen Masse mit unentrinnbarer Gewalt
wenigstens eine Ahnung von ihrer kultur- und literargeschichtlichen Bedeutung
zu geben. Daß aber den Meiningern das gelingt, darin vor allem liegt
die Glanzseite ihrer Bühnenleistnngen.
Schon bei der Aufführung der „Räuber" habe ich es hervorgehoben, daß
eine solche Darstellung, wie die Meininger sie geben, mehr wirke als eine ganzes
Kapitel Kulturgeschichte. Bei dem „Kranken in der Einbildung" hatte man
vollkommen wieder diesen Eindruck. Wer französische Kupferstiche aus dem
Ende des 17. Jahrhunderts gesehen, der hätte glauben können, daß solche
Kupferstiche hier lebendig geworden wären. Eine solche Wirkuug wird aber
mit aller Treue der Dekorationen, Kostüme und sonstiger Requisiten nicht
erreicht, worin die Verkleinerer der Meininger so gern deren einzigen Vorzug
sehen möchten, wenn nicht das ganze Spiel mit diesen Aeußerlichkeiten harmonirt.
Es ist das eine ungemein schwierige Aufgabe, die selbst den Meiningern nicht
immer und überall, aber doch meistentheils gelingt. So wie das Moliere'sche
Lustspiel gespielt wurde — ich sage gespielt, uicht ausgestattet — so, könnte mau
meinen, sei es vor zwei Jahrhunderten ans der französischen Bühne zu sehen
gewesen. Aehnliches aber gilt von der Aufführung des „Wintermärchens".
Hier überragte der Glanz der Jnszenirung natürlich um das zehnfache das, was
die altenglische Bühne darin geleistet haben mag. Aber das ist eine Aeußer-
lichkeit. Daß uns aber in der Aufführung namentlich in den letzten beiden
Akte» ein echter Ton aus des Dichters Zeit herüberzuklingen schien, daß das
Pfingstfest der böhmischen Schäfer z. B. mit so entzückender Frische und
Natur vorgeführt und von allem widerlichen Balletparfüm der modernen
Bühne rein gehalten wurde, das ist es, was wir den Meiningern vor allem
hoch anrechnen.
Was wir von den ersten drei Vorstellungen der Meininger gerühmt, ist
fast allenthalben durch die späteren Aufführungen bestätigt worden. Dieselbe
Korrektheit, Sicherheit und Abrundung des Spiels, wie sie nur durch anhal¬
tendes, gewissenhaftes Studium erreicht werden kann, dieselbe subtile Aus¬
arbeitung im Detail, dieselbe Echtheit und Treue in den Dekorationen und
im Kostüm, dieselbe lebensvolle Aktion der Massen, wie alles dies vom ersten
Tage an uns entgegengetreten, so war es in jeder folgenden Aufführung von
neuem zu bewundern. Dekorationen wie das Zimmer im dritten Akte des
„Fiesco" mit dem Allsblick ans Genua in der wechselvollen Beleuchtung des
anbrechenden Tages, im „Tell" die Nachtszene auf dem Rutil wiederum mit
dem Sonnenaufgange auf den Bergen, vor allem aber der mit größter archä¬
ologischer Treue hergestellte assyrische Königspalast in der „Esther" und das
in seiner Totalwirknng unvergleichlich schöne Arrangement der Schlußszene
des „Wintermärchens", die Wiederbelebung der Hermione, gehören zu dem
Besten, was wir je der Art auf der Bühne gesehen. Unter den Massenszenen
heben wir als besonders gelungen namentlich die Erstürmung von Doria's
Palast im „Fiesco", und im „Wintermärchen" die großartige Gerichtsszene
hervor. Die Volksszenen im „Tell" blieben etwas hinter unsern Erwartungen
zurück. Möglicherweise waren die Intentionen der Meininger hier durch deu
beschränkten Raum der alten Leipziger Bühne in ihrer vollen Entfaltung ge¬
hemmt.
Auf der audern Seite können wir freilich nicht verschweigen, daß die
Gefahren, mit denen technische Virtuosität immer verknüpft ist, auch diesmal
wieder sichtbar wurden. Das Bedenken zwar, das wir nach den ersten Vor¬
stellungen äußerten, als ob die glänzende und historisch getreue Ausstattung
von der Handlung abziehe, möchten wir nicht aufrecht erhalten; es ist mit
jeder Vorstellung mehr geschwunden. Derartige Dinge ziehen ab, so lange sie
etwas Neues, Ungewohntes sind. In den späteren Vorstellungen gewöhnte
man sich daran, sie als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und schenkte
ihnen keine größere Aufmerksamkeit mehr, als sie beanspruchen dürfen. Dagegen
hatte das Streben nach möglichstem Naturalismus auch diesmal wieder einzelne
verletzende Momente. Dahin rechnen wir das ununterbrochene Volksgemurmel
aus der Straße, welches die Szene in Fiesco's Palast zwischen Fiesco und
den Handwerkern begleitete. Dieses monotone Getöse, das mit dem Murren
einer ciufgeregteu Volksmasse nicht einmal rechte Ähnlichkeit hatte, war sehr
störend. Man hörte z. B. deutlich eine Stimme heraus, die unausgesetzt mit
häßlicher Eintönigkeit vor sich hinplärrte: Fiesco, Fiesco, Fiesco, Fiesco ....
Das wäre komisch gewesen, Wenn's nicht eben ärgerlich gewesen wäre. Be¬
denklich ist es auch, wenn die Vorliebe für interessante Dekorationen dazu
verleitet, von den bestimmten Vorschriften des Dichters abzugehen, wie es z. B.
im ersten Akte des „Fiesco" der Fall war. Hier schreibt Schiller vor: „Saal
bei Fiesco". Bei dem Mordversuch des Mohren heißt es: „Fiesco tritt vor
einen Spiegel und schielt über das Papier. Der Mohr geht lauernd um ihn
herum, endlich zieht er den Dolch und will stoßen." Die Meininger verlegen
diesen ganzen Akt in einen Hof von Fiesco's Palast mit Treppenaufgängen —
allerdings ein prächtiger, höchst wirkungsvoller Anblick, aber die Ergreifung
des Mohren verliert dabei alle Wahrscheinlichkeit.
Man hat behauptet, daß es sehr wohlfeil sei, eine Durcharbeitung und
ein Studium, wie es die Meininger zeigen, andern Bühnen als Muster auf
zustellen; es sei eine Thorheit, von Theatern, die darauf angewiesen seien, ihrem
Publikum stets neue Stücke vorzuführen, ein solches nur ausnahmsweise er¬
reichbares Virtuosenthum in der szenischen Detailmalerci oder Ausstattungen,
die sich eben nur dnrch das Hernmgastiren in den verschiedensten Städten,
durch die immer neue Schaustellung bezahlt machen können, zu verlangen.
Daran ist gewiß etwas Wahres. Wenn sich aber einmal eine andere Theater¬
direktion, als die Meiniugische, ernstlich dahinter setzte und dieses „ausnahms-
weise erreichbare Virtuosenthum" eben durch ausnahmsweise angewendete
Mühe und Sorgfalt erreichte, sollte sich dieser Eifer dann nicht auch aus¬
nahmsweise belohnen? Und wenn derartige erfreuliche Ausnahmen sich öfter
wiederholten, sollten sie nicht allmählich die Regel bilden können? Die Meininger
haben mit sieben, sage sieben Vorstellungen einen Monat lang ein volles Haus
erzielt, sie haben ein und dasselbe Stück fünf und sechsmal hintereinander
beinahe vor ausverkauftem Hause gespielt, während gleichzeitig auch jeden
Abend im neuen Theater Vorstellung war und Herr Dr. Förster sich auch dort
gewiß nicht über mangelnde Schaulust zu beklagen gehabt haben wird. Wenn
nun Herr Dr. Förster eine Vorstellung, ich will einmal sagen, von Goethe's
„Egmont" ausnahmsweise mit aller Gediegenheit und Sauberkeit vorbereitete
— das erste Mal würde er vielleicht kein besonders glänzendes Geschäft damit
machen, weil viele aus wohlbegründeten Mißtrauen fern bleiben würden. Aber
würde es nicht einer dem andern sagen? Würde es nicht heißen: „Das mußt
du gesehen haben, das ist wirklich einmal eine gute Aufführung?" Und würde
uicht Herr Dr. Förster, unbesorgt um seine Kassenerfolge, eine solche Vorstellung
im Laufe des Monats ebensogut wie die Meininger fünf, sechs Mal wieder¬
holen können? Und wenn dann derartige Vorstellungen sich mehrten? — Wenn
freilich zu einer fünftägigen angeblichen „Goethefeier" fünf Goethe'sche Schauspiele
hinter einander abgeschnurrt werden in einer Form, die der Direktion entschieden
selber keine Freude machen kann, geschweige denn dem Publikum, dann ist es
kein Wunder, wenn nach einer Wiederholung solcher Vorstellungen sich kein
Verlangen zeigt, und wenn die Direktion „darauf angewiesen ist, ihrem Publikum
stets neue Stücke vorzuführen."
Nicht viel wahrer aber ist auch das andere, was man mit Bezug auf
die Meininger und um vor einer Ueberschätzung ihrer Leistungen zu warnen
gesagt hat, daß nämlich ein trefflich geschultes Ensemble eine höhere Vortreff¬
lichkeit lüge, als es besitze; es täusche über die einzelnen Kräfte durch die
Harmonie der Gesammtwirkung; Anfang und Ende aller Kunst bleibe immer
die schöpferische Genialität der Darsteller. Das Letztere kann man ja getrost
zugeben. Aber da die „genialen" Darsteller eben gerade so selten sind, wie die
„genialen" Dichter — man kann sie in der Geschichte der Schauspielkunst an
den Fingern herzählen —, so wird man eben immer mit den vorhandenen
Kräften rechnen und damit das Beste zu leisten suchen müssen. Die Bühne der
Meininger bietet „Vorstellungen mittlerer Kräfte, die uns ein abgerundetes
Ensemble zeigen", andere Bühnen vielfach „Vorstellungen mittlerer Kräfte, wo
dieses Ensemble fehlt". Wo liegen da die „unleugbaren künstlerischen Vorzüge"?
Leider müssen wir es uns versagen, auf die Bedeutung einzelner schau¬
spielerischer Kräfte der Meiniuger nochmals einzugehen. Ueber manche von
ihnen hat sich, wie dies ja nicht ausbleiben konnte, unser Urtheil etwas ver¬
schoben, nachdem wir die späteren Vorstellungen gesehen. Bei weitem für die
bedeutendste Kraft möchten wir Herrn Hellmuth-Bräu erklären; er hat auch in den
späteren Aufführungen (als Verrina, Mardochai, Stauffacher) immer nur die
reifsten, edelsten Gaben geboten; er ist ein ebenso Verständniß- wie geschmack¬
voller Künstler und zudem unterstützt durch treffliche äußere Mittel, vor
allem durch ein prachtvolles, breit und klangreich austönendes Organ; Herr Hell¬
muth-Bräu spricht, wie Stockhausen singt — oder sang, muß man ja leider
sagen. Für Musiker wäre damit genug gesagt. Eine zweite Kraft, Herrn Nesper,
glauben wir Anfangs etwas überschätzt zu haben; sein Fiesco, sein Ahasver,
sein Tell haben uns nicht denselben tiefen Eindruck gemacht, wie sein Antonius
und sein Karl Moor. Unleugbar ist Herr Nesper von der Natur verschwen¬
derisch mit Anlagen und Mitteln zur darstellenden Kunst ausgerüstet; aber es
sind eben doch diese natürlichen Mittel, die in seinem Spiel etwas dominiren.
Durchaus nicht gerecht geworden sind wir dagegen bis jetzt Frl. Habelmann; ihre
Julia, Hermione, Hedwig und — Tvinette zeigten sie als eine viel bedeuten¬
dere Künstlerin, als wir Anfangs glaubten. Eine lauge Reihe von Namen
aber schließt an diese drei sich an — Frl. Pauli (Leonore, Esther), Frau Berg
(Paulina, Zares, Gertrud), Frl. Grevenberg, Frl. Werner, die Herren Godet
(Andreas Doria, Walter Fürst), Teller (Autolytus, Haman, Geßler), Kober
(Hassan, Attinghansen), Hassel, Pückert, Richard, Heine, Görner, Kainz u. A,
die Godet'schen Kleinen nicht zu vergessen, die ihre Sache immer so prächtig
machten —, die vor vier Wochen uus sammt und sonders fremd gegenüber¬
traten und die uns nun alle lieb und vertraut geworden sind, weil mit jedem
von ihnen eine Anzahl fein ausgearbeiteter poetischer Charakterköpfe verknüpft
ist, welche in unserer Erinnerung nicht so bald verblassen werden.
Wie man hört, ist das Gastspiel der Meiuinger in Leipzig pekuniär zur
vollen Zufriedenheit der Betheiligten ausgefallen. Die Gäste haben einen er¬
klecklichen Reingewinn mit hinweggenommen, und Herr Dr. Förster soll — und
zwar, was entschieden das Hübscheste bei der Sache ist, ohne einen Finger
krumm zu machen — das nette Sümmchen von 20,000 Mark als vierwöchent¬
liches Pachtgeld für das alte Theater von seinen Gästen eingestrichen haben.
Wir haben in unserer vorigen Besprechung es als einen rüthselhaften Muth
des Leipziger Theaterdirektors bezeichnet, das Gastspiel der Meininger zu ver-
anlassen oder zu gestatten. Angesichts der letzteren Thatsache verliert dieser
Muth natürlich alles Räthselhafte.
Der in Leipzig bestehende „Verein der Theaterfreunde", eine Verewigung
von Männern, die den angesehensten Kreisen der Stadt angehören und sich die
Aufgabe gestellt haben, eine Art aesthetischer Hochwände über unsere Bühne zu
halten, damit die Würde derselben von denen, denen sie in die Hand gegeben,
auch gewahrt werde, und damit nicht gegenüber dem „Tondrameu"-Humbug
und der Vorliebe für das französische „Sittengemälde" und das Wiener „Volks¬
stück" am Ende gar das klassische Schauspiel für obsolet erklärt werde, hat
den Meiningern bei ihrem Weggange von Leipzig in der hiesigen Tagespresse
folgenden warmen Scheidegrnß zugerufen:
„Die hehren Kunstgenüsse, welche uns das Gastspiel der Meininger Hof¬
schauspieler bereitet, sind nnn zu Ende. Im Sturm hat diese unvergleichliche
Kunstgenossenschaft die Herzen aller Kunstfreunde erobert, und was sie als
lebendige Wirkung, als nnvergiiugliches Andenken an uns zurückläßt, das steht
hoch und unerreichbar über jeglichen Splitterrichtereien. Höchster und souverainer
Richter im Theater ist und bleibt das Publikum. Und das war das alte
Leipzig wieder, das in Hellem Jubel diesen Gaben wahrer Kunst zujauchzte.
Mit Stolz und Freude dürfen wir es heute aussprechen: der viel gerühmte,
oft bethätigte und uur scheinbar manchmal in Ruhestand tretende Kunstsinn
Leipzig's, hier ist er aus's Glänzendste wieder in die Erscheinung getreten.
Mögen die Meininger Hofschauspieler, wie sie es allabendlich aus dem fast
überreichen Beifallssegen entnehmen konnten, mit dem Bewußtsein scheiden:
das Publikum — und für dieses haben sie ja Wohl in der Hauptsache ge¬
spielt — ist durch ihre Aufführungen zu einem Enthusiasmus hingerissen
worden, wie ihn nur ein reiner und voller Genuß zu erzeugen vermag, und
es wird unbeschadet der billigen Würdigung dessen, was für Andere über¬
haupt erreichbar oder nicht erreichbar erscheint, den Maßstab nicht aus den
Augen verlieren, der ihm hier für dramatische Aufführungen gegeben worden
ist. Denn abgesehen von dem rein äußeren Glanz sind es vor Allem zwei
Dinge, die aus jeder Aufführung der Meininger uns in tausend Variationen
entgegentraten und die, da sie Nichts kosten, für jede Bühne erreichbar oder
durchführbar sind: der eminente Fleiß, der auf das Einstudiren der Stücke,
und die Fülle von Geist und Geschmack, die auf die gesammte Jnszeuesetzung
verwandt sind. So rufen wir denn den Meininger Hofschanspielern als
Scheidegruß zu: Dank, wärmsten Dank für alle die schonen Gaben echter
und rechter deutscher Kunst, und auf baldiges, recht baldiges Wiedersehen!"
Nun, mit dem Wiedersehen wird es gute Weile haben. In deu Abschieds¬
worten, die Direktor Cronegk nach der letzten Vorstellung und nachdem eine
Fülle von Blumen den Darstellern zugeworfen worden war, an das Publikum
richtete, betonte er mit einem nicht mißzuverstehender Seitenblick auf die Direk¬
tionsloge des Herrn Dr. Förster, daß „in den nächsten Jahren" wohl schwerlich
an eine Wiederkehr zu denken sein werde. Aber diese „nächsten Jahre" werden
auch vorübergehen, und inzwischen wappnen wir uns mit Geduld, die nach
dem alten Sprüchlein: llpsia vri.1t 6X8p6Lori sich ja nirgends besser lernt als
Geschichte der Pädagogik als Wissenschaft. Nach den Quellen dargestellt von
August Vogel. Gütersloh, Bertelsmann 1877.
Der durch verschiedene Arbeiten auf dem Gebiete der Pädagogik, insbeson¬
dere durch seine „Methodik des gesummten deutschen Unterrichts, Gütersloh
1874" rühmlichst bekannte Verfasser bietet in diesem Werke eine Geschichte der
systematischen Pädagogik von Plato bis herab auf Beneke. Nach einem kurzen
Ueberblick über die Anfänge der Pädagogik bei den Chinesen, Juden und
Griechen werden von S. 13—60 die pädagogischen Systeme des Plato und
Aristoteles abgehandelt, dann die Stellung charakterisirt, welche das Christen¬
thum und die erste christliche Kirche in Beziehung auf Erziehung und Unter¬
richt einnahmen, und die Anregungen, welche von jenem Kreise ausgingen, in
gedrängter Kürze besprochen, darauf werden S. 89—148 die Systeme von
Comenius, Montaigne, Locke und Rousseau, sodann S. 157—303 die von
Pestalozzi, Kant (Niemeyer, Schwarz), Fichte, Schelling (Gräser), Schleiermacher
und Hegel (Rosenkranz) behandelt. Den Schluß bildet von S. 323—381 der
„kritisch-reale Naturalismus", vertreten durch Herbart (Waitz) und Beneke.
Wie das Vorwort besagt, hat der Verfasser beabsichtigt, dnrch sein Werk
eine Lücke in unserer pädagogischen Literatur auszufüllen. In der Geschichte
der Pädagogik, meint er, würden die von verschiedenen Denkern aufgestellten
Pädagogischen Systeme meist nnr ganz nebenbei abgehandelt, zudem der Fort¬
schritt der Ideen nicht von einem einheitlichen Prinzip aus entwickelt, endlich
auch die Darstellung „objektiver Thatsachen mit subjektiven Gebilden derart
verquickt, daß sie oft unterschiedslos in einander überflossen." Als die einzige
erwähnenswerthe Vorarbeit, die er für dies sein Werk habe benutzen können,
bezeichnet er das Buch von Strümpell „Die Pädagogik der Philosophen Kant,
Fichte und Herbart, 1843."
Das Buch leistet das, was es verspricht. In ruhiger, objektiver Weise
werden die pädagogischen Theorien der obengenannten Philosophen und philo-
sophirenden Pädagogen dargelegt, nur zum Schlüsse der einzelnen Abschnitte
verstattet der Verfasser sich jedesmal eine kurze Kritik, beziehentlich einen Nach¬
weis des „Fortschritts über die Vorgänger hinaus". Von den einschlägigen
Hauptwerken wird jedesmal ein gedrängtes Referat gegeben. Im Uebrigen ist man
freilich darauf angewiesen, dem Verfasser auf seiue Versicherung hin, daß er
„nach der Quelle" dargestellt habe, Glauben zu schenken, denn Verwei¬
sungen ans Quellen und Hilfsmittel finden sich fast nirgends. Für einen
Leserkreis, wie ihn der Verfasser doch von vornherein im Auge haben mußte,
d. h. für einen Leserkreis von Fachgenossen (denn welcher „Gebildete" liest heut¬
zutage dergleichen Werke zu seiner Orientirung und Erbauung?) hätte nach
dieser Seite wohl etwas mehr geboten werden müssen, zumal bei Erörterung
dispntabler Punkte.
Da nur „die Pädagogik als Wissenschaft" in Betracht kommen sollte, so
werden z. B. die Verdienste der Stoiker um Theorie und Praxis der Päda¬
gogik ebenso wenig auch nur erwähnt als alles das, was das Römerthum
auf diesem Gebiete geleistet hat. Die Kirchenväter werden in wenigen Zeilen
abgehandelt, ebenso die Humanisten und Pädagogen des Reformationszeitalters.
Nur die Titel der Werke, in welchen allgemeine erziehliche oder didaktische
Fragen von denselben abgehandelt worden sind, werden kurz erwähnt. Es
soll mit dem Verfasser deshalb nicht gerechtet werden. Da keine der bezeichneten
Gruppen ein schnlgerechtes pädagogisches System zu Stande gebracht
hat, so waren sie konsequenter Weise nach dem Plane des Werkes gar nicht
oder doch nnr ganz beiläufig zu erwähnen. „Wissenschaft" im strengen Sinne
sind aber jedenfalls die Herzensergießungen Montaigne's und Rousseau's über
pÄsäk>,MAiea nicht viel mehr, als die so eingehenden Erörterungen über Er-
ziehung im Allgemeinen und einzelne Gebiete derselben bei Cieero, Quintilian,
Plutarch und späterhin bei Erasmus, Wimpfeling, Melanchthon und Sturm,
Ebensowenig wird sich behaupten lassen können, daß die Pädagogik des Plato
und Aristoteles aus den obersten Prinzipien ihrer Systeme sich mit solcher Noth¬
wendigkeit entwickelt habe, daß die Ausführungen derselben das Prädikat der
Wissenschaftlichkeit für sich voll in Anspruch nehmen dürften; daß beide großen
Denker auf diesem Gebiete nicht nur nationalen Vorurtheilen und Herkömm¬
lichleiten, sondern auch persönlichen Liebhabereien (um nicht zu sagen: Schrullen)
reichlich Rechnung getragen haben, das darf man bei allem schuldigen Respekt
offen aussprechen. Jedenfalls berührt es doch seltsam, wenn die ganze Arbeit
in theoretischer Pädagogik, die zwischen Aristoteles und Amos Comenius liegt,
so kurz abgethan wird, daß kaum ein paar Namen und Titel angeführt sind,
während späterhin Montaigne auf 8, Gräser ans 27 Seiten behandelt werden.
Ob der ehrenwerthe Niemeyer, der — wie der Verfasser selbst zugibt — wenn
auch vom Kantianismus ausgehend, doch als echter Eklektiker aus der Päda¬
gogik der vorhergehenden Jahrhunderte Gutes und Brauchbares in seine
„Grundsätze der Erziehung" aufgenommen hat, wo und wie er es eben fand,
in der Geschichte der Pädagogik „als Wissenschaft" einen Rang einzunehmen
hat, wie der Verfasser ihn demselben zuerkennt, jedenfalls also einen Rang,
dessen Quintilian, Plutarch, Chrysostomus, Augustin u. A. vom Verfasser nicht
gewürdigt worden sind, darüber läßt sich denn doch streiten.
Doch genug der Erörterung über diesen Punkt. Nochmals sei ausdrücklich
zugestanden, daß der Verfasser, wenn er einmal eine Geschichte der pädago¬
gischen Systeme geben wollte (so hätte der Titel vielleicht besser gelautet),
nicht wohl anders verfahren konnte, als er verfahren ist. Jedenfalls ist sein
Buch ein sehr dankenswerthes Hilfsmittel für alle die, welche zur grauen
Theorie der pädagogischen Systematik sich besonders hingezogen fühlen. Res.
kann auch mit gutem Gewissen hinzufüge,:: ein ^verläsfiges; bei achtsamer
Lektüre sind ihm nur wenige und unerhebliche Unrichtigkeiten aufgefallen; auch
den Eindruck hat er erhalten, daß der Verfasser Subjektives möglichst fernge¬
halten und, insoweit es doch eingemischt werden mußte, Licht und Schatten
wenigstens mit maßvoller und gerechter Hand vertheilt hat.
Druck und Ausstattung sind sehr gut, fast opulent. Besondere Aner¬
kennung verdient auch die große Übersichtlichkeit des Buches, zu der der
Drucker redlich mitgeholfen hat; Hauptsächliches und Nebensächliches hebt
sich im Druck sehr gut von einander ab. Ein besonderer Index ist dem Werte
nicht beigegeben worden, ist aber auch entbehrlich, da die Inhaltsübersicht über
die 2Z Kapitel, in welche der Verfasser seinen Stoff zerlegt hat, eine ausrei¬
Der rühmlichst bekannte Jugendschriftenverlag von Julius Hoffmann
in Stuttgart hat ein früher von ihm Jahrelang mit Erfolg betriebenes
Unternehmen wieder aufgenommen: „Das Buch der Welt." Es erscheint in
monatlichen Heften unter dem Titel „Das neue Buch der Welt" in groß
oktav. Jedes Heft enthält sechs Bogen Text und drei Tafeln in Holzschnitt
oder Farbendruck. Bis jetzt liegen zwei Hefte vor, welche wohl ein Urtheil
über die Absicht der Verlagshandlung erlauben. Dieses Urtheil muß im Ganzen
dem jungen Unternehmen nur günstig sein. Als Leser dieser schön ausgestatteten,
inhaltreichen Heste denken wir uns freilich trotz des Titels „Familienblatt für
Jung und Alt" vorzugsweise die heranwachsende Jugend. Deun die „Alten"
dürften durch solche feuilletouistische Erzählungen über Blücher oder durch
einen dreiseitigen Artikel über Johannes Gutenberg kaum die erwünschte Er¬
weiterung ihres Wissens erfahren. Aber für die Jugend ist dieses Buch
sehr empfehlenswert!). Die bisherigen Illustrationen, Farbendruck sowohl wie
Holzschnitt, zeigen eine wahrhaft künstlerische Vollendung. Die geschichtliche»
Artikel (im Erzählungsgewande), soweit sie der deutschen Vergangenheit ent¬
nommen sind, verdienen vom nationalen Standpunkt aus alles Lob. Dagegen
muß gegen die Art und Weise, wie zu Ehren des verkommenen Stuart Karl II.
Cromwell's ehrwürdige Größe herabgesetzt wird, nachdrücklich protestirt werden,
um so nachdrücklicher, als dieses Buch für die kritiklose Jugend bestimmt ist,
und die falschen Grundlinien, die hier für ein Bild Cromwell's ausgegeben
werden, in manchen der jungen Leser ihrer Lebtag haften bleiben werden.
Bei weitem besser ist die Verlagshandlung in den naturwissenschaftlichen Sachen
bedient, von denen die beiden ersten Hefte schon eine ganze Anzahl enthalten:
„Distelfinken im Hag", „Auf Sumatra" (von Weinland>, „Die neueste Er¬
rungenschaft des Menschengeschlechts" (von Bernstein), „Ein Tag auf dem User
des Colorado" (von Balduin Möllhausen), Karl Linnäus (von Weinland), „Tag-
und Nachtleben in der Natur (von demselben), Prozessionsspinner und Raupen¬
jäger (von Dr. Gustav Jäger) und endlich den Hauptinhalt des ersten Bandes
von M. Stanley's letzter großen Reise durch Afrika. Das ist gesunde, gehalt¬
reiche Lektüre, für den deutscheu Idealismus sorgen die historisch-erzählenden
Artikel, solche aus der Kultur und Kunstgeschichte sollen sich später anreihen.
Im Ganzen kann man dem Unternehmen wie gesagt ein freundliches Glückauf
zurufen!
Auf zwölf Bände hat es nun schon Julius Lohmeyer's „Deutsche
Jngend" gebracht (Leipzig, A. Dürr), und sie hat damit weit mehr als den
dürftigen Unterstützungswohnsitz nach dem dürren Buchstaben des Rechtes, sie
hat das schöne Ehrenbürgerrecht der deutschen Heimath sich erworben. In
jedem deutschem Hause, das mit Kindern gesegnet ist, ist sie der sehnlichst er¬
wartete Freund, der zur bestimmten Zeit in die Thüre tritt und immer nur
Neues und Gutes bringt. Und sie verdient diesen freundlichen Willkomm, denn
immer noch hat sie eher übertroffen, was sie versprochen, als nicht eingehalten,
immer ist das Streben der Herausgeber, Ausgezeichnetes zu leisten, gewachsen
mit der Gunst des Volkes für dieses gediegene Unternehmen.
Die russische Operationsarmee in Asien hatte nach der Schlacht bei Zewin
am 25. Juni das bereits besetzte türkische Gebiet bis auf Ardahan und kleine
Grenzstriche aufgeben müssen und stand mit allen ihren Theilen wieder ganz
in der Nähe der russischen Grenzen, oder selbst auf russischem Gebiete. Auch
hier wie in Europa wurden jetzt Verstärkungen herangezogen; zum Theil fand
auch eine Verschiebung von Truppentheilen statt.
Als Verstärkung waren nach dem Kaukasus entsandt die 1. Grenadier-
(Moskau) und die 40. Infanterie - Division (Ssaratow) mit den zugehörigen
Artilleriebrigaden, zusammen 24 Bataillone und 12 Batterien, dazu traten
3 Kasaken-Regimenter und ein irreguläres Regiment aus dem Bezirke Tiflis
oder 16 Eskadrons. Es dauerte aber Monate lang, ehe die beiden Divisionen
zur Stelle sein konnten. Die verschiedenen Kolonnen wurden während der
zunächst eintretenden Beobachtungspanse zusammengesetzt wie folgt:
Das Rion-Detachement hatte beträchtliche Kräfte nach dem Küstenge¬
biete des Kaukasus abgegeben. Es konnte in der Stellung von Mucha-Estate
sich nur rein defensiv verhalten; dazu genügten aber in guter Stellung schwache
Kräfte, während die Aufgaben der andern Kolonnen dringend Verstärkung er¬
heischten, so daß alle verfügbar werdenden Truppentheile diesen zugewiesen
werden mußten. Das Rion-Detachement behielt von den ursprünglichen
29 Bataillonen, 20 Eskadrons, 10 Batterien nur 15 Bataillone, 20 Eskadrons
und 6 Batterien, dabei von regulären Truppen nur die 41. Division ohne das
162. Infanterie-Regiment (welches im Innern Kaukasien's stand), 1 Schützen-
und 1 Sappeur-Bataillon.
Die Alexandrapol-Kolonne hatte 30 Bataillone, 93Mkadrons und
16 Batterien gezählt; ihr wurden die beiden neuankommenden Divisionen,
1 Brigade der 38. Division, einige einzelne Infanterie-Regimenter und -Batail¬
lone, 2 Schützenbataillone, ferner die neu eintreffenden Kasaken vom Ural
und Astrachan, das irreguläre Regiment sowie eine Anzahl detachirt gewesener
Batterien zugetheilt. Dadurch kam sie zuletzt auf 66 Bataillone, 114 Eska¬
drons und 30 Batterien.
Auch die Eriw an-Kolonne wurde durch 1 Regiment der 19. Division
und je 1 Brigade der 38. und 39. Division nebst Batterien, und eine Anzahl
Kasaken verstärkt, so daß sie von 9 Bataillonen, 20 Eskadrons und 7 Bat¬
terien auf 27 Bataillone, 26 Eskadrons und 12 Batterien gebracht wurde.
Im Ganzen zählte die Armee nun 108 Bataillone, 160 Eskadrons, 48 Bat¬
terien oder rund 110,000 Köpfe.
Die Stärke der türkischen Truppen wurde für die neue Operations¬
periode folgendermaßen geschützt: Bei Batna verfügte Derwisch Pascha über
rund 17,000 Mann; die Besatzung von Kars zählte 10,000 Mann, der Heer¬
theil Mukhtar Pascha's 30,000 Mann, und auf dem türkischen rechten Flügel
waren unter Ismail Hall Pascha 45,000 Mann vereinigt, zusammen also
102,000 Mann. Eine Ordre de Bataille ist hier nach wie vor nicht anzu¬
geben.
Die Operationen bei der Rion-Kolonne beschränkten sich für den Monat
August auf 2 Angriffe, die Derwisch Pascha am 13. und 24. August gegen
die russische Stellung unternahm, die aber, ohne zu heißen Kämpfen zu führen,
abgeschlagen wurden. Am 21. September versuchte Derwisch Pascha nochmals
durch eine Beschießung des Lagers, verbunden mit einem gleichzeitigen Bom¬
bardement auf Fort Se. Nikolai, die Russen zum Verlassen ihrer Stellung zu
bewegen. Auch dies mißlang, und bis in den November hinein herrschte dann
vollständige Ruhe.
Im Zentrum, zwischen Alexandrapol und Kars, standen sich die beidersei¬
tigen Heere bis Mitte August beobachtend gegenüber, die Russen in konzen-
trirterer Stellung um Kürjukdara, die Türken in etwas längerer Linie vorwärts
und südöstlich Kars von der russischen Grenze am Arya-Flusse über das un¬
zugängliche Aladscha - Gebirge bis zu den Höhen des Großen und Kleinen
Jagni, welche die beiden Straßen nach Kars beherrschen.
Am 8. August begannen hier nach mehrwöchentlicher Ruhe wieder die
Feindseligkeiten durch kleine Rekognoszirungen. Am 18. August, also noch vor
dem Eintreffen der zugesagten Verstärkungen, unternahm General Loris Melikow
eine große Demonstration, wenn es nicht mehr sein sollte. Auf der ganzen
Linie wurde ein Fenergefecht geführt, ein wirklicher Angriff aber gegen den
linken Flügel der türkischen Stellung geführt. Bei klarer Erkenntniß, daß mit
den vorhandenen Kräften gegen Mukhtar Pascha nichts auszurichten sei, wurde
das Gefecht nach einem Verluste von über 400 Mann abgebrochen. In der
Nacht vom 19. zum 20. August gelang der russischen Kavallerie (12 Eska¬
drons unter Fürst Tscharotschawadse), ein Ueberfall der Vorpostenkavallerie vor
dein türkischen Zentrum. Am 25. August versuchte Mukhtar Pascha seinerseits
einen Angriff auf den rechten Flügel der russischen Stellung bei Kürjuk-
dara, um diesen gegen die Grenze zurückzudrängen. Nach hartnäckigem Kampfe
von Tagesanbruch bis 5 Uhr des Nachmittags behaupteten die Türken schließlich
die Höhen von Kiön Tepe, wurden aber auf allen andern Punkten abgewiesen.
Die Türken gaben ihren Verlust auf 1200 Mann an, die Russen, denen allein
2 Generale verwundet wurden, hatten fast die gleiche Zahl von Leuten ver¬
loren. Die Türken, welche die genommene, nahe an die russische Stellung
heranreichende Höhe festhielten, die Flügel aber und ebenso ihr Gros unver¬
ändert stehen ließen, kamen dadurch in die Lage, mit einem Theile ihrer Kräfte
nach Norden, mit dem andern nach Osten Front zu machen, eine Stellung,
deren Gefahr sie erst später erkennen sollten.
Schon am 20. August war die Tete der russischen 40. Division, das
Regiment 158, am Arya-Flusse angekommen. Die Russen, welche Angesichts
der Aufstellung des türkischen rechten Flügels ohnedies einen Theil ihrer Kräfte
hinter den genannten Grenzfluß auf russisches Gebiet zurückgenommen hatten,
warteten nunmehr ruhig das Eintreffen der Verstärkungen ab, nur am 6. und
13. September überzeugten sich Rekognoszirungsabtheilungen, daß die Türken
ihre Stellungen unverändert festhielten. Auch türkischerseits wurde im Laufe
des September nichts mehr unternommen, denn Mukhtar wartete einen Erfolg
Ismail Hall Pascha's gegen den General Tergukassow ab.
Die Eriwan-Kolonne hatte, nach Befreiung der Garnison von Bajaset
am 10. Juli, sich bei Jgdyr konzentrirt und bewachte von hier aus die drei
Wege, welche über das Grenzgebirge auf die Straße Bajaset-Kars führen.
Von diesen ist der östlichste der von Bajaset über Orgow auf Jgdyr; ein
zweiter geht von Diadin über Mysun nach Osma, und von hier dann ein Weg
über Alikotschakski nach Jgdyr, ein anderer gerade nördlich nach Tscharuchtscha,
beide im weiteren Verlaufe auf Eriwcm; ein dritter Weg führt von Surp-
ohannes über Saribek und Abaskul nach Knip.
Während General Tergukassow noch seine, erst theilweise eingetroffenen
Verstärkungen erwartete, rückte Ismail, welcher jetzt den stärksten türkischen
Heertheil befehligte, am 5. August mit einer Avantgarde bis Alikotschakski vor;
sein Gros blieb jenseit der Grenze in Mysun. Vergeblich suchte er zwar die
russischen Vortruppen von Chalfaly auf Jgdyr zurückzuwerfen, doch hielt er
immerhin die Russen dort fest. Während dessen bedrohte ein Seitendetcichement
den westlichen Gebirgsübergang bei Abaskul. Das Gros jedoch durchschritt,
der Avantgarde folgend, den mittleren Paß, rückte dann aber mit 40 Batail¬
lonen von Osma gegen Tscharuchtscha und die russische rechte Flanke vor. Am
20. August wurden die vordersten Abtheilungen des Gros zwar bei Gülüdschi
zurückgewiesen, doch drang gleichzeitig die türkische Avantgarde bis gegen Jgdyr
vor. Von hier sah sie sich jedoch schon am 24. August wieder verdrängt;
Ismail nahm sie auf. Drei Tage später ging er mit allen seinen Kräften
nochmals gegen Chalfaly und Tscharuchtscha gleichzeitig vor, aber nach fünf¬
stündigem Kampfe, in dem es auch zum Handgemenge kam, wurden alle An¬
griffe abgewiesen. Daß sie nicht mit großer Energie geführt wurden, beweist
der Umstand, daß die Türken an diesem Tage nur 400 Mann verloren.
Ismail erkrankte jetzt, und seine Truppen gingen bis an das Grenzgebirge
(Tschingil-Gebirge) zurück, in und vor dem sie verschanzt stehen blieben.
Am 19. September ließ Ismail wiederum Chalfaly und Tscharuch¬
tscha angreifen, wurde aber nach zweistündigem Kampfe durch die Regi¬
menter Ur. 74, 150 und 153 ans beiden Punkten abgewiesen. Am 21.
wurden die Angriffe ohne besseren Erfolg wiederholt, am 27. endlich versuchte
Ismail noch einmal in einem den ganzen Tag andauernden Kampfe den
rechten Flügel der Russen zu umfassen und sich Tscharuchtscha's zu bemächtigen.
Es gelang nicht. Die Russen gingen schließlich selbst zur Offensive über und
trieben die Türken gegen die Grenze zurück. Die Angriffe wurden damit auf¬
gegeben, umsomehr als Ismail Anfang Oktober fast die Hälfte feiner Streit¬
kräfte an Mukhtar Pascha abgeben mußte.
Vor Kars waren am 26. September die letzten russischen Verstärkungen
eingetroffen. Eine neue Offensive sollte beginnen, um womöglich noch vor
Eintritt des Winters und vor der damit nöthig werdenden Beendigung des
Feldzuges einen entscheidenden Erfolg zu erringen. Großfürst Michael
übernahm persönlich den Befehl über die Operationsarmee. Am 2. Oktober
griffen die unter General Loris Melikow versammelten russischen Truppen die
Nordfront der türkischen Stellung an. Die beiden Jagni-B erge auf dem
linken Flügel der Türken wurden die Mittelpunkte des Kampfes. Der kleine
Jagni konnte nicht genommen werden, da zu dessen Vertheidigung noch 13
Bataillone aus Kars herbeikamen. Der große Jagni wurde vom General
Scheremetjew nach zweistündigem Kampfe genommen und auch behauptet, doch
war ein weiteres Vordringen von diesem Punkte aus wegen der heran¬
gezogenen starken türkischen Reserven nicht möglich. Auf den übrigen Punkten
der türkischen Stellung wurde von den Russen nur demonstrirt und kam es zu
keinen ernsteren Kämpfen. Die Russen verbrachten die Nacht in den Stellungen,
wo sie sich am Abend befanden; sie hatten im Laufe des Tages weit über
3000 Köpfe verloren.
Am 3. Oktober griff Mukhtcir Pascha mit bedeutenden Kräften den linken
Flügel der Russen an, wurde aber mit beträchtlichem Verlust abgeschlagen,
während die Russen ihren Verlust auf 304 Köpfe bezifferten. Auch am 4.
erfolgten wiederholt kleine Vorstöße seitens der Türken. Die Russen sahen sich
durch diese Angriffe wenigstens veranlaßt, den großen Jagni und die sonst noch
vor ihrer ursprünglichen Front festgehaltenen Positionen zu räumen.
Mukhtar Pascha, der erkannt hatte, wie sehr verstärkt die Russen in diesen
Kämpfen aufgetreten waren, ließ zur Ausgleichung der Zahl alle bei Ismail
Hull entbehrlichen Streitkräfte zur Hauptarmee heranrücken, zugleich aber
richtete er sich in seiner ohnedies so festen Stellung noch einmal vortheilhafter
ein. Zur Verkürzung seiner Linien gab er am 9. Oktober den Kiön Tepe
wieder auf. Auch den großen Jagni, der so nahe vor seiner Stellung lag,
ließ er jetzt unbesetzt und beschränkte sich auf die Linie Kleiner Jagni —
Awliar — Alcidscha-Gebirge. Als zweite Linie etwa 7 Ka dahinter wurden die
von Wisinkjew bis Bcisardschik sich hinziehenden Höhen befestigt. Kars deckte
in beiden Stellungen die linke Flanke.
Großfürst Michael hatte in verlustreichen Kämpfen erfahren, daß ein
direkter Angriff auf die starke Stellung wenig Erfolg verspreche. Eine weit
ausgehölte Umgehung der türkischen rechten Flanke und dann ein Angriff
gleichzeitig auf Front und Rücken der Stellung schien das beste Mittel, sich
zum Herrn derselben zu machen.
General Lazarew erhielt den Auftrag, mit der 40. Division, dem 75. Regi¬
ment, einem Schtttzenbataillon, fünf Kavallerie-Regimentern nebst 10 Batterien
die beabsichtigte Umgehung auszuführen. Er ging am 9. und 10 Oktober über
den Arya-Fluß zurück, marschirte auf dessen rechtem Ufer 30 nach Süden,
ging beim Grenzposten Kambinskii, wo sich ihm noch 2 Bataillone und
1 Kasakenregiment anschlössen, wieder auf türkisches Gebiet und marschirte auf
Digor, 14 Kw, hinter dem rechten Flügel der Stellung und 13 Kra in der
rechten Flanke von Basardschik.
In Digor traf Lazarew am 12. Oktober ein und vereinigte sich hier mit
der General Zitowitsch, der von der Abtheilung des Generals Tergukassow
das 154. Infanterie-Regiment mit einem Kasaken-Regiment und einer Batterie
hierher geführt hatte. Lazarew verfügte jetzt im Ganzen über 23^ Bataillone
(Vs Sappeure), 28 Eskadrons und Ssotnien und 10^ Batterien. Beim weiteren
Vorrücken nach einem am 13. Oktober abgehaltenen Ruhetage blieb Digor mit
3 Bataillonen besetzt.
Auf die Nachricht von Lazarew's Eintreffen in Digor ließ der Großfürst
am 13. Oktober den großen Jagni wieder besetzen und befestigen. Ein türki¬
scher Versuch dies zu hindern mißlang.
Am 14. Oktober begann der Angriff auf die türkische Stellung am
Aladscha-Gebirge dadurch, daß im Rücken derselben General Lazarew
gegen die Flanke der türkischen Reserven in Basardschik und auf deu Höhen
von Schatir Ogli vorging. Zur Wegnahme der Höhen genügten schon die
fünf Bataillone seiner Avantgarde. Am Nachmittag gelang es ferner noch, die
nördlich Basardschik gelegene Stellung auf dem südlichen Theile des Orluk-
Berges zu stürmen, so daß Lazarew am Abend gerade im Rücken des feind¬
lichen Zentrums stand.
In der Front erfolgte am 15. Oktober der Angriff in drei Kolonnen,
neben denen ein rechtes Seitendetachement, ans Kavallerie bestehend, am Kars-
Flnsse für die Sicherheit des äußersten Flügels zu sorgen hatte. Den Haupt¬
angriff hatte die mittlere Kolonne durchzuführen, die einschließlich ihrer Reserven
24 Bataillone, 8 Eskadrons, 11 Feldbatterien und 16 bespannte Belage¬
rungsgeschütze zählte. Die 2. kaukasische Grenadier-Brigade mit 3 Batterien
deckte den großen Jagni gegen Verstöße vom kleinen Jagni und von Kars
her. Zum Angriff auf der Höhe von Awliar wurden um 9 Uhr 8 Bat¬
terien (64 Geschütze) in Stellung gebracht, die um 10 Uhr bis auf Kartätsch¬
schußweite an die türkische Stellung heranrückten. Die 1. kaukasische Grena¬
dier-Brigade und das 151. Infanterie-Regiment treten eben zum Angriff an,
als 7 türkische Bataillone von Wisinkjew gegen den rechten Flügel der russischen
Linie vorbrechen; 2 Bataillone der Reserven eilen diesem Flügel zu Hilfe, und
unter Mitwirkung der Batterien vom großen Jagni wird der Vorstoß abge¬
wiesen. Der nun, um 12 Uhr, beginnende russische Angriff hat dagegen voll¬
ständigen Erfolg. Die Türken gehen auf die Höhen von Orluk und Wisinkjew
zurück. Ehe General Heimen mit feinen Regimentern herankommt, hat Lazarew
diese Höhen bereits mit 8 Bataillonen der Regimenter Ur. 75, 153 und 154
genommen und die Türken in wilder Flucht nach dem Dorfe Wisinkjew zurück¬
getrieben. Das 16. Dragoner-Regiment nimmt bei der Verfolgung die Trümmer
mehrerer türkischer Bataillone gefangen. Das Regiment Ur. 154 stürmt auch
noch das Dorf Wisinkjew.
Die Grenadier-Brigade, welche hier nichts mehr zu thun findet, wendet
sich gegen einen andern Theil der Höhen, den Tschift Tepe, und schließt die
dort stehenden Truppen von ihren Verbindungen ab. General Lazarew sammelt
die noch zu seiner Verfügung stehenden Truppen im Rücken der Stellung auf
dem Aladscha-Berge, vor deren Front der General Roop mit der linken Flügel¬
kolonne von 8 Bataillonen, 24 Eskadrons und 3 Batterien bisher nur demon-
strirt hat. Gegen den Aladscha-Berg werden jetzt auch noch die 5 Batterien
der Genercil-Reserve in Thätigkeit gesetzt sind und bereiten den Angriff vor.
Dann treten die Regimenter Ur. 152 und 156 nebst dem Grenadier-Regiment
Ur. 1, zusammen 11 Bataillone gegen Front und Flanken zum Sturme an.
Die Türken warten denselben nicht ab, sondern fliehen und werden dabei den
Truppen des General Lazarew und den Grenadieren des General Heiman in
die Arme getrieben. Den Rückzug von Wisinkjew auf Kars verlegt die Kaval¬
lerie unter dem Generalmajor Loris Melikow. Auch die türkischen Truppen
auf dem kleinen Jagni-Berge sehen sich sehr bald von vorn und von hinten
zugleich angegriffen.
Die Türken, so von allen Seiten eingeschlossen und bedrängt, müssen sich
schließlich ergeben. Nur einem Theile derselben ist es gelungen, noch rechtzeitig
mit Mukhtar Pascha nach Kars zu entkommen; 7 Pascha's aber mit 7000 Mann
kapitnliren noch in geschlossenen Abtheilungen.
Der Verlust der Russen am 14. und 15. Oktober betrug nur 1441 Köpfe.
Bei der Hartnäckigkeit, mit der die Türken sonst unter Mukhtar Pascha ge¬
kämpft hatten, ist dies vielleicht der beste Beweis, daß bereits Unordnung unter
den Truppen eingerissen war.
Mukhtar Pascha zog sich, wie schon einmal zu Beginn des Feldzuges,
wieder mit 8 Bataillonen aus Kars nach dem Saganlug-Gebirge zurück, die
Festung Kars ihrem Geschick überlassend.
Die Niederlage der Hauptarmes wirkte auch unmittelbar auf beide Flügel
des türkischen Heeres zurück. Im Süden hatte Ismail Hall Pascha, obwohl
durch Abgaben an die Armee von Kars um die Hälfte geschwächt, am
14. Oktober noch einmal einen Vorstoß gegen Chalfaly versucht, ohne dabei
einen Erfolg zu erringen. Auf die Nachricht von der Niederlage bei Kars
trat er am 18. Oktober den Rückzug auf Erzerum an und erreichte am 24.
Oktober Gerger, 10 Ka östlich Karakilisfa, während der ihm folgende General
Tergukassow an diesem Tage erst Djadin erreichte. Der so gewonnene Vor¬
sprung von zwei Marschtagen wurde seine Rettung.
Mukhtar Pascha hatte auf seinem Rückzüge am 20. Oktober auf dem
Saganlug-Gebirge Halt gemacht, um Ismail Zeit zum Rückzüge zu verschaffen;
eine Vereinigung beider konnte aber erst bei Koprikioi erfolgen, wo sich die
Straßen von Kars und von Bajaset auf Erzerum vereinigen, und wo Ismail
die Brücke über den Aras passiren mußte. In Eilmärschen erreichte Ismail
in den drei Tagen vom 25—27. Oktober diese Brücke, und die Arrieregarde
Mukhtar's, der den Saganlug inzwischen hatte aufgeben müssen, konnte gerade
noch ihn hier aufnehmen; am 28. Oktober vereinigte sich in Koprikioi die
Avantgarden-Reiterei des Generals Tergukassow mit den Vortruppen des auf
der Straße von Kars vorrückenden Generals Heiman.
Vor Kars theilte sich die dort versammelte siegreiche russische Armee.
Ein Theil derselben übernahm die Einschließung und Belagerung von Kars,
der andere die Verfolgung Mukhtar Pascha's. Die Belagerung wurde dem
General Lazarew übertragen, und ihm wurde dazu der größte Theil der
bisherigen Alexandrapol-Kolonne unterstellt. Mit der kaukasischen Grenadier-
Division, der 39. Division (ohne Regiment Ur. 155), 4 regulären Eskadrons
und 52 Kasaken- und irregulären Ssotnien nebst entsprechender Artillerie trat
General Heiman am 20. Oktober den Vormarsch zunächst auf Tikma an.
Mukhtar zog sich vor der Uebermacht rechtzeitig zurück. Erst am 29. Oktober
gelang es der schon vereinigten Kavallerie der beiden vorrückenden russischen
Kolonnen, die türkische Arrieregarde bei Kurudschuch, halbwegs von dem schon
genannten Koprikioi nach Erzerum, zu überfallen. In Kurudschuch blieben die
Russen ein paar Tage stehen, bis am 3. November auch die letzten Abthei¬
lungen von dem Gros des General Tergukassow herangekommen waren.
Mukhtar Pascha benutzte die kurze ihm gegönnte Zeit, um auf den Höhen
von Dewe Boyun vor Erzerum von neuem Stellung zu nehmen, sie soweit
möglich zu befestigen und hier alle Truppen zu versammeln, deren er irgend
noch habhaft werden konnte. Außer den eigenen schwachen Kräften war es
hauptsächlich die Heeresabtheilung Ismail Pascha's, die Garnison von Erzerum
und etwa 10,000 Mann der Verstärkungen, welche in Trapesnnt zum Abgange
nach der europäischen Türkei versammelt waren.
Die Stellung von Dewe Boyun besteht aus zwei Theilen, den
Höhen von Dewe Boyun südlich und dem Palantöken-Berge nördlich der Straße
von Kars nach Erzerum, zwischen beiden lag eine Einsenkung mit der ge¬
nannten Straße. Diese Einsenkung ist an sich der schwächste Theil der Stel¬
lung. Der rechte Flügel auf dem Palantöken-Berge war in der Front schwer
anzugreifen, hatte aber hinter sich die fast nnpassirbciren Gipfelhöhen des Berges,
deshalb war die große Straße im Zentrum auch für diesen Flügel die Rück¬
zugslinie. Der linke Flügel hatte eine feste Stellung auf dem Plateau von
Usur Achmet; aber eine tiefe Einsenkung gestattete, dies Plateau auf dem
äußeren Flügel zu umgehen und im Rücken des Plateau die große Straße zu
erreichen. Der Verlust desselben lieferte jedenfalls die Straße, die Rückzugs¬
linie für das Zentrum und den rechten Flügel, in die Hände des Feindes.
Nur eine kleinere vorgeschobene Höhe deckte den Zugang zu der erwähnten
Einsenkung.
Eine am 2. November ausgeführte Nokognoszirung hatte die russischen
Heerführer dies Sachverhältniß erkennen lassen; auf Grund desselben ward der
Angriff beschlossen, dem Mukhtar etwa 60 schwache Bataillone mit 8 Eskadrons
und 50 Geschützen entgegenstellen konnte.
Die Schlacht bei Dewe Boyun den 4. November begann etwa 9^/^ Uhr
früh durch Geschützfeuer der Türken, welche die russischen Angriffskolonnen
sich formiren sahen. Das Feuer ward rnssischerseits bald erwidert. Der
russische rechte Flügel wendete sich zuerst gegen die vorgeschobene Hohe. Diese
wird in ihrem vorderen Theile genommen, den Hinteren, höheren, behaupten
die Türken noch. Die russische Artillerie geht jetzt auf 1700 in an die türki¬
sche Stellung herau. Um 4 Uhr wird durch einen neuen Angriff die Höhe
von Tschoban vor dem türkischen linken Flügel vollständig genommen; gleich¬
zeitig beginnt die Umgehungsbewegung, die, während die Front durch anhal¬
tendes Fenergefecht beschäftigt wird, die russischen Truppen aus deu äußeren
Rand des Plateau's von Usur Achmet führt.
Auf dem russischen linken Flügel ist inzwischen schon gegen 12 Uhr das
vor dem Palantvken gelegene Dorf Gülili und eine demselben benachbarte
Terraineinsenknng genommen; weiter vorzudringen gelingt aber ebensowenig
wie ein weiteres Umfassen des türkischen rechten Flügels. Ismail Pascha
führt vielmehr um 2 Uhr einen Gegenangriff gegen die russischen Aufstellungen,
der. aber abgewehrt wird. Dasselbe geschieht einem zweiten um 4 Uhr mit 8
Bataillonen unternommenen Angriffe gegen das Dorf Gülili. Die Russen
bleiben dann hier bis zur Dunkelheit in den behaupteten Stellungen liegen.
Gegen deu türkischen linken Flügel gehen nach Erreichung des Plateau-
randes die Russell in Front und Flanke gleichzeitig vor; die Türken sind ge¬
nöthigt, das Plateau zu räumen, ihr Rückzug artet bald in Flucht aus. Mukhtar
muß den linken Flügel und ebenso das durch die Umgehung äußerst gefährdete
Zelitrum der Stellung aufgeben. Deu Truppen des Zentrums folgt auf der
Straße das 13. Grenadier-Regiment lind nimmt noch 7 Geschütze, vor dem linken
Flügel müssen die Russen der Dunkelheit wegen auf dem Plateau Halt machen.
Der türkische rechte Flügel, der nach Einbruch der Dunkelheit nun auch
zurückgehen soll, findet die große Straße gesperrt, Ismail muß seiue Artillerie
und sein großes Lager im Stiche lassen, und gelangt init den aufgelösten
Bataillonen erst nach zwei Tagen über die Gipfelhöhen des Palantöken nach
Erzerum. Mit einem Verluste von 820 Köpfen hatten die Russen die völlige
Auflösung der türkischen Armee herbeigeführt und ihr noch 43 Geschütze ab¬
genommen.
Die Türken mußten sich jetzt ans die Vertheidigung von Erzerum be¬
schränken. Zu den Trümmern der am 4. November geschlagenen Armee stießen
dort noch ca. 7000 Mann, welche Derwisch Pascha von Batna abzusenden
schon nach der Niederlage bei Kars Befehl erhalten hatte. Zur Einschließung
der ziemlich weitläufig angelegten Stadt und der Werke von Erzerum waren
die russischen Streitkräfte zu schwach. Aber die unter den Türken eingerissene
Unordnung und der vermuthete Widerwille der Einwohner gegen längeren
Widerstand wie gegen die in Aussicht steheude Belagerung, ließen wenigstens
den Versuch zu einem Handstreich räthlich erscheinen. In der Nacht vom
9. zum 10. November wurde ein solcher unternommen; die Kolonnen verirrten
sich jedoch in der Dunkelheit; nur 3 Bataillonen gelang es, früh 4 Uhr sich
eines Blockhauses im Fort Azizie zu bemächtigen und ein türkisches Bataillon
(19 Offiziere, 540 Mann) gefangen zu nehmen. Indessen sie blieben isolirt, und
ein übermächtiger Angriff trieb sie am Morgen wieder aus dem Fort hinaus,
nachdem sie im Ganzen 632 Köpfe verloren hatten. Die Russen beschränkten
sich nunmehr auf eine leichte Zernirung der Festung, in der Ismail Pascha
das Kommando übernahm. Mukhtar Pascha, der über keine Armee mehr zu
gebieten hatte, begab sich nach Konstantinopel.
Vor Batna versuchten die Russen, nachdem sie die Absendung beträcht¬
licher Streitkräfte nach Trapesunt und Erzerum erfahren, die vorgeschobenen
Stellungen der Türken am Adkowa zu nehmen; dieselben waren aber so stark
besetzt geblieben, daß ein am 7. November unternommener Angriff auf dieselben
völlig scheiterte.
Die Festung Kars wurde nach der siegreichen Schlacht vom 15. Oktober
von allen Seiten eingeschlossen; die Besatzung verhielt sich dem gegenüber rein
abwartend. Am 4. November kamen 48 Stück Belagerungsgeschütze von
Alexandrapol an;- tags daraus wurde mit dem Bau von 12 Batterien
gegenüber der Ostfront u. z. etwa 3000 in, von den Forts Karadag, Hafiz-
Pascha und Karly (vgl. S. 183) begonnen. Ein Ausfall zur Störung der
Batteriebauten an demselben Tage wurde zurückgeschlagen. Am 11. November
eröffneten die Batterien ihr Feuer gegen die genannten Forts und die Stadt.
Die Türken, auf 6 Monate verproviantirt, legten dem gegenüber neue Bat¬
terien und Schützengräben zwischen den Forts an und richteten sich, uner-
schüttert durch das ununterbrochene heftige Feuer der russischen Batterien, zum
nachhaltigsten Widerstande ein.
Das Nahen des Winters, die Nothwendigkeit, jetzt an drei so weit ge¬
trennten Punkten zu operiren wie vor Kars, Batna und Erzerum, endlich auch
die noch immer fortdauernden Unruhen in Daghestan und im Terek-Gebiet, die
während des Winters den Verbindungen des Heeres doppelt gefährlich werdeu
konnten, ließen den Großfürsten Michael auf Mittel sinnen, bald wieder größere
Trnppenmcissen frei zur Verfügung zu haben. Ein gewaltsamer Angriff
wurde für möglich erklärt, und so wurde der Sturm auf Kars beschlossen
und die Nacht vom 17. zum 18. November zur Ausführung bestimmt.
Die Dunkelheit sollte die Wirkung des türkischen Feuers beeinträchtigen,
der Mondschein aber wenigstens die Wege der Kolonnen erkennen und die
Ordnung in denselben erhalten lassen.
Am Abend des 17. November um 8'/z Uhr stand die Infanterie des Be¬
lagerungskorps in 7 Kolonnen zum Angriff bereit, während die Kavallerie
theils die Verbindung zwischen den anf beiden Ufern vorgehenden Infanterie-
Kolonnen zu erhalten hatte, theils als General-Reserve diente, theils die nach
Erzerum führenden Straßen abzusperren und ein Ausbrechen der Garnison
nach dieser Richtung aufzuhalten bestimmt war. Die Sturmkolonnen bestanden
aus je 3 bis 6 Bataillonen mit je 1 bis 3 zugetheilten Feldbatterien; 2 Batail¬
lone mit l Batterie bildeten eine Spezial-Reserve für die Kolonnen auf dem
rechten Ufer des Kars-Flusses; das 1. Grenadier-Regiment war mit 3 Bat¬
terien neben der Kavallerie als General-Reserve zurückbehalten.
Die 1. und 2. Kolonne sollten auf dem linken Ufer des Kars-Flusses vor¬
gehen, wo, wie erinnerlich, eine innere und eine äußere Reihe von Forts die
Stadt umgab. Die 1. Kolonne hatte die Aufgabe, gegen zwei der äußeren
Forts, Muchliß und Las-tepessi, zu demonstriren, die 2. hingegen gegen Fort
Techmaß auf der Südseite der äußeren Linie zu demonstriren und das innere
Fort Tschin, nahe dem Flusse gelegen, anzugreifen. Die erstere, 4^ Batail¬
lone, nahm das Dorf Tschachmach, setzte sich dann in den Schützengrüben vor
dem Fort Las-tepessi fest und ließ sich dnrch den geringen Widerstand, den
sie bisher gefunden, sogar zu einem Sturmversuche auf das Fort verführen.
Dieser mißglückte zwar, doch hielt fortgesetztes Feuer aus den Schützengräben
die türkische Besatzung des Forts dauernd in demselben fest. Von der 2.
Kolonne, die 6 Bataillone stark war, demonstrirte ein Theil in der Front gegen
Fort Techmaß, der andere mußte auf dem schmalen Raume zwischen dem Flusse
und dem Abfalle der Hohen von Techmaß gegen Fort Tschin vorgehen. Letz¬
terer wird während des Vormarsches von den genannten Höhen aus ange¬
fallen, wirft die Türken zurück, folgt ihnen anf Fort Techmaß und greift dieses
an. Unter starken Verlusten abgewiesen, muß er in's Thal zurückweichen, wird
aber nicht verfolgt. Unter Znriicklassung von Beobachtungstruppen geht der
Führer dieses Theiles, Oberst Bntschkien, mit den Bataillonen seiner Reserve
weiter gegen Tschin vor, bemächtigt sich nach Mitternacht eines vorliegenden
Kirchhofs, wird aber beim Angriff auf das Werk selbst von überlegenem
Feuer zum Rückzüge genöthigt. Eine Unterstützung sollte ihm werden durch
eine dritte Kolonne vom rechten Ufer des Flusses aus. Diese Kolonne hatte
nach 9 Uhr Fort Ssuwari, dicht am Fluß auf dem Uferrande genommen, ging
dann am Fluß entlang weiter vor, überschritt ihn auf einer nahe südlich Kars
gelegenen Brücke und suchte gegen Mitternacht von hinten, von der Stadtseite
her, in Fort Tschin einzudringen; auch sie wurde jedoch abgewiesen und mußte
auf das rechte Ufer des Flusses zurückgehen.
Außer der eben erwähnten nur 3 Bataillone starken Kolonne waren auf
dem rechten User eine 4. und 5. Kolonne von je 5 Bataillonen gemeinschaftlich
zum Augriff auf das große Fort Karly, eine 6. ebenfalls von 5 Bataillonen
zum Sturme auf Fort Hafiz-Pascha und die 7. mit 5 Bataillonen zu Demon¬
strationen gegen die Forts Karadag und Arad bestimmt.
Die 4. und 5. Kolonne nahmen zunächst jede eine vor dem eigentlichen
Fort Karly gelegene kleinere Redoute und stürmten dann die beiden Flanke»
des Hauptwerkes. Im Innern des Werkes können die Eingedrungenen vor
dem Feuer eines Reduits sich nicht behaupten, sondern müssen sich begnügen,
den Stand der Brustwehr mit Schützen besetzt zu halten. Zur Wiederein¬
nahme des Werkes eilen türkische Reserven herbei. Die Kavallerie, zum Theil
zu Fuß, und zwei herankommende Bataillone der Reserve helfen diesen An¬
griff abzuwehren und verfolgen die aus dem Werke vertriebenen Türken bis
an und in die Stadt. Das Bataillon in dem Reduit ergibt sich erst um 4 Uhr
des Morgens.
Die 6. Kolonne ging in 2 Abtheilungen neben einander vor. Die rechte
Abtheilung geräth in das Flankenfeuer von Fort Karadag und von Schützen¬
gräben und Batterien, welche zwischen Hcifiz-Pascha und Karadag liegen; diese
letzteren werden genommen und ihre Besatzung wird so energisch verfolgt, daß
es gelingt, auch Fort Karadag ohne große Anstrengung zu nehmen und gegen
einen Vorstoß von Fort Arad zu behaupten. Die linke Flügelabtheilung der
6. Kolonne umgeht während dieses Kampfes Hafiz-Pascha in der rechten Flanke,
wo ein Theil der 5. Kolonne eine Zwischenbatterie genommen hat.. Von dieser
Seite wird das. Fort gestürmt. Sein Reduit war durch die Belagernngsbat-
terien in Trümmer gelegt.
Die 7. Kolonne nahm, nachdem Karadag bereits in die Hände der
6. Kolonne gefallen, ihrerseits nach leichtem Kampfe auch Fort Arad.
Um 4 Uhr früh am 18. November waren alle Forts des rechten Ufers
in den Händen der Russen, bedeutende Theile der Kolonnen 4, 5 und 6
waren bereits in die Stadt eingedrungen, und die Zitadelle ergab sich ohne
einen Angriff abzuwarten. Die türkischen Streitkräfte sammelten sich auf dem
linken Flußufer. Am Morgen des 18. versuchten sie nach Westen und Nord-
westen durchzubrechen. Die Infanterie der dort stehenden beiden Kolonnen
und die russische Kavallerie verlegten ihnen den Abzug in der Front, die russi¬
schen Truppen vom rechten Ufer drängten nach; bald mußten 5 Pascha's mit
noch 17,000 Mann, wovon 4500 Verwundete und Kranke, sich zur Kapitu¬
lation entschließen. Der Sturm hatte den Türken 2500 Todte gekostet
vielleicht ein Beweis, wie wenig Pardon gegeben oder genommen wurde. Außer¬
dem fielen 303 Geschütze in die Hände der Sieger. Den Russen hatte der
Sturm nur 488 Todte (einschließlich 6 Offiziere) und 1785 (dabei 59 Offiziere)
Verwundete gekostet.
Die Einnahme von Kars am 18. November besiegelte endgiltig den
Triumph der Russen ans dem Kriegsschauplatz in Asien; die Widerstandskraft
der Türken im freien Felde war ja durch die Schlachten vom 15. Oktober
und 4. November schon vorher gebrochen. Die Einnahme von Erzerum konnte
bei den jetzt frei gewordenen Kräften nur eine Frage der Zeit sein, die man
sich anch nahm, ohne dort zu neuen gewaltsamen Versuchen zu schreiten. Batna,
dem man bisher nicht nahen konnte, war nnn wenigstens auf der Landseite
völlig einzuschließen, und nur zur See blieb ihm noch ein immerhin beschränkter
Verkehr.
Von der russischen Armee in Kars rückte eine Division nach Erzerum ab,
welches nach deren Ankunft enger eingeschlossen und von seinen Verbindungen
mit Trapesunt und mit dem Innern Kleinasien's abgeschnitten wurde. Es
hielt jedoch die Blokade aus, bis der Waffenstillstand vom 30. Januar 1878
den Feindseligkeiten ein Ende machte.
Eine starke Abtheilung unter General Komarow ging von Kars nach
Ardahan, um später von da gegen Batna zu operiren. Allein erst im Dezember
geschahen hierzu die einleitenden Schritte dnrch Vorschieben von Abtheilungen
bis Ardanutsch. Derwisch Pascha hatte indeß schon am 27. November alle
vorgeschobenen Stellungen räumen lassen; das Rion-Korps traf am 28. bei
Chutzubcmi nur auf Vorposten, die eilig hinter den Kintrischi flohen. Aber
auch gegen Batna unterließen die Russen bis zum Ende des Feldzuges jede
weitere ernstliche Unternehmung.
Mit der Ausbreitung unserer maritimen Beziehungen und des deutschen
Handels über alle Länder nehmen naturgemäß auch die Konflikte zü, denen eine
große handeltreibende Nation in überseeischen Ländern nicht entgehen kann.
Kaum ist der Streit mit Nicaragua durch die Dazwischenkunft deutscher Kriegs¬
schiffe beigelegt, so hören wir schon wieder von einem Eingreifen unserer Flotte
auf den Samoa-Inseln in der Südsee. Am 16. und 17. Juli dieses Jahres
wurden zwei Häfen Falealili und Salnafata auf der zu Samoa gehörigen
Insel Upolu durch Kapitän von Werner von der Korvette „Ariadne" im Namen
des deutschen Reichs mit Beschlag belegt, bis die Regierung von Samoa ge¬
wissen Verpflichtungen, die sie uns gegenüber einging, gerecht geworden ist.
Unter diesen Umständen erscheint es am Platze, einen Blick auf Samoa und seine
Beziehungen zum deutschen Reiche zu werfen.
Die Samoa- oder Schifferinseln bestehen aus drei größeren und einer
Gruppe von drei kleineren Inseln; erstere heißen Sawaii, Upolu und Tutnila.
Alle zusammen haben etwa 50 Quadratmeilen, sind mithin so groß wie Meck¬
lenburg - Strelitz. Vom Meere gesehen, gewähren die Inseln einen überaus
reizenden und anmuthigen Anblick. Alle sind bergig und hoch, wenn auch die
höchsten Spitzen kaum 1200 bis 1300 Meter erreichen. Die Berge sind vul¬
kanischen Ursprungs, wie es die noch erhaltenen Krater und die Gesteine (Laven,
Tuff, Basalt) beweisen. Auch sind Erdbeben häufig und heiße Quellen vor¬
handen, aber das Meer ringsum ist sicher und bietet keine Gefahren, da die
Riffe und Korallenbänke, die an andern Südseeinseln so häufig, auf ein Mini¬
mum beschränkt siud. Der Boden ist, mit Ausnahme von solchen Stellen, wo
die Lava noch nicht ausgelöst ist, von großer Fruchtbarkeit, alles ist mit einer
glänzenden und üppigen Vegetation bedeckt, der Archipel gehört daher zu den
schönsten und reichsten des Ozeans und ist für den Handelsverkehr besser
geeignet als mancher andere. Die Bewässerung ist reichlich, aus den Bergen
fließen eine Menge kleiner Bäche zu den Küsten, von denen mehrere in den
Höhlen des vulkanischen Gesteins versinken.
Bis auf die angebauten Stellen ist alles ans diesen Inseln mit den
prächtigsten Wäldern bedeckt; die Flora hat etwas vom indischen Charakter
und zeichnet sich namentlich durch schöne Farren aus. An eigenen Landthieren be¬
saßen die Juseln nur deu fliegenden Hund, ein paar Fledermäuse und Schweine
zur Zeit der Entdeckung, doch sind jetzt die europäischen Hausthiere eingebürgert.
Das Klima der Inseln ist ein sehr gleichmäßiges, es gilt zwar für feucht,
doch auch für sehr angenehm und als ein Tropenklima für nicht ungesund.
Der Regen mäßigt die Hitze und bedingt zugleich die Ueppigkeit der Vegetation.
Man unterscheidet eine Regen- und Trockenzeit. In den Januar bis März
fallen die zum Glück seltenen, mit Recht aber gefürchteten Orkane, deren Wir¬
kungen so schrecklich sind, daß in ihrem Gefolge selbst Hungersnoth aufge¬
treten ist.
Die Insel, welche uus hier am meisten interessirt, da auf ihr die Beschlag¬
nahme durch die Deutschen stattfand, ist Upolu.") Sie ist 9 bis 10 Meilen
lang, gegen drei Meilen breit und hat einen Umfang von über 30 Meilen.
Auch sie ist von außerordentlicher Schönheit ausgezeichnet durch die Kühnheit
der Bergesformen, die von mäßiger Hohe sind und sich besonders im Osttheil
steil zu den Küsten herabsenken. Der Boden ist fruchtbar und gut bewässert.
Der ganze Westtheil der Insel ist eine von schönen Wäldern bedeckte, reiche
Ebene von geringer Höhe, in welchem sich der Vulkan Tofna bis zu 612 Meter
erhebt. Im Osttheil beginnt das Bergland der Insel mit Gipfeln von über
900 Meter.
Von den beiden durch Kapitän von Werner besetzten Häfen liegt Salna-
fata im Norden, Falealili im Süden. Ueber den Letztern sagt Gräsfe im
Journal des Museums Godeffroy: „Falealili ist weitaus der bedeutendste
Ort der Südküste und vielleicht der bevölkertste in ganz Samoa, da er etwa
3500 bis 4000 Köpfe zählt. Es liegt der Ort an einer flachen Ausbuchtung
der Küste mit einem sandigen, niedrigen Strand. Ein Korallenriff läuft in
weiter Entfernung als Außenriff vom Lande ab und umschließt auch eine
kleine Insel, die eine halbe Seemeile von der Küste entfernt liegt. Die Segel¬
boote treten durch Passagen, die indessen nicht ohne Gefahr sind, in das Binnen¬
wasser ein und können daselbst ankern. Ueber zwei Seemeilen weit der Küste
entlang reiht sich Hütte an Hütte, von Brodfrnchtbäumen und Kokospalmen
beschattet. Landeinwärts sind ebenfalls noch drei Hüttengruppen, sogenannte
Walddörfer. Dieser starken Bevölkerung entsprechend hat Falealili von Alters
her eine hervorragende politische Rolle gespielt, und es war der größte Theil
der Bevölkerung der Insel Tutuila diesem Orte tributpflichtig. Der Charakter
der Bewohner Falealili's ist noch heute ein uusreuudlicherer und rauherer,
wie der von-anderen Bewohnern Samoa's. Der Boden in der Umgebung
von Falealili ist zwar steinig, trägt aber doch eine Menge Brodfruchtbünme,
Kokospalmen, Bananen, Jams und andere Kulturgewächse."
Wolle» wir die Bewohner der Samoa-Inseln kennen lernen, so nehmen
wir am besten das Werk von W. I. Pritch art zur Hand, welches den Titel
führt: ?vI/iiösiM L.6miniLL6Qess or I^its in ed.«z Lor,ed. ?a,an'in Ist-mas und
das 1866 zu London erschien. Pritchard war im Jahre 1848 als englischer
Konsul uach Samoa geschickt worden. Als er in der letzten Nacht vor seiner
Ankunft an der Nordküste von Upolu hinfuhr, hörte er auf der Insel die
monotonen Laute von Mnscheltrompeten und das Knallen von Flintenschüssen.
Krieger hatten ein Dorf nächtlicher Weile überfallen, und als man am Morgen
in den Hafen von Apia einlief, begegnete man dem Geschwader der heim¬
kehrenden Krieger, achtzehn Kähnen, deren Segel der Passat lustig anschwellte.
Am Bug jedes Fahrzeuges stand ein Krieger mit geschwärzten Gesichte, der
seine Keule über dem Kopfe schwirren ließ und dazu tanzte, während zu seinen
Füßen das Haupt eines erschlagenen Feindes lag. Pritchard betrat nämlich
die Scunva-Jnseln, als dort eine Art peloponnesischen Krieges entbrannt war.
Es handelte sich nämlich um ein Ding, Le Malo genannt, was man im alten
Griechenland als Hegemonie bezeichnete. Die Insel Manono, im Verein mit
Letucunasaga, wollte sich die Oberherrschaft über Ätna und Aana anmaßen.
Gelingt einer kriegerischen Partei die Unterwerfung des Gegners, so kann sie
sich die Ländereien, das Vieh, die Gärten und selbst die Töchter des bezwungenen
Stammes aneignen, es sei denn, daß die Friedensbitte (Jsoga) der Häuptlinge
angenommen wird. Bei einer solchen Gelegenheit bringen die Friedensbitter
Steine, Brennholz und Bambussplitter herbei, womit sie sich vor den Siegern
niederwerfen. Das Brennholz und die Steine sind die Sinnbilder eines poly-
nesischen Ofens, die Bambussplitter der Marterwerkzeuge, so daß also die
Handlung so viel bedeutet als: „Wir sind eure Schweine, die ihr braten könnt."
Bei den Samoanern gilt die allgemeine Wehrpflicht, denn jeder Jüngling
lernt den Speer und die Keule schwingen, neuerdings auch nach der Scheibe
schießen. Zieht ein Heer aus, so hat jede Ortschaft ihre herkömmliche Auf¬
stellung, so daß die Bewohner der einen stets in der Vorhut, die der andern
beim Hauptkörper und noch andere.bei der Nachhut sich befinden. Die Vorhut
zu führen gilt als Auszeichnung, und da ihr gewöhnlich der gefährlichste Theil
der Unternehmungen zufällt, so gebührt ihr auch die erste und reichlichste
Portion bei dem großen Volksbankette. Läufe ein Kriegsgeschwader aus, so
zeichnen sich die Bewohner jeder Ortschaft durch ein besonderes Flaggenzeicheu
aus. Statt der Losung erkennen sich Verbündete an gewissen Figuren, welche
bald schwarz, bald roth, bald weiß auf die Haut gemalt, oder an gewissen
Muscheln, die bald um den Nacken, bald um den Arm getragen'werden, oder
endlich an einem gewissen Haarputz, Merkmale, die übrigens alle zwei bis drei
Tage gewechselt werden. Nicht selten kommt es vor, daß Häuptlinge während
eines Krieges zum Gegner übergehen. Anfangs werden sie mit offenen Armen
empfangen, ihr späteres Loos ist jedoch keineswegs beneidenswert^. Die Sa-
moaner machen keine Männer zu Gefangenen und nur bisweilen Frauen; in
der Regel erschlagen sie alles, was in ihre Hände fällt.
Noch vor einem Vierteljahrhundert verehrten die Samoaner ein buntes
Gewimmel von Göttern und Gottheiten, und noch hier und da hält die ältere
Generation am Glauben und deu Gebräuchen der Vorväter fest. Von den
vielen Gottheiten wollen wir nur eine einzige anführen, weil sie in Bezug
steht zur vulkanischen Natur der Inselgruppe. An dem festen Lande, so lautet
eine der Legenden, sei ein Stiel befestigt, und der Gott Mafuie vertreibe sich
mitunter die Zeit damit, an dem Stiele zu rütteln, daher für Erdbeben das
nämliche Wort im Gebrauch ist, wie der Name dieses Gottes.
Die Samoaner verzehren zwei Mahlzeiten am Tage; die erste, um 11 Uhr,
wird von jedem Gliede der Familie eingenommen, wo es sich gerade befindet;
sei es auf dem Felde beim Ackerbau oder im Kanoe während des Fischfanges.
Die Abendmahlzeit wird dagegen gemeinschaftlich im Hause verzehrt, und der
Hausherr sprach dabei ehemals ein Tischgebet, indem er aus einer Schaale
mit Ava eine Spende auf den Boden goß und dabei ausrief: „Dies ist eure
Ava, o ihr Götter, laßt das Volk in diesem Lande stark, tapfer und zahlreich
werdeu. Gewährt uns unsere Nahrung und segnet unsere Pflanzungen." Ava
ist bekanntlich ein Getränk, welches aus den gekauten Wurzeln des?ixsr
mstuMieuin bereitet wird, und dem selbst Europäer Geschmack abgewonnen
haben. Pritchard mildert einigermaßen unsern Ekel, wenn er bemerkt, daß nur
junge Mädchen zum Avakauen verwendet werden, daß sie ihren Mund vor
dem Kauen sorgfältig ausspülten und vor dem Ausdrücken des Saftes ihre
Hände wuschen. Das Ava wird stets vor, nie nach der Mahlzeit getrunken.
Bevor übrigens zu den Speisen gegriffen wurde, zündete man auf dem Heerde
in der Mitte des Hauses ein Feuer an, wobei das Familienhaupt abermals
ein Gebet sprach, welches mit den Worten begann: „Dies ist Licht für Euch,
Götter, große und kleine." Von der Menschenfresserei spricht Pritchard im
Allgemeinen die Samoaner frei, obgleich einzelne Fälle dann und wann vor¬
kommen und die Sache auch früher allgemein verbreitet war.
Das alte Kleid aus der Rinde des Papiermaulbeerbaumes ist auf Samoa
fast ganz durch englischen und amerikanischen Kattun verdrängt worden. Noch
zu Pritchard's Zeiten wurde es viel angefertigt und mit Farben bedruckt. In
jedem Dorfe befindet sich ein Fate-tete oder ein freies Wirthshaus: für die
Reisenden. Zum Hauswesen dieses Hotels gehören gewisse Frauen, von denen
stillschweigend angenommen wird, daß sie den Reisenden zu Dienste stehen.
Gewöhnlich sind es geschiedene Frauen von Häuptlingen. Rechtlich ist in den
Augen der Samoaner eine Ehe geschlossen, sobald der Mann die Frau in sein
Haus aufnimmt; was sonst geschehen mag, ist ganz gleichgiltig. Bei legitimen
Ehebündnissen wird durch Vertrag die Höhe der Mitgift festgesetzt. Auf Seiten
des Mannes besteht sie in Nahrungsmitteln, Hausthieren, Waffen, Hausgeräth,
Fahrzeugen, auf Seite» der Braut in Kleiderstoffen und schönen Matten, Ehe
die Missionare ihren Einfluß geltend machten, war die Hochzeitsfeier zugleich
der Tag einer eigenthümlichen Prüfung durch den Vater der Braut.*) Sollte
sich ergeben, daß die Braut nicht mehr unberührt war, so erschlug sie der
Vater eigenhändig mit der Keule. Jetzt kommen derartige Auftritte nicht mehr
vor, sondern die Samoaner haben sich schon so weit zivilisirt, daß sie durch
Liebesbriefe die Neigung der Auserwählten zu gewinnen suchen. Vieles ist
überhaupt jetzt unter dem Einflüsse der Christen anders geworden; so ist das
Nasenreiben als Gruß abgekommen, doch die alten Wettfahrten in Booten,
die Scheingefechte, das Speerwerfen, Kenlenkämpfe bestehen nach wie vor.
Die politischen Zustände ans Samoa sind höchst eigenthümlicher Art.
Erst die Missionare, die lange Jahre dort gelebt, vermochten uns einen Ein¬
blick in die verwickelten Zustände zu geben, sie zeigten uns, daß vor der Aus¬
breitung des Christenthums die Ordnung durch bürgerliche Gewalt und aber¬
gläubige Furcht aufrecht erhalten wurde. Die Negierung hatte einen mehr
patriarchalischen und demokratischen, als monarchischen Charakter, und dieser be¬
steht noch. Man nehme z. B. ein Dorf von 300 bis 500 Seelen, so wird
man dort zehn bis zwanzig mit Titeln versehene Familienhäupter und einen,
der einen höhern Rang besitzt, finden. Die Titel der Familienhäupter sind
nicht erblich. Der Sohn kann der Nachfolger im Titel des Vaters sein, allein
dieser Titel kann auch auf einen Vetter oder Oheim übergehen, ja man kann
den Titel an einen Fremden vergeben, um durch diese» die numerische Stärke
der Familie zu vermehren. Was hier eine Familie genannt wird, das ist
eigentlich die vereinigte Gruppe von Söhnen, Töchtern, Oheimen, Vettern,
Nichten, Neffen, kurz eine Sippe, die 50 und mehr Köpfe zählen kann. Sie
haben ein großes Haus als Versammlungsort und zum Empfang von Be¬
suchern, dabei aber vier oder fünf Häuser zum alltäglichen Gebrauche.
Die Häuptlinge sind eine auserlesene Klasse, deren Stammbaum höchst
sorgfältig bis zu dem ehemaligen Oberhaupt irgend eiues besonderen Claus
verfolgt wird. Bei den Gesprächen wird der Titel Häuptling nie vergessen,
und selbst kleine Knaben betiteln sich mit dieser Bezeichnung, so daß es den
ersten Besuchern der Inseln schwer war, gemeine Leute zu finden, denn alle
erschienen als Häuptlinge.
Da der Haupthäuptling die Sippe zusammenbernft und alle Bewohner
des Dorfes als seine Kinder betrachtet und er allein die Initiative zur Rundung
der etwa erlittenen Beleidigungen ergreift, so ist er natürlich eine höchst wich¬
tige Person. Außerdem aber nimmt er an allen übrigen Beschäftigungen Theil,
wie jeder andere Mann. Er geht mit deu Fischern, arbeitet in der Pflanzung,
hilft beim Hausbau und hantirt am heimischen Backofen. Sonst ist dieser
Gewaltige nur in der Anrede zu erkennen, die etwa unserm Ew. Gnaden ent¬
spricht. Wenn die Schüssel mit berauschendein Avatranke herumgeht, dann
wird der erste Becher dem Häuptlinge kredenzt. Das beste Stück vom erlegten
Vogel oder der Schildkröte wird ihm vorgelegt, und heirathet er — natürlich
standesgemäß — so wird ihm eine in Matten bestehende Mitgift von der Sippe
übergeben. Je mehr Frauen, je mehr Matten und daher je mehr Reichthum,
denn Matten gelten ans Samoa gleich dem Golde.
Das Land auf den Inseln ist im gemeinsamen Besitze der Sippe, die
Aecker einer jeden Sippe sind genau bekannt, und der Oberhäuptling verfügt
darüber für die Gesammtheit; ebenso ist das Meer für die Fischerei vertheilt.
Der Oberhäuptling und die Familienhäupter bilden uoch den gesetzgebenden
Körper des Ortes, sowie den gemeinschaftlichen Gerichtshof. Da die Samoaner
keine geschriebene Sprache besitzen, so haben sie bis vor kurzem auch keine ge¬
schriebenen Gesetze besessen, dennoch hatten sie, soweit man in ihrer Geschichte
zurückgehen mag, wohlverstandene Gesetze zur Verhinderung von Diebstahl,
Ehebruch, Mißhandlungen, Mord, gegen das Schimpfen und Abhauen von
Fruchtbäumen. Tod war die gewöhnliche Strafe für Mord und Ehebruch,
und da es dem beleidigten Theile frei stand, Rache zu nehmen an dem Sohne,,
Bruder oder sonst einem nahen Verwandten des Beleidigers, so waren jene
Verbrechen gefürchtet und selten. Die Schuldigen flohen dann in einen andern
Ort, der ihnen Asylrecht gewährte. Ehebruch wurde durch Ausstechen der
Augen oder Abbeißen von Nase und Ohren bestraft.
An das Mittelalter erinnern andere Strafen. Man band z. B. dem
Schuldigen Hand an Hand, Fuß nu Fuß, und trug ihn dann, an einem
stacheligen Pfahle hängend, vor die Wohnung des Mannes, an dem er sich
vergangen hatte, wo er stundenlang in der Sonnenhitze liegen mußte. Dort
schlug man ihn mit Steinen an den Kopf, bis ihm das Blut über das Gesicht
lief, oder zwang ihn in eine bittere Wurzel zu beißen, die den Mund an¬
schwellen machte. Unter dem Einflüsse der Missionare sind diese Strafen.jetzt
abgeschafft und in Bußen verwandelt, während für Mord und Ehebruch uoch
die alten Gesetze in Kraft sind.
Diese Dorfgemeinden, Sippen, von denen wir eben gesprochen haben, be¬
trachten sich als völlig getrennt von einander, als ganz unabhängig und als
berechtigt, auf ihrem eignen Grund und Boden und in ihren eignen Angelegen¬
heiten frei zu handeln, wie ihnen beliebt.
Dann aber vereinigen sich wiederum acht bis zehn dieser Dörfer und
bilden einen Bezirk oder Staat zu gemeinschaftlichem Schutze. Irgendein be¬
sonderes Dorf wird als Hauptort des Bezirkes anerkannt, wo das gemeinsame
aus den Oberhäuptlingen bestehende Parlament zusammentrat. Es fand im
Freien, im Schatten der Brodfruchtbäume statt, war öffentlich, und die Reden
wurden vor dem gestimmten Volke gehalten.
Die alte Verfassungsform von Samoa ist indessen in neuerer Zeit durch
den Einfluß des Christenthums und fremder Kolonisten wesentlich modifizirt
worden. Die Macht der Tuis oder Oberhänptlinge ist ganz gesunken, und im
Dorfe Molinuu bei Apia auf Upolu wurde eine neue Regierung von modernem
europäischen Zuschnitte gegründet, die aus einer Exekutive von sieben Häupt¬
lingen und einem gesetzgebenden Rath der Häuptling besteht, der auch unter
Mitwirkung der europäischen Konsuln eine Gesetzsammlung bekannt gemacht
und eine Kopfsteuer eingeführt hat.
Die Mitte unseres Jahrhunderts bezeichnet sür die Südsee einen gewaltigen
Umschwung. Damals fanden kurz nach einander die Goldentdeckungen in
Kalifornien und Australien statt, und eine Masse weißer Menschen strömte in
diese Gestadeländer am stillen Ozean, die bald zu wichtigen Kulturstaaten sich
entwickelten. Kurz darauf wurde Japan dem amerikanischen und europäischen
Handel erschlossen. Nun erst begann die Südsee, die bis dahin mehr oder
minder den ruhigen und idyllischen Charakter getragen, wie wir ihn ans den
Schriften Cook's und Forster's kennen, erst aufzuleben. Sie wurde von
Dampferlinien durchkreuzt, europäische Abenteurer begannen allenthalben ihre
Rolle zu spielen, ehrlichere Ansiedler folgten, und die Missionare, die freilich
schon längere Zeit thätig waren, dehnten ihr Arbeitsfeld aus. Kurz, der Ein¬
fluß der Weißen stieg, ihre Handelsfcchrzenge brachten Kattun statt des heimischen
Rindenstoffes, das Eisen verdrängte gänzlich die Geräthe aus Stein und Muscheln,
aber auch Branntwein und schlechte Krankheiten hielten ihren Einzug. Die
alten Götter und Institutionen gingen zur Rüste, die Häuptlinge waren die
ersten, die abfielen und als Zerrbilder europäischer Regenten auftraten, wie die
Kamehamea auf Hawaii und die Pomare auf Tahiti oder King George auf
Tonga. Dabei aber ging das Volk selbst zu Grunde. Ohnehin waren die
Inseln niemals sehr stark bevölkert. So sind die Maori auf Neuseeland jetzt
auf nur 50,000 Seelen zusammen geschmolzen, dafür sitzen aber die Söhne
echter Kannibalen heute als Abgeordnete im Parlamente jener Doppelinsel, und
was die Samoa-Jnsulaner betrifft, die uns hier zunächst interessiren, so schätzte
deren Zahl La Perouse uoch auf 400,000, sicher zu hoch greifend. Williams
nahm 1830 nur noch 130,000 an. Sicher ist, daß sie heute nicht über 35,000
Köpfe zählen, wovon 13.000 auf Sawai, 16,000 auf Upolu und 4000 auf
Tutuila leben.
Ein unglücklicher, zufälliger Zusammenstoß, der den Tod mehrerer Leute
des französischen Seefahrers La Perouse auf Samoa zur Folge hatte, brachte
die Insulaner in den Ruf, wilde, barbarische Menschenfresser zu sein, und war
die Ursache, daß sich 30 Jahre lang alle Schiffe von Samoa fern hielten.
Erst um 1820 ließ sich ein Haufen zuchtloser Verbrecher vou Sydney aus hier
nieder,und erfüllte die Inseln mit unglaublichen Greueln; ihnen folgten 1830
die Missionare der Londoner Missionsgesellschaft, die sich über den ganzen
Archipel ausgedehnt und ebenso eifrig als erfolgreich (äußerlich wenigstens)
das Christenthum unter seinen Bewohnern verbreitet haben. Dann kamen
1835 wesleyanische Missionäre aus Tonga, die zuerst in Manono festen Fuß
faßten und dann das südliche Sawaii zu gewinnen wußten. Obschon später
die beiden Missionsgesellschaften einen Vertrag schlossen, nach welchem der
Archipel der Londoner Gesellschaft bleiben sollte, so haben die Wesleyaner
dennoch ihre Stationen beibehalten. Ein Zwiespalt der beiden protestantischen
Sekten war die Folge, und der konfessionelle Hader beider Theile, durch den
Dünkel der Geistlichkeit hervorgerufen, gewährte ein ekelhaftes Bild. Nachdem
die Protestanten Erfolge errungen, siedelten sich 1845 auch katholische Geistliche
an, die etwa 4000 Proselyten machten. Das Heidenthum war nun wohl
äußerlich vertilgt, aber im Innern bestand es fort, und die verschiedenen christ¬
lichen Parteien geriethen sich oft geung in die Haare. Glaubenskriege gesellte»
sich zu den politischen, und um das Maß religiöser Zänkereien voll zu machen,
siedelten sich auf Tutuila noch Mormonen an, welche von den Sandwich-
Inseln kamen.
Die Beschaffenheit der politischen Zustände und die Leichtigkeit, Grundbesitz
zu erwerben, was in der Mehrzahl der polynesischen Archipele schwierig ist,
begünstigten die Niederlassung fremder Kaufleute, Europäer wie Nordamerikaner,
Konsuln der Großmächte wurden eingesetzt, und so ist allmälig auf Upolu eine
europäische Kolonie entstanden, die sich hauptsächlich an der Nordküste dieser
Insel, in Apia, niederließ.
Im Jahre 1869 besuchte ein Franzose, Th. Aube, in dem Schiffe Flying
Cloud die Scunoa-Jnseln. Er schrieb darüber in der Revue des deux Mondes
bon 1. Oktober 1870 einen sehr interessanten Bericht, aus dem wir Einiges
herausheben wollen, da es uns das beste Verständniß für die Wichtigkeit der
deutschen Beziehungen zu Samoa vermittelt.
Die Ufer der Bucht von Apia, schreibt Aube, sind eingefaßt von europäischen
Häusern, über welche hier und da die Flaggenmasten der Konsulate und die
Thürme der christlichen Kirchen emporsteigen. Zur Linken ergießt sich ein
gelblicher Fluß von den Bergen herab in die Lagune; er begrenzt die Stadt
Apia im Osten und trennt sie von dem Eingeborenen-Dorfe Matagofic, Kon-
fulatsgebäude, katholische Kirchen, protestantische Bethäuser, gut angelegte Kalm
erinnern an Europa; zahlreiche langgestreckte Piroguen, in denen athletische
Krieger mit Keulen und Speeren bewaffnet saßen und mit Gesang ihre Ruder
in die Fluthen tauchten, gemahnen an die alten „Schifferinseln" der Entdecker.
Aber so mächtig dieses Mischbild auf deu Franzosen auch wirken mochte, nichts
zog sein Auge mehr an, „als die prächtigen Klipperschiffe von 1800 Tonnen,
die alle derselben Nation gehörten. An ihren Masten flatterte die hier kaum
noch gekannte Flagge des norddeutschen Bundes" und auch am Lande deckte
diese Flagge die zahlreichen Wohn- und Packhäuser, Schiffswerften u. s. w.
des ganzen westlichen Theiles der Stadt, wenn wir so sagen dürfen, des
deutschen. Hier residirt der Kaufmann Weber, norddeutscher Konsul und Ver¬
treter des Hauses Godeffroy in Hamburg, „das einst souverän war", bemerkt
mit rührender Naivetät Herr Aube. Der Handel mit Kokosöl ist von diesen:
Hause im großartigen Maßstabe organisirt worden; alle Jahre segeln sechs
(jetzt 25) schöne Klipper von Hamburg ucich Ozeanien; ein Theil, mit Tausch¬
waaren beladen, geht direkt dorthin. Sie führen Leinenwaaren, Baumwollstoffe,
Wollwaaren, Waffen, Pulver, Geräthschciften an Bord. Ein anderer Theil
bringt erst Auswandrer nach Australien. Dann fahren sie nach Apia und
nehmen Kokosöl oder Kopra (getrocknete Kokosnüsse) in voller Ladung mit.
Von allen benachbarten Eilanden, von Rotuma im Westen, bis zu den Tvkelau-
oder Union-Inseln im Norden, werden die Ladungen durch kleinere Fahrzeuge
nach Apia hingeführt, damit die großen deutschen Klipper sofort volle Ladung
finden, wenn sie anlangen. Der Gewinn bei dem Geschäfte ist sehr groß.
„Uebrigens hat dieses deutsche Haus schou heute jede Konkurrenz erdrückt. Es
beutet den Markt ganz allein aus, und kaum versuchen es noch einige Kauf¬
leute aus Sydney, nicht mit ihm zu kämpfen, sondern nur noch eine Nachlese
nach der reichen Ernte zu halten."
Zu dem commerziellen Uebergewicht, so schreibt Herr Aube, wird in Folge
der energischen Thätigkeit des Konsuls Weber sich noch das politische Ueber¬
gewicht Deutschland's im Archipel hinzugesellen. Es wird die erste Rolle dort
spielen. ^U8c>r>^ czusl xoiut 1^ ?russo son^k-t-fils ü. touÄM uns coloris an.
Lailloa, s, vrcmärs xossession. Ah fragt der geängstigte Franzose.
Seitdem ist fast ein Jahrzehnt vergangen. Der deutsche Handel in der
Südsee hat sich, Dank der Thätigkeit der Hamburger, mehr und mehr ausge¬
breitet. Freilich haben auch die Engländer und Nordamerikaner Fortschritte
gemacht, Verträge abgeschlossen, Inselgruppen besetzt (so England vor wenigen
Jahren erst die Fidschi-Inseln), aber die Deutschen sind nicht zurückgeblieben,
und wo irgend Gefahr vorhanden war, überflügelt zu werden, wurden Handels¬
verträge abgeschlossen, welche Deutschland in die Reihe der am meisten be¬
günstigten Länder stellten. So wurde noch am 1. November 1876 zwischen
Kapitän Knorr, von der „Hertha", als dem Bevollmächtigten des deutschen
Kaisers, und dem König Georg der Tonga-Inseln ein Freundschafts- und
Handelsvertrag abgeschlossen, der Deutschland auch eine Kohlenstation aus der
Vavao-Jusel zusicherte, worüber die überall zugreifenden und eifersüchtigen
Engländer ein Zetergeschrei erhoben.
Der Leser ist nun vollkommen vorbereitet, um den Konflikt verstehen zu
können, der sich zwischen Deutschland und den Samoa-Jnseln erhoben hat und
der zur Besetzung zweier Häfen durch die „Ariadne" führte. Grundursache war
die Begünstigung der Amerikaner durch die Regierung von Samoa; durch
Intriguen sollte der deutsche Handel brach und dafür der
amerikanische an dieStelle gesetzt werden. Da in der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung die nöthigen Aktenstücke veröffentlicht worden sind, so
können wir an der Hand derselben eine Uebersicht des ganzen Streites geben.
Am 3. Juli 1877 schlössen die Vertreter des deutschen Reiches, Korvetten¬
kapitän Hassenpflng und der oben genannte Konsul Weber, mit der Regierung
von Samoa einen Vertrag ab, welcher einmal die Sicherstellung der deutschen
Interessen in den fortdauernden Bürgerkriegen auf Scunoa bezweckte, dann
aber auch die Anerkennung der Gleichberechtigung Deutschland's gegenüber jeder
fremden Macht. Letzteres war um so nothwendiger, als seit einiger Zeit, an¬
gefacht durch die Intriguen eines gewissen „Kolonel" Steinberger, die Ameri¬
kaner Miene machten, die. Inseln zu besetzen, und thatsächlich auf Tutnila im
Hafen Pango-Pango bereits das Sternenbanner hißten. Im erwähnten Ver¬
trage zwischen Deutschland und Samoa lautet nun Artikel IV: „Wir werden
in keiner Weise die deutsche Regierung zurücksetzen oder irgend einer anderen
Vorrechte vor der deutschen gewähren."
Als nun wirklich in Folge der inneren Kriege vielfach deutsches Eigen¬
thum beschädigt wurde, erfüllte die Regierung Samoa's ihre Pflicht und leistete
Ersatz, wenn hierbei auch Zwangsmaßregeln wiederholt angedroht werden
mußten.
Anders verhielt es sich mit der Erfüllung des Artikels IV, der zum Kon¬
flikt führte. Schon im Februar d. I. machte die scnnoanische Regierung den
Versuch, sich uuter den Schutz der amerikanischen Flagge zu stellen, welchen ihr
der dortige amerikanische Konsul Griffin, der ohne Autorisation seiner Re¬
gierung handelte, anbot. Bemerkt zu werden verdient, daß weder England
noch die Union einen Vertrag mit Samoa besaßen- Als Konsul Weber nun
vom Aufhissen der amerikanischen Flagge hörte, protestirte er am 28. Februar
ausdrücklich hiergegen, berief sich auf den Vertrag und erklärte es für unzu¬
lässig, daß einer anderen Regierung eine Sonderstellung eingeräumt werde. In
einer Note an den amerikanischen Konsul betonte er ausdrücklich, daß die
deutsche Regierung in keiner Weise ein Schutzverhältniß Samoa's zu den ver¬
einigten Staaten anerkennen würde.
Unterdessen nahmen aber die Verhandlungen zwischen Samoa und der
Union ihren Fortgang. Mamea, Sekretär der samoanischen Regierung, und ein
Amerikaner Namens Colmesnil machten sich im September 1877 nach Washing¬
ton auf den Weg, um das amerikanische Protektorat über die Inseln durchzu¬
setzen. Das Kabinet von Washington ging jedoch hierauf nicht ein, sondern
unterzeichnete am 17. Januar d. I. nur einen Freundschafts- und Handels¬
vertrag Mit Samoa, den seitens der Samoci-Insel Mamea unterschrieb. In
diesem Vertrage wurde der Hafen Pango-Pango den Amerikanern als Kohlen¬
station abgetreten, ihre Güter waren von Eingangs- und Ausgangszvllen frei,
sie selbst von der Landesgerichtsbarkeit eximirt. Damit war offenbar dem
deutschen Vertrage in's Gesicht geschlagen, und als nach der Rückkehr Mamea's
im Juni die samoanische Regierung sich zur Publikation dieses Vertrages an¬
schickte und ihn raüfizirte, da hielt es Konsul Weber an der Zeit zu protestiren.
Zum Glücke lag die Korvette „Ariadne" im Hafen von Apia, und als die
Proteste Weber's ungehört verhallten, und der amerikanische Spezialagent Go-
ward auf die Erfüllung des amerikanischen Vertrags drang, da war es Zeit
einzugreifen. Nach einer abermaligen ausweichenden Antwort der Häuptlinge
beschlossen die deutschen Vertreter, nunmehr zu Zwangsmaßregeln überzugehen,
und erfolgte demgemäß am 16. und 17. Juli durch den Kapitän von Werner
die Beschlagnahme von Salnafata und Falealili, den früher schon erwähnten
Hafenorten. Nach Kein uns vorliegenden Berichte vollzog sich die Beschlag¬
nahme in folgender Weise: „Während die bemannten Boote in Schußent¬
fernung liegen blieben, wurde ein Landungskorps ausgesetzt, und aus dem Be¬
rathungsplatze der Häuptlinge unter der gehobenen deutschen Flagge, welche
an einem Bootsflaggenstock entfaltet war, im Beisein des kaiserlichen Komman¬
danten und Konsuls eine Proklamation verlesen, worin <s nach Auseinander¬
setzung des Verhaltens der samoauischeu Regierung heißt: Um alle deutschen
Interessen nun sicher zu stellen, legen wir daher auf diesen Hafen mit allen
Ufern Beschlag, wir werden das Besitzrecht darauf fest halte», bis unsere
Uebereinkunft vom 3. Juli 1877 ausgeführt ist, oder bis wir andere Instruktionen
von der deutschen Regierung empfangen. — Von einem Aufhissen der deutschen
Flagge wurde Abstand genommen, anch keine militärische Besatzung an den
genannten Hafenorten zurückgelassen. Die samoanische Regierung, sowie die
Konsuln England's und der Vereinigten Staaten erhielten eine Anzeige von
dem Akte der Beschlagnahme, sowie eine Abschrift von der Proklamation. Ein
Protest hiergegen erfolgte von keiner Seite."
Wie sehr dnrch die amerikanischen Privilegien der blühende deutsche Handel
auf den Scunvainseln geschädigt worden wäre, liegt auf der Hand. Im Ge¬
folge Mamea's war ein ganzer Haufe von Jankeeschwindlern auf Upolu er¬
schienen, die alle Ansprüche an die samoanische Regierung erhoben und als
Berather der Scunvaner auftraten. Die Befriedigung dieser Abeuteurerrotte
würde bei dem Mangel vorhandenen Staatseigenthums und bei der Armuth
der Eingeborenen nur durch eine Besteuerung des dort vorhandenen fremden
Eigenthums und vor allem durch Einführung hoher Zölle auf alle Waaren —
mit Ausnahme der vertragsmäßig befreiten amerikanischen ^ möglich werden.
In erster Linie wären hierdurch die Deutschen betroffen worden, welche das
meiste Eigenthum auf Samoa besitzen und den wichtigsten Handel dorthin
treiben.
Es war daher hohe Zeit, daß die deutsche Regierung energisch eingriff,
und ihr kräftiges Auftreten hat auch, nach den vorliegenden Berichten, sowohl
ans die Samoaner als auf die Fremden den gewünschten Eindruck gemacht, und
es ist angeordnet worden, daß ein deutsches Kriegsschiff auf der Samocistation
bleibe, um die Beschlagnahme nachhaltig zu machen. Sie wird so lange auf¬
recht erhalten, bis die Deutschen in die ihnen durch Vertrag vom 3. Juli 1877
zugestandenen Rechte der am meisten begünstigten Nation gesetzt worden sind.
Als Stanley am 28. Januar 1877 die sieben Stanley-Fälle des Living-
stone überwunden hatte, zeigte der Strom eine Breite von 2300 Meter. Der
Aeqnator war nach Norden zu überschritten. Der Strom floß nach West¬
nordwest. Die Hauptzuflüsse kamen nach wie vor vou rechts (von Osten oder
Nordosten). Schon am Nachmittag des 28. Januar schiffte man am Mbnrra
vorüber, einem Strom, der sich in zwei Armen von je 275 Meter Breite von
Osten her ans dem rechten Ufer in den Livingstone ergoß, dann an der ge¬
waltigen Insel Ubioka im Hauptstrom vorüber, immer, wie schon erwähnt,
unter Gefechten mit den Eingeborenen. Am 1. Februar wird der fast rein
aus Norden kommende und genau auf 1. Gr. nördl. Br. u. etwa 23^ Gr. ö. L. ein¬
mündende stattlichste Zufluß des Livingstone, der Aruwimi erreicht, der bei
seinem Einfluß in den Hauptstrom 1800 Meter breit ist. Hier wird die härteste
der Stromschlachten geliefert. Stanley meint, dieser Zufluß sei der Actie
Schweinfurth's. Von wunderbarem Reiz sind die Tagebuchschildernngcn Stan¬
ley's aus der ersten Februarwoche. Die Herrlichkeit der großartigen tropischen
Landschaft, der naive Verkehr mit den nun friedlicher gesinnten Wilden, die
Mannichfaltigkeit der Thierwelt, die sich am Strom einfindet, das muß man im
Original sich schildern lassen; Auszüge lassen sich nicht geben. Jede Pflanze,
jedes Thier ist anschaulich beschrieben, wissenschaftlich klassifizirt. Durch exakte
Höhen- und Breitenmessungen ist der Leser über die jeweilige Tagesstellung
des kühnen Reisenden orientirt. Endlich am letzten Februar ist das friedliche
Volk des Königs von Tschumbiri erreicht. Der Livingstone hat inzwischen seine
Richtung gänzlich verändert, bis zum 19. Gr. ö. L. ist er westsüdwestlich ge¬
flossen , von da um strömt er fast direkt nach Süden. In dieser Richtung ist
Stanley schon am 18. Februar wieder am Aequator angelangt, gegen Ende
Februar, an der Grenze des Königreichs Tschumbiri hat er schon fast den
dritten Grad südlicher Breite erreicht.*)
Die Aufnahme Seiten der Eingeborenen ist hier eine sehr freundliche.
Der König sendet zunächst drei Prinzen mit Geschenken an den weißen Häupt¬
ling. Am 28. Februar erscheint er selbst mit königlichem Pomp und Glanz in
Begleitung von fünf Kanoes, die mit stintentragenden Kriegern bemannt sind.
Der Fürst war etwa fünfzig Jahr alt, hatte kleine Augen, eine wohlgebildete
Nase, dünne Lippen, ein glattgerupftes Kinn, ein ruhiges, geselliges, menschen¬
freundliches Benehmen, eine sanfte Stimme. Er war dabei ceremoniös, mit
dem Instinkt eines gewinnsüchtigen Kaufmanns ausgerüstet, über die Maßen
listig und verschlagen. Die Fayon seines Hutes kann man auf dem Haupte
jedes armenischen Priesters beobachten. Ueber seiner Schulter standen die
Borsten eines Elephantenschwanzes aufrecht empor. In der Hand trug er einen
Büffclschwanz, der zu einem Fliegenwedel zurecht gemacht war. An seiner Hand hing
außer einer großen Anzahl Zaubersachen ein Schnupftabakkürbis, aus dem er
fortwährend unmäßig große Prisen, etwa das Viertel eines Theelöffels voll
von der innern Handfläche auf einmal einsog. Dabei drückte er seine arme Nase so
gewaltig, als wolle er sie in die Stirne hineinschieben. Unmittelbar danach
pflegte dann eines seiner ihm zärtlich zugethcmeu Kinder seinen Tschibuk voll
Tabak zu stopfen, eine sechs Fuß lauge, mit Messingstiften und einer aus
Zeug geflochtenen Quaste verzierte Riesenpfeife. Ihr Kopf war von Eisen
und groß genug, um über ein Loth Tabak aufzunehmen. Des Königs einziger Fehler
war seine bis zur höchsten Virtuosität ausgebildete Schlauheit und Arglist,
der Stanley und seine Mannschaft nach all' den Entbehrungen, die sie erlitte»,
nur zu vereitwillig sich zum Opfer darboten. Alles, was der König den Armen
an Nahrung und sonstiger Gunst gewährte, wurde gern liber die Maßen
theuer bezahlt.
Auch die Damen von Tschumbiri nahmen die Reisenden freundlich und
artig auf. Diese Schönen waren wohl des Anschauens werth, wirklich hübsch,
von einer tiefvrannen Hautfarbe, viele von ihnen großäugig und von schöner
Gestalt, „mit einer sehr anmuthigen Krümmung der Schulter". Aber sie waren
Sklaven der Mode. Sie trugen messingene Halsringe von 2 bis 3 Zoll im
Durchmesser, welche den Hals vollständig bedeckten und fast bis an das Ende
'der Schulter reichten, im Gewicht etwa dreißig Pfund schwer! Alles, was der
König nur an Messing erlangen konnte, schmolz er zu diesem gewichtigen
Schmucke um. Er hatte „viermal zehn" Weiber und sechs Töchter, die alle
dieser Auszeichnung theilhaftig sein wollten. Stanley schätzte das Gesammtge-
wicht dieses Schmuckes auf 1396 Pfund. „Ich fragte Tschumbiri, was er
mit dem Messing an dem Halse einer Frauenleiche mache. Er lächelte und
sah mich mit Wohlwollen an, als ob er mich wegen dieser tief eindringenden
Frage besonders lieb gewonnen hätte. Er fuhr in bedeutungsvoller Weise mit
seinem Finger über die Kehle."
Bald nach der am 7. März erfolgten Abreise von Tschumbiri gelangte
Stanley zu der „wohlbegründeten Meinung, daß dieser König mit der sanften
Stimme der ärgste Schelm in ganz Afrika sei." Denn auch für die Führer¬
begleitung, welche der König unter dem Befehle eines Prinzen mit der Ver¬
heißung mitgab, daß sie Stanley bis zu dem großen Wasserfall unterhalb des
Stanley-Pfuhls*) geleiten solle, hatte Stanley überreiche Geschenke im Voraus
dem Könige zurücklassen müssen. Dieses Geleit war aber ein sehr kurzes und
trügerisches. Denn schon am 8. März früh ließen die Wy-yanzi Stanley
Weiterreisen mit dem Versprechen, ihn bald einzuholen. Ohne Mißtrauen setzte
Stanley in einem furchtbaren Unwetter die Reise fort, ohne von den Führern
etwas zu gewahren. Am Frühmorgen des 9. wurde am rechten Ufer ein
230 Meter breiter reißender Fluß mit zwei Mündungen und sehr Hellem
Wasser Passirt, dem Stanley den Namen Lawson-Fluß gab. Am nämlichen
Vormittage wurde unter 3° 14' 4" südl. Br. ans dem linken Ufer ein mächtiger
und tiefer, von Ostnordost kommender Zufluß des Livingstone entdeckt, der
Jbari (Fluß) Nkutu, der sich durch einen in das Tafelland tief einschneidenden
Spalt eine 410 Meter breite Mündung gegraben hat. Es ist der Cocmgo
oder Kwango der Portugiesen. Der Livingstone selbst hatte sich schon vom
Einflüsse des Lawson an fast ans 1350 Meter verengert und floß mit merk¬
lich beschleunigter Stromgeschwindigkeit durch die tiefe Kluft im Tafellande,
dessen nach dem Fluß abfallende Abhänge meist unbewohnt waren; aber auf
der Höhe waren zu beiden Seiten neben dem Nande Dörfer, Bananenpflan¬
zungen und andere Anzeichen der Bewohnung zu erkennen. Lothringen in dieser
ziemlich engen Passage ergaben Wassertiefen von 48, 50 und 24 Meter. Sechs
Meilen unterhalb der Einmündung des Nkutu-Flusses ließ Stanley die Fahr¬
zeuge nahe an einen großen dichten Hain heranziehen, um hier für die ver¬
hungerte Mannschaft die erste Morgenmahlzeit bereiten zu lassen und die
Führer abzuwarten. Hungrig harrte Alles der willkommenen Einladung des
Koches, als plötzlich ganz in der Nähe Flintenschüsse abgefeuert wurden, und
sechs der Leute Stänker/s verwundet niederfielen. Wiewohl in sehr ungünstiger
Lage — ungedeckt vor einem dichten Wald, gelang es Stanley's Mannschaft
doch, nach einem einstündigem verzweifelten Kampf, die Wilden zurückzuschlagen,
freilich hatte auch Stanley's Korps 14 Verwundete. Das war sein zweiund¬
dreißigstes und letztes Gefecht. Die Verwundeten wurden sorgsam verpflegt,
ein kurzes Frühstück eingenommen; dann ging es weiter stromab. Um 4 Uhr
Nachmittags, als Stanley eben mit seiner Mannschaft auf einer kleinen Insel
rastete, erschienen plötzlich die lange vermißten Führer, hielten aber nicht an,
sondern fuhren auf eine große Ansiedelung Namens Mwana Jbaka los, wohin
Stanley ihnen arglos folgte. Sowie er sich aber dem Ufer näherte, wimmelte
dasselbe von wilderregten Menschen, die mit Musketen bewaffnet waren. Die
Führer gaben bewegliche Zeichen zu eiligem Rückzug, der auch ohne Zeitver¬
lust angetreten wurde. Das Nachtlager ward drei Meilen stromabwärts auf
dem rechten Ufer genommen. Die Führer kampirten gegenüber auf dem
linken Ufer.
Am Morgen des 10. März ging die Thalfahrt auf dein Strome schon
früh 6 Uhr weiter zwischen hochansteigenden, malerischen Gestaden, welche bald
jäh und steil, bald vom Fuß bis zum Gipfel bewaldet waren und oftmals
auch Blicke in bewaldete Seitenthäler gestatteten. Die Führer holten Stanley
ein, ließen sich aber erst um zehn Uhr Vormittags dazu herbei, zum Frühstück
sich bei Stanley einzufinden. Seit dem 8. März das erste Mal, daß sie
sich zu einem Gespräch mit dem Anführer der von ihnen angeblich geleiteten
Reisegesellschaft herbeiließen. Sie entschuldigten sich- sofort, daß sie Stanley
und seine Genossen bei allen Gefahren und Angriffen der vergangenen zwei
Tage im Stiche gelassen hätten, ohne sie nur zuvor zu warnen. Stanley ließ
die Entschuldigung gelten und versprach ihnen noch mehr Messingdraht, wenn
sie bis zum Katarakt ankamen. Da sie aber diese Zahlung im Voraus ver¬
langten, und Stanley nach den bisherigen Erfahrungen hierzu gar keine Lust
hatte, so wurden sie verabschiedet und die Reise ohne ihr Geleit fortgesetzt.
Die Nacht wurde in einer kleinen Bucht unterhalb steiler rother Sandstein¬
felsabstürze verbracht. Der Strom hatte sich hier auf 900 Meter verengt, war
sehr tief und floß mit einer Stromgeschwindigkeit von drei Knoten in der
Stunde. Am 11. März wurde die Fahrt ohne Unfall fortgesetzt. Die Breite
des Stromes schwankte zwischen 900 und 1300 Meter, die bewaldeten Ab¬
hänge der Stromufer erhoben sich bis zu 180 Meter Höhe. Rothe Büffel
und Antilopen gab es in großer Menge auf dem rechten Ufer, doch wagte
Stanley nicht einen einzigen Schuß, aus Furcht, die Wilden zum Kriegsruf
zu veranlassen. Am 12. März war die Breite des Stromes plötzlich wieder
ans 1300, dann auf 2300 Meter gestiegen. Eine gewaltige seeartige Erweite¬
rung bot sich dem Auge. Eine lange Reihe von Klippen, ähnlich denen von
Dover, erinnerte Frank an England, das grasreiche Tafelland über den Klippen
an die Dünen von Kent, so daß er begeistert ausrief: „Ich fühle, daß wir
uns der Heimath nähern." Das Wasserbecken erschien auch von der Höhe
ans, die Frank erstieg, während Stanley die geographische Lage bestimmte, fast
kreisrund, wie ein großer Teich. Es wurde von Frank der „Stanley-Pfuhl"
genannt, die Felsen nannte er die „Dover-Klippen". Auch die Kreidesubstanz
der Felsen erinnerte an England. Die Einfahrt zum „Pfuhl" befindet sich
genan unter 4° 3' südl. Breite.
Die vom Fischfang lebenden Eingeborenen der Gegend erwiesen sich als
sehr gutmüthig und leidlich freigebig. Sie stillten gegen Entgelt den nagenden
Hunger der Mannschaft Stanley's. Der berühmte „König" von Ntamo kam
am 13. selbst zu Stanley auf Besuch und zeigte sich wohlwollend. Nur ver¬
langte er so bestimmt „die dickste Ziege Afrika's", die Stanley als die letzte von
sechs Paaren von Uregga, 1100 Meilen weit, bis hierher geführt hatte, daß
Widerstand Thorheit gewesen wäre. Im Gegensatze zu Tschumbiri erwies sich
aber dieser König wirklich dankbar für das außerordentliche Geschenk. Er
brachte so viel Nahrungsmittel, daß Stanley's Mannschaft sich einmal satt
essen konnte. Es that noth, denn die härtesten Anstrengungen standen ihr
nun bevor, da es galt, jene 32 wilden und großartigen Katarakte und jene ebenso
zahlreichen Stromschnellen mit Booten, Gepäck u. s. w. zu überwinden, welche
Stanley unter dem Namen der Livingstone-Fälle zusammengefaßt hat. Von
der Höhe und Raschheit des Absturzes, den der mächtige Strom auf der ver-
hältnißmäßig kurzen Strecke von hier (oberhalb des ersten Katarakts der Li-
vingstone-Fülle bei Ntamo) bis zum glatten Wasserspiegel des Congo (Living-
stone) durchmacht, gibt ein deutliches Bild die Thatsache, daß der Livingstone
von Nyangwe' an bis Ntamo d. h. auf einer Länge von 1235 Meilen nur
283,46 Meter gefallen war, daß er bei Ntamo noch eine Höhe von 349,59 Meter
über dem Ozean zeigte, und daß der Strom dagegen auf dem relativ so
kurzen Wege vom 17. bis zum 14. Längengrad, auf 38^ deutsche Meilen
Entfernung, 1100 Faß, d. h. beinahe bis zum Niveau des Meeresspiegel sällt.
Es kann nicht die Aufgabe dieses Berichtes sein, eingehend bei den außer¬
ordentlichen Anstrengungen zu verweilen, welche Stanley und seine Mann¬
schaft von Mitte Mürz an bis Ende Juli zur Ueberwindung dieser Natur¬
hindernisse anwenden mußten. Denn mit den kurzen Unterbrechungen, welche
dem Bootbau, der Ruhe und Erholung und — der Trauer über die schmerzlichen
Verluste gewidmet waren, ist diese ganze Zeit von 4^/z Monaten lediglich im
Kampfe mit Stromschnellen und Katarakten verbraucht morden! Für die
geographische Forschung im großen Stil ist diese an Mühen und Verlusten
reichste Zeit der Stanley'schen Expedition naturgemäß die ärmste; denn der
Kampf mit der übermächtigen Naturkraft absorbirt fast alle anderen Interessen.
Es genügt daher hier eine Aufzählung der wesentlichsten Thatsachen. Jene
stille Einsamkeit des mit tausend Waldinseln bedeckten Flusses, jene träumende
lautlose Wasserwilduiß, durch welche Stanley mit den Seinen viele hundert
Meilen weit gefahren, war wie durch Zauberkraft verwandelt in eiuen von
Felsenklippen eingefaßten meilenlangen Schlund, durch welchen der Livingstone
mit unbeschreiblicher Wuth seine schäumenden Wellen in den breiten Congo
hinabschleudert. Gleich der erste Katarakt, bei welchem von rechts her in zwei
Armen, zu beiden Seiten der Insel Dschuemba, der Fluß Gordon Beunett
140 Meter breit einströmt, war von schauerlicher Großartigkeit. „Man denke
sich einen vier Meilen langen und eine halbe Meile breiten Streifen des
Ozeans", sagt Stanley, „und lasse einen Orkan auf ihn wüthen, und man
wird von diesen hochaufspringenden Wogen einen ziemlich genauen Begriff er¬
halten. Einige der Wassertröge waren 100 Meter laug, und von dem einen
stürzte sich der rasende Strom in den andern. Zuerst rauschte das Wasser
auf einer schiefen Ebene in den Grund eines ungeheuren Troges hinunter und
dann hob sich blos durch die Wucht seines mechanischen Gewichts das enorme
Wasservolumen steil empor, bis es, zu einem förmlichen Bergrücken ange¬
sammelt, plötzlich sich sechs bis neun Meter hoch gerade emporschlenderte, bevor
es sich zum nächsten Troge hinabwälzte. Wenn ich ans dieses furchtbar wilde
Natnrschauspiel auf- und niederblickte, sah ich jeden Zwischenraum von 50 bis
100 Metern momentan durch Wellenthürme bezeichnet, ich sah sie in Schaum
und Flugwasfer zusammenstürzen, ich hörte das tolle Gerassel und Brausen
der Hügel bildenden Fluthen, der zurückprallenden Wasserwälle und der mit
riesiger Gewalt sich emporhebenden Wogen; dabei war zu beiden Seiten der
Uferrand, der aus einer langen Reihe zu Mauern aufgethürmter riesiger Fels-
blocke bestand, in dem wilden Aufruhr der ungestümen Brandung vergraben.
Der Lärm war fürchterlich und betäubend. Ich kann ihn nur mit dem Donnern
eines durch einen Felsentunnel fahrenden Schnellzuges vergleichen. Wollte
man mit seinem Nachbar sprechen, so mußte man ihm in's Ohr hineinschreien."
Die Geschwindigkeit des Stromlaufs in den Katarakten schätzte Stanley drei¬
mal an der Schnelligkeit, mit welcher herabgeflößte Bäume den Raum zwischen
zwei bestimmten Punkten von bekannter Entfernung durchmaßen, auf beinahe
IZi/z Meter in der Sekunde. Es ist daher gewiß nur die volle Wahrheit,
wenn Stanley sagt: „Häufige Kämpfe haben wir mit den Wilden durchge¬
suchten, aber noch weit großartiger wurde nun das tragische Ringen und
Kämpfen mit dem gewaltigen Strome, während er sich brausend durch den
tiefen gähnenden Schlund stürzte, der wie ein langer Engpaß von dem breiten
Tafellande nach dem Atlantischen Ozean hinabführt."
Einzeln mußten die Kanoes längs des Ufers an Seilen über die Fälle,
meist auch über die Stromschnellen hinabgelassen werden. Jede Unfolgscunkeit
gegen Stanley's sorgfältige Vorschriften rächte sich bitter. Am 29. März gingen
in drei Kanoes, in denen sie sich zu weit in dem verrätherisch stillen Wasser
vom Lande weggewagt hatten, neun Mann, unter ihnen der Führer Kalulu,
unrettbar verloren. Der brave, junge Soudi, der allein in einem kleinen
Kanoe die Fälle hinabgetrieben war, kam nach wunderbaren Abenteuern wieder
zum Vorschein. Mehrmals war die Gewalt des reißenden Wassers so heftig,
daß selbst die stärksten Tane rissen. Auf diese Weise verlor z. B. am
28. Juni 1877 der treffliche Obermeister der Zimmerleute der Expedition,
Talaam Allah, seinen Tod. Aus demselben Grunde hätte Stanley am 12. April
mit Ateti und seinen besten Leuten beinahe das Leben eingebüßt, als die Lady
Alice durch die Stromschnellen jagte, die nach ihr benannt wurden. Gerade
unterhalb dieser Stromschnellen stürzt der Fluß Nkenki von rechts her 90 Meter
breit, 365 Meter hoch herab in den Livingstone; von einer hohen Felsklippe
nach Süden zu schoß ein anderer Fluß 120 Meter hoch in den Livingstone
hinab, zwei Meilen unterhalb der Lady Allee-Stromschnellen bildete der große
Strom abermals eine Schaumlinie von Wellen. Dieses Zusammenwirken des
Getoses von vier Katarakten war in Wirklichkeit betäubend. Vom 16. März
bis zum 21. April wurden bei dieser schweren Arbeit nur 34 (engl.) Meilen
zurückgelegt. Und immer neue Katarakte und Stromschnellen tauchten vor
den Armen ans, denen die Eingeborenen immer versicherten, daß nur noch ein
Wasserfall zu überwinden sei. Gerade diese falsche Mittheilung veranlaßte
Stanley, den Wasserweg weiter zu verfolgen, da er diesen „einen" Wasserfall,
der noch bevorstehe, immer für Tuckey's „fernsten Punkt" hielt, jenseits dessen
bis zum Ozean ruhiges Wasser auf den Karten bis zu den Aellala - Fällen
gezeichnet war. Hätte er ahnen können, daß der „eine" Wasserfall vor ihm
sich allmälig zu 32 summiren würde, so hätte er längst die Boote verlassen
und den Landweg eingeschlagen, da die Finanzen und Tauschmittel der Expe¬
dition schon jetzt bedenklich zusammengeschrumpft waren.
Da sich nun die drei Jnkisi- (Zauber-)Fälle am 24. April der Weiterfahrt
entgegenstellten, ließ Stanley die Boote über den Berg schaffen, was vier Tage
Zeit kostete. Die Eingeborenen (Babwende), die hier Hausen, zeigten sich sehr
freundlich und hilfreich, doch nahm Stanley mit Schrecken wahr, daß dieselben
mit all' den Tauschmitteln, die er noch in Fülle besaß, Zeugen, Perlen u. s. w.
reichlich versehen waren. So wurde es immer schwieriger und kostspieliger,
die nöthige Nahrung für die Mannschaft aufzutreiben. Da die Zeit vom 28.
April b'is Mitte Mai dazu verwendet wurde, zwei neue stattliche Kanoes aus dem
herrlichen Weihrauchbäume (Losvsslli-z,) zu bauen, der hier in Menge stand, so
wurde der Verkehr mit den Babwende ein intimer. Sehr bemerkenswerth
war ihr Aberglaube. Ihm mußte Stanley z. B. seinen Shakespeare zum Opfer
bringen. Die Babwende hatten nämlich gesehen, wie er in sein Notizbuch schrieb
und zeichnete, und glaubten, daß sie dadurch behext würden. Sie drohten mit
Krieg, wenn das Buch nicht verbrannt würde. Da es glücklicherweise etwa
dasselbe Aussehen hatte, wie Stanley's Shakespeare, so ließen sich die Wilden
den letzteren statt des unersetzlichen Notizbuchs zur Feuerbestattung überliefern.
Noch peinlicher als dieser Verlust eines Buches, dem Stanley oftmals in der
peinlichsten Gemüthsverfassung Trost und Aufrichtung verdankt hatte, war ihm
aber die Wahrnehmung, daß er von seinen eignen Leuten bestohlen werde.
Leider wurde Ateti, der Bootführer, der tüchtigste Reisebegleiter Stanley's nächst
Frank Pocock, der Diebereien überführt, und es wurde nun förmlich Gericht
über ihn gehalten. Es war rührend, wie die Schwarzen baten, die schwere
körperliche Züchtigung, die ihr Bootführer verdient habe, ihnen selbst ange-
deihen zu lassen. Schließlich ließ Stanley Gnade für Recht ergehen und hatte
es nicht zu bereuen. Denn Ateti verdoppelte seither seine Tüchtigkeit im Dienste
des „Meisters".
Noch war die Erinnerung an diese peinliche Szene keine Woche alt, als
das allerschmerzlichste Ereigniß eintrat, das Stanley auf seiner tausendtägigen
Reise durch Afrika zu beklagen hatte: Frank Pocock, der treueste, tüchtigste
Begleiter und Freund Stanley's, der einzige noch überlebende Weiße, ertrank
am 3. Juni 1877 in den Massassa-Fällen des Livingstone. Der „Kleinmeister"
(wie Frank von den Schwarzen genannt wurde) litt schon wochenlang an Fu߬
geschwüren, die in den letzten Tagen so bös geworden waren, daß er nicht
mehr laufen konnte. Sich tragen zu lassen, erschien ihm weibisch. Er bestand
daher darauf, in Ateti's Kanoe den Weg nach dem von Stanley bestimmten Lager-
Platz, zu welchem Stanley vorausgeeilt war, zurückzulegen. Als ihm dieser
Wunsch von Ateti gewährt worden war, verlangte er aber auf einmal, daß
die Wangwam ihn über deu Strom setzen sollten, da Stanley's Lager weiter
abwärts am jenseitigen Ufer lag. Gerade oberhalb der Massassa-Fälle war
das unausführbar. Ateti stellte ihm vor, daß diese Fahrt Allen sicheren Tod
bringe. Da schalt Pocock deu Bootführer, der so oft sein Leben eingesetzt, um
Andere zu retten, einen Feigling, alle Begleiter Feiglinge und ertrotzte die
Fahrt mit dem leidenschaftlichen Unmuth eines Kranken. „Bismillcih!" (in Gottes
Namen) riefen die Mohammedaner und stießen ab. Lu wenig Minuten war
die Katastrophe da. Das Boot schlug um, und vier von den neun Insassen
ertranken, unter ihnen Frank Pocock, trotz aller heroischen Versuche Ateti's,
ihn zu retten. Seine Leiche wurde einmal noch, viele Tage später, in einem
ruhigen Becken des Stromes, das nach ihm das Pocock-Becken heißt, von
einem Schwarzen gesehen. Der abergläubische Mann wagte jedoch nicht, die
weiße Leiche zu berühren. So ist der große Strom zum Grab des Tapfern
geworden.
Wir schließen hier diesen kurzen Ueberblick über den Inhalt des hoch-^
interessanten Buches. Der Nest seines Inhaltes ist ja auch vorzugsweise
bekannt. Wie am 31. Juli das kecke Boot Lady-Allee, nachdem es seine
Besitzer 7000 Meilen weit getragen, hoch oben auf den Felsen der Jsangila-
Fälle verlassen wird, wie dann die mühselige Reise dnrch das unwirthliche
Land und die uufreuudlichste, knauserigste Bevölkerung weiter geht, wie Alle dem
Hungertode nahe sind, als Ateti mit einigen der Kräftigsten sich entschließt, die
vier Tagemürsche nach der nächsten Niederlassung der Weißen, nach Bona, fast
im Laufe zurückzulegen, um Nahrung herbeizuschaffen, der erschütternde brief¬
liche Hilferuf Stanley's an die christlichen Herzen seiner unbekannten weißen
Brüder in Bona, die ruhmwürde, rasche und reichliche Hilfe, welche diese den
armen Verhungerten sandten, die überströmenden Dankesworte, die Stanley
zurücksandte, das ergreifende Wiedersehen weißer Männer am 9. August — das
Alles ist längst durch alle Tageszeitungen verbreitet.
Stanley's Fahrt durch den dunkeln Erdtheil ist die großartigste Ent-
deckungsreise, welche die Menschengeschichte bis jetzt kennt.
Die Ausstattung des Werkes, in welchem seine Reise erzählt ist, auch die
deutsche Uebersetzung ist dieser Reise würdig. Der zweite Band ist noch reicher
illustrirt als der erste. Er enthält 17 ganzseitige Abbildungen, 91 in den Text
eingefügte Holzschnitte, Spezialkarten des Lukuga-Kreek, der Stanley- und
Livingstone-Fülle; als kartographisches Hanptresnltat der ganzen Reise aber zwei
aneinander passende Karten von etwa 1 Quadratmeter Umfang, welche die Reife-
route Stanley's von Zanzibar bis zum atlantische Ozean nachweisen und die
geographischen Kenntnisse vom äquatorialen Afrika in ungeahnter Weise be¬
reichern.
Ein Zweig des Kunstgewerbes, der von den belebenden Säften, die doch
jetzt in so vielen andern Zweigen desselben zirkuliren, leider noch nicht erreicht
worden ist und daher dem Auge einen wahrhaft kümmerlichen Anblick bietet,
ist die „Meerschaumplastik", wie ich ihn nennen möchte, um damit zugleich die
Krankheit zu bezeichnen, an der er laborirt. Was bietet uns heutzutage ein
Lager von Meerschaumfabrikaten? In den einfacheren, wohlfeileren Artikeln
völlig glatte, schmucklose Waare', in den kostbareren Prachtstücken fast durchweg
die ärgsten Geschmacklosigkeiten. Da die Tabakspfeife, die zu ihrer Abwartung
und Pflege eine gewisse Ruhe und Behäbigkeit voraussetzt, immer mehr durch
die rasch zu beschaffende und rasch zu genießende Cigarre verdrängt wird,
— nicht zum Segen für unsere politischen Zustände, denn man will beobachtet
haben, daß es in Gegenden, wo die Tabakspfeife noch herrscht, die wenigsten
Sozialdemokratin gibt — so beschränkt sich auch die Meerschaumwaaren-Jndustrie
mehr und mehr auf die Herstellung von Cigarrenspitzen. Nun wird hier in
den einfachsten Mustern manches Hübsche geleistet: es fehlt nicht an graziös
geschweiften Röhrchen von mannichfaltigster Form. Sowie aber der erste
Schritt zur Verzierung gethan wird, so beginnt auch schon die Geschmack¬
losigkeit. Am erträglichsten sind noch jene Stücke, bei denen die Röhre unten
in eine menschliche Hand oder eine Vogelkralle ausläuft, die den eigentlichen
Behälter der Cigarre in Gestalt eines Eies, einer Eichel oder tgi. gefaßt hält,
erträglich anch noch die, bei denen der Behälter dnrch einen Hundekopf, Pferde¬
kopf, allenfalls auch einen Mohren- oder Türkenkopf gebildet wird, der ja
namentlich dann, wenn er durch die Benutzung gebräunt ist, ergötzlich wirken
kann. Wenn aber nun weiter gegangen wird und jugendlich weibliche Köpfe
oder Porträtköpfe des Kaisers, des Kronprinzen, Bismarck's, Moltke's oder
gar Köpfe von berühmten Werken der antiken Plastik, z. B., wie wir es wirklich
gesehen haben, der Kopf des Aias aus der Pasquiuvgruppe, dazu benutzt werden,
Cigarrenstummel in ihrer Hirnschale zu befestige«, so ist das doch eine
grobe Geschmacklosigkeit. Aber das alles wird noch überboten durch jene
Stücke (die unter den verzierten Exemplaren die Mehrheit bilden), bei denen
die Röhre nur die Basis abgibt für freistehende plastische Gruppen! Und welch'
eine Tollheit macht sich in dieser Plastik breit! Hier jagen Pferde oder Hunde
über's Feld (Cigarrenspitzen für Sportsmen), dort lagern sich Hirsche und Rehe
im Grase (für Nimrod's), hier scharren Hühner im Sande (für Oekonomen),
dort macht ein Fuchs oder ein Bär seine Kapriolen (für Studenten), hier
räkelt sich eine nackte Frauengestalt (für Hagestolze), dort sitzt ein Bacchus am
Fäßchen (für Weinkeuuer). Aber es bleibt uicht beim Thierstück und beim
Genre; Ereignisse aus der Tagesgeschichte, bekannte Illustrationen von Dichter¬
werken, ja selbst mythologische Gruppen ans der antiken und modernen Kunst
müssen herhalten zur angeblichen Verzierung von Cigarrenspitzen. Da schnitzelt
der eine die ganze Szene, wie Moltke dem Kaiser die Siegesnachricht von
Sedan bringt, in freistehenden Figuren auf eine Meerschaumröhre (für Mili¬
tärs), ein andrer übersetzt die Kaulbach'schen Darstellungen von Reineke Fuchs,
Faust und Gretchen, Hermann und Dorothea, ja selbst von Lili im Park (!)
in das Idiom seiner Cigarrenspitzenplastik lfür Goethefreunde), ein dritter läßt
den Lohengrin mitsammt seinem Schwan auf dem Pfeifenröhrchen herum¬
spazieren (für Wagnerianer), und ein vierter etablirt gar eine Glyptothek so
und verpflanzt die Dannecker'sche Ariadne auf dem Panther, Eros
Psyche von Thorvaldsen auf — Cigarrenspitzen (für „Kunstfreunde")! Und diese
Tollheiten finden ihre Liebhaber und werden mit dörrenden Preisen bezahlt.
Das oberste und elementarste Stilgesetz, gegen welches alle diese Machwerke
verstoßen, lautet: Schön ist nur dasjenige Geräth, welches zweckmäßig ist.
Kann es aber etwas Unpraktischeres geben, als diese zwischen den Zähnen zu
balancirenden Meerschaumgruppen, die jeden Augenblick der Verletzung ausge¬
setzt sind? Wollte man einen Spazierstock, einen Federhalter, ein Holzblasin¬
strument dadurch verzieren, daß man sie der Länge lang mit freistehenden,
aus Holz geschnitzten Figuren besetzen wollte, es würde genau so einfältig sein.
Was aber schlimmer ist: alle diese naturalistischen Einfälle geben im Leben
kein Ornament ab; eine Meerschaumspitze, ans der plastische Figuren herum¬
laufen, steht aesthetisch auf derselben Stufe wie ein Rückenkisseu, auf welchem
etwa ballspieleude Kiuder gestickt sind, ein Teppich, in deu eine Landschaft
gewirkt ist, und ähnliches. Soll ein solches Geräth verziert werden, so kann
es doch verständiger Weise nur so geschehen, daß die Oberfläche selbst, sei es
mit eingravirteu Mustern oder in Relief, ornamentirt wird. Hier wäre der
Phantasie ein unabsehbarer Spielraum gelassen, die Natur des Materials
würde die delikateste Ausführung gestatten, und endlich würde sich auf diese
Weise auch mit einfachen Mitteln und für verhältnißmäßig niedrigen Preis
etwas wirklich künstlerisch Werthvolles schaffen lassen, während der ganze jetzt
grassirende naturalistische Plunder, für den ein enormes Geld bezahlt wird,
künstlerisch absolut werthlos ist und höchstens den Rang von Kuriositäten
beanspruchen kaun. Denn welcher Stumpfsinn gehörte dazu, wenn jemand sich
einbilden wollte, daß jene „Lili im Park", die dort auf der Cigarrenspitze
die Vögel füttert, auch nur einen Schatten von der Anmuth des Originals be¬
wahrt hätte! Eine Raffael'sche Madonna in Buntdruck auf dem Deckel einer
Bonbonniere würde allenfalls in ihrem Kunstwerth mit diesen Erzeugnissen der
„Meerschanmplastik" zu vergleichen sein, Ist doch bei genauerem Zusehen so
gut wie alles verzeichnet und verschnitten an diesen Püppchen, und von feinerer
Modellirung nirgends die Rede.
Höchst anerkennenswerthe, wenn anch vorläufig noch schwache Anfänge
zum Besseren scheinen neuerdings in der Meerschaumwaaren-Industrie von
Wien auszugehen, das ja, wie in allen übrigen Zweigen, so auch hierin der
Vorort der deutschen Kunstindustrie ist. Die in Stuttgart (bei I. Engelhorn)
unter Redaktion von Adolf Schill erscheinende „Gewerbehalle" veröffentlicht im
sechsten Hefte des laufenden Jahrganges unter anderen die Entwürfe zu einem
Pfeifenköpfe und zu eiuer Cigarrenspitze vou Otto Girard in Wien, die mit
dem bisherigen Ungeschmack total brechen. Beide Stücke sind im Wesentlichen
mit fein profilirtem Flachornament überzogen, welches an Goldschmiedearbeit
aus der besten Zeit erinnert. Der Text bemerkt dazu: „Die Eigenschaften
des Meerschaums begünstigen ungemein die Ausschreitungen und Capricen eines
krassen Naturalismus; in der That war man seit langem gewohnt, in den
für alle Bevölkerungsschichten bestimmten Erzengnissen ans diesen: Material,
namentlich in den Prachtstücken, einer durchaus verwerflichen Geschmacksrichtung
gehuldigt zu sehen, deren Resultate jedoch meistens durch technische Vollendung
bestechend in ihren trivialen Gedanken und Effekthaschereien bei der urtheilslosen
Menge großen Beifall und Absatz fanden, ja leider theilweise (theilweise? nein,
fast durchgängig!) noch immer finden. Die vorliegenden aus Wien, dem Hauptsitz
der Meerschaum-Industrie, stammenden Entwürfe lassen uus mit Befriedigung er¬
kennen, daß auch auf diesem Gebiet ein Umschulung zum Besseren angestrebt wird,
indem man die durch deu Gebrauch und das Bedürfniß bedingten Grundformen
der Geräthe durch elegante Profilirung und eine dem Charakter des zarten
Materials angemessene Ornamentik veredelt, anstatt durch unzweckmäßig ange¬
brachte und außer Verhältniß zum Gegenstand stehende Dekoration den Gebrauch
der Gegenstände zu erschweren, ja oft geradezu unmöglich zu machen." Dies
alles stimmt vollständig mit unseren Anschauungen überein. Auszusetzen hätten
wir an beiden Entwürfen nur das eine, daß sie im Stile der Renaissance
gehalten sind. Es ist das freilich ein Mißgriff, der in den gegenwärtigen
Reformbestrebungen auch auf vielen anderen Gebieten begangen worden ist. Wir
gehen, um unser Kunstgewerbe zu heben, bei ältern Kunstperioden, und aller¬
dings rin Vorliebe bei der Periode der Renaissance, in die Schule, klammern
uns ängstlich an die Schmuckformen an, die wir dort finden, und so bekommen
die heutigen Erzeugnisse leicht etwas Archcnsirendes, es fehlt ihnen der rechte
moderne Geist. Dies tritt auch hier hervor. Das Rauchen ist eine verhält¬
nißmäßig moderne — sage man nun Sitte oder Unsitte, darauf kommt's hier
nicht an; gibt man also den Rauchrequisiten eine Ornamentik, mit der
man hinter die Zeit der Einführung des Rauchers zurückgeht, so entsteht ein
Widerspruch, der keinem feiner fühlenden entgehen kann. Doch wollen wir
das im vorliegenden Falle gern als Nebensache ansehen. Das Wichtigste ist,
daß überhaupt sich wieder einmal jemand anch auf diesem Gebiete auf die
ersten und obersten Stilgesetze besonnen und den richtigen Weg gezeigt hat,
auf welchem weiterzugehen ist. Wagte man es, auf diesem Wege nur frisch
und keck modern sein zu wollen — und es ließe sich dann, was wir nochmals
ausdrücklich betonen, ebensowohl in den einfachsten wie in den kostbarsten
Stücken etwas wirklich Künstlerisches schaffen — so würde in ein paar Jahren von
der ganzen einfältigen „Meerschaumplastik" kein Mensch mehr etwas wissen wollen.
Wenn wir bei unsern kritischen Streifzügen durch die Gebiete des Kunst-
gewerbes gerade ans die Verirrungen der „Meerschanmplastik" in erster Linie
mit aufmerksam machen, so verbinden wir damit noch eine ganz bestimmte
wohlmeinende Nebenabsicht. Im Laufe des nächsten Sommers wird in Leipzig
eine Kunstgewerbeausstellnng stattfinden, zu der das ganze Kunstgewerbe nicht
blos des Königreichs Sachsen, sondern anch der preußischen Provinz Sachsen
und der thüringischen Staaten geladen ist. Wir halten diese Ausstellung, ehr¬
lich gestanden, für eine verfrühte, mit der getrost noch fünf, sechs Jahre hätte
gewartet werden können. Das Kunstgewerbe der zur Theilnahme herange¬
zogenen Territorien steckt noch so in den Anfängen, daß man ihm uoch eine
Reihe von Jahren zu ruhiger Entwickelung hätte lassen sollen. Die Auffor¬
derungen, die in der Tagespresse wegen der Ausstellung fort und fort ergehen,
lassen denn auch deutlich genug durchblicken, daß die Täuschung, die noch bis¬
her auf allen kunstgewerblichen Ausstellungen die Veranstalter sich selbst und
dem Publikum bereitet haben, in Leipzig ganz besonders mitwirken wird: man
wird keine Durchschnittsleistungen ausstellen, wie sie doch zur Beurtheilung
des Gewerbes vor allen Dingen von Werth und Interesse sind, sondern excep¬
tionelle, besonders aä Iroe hergestellte Artikel. Woche für Woche werden die
Gewerbtreibenden in der Leipziger Tagespresse haranguirt, für größtmöglichen
„Glanz" der Ausstellung zu sorgen — wie denn überhaupt Glanz, glänzend
und glanzvoll das dritte Wort in diesen Reklamen ist, während von Gediegen¬
heit und gutem Geschmack noch niemand gesprochen hat — dadurch, daß sie
besondere Ausstellungsgegenstände anfertigen und bei etwaiger Verlegenheit um
Muster sich mit ihren Aufträgen an das Leipziger Knustgewerbemuseum wenden.
Indeß, die Ausstellung ist beschlossene Sache, die Mittel sind garantirt, der
Platz für das Ausstellungsgebäude ist bestimmt, die Reklame arbeitet bereits
mit Hochdruck, gewisse Leute sehen sich schon im Geiste zum Dank für ihre
Verdienste als „Kommerzienrath" oder ihr Knopfloch mit einem hübschen Bänd¬
chen geziert, die Gewerbtreibenden werden sich massenhaft betheiligen, und auch
die guten Thüringer werden den Wunsch haben, zum „Glanz" der Ausstellung
das Ihre beizutragen. Nun ist die Meerschaumwaaren-Jndustrie, wie männig-
lich bekannt, in Thüringen ganz besonders zu Hanse. Ruhla allein schickt
mindestens ein Dutzend Meerschaumwaaren-Fabrikanten auf die Leipziger
Messen. Wenn also irgendwo in aller Eile noch etwas für die Sache gethan
werden könnte, so wäre es ans diesem Gebiete. Daß die absolute Geschmack¬
losigkeit, die zur Stunde noch in diesen: Gewerbszweige herrscht, auf einer
Kunstgewerbe-Attsstellung Einlaß finden sollte, können wir unmöglich glauben,
denn von Kunst ist ja die Rede gar nicht dabei; und wenn auch die Leipziger
Ansstellungs-Kommission, deren aesthetische Maßstäbe wir vorläufig noch nicht
kennen, ihr diesen Einlaß gewähren sollte, die Linie einer sachkundigen Kritik
Jugendschriften. In K. Thienemann's Verlag (Julius Hoffmann) in
Stuttgart sind in mustergiltiger Ausstattung — in ausgezeichnetem großem
Druck auf dem besten Papier — als „Festgeschenk sür die deutsche Jugend"
Märchen und Sagen erschienen, die Julius Hoffmann ausgewählt und
„bearbeitet" hat. Die Auswahl müssen wir nur loben. Denn viele pas¬
sende Stücke, welche die bekanntesten Sagen- und Märchenbücher nicht enthalte«,
hat der Verfasser mit Geschick und Takt seiner Sammlung einverleibt; so aus
den Palmblättern von Herder und Licbeskind „die Freunde", „Tai und Schenk",
„der Hirtenknabe", „der unglückliche Pfeilschuß"; von Peter Hebel läßt er „Hans
und Lise", von Hackländer „den Rothmäntel" und den „Zauberkrug", von Ottilie
Wildermuth „Heulpeterle", von Rob. Reinick „die Waldmühle", von I. A. C.
Löhr „die Rolandsknappen" und „die Brunnennixe" erzählen; daneben find auch
einige der tüchtigen Bearbeitungen A. Godin's, Bechstein's u. A. benützt. Da-
gegen möchten wir gegen die „Bearbeitungen", welche auch hier wie früher so
oft schon bei den Grimm'schen Märchen nothwendig erachtet worden sind, auch hier
Einspruch erheben. Wenn der Veranstalter der Sammlung die Sachen moderner
Märchenersinder, theilweise wenigstens, unverändert abdruckte, so durfte er es
getrost wagen, die klassische Form der Grimm'schen Volksmärchen ohne jede Zu¬
that und Kürzung in sein Festgeschenk aufzunehmen. Die Jugend bedarf, um
diese wundervolle Gabe der beiden Altmeister zu genießen, wahrlich nicht erst
der Verballhornungen, welche E. Laufes und Andere an den Originalen vor¬
genommen. Auch möchten wir, da hier auch nichtdeutsche Sagenkreise in der
„Waldsrau" von Neuen, in dem esthnischen Volksmärchen „der alte Junge und der
Fürstensohn" von Dr. Kreutzwald u. s. w. mit Recht Beachtung gesunden haben,
für eine neue Auflage, die wir dem schönen Buche gerne wünschen, die Auf¬
merksamkeit des Verfassers auf einige der köstlichen dänischen Volksmärchen hin¬
lenken, die Svend Grundtwig gesammelt hat und die vergangenes Jahr in
einer freilich ziemlich mangelhaften deutschen Uebersetzung von Willibald Leo
bei Joh. Ambr. Barth in Leipzig erschienen sind. Geschmückt ist das Werk
durch acht Illustrationen nach Aquarellen von C. Offterdinger.
Hauff's Märchen, in der bekannten und mit Recht beliebten Bearbei¬
tung von Albert Ludwig Grimm, bietet I. M. Gebhardt's Verlag in Leipzig
zum bevorstehenden Feste in dritter Auflage. Schon vor langen Jahren hat
der Verfasser durch die geschmackvolle und mit feinem pädagogischen Takte
unternommene Bearbeitung der „Sagen und Märchen aus der Heroenzeit der
Griechen und Römer" und der „Märchen der 1001 Nacht", die aus demselben
Verlag hervorging, bemerkenswerthe Jugendschriften geschaffen. In seiner
Ausgabe von Hauff's Märchen hat sich der Verfasser angelegen sein lassen, den
immer frischen Reiz.der originellen Sprache und Darstellung Hauff's zu wahren.
Er hat nur einige passende Kürzungen im Dialog, einige Wort- oder Stilver¬
besserungen, einige sachliche Berichtigungen kleiner Versehen des Dichters vor¬
genommen. Im Uebrigen ist das Original unversehrt geblieben, und die kern¬
gesunde Moral, der fröhliche Humor, die tiefe Gemüthlichkeit dieser Erzählungen
des schwäbischen Dichters werden gewiß auch dieser neuen Auflage dieselbe
Gunst zuwenden, welche die früheren gefunden, zumal sich auch hier das Streben
der Verlagshandlung kundgibt, gediegenen Inhalt in würdiger Ansstcittung zu
bieten. Die Bilder, die P. Grod Johann gezeichnet, die lithographische Anstalt
von I. G. Fritzsche in Leipzig in Farbendruck ausgeführt hat, verdienen alle
Anerkennung.
Unerschöpflich fast ist die Ausbeute, welche Cooper und Marrhat den deut¬
schen Jugendschriststellern schon geboten haben und jährlich noch zuführen. Der
Vortag von Julius Hoffmann in Stuttgart läßt soeben den „Lootsen" von
Cooper und „die Ansiedler von Canada" von Kavt, Marryat in einer Be¬
arbeitung von Otto Hoffmann erscheinen. Die Illustrationen des „Lootsen"
(von G. Bartsch) stehen unseres Trachtens über den skizzenhaften Bildern der
„Ansiedler". Aber der Stoff, den der „Lootse" bietet, theilt die Mängel seines
Originals. Der Cooper'sche Lootse ist bekanntlich der berühmte Seeheld der
Nordamerikaner in deren Unabhängigkeitskrieg, Jones. Aber von seinen histo¬
rischen Großthaten erzählt Cooper kaum eine in seiner Geschichte. Alles ver¬
läuft sich in kleinen, öfters sogar für die Amerikaner recht mißlichen Schar¬
mützeln und Handstreichen an der englischen Küste. Eine glücklichere Wahl hat
unseres Erachtens I. M. Gebhardt's Verlag in Leipzig getroffen, welcher die
schon durch Franz Hoffmann der deutscheu Jugend bekannte treffliche Erzählung
Marryat's Jacob Ehrlich von dem Rektor a. D. G. Mensch neu hat bear¬
beiten lassen und mit charakteristischen Illustrationen uach Aquarellen von Chr.
Tell jr. ausgestattet hat. Wie taktvoll diese Bearbeitung ist zeigt eine Be¬
gleichung derselben mit derjenigen Franz Hoffmann's und vollends mit dem
Originale. Außerdem bietet derselbe Verlag noch die „Waldkinder" Mar¬
ryat's in einer sehr verständigen Bearbeitung des bekannten Pädagogen
Theodor Kretzschmar unter dem Titel „die Kinder des Waldes",
mit Illustrationen von C. Offterdinger, die mit besonderer Liebe und nach dein
Leben gezeichnet erscheinen. Auch in dem Original dieser Erzählung tritt die
bereits früher bei Besprechung des „neuen Buchs der Welt" getadelte merk¬
würdige Erscheinung zu Tage, daß bei Szenen, die in der Zeit der Kämpfe der
Rundköpfe unter Cromwell gegen die Ritter und Höflinge Carl's I. spielen, die
Sympathie des Lesers für die Partei in Anspruch genommen wird, welcher sie
die Weltgeschichte keineswegs zuwendet, für die Partei des Königs. Besonders
merkwürdig ist diese Erscheinung hier, da es sich um ein englisches Original
handelt, und man doch erwarte» sollte, daß ein Brite die geschichtliche Berech¬
tigung und Bedeutung eines der größten Männer, welche das Inselreich jemals
hervorgebracht, richtig würdigen werde. Aber wenn auch deu Geschichtskenner
diese Verzeichnung des historischen Hintergrundes in dem Werke Marryat's pein¬
lich berührt, so ist dafür das individuelle Leben, das nun durch die Kunst des
Verfassers vor uns ersteht, so fesselnd und wahr, daß ihm jenes Versehen gerne
nachgesehen wird. In wenigen unserer Jugendschriften dürfte die erziehende und
läuternde Kraft unglücklicher Tage so ergreifend und doch im besten Sinne
des Wortes so humorvoll geschildert worden sein, wie hier.
Es gibt Persönlichkeiten, die vermöge ihrer eigenthümlichen tragischen
Schicksale von Berufenen wie von Unberufenen stets von Neuem zum Gegen¬
stande einer erbitterten Kontroverse gemacht werden. Vielleicht über keine
Persönlichkeit der neueren Geschichte ist in den letzten Dezennien so viel ge¬
schrieben worden, als über Maria Stuart. In Deutschland freilich am aller¬
wenigsten. Ranke's meisterhafte Darstellung der Hauptmomente in Maria's
Leben*) bildet noch heute die einzige gediegene deutsche Quelle, aus der sich
unser gebildetes Publikum über diesen Gegenstand Belehrung holen kann. Im
Großen und Ganzen sind aber die zahlreichen Publikationen der letzten Jahre,
obwohl mehrfach bisher ungedrucktes Material dazu verwendet werden konnte,
nicht im Stande gewesen, das Urtheil eines Mignet und Ranke wesentlich zu
modifiziren, obwohl fast alle diese Schriften mit einer gewissen Leidenschaft¬
lichkeit für Maria Stuart Partei nehmen und dazu bestimmt sind, die Königin
von der schweren Schuld, die man ihr beigemessen hat, zu entlasten. Einige
derselben sind mit einer gefährlichen Gewandtheit und Dialektik geschrieben und
Wohl im Stande, das Urtheil derjenigen, welche sich über die einzelnen Fragen
uicht aktenmüßig orientiren können, in Verwirrung zu setzen und zu trüben.
Es dürfte daher wohl geboten sein, dieselben einer unbefangenen Kritik zu
unterziehen und ihre Ergebnisse kurz zusammenzustellen. Man kann in dieser
neuesten Maria Stuart-Literatur drei Kategorien von Schriften unterscheiden.
Ueber die erste ist sehr wenig zu sagen. Es sind Schriften, welche fast gar
keinen Werth besitzen, weil sie weder auf neuem Materiale basiren, noch das
Vorhandene mit historischer Kritik und Objektivität zu verwerthen verstanden
haben.*) Den Schriften der zweiten Kategorie kann einiger Werth nicht ab¬
gesprochen werden. Sie sind fleißig und nicht ohne Geschick, wenn auch mit
ausgesprochener Parteitendenz gearbeitet und haben durch Herbeischaffung
bisher unbenützter Aktenstücke unser Wissen über einzelne Partien der Geschichte
Maria Stuart's hin und wieder nicht unwesentlich vermehrt. **) Endlich haben
wir drittens auch einige wenige Schriften zu verzeichnen, welche sehr gründlich
und objektiv gearbeitet sind und eine wesentliche Bereicherung unserer Kenntnisse
enthalten, oder als Aktenpublikationen Neues zu gewähren im Stande sind.***)
Von allen diesen Schriften sind nur die Burton's und Schlern's unparteiisch
und ohne Vorurtheil geschrieben. Die andern nehmen sämmtlich mit Leiden¬
schaft für die schottische Königin Partei. Einen eigenen Standpunkt nimmt
der bekannte und höchst verdiente englische Geschichtsschreiber Fronde ein.f)
Für seine englische Geschichte, in der auch sür die Geschichte Maria Stuart's zahl¬
reiche, bisher unbekannte Details enthalten.sind, gebührt dem originellen und geist¬
vollen Verfasser trotz sehr erheblicher Mängel der wärmste Dank aller Historiker. Er
nimmt jedoch gegen Maria Stuart Partei und zwar mit dem ganzen Hasse eines
altenglischen Puritaners. Mit gutem Rechte ist ihm von Hosack, Meline u. A. an
verschiedenen Stellen gerade die Gehässigkeit seiner Darstellung zum Vorwurf
gemacht worden. Allen Apologeten Maria's gemeinsam ist die willkürliche
Behandlung des Materials. Kleinigkeiten werden über Gebühr betont und
berücksichtigt, wie die Datirung der Chatonllenbriese, während wesentliche Dinge
übergangen oder in ein falsches Licht, das heißt meist aus dem Zusammen¬
hange gerissen werden. Alle zeigen einen gleichen Mangel an historischer Kritik.
Sie überbieten sich in der Benutzung zweifelhafter Quellen und in der Kühnheit
der Schlüsse, die alsdann von ihnen gezogen werden.
Ein Beispiel seltener Prätension ist ?seits lüstor^ ok Hrwso, ok Feots,
ein Buch, welches — ich glaube nicht zu irren — unter den Auspizien der
Exkaiserin Eugenie erscheinen sollte und zuerst in englischer Uebersetzung das
Licht der Welt erblickte. Die vorzügliche und reiche Ausstattung dieses zwei¬
bändigen Werkes (in 4") überbietet alles, was in dieser Hinsicht bisher bei
einem historischen Werke geleistet worden ist. Jeder deutsche Verleger wird es
nur mit stillem Grauen betrachten können. (60 Mark.) Damit hat das Lob
aber ein Ende. Der Inhalt ist um so dürftiger. Die neuen Publikationen
— von Ranke's englischer Geschichte zu schweigen — hat Herr Petit nach der
Manier seiner Landsleute mit Verachtung gestraft, dagegen die Memoiren von
Herries, Melon und Lesly's Geschichtswerk, sowie die ganze ältere Literatur
über Gebühr berücksichtigt. Nicht ein einziger Punkt ist zu neuer Beleuchtung
oder größerer Klarheit gekommen. Hingegen wimmelt das Buch von Fehlern
und Irrthümern aller Art.
Meline zieht gegen Front e zu Felde und weist ihm verschiedene Ueber¬
treibungen nach. Das ist aber auch Meline's einziges Verdienst. Seine übrigen
Darstellungen ermangeln jeder Stichhaltigkeit und werden Niemand überzeugen.
Herr Petrick hat es namentlich in seiner ersten Schrift verstanden, den Leser durch
Druck und Satzbau derart zu ermüden, daß es wirklich eine Arbeit genannt
werden kann, sich den Inhalt derselben anzueignen. Jedes vierte, fünfte Wort
ist fett gedruckt, der ganze Text sieht marmorirt aus, und bunt ist denn auch
der Inhalt. Man habe, meint Herr Petrick — bescheidener Weise — bisher
sich immer nur an die Äußerlichkeiten der Chatoullenbriefe gehalten und den
inneren Gehalt nicht genügend und im Zusammenhange mit den Ereignissen
untersucht: er habe dieses jetzt gethan, und ein untrüglicher Beweis für die
Unechtheit der Briefe sei das Resultat gewesen. Was sind nun seine Beweise?
Es sind die Ausführungen von Chalmers, denen wir nur in einer schlechteren
und unklareren Form wieder begegnen, nicht ein einziges neues Argument ist
hinzugefügt. Gleich zu Beginn der Schrift werden wir belehrt, daß Maria
Stuart's zweiter Gemahl nicht Darnley, sondern Darley geheißen habe und
bisher sich alle Historiker einer namhaften Sünde schuldig gemacht hätten; ein
überzeugender Beweis — nach Herrn Petrick — mit welcher ungeheuren
Kritiklosigkeit bisher die Geschichtsschreibung in Sachen Maria Stuart's ver-
fahren habe. Und in diesem Stile geht es weiter. Nicht glücklicher ist der
Verfasser bei seinen Ausführungen über den Grafen Bothwell. Schlern's ver¬
dienstvolle Forschungen*) werden nur insofern berücksichtigt, als es Herrn
Petrick für seine Auffassung von dem Verhältnisse Maria Stuart's zu Bothwell
paßt, so das Testament, so das Datum von Bothwell's Tode, so die Anklage
jener Anna Drondsen von Bergen u. A. mehr. Gerade sür die letzten Lebens¬
schicksale Bothwell's und seine Gefangenschaft in Dänemark sind wir Schlern
zu hohem Danke verpflichtet.^) Mit großer Sorgfalt hat dieser dänische
Historiker letzthin alles zusammengestellt, was in dem Kopenhagener Archive
über Bothwell vorhanden war, und namentlich die Unechtheit des sogenannten
Bothwell'schen Testamentes ist von ihm in überzeugendster Weise nachgewiesen
worden.
Eine merkwürdige Schrift ist John Skelton's „tus IllixsÄLNrnöQt ot Atar^
Lwart". „Jo äötsnes" steht obenan. Der Verfasser verleugnet nicht nur, wie
Hosack, niemals den Juristen, sondern hat auch seiner Vertheidigung Maria
Stuart's die Form einer Rede vor den Geschworenen gegeben. Mit der An¬
rede „AMtlsmön" sind alle geschickten Wendungen eines Plaidoyers verbunden.
Skelton plaidirt indessen oft mehr für „mildernde Umstände" und entschuldigt
manches, weil die Königin „ein kühnes, geistvolles und hochsinniges Weib ge¬
wesen, das da liebte und haßte mit einem lebhaften, das Feige verachtenden
Gemüthe". Skelton gibt zu, daß die Angeklagte nicht so unschuldig und un¬
wissend wie ein Kind über Bothwell's Absichten gewesen sei, aber ebenso wenig
habe sie Darnley getödtet aus Liebe zu Bothwell. Er betont, daß die Apo¬
logeten Maria's bisher immer einen falschen Weg eingeschlagen, indem sie die
Königin zu einer Art von „virZW ins-re^r" hätten machen wollen. Die Folge
davon sei gewesen, daß ihre Gegner den Umstand, daß sie von den Absichten
der Verschwörer unterrichtet war, benutzt hätten, um daraus ein verbrecherisches
Verhältniß zu dem Grafen herzuleiten. Die Schrift ist geschickt und nicht ohne
Geist geschrieben, irgend welchen Werth für den Historiker besitzt sie indessen
nicht. Wo Skelton das geschichtliche Gebiet betritt, wie z. B. wenn er das
Verhältniß Maria Stuart's zu den katholischen Mächten bespricht, zeigt er sich
geradezu unwissend und ohne Kritik.
Aehnliches läßt sich von Hosack's ungleich bedeutenderem zweibändigen
Werke sagen. Mit scharfem Verstände hat dieser begabte Jurist alles hervor-
gesucht und in das ihm passende Licht gestellt, was zweifelhaft und verdächtig
in den Ausführungen der Gegner Maria Stuart's erscheinen konnte, hat er die
wurden Punkte, die sich im Leben ihrer Ankläger und Feinde genug finden,
auszubeuten und zu benutzen verstanden. Es ist dieses bei weitem das gefähr¬
lichste Buch, welches bis jetzt über Maria Stuart geschrieben worden ist,
Hosack's Schlüsse sind scharf, sein Fleiß ein eminenter, dazu beherrscht er die
Literatur der Zeit in nicht gewöhnlichem Grade. Ihm fehlte jedoch die Vor¬
bildung und das Urtheil des Historikers, und dieses hat sich empfindlich gerächt.
Seine Quellenkritik ist eine ebenso willkührliche wie unvollkommene, sein Urtheil
ist nur das zersetzende eines praktischen Juristen. Es hat ihn in diesem Falle
weit über die Grenzen der Unparteilichkeit hinausgeführt. Wir verdanken
Hosack indessen die Kenntniß einiger werthvoller bisher unbekannter Aktenstücke;
und hier ist namentlich ein Brief Lord Ogilvie's an den Erzbischof von Glas¬
gow von größtem Interesse, der das Verhältniß des Regenten Morton zu
Maria Stuart behandelt.
John Hill Burton's Darstellung beruht auf einer durchaus verständigen,
ruhigen und unparteiischen Auffassung des Materials. Ohne gehässig gegen
Maria Stuart zu sein, läßt er doch Elisabeth volle Gerechtigkeit widerfahren.
Dabei ist er im Gegensatze zu Fronde weit entfernt davon, alle ihre Hand¬
lungen und die zuweilen hinterlistigen Wege ihrer Politik zu vertheidigen.
Dasselbe läßt sich von Gauthier's dreibändiger, sehr ausführlichen Biographie
Maria Stuart's nicht sagen. Dieselbe ist glatt und nicht ohne Feinheit ge¬
schrieben, seine Kritik aber ist stets parteiisch und läßt viel zu wünschen übrig.
Dieser sein Parteistandpnnkt hat ihn denn auch wiederholt zu willkührlicher Be¬
nutzung der Quellen, und oft sehr fragwürdiger Quellen veranlaßt. Was
endlich die beiden Aktenpublikationen betrifft, so sind die Ergebnisse derselben
doch nur sehr mäßige zu nennen. Das Tagebuch Bourgoing's enthält mehr
eine Bekräftigung bekannter Thatsachen, als daß es wesentlich unsere Kenntnisse
vermehrte. An seiner Echtheit wird nicht wohl gezweifelt werden können.
Für die letzten Lebenstage Maria Stuart's ist es immerhin eine gute Quelle.
Man wird gut thun, eine Menge unbeglaubigter Details, die namentlich über
die Hinrichtung verbreitet waren, nach dieser einfachen und kurzen Berichter¬
stattung zu beseitigen. Auch der Briefwechsel Sir Amias Poulet's — wunder¬
licherweise von einem englischen Jesuiten herausgegeben bietet wenig, was
nicht schon bekannt und verwerthet worden wäre. Der verbindende Text macht
der Schule des Herausgebers alle Ehre. Mit einer seltenen Keckheit werden
hier Beschuldigungen auf die englischen Staatsmänner gehäuft, und die alten
Kombinationen Tytler's, deren Haltlosigkeit schon Mignet nachgewiesen hat,
wieder aufgewärmt.*) Ich wende mich jetzt, nach diesen allgemeinen Bemer¬
kungen, zu einer Besprechung der angeblichen Resultate, die uns mit mehr oder
weniger Recht geboten werden. Um Wiederholungen zu vermeiden, ziehe ich es
vor, die betreffenden Ereignisse und nicht die einzelnen Schriften der Reihe
nach in's Auge zu fassen,**)
Aufenthalt in Frankreich, Jugend und erste Ehe. Ueber die
Jugendjahre Maria Stuart's, ihren Aufenthalt und ihre Erziehung am Hofe
Heinrich's II, wird unser Wissen durch keine der genannten Schriften irgend¬
wie bereichert. Die Talente der jugendlichen Königin werden meist, wie dieses
auch bisher schon üblich war, über Gebühr verherrlicht und gepriesen. Meline
stempelt Maria zu einem wahren Wunderkinde. Sie habe, schreibt er, bis
zum 6. Lebensjahre Geographie, Geschichte und Lateinisch gelernt; ihre Fort¬
schritte nennt er mit Petit „raxüä", ohne irgendwie dazu berechtigt zu sein.
Die Aufsätze, welche uns von der Hand der 12jährigen Königin erhalten sind,
verrathen, wie auch von Burton mit Recht hervorgehoben wird, wohl einen
aufgeweckten Verstand, indessen nichts für ihr Alter Ungewöhnliches.***) Die
Briefe Maria's aus dieser Zeit, sowie die vielgepriesenen Jugendgedichte werden
schwerlich ohne die übliche Beihilfe entstanden sein. Daß die junge Königin
Italienisch gut verstanden habe, ist nicht erwiesen, Unterricht darin wird sie
wohl gehabt haben; daß ihre Kenntnisse im Lateinischen, Italienischen und
Griechischen „wundervoll" gewesen seien, wird uns nur von Brantöme ver¬
sichert. Petit behauptet allerdings in Folge dessen geradezu, sie habe neben
Ariost und Petrarka auch den Homer gelesen; f) und nicht minder wunderlich
ist Gauthier's Ansicht, daß der Hof Heinrich's II. gerade dazu gemacht gewesen
sei, ihre guten Anlagen zur Entfaltung zu bringen. Ihre halbklassische Bildung
verdankte die junge Königin von Schottland ihrem Oheim, dem Kardinal von
Lothringen, und der Aufsicht der gelehrten und trefflichen Margaretha von
Frankreich, der späteren Gemahlin Philibert Emanuel's von Savoyen. Am
Hofe Heinrich's II. konnte sie hingegen nur Schlechtes lernen. Fronde, der
bei jeder Gelegenheit Maria's Treulosigkeit zu betonen liebt, greift auch ihr
Verhältniß zu ihrem ersten Gemahle Franz II. an. Unbefangene Beobachter
haben indessen einstimmig die Tiefe ihres Schmerzes bei seinem frühen Dahin¬
scheiden bezeugt.*) Der Vorwurf Fronde's, Maria Stuart habe auf eine
neue Verbindung gesonnen, ehe der Körper ihres Gatten kalt geworden, ist
ungerecht und ein Ausdruck des fanatischen Hasses, mit dem dieser verdienst¬
volle Historiker die Königin verfolgt.
In ähnlicher Weise wird dafür in den meisten dieser Schriften Maria's
Halbbruder Murray, der spätere Regent von Schottland, behandelt. Skelton
benutzt mit Geschick die Unterstützungsgelder, welche Murray von Elisabeth
erhielt, um seinen Charakter und seine Uneigennützigkeit zu verdächtigen. Diese
Gelder waren, wie wir jetzt genau wissen, sehr geringfügig und wurden zu
religiösen und Parteizwecken benutzt, keinenfalls dienten sie zu Murray's Be¬
reicherung.^*) Die größten Vorwürfe werden Murray von Petit gemacht, der
die Behauptung aufstellt, Murray habe einen Vertrauensbruch begangen, als
er Throgmorton und bei seiner Rückkehr nach Schottland Elisabeth den In¬
halt seiner Verhandlungen mit Maria mitgetheilt habe. Petit vergißt aber,
daß Murray dieses ganz öffentlich und ohne ein Geheimniß daraus zu machen
gethan hat, daß er mit Elisabeth im Bündnisse und dabei von dem ernsten
Bestreben beseelt war — wie aus seinem Briefe vom 6. August unwiderleglich
hervorgeht — eine Versöhnung zwischen beiden Königinnen zu Stande zu
bringen. Zudem war Maria aus seine Vorschläge trotz aller Bitten nicht ein¬
gegangen. Endlich lag ihm die Sicherung des presbyterianischer Glaubens in
seinem Vaterlande wie die Errungenschaften des Vertrages von Edinburgh vor
allem am Herzen.
An diese Vorwürfe wird dann — auch von Gauthier und Hosack — die
etwas frivole Behauptung geknüpft, Murray habe die englischen Minister an¬
gereizt, seine Schwester bei ihrer bevorstehenden Rückfahrt nach Schottland ab¬
zufangen und als Gefangene nach England zu bringen. Den Beweis dafür
bleiben sie indessen schuldig. Es läßt sich nicht das Geringste dasür anführen,
und ein Blick auf jenen genannten Brief vom 6. August läßt das Sinnlose
der Anklage erkennen. Daß die englischen Kriegsschiffe Ordre hatten, die
Königin von Schottland nicht Passiren zu lassen, geht allerdings mit ziemlicher
Sicherheit aus einem Briefe Cecil's an den Carl von Sussex hervor.***)
Erste Regierungsjahre. Heirath Darnley's. Sehr schlecht kommt
John Knox, der Reformator, bei den neuesten Biographen Maria Stuart's
fort. Besonders Petit gießt die ganze Schale feines Zornes über ihn aus.
Wenn man auch zugestehen muß, daß Knox sich zu viel herausnahm und in
seinem Zelotismus, namentlich in seinen Ausdrücken, zu weit ging, so wird
man doch nicht ohne Lächeln bei Petit lesen, daß der Reformator bei seiner
Zusammenkunft mit der Königin „eher einer Bestie als einem Priester ge¬
glichen habe". Nicht ohne Geist, wenn auch etwas einseitig ist Gauthier's
Charakteristik von Knox.^) Er stellt ihn als Demagogen dar, der die Kanzel
zur Tribüne gemacht habe und den Staat, nicht die Kirche habe reformiren
wollen. „Er habe stets das Evangelium im Munde gehabt, aber nicht den
Geist desselben erkannt, er habe nie an Golgatha's Stätte gebetet, denn sein
Gott sei nur der Gott des Sinai gewesen." Nicht minder hart wird Darnley
beurtheilt. Die erbitterte Kritik dieses wankelmüthigen Menschen ist nicht ohne
Berechtigung, indessen trifft sie, wenn sie allzuweit geht, doch auch die Königin.
Skelton und Petit beschuldigen Darnley sogar geradezu gemeiner Liebschaften,
was nicht beglaubigt ist und durchaus verworfen werden muß, ja Petit ver¬
steigt sich zu der kühnen Behauptung, die wenigstens neu ist, daß Maria
Daruley aus Nothwendigkeit und nicht aus Liebe geheirathet habe. Auch seine
Trunkenheit wird übertrieben; der Bericht Drury's an Cecil spricht nur von
einem einzigen derartigen Falle. ^) Auf der anderen Seite muß hervorgehoben
werden, daß der intime Umgang Maria's mit Darnley vor ihrer Vermählung
ihr mit Unrecht von einigen Schriftstellern vorgeworfen morden ist. Rcmdolph,
gewiß nicht ihr Freund,-hat Leicester ansdrücklich in einem Briefe gewarnt,
solchen Gerüchten irgend welchen Glauben zu schenken.***)
Ueber die Verhandlungen mit Elisabeth bezüglich Maria's Verheirathung
gibt neben Gauthier vor allem Fronde neue und interessante Aufschlüsse.
Leicester's Versuche, die Protektion Philipp's II. durch Versprechungen bezüg¬
lich Wiederherstellung der katholischen Religion in England zu gewinnen, sowie
namentlich die Intriguen der Lady Lennox, die, von ungemeinem Ehrgeize be¬
seelt, ihr Haus zu einem Sammelplatze aller unzufriedenen Katholiken Eng¬
land's gemacht hatte, treten hier sehr scharf hervor. Die Verbindung Maria
Stuart's mit Darnley erscheint nach dem jetzt vorliegenden Materiale immer
mehr als ein sorgsam vorbereiteter Schlag der Katholiken, den nur wenige in
Schottland damals sogleich — darunter Murray und Argyle — als einen
solchen empfunden haben. Margaretha Lennox war die Seele der ganzen Jn-
trigue, die mit Hilfe Riccio's zum Abschlüsse gebracht wurde. Ganz klar liegen
die einzelnen Beziehungen und Fäden indessen auch hier nicht vor. Der Vor¬
schlag, sich mit Darnley zu verehelichen, ist Maria Stuart bereits sehr früh
gemacht worden. Schon vor ihrer Rückkehr nach Schottland hatte Margaretha
Lenuox in diesem Sinne in ihrer Heimath gewirkt und von den hervorragend¬
sten Mitgliedern des katholischen Adels, den Selon, Huntly, Sutherland, zu¬
stimmende Versicherungen erhalten.*) Sie hat die hvchfliegendsten Gedanken
damit verbunden und gehofft, die Krouen von Schottland und England ans dem
Haupte ihres Sohnes vereinigt zu sehen. Wenige Tage nachdem die Königin
in Leith gelandet war, erschien als Spezialgesandter der Lennox'schen Familie
Arthur Lilliard, Daruley's Erzieher, von dem Earl Sntherland eingeführt. Er
überbrachte der Königin eine direkte dahin bezügliche Aufforderung. Darnley
war indessen damals erst 15 Jahre alt, er machte den Eindruck eines Knaben.
Maria Stuart empfing Lilliard während der Reise nach der Hauptstadt. Sie
saß auf einem alten Koffer und erkundigte sich eifrig nach ihres Vetters Eigen¬
schaften und Anhang in England; doch gab sie eine ganz unbestimmte Ant¬
wort, und Lilliard mußte, obwohl gut empfangen, unverrichteter Sache wieder
abziehen. **)
Elisabeth hat nicht ohne Grund so lange und heftig ihre Zustimmung zu
Maria's Vermählung mit Darnley versagt. Die Weigerung war nicht gegen
Darnley, sondern gegen Margaretha Lenuox gerichtet. Wenn man gerecht sein
will, so hatte Elisabeth alle Ursache hier vorsichtig zu sein. Sie hatte früh¬
zeitig von den Plänen der Lennox'schen Familie Kunde erhalten. Im März
1562 setzte sie beide Ehegatten in den Tower. Die katholischen Verbindungen,
welche sich in England nicht ohne ihre Mitwirkung gebildet hatten, erlitten
dadurch einen empfindlichen Stoß.***) Ueber das Dudleyprojekt besitzen wir
einen interessanten Bericht de Quadra's an Philipp II., dem der schottische
Staatssekretär Maitland die dahin bezügliche Unterredung sogleich mittheilte.
Elisabeth machte bereits im März 1563 Maitland die ersten direkten Eröff¬
nungen. Der Himmel, sagte sie ihm, habe Lord Robert fo viele Reize verliehen,
daß, wenn sie selber zu heirathen gedächte, sie ihn allen Fürsten der Welt vor¬
ziehen würde. Worauf Maitland sehr treffend erwiderte, daß Ihr. Maj. seiner
Herrin damit einen „wundervollen" Beweis ihrer Zuneigung gäbe, indem sie
ihr jemand anbiete, der ihr selber fo theuer sei. Er fürchte indessen, daß selbst
wenn seine Herrin Lord Robert ebenso wie Ihr. Mcij. lieben könnte, sie ihn
nicht heirathen werde, aus Besorgniß, Ihr. Mcij. eines Mannes zu berauben,
den sie so hoch schätze. Elisabeth erwiderte scherzend, sie wünschte, der Earl of
Warwick wäre so anziehend als sein Bruder, dann würde für sie beide gesorgt
sein. Maitland bemerkte endlich etwas drastisch, seine Herrin sei noch jung,
Ihr. Mcij. möge Lord Robert zuerst selber heirathen, wenn sie Kinder aus
dieser Ehe bekäme, so würden ihre Unterthanen zufrieden sein, wenn sie aber
kinderlos bliebe und sterben sollte, so konnte seine Herrin alsdann beides erben,
ihre Krone und ihren Gemahl, ohne Zweifel würde doch eine von ihnen beiden
Kinder von Lord Robert erhalten. Elisabeth lachte und brach das Gespräch ab.*)
Was die Erbfolgeangelegenheit anbetrifft, fo geht aus einem Briefe Lethington's
an Cecil doch hervor, daß Cecil bereits ziemlich sicher die Erledigung dieser
Angelegenheit in einem für Maria Stuart günstigen Sinne zugesagt hatte.**)
Um so empfindlicher war dann der Rückschlag und um so berechtigter die ge¬
reizte Stimmung Maria's.
Gegen Cecil hat Gauthier einen fast krankhaften Argwohn. Sicher hätte
der englische Minister eine protestantische Nachfolgerin Elisabeth's lieber ge¬
sehen. Die Annahme Ganthier's aber, daß es sein Bestreben von Anfang an
gewesen sei, Maria Stuart zu ruiniren, um, im Falle Elisabeth stürbe,
Katharina Gray, die Schwester Jane Gray's, die das Hans Suffolk repräsen-
tirte und heimlich mit dem Grafen Hereford vermählt war, auf den Thron
zu bringen,***) bedarf denn doch eines bestimmten Beweises. Elisabeth's Hal¬
tung bei diesen Verhandlungen mit Schottland ist indessen recht zweideutig.
Aufrichtigkeit wechselt in ihren Briefen mit Verstellung. Auf der einen Seite
finden wir Aeußerungen wie, daß der Lethestrom in England uicht fließe, oder
daß sie wie Ulysses ihre Ohren verstopft habe, um nicht das Gekrächze der
Naben zu hören, s) auf der anderen heftige Versicherungen ihrer Freundschaft
und Geneigtheit, auf Maria's Wünsche, falls sie bei ihrer Vermählung sich
nach ihrem Willen richte, einzugehen.
Murray's Empörung. Auch Murray's Empörung erscheint jetzt in
einem wesentlich anderen Lichte. Es kann kein Zweifel sein, daß ihn sehr
ernste Bedenken dazu getrieben haben, die Waffen gegen seine Schwester zu
ergreifen. Daß persönlicher Ehrgeiz mit dabei im Spiele war, wird niemand
leugnen. In erster Linie entschieden bei Murray aber immer die religiösen
Interessen, Die presbyterianische Religion erschien ihm durch die Vermählung
seiner Schwester mit Daruley im höchsten Grade bedroht. Murray's Unglück
war, daß er diese Erkenntniß der Masse der Bevölkerung in Folge der klugen
Maßregeln Maria Stuart's uicht beibringen konnte. Er sah klar voraus, was
kommen würde. Ein völliger Umschlag in der Politik seiner Schwester schien
ihm nur eine Frage der Zeit. Daher sein Hilferuf an Cecil und die englischen
Glaubensgenossen: „Der Satan habe seine Heerschaaren gegen die Kinder
Gottes losgelassen." Unmittelbar nach der Hochzeit erfolgten Darnley's Ueber¬
tritt zur katholischen Kirche, jene Umwandlung des Geheimen Raths und end¬
lich unter Riccio's Einfluß die Verbindung Maria Stuart's mit Philipp II.
von Spanien. Wie alle Konvertiten bemühte sich Darnley sogar katholischer
zu sein, als seine Gemahlin. Er hat bekanntlich später Maria Stuart beim
Papste verklagt, die Interessen ihrer katholischen Unterthanen vernachlässigt zu
haben.
Ganthier stellt Murray, den er sehr unterschätzt, ganz als Werkzeug
Cecil's dar. Murray handelte im Gegentheil auf eigene Verantwortung und
scheiterte mit seiner Erhebung, weil die Königin, seine Schwester, sich im Lande
beliebt gemacht hatte und durch ihre geschickte Haltung den Presbyterianern
gegenüber die alten Bundesgenossen ihres Bruders für sich zu gewinnen ver¬
stand. Murray wurde zudem in ganz ungenügender Weise von England aus
unterstützt. Die Berichte Randolph's aus dieser Zeit sind einseitig und haßge¬
tränkt. Wie er selbst eingesteht, hatte er jeden Einfluß am schottischen Hofe
verloren und war daher geneigt, selbst die unwahrscheinlichsten Gerüchte weiter
zu verbreiten. Er stand mit den Aufständischen in engster Verbindung und
schrieb seine Berichte in Murray's Sinne. Ganz haltlos und wunderlich ist
Raumer's Annahme, daß die Königin damals zu ihrem Halbbruder eine ver¬
brecherische Leidenschaft gefaßt habe, und tödtlich verletzt worden sei, als Murray
ihre Liebesanträge entrüstet zurückgewiesen. Es findet sich keine Spur davon,
und Randolph's perfide Berichte lassen allerdings eine jede Auslegung zu.
Aber auch die Behauptung Fronde's, daß die Aeußerungen von Haß, welche
Maria Stuart damals gegen ihren Bruder ausstieß, auf die Kenntniß, welche
dieser von ihrem intimen Verhältnisse zu Riccio gehabt, zurückzuführen seien,
ist nichts als eine haltlose Vermuthung.
Daß Elisabeth die aufstäudischen Lords, wenn auch in ungenügender
Weise unterstützt hat, ist jetzt unzweifelhaft erwiesen. Robert Melon, der Agent
der Rebellen, erhielt 2000 Pfund,*) und die Königin autorisirte Bedford, Murray
mit 1000 Pfund und 300 Soldaten zu unterstützen, aber er solle dieses thun,
schrieb sie, als ob es eine persönliche Hilfe sei,*) sie habe nicht die Absicht,
die Unterthanen eines Fürsten zu ermuthigen, die Waffen gegen ihre Souveränin
zu ergreifen. Paul de Foix, dem französischen Gesandten, gegenüber leugnete sie
aber, den Rebellen 6000 Kronen geschickt zu habend) Maria Stuart befand
sich, nachdem die Rebellen auseinander gesprengt und ihre Häupter nach Eng¬
land geflüchtet waren, in einer höchst unternehmenden Stimmung. Den guten
Rath Katharina's de Medici, den ihr Castelnau de Manvissiere brachte, wies
sie unwillig zurück. Er lautete, sie möge sich mit den Jnsurgenten vertragen.
Sie antwortete damals, sie wolle lieber ihr Leben verlieren, als Vasallin ihrer
aufrührerischen Unterthanen werden.***) Alle Freunde Murray's wurden da¬
mals ans der Regierung entfernt, so der Kanzler Morton und vorübergehend
anch der Staatssekretär Lethington; Katholiken wurden an ihre Stellen gesetzt.^)
Katholische Liga. Ermordung Riccio's. Während die Heiraths-
verhandlungen mit Elisabeth hin und her gingen, hat Maria Stuart bekannt¬
lich dem Rathe ihres Bruders Murrcch folgend alle Aufforderungen Katharina's
de Medici zurückgewiesen, sich an Kämpfen gegen Elisabeth zu betheiligen,
weil sie Anerkennung ihres Erbrechtes in England zu erhalten hoffte. Ganthier
hat daraus eine Abneigung gegen die Hngenottenkriege gefolgert; die Siege der
Guises, behauptet er kühn, „hätten ihr Thränen ausgepreßt".ff) In gleicher
Weise sind in den neueren Schriften die Beziehungen Maria Stuart's zu
Philipp II. und dem Papste in dieser Zeit, die sich bekanntlich unter Riccio's
Einflüsse entwickelt haben, geleugnet worden. So ist bei Meline Maria an
keinem katholischen Plane betheiligt, Skelton behauptet sogar, daß Elisabeth im
Herzen eine halbe Katholikin, Maria Stuart hingegen eine halbe Protestantin
gewesen sei,f1'1') und führt die Worte, die Maria vor ihrer Abreise uach Schott¬
land zu Throgmorton gesprochen habe, dafür an, ans denen indessen nur der
Wunsch der Königin hervorgeht, ihre Regierung in liberaler, toleranter und
versöhnlicher Weise zu führen. Hosack gibt die Verbindung iB. I. S. H^)
Maria's mit Philipp II. in dieser Zeit zwar zu, doch versucht er dieselbe da¬
durch zu beschönigen, daß er annimmt, sie habe einer Hilfsleistung gegen die
Rebellen und nicht religiösen Zwecken gegolten und sei erst erfolgt, als
Elisabeth die schottischen Aufständischen unterstützt habe, während Maria in
Wahrheit einer solchen Hilfe gar nicht bedürfte, und Elisabeth's Unterstützung
kaum der Rede werth war und überdies nichts gefruchtet hat.")
Die Betheiligung Maria Stuart's an der projektirten katholischen Liga ist
insofern nicht nachzuweisen, als die Königin doch keine Truppen stellen und
nur ein passives Mitglied derselben sein konnte. Die Liga ist in der projek¬
tirten Weise überhaupt nicht zu Staude gekommen, denn Katharina de Medici
lehnte es ab, diesem Bunde beizutreten. Alba beklagte bei der Zusammenkunft,
die er in Bayonne mit ihr zu diesem Zwecke hatte, ausdrücklich ihre hartnäckige
Weigerung. Katharina wollte damals ein Gegengewicht gegen die Guises haben
und bedürfte dazu Conde's und der Hugenotten. Mit Fug und Recht konnte
daher Bedford an Cecil am 14. Februar schreiben: „tuo lo^us ooras to
Ms (jussns liÄQci, but not z^se Lontirinkä."
Ueber Riccio's Ermordung wird auch in den neuesten Schriften wieder
eine Menge unbeglanbigter Details aufgetischt. Was den Mordakt selbst be¬
trifft, so gibt den sichersten Anhalt noch immer Maria's eigener Bericht an
ihren Gesandten in Paris, den Ranke auch seiner Darstellung zu Grunde ge¬
legt hat. Daß Riccio nicht in Gegenwart der Königin verwundet wurde, wird
auch von Randolph und Bedford in ihren Berichten betont. Fronde's Dar¬
stellung, obwohl sehr ausführlich und lebendig, ist durchaus unwahrscheinlich
und beruht auf zweifelhaften Berichten. Wie immer, so wurden auch hier nach
der That in dritter und vierter Hand Zusätze und Veränderungen mannich-
facher Art angebracht. Die Erzählung Skelton's <S. 161), nach der Maria die
drohenden Worte uach der That ausgestoßen habe: „ich werde Blut von jedem
von Euch verlangen", und zu ihrer Umgebung gewendet: „keine Thränen mehr,
ich will an Rache denken", ist den unzuverlässigen Memoiren von Herries ent¬
nommen. Die Abhandlung Petit's (im Appendix) über das Verhältniß der
Königin zu Riccio war ganz überflüssig, da heute — Fronde etwa ausge¬
nommen — von keinem Historiker mehr ein Liebesverhältniß angenommen wird.
Petit macht sich hier Sätze zurecht, die er den Gegnern Maria's in den Mund
legt und die er dann widerlegt, die aber von Niemand behauptet worden sind,
wie z. B. daß sie Darnley niemals geliebt und keinen Kummer über sein Be¬
nehmen gezeigt habe.
Randolph, der englische Gesandte, wußte durch Murray und Morton,
daß etwas gegen Riccio im Werke sei, er berichtete an Leicester, und da
Maria Stuart von keiner Seite her eine Warnung erhielt, so schließt Hoscick
(I. 135) sehr mit Unrecht daraus, daß Elisabeth den Mord gebilligt habe.
Andererseits geht Fronde wiederum zu weit, wenn er Morton's Betheiligung,
für den er eine ganz besondere Verehrung zeigt, zu entschuldigen versucht.
Morton habe, bemerkt er beschönigend, nur „in einem Paroxismus von Aerger
unterzeichnet". Auch ist nichts darüber bekannt, daß die Königin, wie derselbe
Schriftsteller behauptet, Riccio zum Minister und Kanzler des Reiches habe
ernennen wollen.
Vincent Eyre's vortreffliches und sofort bei seinem Erscheinen mit all¬
gemeinem Beifall aufgenommenes Tagebuch gibt in schlichter Sprache und
anspruchsloser Form eine getreue und fesselnde Schilderung der mannichfachen
Schicksale und furchtbaren Leiden jener kleinen Schaar von Engländern, die
auf dein Rückzüge aus Afghanistan mit Ausnahme von einigen Wenigen, unter
denen sich auch der Verfasser befand, elendiglich umkamen. Es ist bekannt,
mit welcher unbegreiflichen Verblendung und Kopflosigkeit die Engländer sich
selbst in's Verderben stürzten. Nach einer überraschend leichten Eroberung des
Laudes wähnte man, dasselbe ohne Schwierigkeiten besetzt halten zu können,
und überließ sich mitten in einem völlig unbekannten und in keiner Hinsicht
durchforschten Lande einer sträflichen Sorglosigkeit, die überhaupt nur bei der
eigenthümlichen Konstituirung des damaligen englischen Offizierkorps möglich
war und die schlimmsten Sünden der französischen Heerführung im letzten
Kriege hinter sich zurückläßt. Hatte doch der Oberbefehlshaber Lord Keane,
als er die Hälfte des Okkupativnsheeres aus Afghanistan wegführte, nicht ein¬
mal zur Unterhaltung der Kommunikation mit Indien eine Militärpostenlinie
angelegt, sich dagegen sobald als möglich nach London begeben, um auf den
leichterworbenen Lorbeeren auszuruhen. Und doch lagen zwischen dem engli¬
schen Hauptquartier bei Cabul bis zur ersten indischen Station über ein halbes
Tausend englischer Meilen, das Fünfstromland und ein fast unübersteigliches
Alpenland!
General Elphinstone fand, als er im April 1841 eintraf, um das Kom¬
mando zu übernehmen, das englische Heer in einem Winkel des Landes von
jedem Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen und die Bevölkerung scheinbar
durchaus friedlich gestimmt. Und dennoch wartete dieselbe nur auf ein Zeichen,
um loszuschlagen. Elphinstone ließ sich durch den Schein trügen und fiel
seiner Kurzsichtigkeit zum Opfer. Auch Sir William Mac-Naghten, Sir
Alexander Burnes und Major Pottinger waren wie mit Blindheit geschlagen.
Sie ließen die Empörung unter ihren Augen entstehen und um sich greifen,
thaten nicht das Geringste zu ihrer Unterdrückung und befanden sich im Zu¬
stande völliger Rathlosigkeit, als bereits die Flamme zum Hause herausschlug.
Die ersten Kundgebungen des Aufstandes gingen von den Ghilzis aus,
dem volkreichsten und unbezähmbarsten afghanischen Nomadenstämme, die sich
anch während des verhängnißvollen Rückzuges als unbarmherzige, unversöhn¬
liche Feinde der Briten erwiesen. Von den übrigen Stämmen, in welche die
Afghanen zerfallen, ist der mächtigste der der Dourcmis, bei welchen wiederum
die Familien der Suddozis und der Barukzis damals das meiste Ansehen ge¬
nossen. Die ersteren, aus welchen der von den Engländern wieder auf den
Thron gesetzte Schah Soudja stammte, galten als das eigentliche Königsge¬
schlecht. Dose-Mohamed dagegen, der von ihnen Abgesetzte, war ein Barukzi.
Sein Sohn Mohamed Akbar Khan warf sich zum Haupte der Insurrektion
auf und hatte es also sowohl mit den Engländern als auch mit dem Schah
Soudja zu thun. Seit der Absetzung des Vaters lebte er als Flüchtling im
Norden des Landes unfern der Grenze von Turkestan und bereitete daselbst
im Stillen Alles auf eine allgemeine Erhebung vor. Seinem in englischer
Gefangenschaft befindlichen Vater gelang es nicht, ihn zur Unterwerfung zu
überreden.
In den ersten Tagen des Oktober traf die Botschaft ein, daß Mohamed
Akbar von Norden her in's Land eingerückt sei. Gleichzeitig zogen mehrere
Ghilzis aus Cabul ab und bemächtigten sich eines unfern der Stadt gelegenen
Forts. Hierdurch war die Verbindung mit Indien abgeschnitten. Um dieselbe
wieder herzustellen, schickte Lord Elphinstone eine Brigade ab, welche das jen¬
seits des Gebirges gelegene Jellabad zu besetzen hatte. Inzwischen hatte die
Bevölkerung von Cabul selbst wenige Tage vor dem unzweideutigen Abzüge der
Ghilzis den Engländern deutliche Beweise ihrer Gesinnung gegeben. Offiziere
waren gröblich beleidigt, zwei europäische Zivilisten ermordet worden. Und es
war nicht unbemerkt geblieben, daß eine große Anzahl derer, welche die Brigade
des Generals Sale angegriffen, zu den Leuten der in Cabul wohnenden
Häuptlinge gehörten. Obwohl man sie früh Morgens hatte ausrücken und
Abends wieder einziehen sehen, war es keinem der dienstthuenden englischen
Offiziere eingefallen, sie anhalten zu lassen.
Amenoulcih Khan und Abdoulah Khan, zwei sehr einflußreiche Männer,
waren die eigentlichen Leiter dieser ersten Erhebung. Der Erstere war zwar
nur der Sohn eines Kcnneeltreibers, hatte sich aber vermöge seiner ungewöhn¬
lichen Begabung zu einer so bedeutenden Machtstellung emporgeschwungen, daß
er gegen zehntausend Mann auf eigene Faust in's Feld stellen konnte. Welches
Scheusal er im Uebrigen war, zeigt die Art, wie er sich eines ältern Bruders
entledigte. Er ließ denselben bis an den Hals in die Erde eingraben, einen
Strick um ihn schlingen und ein eben wild eingefangenes Pferd daran spannen,
auf welches dann so lange losgepeitscht wurde, bis der Kops des Schlachtopfers
vom Rumpfe gerissen war. In den Klauen solcher Menschen befanden sich
jetzt die Engländer. Am 2. November 1841 kam die Empörung in der Haupt¬
stadt zum offenen Ausbruch. „Früh am Morgen," erzählt Eyre, „hatten wir
von der Stadt her die beunruhigende Nachricht erhalten, daß ein Volksaufstand
ausgebrochen, alle Läden geschlossen und ein allgemeiner Angriff auf die Häuser
sämmtlicher in Cabul wohnenden Offiziere gemacht worden sei." Unter den
Letzteren befand sich, wie schon bemerkt, Alexander Burnes. Mac-Naghten und
Geueral Elphinstone weilten im Lager vor der Stadt, Major Pottinger in
Kohistan, der Schah in Baka-Hissar, der Zitadelle von Cabul. Um 9 Morgens
erhielt Mac-Naghten von Burnes die Meldung, daß in der Stadt die größte
Aufregung herrsche. Jedoch hoffe er noch ihrer Meister zu werden. Dieses
waren die letzten Zeilen, die der Unglückliche zu Papier gebracht hat, denn
schon nach einer Stunde lief die Nachricht von seiner Ermordung ein. Er
scheint im irrigen Vertrauen auf die im Volke herrschende Stimmung alle
wohlgemeinten Rathschläge, namentlich den, sich in die Zitadelle zurückzuziehen,
zurückgewiesen zu haben. Als seine Wohnung angegriffen wurde, verbot er
seinen Leuten, Feuer zu geben, und trat auf eine Terrasse hinaus, um eine be¬
schwichtigende Ansprache an die Afghanen zu richten. Aber das Hans wurde
trotz des verzweifelten Widerstandes der indischen Soldaten, welche sämmtlich
fielen, erstürmt und er selbst, sowie sein älterer Bruder und alle noch lebend
Angetroffenen, Männer, Frauen und Kinder erbarmungslos niedergemetzelt. Der
Schah Soudja schickte von der Zitadelle aus einen seiner Söhne mit einer
Truppenabtheilung, um die Ordnung wiederherzustellen, aber sie wurden zurück¬
geworfen. Jetzt erst gingen den Engländern die Augen über den unverzeih¬
licher Fehler auf, den sie begangen hatten, indem sie die Forts in den Händen
der Afghanen ließen. Statt sich auf einer die ganze Stadt beherrschenden An¬
höhe zu verschanzen, hatten sie ihre Streitkräfte zersplittert und dazu noch die
Magazine außerhalb des Lagers und überdies das letztere unverhültnißmäßig
weitläufig angelegt, so daß zu seiner Vertheidigung große Truppenmassen er¬
forderlich gewesen wären. Es war denn auch gleich nach Beginn des Auf¬
standes alle Verbindung zwischen der Zitadelle, dem Lager, wo der Botschafter
sich aufhielt, und den Magazinen abgeschnitten. Die Engländer ließen sich so
zu sagen durch den Hunger überrumpeln. Es war als wenn Elphinstone
völlig den Kopf verloren hätte; und dazu gesellten sich noch körperliche Leiden.
Wenn er nun auch eines nicht unrühmlichen Todes gestorben ist, und seine
Landsleute sein Andenken in Ehren halten, so steht doch soviel fest, daß wenn
die Belagerten sofort mit Entschlossenheit und Energie aufgetreten wären, sie
noch Wege zur Rettung offen gefunden hätten. Die Vorrathshäuser fast ohne
Widerstand preiszugeben, war der erste und schwerste Fehler. Dann wurden
gleichzeitig die in Forts liegenden Truppen nach dem Lager zusammengezogen.
Major Pottiuger sah sich genöthigt, Kohiswn aufzugeben; auch schlug er sich
nur mit Mühe bis zum Hauptquartier durch. Jetzt hatten die also auf einem
Punkt vereinigten Truppen nur noch für zwei Tage Lebensmittel! Da General
Elphinstone durch die Gicht ein's Bett gefesselt war, theilte er das Kommando
mit dem Generalmajor Sheldon. Dieser erkannte die Unmöglichkeit, sich den
Winter über zu halten, und rieth, den Rückzug uach Jellabad ohne Verzug
anzutreten; aber Mac-Naghten war nicht dazu zu bewegen. Das Wort Rück¬
zug war gefallen und verfehlte seine entmuthigende Wirkung bei den Sol¬
daten nicht.
Am 29. November traf Mohamed Mbar in Cabul ein, und von da an
wurde unter seiner intelligenten Leitung die Empörung immer furchtbarer.
Die Engländer durften vor Anbruch des Frühjahrs keine Hilfe von Indien
her erwarten und sahen einer unvermeidlichen Hungersnoth entgegen; denn
die geringen, von gelegentlichen Ausfällen mit eingebrachten Mundvorräthe
konnten nicht lange vorhalten. Im Kriegsrathe trug man sich mit dem Plane,
sich nach dem zwei Meilen von Cabul entfernt gelegenen Baka-Hissar durchzu¬
schlagen, wo man sich allenfalls den Winter über hätte behaupten können; aber
abgesehen von den Schwierigkeiten des Marsches hätte das ganze schwere Ge¬
schütz und vielleicht auch die Kranken und Verwundeten zurückgelassen werden
müssen. Dieser Vorschlag wurde also verworfen. Und den Rückzug auf
Jellabad bekämpfte Mac-Naghten als unverträglich mit der englischen Waffen¬
ehre ! Unterdessen lockerte sich die Disziplin im Lager von Tage zu Tage, die
Soldaten verloren Angesichts der Unschlüssigkeit ihrer Führer den Muth. Endlich
trafen die ersten Anträge der Afghanen behufs Kapitulation ein. Mac-Naghten
und Elphinstone gingen darauf ein, und am folgenden Morgen erschienen zwei
vornehme Afghanen im Lager. Was bei der Unterredung zur Sprache kam,
ist nicht mehr zu ermitteln, jedenfalls scheinen die Bedingungen unannehmbar
gewesen zu sein, denn die beiden Häuptlinge riefen beim Abschiede: „Auf dem
Schlachtfelds sehen wir uns wieder." Am 7. gewahrte man mit Entsetzen, daß
die vorhandenen Rationen kaum noch für vierundzwanzig Stunden ausreichen
konnten. Es gelang wohl einem, nach der Zitadelle abgeschickten Detachement,
ein mäßiges Quantum Zufuhr einzubringen, jedoch Mac-Naghten verlor all-
mülig selbst den Muth und richtete uuter Beibehaltung der üblichen Formen
an Elphinstone einen offenen Brief mit der offiziellen Anfrage, ob es nach
seiner Ansicht noch einen andern Ausweg als den gäbe, auf möglichst günstige
Bedingungen hin mit dem Feinde zu unterhandeln. Die Antwort des Generals
lautete dahin, daß der Botschafter keine Zeit verlieren dürfe, die Unterhand¬
lungen anzuknüpfen.
Am 11. Dezember zog Mac-Naghten mit den Hauptleuten Lawrence,
Mackenzie und Trevor aus dem Lager und traf mit den Afghanen zusammen.
Den Letzteren wurde vorgehalten, daß der indischen Regierung lediglich die
Wohlfahrt des afghanischen Volkes am Herzen gelegen, indem sie einen
Fürsten ans den Thron erhob, der sich von jeher der Gunst des Volkes zu
erfreuen gehabt habe. Da indessen nun einmal die Sympathien der Be¬
völkerung eine wesentlich andere Richtung eingeschlagen hätten, so wolle die
englische Regierung fernerhin keinen bestimmenden Einfluß darauf auszuüben
versuchen und sei bereit, sich aus Unterhandlungen einzulassen. Mohamed Akbar
und Osman Khan erklärten ebenfalls ihre Geneigtheit, und nun verlas der
Botschafter den Vertragsentwurf. Die allgemeinen Bedingungen lauteten dahin,
daß die Engländer Afghanistan mit Einschluß von Cabul, Candcihar, Ghizni
und allen anderen Wasserplätzen räumen sollten. Den Engländern wird nicht
nur ungefährdeter Abzug nach Indien, sondern auch vollständige Verpflegung
auf der ganzen Marschroute zugesichert. Der Emir Dose-Mohamed, Akbar's
Vater, dessen Familie und alle noch gefangen gehaltenen Afghanen werden in
Freiheit gesetzt. Schah Svudja darf mit den Seinigen in Cabnl bleiben oder
mit den Engländern nach Indien abziehen; in beiden Fällen sichert ihm die
afghanische Regierung einen Jahresgehalt von 1 Lak Rupien zu. Alle Af¬
ghanen, die sich den Engländern angeschlossen haben, werden cunnestirt, alle
Gefangenen ausgelöst. Die englischen Truppen betreten den afghanischen Boden
nicht wieder, es sei denn, daß sie von der Negierung selbst herbeigerufen würden.
Zwischen beiden Regierungen wird ein ewiges Freundschaftsbündnis; geschlossen.^
Im afghanischen Kriegsrath sträubte sich nnr Akbar gegen die Verpflegung der
britischen Truppen und die Amnestie, wurde aber überstimmt. Der Hauptmann
Trevor wurde als Geisel gestellt. — Schon während die Verhandlungen noch
im Gange waren, wurden im englischen Lager lebhafte Besorgnisse wegen der
persönlichen Sicherheit des Botschafters gehört. Er hatte eine ganz schwache
Bedeckungsmannschaft mit sich genommen, während in der Ebene starke af¬
ghanische Truppenabtheilungen sichtbar wurden, die offenbar von den Führern
nur mit großer Mühe vom Angriffe zurückgehalten werden konnten. Es folgte
denn auch bald das entsetzliche Blutbad, in welchem auch der Botschafter das
Leben ließ. Welche furchtbare Bestürzung die Nachricht in England verursachte,
ist gewiß noch Manchem in lebendiger Erinnerung. Eyre's Bericht hat unter
Anderm auch die Thatsache leider unwiderleglich festgestellt, daß auch die Eng¬
länder nichtnnbedingt vom Vorwurfe der Wortbrüchigkeit freizusprechen sind.
Es ist nicht unmöglich, daß Mac-Nagthen von der Verrätherischen Gesinnung
Akbar's völlig überzeugt war, und ebenso, daß er Barbaren gegenüber sich nicht
um die abendländischen Vorstellungen von Treu und Glauben kümmern zu
brauchen wähnte. Diese durch nichts zu rechtfertigende laxe Auffassung und
entsprechende Ausführung der Vertragsparagraphen verfehlte natürlich nicht,
die Afghanen bis auf's Aeußerste zu reizen.
Der Schah Soudja wurde vom Inhalte des Vertrags sofort in Kenntniß
gesetzt und sah sich also bereits zum vierten oder fünften Male zum Exile
verurtheilt. Indessen erschien noch am nämlichen Tage und zur Ueberraschung
der Engländer eine afghanische Deputation vor ihm und schlug ihm vor, er
möge in Cabul bleiben, dafür aber seine Töchter mit Söhnen aus den vor¬
nehmen Geschlechtern des Landes verheirathen, Dazu noch die ernsthaft ge¬
meinte Klausel, daß er für die Zukunft von seiner Gewohnheit, die Vornehmen
stundenlang antichambriren zu lassen, abzulassen habe. Dieser letzte Etiquetten-
Punkt erschien übrigens dem kuriosen Herrscher so gewichtig, daß es nicht ge¬
ringe Mühe kostete, ihn zur Annahme zu bereden, obwohl er thatsächlich vor
der Alternative stand, sich zu fügen oder abzudanken. Auch zog er schon zwei
Tage später sein gegebenes Wort zurück, da er wohl Ursache haben mochte,
seinen loyalen Unterthanen nicht viel zu trauen. Es war am 13. Dezember.
Der Abzug der Engländer mußte bei der Saumseligkeit, mit der sich die Af¬
ghanen zur Verproviantirung anschickten, noch aufgeschoben werden. Offenbar
wollte Akbar Zeit gewinnen, um die Besatzung auszuhungern. Im Lager
mangelte es dermaßen an allem Nothwendigen, daß Pferde und Rinder sich
mit Baumrinde und elenden Abfällen zu begnügen hatten, während die Diener¬
schaft, welche die Hauptziffer im Heere ausmachte, vom Fleische der vor Hunger
und Kälte umgekommenen Thiere lebte. Am 17. Dezember war nur für zwei¬
mal vierundzwanzig Stunden Getreide vorräthig, und am 18. trat eine neue
Plage auf, der Schnee! Er bedeckte bald Alles mehrere Zoll hoch und sollte
sich namentlich deu indischen Eingeborenen als ein schlimmer und hartnäckiger
Feind erweisen.
Die Offiziere schlugen Elphinstone vor, sich dem Glücke anzuvertrauen
und sich gegen Jellabad hin durchzuschlagen; aber er konnte zu keinem Ent¬
schlüsse kommen. — Am 22. Dezember ließ sich der Botschafter auf die jammer¬
vollste Weise von den hinterlistigen Afghanen in's Verderben locken. Die
Hauptleute Mackenzie und Lawrence haben über den Hergang ausführliche Be¬
richte hinterlassen. Hiernach erschienen zwei afghanische Vornehme in Begleitung
des Hauptmanns Skinner, der sich seit dem Ausbruche der Empörung in Cabul
verborgen gehalten hatte, im englischen Lager und ersuchten Mac-Naghten im
Namen Mohamed-Akbar's, sich zu einer letzten Zusammenkunft auf das freie
Feld heranszuvegeben und inzwischen eine Truppenabtheilung für einen Aus¬
fall in Bereitschaft zu halten, welche dann ans ein gegebenes Zeichen sich den
Leuten Akbar's anschließen und Amenoulcih Khan, den wüthendsten Feind der
Briten, überrumpeln und gefangen nehmen sollte. Einer der beiden Abgesandten
erbot sich außerdem, gegen eine gewisse Belohnung dem englischen Befehlshaber
den Kopf Amenvulah's zu überbringen, ein Anerbieten, welches übrigens sofort
mit Entrüstung zurückgewiesen wurde. Akbar sagte seinen Beistand uuter der
Bedingung zu, daß er selbst zum Vizier des Schah ernannt und ihm ein Jahres¬
gehalt von vier Lak Rupien zugesichert, und außerdem die Summe von dreißig
Lack sofort entrichtet würde. Ferner solle ihm das britische Heer bei der
Unterwerfung der übrigen Stammeshäupter behilflich sein und erst acht Monate
nach vollzogener Pazisikation Afghanistan's das Land verlassen. Das Ganze
war natürlich eine im afghanischen Kriegsrathe beschlossene Kriegslist, obwohl
in demselben nicht Wenige auf schleunige und gewissenhafte Erfüllung der Ver¬
träge gedrungen hatten, die sie auf immer von der britischen Okkupation be¬
freien sollte.
Der Botschafter ging mit einer Kurzsichtigkeit und Verblendung, um nicht
zu sagen mit sträflichen Leichtsinne in die Falle, die noch heute ebenso unbe¬
greiflich wie damals erscheinen müssen. Nicht damit zufrieden, daß er die
Vorschläge ohne Bedenkzeit cckzeptirte, händigte er auch noch deu Abgesandten
des Sirdars ein in persischer Sprache verfaßtes Schriftstück als Unterpfand für
die gewissenhafte Ausführung des Vertrages ein. Erst am folgenden Morgen
machte er deu Hauptleuten Trevvr, Lawrence und Mackenzie vou diesem ver-
hängnißvollen Schritte Mittheilung und ersuchte sie, ihn zu begleiten. Der
zuletzt Genannte durchschallte sogleich die verräterischen Absichten des Afghanen
und warnte Mac-Naghten, aber ohne Erfolg. Dann erhielt Lawrence den
Befehl, nach der Zitadelle zu reiten und dem Soudja vom Geschehenen Mit¬
theilung zu machen. Auf alle noch so dringenden Vorstellungen erfolgte die
Antwort: „Es mag Gefahr im Anzüge sein, aber ich muß es riskiren. Lieber
möchte ich zehnmal den Tod erleiden, als noch einmal sechs Wochen wie die
verflossenen durchmachen." Er hatte den General Elphinstone gebeten, zwei
Regimenter für einen Ausfall bereit zu halten, aber als er ans dem Lager
zog, waren noch keine Anstalten getroffen. „So ist's", sagte er achselzuckend,
„seit Anfang der Belagerung gewesen." Etwas vom Lager entfernt ließ er die
kleine Bedecknngsmannschaft halten und ritt dann mit seinen drei Offizieren
dem Sirdar und Amenoulah Khan mit seiner Umgebung entgegen. Nach den
gewöhnlichen Begrüßuugszeremonien bot der Engländer dem Sirdar ein präch¬
tiges Reitpferd zum Geschenk an, desgleichen ein Paar Pistolen, die ebenso
bereitwillig angenommen wurden, wie die noch Abends zuvor übersandten Pferde
und Kutsche. Man ließ sich auf einigen auf dem Boden ausgebreiteten Pferde¬
decken nieder, Sir William Mac-Naghteu neben dem Sirdar, Trevor und
Mackenzie hinter ihm. Mohamed Akbar wendet sich mit der Frage an den
Botschafter, ob er noch genullt sei, sämmtliche Punkte des Vertrages auszu¬
führen. In demselben Augenblicke, als Sir William dies bejahte, gewahren
die Engländer, wie ein Trupp bis an die Zähne bewaffneter Afghanen auf sie
zureitet und sie vollständig umzingelt. Akbar, die Bestürzung in den Zügen
der Engländer lesend, sagt in beschwichtigenden Tone: „Diese sind ebenfalls
in unsern Plan eingeweiht." Dann aber gibt er auch sofort das Signal zum
Angriffe. „Ich wandte mich um", erzählt Mackenzie, „und sah, wie der Sirdar
mit einem wahrhaft teuflische:: Ausdrucke im Gesichte Sir William am linken
Arme, ein Anderer ihn am rechten packte. So warfen sie den Unglücklichen
nieder;" — Lawrence erzählt: „Plötzlich wurde ich festgehalten, der Pistolen
und des Degens beraubt und von Mohcuned Shah Khan mit den Worten
fortgezogen: „Wenn Euch das Leben lieb ist, so folgt mir." Als ich mich
umwandte, erblickte ich Mac-Naghten auf dem Boden liegend, und zwar mit
dem Kopfe da, wo vorher die Füße waren, die Hände von Akbar festgehalten,
und mit von Furcht und Entsetzen entstelltem Antlitz." Akbar beabsichtigte
wohl eigentlich den Botschafter nur als Geisel zu behalten; es scheint aber,
daß derselbe verzweifelten Widerstand leistete, nach kurzem Ringen zog der
Sirdar die Pistole und schoß ihn durch die Brust. Die Leiche wurde sofort
in Stücke gehauen, der Kopf im Triumph durch die Straßen von Cabnl ge¬
tragen, die übrigen blutigen Reste auf dem Marktplatze zur Schau ausgelegt.
In den nun folgenden Auftritten furchtbarer Aufregung ließen dennoch die
afghanischen Führer politische Rücksichten nicht ganz aus dem Auge und blieben
sich dessen wohl bewußt, daß die englische Regierung mächtig genug sei, schwere
Rache zu nehmen. Und so thaten sie in der That Alles, was in ihren Kräften
stand, um die Gefangenen gegen die Wuth der Menge zu schützen, ja Einzelne
warfen sich sogar mit Lebensgefahr dem entfesselten Pöbel entgegen und
empfingen die den Engländern zugedachten Wunden. Trevor stürzte vom
Pferde und wurde erbarmungslos niedergemacht, sei» Leichnam durch die
Straßen geschleift. Mackenzie jcigte mit einem der Häilptlinge im Galopp
nach einem der Forts, während ihnen die Kngeln um die Ohren pfiffen, und
unter dem Wuthgeheul der nachsetzenden Afghanen. Als sie blutend und auf
den Tod ermattet mit knapper Noth das Fort erreichten, fanden sie Lawrence
ebendaselbst in Sicherheit, aber nach dem rasenden Ritt, nach der entsetzlichen
Aufregung und aus mehreren Wunden blutend, eher todt als lebendig. Die
afghanischen Häuptlinge fanden sich allmälig ebenfalls dort ein. Mohamed
Akbar versuchte die Engländer glauben zu machen, Sir William und der
Hauptmann wären in Sicherheit, aber im selben Augenblicke wurde die blutige
und verstümmelte Hand des Botschafters zum Fenster herein gereicht. Da
übrigens wiederholte Angriffe auf das Fort statt fanden, wurden die englischen
Offiziere noch in der nämlichen Nacht nach der Stadt geschafft und im Hause
des Sirdars in Sicherheit gebracht. Ebendaselbst befand sich auch der Haupt¬
mann Skinner, der den verhängnißvollen Vorschlag überbracht hatte. Die
Behandlung der Offiziere war eine ziemlich anständige und humane. Bald
suchten denn auch die Afghanen die Unterhandlungen wieder aufzunehmen.
Lawrence erhielt zunächst eine Wohnung bei Amenoulah Khan angewiesen und
wurde dann am 29. Dezember unter Bedeckung in's Lager zurückgeschickt.
Bereits am folgenden Morgen erfuhren Mackenzie und Skinner, daß Major
Pottinger wieder unterhandle, und nun erhielten sie auch Erlaubniß, in afgha¬
nischer Tracht, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen, zu deu Ihrigen zu
stoßen.
Völlig unbegreiflich erscheint das Verhalten der Engländer im Lager
während der erzählten Vorgänge. Während der Vertreter ihrer Nation gleich¬
sam vor ihren Augen wie ein Hund todtgeschlagen wurde, rührte sich kein
Arm, fiel kein Schuß! „Kein englischer Soldat", ruft Ehre in gerechtem Zorne
aus, „ward sichtbar, als unser Botschafter, auf Büchsenschußweite von uns, ab¬
geschlachtet wurde; ja es machte nicht nur Niemand Anstalt, die Frevelthat zu
rächen, sondern man ließ auch uoch den Leichnam des Unglücklichen ruhig in
den Händen der Barbaren, der Wuth der Soldateska und des Pöbels aus¬
gesetzt!"
Den ganzen Tag über war man über das Schicksal Mac-Naghten's in
Besorgniß gewesen, und namentlich schwebte seine Gattin in schrecklichen Aengsten.
Erst am Abend brachte ein Brief des Hauptmanns Conolly die Schreckenskunde.
Nun übernahm Pottinger an Sir William's Stelle das Amt der diplomatischen
Vermittelung, und kaum war er in Funktion getreten, so trafen die neuen
Vorschläge der Afghanen ein. Dieselben forderten Auslieferung des gesammten
schweren Geschützes, mit Ausnahme von sechs Kanonen, und vier verheiratheter
Männer mit ihren Familien als Geiseln. Alle kostbarere, nicht unentbehrliche
Habe sollte zurückgelassen werden. „Es war am Weihnachtsabend", erzählt
Eyre, „und wohl niemals war für englische Soldaten fern von der Heimath
ein sorgen- und leidvollerer Tag erschienen, auch hatten nur Wenige unter
uns Seelenruhe und Muth genug, sich ein msrr^ Ollristill^L zu wünschen."
Major Pottinger setzte nicht das geringste Vertrauen auf das Wort der Af¬
ghanen und wollte sich schlechterdings auf nichts einlassen, aber er wurde im
Kriegsrathe überstimmt. Elphinstone ließ dann im Lager durch Anschlag be¬
kannt machen, daß denen, welche sich freiwillig als Geiseln stellten, 2000
Rupien als monatlicher Bezug zugesichert würden. Da aber die Offiziere ein-
müthig erklärten, daß sie ihre Frauen eher todten als den Barbaren ausliefern
würden, ging die Antwort zurück, daß die Auslieferung von Frauen und
Kindern als Geiseln gegen den Kriegsgebrauch sei. Trotzdem kam eine Ver¬
einbarung zu Stande; der Abmarsch jedoch wurde unter immer neuen Vor¬
wänden hinausgeschoben. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß Verrath
gesponnen wurde. Der Schah Soudja selbst ließ es nicht an Warnungen fehlen
und ersuchte unter Anderm die Lady Mac-Nagthen, sich unter seinen Schutz
in die Zitadelle zu begeben. Auch dieses Anerbieten wurde zurückgewiesen.
Endlich schlug die Stunde zum Aufbruche. — Die Schilderung der furchtbaren
Leiden und Heimsuchungen des kleinen britischen Heeres auf diesem jammer¬
vollen Rückzüge erinnert, sowohl was die allgemeine Situation betrifft, wie
auch in zahlreichen einzelnen Vorgängen an das elende Schicksal der großen
Armee im russischen Feldzuge, und wenn sich auch die Ereignisse in einem
engeren Rahmen bewegten und von geringerer weltgeschichtlicher Bedeutung
waren, so mag doch im Hinblick auf das Maß der vom Einzelnen ertragenen
Leiden und Entbehrungen im Kampfe mit den Feinden und den Elementen
der Vergleich als zutreffend erscheinen.
Siebzehntausend Männer, Frauen und Kinder zogen am 6. Januar aus
dem englischen Lager fort, und am 13., eine Woche später, waren davon noch
am Leben einige wenige Gefangene, alle Uebrigen waren Leichen!
Unter diesen 17,000 Menschen, die sich in die Schluchten und Engpässe
des Hochgebirges hineinwagten, waren nicht mehr als 4500 Kombattanten und
darunter die indischen Eingeborenen. Die ganze übrige Masse bestand aus
dem Trosse der Diener der Offiziere und der Mannschaften. Dieser für mili¬
tärische Zwecke völlig unbrauchbare Haufe, zu dem sich noch die große Anzahl
von Frauen und Kindern gesellte, muß als eine der Hauptsachen der schreck¬
haft schnellen und vollständigen Aufreibung des britischen Heeres angesehen
werden, da er die heilloseste Verwirrung hervorrief und die Ausführung der
zur Aufrechterhaltung der Subordination ertheilten Befehle und überhaupt einen
einigermaßen geordneten Rückzug zur Unmöglichkeit machte. Die Frau des
Haupiinnnns Trevor hatte ihre sieben Kinder nebst entsprechender indischer
Dienerschaft bei sich und sah ihrer Entbindung binnen Kurzem entgegen. Und
dieser Fall stand nicht vereinzelt da.
Als sich der Zug am 6. Januar 1842 in Bewegung, setzte, wurde ein
Theil des Lagerwalles eingerissen, um für die Mannschaften, den Troß und
die zweitausend Kameele, die das nothwendigste Gepäck trugen, den erforder¬
lichen Raum zu schaffen. Die 2000 Afghanen, welche vertragsmäßig dem
Heere das Geleite geben sollten, waren nirgends zu sehen. Dagegen stürzten
sich die Eingeborenen massenweise auf der entgegengesetzten Seite in das Lnger
und begannen die Plünderung; überhaupt umschwärmten die Afghanen von
nun an den Zug der Flüchtlinge gleich wilden Thieren auf dem ganzen Marsche.
Der erste Tag ging zur Neige, als die letzten Engländer das Lager ver¬
ließen; dann zündeten die Afghanen alles nicht Transportirbare an und ver¬
nichteten dabei törichterweise auch einen vollständigen Artilleriepark, den Elphin-
stone in brauchbarem Zustande, ohne die Geschütze vorher haben vernageln zu
lassen, ausgeliefert hatte. Schon am ersten Tage blieben die Leute zu
Dutzenden im Schnee liegen; namentlich waren es die indischen Soldaten, die
sich in völliger Muthlosigkeit und vom Froste erstarrt zu Boden warfen und
den Tod erwarteten. Gleich in der folgenden Nacht kamen eine große Anzahl
um, und am folgenden Tage war die Hälfte kampfunfähig; die Meisten schlössen
sich dem Trosse an, erschwerten auch dort die freie Bewegung und trugen dazu
bei, die allgemeine Verwirrung vollständig zu machen. Als ein sehr empfind¬
liches Hinderniß wirkte auch der unter den Hufen der Pferde, Esel und
Kameele sich festsetzende und gefrierende Schnee.
Um diese Zeit erschien Mohamed Akbar wieder auf dem Schauplatze, und
die Engländer hatten von nun an außer den Schrecknissen der Natur noch
einen racheschnaubenden und unbarmherzigen Feind zu bekämpfen. Jedoch darf
nicht unerwähnt bleiben, daß Akbar selbst bei verschiedenen Gelegenheiten An¬
wandlungen von Großmuth gehabt zu haben scheint, und daß es seine Absicht
gewesen sein mag, nicht das gesammte britische Heer aufzureiben, sondern
wenigstens die Offiziere, Frauen und Kinder als Geiseln zu behalten. Außer¬
dem hatte er über die unversöhnlichen Ghilzis nur geringe Macht, wenigstens
schützte er später vor, daß er nicht im Stande gewesen sei, das Ungestüm der¬
selben zu zügeln. So wurden von allen eingebrachten Gefangenen nur die
Offiziere und Frauen verschont, alle Uebrigen niedergemacht.
Als die ersten Schüsse der Afghanen gefallen waren, ließ sich der Haupt¬
mann Skinner zu dem betreffenden Ghilzishäuptling führen und erfuhr von
ihm, daß er Befehl habe, die Engländer bis in's Gebirge zu begleiten und die
Stellung von sechs Geiseln für das von General Sale besetzt gehaltene
Jellabad zu erwirken. Erst nachdem anch diese Forderung erfüllt war, ließ
das Feuer uach. Dann brach die zweite Nacht herein, in welcher Hunger,
Kälte und gänzliche Ermattung wieder zahlreiche Opfer wegrafften. Am achten
Januar lagen, obwohl in den zweimal vierundzwanzig Stunden nicht mehr
als etwa zehn englische Meilen zurückgelegt waren, bereits einige Tausend
Leichen im Engpasse und auf deu schneebedeckten Feldern! Schon früh am
Morgen eröffneten die Afghanen wieder ihr Gewehrfeuer, und die Avantgarde
mußte, um sich Bahn zu brechen, mit gefälltem Bajonnet vorgehen. Zum zweiten
Male unterhandelte Skinner mit Mohcuned-Akbar und konnte die Einstellung
der Feindseligkeiten nur gegen die Zusage erreichen, die Hauptleute Lawrence
und Mackenzie auszuliefern, die sich denn auch ohne Verzug stellten. „Noch
einmal setzten sich Menschen und Thiere in Bewegung. Aber wer beschreibt
die schauderhafte Wirkung, welche das Bivouakiren auf Eis und Schnee in
zwei aufeinanderfolgenden Nächten hervorgebracht hatte! Der Frost hatte
Hände und Füße der stärksten Männer dermaßen mitgenommen, daß sie für
den Waffendienst völlig unbrauchbar waren. Sogar die weniger expouirte
Kavallerie hatte so entsetzlich zu leiden, daß nnr Wenige ohne Beistand auf¬
sitzen konnten. Es waren schwerlich mehr als einige Hundert Kampffähige
übrig. Und nun die trostlose, unvermeidliche Nothwendigkeit, mit dieser völlig
aufgelösten, zusammenhangslosen Masse den Versuch zu machen, sich unter den
feindlichen Kanonen durch den Engpaß durchzuschlagen! Nie in meinem Leben
werde ich die Erinnerung an den herzzerreißenden Anblick los werden, den
dieser wirre Knäuel von lebenden Geschöpfen bot, die nach wenigen Stunden
die Erde mit ihren Leichen bedecken sollten. Der verhängnißvolle Engpaß dehnt
sich von einem Ende zum anderen etwa fünf englische Meilen aus und wird
auf beiden Seiten von steilen und scharfkantigen Felswänden eingeschlossen,
über die das Sonnenlicht nur wenige Stunden hinwegscheiut. Einen Berg¬
strom, der mit ungeheurer Gewalt herabtost und nie zufriert, hatten wir uicht
weniger als achtundzwanzigmal zu überschreiten! Und je weiter wir vorwärts
rückten, desto enger wurde die Schlucht, während bereits hock oben auf den
Felsen die Ghilzis sichtbar wurden. Nicht lange befanden wir uns innerhalb
der Höhen, als die Afghanen auf die Vorhut, unter deren Schutze sich auch
die Frauen befanden, zu schießen anfingen. In diesem kritischen Momente
legten unsere englischen Frauen ein seltenes Zeugniß von Geistesgegenwart und
Entschlossenheit ab. Da die einzige Aussicht auf Rettung vor uus lag, so
sprengten sie in gestrecktem Galopp mitten durch den feindlichen Kugelregen
dem Zuge voraus und gelangten wirklich unversehrt aus dem Engpasse heraus.
Zur Steuer der Wahrheit darf allerdings nicht verschwiegen werden, daß die
Leute Akbar's die energischsten Anstrengungen machten, die Ghilzis zum Ein-
stellen des Feuers zu bringen, aber vergebens. Es folgte ein fürchterlicher
Austritt, indem die Geschosse mitten in die dichteste Menge gerichtet wurden.
In einer aller Beschreibung spottenden Verwirrung stürzten die von Angst
und Verzweiflung Ergriffenen, Europäer und Jndier, in toller Flucht vorwärts
und ließen Alles, Geschütz, Munition, Gepäck, ja auch die noch nicht voraus¬
geeilten Frauen und Kinder im Stiche, indem jeder Einzelne nur auf seine
eigene persönliche Rettung bedacht war. Dennoch fehlte es bei diesem Zu¬
stande allgemeiner Auflösung nicht an einzelnen Zügen von Selbstbeherrschung
und Besonnenheit. Der tödtlich verwundete Lieutenant Sturt war niederge¬
stürzt und lag hilflos am Boden, als Lieutenant Mein seiner ansichtig wurde,
sofort umkehrte, den Kameraden anf ein kleines Pferd hob und, während die
Kugeln rings um ihn einschlugen, nach dem Lager zurückführte, wo Sturt am
folgenden Morgen verschied. Er war der einzige Brite, dem ein christliches
Begräbniß zu Theil ward.
Die Frage nach der Herkunft unserer Hausthiere ist meist noch eine un¬
gelöste. Woher das Pferd eigentlich stammt, ob etwa aus Junernsien, ist noch
nicht mit Sicherheit dargethan worden. Was das Rind betrifft, so hat kürzlich
der verstorbene Professor vou Frantzins zu beweisen gesucht, daß wir seine
Zähmung den Negern Afrika's zu verdanken haben, und daß diese, die wir so
sehr über die Achsel anblicken, uns mit einer der größten Wohlthaten beschenkten.
Fast alle unsere Hausthiere kommen schon auf den egyptischen und assyrischen
Monumenten vor oder ihre Reste werden in den Pfahlbauten und Hünen¬
gräbern gefunden.
In historischer Zeit sind nur sehr wenige Thiere dvmestizirt worden, so
daß wir in dieser Beziehung von der Kunst der Vorfahren zehren. Bekannt
ist, daß der Truthahn, ein Amerikaner, erst seit kurzer Zeit zu unseren Haus-
thieren gehört, und jetzt stellt sich ihm ein anderer sehr nützlicher Vogel als
Hausthier an die Seite, nämlich der Strauß.
Wie leicht der Strauß zu zähmen ist, dafür finden wir ein Beispiel in
Eduard Mohr's südafrikanischen Reisen. Ihm wurden acht junge Strauße
übergeben, die erst vor sechs Tagen aus dem El gekrochen waren. Sie sahen
komisch genug aus, etwa wie Igel, die auf langen Hühnerbeinen stehen, ver¬
sehen mit einem schlanken, dünnen, gefleckten Miniaturgiraffeuhals. „Die
Kaffern hatten bald aus Zweigen ein großes Bauer hergestellt, es wurde hinten
querüber im Wagen plazirt und die possirlichen in kurzer Zeit schon zahmen
und zutraulichen Thierchen hineingethan, die nun so mit uns reisten. Kamen
wir an einen Halteplatz, so wurden sie herausgenommen, und dann weideten
sie friedlich und ohne Scheu um den Wagen herum; ihre Nahrung bestand in
den jungen zarten Grassprossen. Wenn ganz jung eingefangen, wird der
Strauß, namentlich wenn man immer in seiner Gesellschaft bleibt, ganz un¬
gemein zahm. Es ist dies um so auffallender, weil ein nur wenige Wochen
alter, in der Wildniß aufgewachsener Vogel eins der scheuesten und vorsichtigsten
Geschöpfe ist. Wie Robinson auf seiner einsamen Insel Juan Fercmdez mit
einer Ziege Freundschaft schloß, so schloß ich mich hier an meine Strauße an.
Bald unterschieden s<e mich von den Kaffern, und machte ich Spaziergänge, so
liefen sie wie Hausthiere hinterdrein. Kaum vier Wochen alt, war ihr Lauf
schon ein so rascher, daß keiner meiner Leute sie erHaschen konnte. Im Stand¬
lager blieben sie mitunter den ganzen Tag über fort, kamen aber regelmäßig,
wie die Ochsen und Ziegen, in deren Gesellschaft sie weideten, Abends zu den
Zelten zurück. Ihre Treue belohnte ich dann, indem ich einen Löffel voll
groben Salzes für sie ausstreute, das sie begierig aufpickten. Später, als sie
mehr und mehr heranwuchsen und ihre Formen riesige Verhältnisse annahmen,
hielt die Kapazität ihrer Verdauungsorgane gleichen Schritt mit der Entwicke¬
lung ihrer Leiber. Sie verschluckten jetzt mit den Knochen daran ganze Kote¬
letten, Mais, gekochtes Büffelfleisch, Ziegenrippen, ja einmal sogar ein Taschen¬
messer mit drei Klingen daran, ohne den geringsten Nachtheil davon zu spüren.
Um kurz zu sein, führe ich uur noch an, daß ich mit vier von diesen Vögeln
später über eine Entfernung von mindestens 340 deutschen Meilen gewandert
bin. Bei uns im Lager groß geworden, waren sie an Gewehrfeuer gewöhnt
wie alte Grenadiere; sah ich sie ans meinen Jagdzügen im Busche herumlaufen,
so brauchte ich nur zu schießen, wenn ich sie neben mir haben wollte, sie liefen
dann sofort wie auf einen Lockruf herbei."
Mehr Beweise bedarf es nicht, um zu zeigen, wie außerordentlich leicht
Strauße zähmbar sind. Es bestätigen dies überdem unsere zoologischen Gärten
und die vielen im ^rain et'nix'liinuwiimi zu Paris angestellten Versuche.
Der Strauß kann also in zusagendem Klima und zusagender Umgebung heerden-
weise wie die Schafe gezüchtet und zum völligen Hausthiere des Menschen
gemacht werden.
Eine naturwissenschaftliche Beschreibung des Straußes wäre hier uicht
am Platze, doch wollen wir, da der Vogel für uns jetzt eine so große Wichtig¬
keit erlangt hat, noch weniges Wissenswerthe hierhersetzen, wobei wir dem besten
Kenner des Thieres, dein Schweden Andersson folgen, der ihm in seinen
„Reisen in Südwest-Afrika" große Aufmerksamkeit widmet. Das Männchen
ist wesentlich schwarz, das Weibchen graubraun; bei beiden Geschlechtern sind
die großen Schwung- und Schwanzfedern, welche allein werthvoll für den
Handel sind, von rein weißer Farbe. Der ausgewachsene Strauß ist sieben
bis acht Fuß, und mau kennt Exemplare von nenn Fuß Höhe; das Gewicht
beträgt bei ausgewachsenen Exemplaren zwischen zwei und drei Zentnern. Die
Stärke des Vogels ist ganz unglaublich. Ein einziger Schlag mit dem riesen¬
großen Fuß des Straußes — er schlüge stets nach vorne aus — reicht zu,
deu Getroffenen umzuwerfen, tödtet selbst Panther, Hunde oder Schakale. Auch
die Schnelligkeit des Straußes ist eine ganz ungeheuere, wenn er auch nie
zum Trausportthier benutzt werden wird, wie es aus Spielerei im Pariser
Jardin geschieht. „Zu der Zeit, wenn er hoch fähret, erhöhet er sich und ver¬
achtet beide, Roß und Mann", heißt es schon in der Bibel. In einzelnen
Fällen ist die Schnelligkeit wahrhaftig bewundernswerth, „er läuft", schreibt
Andersson, „eine englische Meile in einer halben Minute." Das wäre allerdings
mehr als ein Eisenbahnzug vermag. Die Füße scheinen kaum den Boden zu
berühren, und jeder Schritt ist 12 bis 14 Fuß weit. In der Wildheit lebt
der Strauß von Samenkörnern, Schößlingen und Knospen. In den zoologi¬
schen Gärten gibt man ihm ein Gemisch von Hafer, Korn, Häcksel und Kohl,
und ähnlich ist seine Nahrung in den „Straußenfarmen" Südafrika's.
Daß die Eier, von denen 30 bis 40 in den Sand gelegt werden, eine
schmackhafte Kost abgeben, ist bekannt, und Direktor Bodinus hat bei feierlichen
Gelegenheiten schon wiederholt im Berliner zoologischen Garten Straußeneier-
knchen vorsetzen lassen. Obwohl man in unseren Tagen wenig oder keinen
Werth aus den Strauß als animalische Kost legt, scheinen doch die alten
Römer, welche ja große Gastronomen waren, ganz anderer Meinung in dieser
Beziehung gewesen zu sein. Vopiscns erzählt, daß der Kaiser Firmus Strau-
ßengehirn als Leckerbissen verzehrte, und das Rezept zu einer Stranßeusauee
gibt der Schlemmer Apicius an. Das Fleisch der jungen Strauße ist uicht
unschmackhaft; aber das der ausgewachsenen Vögel schmeckt, nach dem Zeugnisse
von Andersson, nicht gut und läßt sich mit Zebrafleisch vergleichen. Das
Mosaische Gesetz erklärt den Strauß für ein unreines Thier, und folglich.durften
die Juden Straußenfleisch nicht essen, was heute noch die Araber befolgen.
Schon die alten Egypter schätzten die Eier und Federn der Strauße sehr hoch;
sie machten selbst einen Theil des Tributes aus, den die unterjochten afrikanischen
Völker zahlen mußten, und die Federn mögen ebensowohl zum Schmucke, wie zu
religiösen Zwecken verwendet worden sein. Die Straußenfeder war bei ihnen
ein Symbol der Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie gehörte mich
zum Hauptschmuck der Isis und wurde von Soldaten und Priestern bei reli-
giösen Festlichkeiten getragen. Die Damaru und Betschuanen in Südafrika
machen aus den schwarzen Straußenfedern schöne Sonnenschirme, welche als
Zeichen der Trauer getragen werden. „Es nimmt sich nicht schlecht aus," sagt
der englische Nimrod Harris, „einen Wilden zu sehen, dessen Haut, noch gröber
als die eines Rhinozeros, und die rücksichtlich der Farbe mit einem frischge-
gewichsten Stiefel wetteifern kann, der sich durch einen solchen Sonnenschirm
zu schützen sucht." Wir wollen hier daran erinnern, daß Strcinßenfederwedel
auch zum Prunkstaate des Papstes gehören; sie werden ihm bei feierlichen
Gelegenheiten und wenn er den Segen in Se. Peter spendet, nachgetragen.
Früher hielt man in den Gärten des Vatikans eigene Strauße, von denen
diese Federn genommen wurden.
Bisher war das Gewinnen der Straußenfedern immer mit der Ver¬
nichtung der Strauße verknüpft, zu Fuß und zu Pferd wurde er gejagt,
man lauerte ihm am Neste auf oder fing ihn in Schlingen. Jetzt ist er am
Kap der guten Hoffnung und auch in Algerien ein Hausvogel geworden, von
dem man Federn erntet, wie bei uns von den Hühnern die Eier. Auskunft
darüber gibt ein im verflossenen Jahre in London erschienenes Werk von
Mosenthal und Harting: Oswiell ana OstrielckArMr^. Wir entnehmen dem¬
selben, daß im Jahre 1863 erst 80 zahme Strauße in der Kapkolonie gehalten
wurden, daß deren Zahl jetzt aber auf 32,000 gestiegen ist, und daß sie sehr
reichen Gewinn abwerfen. Die natürliche Heimath der Vögel ist die weite
Karrn, die südafrikanische Steppe und ähnliche freie, baumlose, aber eingehegte
Ebenen werden auch zu ihrer Zucht verwendet. Sie müssen gutes Gras und
Wasser dort finden, man streut Salz, Alkalien und phosphorsaure Salze aus,
me sie zu ihrer Gesundheit unbedingt nöthig haben. Alle acht Monate werden
die Federn geerntet. Da das Ausziehen dem Vogel Schmerzen verursacht, so
schneidet man mit einer scharfen Scheere die Federn ziemlich nahe über der Haut ab.
^in Durchschnitt liefert jeder erwachsene Strauß jährlich für acht Pfund Sterling
l--- 160 Mark) Federn. Manche dieser Straußenfarmen sind sehr groß, so
ö« B. die eines gewissen Douglas in Hiltvn bei Grahamtown, welche ein
Areal von 6V00 englischen Acre hat, worauf er 150 Strauße hält. Douglas
O auch der Erfinder der künstlichen Inkubatoren oder Brutapparate sür die
Straußen, die deshalb sehr wichtig sind, weil dadurch die Federn der Alten
geschont werden. Gerade zur Brutzeit sind die Schwanz- und Flügelfedern
am schönsten entwickelt, werden aber durch das Brutgeschäft leicht unscheinbar.
Nachdem nnn die Straußenzucht im Kaplande geglückt ist und reichen Ertrag
abwirft, beginnt man, dieselbe auch anderwärts ewzusühreu, so bei Melbourne
in Australien, ja es ist nicht ausgeschlossen, daß dieselbe an geeigneten Orten
in Europa Platz greife, denn keineswegs ist der Strauß an ein heißes Klima
gebunden. Nur nassen Boden kann er nicht vertragen.
Die Wichtigkeit der Straußenzucht erhellt aber erst, wenn wir den Handel
der mit Straußenfedern betrieben wird, zu würdigen suchen. Seit Alters her
sind sie, wie wir oben gesehen, geschätzt und alle übrigen Schmuckfedern kommen
ihnen in Bezug auf Eleganz und Beliebtheit nicht gleich. Die Federn, die
auf unsern Markt kommen, meistens über London, sind in Bezug auf ihre
Güte sehr verschieden. Immer noch sind jene die Besseren, die von wilden,
gejagten Straußen stammen. In der freien Natur entwickelt sich das Thier
eben besser als in der Gefangenschaft. Am höchsten geschätzt sind jene, die
über Aleppo in Syrien nach Marseille gelangen und die fast alle in Paris
bleiben. Doch ist die Zahl der syrischen und arabischen Strauße eine sehr
geringe und nicht mit der Massenhaftigkeit des afrikanischen Produktes zu
vergleichen. Es folgen dann in Bezug auf Qualität die berberinischen Federn.
Tripolis, Beeghasi und Algier sind die Hauptansfnhrhäfen für dieses Produkt,
das mit Kameelkarawanen aus dem Sudan, aus Timbuktu, Bornu, Wadai
u. f. w. kommt. Tripolis allein exportirt jährlich für 2 Millionen Mark.
Die in Nubien, Kordofan, Sennar, kurz in den oberen Nilländern ge¬
wonnenen Federn gelangen nach Kairo. Ihre Quantität ist sehr bedeutend,
denn der Straußenfedernexport von Kairo hat durchschnittlich einen Jahres¬
werth von 250,000 Pfund Sterling 5 Millionen Mark). Sie werden
nach dem Gewichte in Bündel sortirt verkauft, doch muß der Käufer sich vor¬
sehen, da die Orientalen das Gewicht künstlich zu erhöhen wissen. Der schlaue
Chinese stopft die Hühner, die er nach dem Gewichte verkauft, voll Sand und
Steinchen, und so macht es der Nubier, der kleine Bleistücke in die Straußen¬
federkiele einschiebt. Auch aus Marokko und vom Senegal kommen Straußen¬
federn in den Handel, doch in untergeordneter Menge.
Die Hauptmenge liefert Südafrika, und hier ist nicht die Kapstadt, sondern
Port Elisabeth der Hanptansfuhrhafen. Die Ausführen im Jahre 1858, als
nur Federn von wilden Straußen exportirt wurden, betrugen 13,200 Pfund
Sterling. Nachdem die rationelle Straußenzucht aufgekommen war, stieg der
Werth der Ausfuhr 1874 auf 209,000 Pfund Sterling. Bei der Wichtigkeit,
welche dieser neue Zweig der Thierzucht erlangt hat, beschäftigen sich schon
besondere Gesetze im Kaplande mit demselben. So ist auf die Erlegung eines
fremden zahmen Vogels die bedeutende Strafsumme von 50 Pfund Sterling
gesetzt; wenn jedoch ein entflohener Vogel durch 30 Tage uicht wieder ausge¬
bracht werden kann, so wird er für „wild" erklärt und gehört nach dieser Zeit
demjenigen, der ihn fängt oder erlegt. Federn von zahmen und wilden Straußen
vermögen die Händler leicht zu unterscheiden. Die Pose des zahmen Vogels
ist weicher, das nährende Gerüst derselben mit einer dunkeln blutigen Feuchtig¬
keit erfüllt. Der Glanz der oberen Spulendecken ist matter, die ganze Feder
borstiger und, obgleich gewöhnlich reiner und weniger beschädigt, so fehlt ihr
doch die Weichheit, Fülle und Grazie der wilden Feder, welche aus der
Karru, aus der Kalahari-Wüste oder dem Orampo-Lande kommt. Der Ge-
sammtwerth der brauchbaren Federn eines Straußes übersteigt selten 1-6 Pfund
Sterling, da davon nur vier bis sechs Loth feine weiße Federn sind.
Der Werth der Straußenfedern wechselt begreiflicherweise je nach Güte und
Farbe. Feinste weiße Federn, wovon ein Pfund 70 bis 8V Stück enthält, werden
für 32 bis 50 Pfund Sterling verkauft; lange, schwarze und graue für nur 2
bis 5 Pfund Sterling Pro Pfund. Die schönsten Exemplare, wie sie nur ganz
reiche Damen erschwingen können, werden 25 Zoll lang und 9 Zoll breit.
Nicht ganz reine Federn werden mit Seife gewaschen. Von großer Wich¬
tigkeit ist der 1871 von Vivi, Deflot und Roetzcl in Paris erfundene Prozeß,
schwarze und grüne Federn zu entfärben; sie werden dann graugelb und
können nun grau, blau, rosa gefärbt werden, was bisher nur mit weißen
Federn geschah. Man erkennt die ursprünglichen schwarzen, nun gefärbten
Federn jedoch an dem dunkel gebliebenen Kiel, den zu entfärben noch nicht
gelungen ist.
In den zwölf Tagen, welche der Landtag zur dritten und letzten Session
versammelt ist, trat der Unterschied der jetzigen Lage von derjenigen am Schlüsse
der vorigen Session bereits mehrfach recht auffällig hervor. Während damals
die sogenannte innere Krisis, welche sich schon vom Beginne der vorigen Session
(21. Oktober v. I.) an fortdauernd unangenehm fühlbar gemacht hatte, schlie߬
lich die Arbeitslust der Abgeordneten fast gänzlich lähmte, macht sich jetzt im
Gegentheil eine große Schaffenslust bemerklich. Wenn auch die Regierung in
der Eröffnungsrede vom 19. November in manchen Punkten ihre Stellung
noch nicht umfassend angegeben hat, so sieht und fühlt man doch, daß nach dem
in der Zwischenzeit erfolgten Wechsel im Vorstande dreier Ministerien die
frühere bedauerliche Unklarheit der Regierung gewichen ist und die offensichtlich
in fast allen Ressorts herrschenden umfangreichen gesetzgeberischen Arbeiten
haben von vornherein eine entsprechende Arbeitssrendigteit in allen Parteien
hervorgerufen. Hiermit ist für die ganze Session von vornherein viel ge-
worum; die gewohnten Drescher von leerem Stroh sind wenigstens für den
Anfang in den Hintergrund gewiesen. Auf wie lauge, das ist freilich eine
andere Frage. Selten ist einer preußischen Landesvertretung vom Beginne an
ein solch reiches Füllhorn von Vorlagen ausgegossen worden als diesmal.
Aber anch unter Hinzurechnung der in der Eröffnungsrede angekündigten wei¬
teren Vorlagen wird sich, leicht erkennbar, das ganze Pensum in der durch das
Bevorstehen der nächsten Reichslagssessivn verhältnißmüßig kurzbemessenen
Frist erledigen lassen, wenn nur die übergroße Redelust, welche beim Mangel
der Diäteulosigkeit bisher im Abgeordnetenhause nicht zu zügeln war, einge¬
dämmt würde und das Zentrum sich überwinden konnte, die Kulturkampffragen
höchstens da hineinzuziehen, wo es paßt.
Natürlich, daß beide Häuser sich zunächst darau begaben, die unbedeuten¬
deren der vorläufig 27 Vorlagen zu erledigen und andere der nothwendigen
Kommissionsberathuug zuzuweisen. Letzteres geschah bis jetzt ohne großen
Zeitaufwand bei der Generaldebatte. Unter ersteren befindet sich ein Gesetz¬
entwurf wegen Aenderung eines Punktes des Ausführungsgesetzes zum Bundes¬
gesetz über den Unterstützungswohnsitz. Es handelt sich einfach um die Be¬
stimmung der Behörden, aus deren Mitgliedern der richterliche und der Ver-
waltuugsbecunte für die Deputation für das Heimathwesen genommen werden
sollen. Da ist nun, im Widerspruche mit der Regierung und im Interesse der
Selbstverwaltung, auf Anregung von Fortschrittlern vom Abgeordnetenhause
die Bestimmung gestrichen, daß der Verwaltungsbeamte unter Andere« aus
den Mitgliedern des Berliner Polizeipräsidiums solle genommen werden können.
Man sieht: die Tendenz einer strengen Festhaltung der Selbstverwaltung herrscht
noch ungeschwächt vor. Ob dies nach den Neuwahlen im nächsten Sommer
noch in gleichem Maße der Fall sein wird, steht dahin. Der wichtigen Frage
der Verwaltuugsreform ist das Haus bis jetzt noch nicht näher getreten,
während dieselbe in voriger Session Alles zu beherrschen schien. Es ist immer¬
hin ein Zeichen eines gewissen Vertrauens, daß man sich vorerst mit der die
Stellung des neuen Ministers des Innern, Grafen B. v. Eulenburg, betref¬
fenden allgemeinen Andeutung der Eröffnungsrede begnügt, wonach die Fort¬
führung dieser Reform seither nnr durch Aufgaben von unmittelbarer Dring¬
lichkeit aufgeschoben sei. Es zeigt sich dieses Vertrauen auf den konservativen
und im Uevrigen programmlvs in's Amt getretenen Minister größer als die
Zuversicht, welche man in den großen, am 26. und 27. Oktober vorigen Jahres
über die innere Krisis stattgehabte» Debatten des Abgeordnetenhauses auf das
Programm und die Zusicherungen des damaligen interimistischen Ministers des
Innern, des der Mehrheit weit näher stehenden Friedenthal, glaubte setzen zu
können. Soviel mehr Beruhigung scheint schon die bloße definitive Umgestal¬
tung des Staatsministeriums bewirkt zu haben.
Ein anderer Entwurf jener Art würde kaum der Erwähnung verdienen,
wenn sich nicht ein Zwischenfall daran knüpfte. Die neue Justizorganisation
verlangt bekanntlich den Abschluß von Verträgen mit deutschen Nachbarstaaten
über die Bildung gemeinschaftlicher Gerichtsbezirke. Demgemäß ist zuvor die
Redewendung der Verfassung zu ändern, wonach der König die Richter ernennt.
Es ist das eine rein formelle Sache, die sich ganz von selbst versteht. Wenn
nun am 21. November im Herrenhause der famose Herr Senfft v. Pilsach aus
dem Wortlaute der eidlichen Versicherung des vorigen Königs, die Verfassung
fest und unverbrüchlich zu halten, abzuleiten suchte, daß diese „uicht so leicht"
geändert werden dürfe, so geht das eigentlich über das Komische hinaus, das
sich sonst seit Jahrzehnten an die parlamentarische Atmosphäre dieses Pairs
zu heften pflegt. Vielleicht haben wir hier den Ausdruck der Stimmung der
reichsfeindlichen Pairskoterie vor uns, welche eine der wesentlichsten Errnngen-
schnften des Reichs glaubt ignoriren zu können. Man weiß nicht recht, ob
man den Durchfall des gut deutsch gesinnten Herrn von Bernuth bei der
Vizepräsidentenwahl von ähnlichem Gesichtspunkte betrachten und annehmen
soll, daß dem reaktionären Junkerthume unter den Pairs uach dem Scheitern
einer neuen liberalen Aera die Flügel wieder gewachsen seien; einstweilen wird
der Vorgang damit beschönigt, daß Bernuth im Reichstag gegen das Hödel-
gesetz gestimmt habe. Ist dem wirklich so, dann mag die Sache vorläufig auf
sich beruhen; wir wollen indeß das Herrenhaus doch künftig etwas schärfer in
Beobachtung nehmen.
Den vier Justizgesetzen zur Ausführung der Reichsjustizorganisation hat
natürlich durch die erste kurze Behandlung im Abgeordnetenhaus^ nicht ein ge¬
ringerer Werth beigelegt werden sollen; vielmehr hat der Justizminister schon
jetzt große Ehre damit eingelegt. Wenn Löwenstein „mit Bewunderung" aner¬
kannte, was in kurzer Zeit im Justizministerium geleistet worden, und Windt-
hm-se großen Fleiß und Gründlichkeit dieser Entwürfe lobte, so war anderer¬
seits hinter Leonhcirdt's Bescheidenheitsausdruck, daß dieselben wohl „zu lang¬
weilig" seien, als daß die Kommission geneigt sein könnte, sich sehr in die¬
selben zu vertiefen, das Selbstbewußtsein von der Wahrheit jener Aussprüche
zu erkennen.
Die Hauptaktionen im Abgeordnetenhause bestanden in der Generaldebatte
über den Staatshaushaltsetat für 1879-80 und Verhandlung über die Wucher¬
gesetzfrage. Die Rede, mit welcher der Finanzminister gleich bei Beginn der
Session den Etat einzuführen pflegt, bildet immer einen der wichtigsten Vor¬
gänge derselben. Der Etat ist ja eben das Rückgrat für alles Andere. Das
erste Auftreten des neuen Finanzministers Hobrecht stach sehr ab von der
selbstzufriedenen Wohlgefälligkeit, mit welcher sein Vorgänger Camphausen zehn
Jahre lang den Ueberblick über die Finanzlage gegeben hat. Ein eigenthüm¬
liches Geschick hatte gewollt, daß Hobrecht's Verwaltung gerade in dem
Momente anheben mußte, wo zum ersten Male sich ein erhebliches Defizit
herausstellte; aber durch die Art, wie er am 20. November die im Allgemeinen
längst bekannten Gründe des Defizits detaillirte, scheint er sich Zutrauen, zum
wenigsten kein Mißtrauen erworben zu haben. Er stellte sich voll und ganz
als Vertreter der Richtung des Fürsten Bismarck hin, aus welcher der Wechsel
in der Leitung des Finanzministeriums überhaupt hervorgegangen ist. Mit
seiner Hinweisung auf die dem Reiche sich immer stärker ausdringende Noth¬
wendigkeit, für Vermehrung der eigenen Einnahmen durch Ausbildung der Zölle
und Verbrauchssteuern zu sorgen, war Alles gesagt, sowohl in Hinsicht des
Hauptgrundes des Defizits und seiner vorübergehenden Natur, als auch der
Abhilfe. Auch seine Darstellung der Ungerechtigkeit der zu sehr gesteigerten
Einkommensteuer und der Nothwendigkeit, für Erleichterung der ohnehin dem¬
nächst stark in Anspruch zu nehmenden Kommunen zu sorgen, traf ganz die
früheren Andeutungen des Reichskanzlers. Nach Allem, was im Frühjahr
über Steuerreform im Reichstage verhandelt wurde, ist es sehr begreiflich, daß
eine damals stark hervorgetretene Frage jetzt hier eine Fortsetzung fand. Die
damals von nationalliberaler Seite für die Steuerreform im Reiche gesetzte
Bedingung, daß der preußische Landtag in die Lage gebracht werde, je nach
den finanziellen Verhältnissen einige Monatserträge der Einkommen- und
Klassensteuer zu erlassen, wurde Namens der Partei von dem am 27. November
zum ersten Male als ein Hauptredner in Finanzsragen austretenden Laster
wieder vorgebracht, jedoch unter Beseitigung der damaligen schrofferen Formen-
Es ist jetzt nicht mehr von den konstitutionellen Garantien die Rede, sondern
von der Einführung beweglicher Steuern. Somit anscheinend von der Frage
einer Erweiterung des parlamentarischen Machtgebiets abgetrennt, machte diese
Erklärung auf die Konservativen keinen Übeln Eindruck, nur meinte deren
Sprecher von Zedlitz-Nenkirch, der Spielraum für solche Befugniß könne nur
auf dem Gebiete der außerordentlichen Ausgaben liegen. Richter, welcher so
oft Herrn vou Camphausen entgegengetreten war, erklärte nnn, dieser wäre ihm
gerade jetzt lieber als Hobrecht, welcher zu viele kostbare Versprechungen mache.
Er tadelte die bis jetzt doch nur angeblich zu nennende Absicht der Regierung,
Eisenbahnen anzukaufen, den Eisenbahnbau „zu überstürzen, den Transport
zu erschweren, in der Zollpolitik eine Reaktion einzuschlagen; er tadelte aber
auch die Aufnahme von Anleihen und die Einführung indirekter Steuern u>i
Reich. Da durfte man wohl fragen, was der in Finanzfragen so kenntniß-
reiche Abgeordnete denn eigentlich wolle. Er gab darüber keine Antwort und
stellte trotzdem wieder in Abrede, daß er sich in der Negative befinde. Hobrecht
hätte gewiß auf die tausenderlei von Richter berührten Punkte Vieles erwidern
können; es machte sich ganz gut, daß er blos zeigte, wie jene Absichten der
Regierung sich im Etat nicht wiederspiegelten. Dem ultramontanen Dauzen-
berg schuldet seine Partei den Dank, als der Erste den Kulturkampf wieder in
fremde Dinge gezogen zu haben; er bringt natürlich das Defizit mit der Ein¬
setzung des kirchlichen Gerichtshofs und dergleichen zusammen. Rickert ver¬
langte ein bestimmtes Fiuanzprogramm der Regierung, worauf Hobrecht nur
Mf frühere Erklärungen im Reichstage verwies. Der Beschluß, die einfachen
Punkte des Etats gleich im Plenum zu erledigen, kürzt die Verhandlungen an¬
gemessen ab, die grundsätzlichen Fragen der Finanzpolitik aber werden sicherlich
bei erster Gelegenheit wieder aufgenommen werden. Sie sind beim Etat nur
abgebrochen. Auffallend ist übrigens, daß der Stellvertreter des Ministerprä¬
sidenten selbst in solchen Fragen sich schweigend verhielt.
Am 26. November hat von Schorlemer die Frage der Aufhebung der
Wuchergesetze zur Sprache gebracht. Es sieht dies so harmlos aus und läuft
doch im Grunde so stark, wie nur je eine Kulturkcunpffrage, auf eine Aufhetzung
i^gen die Regierung und die Liberalen hinaus. Schorlemer hat mit großem
befehlet einen wunden Punkt herausgefunden; es ist wahr, der Wucher ist
wie Landplage geworden, aber mit der einfachen Wiederaufhebung der Wncher-
sreiheit hat es doch auch seinen Haken. Die Sache bedarf einer reiflicher
Ueberlegung und wird, wie Leonhardt erklärte, von der Regierung reiflich er¬
wogen; die dolose Art, wie das Zentrum sich zum Organe des „Nothschreies
aus Stadt und Land" machte, kann nur zur Steigerung des Parteihasses
dienen. An Anklängen daran hat es bei der Besprechung dieser Jnterpellation
wahrlich uicht gefehlt.
Unk Sunnawend', Neue Gedichte in oberbayrischer Mundart von Karl Stiel er.
(Stuttgart, Meyer und Zeller, 1878, 2. Auflage.)
Die erste poetische Gabe, die der beliebteste Dichter in oberbayrischer
Mundart nach langer schwerer Krankheit wieder geboten hat. Daß er die
Gunst der Leser nicht verloren, und die gottbegnadete Sangesfreude, die ihm
innewohnt, auf dem Schmerzenslager nicht eingebüßt hat, beweist die Thatsache,
daß in wenig Wochen diese neueste Sammlung seiner Lieder vergriffen war, und
eine neue Auflage veranstaltet werden mußte. Wir haben uns schon öfters über die
besondern Vorzüge der Dichtungen Karl Stieler's ausgesprochen. Die Natürlich¬
keit und Innigkeit seiner Empfindung, welcher immer ein gut Theil Schalkheit bei¬
gemischt ist, die völlige Vertrautheit mit der Sprache, dem Leben und Denken
des Volkes der bayrischen Berge, läßt die dialektische Form seiner Dichtungen
nie als willkührliche Zuthat, sondern als den natürlichsten Ausdruck der Lieder
und Gsanglu erscheinen, die ans dem urkräftiger Boden dieses ungekünstelten
Lebens emporwachsen. Reicher und wechselvoller vielleicht als in irgend einer
der früheren Sammlttngen ist in der vorliegenden dieses Leben des Bergvolkes
geschildert. Denn abgesehen von den unvermeidlichen trefflichen Schnadahüpfeln,
welche auch in dieser Sammlung am Schlüsse stehen, und dem Abschnitte
„Unter viel Leut' gibt's allerhand", welcher in dem täglichen Hanshaltplau
eiuer Zeitung zweifellos unter der Rubrik „Vermischtes" untergebracht werden
würde, begegnet uns hier zum ersten Mal das Streben des Dichters, gewisse
Hauptklassen der oberbayrischen Gesellschaft gesondert darzustellen. Der Abschnitt
„auf der scharfen Seiten" versetzt uns in die höchste Region, nicht der Gesell¬
schaft, sondern der Berge, und zeigt an einer Reihe humorvoller wie tief¬
trauriger Bilder das Leben des Volkes, das da oben, an der Grenze des
ewigen Schnees, kaum einen Strahl von der milden Sonne der deutsche»
Kulturwelt, manchmal kaum der christlichen Liebe empfangen hat. Der nächste
Abschnitt „von die kloana Lent" bietet ebenso wechselvolle Bilder aus dem
Kindesleben im Gebirge.- Die fast durchweg behaglich und fröhlich gehaltenen
nächsten sechs Rubriken enthüllen uns das politische Verständniß «„die Politikaller")
des Bergvolkes, seine Beziehungen' zum Arzt („Umanauder-Dottern") und zu
den Gerichten („Von die G'strenga"), zum Wirthshaus („Aus die bvarischen
Wirthshänsl"), seiner Hauswirthschaft (Ehhalten-Stroach") und einige seiner
Gedanken über das liebe Vieh („bei die Viecher"). Und wenn hier auch fast
überall der kräftige Humor des Dichters zur Geltung kommt, so wird es
doch wenige Gedichte geben, welche deutsch-patriotischen Sinn schöner zum
Ausdruck bringen können, als das schmucklose Gsangl „Hoch drob'u am Berg",
in dem der Eindrnck des Nobiling'schen Attentates auf arme schlichte Holz-
knechte geschildert wird. Jeder kann diese Gedichte verstehen — wenn er sie
auch nicht gerade wundervoll deklamiren kann — und Jeder sollte sie lesen.
Alphons Dürr's Verlag in Leipzig, der vor einigen Jahren die bekannte
Prachtausgabe der Voß'schen Uebersetzung der Odyssee mit den herr¬
lichen Preller'schen Zeichnungen zur Odyssee in Holzschnitt herausgab,
hat nun von demselben Prachtwerk eine Volksausgabe in kleinerem Format
veranstaltet; eines der edelsten Festgeschenke, welchem die allgemeine Beachtung
gewiß nicht entgeht. Selbst der Einband zeigt in seinen stilvollen antiken Linien
und Farben den erlesenen Geschmack des Herausgebers.
Bis zum Feste verspricht auch die glänzende illustriere Ausgabe
von R. Leander's Träumereien an Frauzös. Kaminen vollendet zu
sein, welche der Verlag von Breitkopf und Härtel in Leipzig mit gewohnter
Eleganz und Sauberkeit ausgestattet hat. Diese mit Recht so beliebten Märchen,
die der deutsche Arzt in seinen kargen Mußestunden während des Krieges
ersann, einige der wenigen Kunstmärchen, welche wirklich zum Herzen und Ge¬
müth des Volkes zu dringen vermochten, werden sich auch in der neuen reich-
illustrirten Ausstattung viele neue Freunde erwerben.
Als ein Märchenerzähler von seltener Begabung und dichterischer Kraft hat
sich längst Victor Blüthgen gezeigt in den Proben seiner Kunst, welche
nach und nach die „Deutsche Jugend" geboten. Nun liegt eine reiche Samm¬
lung seiner Märchen für Jung und Alt unter dem Titel Hesperiden
vor, welcher der Verlag von Alphons Dürr gleich bei ihrem ersten Erscheinen
dnrch Illustrationen der besten Meister (Thumann, W. Friedrich, Bürkner,
Fd. Flinzer, Klimsch, v. Heyden, Pietsch) und in Format, Druck, Papier u. s. w.
eine so glänzende Erscheinung verliehen hat, wie sie sonst, manchem klassischen
Werke erst nach Ablegung harter Prüfungsjahre im ärmlichsten Kleide beschieden
gewesen ist. Wir meinen aber, daß eine edle Ausstattung dieser Märchensamm-
lnng Victor Blüthgen's mit Recht zukommt, da sie sich zu ihrem großen Vor¬
theil von den meisten ähnlichen Erscheinungen sehr wesentlich unterscheidet.
V. Blüthgen besitzt in ganz ungewöhnlichem Maße die Gabe, welche dem echten
Märchenerzähler angeboren sein muß: die sogenannte todte Natur in idealem
und sittlich zweckvollem Sinne zu beleben, zu persvnifiziren. Diejenigen, welche
ihn persönlich kennen, versichern, daß manche der hier gesammelten Märchen
fast genan so wie sie hier stehen, vom Verfasser zum ersten Male ans dem
Stegreif erzählt worden seien in einem Kreise märchenverlangender, märchen¬
gläubiger Kinder. In Allem vielleicht so, bis ans die sorgfältig gesellte, vollendet
durchgearbeitete Form, die jedenfalls erst durch fleißige Selbstkritik gewonnen
wurde — wenn sie auch nirgends den Eindruck des Studirten macht. Manches
dieser Märchen, die Mehrzahl derselben, wird gewiß bald zum Gemeingut der
deutschen Kinderwelt, ja zum Gemeingut des deutschen Volkes werden. Denn der
Verfasser hat Recht wenn er ausspricht: daß ein gutes Märchen zugleich das
Kind und den Erwachsenen anmuthen müsse. Nach diesem Ziele hat er ge¬
arbeitet, und in der Hauptsache ist ihm, wie bemerkt, sein schönes Streben ge-
lungen. „Die schuldige Hand", das „Märchen von den zwei Fröschen, welche
das Nähen lernten", „Jmmerhöher", „die alte Standuhr", „Theerpitterchen's
Tochter", „die sieben Hulegeisterchen", „die Knnstpuppe", „der Schneider und
die Wölse", „die Hühnerbnrg", „die Unglücksraben", „der Minimus", „die
drei Brillen" — das sind Märchen, die kein deutsches Kind vergessen, die es
immer wieder erzählt verlangen oder lesen wird — wenn auch bei manchen,
nach dem Vorbild der eigentlichen „Fabel", der Verfasser wenig mehr bietet,
als daß er Thiere oder stimmlose Gegenstände mit menschlicher Sprache, Ueber-
legung und Handlung ausrüstet, oftmals ohne jede eigentlich märchenhafte
Zuthat. Noch mehr den Fabelcharakter tragen die Humoresken „der junge
Schmetterling", „die Hochzeitsreise", „die Schneckenpost", „Prahlhans" und
die ernsten „Märchen": „Der Thautropfen", „der Todtengräber". Einige der
Blüthgen'scheu Märchen aber gehen — darüber wird auch der Dichter selbst
sich kaum täuschen — entschieden den über kindlichen Horizont hinaus; sie
mögen dein Kinde wohl verständlich sein nach dem Gang der Handlung, keines¬
wegs aber in ihrer tieferen ethischen Absicht. Dahin zählen wir einigermaßen
schon „der Haidegeist", „die Spinnenprinzessin", „der Todtengräber", ganz be¬
sonders aber „der Brautspiegel", „der Ring des Bildhauers", „Benezia" und
„Allerseelennacht" — denn daß z. B. ein Kind nicht begreisen kann und soll,
daß ein Mutterherz seines todten Kindes vergessen könne, bedarf wohl nicht
näherer Begründung. Wenn wir diese Phantasiebilder des Verfassers daher
auch nicht zu den nach seiner eigenen Definition guten „Märchen" zählen,
so sind sie dagegen nicht minder schöne, durchgearbeitete Allegorien, ja wohl
einige der schönsten der ganzen Sammlung. Nur nebenbei möchten wir unsere
Verwunderung darüber aussprechen, daß der Verfasser in der Schreibweise
substantivischer Adjektivwörter (die er klein schreibt), in dem Worte „Weißheit"
und dergleichen in einem für die Angen von lernenden Kindern bestimmten
Buche von der Othographie der Schulen so wesentlich abweicht. Geradezu
unrichtig ist der Name Fallen statt Faliero in „Venezia".*)
Ueberraschen muß es, daß keine der deutschen Jugendschriften-Verlags-
handluugen, welche neben der Unterhaltung auch Belehrung der Jugend auf
den Gebieten der Geschichte, Geographie und Völkerkunde erstreben, die große
Afrikareise Stanley's für das Verständniß der reiferen Jugend zurechtgemacht
hat. Die Erzählung des Amerikaners ist ja so lebendig und dramatisch, der
bildliche Stoff seines Werkes so reich und geeignet zurs Umzeichnung oder zur
Gruppirung, daß man hätte annehmen sollen, ein förmlicher Wettlauf von
Unternehmungen würde angestellt werden, um dieses überreiche Material der
Jngend nutzbar zu machen. Statt dessen begnügt sich selbst Julius Hoffmann's
Verlag in Stuttgart, der sich doch sonst durch seine gediegenen Jugendwerke
belehrender Art auf den hier in Rede stehenden Gebieten auszeichnet, „frei
nach dem Englischen" von N. Almen, „eine Erzählung für die reifere Jugend"
„Schwarzes Elfenbein" zu bieten, deren Negertypen in den Illustrationen
stark übertrieben, beinahe karikirt sind. Man braucht damit z. B. nur Stan¬
ley's Negertypen, selbst solche von den Kannibalenstämmen des äquatorialen
Afrika zu vergleichen, um das Unschöne dieser Bilder zu empfinden. — I. M.
Gebhardt's Verlag in Leipzig ist auf diesem Gebiete der Jugendliteratur mit
zwei Werken vertreten: der zweiten Auflage von I. H. Campe's Entdeckung
von Amerika („der reiferen Jugend wiedererzählt" von A. Hummel) und
„den Goldgräber" von G. Mensch. Das zuletzt genannte Buch enthält
lebenswahre Natur- und Kulturbilder aus den Goldminen und den Kämpfen
mit den Buschkleppern Australien's, die den Tagebnchblättern des deutschen
Diggers und Squatters aus australischen Boden, von Ehrenfels, nacherzählt
sind; diese waren dem Verfasser zur Benutzung überlassen, und sind ergänzt durch
sonstige glaubwürdige Berichte. So sind der Jugend in lesbarer fesselnder
Darstellung wichtige Fingerzeige über jenes ferne Land geboten, von dem es
in dem ergötzlichen Liede heißt: „Wo die Weltumsegler stehen und sonst Alles
unbekannt." Campe's Entdeckung von Amerika dagegen hatte Hummel schou
in der ersten Ausgabe mit Takt und Verständniß zeitgemäß umgestaltet. Bei
aller Pietät sür den so hochverdienten Versasser des Originals, hatte er entschlossen
ausgemerzt was vor bald neunzig Jahren bei dem ersten Erscheinen von
Campe's Buch (1781) als geschmackvoll, neu und pädagogisch richtig galt: die
uns Modernen ungenießbare dialogische Form, die nachdrückliche breite, jedes
selbständige Denken erdrückende, statt weckende, Absicht der Belehrung über alle
auftauchenden, namentlich ethischen Fragen, die lehrhaften Abschweifungen auf
alle möglichen Gebiete, welche mit dem Gange der Erzählung nur in losem
oder gar keinem Zusammenhange stehen, endlich die vielfach unrichtige, in dein
ungenügenden Quellenmaterial, das Campe zur Verfügung stand, beruhende
Zeichnung und Gliederung des historischen Stoffes. Namentlich in letzterer
Hinsicht trägt Hummel's Arbeit überall das Gepräge selbständiger tüchtiger
Umschau in dein weiten Quellengebiete, das die Neuzeit seit Campe über die
Zeit der Entdeckungen des westlichen Kontinents erschlossen hat. Daß das
Publikum die Tüchtigkeit der Arbeit des Verfassers anerkennt, beweist diese
zweite Auflage, die im Text unverändert geblieben ist, in dein Bilderschmuck
aber (den ebenso wie zum Goldgräber Offterdinger geliefert) und in den drei
Karten für die Fahrten des Coluiubus, Cortez und Pizarro eine neue schöne
Ausstattung von der Verlagshandlung erhalten hat.
Ein ganz eigenartiges Festgeschenk bietet der Verlag von Alphons Dürr
in Leipzig unter dem Titel „Deutsche Tonmeister, biographische Erzählungen
und Charakterbilder, der musikalischen Jugend gewidmet von I. Stieler", in
sehr gediegener Ausstattung. Ein Theil dieser liebenswürdigen und feinsinnigen
Schilderungen aus dem Leben, Schaffen und Leiden der größten deutschen
Tondichter (Händel, Bach, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Mendels¬
sohn) ist bereits aus den Münchener „Jugeudblättern" und besonders aus der
„Deutschen Jugend" bekannt geworden. Doch ist hier überall eine breitere,
vollere Ausgestaltung möglich gewesen. Die Absicht der Verfasserin, den
jungen Lesern „ein Vorbild pflichttreuer Thatkraft zu bieten, und das Gefühl
jener Pietät zu befestigen, welche wir Männern schulden, die soviel geleistet
und gelitten und der Stolz ihres Vaterlandes geworden sind," ist in unsern
Tagen, die so gerne in Allem und namentlich auch in der Musik dem nich¬
tigsten Tande nachjagen und sich durch eine großsprecherische Reklame so leicht
verblüffen und von dem wahrhaft Guten, Schönen und Edeln abziehen lassen,
gewiß nur des freudigsten Lobes werth; ebenso aber auch die große Sorgfalt
der Form, die schöne Kunst einfacher und doch so fesselnder und eindringlicher
Erzählungsweise, welche diese Blätter auszeichnet. Die Illustrationen haben
die besten deutscheu Künstler geliefert: Wold. Friedrich zu Händel und Mendels¬
sohn, Claudius zu Bach, Thumann zu Gluck und Haydn, Offterdinger zu
Mozart und Beethoven, Bürkner zu Weber.
Aus den im Verlage von Paul Flemming in Glogau erschienenen neuen
Jugendschriften heben wir vorläufig besonders hervor die billigere Ausgabe
seines gediegenen Märchenbuches von Godin, welche eiuen von A. Linz
veranstalteten Auszug aus dem größeren Werke bietet. Das Buch ist mit den
besten Holzschnitten des größeren Werkes und mit vier neuen Farbendrucken
illustrirt. Daneben verdienen besondere Erwähnung die patriotischen Jugend-
schriften dieses Verlags, von denen heute nur die gleichfalls illustrirten Bänd¬
chen Kaiser Wilhelm von Ferdinand Pflug und Fürst Bismarck
von Ferdinand Schmidt empfohlen werden mögen.
Plewna war am 10. Dezember nach wochenlanger Einschließung gefallen.
Seit dem 1. November hatte die türkische Armee jede Verbindung mit der
Außenwelt verloren; die beiden Gegner aber hatten sich, einen einzigen Punkt
ausgenommen, auf gegenseitige Beobachtung beschränkt. Es erübrigt zu sehen,
was vom 1. November ab bei den anderen Armeen in Bulgarien geschehen war.
Im Süden, am Tschipkapasse, versuchte, wie schon früher erwähnt, Reus
Pascha am 11. November einen Infanterie-Angriff, den seit dem 8. eine heftige
Beschießung vorbereitet hatte, doch die seit Ende Oktober dort stehende 1. Bri¬
gade der 24. Division (die andere Brigade blieb nördlich der Donau vor
Ruschtschuk) wies denselben leicht ab. Ein Sturmversuch gegen eine russische
Batterie am Abend des 21. November hatte gleichfalls keinen Erfolg. Am
15. und 23. Dezember fanden größere Geschützkämpfe ohne weitere An¬
griffe statt.
Im Osten standen zu Anfang November, von der Donau anfangend, das
12. und 13. russische Korps von Metschka bis Tscherkowna, die 26. Division
um Tschairkioi, südlich davon das 11. und auch ein Theil des 8. Korps
(9. Division) an obige anschließend über Slataritza bis Elena und Marian.
Die Vorposten waren von Pyrgos an der Donau bis zum schwarzen Lom,
diesen aufwärts bis Kazelewo und von da in fast genau südlicher Richtung
bis Bebrowa hin aufgestellt.
Die türkische Hauptarmee im Festungsviereck stand um Rasgrad,
der rechte Flügel bei Kadikioi, der linke um Osmanbazar. An Zahl der Streit¬
kräfte war wohl Suleiman Pascha dem Großfürsten Thronfolger überlegen,
zu einem energischen Angriff schritt er aber jetzt so wenig wie nach Uebernahme
des Oberbefehls im Oktober. Indessen hielt er dnrch eine Reihe einzelner
Angriffe die russischen Truppen stets in Athem.
Am 2. November wurde die Stellung bei Marian angegriffen, am 9.
die Vorpostenstellung der 13. Kavallerie-Division in Polamarca und Balsi-
Jumurkioi, am 15., von Solenik aus, Kazelewo, wo die russischen Vorposten
vorübergehend über den Lom zurückgeworfen wurden. Ein Vorstoß gegen
Nowoselo und Slataritza, am 16. November und noch einmal ein solcher
gegen Mari an am 19. vermochten keinen Erfolg zu erzielen. Ernster in
ihren Folgen waren aber die Rekognoszirungen gegen den russischen linken
Flügel,
Am 17. November gingen 10 bis 12 Bataillone gegen Pyrgos und
Metschka vor, aber schon die Vorpostenkavallerie genügte diesmal, sie aufzu¬
halten. Bei einer Wiederholung dieses Vorgehens am 19. November mit
26 Bataillonen in zwei Kolonnen nahm die rechte Kolonne Pyrgos, zündete
es an und drang bis an die Stellung von Metschka vor; hier endlich wies
eine Brigade der 12. Division sie ab. Die andere Kolonne kam wiederum
schon vor den souliers der russischen Vorposten zum Stehen, und ging dann
über den Lom zurück.
Angesichts der nahen Vollendung einer neuen Donaubrücke von Petro-
schcmi nach Badin in der linken Flanke des 12. Armeekorps beschloß Suleimcm
Pascha einen neuen ernsten Angriff auf dieses Korps, während kleine Vorstöße
gegen Zentrum und rechten Flügel die Aufmerksamkeit der Russen dorthin
lenken sollten.
Am 26. November erfolgte der Angriff auf Metschka und Trstenik
mit 4 Divisionen, Sälen, Ibrahim, Osman Bey und Hassan, zusammen 51
Bataillonen, 16 Eskadrons und 9 Batterien, oder etwa 32,000 Mann. Gleich¬
zeitig wurde ein Scheinaugriff gegen Kazelewo ausgeführt. Das russische
12. Korps hatte seine Vorpostenstellung, und hinter ihr noch zwei weitere Linien,
gut zur Vertheidigung eingerichtet. Vor Metschka trieben um 8 Uhr früh
8 türkische Bataillone, von Reserven gefolgt, die Vortruppen der 12. Division
zurück, ein Versuch dann den linken Flügel der Russen zu umfassen, mißlingt,
aber ein Frontalangriff auf Metschka führt in die Ostlisiere des Dorfes, ohne
daß die Türken sich ganz zum Herren desselben machen können. Ein Gegenangriff
auf den rechten Flügel der Türken, gut eingeleitet durch eine Kavallerie-Attake,
veranlaßt dieselben zum Zurückgehen, und ein nun beginnendes Vorrücken des
Gros der Division treibt sie vollends über die russische Vorpostenlinie zurück,
ohne daß ihnen ein neues Festsetzen in Pyrgos gelungen wäre. Ein weiteres
Verfolgen seitens der Russen war unthunlich, da eimTheil der Truppen dieses
Flügels jetzt Front machen mußte gegen den Angriff auf Trstenik. Gegen
diesen Ort richtete sich der Hcmptangriff der Türken, der etwas später begann
wie der Kampf vor Metschka. 10 Bataillone treiben die Vorposten zurück,
ehe aber der Angriff auf die Hanptstellung beginnt, haben die Türken 36 Batail¬
lone entwickelt, denen zunächst nur 5 russische entgegentreten können. Das
Vorgehen der 12. Kavallerie-Division, namentlich zwei gelungene Walen des
12. Husaren-Regiments, halten das Vordringen der Türken auf und ermöglichen
sogar einen Vorstoß des 47. Infanterie-Regiments. Wiederholte Angriffe auf
Trstenik selbst scheitern, bis gegen 4 Uhr Nachmittags die ganze 33. und der
größte Theil der 12. Division um Trstenik versammelt sind. Ein gemeinsamer
Angriff, wieder wesentlich unterstützt von der Kavallerie-Division, drängt nun
die Türken gegen den Lom zurück, hinter den sie am Abend sich abziehen. Die
Russen hatten 114 Todte und 646 Verwundete, die Türken circa 300 Todte
und 900 Verwundete verloren. Auch dieser in größerem Maßstabe angelegte
Angriff hatte keinen Erfolg und blieb ohne jede Einwirkung auf die Ereignisse
vor Plewna. Die im Vergleich zu der aufgewendeten Truppenzahl nur ge¬
ringen Verluste zeigen, wie sehr den Türken bei der Ostarmee, Führern und
Truppen, die Fähigkeit zu ernster Offensive abging.
Suleiman gab seinen Plan, die russische Aufstellung zu durchbrechen, noch
nicht auf, sondern versuchte nun auf dem rechten Flügel der Russen einen Er¬
folg zu erringen, um so die Jantra-Linie zu erreichen und dem in Plewna
eingeschlossenen Osman Pascha Luft zu machen.
Auf dem äußersten rechten Flügel der russischen Ostfront, um Mari an
und Elena, standen 2 Regimenter der 9. Diviston und 1 Schützen-Bataillon
mit 4 Eskadrons und 4 Batterien, im Ganzen etwa 5000 Mann. Hier be¬
gann am 4. Dezember Fuad Pascha um 7 Uhr früh mit rund 30,000 Mann
den Angriff auf Mari an. Der Ort wird nach hartem Kampfe genommen,
es fallen dabei 11 Geschütze in die Hände der Türken, um 3 Uhr Nachmittags
wird auch Elena genommen, aber es gelingt den Russen, sich 5 KiN rückwärts
wieder zu setzen und hier das Defile von Jakowtschi zu behaupten. Ein neuer
Angriff Fuad's auf diese Stellung am 5. Dezember scheitert. In der Nacht vom
5. zum 6. Dezember erhalten die Russen Verstärkungen und weisen einen dritten
Angriff am 6. nun mit leichter Mühe ab. Der Verlust der Russen in diesen
Kämpfen hatte 1757 Köpfe, darunter 300 Gefangene, betragen.
Gleichzeitig mit dem Angriff auf Marien am 4. Dezember hatten die
Türken mit 10,000 Mann auch Slataritza genommen, doch die 11. Division
drängte sie am 6. bis Bebrowci zurück. Elena und Bebrowa hielten die
Türken stark besetzt. Ein Erfolg, der ans die Ereignisse bei Plewna hätte
zurückwirken können, war auch hier nicht errungen.
Noch einmal wollte Suleiman sein Glück in einem Angriff auf Metschka
versuchen und versammelte, was er an Streitkräften heranziehen konnte, von
der Feldarmee wie aus den Festungen, in und um Nuschtschuk. Nach einer
am 10. Dezember, dem Tage des Falles von Plewna, vorgenommenen Reko-
gnoszirung überschritt er am II. von Nachmittags 4 Uhr ab den Lom;
30 Bataillone sammelten sich vor Ruschtschuk, 38 Bataillone gingen bei Krasna
auf das linke Ufer. Die Russen hatten im Allgemeinen die 12. Kavallerie-
Division auf Vorposten, je eine Brigade der 12. Infanterie-Division in Metschka
und Trstenik, eine Brigade der 33. Division auf dem rechten Flügel in Tabaschka
und Damogila und die andere in Reserve hinter Trstenik stehen. Als die
Absicht der Türken, die Stellung des 12. Korps anzugreifen, sich klar zeigte,
wurde am 12. Dezember mit Tagesanbruch noch eine Brigade der 35. Division
(13, A.-K.) nach Damogila in Bewegung gesetzt und so das 12. Korps ganz
für die Mitte und den linken Flügel frei gemacht. Gegen Trstenik wurde an
diesem Tage nur mit Kavallerie demonstrirt. Auf Metschka begann der
Hauptangriff am 12. Dezember gegen 10 Uhr. Die Russen hielten zwar zu¬
nächst noch das Dorf, die Türken aber drangen über den Bach vor, der von
dort zur Donau führt. BaldMußte auch das Dorf aufgegeben werden. Gegen
Mittag begann der Angriff auf die russischen Stellungen westlich der Einsen-
kung, in welcher Metschka liegt. Zur Abwehr desselben ließ Großfürst Wla¬
dimir, der Kommandirende des 12. Korps, die bei Trstenik versammelten
Truppen gegen Flanke und Rücken der Türken vorgehen. Die türkischen
Reserven suchten vergeblich gegen diesen Angriff Front zu machen. Um 2 Uhr
Nachmittags machte das russische Vorgehen sich auch beim Frontangriff der
Türken bemerkbar. Sobald die russischen Truppen südlich Metschka sich weniger
hart bedrängt fühlten, gingen sie ihrerseits angriffsweise vor. Gegen Abend
wurde auch Dorf Metschka wieder genommen. Die Türken, nach ihrem rechten
Flügel zusammengedrängt und von Stellung zu Stellung getrieben, flohen zu¬
letzt theils bei Bassarbowa über den Lom, theils zwischen Lom und Donan
nach Ruschtschuk. Die Russen hatten 795 Köpfe verloren, davon 124 todt,
der türkische Verlust wurde gegen 3000 Mann geschützt, davon sicher festgestellt
800 Todte.
Erst nach der verlorenen Schlacht erfuhr Suleiman den schon am 10.
Dezember erfolgten Fall von Plewna, der die Berufung seines Heeres nach
Rumelien zur Folge hatte. Am 14. Dezember besetzten die Russen nach leichtem
Gefecht wieder die am 4. Dezember verlorenen Vorpostenstellungen bei Elena und
Slataritza, sonst hatte das Zurückziehen der türkischen Vorposten hinter
den Lom und Solenik im letzten Drittheil des Dezember keine Wiederaufnahme
der Offensive seitens des Großfürsten zur Folge. Nur langsam wurden die
Vorposten gegen Ruschtschuk vorgeschoben und Einleitungen zur Belagerung
dieses Platzes getroffen; im Uebrigen verhielt die russische Ostarmee sich völlig
abwartend, bis im Süden des Balkan die Entscheidung gefallen war, und der
Waffenstillstand den Feindseligkeiten ein Ende machte.
Weiter im Osten, an der Donau, wurde Silistria wie Rnschtschuk wieder¬
holt vom rumänischen Ufer aus beschossen, auch versuchte die Garnison von
Silistria mehrfach Vorstöße gegen die russischen Stellungen am linken Donau¬
ufer bei Kalarasch, doch blieb diese Thätigkeit ohne jeden Einfluß auf den
Verlauf der Ereignisse im Großen.
Vom Dobrndscha-Korps waren im August nur Rekognoszirungs-
patrouillen über den Trajanswall nach Süden vorgegangen. In den Tagen
vom 26. bis 28. September hatte General Mcmsei mit der Kavallerie des
Korps eine größere Rekognoszirung gegen Basardschyk ausgeführt, während
der es zu einigen Gefechten mit Tscherkessen kam. Im Monat November
dehnte General Zimmermann die Besetzung des Gebietes südlich des Trajans-
walles weiter aus und stellte vor Baltschik und Basardschyk kleine Beobach-
tungsdetachements auf. Ein ernsteres Vorgehen erfolgte jedoch erst im Januar
1878, nachdem die Türken mit allen Feldtruppen das Gebiet nördlich des
Balkan geräumt hatten. In den Tagen des 22. bis 25. Januar fanden wieder¬
holt kleine Ausfallgefechte vor Basardschyk statt; am 26. Januar wies General
Zimmermann einen stärkeren Angriff ab, wobei die Russen circa 300 Mann
die Türken an 900 Mann verloren. In der folgenden Nacht zog die türkisch-
egyptische Besatzung der Stadt auf Warna ab. Erst am 3. Februar, also be¬
reits nach Abschluß des Waffenstillstandes, doch bevor ihn der Besehl zur Ein¬
stellung der Feindseligkeiten erreichte, besetzte General Mansei mit der Kavallerie
Baltschik und Prawady unweit Warna.
Wenden wir uns von der Ostgrenze des bulgarischen Kriegsschauplatzes
auf kurze Zeit nach dem äußersten Westen der Balkanhalbinsel zu der kriegeri¬
schen Thätigkeit Montenegro's.
Das seit 1875 kaum unterbrochene Eingreifen dieses Landes, sobald es
galt, die Verlegenheiten der, Pforte zu vermehren, verfolgte stets nur den rein
lokalen Zweck der Ausdehnung des eigenen Gebietes, ohne besondere Rücksicht
auf die Vorgänge auf anderen Kriegsschauplätzen. So unterstützte Montenegro
den Aufstand in der Herzegowina, um später selbst die Früchte davon zu
ernten, so focht es in Gemeinschaft mit Serbien, ohne zu gemeinsamer
Thätigkeit beider Heere die Hand zu bieten; so focht es während des russischen
Krieges, brach aber seine Thätigkeit jedesmal da ab, wo es die Grenze des
möglichen eigenen Gebietserwerbs erreicht zu haben glaubte. Es wird genügen,
die einzelnen von ihm errungenen Resultate zu kennzeichnen.
Im April 1877 erstrebte es die Einnahme von Nikschitz und besetzte dazu,
nachdem es schon am 16. April den Krieg erklärt hatte, am 23. April das
Fort Krschtaz am nördlichen Ausgange des Duga-Passes. Suleimcm Pascha,
Oberkommandant in der Herzegowina, sammelte dort 20,000 Mann, Mehemed
Ali in Nowibasar 10,000 und Ali-Saltz Pascha in Albanien 30,000 Mann
gegen diesen Gegner.
Im Juni 1877 beginnen diese Heere die Operationen. Ali-Said rückt
am 6. Juni von Spuz ans die Zeta aufwärts vor, wird aber bei Martinitzi
geschlagen und muß hinter die Grenze zurückgehen. Snleimcm schlägt die
Montenegriner am 10. Juni bei Krschtaz, nimmt diesen Ort, dringt durch den
Dugapaß und verproviantirt am 16. Juni Nils chitz. Mehemed Ali dringt am
11. Juni von Kolaschin aus in Montenegro ein, wird aber am 15. wieder
zurückgetrieben. Suleiman rückt von Nikschitz aus weiter vor, quer durch
Montenegro, und vereinigt sich am 24. Juni mit Ali-Said. Er hat auf der
nur 24 Ku, langen Strecke in 7 Tagen 7000 Mann verloren, kann aber die
Früchte seines Erfolges nicht mehr ernten, denn er muß am 28. Juni mit
seinen Truppen von Skutari aus sich nach Adrianopel begeben. Auch Mehemed
Ali wird bald darauf für seine Person abberufen, und Hafiz Pascha über¬
nimmt für ihn das Kommando in Nowibasar.
Am 22. Juli gehen die Montenegriner wieder gegen Nikschitz vor; bis
zum 24. sind alle Außenwerke genommen, am 27. Juli beginnt die Beschie¬
ßung, am 19. August wird die Stadt erobert, am 8. September kapitulirt die
Zitadelle. Bis zum 16. September sind dann sämmtliche Befestigungen im
Duga-Passe, einschließlich Fort Krschtaz genommen; an demselben Tage ergibt
sich auch Blick und am 24. September Goransko und Piwa nördlich des
Duga-Passes. Damit enden die Operationen in der Herzegowina. Schon am
8. September ist Hafiz Pascha bei einem neuen Versuche, von Nowibasar aus
in Montenegro einzudringen, bei Sisto Jesero zurückgeschlagen.
Nach einer zur Einbringung der Ernte benutzten Ruhepause wendete
Fürst nitida sich^nach der Südseite Montenegro's gegen Albanien. Die Türkei
hatte hier eigentlich nur noch die Besatzungen der festen Plätze stehen lassen.
Am 22. Oktober begannen die Montenegriner die Belagerung von Spuz; am
9. November nahmen sie ein kleines Fort bei Antivari; am 21. November
besetzten sie die Stadt Spizza, am 24. noch zwei Außenforts von Spizza und
eins von Antivari. Eine Beschießung dieser Werke durch türkische Panzerschiffe
am 29. November und eine türkische Landung bei Dulcigno am 6. Dezember
vermochte ihnen nur wenig zu schaden. Am 19. Dezember wurde ein Mon¬
tenegrinisches Detachement vor Pvdgorizza geschlagen, aber am 26. Dezember
errangen sie einen Erfolg über die Türken bei Dulcigno. An: 7. Januar 1878
begannen sie die Beschießung der Stadt Antivari, am 10. Januar ergab sich
dieselbe. Am 16. Januar besetzte Fürst nitida ohne Kampf Dnleigno und
begann die Zernirung von Skutari. Beim Abschluß des Waffenstillstandes war
also in Albanien das ganze Gebiet zwischen dem Meere und dem See von
Skutari von der Montenegrinischen Grenze bis hinab zur Bojana in den Händen
der Montenegriner.
Kehren wir nach diesen Abschweifungen zu dem Kriegsschauplatz
am Balkan zurück. Am Ende Oktober stand südlich Plewna der General
Karzow mit der 3. russischen Division in und um Lowatz, der General
Gurko mit 2 Garde-Divisionen und zahlreicher Kavallerie südlich des am
28. Oktober genommenen Telisch,") beide mit der Aufgabe, ein Vorbrechen der
Türken aus den westlich von Tschipka gelegenen Balkanpässen zu hindern, wo¬
möglich aber selbst dieser Pässe und der Kammhöhe des Balkan sich zu be¬
mächtigen. Die russischen Truppen auf beiden Ufern des Wid waren zusammen
etwa über 50,000 Köpfe stark. Was die Türken in und hinter dem Balkan
bis einschließlich Sofia dieser Truppenmacht entgegenzustellen hatten, wurde
auf höchstens 30,000 Köpfe veranschlagt: Noch dazu waren hier fast nur Neu-
formatiouen vorhanden. Die in Betracht kommenden Paßwege waren von Ost
nach West der Rosalita-Paß, der Paß von Trojan, der Paß von Slatitza und
der Baba-Konak-Paß, letzterer mit einer größeren Straße.
Den ersten Vorstoß südwärts führte am 31. Oktober der General Karzow
nach Tetewen, ein kleines Detachement demonstrirte dabei von Trojan her.
Der eigentliche Angriffsplan kam zwar wegen Irrungen in dem dichten Nebel
nicht zur Durchführung, jedoch wurde gegen Abend eine nach Norden vorge¬
schobene türkische Schanze umgangen, die Türken flüchteten deshalb in die Stadt
und räumten diese am 1. November, indem sie schon früh 2 Uhr nach Orchanie
und Karlowo abzogen.
Am 2. November gewann die Avantgarde des General Gurko bei Pesch-
terua und Turski Jzvor, unweit des Wid, Fühlung mit den Truppen Karzow's,
drei Tage später erreichte sie auf der Chaussee nach Orchanie die stark be¬
festigte, aber von den Türken verlassene Stellung von J ablonitza und machte
hier, am Eingange der Gebirgsdefilcen zunächst Halt.
Eine Rekognoszirung vom 12. November stellte fest, daß Etropol, halb¬
wegs zwischen Tetewen und Orchanie, noch stark besetzt sei, eine andere vom
16. November fand den noch östlich Trojan gelegenen hohen Rosalita-Paß,
wahrscheinlich seiner Unwegsamkeit wegen nicht besetzt. Westlich der Vormarsch¬
linie Gurko's hatten die Türken in Wratza bedeutende Proviantvorräthe an¬
gesammelt. Gurko ließ den mit nur 800 Mann Infanterie und 300 Mann
Reiterei besetzten Ort am 9. November durch zwei starke Kavallerie-Detache-
nimeh angreifen. Abgesessene Kavallerie ging gegen die Verschanzungen und
die Stadt vor, und nach kaum zweistündigem Gefecht flohen die Türken in den
Balkan, die Vorräthe fielen unversehrt in russische Hände.
Wie Etropol im Osten so erwiesen sich auch die Stellungen von Prawetz
auf der Chaussee von Plewna nach Orchanie und Sofia, die von Novatschin
und Lutikowo im Norden und diejenige von Wratschesi im Südwesten von
Orchanie so stark besetzt, daß Rekognoszirungs-Detachements nicht an dieselben
herankommen konnten. Dabei gestattete erst der Besitz der Stadt Orchanie und
des von den Ausläufern des Balkan um dieselbe gebildeten Beckens, die Truppen
des General Gurko eben so nahe an den Hauptkamm des Balkangebirges her¬
anzuführen, wie General Karzow mit seiner Division in Tetewen bereits stand.
Die Besitznahme des Beckens von Orchanie war also das nächste
Ziel der russischen Operationen. In den Tagen vom 21. bis 24. November
wurde durch eine zusammenhängende Reihe von Märschen und Gefechten auf
der ganzen Front von Etropol bis westlich Orchanie dieses Ziel wenigstens in
der Hauptsache erreicht.
Auf dem russischen linken Flügel gingen Theile der 3. Division und die
1. Brigade der 1. Garde-Division, zusammen 12 Bataillone, 10 Eskadrons
mit 22 Geschützen unter General Dandeville in 2 Kolonnen gegen Etropol
vor, die eine über Brussen und Lupen auf Se. Troica, den rechten Flügel der
türkischen Stellung, die andere gegen Etropol selbst. Nach einem vergeblichen
partiellen Angriff der erstgenannten Kolonne am 22. und einem gelungenen
Vorstoß eines Theiles der letzteren am 23. November, wurde zwar ein Sturm¬
versuch der zweiten Kolonne am 24. November früh abgeschlagen, am Nach¬
mittage jedoch glückte ein gleichzeitiger neuer Angriff beider Kolonnen auf die
Hauptredoute vor Etropol, die Türken zogen sich in und durch die Stadt in's
Gebirge zurück. Etropol wurde am 24. November 6 Uhr Nachmittags von
den Russen besetzt.
Gegen Prawetz auf der Chaussee Plewna-Sofia setzten sich von Ossikowo
aus am 22. November 18 Bataillone, 6 Batterien unter General Graf Schu-
walow in der Front in Bewegung, 4 Bataillone deckten dieses Vorgehen gegen
Etropol, eine Kolonne von 6 Bataillonen, 3 Eskadrons, 1^2 Batterien war
schon am 21. aufgebrochen, um über Kalugerowo auf Lcckawitza vorzugehen
und von dort Flanke und Rücken der türkischen Stellung anzugreifen. Nach
beschwerlichem Marsche erreichte diese Kolonne am 23. November gegen Mittag
ihr Ziel. Von einer besetzten, aber nicht befestigten Höhe auf dem linken
Flügel der Stellung werden die Türken um 4 Uhr vertrieben. Beide Kolonnen
gemeinschaftlich nehmen dann die ganze Stellung von Prawetz und verfolgen
die Türken bis gegen Orchanie. Ein Detachement von 6 Eskadrons mit einer
Batterie war von Wratza aus am 21. November nach N aschkowo vorgegangen
und sollte von hier gegen die Ortschaften westlich und nördlich Orchanie demon-
striren, um eine Unterstützung von Prawetz zu hindern. Ein Theil, über
Radotschin gegen Lulakowo vorgegangen, wurde aufgehalten, ohne diesen Ort
zu erreichen; ein anderer, der sich gegen Nowatschin gewendet hatte und dort
abgeschlagen war, fiel auf dem Rückwege in einen Hinterhalt und verlor
63 Mann und 2 Geschütze. Mit Ausnahme dieses Unglücksfalles hatten die
Russen in den Kämpfen vom 22. bis 24. November verhültnißmäßig nur ge¬
ringe Verluste gehabt.
Nach dem Verlust von Etropol und Prawetz zog Mehemed Ali, der kürz¬
lich das Kommando der Armee von Sofia übernommen, sich aus Orchanie nach
Wratschesi an der Straße nach dem Baba-Kouak-Passe zurück; das Deta-
chement aus Etropol verschanzte sich auf den Höhen von Greota zur Deckung
desselben Passes. Diese Höhen liegen aber näher am Passe als Wratschesi,
ihre Wegnahme machte die neue türkische Stellung unhaltbar. Während dem¬
nach Gurko's Hauptkvlonnen sich abwartend verhielten, nahm General Dcmde-
ville am 28. November von Etropol aus diese Höhen. Mehemed Ali zog in
Folge dessen alle Truppen hinter den Balkan zurück und hielt nur den Baba-
Konak-Paß stark besetzt.
Ein übereiltes Eindringen der Russen von Wratschesi aus in diesen Paß
am 1. Dezember mißlang; die Eingedrungenen mußten auf die steilen Höhen
westlich des Passes ausbiegen; die Russen hatten dadurch fiir die Tage vom
28. November bis 1. Dezember einen. Verlust von 350 Mann.
Am 3. Dezember gelang es einem Theile von Gurko's Avantgarde, eine
Höhe in der linken Flanke der türkischen Stellung auf dem Kamme des Ge¬
birges zu erklimmen. Vergeblich suchten die Türken am 3. und 5. Dezember
sie wieder zu nehmen. Gurkv ging aber nicht weiter vor, sondern erwartete
nach Erreichung der Balkanlinie zu weiterem Vorgehen ruhig den Fall von
Plewna. Von Etropol hatte General Dandeville zur Deckung seiner Flanke
beim Augriff auf die Höhen von Greota ein Detachement gegen den Zlatitza-
Paß vorgeschickt. Dieses erreichte die Paßhöhe am 1. Dezember, konnte aber
am Südfuße des Gebirges, wo die Türken alle Orte stark besetzt hatten, sich
nicht weiter ausbreiten. General Karzow hielt von Tetewen aus mit diesem
Detachement Verbindung, blieb aber im Uebrigen abwartend in seiner Stellung.
Ein weiter westlich Wratza gegen Berkowitza am Ogost vorgegangenes Deta¬
chement von Kavallerie konnte einen Angriff auf den dortigen stark besetzten
Paß nicht versuchen.
Der am 10. Dezember erfolgte Fall von Plewna machte die zahlreichen dort
befindlichen russischen Kräfte zur Verstärkung der Armeen im Balkan frei. Dem
General Gurko wurden überwiesen: die 3. Garde-Division und das 9. Armee¬
korps (5. und 31. Division); dem General Karzow: das 10. Schützen-Bataillon;
zum General Radetzki stieß das 4. Armeekorps (16. und 30. Division) und die
3. Schützen-Brigade, später das Grenadierkorps und die 1. Kavallerie-Division.
Den Rumänen wurde selbständig das Vorgehen gegen Widm übertragen, zum
Theil gingen sie auf das linke Donauuser zurück.
Serbien hatte am 14. Dezember der Pforte den Krieg erklärt. In
kurzer Zeit war also auch ein Vorgehen der serbischen Armee in der Richtung
über Risch und Pirol gegen Sofia zu erwarten, mit dem, als Flankensiche¬
rung für Gurko's Operationen, von vorn herein zu rechnen war. Schon am
15. Dezember begann das etwa 16,000 Mann starke serbische Morawakorps
seinen Vormarsch gegen Risch, dessen Belagerung es uach mehreren Gefechten am
23. Dezember begann, und die bis zur Kapitulation am 11. Januar dauerte.
Das Tinot-Korps, 20,000 Mann stark, entsandte einen Theil seiner Kräfte
gegen Widm, das Gros stürmte am 19. Dezember den Paß Se. Nikolas
auf der Straße vou Ak-Palanka nach Pirol, nahm am 21. von Belogradschik
aus durch Kavallerie die Verbindung mit den Russen auf, erstürmte am 24.
Ak-Palanka und am 28. Dezember Pirol, nicht ohne ernste Verluste; am
6. Januar 1878 traf das Korps in dem bereits von den Russen besetzten
Sofia ein. Die Operationen der übrigen serbischen Heertheile behielten eine
rein lokale Bedeutung.
Den Russen gegenüber stand südlich des Balkan vor dem Tschipkapaß
Wessel Pascha mit rund 35,000 Mann, weiter westlich um Sofia Mehemed
Ali Pascha in etwa gleicher Stärke. Nach einzelnen kleineren Vorstöße» hatte
der Letztere seine Truppen um Mitte Dezember etwa wie folgt vertheilt: die
Hauptmacht 45 Bataillone unter Schakir Pascha im Baba - Konak-Passe,
15 Bataillone zur Deckung der rechten Flanke bis Slatitza vertheilt, 10 Batail¬
lone zur Deckung der linken Flanke in Lutikowo nördlich des Balkan und
am Südfuße des Gebirges, endlich etwa 15 Bataillone als Reserve in Sofia.
Der Baba-Konak-Paß war in Front und rechter Flanke vertheidigt
durch die Stellungen von Arad-Konak und Schandornick. Die Rückzugslinie
aus beiden gabelt sich 4 Kw, hinter Arad-Konak in die drei Straßen über
Taschkisen nach Sofia westwärts, in südlicher Richtung über Malkotschewo
nach Jchtyman an der Chaussee Sofia-Philippopel, nach Osten über Dolnji
Komartzi nach Slatitza. Die Orte Taschkisen, Malkotschewo und Dolnji Ko-
martzi liegen fast gleichweit (4 Kw) von dem Trennungspunkte der drei Wege
entfernt, so daß die Besetzung des einen oder andern den Abzug aus den vor¬
genannten Stellungen ernstlichst gefährden mußte. Hierauf gründete General
Gnrko seinen Plan für den jetzt mit bedeutend verstärkten Kräften auszuführenden
Balkanübergang.
Trotz aller Hindernisse, welche Terrain und Jahreszeit, das unwegsame
Gebirge, die strenge Kälte und der tiefe Schnee den Truppenbewegungen ent¬
gegenstellten, sollten die Türken in ihren Stellungen festgehalten und sollte der
Balkan auf Nebenwegen theils östlich, mit den Hauptkräften aber westlich der
besetzten Straßen überstiegen werden. Eine Kolonne von 6^2 Bataillonen und
2 Ssotuien hatte vom Slatitza - Passe aus gegen Slatitza zu demonstriren,
und die dort und in der Nähe stehenden türkischen Detachements festzuhalten;
36 Bataillone mit 9^/z Batterien unter General Krüdener wurden bestimmt,
vor der Front der feindlichen Hauptmacht im B ab a-Ko mal-P asse stehen
zu bleiben, eine dritte Kolonne von 6 Bataillonen mit 8 Eskadrons und 4 Batte¬
rien sollte im äußersten Westen gegen Lutikowo und den Paßweg von
dort nach Sofia demonstriren. Mit 9 Bataillonen, 4 Eskadrons, 1^/z
Batterien erhielt General Dandeville den Auftrag, von Etropol aus östlich der
türkischen Hauptstelluug über die Babagora nach Bunowo und Mirkowo,
an der Straße nach Slatitza hinabzusteigen und so die Rückzugslinie des
Feindes nach Osten zu besetzen, gleichzeitig aber gegen die Stellung von Schan-
dornik (s. oben) zu demonstriren. Er war dabei in gerader Linie an 30
von der Hauptkolonne entfernt. Westlich des Baba-Koran-Passes sollte die
Hauptkolonne mit zusammen 31^ Bataillonen, 16 Eskadrons und 5 Batterien
von Wratschesi aus über Tschuriak auf Njegosowo rücken und von dort gegen
Taschkisen und die Straße nach Sofia vorgehen. Noch 3 Ku weiter westlich
hatte General Weljaminow mit 5 Bataillonen, 16 Eskadrons, 2 Batterien
durch Vorgehen von Wratschesi über den Umurgasch-Balkan auf Zilawa und
Gornji-Bugarow die Hauptkolonne gegen Sofia zu decken. Ersteres Dorf lag
nahe der Chaussee und 10 Ku von dem Marschziele der Hauptkolonne entfernt.
Nach diesem Plane wurde der Balkauübergaug in den Tagen vom
25.-30. Dezember ausgeführt. Die russischen Truppen hatten mit ungemeinen
Schwierigkeiten zu kämpfen. Es erforderte z. B. der Transport eines möglichst
zerlegten Geschützes durch die Bedienungsmannschaften und je eine Kompagnie
Infanterie für jeden Kilometer ein bis zwei Stunden Zeit. Nicht alle Kolonnen
konnten ihr Ziel erreichen. General Dandeville mußte nach Etropol zurück¬
kehren, nachdem er bereits am 27. Dezember den Abstieg nach Mirkowo und
Bunowo begonnen, weil Schneestürme ihm jeden Weg versperrten. Bei einem
solchen Sturme in der Nacht vom 28. bis 29. Dezember verlor er allein 53
Todte und 823 Mann, welche die Glieder erfroren hatten. Auch General
Weljaminow fand keinen Weg zum Hinabsteigen. Er mußte am 27. Dezember
auf Tschnriak umbiegen und gelangte am 28., einem Theil der Avantgarde der
Hauptkolonne folgend, von dort über Potop nach Jleschnitza, nur seine Kavallerie
erreichte am 29. Dezember Zilawa. Die Hauptkolonne stand nach einer Anzahl
kleiner Avantgardengefechte am 30. Dezember um Njegosowo versammelt.
Türkischerseits waren nach Erkennen der Umgehung am 27. Dezember etwa
20 Bataillone bei Taschkisen konzentrirt, und dieses sowie eine Stellung auf
der Höhe südlich Malkotschewo war vom 28. ab thunlichst befestigt worden.
Der Angriff ans die türkische Stellung auf der Paßhöhe, wie bei Tasch¬
kisen, am 31. Dezember erfolgte unter der Annahme, daß General Dandeville
in Mirkowo und Bunowo eingetroffen sei. General Krüdener beschäftigte die
Türken in der Stellung auf der Paßhöhe wesentlich durch Artilleriefeuer. Von
der Hauptkolonne wurde noch in der Nacht ein Theil südwärts nach Tschekan-
stowo detachirt, um von hier die schon erwähnte Höhe von Malkotschewo
zu nehmen. Kavallerie sollte weiter auf Dolnji Kvmartzi vorgehen, um hier
eventuell mit General Dandeville in Verbindung zu treten. Die andern Theile
der Hauptkolonne sollten Taschkisen und die Befestigungen an der Paßstraße
nördlich dieses Ortes angreifen. Die Kolonne des Generals Weljaminow und
Kavallerie deckten den Angriff gegen Störungen von Sofia und Jchtyman.
Störungen durch die Türken erfolgten nicht. Aber das schwierige Terrain hielt
den Angriff wider Erwarten auf. Erst um 2 Uhr Nachmittags wurde die
Höhe von Malkotschewo und bei einbrechender Dunkelheit auch dieses Dorf
genommen. Nach Wegnahme der genannten Höhe gelang auch der Angriff auf
die Redouten um Taschkisen, aus denen die Türken flohen. Ein anderer
Gefechtserfolg wurde nicht erzielt, aber die türkischen Befehlshaber hatten die
drohende Einschließung erkannt und gingen noch in der Nacht nach der einzig
offenen Seite nach Osten und Südosten zurück.
Die direkte Verfolgung der von Taschkisen und Arad-Konak geflohenen
Türken durch eine Garde-Division mit Kavallerie endete schon am 2. Januar
mit der Einnahme von Petrischewo. Slatitza an der Straße längs des Bal¬
kan nahm am 2. General Dandeville, der am 31. Dezember wieder von
Etropol aufgebrochen und nun über den Slatitza-Paß vorgerückt war.
General Weljaminow hatte am 1. Januar 1878 einen von Sofia kom¬
menden Angriff von 10—15 türkischen Bataillonen abzuweisen, wobei die Türken
dnrch Massenfeuer auf nahe Entfernung in kurzer Zeit 2400 Mann, die Russen
nur 243 Köpfe verloren. Am 2. Januar setzte General Gurko von Taschkisen
eine stärkere Kolonne gegen Sofia in Marsch, das nach einigen kleineren Ge-
fechten von mehreren Seiten mit Einschließung bedroht, am 4. Januar früh
von den Türken geräumt und gleich darauf von den Russen besetzt wurde.
Der Balkan war überstiegen, die letzte Vertheidigungslinie der Türken
war durchbrochen, wieder eine türkische Armee so gut wie ganz aufgelöst.
Die Russen ließen es nicht daran fehlen, diesen Erfolg auch mit allen Kräften
auszubeuten. General Gurko hatte in den Tagen vom 21. Dezember bis 4.
Januar in den zahlreichen Gefechten, fast immer Angriffen auf verschanzte
Stellungen, im Kampfe felbst nur 1035 Köpfe verloren, ein Beweis, wie sehr
auch schon die moralische Kraft der türkischen Armee gebrochen war.
Neben der Tschipka-Armee, die eben ihrem Verhängniß entgegenging, war
das Korps, welches Suleiman Pascha ans dem Festungsviereck über den
Balkan herangeführt hatte und mit dem er jetzt von Philippopel in der
Richtung auf Sofia vorrückte, die einzige noch widerstandsfähige Truppenmacht
der Türkei. Nach einmal sollte Snleiman den Sieg an die türkischen Fahnen
fesseln; Mehemed Ali mußte wiederum ihm weichen.
Während Gurko seine durch die Verfolgung in weitem Bogen um Sofia
vertheilten Truppen gegen Snleiman zusammenzog und den Ueberangestrengten
eine kurze Ruhe gönnte, bis die Ankunft der Artillerie und der Fahrzeuge von
jenseit des Balkan ihn zu weiteren Operationen befähigte, begann das Vor¬
gehen der russischen Tschipkaarmee. General Radetzki verfügte über das
8. und 4. Armeekorps, 7 Schützenbataillone und jetzt 8 Drnschinen der bul¬
garischen Legion, zusammen über 63 Bataillone mit den zugehörigen Spezial¬
Waffen. Für den Balkanübergang wurden die Truppen in 3 Kolonnen
getheilt. Die rechte Flügelkolonne unter General Skobelew bestand aus
22 Bataillonen mit 7 Ssotnien und 2 Batterien, sie sollte von Gabrowo über
Toplisch unweit Seleuodrowo, etwa 9 Ka westlich der Tschipkastraße, vorgehend
Hemedli erreichen; im Zentrum blieb Radetzki selbst mit 15 Bataillonen
und in den Stellungen ans der Paßhvhe stehen; die linke Kolonne, 26
Bataillone mit 6 Ssotuien und 3 Batterien, erhielt die Bestimmung, etwa 19
Kw, östlich der Tschipkastraße von Travna aufGusovo zu marschiren. Beide
Flügelkolonnen sollten den Marsch am 5. Januar 1878 antreten und am 8.
früh an den angegebenen Punkten zum Angriff bereit stehen. Auch hier ver¬
ursachte das weglose Gebirge uoch mehr Schwierigkeiten, als worauf man
gerechnet hatte. Es mußten z. B. die gewöhnlichen Feldgeschütze unterwegs
Zurückgelassen werden, nnr die Gebirgskanonen brachte man rechtzeitig mit in
die Ebene hinab.
Skobelew erreichte mit seinem Gros am 6. Januar Nachmittags den Kamm
des Gebirges und ließ hier zwei bulgarische Druschinen stehen zur Sicherung
gegen die türkischen Truppen, welche die Paßstellung umfaßt hatten; ebenda
blieb später auch die Feldbatterie. Am folgenden Tage nahm seine Avantgarde
"ach längerem Gefecht Hemedli, aber um 8. Januar früh war erst eine Brigade
dort konzentrirt. Er mußte auf Angriffe auch im Rücken, von Kalofer her,
und von der Flanke gefaßt sein. Er ging deshalb noch nicht weiter gegen die
türkische Stellung bei Tschipka vor.
Am 9. Januar hatte er den größten Theil seiner Truppen versammelt,
bis Mittag mußten alle, bis auf eine Druschine und die Batterie auf dem
Kamme des Gebirges, heran sein. Da ließ er zunächst das Feuergefecht gegen
die türkische Stellung in und bei dem Dorfe Schenowo, südwestlich vom
Dorfe Tschipka, eröffnen. Auf die Meldung vom Fürsten Mirski, daß dieser
letzteres Dorf genommen, ging er auch zum Sturm vor. Die Türken wichen,
Kasaken griffen die Fliehenden im Rücken an; da ergab sich Wessel Pascha.
Die Kapitulation sollte auch für die Truppen auf der Paßhöhe gelten.
Fürst Mirski hatte am 6. Januar mit seinem Gros Seliza am Südab-
hange erreicht. Von hier aus detachirte er am 7. eine Brigade uach Mazlis
an der Straße von Kascmlyk; mit den übrigen Truppen nahm er erst Gornje-,
dann Dolnje-Gusovo. Am 8. Januar stürmte er die Dörfer Janina und
Haßkioi, während seine detachirte Brigade das geräumte Kasanlyk besetzte.
Er stand im Rücken der Stellung vom Dorfe Tschipka. Am Nachmittag ging
er auch noch dagegen vor, nahm in langem verlustreichen Gefechte auch uoch
einige vorgeschobene Schützengräben, mußte daun aber für die Nacht in den
Stellungen liegen bleiben. Die Munition mangelte bereits. Mit Tagesanbruch
des 9. Januar versuchten die Türken ihn zurückzuwerfen. Zwei rasch auf¬
einander folgende Angriffe derselben wurden abgeschlagen. Nach dem zweiten
Angriff ließ eine theilweise Verfolgung mit in die türkischen Verschanzungen
eindringen. Um 12 Uhr war Tschipka in russischen Händen, nur zwei
Redouten westlich des Dorfes hielten sich noch bis die Kapitulation erfolgte.
Die Frontangriffe des Zentrums hatten die Türken auf der Paßhöhe
muthig abgewehrt, bis sie um 4 Uhr das Feuer einstellten und ihre Schanzen
freiwillig räumten. Den Russen ergaben sich im Thale 2 Pascha's mit über
12,000 Mann, auf den Höhen 2 Pascha's mit rund 11,000 Mann. Der
russische Verlust am 8. und 9. Januar betrug 5284 Mann.
Nach tapferem Widerstande hatte die türkische Armee sich ergeben.
wie bei Sofia lag die Ebene Rumelien's den russischen Heeren offen, die nun
in immer mehr verstärkten Schaaren den Thoren Konstantinopel's zueilten.
Was an Kämpfen noch vorkam, war wie die Jagd auf ein gehetztes Wild,
das uur nothgedrungen Halt macht und den Verfolgern die Stirn zeigt, wenn es
die Richtung der Flucht wechseln muß. Die Balkanübergänge aber, ohne
Weg und Steg, im harten Winter, und dann die Schlachten ohne Rückhalt M
Falle des Mißlingens, ohne Artillerie beim Angriff auf gut vertheidigte Schanzen,
durchgeführt im Vertrauen auf die männliche Kraft und die zähe Ausdauer
des russischen Soldaten, diese Gebirgsübergänge werden für immer ein Glanz-
Punkt in der Geschichte des russischen Heeres und seiner Führer bilden. Die
Gefechts Verluste der Russen waren in den meisten großen Kämpfen des
orientalischen Krieges ziemlich bedeutend, die Strapazen überaus groß. Wenn
aber unter 99,000 Mann, die auf dem Kriegsschauplatz selbst südlich der
Donau gestorben sind, allein 19,000 Mann als erfroren bezeichnet werden,
so beweist diese Zahl besser als alles Andere, welch' erstaunliche Anstrengungen
und Gefahren gerade in den Tagen des 25. bis 31. Dezember 187? und des
5. bis 9. Januar 1878 bestanden worden sind; denn sicher haben die Meisten
jener 19,000 ihren Tod den Höhen und den Abhängen des Balkan zu ver¬
danken.
Wir hatten Suleimau im Vorrücken von Philippopel in der Richtung auf
Sofia verlassen. Er gelangte nur bis Tatarbazcirdschik, seine Vortruppen bis
Jchtyman, wo sie den flüchtenden Resten der Armee von Sofia wenigstens
einen ersten Halt boten. Während Gurko nun von allen Seiten seine Truppen
auf Tatarbazcirdschik in Bewegung setzte, wurde die Tschipka-Armee gefangen
genommen, und schon am 10. Januar setzte sich Skobelew gegen Suleiman's
Rücken in Bewegung. Neben ihm eilte General Karzvw aus Teteweu über
den geräumten Trojan-Paß heran und trat am 14. Januar bei Kara Mustafa
in Verbindung mit Gurko. Die anderen Korps der russischen Südarmee eilten
die Straße nach Adrianopel zu erreichen. Suleiman war am 12. Januar
gegen Philippopel zurückgegangen, aber der Weg nach Adrianopel war durch
Radetzki's Armee ihm verlegt und jedes einzelne der russischen Heere war ihm
an Kraft und Zahl überlegen. Das Einzige, was er für die Vertheidigung
der Türkei und der Hauptstadt noch thun konnte, war, seine Schaaren aus
der drohenden Umarmung durch die russischen Heertheile zu retten. Der
einzige Ausweg der ihm blieb war, seine Truppen nach Süden über das
Rhodope-Gebirge hinweg an's Meer zu führen, und sie zu Schiff nach Kon-
stantinopel zu bringen. Aber auch diesen Rettungsweg konnte er sich nur durch
blutige Kämpfe erkaufen. Am 15. Januar griff Gurko bei Airanli und
Kadikioi (zwischen der Maritza und der Eisenbahn von Tatarbazardschik nach
Philippopel) das türkische Heer umfassend an und warf es auf Dermendere
am Fuß des Rhodope-Gebirges, da wo der gleichnamige Bach aus dem Ge¬
birge tritt. Bei Dermendere am 10. auf's Neue angegriffen, wurde es auf
Bellastiza und Karagatsch gedrängt; beide Orte liegen am Fuß des Ge¬
birges etwas südöstlich Philippopel, das General Skobelew an diesem Tage
besetzte. Ein dritter Angriff am 17. Januar bei den genannten beiden Orten
vollendete die Auflösung des letzten türkischen Heeres; neben Tausenden von
Gefangenen mußte es hier über 100 Geschütze im Stiche lassen. Nur Trümmer
brachte Suleiman am 20. Januar nach dem Hafenorte Kawala.
Während die eben erwähnten Kämpfe in der Umgegend von Philippopel
sich abspielten, hatte General Radetzki bereits die Straße nach Adrianopel er¬
reicht. Ihm war inzwischen auch das russische große Hauptquartier gefolgt,
und das Grenadierkorps nebst der 26. Division war über den Balkan im
Anzüge.
Schon am 14. Januar hatte Radetzki's Vorhut das in Brand gesteckte
Eski-Saghra besetzt, am 16. Januar Hermanli an der Straße Philippopel-
Adrianopel nach hartnäckigem Kampfe mit den bewaffneten Einwohnern ge¬
nommen; der 18. Januar brachte die Besetzung von Mustaph a-Pascha, der
20. Januar die Besitznahme v on Adrianopel, dessen schwache Besatzung
ohne Widerstand zu leisten abgezogen war.
Nach der Abdrängung Suleiman's war Mehemed Ali zum Ober¬
befehlshaber der (nicht vorhandenen) Armee von Adrianopel ernannt worden
und hatte Vollmacht zum Abschluß eines Waffenstillstandes erhalten. Am Tage
der Besetzung von Adrianopel begannen im russischen Hauptquartier zu Kasan-
lyk die Verhandlungen über den Waffenstillstand. Die Vorwärts¬
bewegung der russischen Heere aber hörte deshalb nicht auf. Der 24. Januar
sah die russische Vorhut in Lules-Bergas (Araba) an der Straße nach
Konstantinopel, der 29. Januar führte sie nach Tschorlu an der genannten
Straße und nach Rodosto am Marmara-Meer. Nach der Verlegung des
russischen Hauptquartiers von Kasanlyk nach Adrianopel am 26. Januar waren
die Verhandlungen dort fortgesetzt wurden und endeten am 31. Januar mit
Unterzeichnung der AöQvrg,1Sö Ah 1a xa,1x a,v6v oouvsntiov
ä'arwSL. Die Feindseligkeiten wurde» danach eingestellt. In den folgenden
Tagen bezogen die russischen Truppen Stellungen um Tschataldscha, wodurch
die Halbinsel, auf der Konstantinopel liegt, von Meer zu Meer abgesperrt war.
Am 24. Februar wurde das russische Hauptquartier nach San Stefano
sast unmittelbar vor die Thore von Konstantinopel verlegt. Erst am 3. März
erfolgte die Unterzeichnung des Präliminar-Friedens von San Stefano.
Endlich war der Ausgang des Höllenthals erreicht, aber ein nicht enden
wollender Schneefall vermehrte das Elend. Nur vier kleine Zelte waren ge¬
rettet worden, von denen eines Elphinstone gehörte, während zwei den Frauen
und Kindern und das vierte einigen Verwundeten überlassen werden mußten.
Alle Uebrigen lagen die lange Nacht hindurch ohne jeglichen Schutz auf den
schneebedeckten Feldern. „Von allen Seiten her ertönte das Jammergeschrei
der Kranken und Verwundeten. Die Kälte hatte inzwischen beträchtlich zuge¬
kommen, und da lagen wir ohne Obdach, ohne Feuer, ohne Lebensmittel.
Denke ich an jene Schreckensnacht zurück, so kommt es mir wie ein Wunder
vor, daß überhaupt ein Einziger solche namenlose Leiden hat überleben können."
Am 9. Januar wurde der Marsch ohne alle Ordnung und Mannszucht
fortgesetzt. Die Reihen der Soldaten lichteten sich nicht minder durch die
Desertion als durch den Tod. Mohamed Akbar schickte dann einen Boten
Mit dem Anerbieten, die Frauen und Kinder unter seinen Schutz zu nehmen
und in der Entfernung von einer Tagereise dem Heere nachzuführen. Dem
General blieb nichts übrig als auf den Vorschlag einzugehen, und so erging
an die verheirateten Offiziere mit ihren Familien die Weisung, sich bereit zu
halten, um mit dem ihrer harrenden Detachement afghanischer Reiterei abzu¬
gehen. „Die Damen hatten seit unserm Aufbruche von Cabul kaum irgend
welche Speise genossen. Einige trugen neugeborene Kinder an der Brust und
konnten sich selbst nur mit äußerster Anstrengung aufrecht halten, noch Andere
^arm guter Hoffnung und sahen stündlich der Niederkunft entgegen, so daß
^und unter normalen Verhältnissen schon eine mäßige Bewegung oder geistige
Aufregung von schlimmen Folgen hätte sein können. Und in diesem Zustande
wußten die schwachen Wesen auf Gepäckwagen liegend oder auf Kameelen die
Beschwerden der Reise aushalten; glücklich durften sich diejenigen schätzen,
welche Pferde zu ihrer Verfügung hatten und sich derselben zu bedienen ver¬
enden. Die Meisten waren von Cabul an nicht wieder unter ein Zeltdach
^kommen, die Dienerschaft entweder niedergeschossen oder geflohen, und mit
Ausnahme der Lady Mac-Naghten und der Frau des Hauptmanns Trevor
hatte Keine auch nur ein einziges Stück Gepäck gerettet. Unter diesen Um¬
ständen konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß der Tod in wenigen Tagen,
^cum nicht Stunden, auch sie wegraffen würde, und so eröffnete das Aner-
bieten des Sirdars die einzige noch mögliche Aussicht auf Fristung des Lebens."
Unter der Zahl der also Geretteten befand sich auch der Berichterstatter; ehe
wir zu ihnen zurückkehren, möge zunächst die Leidensgeschichte der Uebrigen zu
Ende geführt werden.
Sobald am Morgen des 10. Januar das Zeichen zum Aufbruch gegeben
worden war, stürzten sich Alle in wahnsinniger Hast und größter Unordnung
vorwärts; Jeder besorgte, der Letzte zu bleiben oder zurückgelassen zu werden.
Die Wenigen, welche noch einige Selbstbeherrschung und einen Rest von phy¬
sischer Spannkraft besaßen, waren Europäer; den Jndiern waren Hände und
Füße erfroren; die ungewohnte Kälte und das Uebermaß der Leiden hatten
auf den Seelenzustand Vieler die Wirkung, daß sie den Verstand verloren.
Als der Vortrab in einen Hohlweg einrückte, ließen ihn die Afghanen auf
Schußweite herankommen und gaben dann auf die dichtgedrängte Masse ein
so wüthendes Schnellfeuer, daß schon nach wenigen Minuten die Schlucht von
Todten vollgepfropft war und die nachrückenden nur mit Mühe über die
Haufen von Leichen und Verwundeten hinweg konnten. Diejenigen Jndier,
welche noch Waffen trugen, warfen sie weg und eilten vorwärts, der Troß
sprengte in wilder Flucht nach allen Seiten auseinander. Nun stiegen die
Afghanen mit dem Säbel in der Faust von den Höhen herab und machten
in einem scheußlichen Gemetzel nieder was ihnen vor die Klinge kam. In
diesem wurde der Rest der indischen Truppen aufgerieben. Und als die Eng¬
länder, welche sich durchgeschlagen hatten, nach einiger Zeit Halt machten, ge¬
wahrten sie zu ihrem Entsetzen, daß sie als die einzigen elenden Trümmer von
der ganzen waffenfähigen Mannschaft noch übrig waren, fünfzig Artilleristen
und einhundertundfünfzig Berittene! Unter ihnen befand sich Elphinstone. In
diesem Augenblicke rückte ein Haufen Afghanen unter Mohamed Akbar's per¬
sönlicher Führung heran, der dem zum Parlcunentiren abgeschickten Hauptmann
Skinner zu verstehen gab, daß er außer Stande sei, die Ghilzis im Zaume
zu halten, und zu gleicher Zeit verlangte, daß das Häuflein von 200 Mann
die Waffen streckte, in welchem Falle ihnen sicheres Geleit bis Jellalabad in
Aussicht gestellt werden könnte. Hingegen müßten die vom Gefolge noch
Uebrigen schlechterdings ihrem Schicksale überlassen werden. Statt jeder Ant¬
wort auf dieses Ansinnen gab Elphinstone den Befehl, den Marsch fortzusetzen.
Im nächsten Engpasse fielen wieder fünfzehn Offiziere, und wurde das letzte
Geschütz, das einem daraufgebundenen Arzte als Wagen gedient hatte, sammt
dem Letzteren dem Feinde preisgegeben. Die letzten, bis dahin noch aufge¬
sparten Zugochsen wurden am folgenden Tage geschlachtet, das rohe Fleisch
wie es war mit Heißhunger verschlungen. An diesem Tage lud War den
englischen Befehlshaber zu einer abermaligen Besprechung zu sich ein und
empfing ihn, als er mit Skinner und zwei Offizieren erschien, scheinbar mit
dem grüßten Wohlwollen und bestimmte die drei Männer, nach stattgefundeuer
Bewirthung die Nacht über in seinem Zelte der Ruhe zu pflegen. Die am
folgenden Tage wieder aufgenommenen Unterhandlungen waren natürlich wieder
resultatlos, und Elphinstone verlangte zu seinen Leuten zurückgeführt zu werden,
aber vergebens. Er blieb des Sirdars Gefangener. Das Schicksal der wenigen
Ueberlebenden war nun besiegelt, ihre letzten Augenblicke gezählt. Zuerst
wurde, nachdem um sieben Uhr das Feuer wieder eröffnet worden war, Haupt¬
mann Skinner beim Rekognosziren durch einen Pistolenschuß zu Boden ge¬
streckt, und von da an nahmen die Afghanen die Engländer wie gehetztes Wild
von den Hohen herab einzeln aufs Korn. Auf das Treibjagen folgte dann
wieder eine Attake mit der blanken Waffe auf das letzte halbe Hundert. Von
den zwölf Männern, die dem Gemetzel zu Pferde entrannen, erlagen elf theils
der unmenschlichen Anstrengung auf der Flucht, theils wurden sie nur wenige
Meilen von Jellalabad in einem Dorfe, wo sie ein Unterkommen gesucht hatten,
niedergemacht. Ein Einziger, der Arzt Brydon, der Letzte aus dem ganzen
wenige Tage zuvor von Cabul aufgebrochenen Heere, erreichte Jellalabad, sah
seine Landsleute wieder und konnte von dem Verbleib der unter General
Elphinstone's Oberbefehl stehenden Okkupationsarmee Kundschaft geben.
Kaum weniger jammervoll war das Geschick der Besatzung, welche die
Engländer nach Ghizni geworfen hatten, während die in dem von Cabul be¬
deutend weiter entfernten Kahandar liegende Truppenabtheilung aushielt, bis
ein wesentlicher Umschwung eintrat. Die Absicht des Kommandanten von
Ghizni, mit seineu Streitkräften zur Hauptarmee zu stoßen, wurde durch eine
Belagerung und durch Mangel an Lebensmitteln vereitelt.
Nach den vom Lieutenant Crawford, der die Belagerung und Uebergabe
mit durchmachte, herausgegebenen Aufzeichnungen sah sich die Besatzung um die
Mitte des Monats Dezember genöthigt, die Stadt zu räumen und sich in der
Zitadelle festzusetzen. Wie in Cabul so war auch in dieser Landschaft der
Winter von ungewöhnlicher Strenge. Aber obwohl auch hier die indischen
Truppen bald völlig dienstuntauglich wurden, hielten die Engländer so lange
tapfer aus, bis jede Hoffnung auf Ersatz geschwunden und der letzte Bissen
Brodes aufgezehrt war. In der vom Obersten Palmer unterzeichneten Kapi¬
tulation hieß es, daß die unter seiner Führung stehenden Truppen mit Waffen
und Gepäck nach Peschawer abziehen dürften. Kaum aber hatten die Eng¬
länder die Zitadelle verlassen und in verschiedenen Häusern der Stadt, um
sich zum Abmärsche zu rüsten, Quartiere bezogen, als sie sich von allen Seiten
angegriffen sahen. Zuletzt konzentrirten sie sich auf zwei Gebäude, wo sie zwei
Tage lang vom Hunger und Durst gepeinigt und in den engen Räumen auf
eine furchtbare Weise zusammengepfercht, von etwa 20,000 Afghanen umlagert
wurden. Erst nachdem die indischen Soldaten, auf welche die Eingeborenen
hauptsächlich wüthend waren, nächtlicher Weile abgezogen und auf freiem Felde
theils zusammengehauen, theils lebendig gefangen genommen waren, verbrannten
sie die Fahnen des Regiments und streckten die Waffen. Welche Leiden sie in
der nun folgenden mehrmonatlichen Gefangenschaft zu erdulden hatten, schildert
Crawford in ergreifender Weise. Er selbst war mit neun anderen zusammen
in eine Kammer von etwa zwölf Fuß Länge gepackt worden, in der sie sich
kaum bewegen konnten. Bei dem Mangel an frischer Wäsche nahm das Un¬
geziefer in grauenerregendem Maße überHand, und die Luft war, da Thür und
Fenster verrammelt blieben, so schlecht und verpestet, daß das Athmen beträcht¬
lich erschwert wurde. Da die Afghanen wähnten, daß die Engländer ihr Geld
vergraben hätten, so wurde Oberst Palmer, um ein Geständniß von ihm zu
erpressen, gefoltert und die Offiziere mit demselben Loose bedroht. Erst gegen
Ende Mai führte man sie nach Cabnl, wo ihnen Mohamed War mit auf¬
fallender Freundlichkeit und allen Zeichen des Wohlwollens entgegen kam. Wir
lassen sie einstweilen hier, um zunächst zu Lieutenant Eure und seinen Leidens¬
gefährten zurückzukehren, die, wie oben erzählt, der Sirdar unter seinen Schutz
genommen hatte. Im Lager desselben angelangt, trafen sie mit Major Pottinger
und den übrigen Geiseln zusammen und erfuhren von den afghanischen Vor¬
nehmen eine erträgliche Behandlung. Freilich mußten sie mit drei elenden, mit
Rauch angefüllten Hütten vorlieb nehmen und auf dem Boden kauernd nach
Orientalenweise mit den Fingern in die gemeinsame Schüssel greifen; aber was
wollte dieses kleine Ungemach bedeuten gegen die namenlosen Leiden ihrer
Landsleute, deren blutige Leichen jetzt auf den Schneefeldern und in den
Schluchten des Gebirges lagen! Wohl die schwerste Prüfung hatten sie beim
Anblicke der auf dem ganzen Marsche auf dem Wege und zur Seite desselben
hingestreckten Leichen und Verwundeten zu bestehen. Unter den Letzteren flehten
viele, die hilflos und in ihrem Blute schwimmend dalagen, als sie ihre Waffen¬
gefährten vorüberziehen sahen, unter Klagegeschrei, ihnen Beistand zu leisten
oder ihren Leiden ein Ende zu machen. Sie mußten, wenn auch mit blutendem
Herzen, die Aermsten ihrem Schicksal überlassen.
Als der Zug nach viertägigem Marsche bei einem afghanischen Fort an¬
langte, wurden sie mit Brod und Hammelfleisch bewirthet; ja zum ersten Male
wieder nach langer Zeit gab es Thee, den der englische Soldat so ungern
entbehrt, wie der französische seine Suppe und der deutsche die Pfeife oder die
Cigarre. Am folgenden Tag mußte über einen fehr reißenden Strom gesetzt
werden, wobei die Damen von afghanischen Reitern hinter sich aufs Pferd
genommen wurden. Sowohl gegen diese wie gegen ihre Ehemänner und die
übrigen Gefangenen legte übrigens Akbar nach wie vor die nämliche Zuvor¬
kommenheit und Artigkeit an den Tag, wie denn überhaupt in dem ganzen
Feldzuge das Wesen dieses Mannes, der sich bald als Barbar, bald wie ein
gesitteter Abendländer, einmal hinterlistig, dann wieder treu am gegebenen
Worte haltend, zeigte, höchst räthselhaft erscheinen mußte. Auch von den übrigen
zur Eskorte gehörigen Afghanen hebt der Berichterstatter das Eine rühmend
hervor, daß sie sich auf dem ganzen Zuge als liebenswürdige Gesellschafter
voll Humor bewährten, denen es keineswegs an leichter und gentlemanmäßiger
Tournüre fehlte. Akbar hatte sogar den Offizieren den Degen gelassen, sie mit
Geld versehen und ihnen gestattet, einen gewissen Verkehr mit der Garnison
von Jellalabad zu unterhalten, von wo eines Tages zur unaussprechlichen
Freude der Vielgeprüften ein Packet Briefe und Zeitungen, und außerdem
Kleider und — reine Wäsche eintraf. Uebrigens erfuhren sie bei dieser Ge¬
legenheit, daß der Doktor Brydon als einziger Ueberlebender in Jellalabad
eingetroffen und, was das Wichtigste war, daß von Indien her Verstärkung
im Anzüge sei. Auch die gewaltsame Tödtung des Schah Soudja durch einen
seiner Diener in Cabul wurde gemeldet.
Charakteristisch für den Engländer ist auch die Erwähnung eines Labsals
andrer Art, welches den Gefangenen unerwarteter Weise gestattet und nament¬
lich von den Damen mit nicht minder dankerfüllten Herzen genossen wurde,
als jene langentbehrten physischen Stärkungen. An einem Sonntage wurde
plötzlich 24 Stunden Rast gewährt, und sofort schickten sich die Damen an,
den bisher schmerzlich vermißten Gottesdienst, so weit die äußeren Umstände
es erlaubten, zu organistren und rite abzuhalten, der Sitte ihrer Landsleute
auch hierin treu, die auch auf Reisen und in jeder ungewöhnlichen Lebenslage
sogar die liturgischen Formen ambulant zu machen wissen. Weniger tröstlich
wirkte die bald darauf, gemachte Erfahrung, daß die Afghanen angefangen
hatten, sich ihre werthvollere Habe anzueignen. So belegte einer der vornehmen
Afghanen einen der Wittwe des Botschafters gehörigen kostbaren Cachemirshawl,
der auf 5000 Pfund Sterling geschätzt wurde, mit Beschlag und außerdem
etwa für 10,000 Pfund Schmucksachen, wobei sich allerdings die Frage auf¬
drängt: wozu solcher kolossale Luxus im Feldlager? Um diese Zeit erlag auch
der schwer geprüfte General Elphinstone seinen Leiden, unter denen die mora¬
lischen im Bewußtsein der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit nicht die ge¬
ringeren gewesen sein mögen. Es war am 23. April, und Mohamed Akbar
gestattete, daß die Leiche durch einen als Afghanen verkleideten englischen
Soldaten nach Jellalabad übergeführt würde. Als er vernahm, daß ein Trupp
Eingeborener über den Sarg hergefallen war und den Leichnam mit Steinen
beworfen hatte, schien er über diese ruchlose That nicht wenig aufgeregt zu
sein und ließ dann eine starke Truppe die Eskorte übernehmen. Am selben
Tage hatte er mit dem Major Pottinger eine Unterredung, und da ihm der¬
selbe versicherte, daß die Engländer ohne Zweifel auf Nimmerwiederkommen
aus Afghanistan abgezogen wären, wenn seitens der Afghanen der Vertrag
gewissenhaft zur Ausführung gekommen wäre, rief er aus: „Glauben Sie
das wirklich? Dann habe ich allerdings sehr thöricht gehandelt." Ueberhaupt
verrieth von du an Akbar's Wesen Unentschlossenheit und wachsende Besorgniß,
namentlich seitdem der Lauf der Ereignisse eine von ihm wenig erwartete
Wendung genommen hatte. Zunächst waren die gegen Jellalabad abgeschickten
Truppen zurückgeschlagen worden und hatten die Belagerung aufgehoben, und
die nächste Folge war, daß die wilden Stämme, die bis dahin nur und allein
durch den Erfolg und die Aussicht auf Beute hatten im Zaume gehalten werden
können, rebellisch wurden und zu desertiren anfingen. Doch suchte er seine
Unruhe den englischen Offizieren gegenüber möglichst zu verbergen, was ihm
jedoch um so weniger gelang, als er sie häufig über allerlei strategische Ver¬
hältnisse auszufragen versuchte und dabei jedesmal seine wachsende Besorgniß
durchblicken ließ. Bei einer dieser Gelegenheiten gestand er, daß ihm von
Jugend auf die irrigsten Vorstellungen über die Herren von Indien beigebracht
worden seien, und daß er nun wohl einsehen gelernt, daß er ihnen schweres
Unrecht gethan habe.
Inzwischen war seit der Ermordung des Schah Soudja in Cabul ein
wüthender Thronstreit zwischen zwei Parteien ausgebrochen, und der Sirdar
sah sich also gezwungen, mit den unter seinem Befehl stehenden Streitkräften
dorthin abzuziehen. Er schlug sogar dem Lieutenant Eyre vor, in seine Dienste
zu treten und ihm behilflich zu sein, Cabul zu erstürmen, worauf derselbe
natürlich nicht eingehen konnte. Uebrigens verrieth der fortwährende Kanonen¬
donner, als man sich der Stadt näherte, wie es in Cabul aussehen mochte.
Mohamed Akbar schlug ein Lager auf und trat dann mit .den in der Stadt
kämpfenden Parteien in Verbindung. Jedem der Hauptführer wurde ein Theil
der Zitadelle und ein Antheil an der Herrschaft eingeräumt, aber dadurch selbst¬
verständlich nur die Saat zu neuen Zerwürfnissen ausgestreut. Akbar's Be¬
streben war von nun an offenbar darauf gerichtet, sich durch alle Mittel des
Beistandes der Engländer zu versichern. Der General Pollock, welcher mit
der Hilfsarmee im Anzüge war, hatte sich erboten, die in seiner Gewalt be¬
findliche Familie des Sirdars ihm zurückzuschicken, aber Akbar mußte im Hin¬
blick auf die kritische Lage, in der er sich jetzt selbst befand und die ihn
nöthigte, beständig hin- und herzuziehen, auf diese Gunst verzichten. Er würde,
wie er bei dieser Gelegenheit zu verstehen gab, auch gern die englischen Ge-
fangenen auf freien Fuß gesetzt haben, wenn er nicht bei seinen Waffen¬
gefährten in dieser Angelegenheit auf den lebhaftesten Widerstand gestoßen wäre.
Gegen Ende des Monats Juni langten dann auch die englischen Gefan¬
genen, unter denen sich der Lieutenant Crawford befand, von Ghizni her in
Cabul an und wurden zu ihrer Ueberraschung von War auf das Wohl¬
wollendste empfangen. Crawford schildert in seinem Berichte den Sirdar als
einen hochgewachsenen, kräftigen Mann noch in jüngeren Jahren, von den ge¬
winnendsten Manieren, in welchem Niemand den Mörder Mac-Naghten's hätte
vermuthen können, und fügt hinzu, daß er ihnen beim Empfange die Versiche¬
rung gab, sie würden als Offiziere und als Gentlemen behandelt werden. Und
diesem Versprechen blieb er in der Folgezeit treu und sorgte in jeder erdenk¬
lichen Weise für geeignete Verpflegung und den Komfort der unter seinem
Schutze Stehenden. Freilich liegt die Annahme nah, daß sich War hierin
mehr von Rücksichten der Klugheit als der Menschlichkeit leiten ließ, da er
noch immer die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, mit General Pollock einen
Separatfrieden abschließen und dann sich nnter dessen Schutz stellen zu können.
Er sollte bald erfahren, daß er falsch gerechnet hatte. Sogar das Anerbieten,
die Gefangenen auszuwechseln, wies Pollock zurück, der die gemessene Weisung
erhalten hatte, sich durchaus auf keine vermittelnden Vorschläge einzulassen.
Welche Wirkung diese Botschaft auf die Gesinnung des Sirdars momentan
ausübte, geht aus einer am 29. Juli von Eyre eingetragenen Notiz hervor, wo
es heißt: „Mohamed War hat heute Morgen in sehr energischer Weise und
in trotzigem Tone erklärt, daß er uns, wenn Pollock seinen Vormarsch fort¬
setze, nach Turkestan bringen und an die dortigen Vornehmen vertheilen
lassen werde. Bei der uns bekannten Entschlossenheit des Mannes befürchte
ich das Schlimmste." Indessen kam es nicht weiter, als daß die Gefangenen
zunächst etwa 100 englische Meilen weiter nach dem Innern geschafft, dann
aber nach Cabul zurückgeführt und kurz darauf in Freiheit gesetzt wurden.
Es waren 31 Offiziere, 53 Gemeine und 25 Frauen und Kinder, die nach
einer schweren Prüfungszeit von 231 Tagen den Ihrigen wiedergegeben wurden.
Die meiste Bewunderung verdient ohne Zweifel die Haltung der englischen
Frauen, die in vielen einzelnen Fällen durch heldenmüthige Entschlossenheit
hre Physische Schwäche überwanden und es dem stärkeren Geschlechte an Aus¬
dauer gleichthaten.
Was nun den Verlauf der Ereignisse im letzten Akte des traurigen Dramas
betrifft, so durchzog bekanntlich das britische Heer das wiedergewonnene Land
in kurzem Siegeslauf. Was sie aber aus demselben machten, und in welchem
Zustande es sich befand, als der Rachezug vollendet war, darüber haben englische
Offiziere als Augenzeugen Berichte hinterlassen, an welche die Vertreter und
Ausbreiter des Christenthums und abendländischer Gesittung in Ostasien nicht
zu oft erinnert werden können. Ein Seitenstück zur Zerstörung von Magde¬
burg durch Tilly ist z. B. die Erstürmung einer Stadt von 15,000 Seelen in
Kohistan. „Die Stadt wurde zwei Tage lang unaufhörlich geplündert. Was
nicht weggeschleppt werden konnte, wurde verbrannt. Sowohl die englischen
wie die indischen Soldaten, die die Leichen ihrer Kameraden im Gebirge hatten
liegen sehen, hausten mit bestialischer Wuth und Grausamkeit. Kein Mensch,
er mochte Waffen tragen oder nicht, wurde verschont; Gefangene wurden nicht
gemacht; was vor die Klinge kam, wurde niedergestoßen. Unsere Rache war
eine vollständige. Fanden die indischen Soldaten den Leichnam eines Afghanen,
so steckten sie seine Kleider in Brand, damit „der Fluch auf Kind und Kindes¬
kind übergehe". Selbst die noch lebend vorgefundenen Verwundeten sollen
meistens wie sie waren in die Flammen geworfen sein." — Die Hauptstadt
Cabul selbst entging ebenfalls dem Verhängniß nicht. Sie wurde mit Ausnahme
des Perserviertels von Grund aus zerstört. Auch der prachtvolle Bazar, eines
der Wunderwerke Asien's, ging in Flammen auf. Wo vorher eine der blü¬
hendsten und reichsten Städte Vorderasien's mit einer Bevölkerung von 60,000
Seelen stand, da lagen nach dem Abzüge des englischen Rachekorps nur noch
rauchende Trümmer. Ein ähnliches Geschick erfuhren Jellalabcid und Ghizni,
und das ganze Land vom Indus bis an das Hindukuhgebirge wurde mit
Feuer und Schwert aus das Furchtbarste heimgesucht. Afghanistan war un¬
haltbar, aber der der Kriegs-'und Nationalehre England's angethane Schimpf
war getilgt, der Haß und das Rachegefühl der Afghanen hatten neue Nahrung
empfangen, aber die empfangene Züchtigung hatte sie darüber belehrt, daß auch
ein europäisches Volk auf barbarische Weise Vergeltung üben kann. Was die
Engländer selbst seit jenen Tagen gelernt haben, wird der Verlauf und das
Resultat des in unserer Zeit entbrannten Kampfes zeigen. —
Wie kürzlich sich die Times von ihrem in russischen Dingen wohlunter¬
richteten Berliner Korrespondenten telegraphiren ließ, überreichte General von
Kauffmann in Taschkend dem Gesandten Afghanistan's, Mundscha Mohamed
Hassan, im Namen seines Souverains einen kostbaren Ehrensäbel und sprach
dabei schöne Worte von Waffenbrüderschaft und daß dem Alliirten des Zaren
kein Haar auf dem Haupte gekrümmt werden solle.
Die russische Presse freilich will diese Geschichte nicht Wort haben, doch
kann sie nicht leugnen, daß Nußland und seine Politik im gegenwärtigen
Kampfe zwischen Afghanistan und England sich freundlich zu ersterem stellen.
Es ist das auch ganz natürlich und kann keinerlei Befremden erregen, wenn
man den alten Rivalitätsstreit beider Mächte in Asien bedenkt, deren Macht¬
sphäre nnr durch das „neutrale" Afghanistan getrennt ist. Es sind erst vier
Jahre darüber vergangen, daß diese Neutralität zwischen den beiden Rivalen
vereinbart und damit die Hoffnung wach wurde, des alten Streites sei genug.
Hätte das zumeist gebirgige Land besser geordnete staatliche Verhältnisse, als
in der That vorliegen, wäre es nicht chronisch von Bürgerkriegen zerrissen und
wären in Folge dessen seine Einwohner nicht ein unruhiges, zu ewigem Streite
aufgelegtes Volk, so könnte vielleicht die Neutralität von einigem Nutzen,
Afghanistan eine gute Scheidemauer zwischen dem indischen und russischen
Kaiserreiche in Asien geworden sein. Wir müssen aber das Land der Afghanen
so nehmen wie es ist und dürfen nicht vergessen, daß schir Ali nicht unbe¬
stritten im Besitze seiner väterlichen Erbschaft dasteht. Er hat eine zahlreiche
Verwandtschaft von Oheimen und Neffen, welche nicht ungerechte Ansprüche
auf die Verwaltung einzelner Provinzen, ja auf den Thron machen, und die
er nur in blutigen Bürgerkriegen niederzuwerfen vermochte. Theils außer
Landes geflohen, sind diese Verwandten stets bereit, wieder in Afghanistan ein¬
zubrechen und mit jeder fremden Macht zu Pallirer, die ihnen zu ihren Zwecken
behilflich ist, sei dies nun Persien, Rußland oder England. Die Afghanen
sind aber auch an und für sich, ohne durch Prätendenten aufgestachelt zu sein,
das unbotmäßigste Volk, welches sich denken läßt. Die Häupter der verschie¬
denen Stämme haben sich zu keiner Zeit gern der Suprematie eines einzigen
Herrschers unterworfen, und da das Land im Allgemeinen ein armes zu nennen
ist, so hat das Schwert immer mehr Freunde als der Pflug gehabt, und der
Handel war und ist ausschließlich in den Händen einer fremden Race, der
persischen Tadschiks, welche dort eine ähnliche Rolle spielen, wie die Juden
bei uns. Den Widerwillen gegen die Obrigkeit vermehrt noch der Umstand,
daß schir Ali den Pfad der Reformen betrat und der Anarchie ein Ende zu
machen suchte, was die eingefleischter Orientalen noch feindlicher stimmte. Zu
der neutralen Zone zwischen dem russischen und indischen Reiche wurden ferner
noch jene Provinzen gerechnet, die nur lose mit Afghanistan verknüpft sind und
unwillig das Joch schir Ali's tragen. Herat, diese wichtige gegen Buchara
hin gelegene Festung, wo lange Zeit Jakub, schir Ali's Sohn, Statthalter war,
ist von dem eigentlichen Afghanistan immer halb unabhängig gewesen, und so
sind auch die kleinen Fürstentümer Maimene und Andchui immer unsichere
Besitzungen gewesen, die nach dem Rußland verpflichteten Buchara hin gravi-
tirer. Fast noch unabhängiger geberdet sich das afghanische Turkestan, wozu
die wenig bekannten Landschaften Chulum, Mische, Kunduz, Kulab, Bates u. s. w.
gerechnet werden, die höchstens einen spärlichen Jahrestribut an schir Ali
leisteten.
Aus dieser durchaus nicht übertriebenen Schilderung der inneren politischen
Verhältnisse Afghanistan's ersieht man, daß dieses Land keineswegs eine starke
Neutralitütszoue zwischen den beiden Rivalen abzugeben vermochte, daß vielmehr
seine Verhältnisse nach jeder Richtung hin zum Eingreifen drängen und auf¬
fordern mußten. Es ist eben ein Nachbar wie ehemals Polen zwischen Preußen,
Rußland und Oesterreich. Die ungeheuren Subsidien, welche England an
Afghanistan zahlte, um schir Ali's Macht dort aufrecht zu erhalten — jährlich
fast Millionen Mark! — und die bedeutenden Waffensendungen, die schir
Ali seit 1869 erhielt und die nun gegen England nutzbar werdeu, sie ver¬
mochten nicht den schließlich jetzt doch erfolgten Zusammenstoß abzuwenden.
Die so schwierig zu Stande gebrachte Neutralität ist schmählich in die Brüche
gegangen, und jene russenfeindliche Partei in England triumphirt, welche bereits
1873 rieth, man möge schnell auf Cabul ziehen und Afghanistan als Gegen¬
pfand in Besitz nehmen, weil Rußland seine Eroberungen in Chiwa machte.
Jetzt sind die Briten auf dem Wege dahin, und ihr Sieg wird trotz des Winter¬
feldzuges, trotz der schlimmen Erfahrungen und Niederlagen vom Jahre 1840
nnr eine Frage der Zeit sein. Haben sie aber Cabul, Kandahar, Ghasni und
die übrigen hervorragenden Städte Afghanistan's besetzt, dann beginnen erst
recht die Schwierigkeiten für den Sieger. Wer zahlt die Kriegskosten? Afgha¬
nistan hat nichts, Indien selbst ist in Noth, also bleibt das Mutterland übrig,
wenn man nicht sich durch Annexion des eroberten Landes schadlos halten will.
Dann aber ist England in Asien, was man bisher zu vermeiden trachtete,
Grenznachbar Rußland's, und dieses wird ein Wort mitzureden haben. Die
Differenz kann dann in Afghanistan so wenig ausbleiben, wie sie jetzt in der
Türkei ausblieb. Ju Asien wird aber so leicht kein Berliner Kongreß mühsam
den Zusammenstoß aufhalten.
Unter diesen Umständen ist die Frage auszuwerfen, wie Rußland sich
schließlich zu dem Vorgehen der Engländer in Afghanistan stellen wird und ob
es nicht bei Zeiten zugreifen und das wichtige Herat, den Schlüssel Zentral-
asien's, besetzen wird, ehe die Briten, den Hindnkuh übersteigend, dort selbst
ihre Fahne entfalten. Wie Rußland in seiner orientalischen Politik weitsichtig
und von langer Hand her sein Ziel verfolgte, so war dies seit den Tagen des
Kaisers Nikolaus — und uoch früher — auch in Asien der Fall. Wir wollen
heute daran erinnern, daß bereits seit dem Jahre 1854, also zur Zeit des
Krimkrieges, die jetzt eingetretenen Eventualitäten in Rußland vorgesehen und
daß damals bereits die Pläne zu einem Feldzuge Rußland's gegen Indien
ausgearbeitet worden sind.
Drei Denkschriften waren es, welche dem Kaiser Nikolaus während des
Krimkrieges übergeben wurden. Die erste führt den Titel: Uömvirs sur los
rcmtss <M mviisnt 6<z la. R,ii8Ah aux InZizs. ?roh«zntö a F. N. 1s 14. ^ruri
1854 pur 1s (?üizüra1 6s Dulnzwsl, Lsnatsur, el-also!>.in ministrs xiünixoton-
tiairs SQ ?srss. Die beiden folgenden, in russischer Sprache abgefaßt, führen
Duhamel's Plau weiter aus. Alle drei aber fixiren das erreichbare Maß dessen,
was man russischerseits unter einem Angriffe auf Indien versteht, und das zu
wissen, ist heute vom höchsten Interesse. Manches an den Denkschriften ist
jetzt schon durch die Verhältnisse überholt: das Endziel besteht aber noch fort.
„Der heutige Krieg (Krimkrieg)", sagt General Duhamel, „der sich bis
anf's Messer ankündigt, legt Rußland die Verpflichtung auf, zu erwägen, wie
es England im empfindlichsten Punkte, in Indien, in's Herz stoßen oder es
doch zu einer gewaltigen Truppenkonzentrirung in Asien, wodurch sich seine
europäische Aktion gelähmt sähe, zwingen könne. Die Geschichte lehrt,
daß fast alle Eroberungen Indien's von Zentralasien und Persien ihren Aus¬
gang genommen haben, und die Straßen, auf welchen Alexander der Große,
die Ghasnaviden, Dschengis-Chan, Tmnerlan, Sultan Baader, endlich Nadir
Schah in Indien eindrangen, liegen anch heute offen; sie stoßen fast sämmtlich,
ob sie nnn von Persien oder vom Oxus ausgehen, auf Chorassan und Afgha¬
nistan, die Städte Kandahar und Cabul sind die Thore zum Indus."
Nachdem General Duhamel die Straßen aufgeführt, die durch Persien
und von Turkestan her nach Afghanistan führen, fährt er fort: „Aus Afghanistan
führen drei Wege an den Indus: 1. Von Cabul über Dschellalabad und
und Peschawer nach Attok. 2. Von Ghazni nach Dera-Ismael-Chan. 3. Von
Kandahar über Quettah und Dadur nach Schikarpur. Alle drei Straßen gehen
durch leicht zu vertheidigende Defileen, welche jedoch sämmtlich von Westen eher
als von Osten zu erzwingen sind (d. h. leichter von der russischen als von der
englischen Seite). Der kürzeste, beste, gesundeste Weg ist der erste, obwohl im
Jahre 1839 die englisch-indische Armee die dritte Route zum Einbruch gewählt
hat. Bei Attok wird die direkte Straße auf Lahor und Delhi, das Hauptan¬
griffsobjekt, erreicht. Auf dieser Straße wird der Aufstand in das Herz
der englischen Besitzungen getragen und die mohammedanische Be¬
völkerung in Bewegung gebracht. In dieser Richtung liegt für die Af¬
ghanen die verlockendste Aussicht auf Beute und Landerwerb. Gelingt es
darüber hinaus auch die Sikhs zu gewinnen, um so besser; entscheidend ist
aber vor Allem das afghanische Bündniß. Es kann nicht zeitig
genug angebahnt werden. So viel erreicht, ist bereits Alles gewonnen.
Denn nicht auf Eroberung soll man nach Indien ziehen, sondern um die eng¬
lische Macht zu stürzen oder doch zu erschüttern. Dcizn reicht ein mäßiges
Korps hin, welches den Kern der Invasion zu bilden Hütte, um welches sich
bald alle geknechteten Völkerschaften reihen dürften, und welches, in dem Maß,
als die allgemeine Bewegung wüchse, allmälig reduzirt werdeu könnte."
Soweit General Duhamel. Die zweite Denkschrift, vom August 1854
datirt und in russischer Sprache abgefaßt, rührt von einem ungenannten, in
den orientalischen Dingen wohlbewanderter Staatsmann her, der sich dem
Duhamel'schen Memoire anschließt. Folgendes ist eine Analyse der heute noch
giltigen Ausführungen seines Exposes.
Der Nerv von England's Macht liegt in Indien. Nicht sowohl der
Besitz Indien's um jeden Preis, als der Besitz in ungestörter Ruhe ist die
Bedingung englischer Macht. Indien erschüttern, heißt England aus seiner
Höhe herabstürzen, und an der Möglichkeit, England in Indien zu schädigen,
können in Rußland nur die verkappten Freunde englischer Politik zweifeln.
In den Depeschen von Ellis und Mac Niet, in der Kriegserklärung Lord
Auckland's an Afghanistan wird die Möglichkeit dieser Gefahr ausdrücklich
anerkannt. Seitdem hat England allerdings seine Stellung durch ununter¬
brochene Thätigkeit ungeheuer befestigt, es hat in Indien selbst eine große
Heeresmacht disponibel, treffliche Wege sind zu Lande und zu Wasser geschaffen;
im Nordwesten ist eine Reihe von Kriegsdepvts angelegt; überall in Mittel¬
asien sind englische Kaufleute, englische Agenten, englisches Geld hingedrungen.
Aber dennoch ist England in Indien verwundbar, und wenn Rußland auch
Indien nicht zu erobern und noch weniger zu behaupten vermag, so lange
England das Meer beherrscht, so kann es seine Größe doch brechen. Die
rechtlose Stellung und die daraus resultirende tödtliche Erbitterung der indischen,
den englischen Herren an Bildung gewachsenen Kg,It' ca.se ist England's gefähr¬
lichster Feind, wie Afghanistan sein gefährlichster Nachbar. Mit Hilfe von
Persien und Afghanistan ist der Schlag auf Indien zu führen, und eine diplo¬
matische Vorbereitung hat der kriegerischen zur Seite zu gehen. Allen Nach¬
barn und Unterthanen England's hat Rußland sich als Befreier anzukündigen.
Was die Afghanen betrifft, so werden diese nur durch Furcht im Zaume ge¬
halten, da keinerlei Neigung sie an England knüpft, während sie in den Jahren
1836 und 1837 sich förmlich an Rußland um Schutz wandten.
Weiter wird ausgeführt, wie Afghanistan im russischen Interesse zu orga-
nisiren sei, auch ist der Fall vorgesehen, daß England nicht zum Angriff
schreitet, soudern in der Defensive verharrt und seine Armeen im Pendschab
aufstellt. „Die Kosten wären aber dann ganz ungeheuer. Die bloßen afgha¬
nischen Feldzüge habe« 600 Millionen Fras. gekostet, nach amtlichen Ausweis,
die Kriege von 1839 bis 1849 allein 2'/.^ Milliarden Fras. Die indischen
Finanzen waren schon im Jahre 1840 mit einem Defizit von 2,138,000 Pfund
Sterling, im Jahre 1849 bereits mit einem Defizit von 15,264,484 Pfund
Sterling belastet, und doch hatte England in Indien im Jahre 1839 nur
17,000, im Jahre 1842 nur 54,000 Mann auf den Beinen. Die bloße Zer¬
rüttung der Finanzen wäre eines Feldzuges werth. Indien anzugreifen, ist
möglich, und es zu thun, ist durch heilige Pflicht geboten, mindestens um Eng¬
land für jetzt und künftig nachblutende Wunden zu schlagen. Kein Opfer ist
zu groß, wenn es gilt, die Uebermacht England's zu brechen. Der Kaiser mag
seinem Volke die Opfer auferlegen. Sein Volk wird die Opfer bringen."
Rußland, erschöpft durch den Krimkrieg, konnte damals nicht auf die indi¬
sche Diversion eingehen. Trotzdem erhob im April 1855 derselbe Diplomat
nochmals seine Stimme in einer neuen Denkschrift, aus der wir zur Vervoll¬
ständigung des bereits Gesagten noch das Nachstehende mittheilen: „Die Gegner
eines russischen Feldzuges nach Indien weisen hin auf die Schwierigkeit des
Unternehmens, auf die großen Opfer an Geld und Menschen, auf die unver-
hältnißmäßig geringen Erfolge, die sich versprechen lassen, ans die Gefahr, gleich
im Beginne zu scheitern." Er sucht diese Einwürfe zu entkräften und schließt
folgendermaßen: „Vor Allem gilt es, in Afghanistan Anhang zu erwerben
und die Sikhs in Bewegung zu bringen. Das Jahr 1848 hat dargethan, daß
eine Allianz von Afghanen und Sikhs nicht zu den Unmöglichkeiten gehört.
Allznviele Truppen aber wird England ans seinen indischen Besitzungen nicht
an die Nordwestgrenze vorschieben dürfen. Weder Nepal noch Birma find als
Nachbarn zu verachtende Feinde. Zehn Millionen Mohammedaner von Hai-
derabad warten nur auf den Moment, das Joch der Ungläubigen abzuwerfen
und die alte Herrlichkeit zurückzuerobern. Ringsum und mitten im Lande
werden furchtbare Feinde erstehen, und wenn Einzelanfstände bisher auch stets
besiegt wurden, so dürfte ein allgemeiner, gleichzeitiger Aufstand, wo nicht
Untergang, doch furchtbare Entkräftung bereiten."
Wir brauchen kein Wort hier hinzuzufügen. Die gegenwärtige Lage ent¬
spricht den damaligen Voraussetzungen. Die Folgen wird die Zukunft lehren.
Das Herrenhaus hat sich in dieser Woche schweigend verhalten; die Herren
sind eben stark beschäftigt mit Kommissionsberathungen über die ihnen diesmal
sogleich in ungewohnter Menge zugegangenen Vorlagen. Das Abgeordnetenhaus
hatte bisher in erfreulicher Weise sich mehr als sonst, unter möglichster Weg¬
lassung von Unnöthigem und unter Meldung von Zeitverlust an die Erledi¬
gung der Geschäfte gehalten, aber mit Beginn dieser Woche nahten sich bereits
böse Geister, um es von dieser Bahn abzuziehen oder Haß und Unfrieden anf's
Neue zu säen. Es hängt mit der in etwas geänderten Haltung des Zentrums
zusammen, daß von Schorlemer bei Berathung der Vorlage über die Wasser¬
genossenschaften sich in gesuchtem Tadel der Regierung erging. Das Zentrum
will sich nun einmal als reinpolitische Partei, und sogar als Vormund aller
Bedrückten zeigen. Schorlemer that des Guten etwas viel, indem er sowohl
die Unterlassung einer Kodifikation des ganzen Wasserrechts als auch umge¬
kehrt die Ueberbttrdung des Landtags dnrch jenen das letztere nur theilweise
betreffenden Entwurf tadelte. Thut nichts, es gilt dem Zentrum nur um Hin¬
weise, daß es mehr als andere Parteien praktisch ans Hebung des materiellen
Wohlstandes ausgehe. Auch bei Berathung des Entwurfs über Errichtung
von Landeskultur-Rentenbanken am 2. Dezember führte dieser Volksbeglücker
wieder das große Wort und trat als Beschützer der Landwirthschaft auf, welche
er dnrch die vermehrte Einfuhr von Getreide für bedroht erklärte. Daß diese
Einfuhr für Nichtlandwirthe nöthig gewesen, wurde dabei gar nicht beachtet.
Es macht einen unsäglich verstimmenden Eindruck, als einzigen Grund dieses
anscheinend so wohlwollenden Auftretens lediglich die schlimmste Verhetzung
von Parteien und Bevölkeruugsklassen klar durchscheinen zu sehen.
Nach diesem schon in voriger Woche mit der Wucherfrage begonnenen
Vorspiel steht der Session noch Manches vom Genre dieser malitiösen Agitation
bevor. Um so mißlicher war es, daß plötzlich auch noch ein neckischer Kobold
das Haus vom guten Vorsatze sachlicher Geschäftsbehandlung abzog. Es han¬
delte sich um den Entwurf wegen Aenderungen in der Zuständigkeit einiger
Ministerien und es stand schon fest, daß die Mehrheit mit der beabsichtigten
Abtrennung der Domainen und Forsten vom Finanz- und ihrer Zutheilung
zum landwirtschaftlichen Ministerum sowie der Aenderung im Ressort des
Handelsministeriums einverstanden war. Der liberale Theil der Mehrheit fühlte
sogar eine gewisse Befriedigung darüber, daß die Regierung die Winke befolgt
hatte, welche ihr am 23. März d. I. bei Ablehnung der damaligen angeblich
überstürzten ähnlichen Vorlage im Hause ertheilt waren. Gleichwohl und ohne
daß gegen den Inhalt des Entwurfs eine eigentliche Opposition sich erhob,
gingen die Verhandlungen vom 2. und 3. Dezember seist völlig in der Erörte¬
rung einer bloßen Doktorstage auf. Die Redner selbst bezeichneten so den
Gegenstand ihrer umfangreichen Ausführungen, und doch schien jeder von ihnen
wie mit magischer Gewalt auf das rein theoretische Gebiet sich gezogen zu
fühlen. Daß bei solchen Aenderungen von Ressorts das Abgeordnetenhaus
insofern mitzureden hat, als es sich um etwaige Mehrbewilligung von Geld
handelt, stand auf allen Seiten fest; die Alles bewegende Frage bestand nur
darin, ob die Regierung auch ohne Rücksicht auf den Geldpunkt die Aenderung
hätte einseitig vornehmen können. Ein Anlaß zur Auswerfung dieser Frage
lag nicht vor; es genügte, sich daran zu halten, daß die Regierung durch Vor¬
legung des Entwurfs thatsächlich erklärt hatte, sie wolle jene Aenderungen nur
mit Zustimmung des Landtages vornehmen. Man konnte froh sein, daß jene
Frage auf die beste Art in suspenso bleiben konnte, ja es lag sogar fern an
sie zu denken. Sie wurde aber doch aufgeworfen und dadurch die Lage mi߬
lich verschoben.
Kein Mann der Phrase, der Verschleppung oder des Kulturkampfes war
es, der dieses Unheil anrichtete, vielmehr der solidesten Einer, den wir noch
letzthin auf Seiten des mehr praktischen Theils der Nationalliberalen erblickten,
Herr Gneist. Derselbe ist nun einmal nicht ungestraft seit 34 Jahren Professor.
Seine Ansicht, daß Aenderungen in den Ministerressorts von jeher in Preußen ein
Vorrecht der Krone gewesen, hatte er mit besonderer Rücksicht auf die Berathungen
jenes Entwurfs im Landtage in einer gelehrten Schrift veröffentlicht und bei
der Berathung vom 2. Dezember machte er sie von der Tribüne mit dem
Wunsche geltend, daß vor der 2. Lesung eine Verständigung über den Grund¬
satz mit der Regierung erzielt werde, weil sonst künftig aus der ohne Noth
erfolgten Vorlage Verwickelungen, ja Rechtsunsicherheit entstehen konnten. Aber
gerade durch diese Sorge sür die Zukunft wurde für den Augenblick die Ver¬
wickelung nahe gebracht. Vier Redner verschiedener Parteien traten in aus¬
führlichen staatsrechtlichen Erörterungen Gneist entgegen, und durch die Her¬
vorziehung der grundsätzlichen Frage wurde nun freilich die Regierung Auslands
halber genöthigt, ihr Recht des einseitigen Vorgehens in solchen Dingen, über
das sie kluger Weise vorliegend einen Schleier hatte breiten wollen, wieder in
Anspruch zu nehmen. Die Animosität, mit welcher Laster gegen Gneist auf¬
trat, mag ihren Grund wohl auch in der bei den letzten Reichstagswahlen
zwischen beiden und ihren Anhängern hervorgetretenen Verschiedenheit der Rich¬
tungen innerhalb derselben Partei haben; Gneist's Widerlegung nahm Laster
einfach ans dem dessen Ansicht durch die That desavvnirenden Verhalten der
Negierung. Miguel stellte letzteres noch schärfer als unmittelbaren Ausfluß des
bestehenden Rechtes dar, wonach die betreffenden Vorrechte der Krone, in Folge
der Koexistenz der ebenso absoluten Rechte des Abgeordnetenhauses bezüglich
des Budgets beschränkt seien, und Huret legte der Vorlage sogar die ganz
prinzipielle und präjudizielle Bedeutung eines Eingeständnisses der Regierung
bei, daß neue Organisationen der Ministerien, selbst wenn sie sich innerhalb
der bewilligten Summe halten, doch nur auf Grund etatsmäßiger Bewilligungen
des Hauses geschehen dürften. Nun konnte der schweigsame Vertreter des
Ministerpräsidenten nicht mehr schweigen. Graf Stollberg's Aufgabe bei dieser
seiner ersten Rede war nicht klein. Während einerseits der Regierung beim
besten Willen nichts übrig blieb, als den veralteten Standpunkt wieder aufzu¬
nehmen, kam es andererseits Darauf an, Schroffheiten dabei zu vermeiden.
Ein geschickter Minister hätte sich hier zwingen können; aber was mußten wir
sehen? Graf Stollberg entledigte sich der Aufgabe mit Ungeschick, indem er
das Recht der Regierung zu einseitigem Vorgehen in viel schärferer Form als
nöthig wahrte, ohne zu bedenken, daß er dadurch den Widerspruch gegen die
Thatsache der Vorlage nur vergrößerte. Es kam das freilich wohl hauptsächlich
von des Grafen großer Verlegenheit und Befangenheit. Auch ist er nichts
weniger als ein Redner. Die ganze Lage wurde aber für die Negierung erst
recht fatal, als Reichensperger nachwies, daß das Obertribunal den Erlaß vom
10. Oktober 1810, auf welchem bisher die Ressort-Eintheilung der Ministerien
beruhte, für einen solchen erklärt habe, dem auch für die damalige Zeit des
absoluten Staats die volle Bedeutung eines Gesetzes beizulegen sei, sodaß also
Stollberg's Erklärung, daß die jetzige Vorlage nur freiwillig und aus Nütz-
lichkeitsgründen erfolgt sei, recht wuchtig Lügen gestraft wurde. Nun meinten
Konservative wie von Zedlitz und Meyer-Arnswalde herbeieilen zu müssen, um
ministerieller als das Ministerium für die Sache der Regierung auftreten zu
müssen, allein glücklicher Weise wurde die ebenso unfruchtbare als nahe an
die bedenklichsten Konflikte streifende Verhandlung beendet.
Einen minder seriösen, vielmehr gemüthlichen Anstrich hatte die am
4. Dezember begonnene Berathung des Theils des Etats, für welchen diesmal
eine Kommissionsberathung nicht für nöthig befunden war. Bei der Verhand¬
lung über das landwirtschaftliche Ministerium ließ sich Friedenthal mit ge¬
wohnter Geschäftigkeit angelegen sein, beruhigende Eröffnungen über die Hand¬
habung des Fischereigesetzes, Regulirung von Weichsel und Nogat, sowie der
Erntestatistik zu machen; Männer wie Sombart konnten sich nach Lust über
die Rotzkrankheit der Pferde ergehen und Anderen war sogar gestattet, von der
Tribüne zum Fischessen mit Wein einzuladen und über diesen wichtigen Punkt
zu diskutiren. Wer weiß, ob sich nun das Zentrum nicht demnächst ähnliche
Späße austeilte.
Im Uebrigen wurde die Etatsberathung am 6. Dezember in zwei Punkten
recht lebhaft: bei den Ansätzen für den Staatsanzeiger und bei denen für das
Bureau des Staatsministeriunis. Die Klagen bei beiden sind alle Jahr so
ziemlich dieselben. Was beim Staatsanzeiger immer wieder Anstoß erregt, ist
die Art, wie er die Parlamentsberichte bringt. Der den Etat im Hause ver¬
tretende Leiter des Blattes behauptet jetzt, wegen der vorjährigen Klagen sich
größerer Objektivität befleißigt zu haben. Nun hat Richter ermittelt, daß die
Reden der Minister immer noch besser behandelt werden als die der Abgeord¬
neten, als namentlich seine eigenen, und wurde in Entrüstung darüber recht
derb gegen den Kommissar. Windthorst ist mit dem Vorschlage bei der Hand,
die stenographischen Berichte beizulegen, bedenkt aber nicht die Kosten, die
geringe Lust an so umfangreicher Lektüre und die Verspätung solcher Ver¬
öffentlichung.
Die halbamtliche Provinzialkvrrefpondenz wurde wegen polemischer, nament¬
lich zur Zeit des letzten Wahlkampfs erschienener Artikel von fortschrittlicher,
nationalliberaler und ultrcunontaner Seite zum Theil heftig getadelt, und ein
konservativer Redner schien auch nicht, ganz mit dem Blatte einverstanden z»
sein. Wenn der Minister Graf Eulenburg einige Wendungen des Blattes des-
avonirte und Aenderung zuzusagen schien, so that er dasselbe, was sein Vor¬
gänger 1877 bei gleicher Gelegenheit that. Es ist ja keine Frage, daß ein
solches Blatt nicht ebenso wie ein Parteiblatt Polemik führen kann und darf,
aber es will doch auch beachtet sein, daß einige der Opponenten Inhaber von
periodisch erscheinenden Korrespondenzen oder Inspiratoren von Blättern sind,
z. B. der heftig auftretende Richter Inhaber der fortschrittlichen Korrespondenz,
welche dnrch ihre hämische Dialektik selbst seinen Parteigenossen unheimlich ge¬
worden war, und Rickert, der seit Wehrenpfennig's Ernennung die zur letzten
Wahlzeit ans das ordinärste fortschrittliche Niveau gesunken gewesene „Rat.-
Lid. Korr." leitet und jetzt sehr empfindlich that. Unbefangene werden sich
sagen müssen, daß die Haltung eines Blattes wie das angegriffene sehr schwierig
sein muß, denn einerseits herrscht Einmüthigkeit darüber, daß es befugt sein
soll, die Ansichten der Regierung in einzelnen Fällen zu bezeichnen, andererseits
aber soll es sich anch aller Angriffe enthalten. Die Männer sollen aber noch
zu finden sein, welchen diese Quadratur des Kreises gelingt. Gibt man da¬
gegen zu, daß von der Belehrung des Blattes Angriffe unzertrennlich sind, so
wird über die Einhaltung des zulässigen Maßes derselben in letzter Hand
immer der Minister des Innern entscheiden müssen, d. h. es werden Beschwerden
wie jene bei jeglicher Etatsberathung vorkommen. Die Abgeordneten Schröder,
Schorlemer und Windthorst wiederholten die täglich in der Presse vorkommenden
Behauptungen von einem offiziösen Schreiberheere. Es scheint, daß man der
Regierung in politischen Ansichten nahestehende Personen im Auge hat, welche
sich, der Vermuthung nach, ganz privatim mit einzelnen Parteiorganen in Ver¬
bindung gesetzt haben mögen. Es kann ja sein, daß selbst Minister nebenbei
journalistisch thätig sind; Bismarck soll zuweilen Notizen in die norddeutsche
Allgemeine Zeitung „lancirt" haben. Wer nun so etwas ausgewittert zu haben
glaubt, scheint darum doch das betreffende Blatt nicht ein offiziöses nennen zu
dürfen. Diese Verwechselung findet sich täglich in der Presse und richtet viel
Verwirrung an. Graf Eulenburg scheint also ganz recht zu haben, wenn er
die norddeutsche Allgemeine Zeitung und ähnliche Blätter gänzlich zurückwies.
Dieser mit jedem jungen oder alten Jahr wiederkehrende Krieg wegen der
Regieruugspresse ist wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt: es
kommt niemals etwas direkt dabei heraus. Doch wollen wir damit die ganze
Erörterung keineswegs verwerfen; es kann sein, daß indirekt heilsame Folgen
auf der einen oder anderen Seite daraus entstehen.
Die Woche schließt in Spannung über nahe bevorstehende Mittheilungen
wegen des sogenannten kleinen Belagerungszustandes über Berlin und in
Voraussicht stürmischer Debatten aus Anlaß eines Kriegsplanes der Ultra¬
montanen.
Der in dem in 26 Heften vollständig vorliegenden Werke enthaltene Be¬
richt der österreichischen Kommission hat sich ein viel höheres Ziel gesteckt, als
den, nnr eine ausführliche Darstellung des in Philadelphia Gesehenen zu
geben. Er bietet ein umfassendes klares Bild des industriellen Lebens und
Treibens, der industriellen Errungenschaften und Probleme der transatlantischen
Republik. Dieses Werk ist daher vorzugsweise geeignet, falsche Vorstellungen
oder Vorurtheile zu berichtigen und Fingerzeige zu geben darüber, in wie¬
weit und warum die Amerikaner uns in Manchem voraus siud, oder wo
ein geeignetes Feld für die europäische und namentlich deutsche Mitbewerbung
sich zu bieten scheint.
Die Darstellung des Maschinen-, Instrumenten- und Werkzeugbaues in
allen seinen Einzelheiten und Spezialitäten ist um so interessanter, als der Ver¬
fasser den schön ausgeführten Zeichnungen mathematische und statische Berech¬
nungen beigibt. Mit derselben Ausführlichkeit ist der Brücken- und Eisenbahn¬
bau behandelt. Auch hier sind statische Berechnungen gegeben, welche das in
Europa so verbreitete Vorurtheil, als würden die großartigen Brücken in Nord¬
amerika in ungenügender und leichtsinniger Weise ausgeführt, vollständig be¬
seitigen sollten. Die unparteiische k. k. Kommission hebt hervor, daß die Euro¬
päer, wenn in irgend einem Fache, gerade im Brückenbau von den Amerikanern
noch viel zu lernen hätten. Sehr Interessantes bietet der Bericht auch über
das Hüttenwesen, die Kohlen- und Erzlager. Beim Studium der lehrreichen,
' dem 23. Hefte beigehefteten geologischen Karte und Tabellen erkennt man sofort
eine der Ursachen, warum die Vereinigten Staaten ein so reiches Land sind
und bleiben müssen. Besitzen sie doch ein Gebiet von über 191,000 englischen
Quadratmeilen Kohlenfelder, während England und Irland zusammen deren
nur 9000 Quadratmeilen besitzen. An vielen Stellen liegen Eisenerz und
Kohlen übereinander, so daß sozusagen derselbe Schacht das Erz und die Kohle
fördert.
Alles ist in dem Werke berührt und beschrieben, von der Baumwollen-,
Leder-, Wolle-, Filz-, Seiden-, Holz-, Maschinen-Industrie an bis zur Archi¬
tektur der öffentlichen Gebäude. Besonders eingehend sind natürlich diejenigen
Industriezweige behandelt, bei denen die österreichische Industrie als Konkurrentin
betheiligt ist oder in Zukunft auftreten könnte. So wird das Werk Oesterreich
großen Nutzen bringen. Es ist zu bedauern, daß die Kommission des deutscheu
Reiches ihren Bericht nicht gleichfalls in derselben Ausführlichkeit erstattet und
der Oeffentlichkeit übergeben hat, denn auch unfere Industrie könnte solche Finger¬
zeige gewiß gebrauchen. Wir machen deshalb um so lieber auf das vorliegende
treffliche Werk aufmerksam, da es einstweilen wenigstens theilweise diese Lücke aus¬
füllt. Nicht minder aber möchten wir auch allen deutschen Fabrikanten und Kauf¬
leuten, die mit den Amerikanern Verbindung wünschen, die Schlußworte des
Berichts der k. k. Kommission an's Herz legen und mit ihnen diese Zeilen
schließen:
Mit der Betonung der Ausstattung im engsten Zusammenhange stehen alle
die bekannten Lieserungsmomente, wie: mustergetreue Ausführung, strenges
Einhalten der Lieferzeit, Uebereinstimmung zwischen Inhalt und Bezeichnung.
Es kann nicht genug betont und beherzigt werden, daß der Amerikaner, der
selbst ein Muster von Pünktlichkeit und Exaktheit ist, auf alle diese Dinge den
größten Werth legt, und daß ein einziges Uebersehen dessen oder ein den fest¬
gestellten Bedingungen Zuwiderhandeln den sofortigen Abbruch des Verkehrs
zur Folge haben kann.
Eine lichtvolle Darstellung sowohl der Entstehung des apostolischen Glau¬
bensbekenntnisses wie seiner Bedeutung sür die Gegenwart. Der Verfasser
findet diese auf dem liturgischen und katechetischen Gebiet. Das Apostolikum, das
seiner wesentlichen Gestalt nach bis in das zweite Jahrhundert zurückführt, ist
ein Heiligthum der christlichen Gemeinde, das sie nicht preisgeben darf. Es
verbindet die Kirche der Gegenwart mit der Kirche des Alterthums, es ver¬
knüpft mit einander die einzelnen christlichen Konfessionen. Frei von dogma¬
tischen Theorien faßt es die Thatsachen zusammen, die den Inhalt des christ¬
lichen Glaubens bilden. Der Doktrinarismus mag dies oder jenes im
Apostolikum anders wünschen, wem aber der Sinn für die geschichtliche Einheit
der Kirche erschlossen ist, und wer im christlichen Gottesdienst nicht den Tum¬
melplatz wechselnder und sich bestreitender Schulmeinungen sieht, sondern eine
Stätte, an welcher die Gemeinde aller Zeiten auf demselben Glaubensgrunde
sich erbauen soll, der wird die Bewahrung und Bezeugung desselben in den
Worten der Urkirche als einen liturgischen Schatz erkennen, dessen die Kirche
nicht entrathen kann.
Diese von warmer Liebe zu der evangelischen Kirche und hingebenden
Eifer für ihre Interessen getragene Schrift stellt sich die Aufgabe, auf die
Mängel ernst hinzuweisen, unter denen die Verfassung der evangelischen Kirche
Bayern's leidet, und welche ihre Entwickelung gefährden, zugleich aber die Bah¬
nen zu zeigen, die ihr eine gesichertere Stellung verheißen. Mit den konkreten
Vorschlägen des Verfassers sind wir im Wesentlichen einverstanden. Wir stim¬
men ihm darin ganz bei, daß der katholische Fürst die ihm zustehende» kirch¬
lichen Rechte nur durch evangelische, damit betraute Minister ausüben darf;
ebenfalls darin, daß der prinzipielle Träger der Kirchengewalt die Gemeinde
ist, und daß die kirchliche Gesetzgebung deshalb in die Hände der General-
synode gelegt werden muß. Auch daß er die Mitwirkung des Synodal-Aus-
schusses bei der Ernennung der kirchlichen Behörden fordert, billigen wir, wenn
wir auch das Maß derselben mehr beschränkt wissen möchten. Es hängt dies
mit einer grundsätzlichen Differenz gegenüber dem Standpunkt des Verfassers
zusammen. Letzterer ist prinzipiell freikirchlich gerichtet und glaubt, daß der
gegenwärtige Staat wesentlich religionslos sei und deshalb das landesherrliche
Kirchenregiment und die Privilegirung einer Religions-Gesellschaft ausschließe.
Er ist daher darauf bedacht, die Rechte des ersteren soviel als möglich herab¬
zumindern. Wir können die Argumentation des Verfassers nicht für zwingend
erachten. Es scheint uns, daß derselbe die Bedeutung der Thatsache, daß, wie
der moderne Staat überhaupt, so auch das deutsche Reich, die bürgerliche und
staatsbürgerliche Gleichberechtigung aller Reichsangehörigen, gleichgültig, zu
welchem religiösen Bekenntnisse sie gehören, ausgesprochen hat, überschätzt. Wir
sehen darin nicht die Tendenz, das landesherrliche Kirchenregiment und die
Privilegirung einzelner Religionsgesellschaften zu untergraben und den Zusam¬
menhang zwischen Staat und Kirche aufzuheben, sondern vielmehr nur die
Absicht, die Grenze und das Maß zu bestimmen, welches die rechtliche Bevor¬
zugung bestimmter Religionsgesellschaften nicht überschreiten dürfe.
Auch gegen manche einzelne Vorschläge des Verfassers in Beziehung auf
die in's Auge zu fassende Organisation der evangelischen Kirche Bayern's haben
wir Bedenken. Es ist uns fraglich, ob die Beseitigung der Zwischeninstanz
der Dekanatssynode, für die Zorn sich ausspricht, in der That zu befürworten
sei. Wir sind mit den zu berücksichtigenden Verhältnissen nicht ausreichend
bekannt, um ein definitives Votum in dieser Angelegenheit abzugeben, möchten
aber doch die Frage aufwerfen, ob die Dekanats-Synoden nicht dadurch einen
erheblichen Dienst leisten könnten, daß sie die Proponenda der General-Synode
einer Vorberathung unterzogen und zugleich deu für die Wahl zur General-
synode qualifizirten Persönlichkeiten Gelegenheit gäben, hervorzutreten und
erkennbar zu werden.
Auch in der Frage nach der Kompetenz der General-Synoden weichen wir
vom Verfasser ab, auch abgesehen von der schon berührten Abgrenzung ihrer
Rechte gegenüber der dem Landesherrn zustehenden Gewalt. Zorn schreibt mit
Beyschlag, Dove und Bierling derselben auch das Recht zu, die Bekenntniß-
fchriften einer Abänderung zu unterwerfen. Die meisten deutschen Synodal-
Ordnnngen, so Württemberg, Oldenburg, Braunschweig, Hannover, Oesterreich,
Sachsen-Weimar, Hessen-Darmstadt schließen das Bekenntniß ansdrücklich von
der Gesetzgebung aus, und ebenso äußern sich Kirchcnrechtslehrer wie von
scheuere, Wach, Mejer. Wir müssen den Letzteren zustimmen. Nicht als ob
wir die Bekenntnißschriften sür unfehlbar hielten, davon sind wir weit ent¬
fernt. Wir gehen noch weiter, wir sehen nicht in den Bekenntnißschriften, son¬
dern in dem in ihnen enthaltenen Bekenntnisse das Fundament unserer Kirche.
Dies aber kann keiner Veränderung unterliegen, denn es stellt die eigenthüm¬
liche Auffassung des Wortes Gottes in heiliger Schrift dar, durch welche die
evangelische Kirche entstanden ist. Dieselbe ruht ja nicht in dem Sinne auf
dem Schriftwort, daß, wer uur immer sich auf dasselbe beruft, sich damit als
evangelischen Protestanten legitimire, sondern es ist eine Reihe ans dem Schrift-
wvrte gewonnener Erkenntnisse, eine aus ihre geschöpfte religiös-sittliche Ge-
sammtcinschauung, die zugleich die Regel ihrer Auslegung bildet, welche die
evangelische Kirche konstituirt hat und noch konstituirt. Neben dem formalen
Schristprinzip ist es das materielle Prinzip der Rechtfertigung aus dem Glauben
und des daraus folgenden Priesterthums aller Gläubigen, wovon der Prote¬
stantismus nicht weichen kann, ohne sich aufzugeben. Und diese spezifisch pro¬
testantischen Grundanschauungen wiederum schließen sich an gewisse allgemeinere
Voraussetzungen, durch welche die evangelische Kirche sich mit der Kirche aller
Zeiten verbindet und den Charakter der Katholizität gewinnt.
Nun wollen wir durchaus nicht leugnen, daß die evangelische Kirche die
Möglichkeit besitzt, ihrem Bekenntniß einen anderen Ausdruck, eine andere Fas¬
sung zu geben, als dies in den Bekenntnißschriften geschehen ist. Wir arbeiten,
wie es uns wenigstens scheint, mit einem besseren theologischen Begriffs-Apparat,
als dies früher der Fall war. Warum sollten wir also mit Hilfe desselben
nicht besseres leisten, als die Reformatoren? Aber ob ein solches denn in der
That das geleistet hätte, was es leisten sollte, das müßte doch immer erst durch
Vergleichung mit den alten Bekenntnißschriften festgestellt werden, die vermöge
ihrer Dignität als Stiftungsurkunden eine maßgebende Bedeutung nicht ver¬
lieren können. Eine Ergänzung der Bekenntnißschriften räumen wir willig den
Synoden ein, eine Aufhebung der bisherigen können wir nicht zugestehen. Unter
diesen Begriff einer Bekenntnißschrift stellen wir aber allerdings nicht die Kon-
kordienformel, diese gilt mit Unrecht als solche, sie ist nur ein theologisches
Elaborat.
Aber anch vor einer Ergänzung der Bekenntnißschriften möchten wir drin¬
gend unsere Synoden warnen. Unsere kirchliche Gegenwart ist so in sich ge¬
spalten, daß ein solcher Versuch nur eine Verschärfung der Gegensätze zur Folge
haben würde.
Der Verfasser richtet schließlich den Blick auf die Herstellung eines recht¬
lich geordneten Zusammenhangs der einzelnen deutschen Landeskirchen. Wir
stimmen damit durchaus überein, dies Ziel ist nicht aus dem Auge zu lassen.
Wie aber gegenwärtig die Dinge liegen, schließt die Verwirklichung desselben
für alle diejenigen Landeskirchen eine Gefahr in sich, in welcher lutherische und
reformirte Gemeinden mit einander in Union sich befinden. Der Gedanke einer
deutschen evangelischen Nationalkirche könnte sich leicht in die Wirklichkeit zweier
Kirchenkörper, eines lutherischen und eines reformirten, umsetzen. Und diese Gefahr
möchten wir vermieden sehen. Den ersten Schritt zu dem, wie gesagt, immer zu
setzenden Ziele würden wir daran erkennen, daß die seit 1866 von Preußen erwor¬
benen Landeskirchen mit der Landeskirche der acht älteren Provinzen zu einem
Ganzen, in dem selbstverständlich der konfessionelle Bestand der einzelnen Theil¬
kirchen verbürgt sein müßte, sich vereinigten. — Endlich haben mir noch in der
geschichtlichen Einleitung etwas zu beanstanden. Zwar charakterisirt sich die von
Calvin ausgehende Organisation im Gegensatz zu der von Zwingli geleiteten
dahin, daß der Obrigkeit keine ausgezeichnete Stellung im Kirchenregimente zu
Theil geworden sei. Das ist richtig, insoweit Calvin's Theorie in Betracht
gezogen wird, auch richtig, insoweit die Kirchen in das Auge gefaßt werden,
die sich im Gegensatz ,zur herrschenden Staatsgewalt gebildet haben; aber es
ist nicht richtig, insoweit die Kirchen in Rechnung gezogen werden, zu denen
der Staat eine befreundete Stellung einnahm, es ist auch nicht zutreffend für
Genf selbst. Hier gestaltete sich, wie O. Mejer es treffend bezeichnet, eine
Art konsistorialer Kirchenregierung. Die Kirchengewalt lag in den Händen des
Konsistoriums, das aus Geistlichen und Aeltesten zusammengesetzt war. Letztere
gingen aber aus der Wahl nicht der kirchlichen Gemeinden, sondern der poli¬
tischen Körperschaften hervor.*)
Wir haben mehrfach unsern Dissens mit dem geehrten Herrn Verfasser
aussprechen müssen, das hindert uns nicht, mit der Grundtendenz der Schrift
unsere Uebereinstimmung zu erklären und ihr die Beachtung von Seiten der
maßgebenden Persönlichkeiten zu wünschen, auf die sie gerechten Anspruch hat.
Ueber die Ausgleichung zwischen dem Staat und der römischen Kurie sich
zu äußern, waren wenige Theologen so berufen, wie Karl Hase. Mit prote¬
stantischer Entschiedenheit verbindet er das vollste Verständniß für die Eigen¬
art des Katholizismus, und die Objektivität geschichtlicher Betrachtung gestattet
ihm, die schwebenden Fragen von einem weiteren Gesichtspunkt, als die Zinne
der Partei gewährt, in das Auge zu fassen. Wir beschränken uns darauf,
seinem Gedankengang zu folgen, und verzichten auf eine Diskussion über die
einzelnen in Betracht kommenden Punkte, die leicht zu einem selbständigen
Aufsatz werden könnte. Die Ausschließung der Jesuiten und ihnen verwandter
klösterlicher Genossenschaften billigt Hase. Eine Genossenschaft, von der
Clemens XIV. in dem Aufhebungsbreve erklärt hat, daß, so lange sie bestehe,
„nicht möglich ist, daß die Kirche je wieder zu einem wahrhaften und dauernden
Frieden gelange," deren welthistorische Bestimmung darin besteht, alle feind¬
seligen Mächte gegen die protestantische Kirche aufzureizen, hat keinen Anspruch
auf Existenz in einem Staate, dessen Wohlfahrt auf einem friedlichen Neben-
ciucmderwohnen von Katholiken und Protestanten ruht. Dagegen mißbilligt
Hase die Ausschließung anch aller anderen Orden durch das Maigesetz von
1875 — ausgenommen nur die der Krankenpflege gewidmeten. Einem Staat,
der auch der katholischen Kirche volle Freiheit vergönnen will, ihre Eigen¬
thümlichkeit darzulegen, soweit dieser Staat es ertragen kann, zieme es nicht,
die Klöster insgemein auszustoßen. Hiernach dürfte für Preußen ein Kloster¬
gesetz nach der Art des für Oesterreich beantragten vollkommen ausreichen: die
Zulassung bestimmter Orden, die Gestattung jeder örtlichen Niederlassung und
die Oberaufsicht als Sache der Regierung. Als das Werthvollste der soge¬
nannten Maigesetze bezeichnet Hase das die wissenschaftliche Bildung des künftigen
Klerus Betreffende, nur die nachfolgende wissenschaftliche Staatsprüfung enthält
eine unnöthige Belastung. Wer ein deutsches Gymnasium mit Ehren absolvirt
hat, der hat an humanistischer Bildung zur Noth genug für einen katholischen
Pfarrer. — Die Forderung einer Anzeige der bevorstehenden Anstellung oder
Versetzung eines Geistlichen hält Hase für ziemlich überflüssig; da aber die
Regierung daran festzuhalten entschlossen sei, werde man in Rom nicht wider¬
streben und die Anzeige dem Gewissen der einzelnen Geistlichen anheim stellen,
nicht als ein Zeichen der Unterwerfung unter den Staat, wohl aber als
anständige, höfliche Meldung. — Die Errichtung des Gerichtshofes für kirch¬
liche Angelegenheiten findet Hase's Billigung, ebenso im Wesentlichen die Be¬
grenzung der kirchlichen Disziplinargewalt über Kirchendiener. Auch daß die
Pfarrämter nach der Erledigung binnen Jahresfrist wieder besetzt werden sollen
und die Sukkursal-Pfarreien gemindert sind, ist ihm unbedenklich. In der Be¬
schränkung auf Zuchtmittel ausschließlich religiöser Natur, sagt Hase mit feiner
Ironie, werde die katholische Kirche nur insofern eine Kränkung fehen, als sie
auf ihre geistigen Zuchtmittel erst uoch verwiesen werde.
Das Nvthrecht der Gemeinde, ihren Pfarrer zu wählen — ein Recht, das
dem Prinzip des Katholizismus fremd ist, brauche nicht zurückgenommen zu
werden, die katholische Kirche könne es als ein Phantom betrachten. Ist der
Friede geschlossen, so wird binnen Jahresfrist der Bischof das geistliche Amt
besetzt haben und die Gemeinde nicht in der Lage sein, an jenem ihr dann zu¬
stehenden Rechte Anstoß zu nehmen. Indem wir weniger bedeutsame Fragen,
die Hase aufwirft und beantwortet, übergehen, berühren wir schließlich, wie er
über die Zukunft der abgesetzten Geistlichen und Bischöfe denkt. Was Erstere
anlangt, so befürwortet er, daß sie, falls sie nur wegen unterlassener Anzeige
zurückgewiesen worden seien, nachdem dieselbe erfolgt sei, wieder eingesetzt werden.
Was Letztere betrifft, fo erwartet er eine königliche Amnestie mit Auswahl.
Während der Fürstbischof Förster unbedenklich nach Breslau zurückkehren könne,
müßten Männer wie Leoochowski und Martin in ihrem bequemen Martyrium
verbleiben. Der Papst könne entstehende Schwierigkeiten beseitigen, wenn er
die Ausgeschlossenen zur Entsagung auffordere oder die Wahl von Bisthums-
verweser'n für sie veranlasse.
Hase bezeichnet als Absicht seines Schriftchens, den katholischen Lands¬
leuten darzuthun, daß in dem, was der preußische Staat von jenen Gesetzen
stestzuhalten hat, keine Verfolgung der katholischen Kirche liege, und den prote¬
stantischen Mitbürgern, daß dasjenige, was der Staat ausgeben kaun, keines¬
wegs aus dem Wege nach Canossa liege. Dieser Nachweis ist überzeugend geführt.
Ermordung Darnley's. Nach Riccio's Ermordung steigerte sich der Zwie¬
spalt zwischen beiden Ehegatten trotz anfänglicher, aber unaufrichtiger Versöhnung
rasch bis zum offenen Zerwürfnisse. Man ist meist geneigt gewesen, Darnley die
alleinige Schuld davon zu geben. Indessen war die Behandlung, welche von ihm
Seiten der Königin, seiner Gemahlin, zu Theil wurde, doch auch eine sehr harte
und unwürdige, die ihn sehr erbittern mußte. Maria Stuart durfte ihren Ge¬
mahl, nachdem sie ihm angeblich verziehen hatte, nicht derartig behandeln. Sie
mußte überdies erkennen, daß die Rolle, welche Darnley bei der Verschwörung
gespielt hatte, eine ganz untergeordnete und daß er der Verführte gewesen war.
Am französischen Hofe glaubte man zuerst sehr fälschlich, das Verhältniß
zwischen beiden Gatten werde leicht wieder in Ordnung kommen. Schrieb doch
Karl IX. an La Forest, der Streit zwischen beiden scheine nicht groß gewesen
zu sein.") Daß Darnley die verächtliche Behandlung nicht länger ertragen
wollte, spricht eher für als gegen ihn. Allerdings besaß er nicht Charakter
genug, um sich mannhaft und würdevoll dabei zu benehmen. Die Mittel, welche
er ergriff, um auf seine Gemahlin einzuwirken, waren die eines unreifen Jüng¬
lings und brachten auf Maria Stuart nur einen entgegengesetzten Eindruck als
den beabsichtigten hervor. Er gestand dieses später, als ihn die Reue überkam,
selbst zu. Bei jener Unterredung in Glasgow äußerte er, er sei jung und
habe viele Fehler, er wolle sich bessern.
Daß sich Darnley wie ein eigenwilliges Kind gefreut habe, Maria Stuart
zu verletzen, ist eine Erfindung von Petit, desgleichen daß eine Scheidung die
zarten Gefühle der Königin verletzt haben würde. Wir wissen genau, daß nur
die Rücksicht auf ihren jungen Sohn die Königin davon abgehalten hat. Die
versöhnliche Anrede der Königin an ihren Gemahl nach der Geburt des Prin¬
zen, die von Petit u. A. mit Emphase zitirt wird, ist nur in den Memoiren
von Herries zu finden. Schwer glaublich ist ferner die Angabe Fronde's, daß
Maria sich kurz vor ihrer Entbindung, wie ein Agent Cecil's, Namens Rokesby,
berichtete, mit Jnvasionsplänen nach England, wohl aus Aerger, daß Morton
und seine Freunde einen Zufluchtsort in Carlisle gefunden hatten, getragen
haben soll. Rokesby war ein schlechtes Subjekt, welcher Schulden halber Lon¬
don hatte verlassen müssen und sich wichtig machen wollte. Er ist derselbe
Spion Elisabeth's, welcher sich später erbot, Bothwell heimlich aus dem Wege
zu räumen. Ueber Darnley's Todesart ist der Bericht Moreta's noch immer
die glaubwürdigste Quelle. Daß der König vor der Zerstörung des Hauses
umgebracht wurde, kann wohl als unzweifelhaft gelten. Wahrscheinlich ver¬
suchte er sogar zu entfliehen, während die Explosion in's Werk gesetzt wurde,
und wurde dabei erdrosselt. Es ist sonst schwer erklärlich, warum seine Leiche
in's Freie geschleppt wurde. An der Leiche selbst fanden sich keine Spuren
von einer Einwirkung des Pulvers vor. Es würde dieses auch mit dem
Berichte Drury's an Cecil übereinstimmen.*) Murray ist eine Mitschuld an
der Ermordung absolut nicht nachzuweisen. Der Bond hat seine Unterschrift
nicht. Die Worte, welche ihm Petit in den Mund legt: „tdis niAr c>rs
morniiiA tds tora parut^ hiemit loss Ins ins" entstammen den Memoiren
Lesly's. Auch Hosack gesteht zu, daß Murray dieselben unmöglich gesprochen
haben könne, da eine derartige Aeußerung schon seiner reservirten Natur zuwider
gewesen sei.
Ferner kann trotz aller Ausführungen Hosack's gar kein Zweifel darüber
sein, daß Murray, der in der Ainslie-Taverne nicht zugegen war, auch dort
jene Erklärung der Lords, in der sie Bothwell der Königin als Ehegemahl
empfahlen, nicht unterschrieben haben kann. Er hatte Schottland bereits ver¬
lassen. Hosack meint indessen, er werde vor der Abreise unterschrieben haben.
Die Kopie in der Cottonvibliothek, unter den Vsoil xg-xsrs, welche er anführt,
ist kein authentisches Dokument. Auch heißt es da: eh.s „Q^ass ok Snob.
vdiod. hev. sudsoridsä so kar as ^olim Ksaä M^Ne rsrosroosr, ok vdoin d^ä
tdis vox^ öde," und dann steht Murray's Name obenan. Fronde's Versuch,
Morton von der Mitwisserschaft zu entlasten, ist dagegen auch als verfehlt zu
betrachten. Morton hat selbst das Gegentheil von sich bekannt. Wie kühl
man am französischen Hofe den ganzen Mord beurtheilte, lehren uns die eigenen
Worte der Königin Mutter. „Vous vsrrsx," schrieb Katharina dem Conne-
table Montmorency, „<zus es ^fünf ton n'a xas ses iMFtsmxs roi. 8'it fut
ses SÄAS, ^'6 orois qu'it ssrait sneors Was nun den Antheil
der Königin betrifft, so gibt selbst Skelton zu, daß Maria Stuart, als die
Lords auf dem Schlosse zu Craigmillar ihren feindseligen Absichten gegen
Darnley in ihrer Gegenwart Ausdruck und ziemlich unzweideutig zu erkennen
gaben, daß man ihn nöthigenfcills mit Gewalt aus dem Wege zu schaffen
gedenke, weder zugestimmt noch irgend welche Entrüstung gezeigt habe.
Sie habe, sagt er dann beschönigend, zwischen Abneigung und Mitleid ge¬
schwankt, also sich neutral verhalten und dem drohenden Schicksal seinen Lauf
lassen wollen. Daß Maria, als die That geschah, gerührter Stimmung gewesen
sei, (S. 172.) — den Beweis bleibt Skelton übrigens schuldig — ist doch sicher
kein Argument sür ihre Unkenntniß. Daß die Art der Ermordung eine sehr
„dumme" war, wird man gerne zugeben, indessen nur insofern es die Königin
betrifft. Ich werde später noch darauf zurückzukommen haben. Skelton nennt
sehr mit Unrecht die Verschworenen dafür „Idioten", während Burton von einem
„dramatischen Racheakte" spricht. Recht advokotarisch und für den Historiker ohne
weitere Belege wenig überzeugend ist Skelton's weitere Ausführung, daß folglich
die Ermordung nur von denen in Szene gesetzt sein könne, die Maria Stuart zu
kompromittiren wünschten. Als den vornehmsten Anstifter nennt er geradezu
den Staatssekretair Lethington, ihn, der später in Aork alles that, um die
Vorlegung der Chatoullenbriefe zu verhindern. Lethington soll nach Skelton
(S. 176.) sogar Bothwell dazu überredet haben. Nicht ohne Staunen liest
man ein vollständiges Gespräch zwischen beiden, wie es gehalten worden sein
könnte, in dem Lethington unter Anderem Bothwell Aussichten auf den engli¬
schen und schottischen Thron eröffnet. Einen wesentlichen aber wenig gerecht¬
fertigten Nachdruck legt dann derselbe Schriftsteller auf den Umstand, daß
Bothwell Maria Stuart nicht nach Selon Castle, nachdem die That vollbracht
war, begleitet habe. Damit wäre denn doch der letzte Rest von Schamgefühl
bei Seite gesetzt worden. Die allgemeine Stimme bezeichnete bereits den
Grafen, dessen Diener noch dazu an den Thoren der Stadt in der Nacht des
Attentats erkannt worden waren, als den Mörder. Uebrigens stellte sich Both-
well nach einiger Zeit ebenfalls in Selon Castle ein. In einem viar^ ok
ooourrslits rriarKsÄ dz^ <üsoil heißt es von Maria Stuart und Bothwell in
Selon „xasssä tdsir t^rav
Hosack macht es sich sehr leicht, wenn er, um Maria zu entschuldigen,
(I. S. 278.) behauptet, die Königin sei unmittelbar nach der Ermordung ihres
Gemahls auf Befehl der Aerzte nach Selon Castle gegangen, während es ihre
Pflicht gewesen wäre, den Mördern nachzuspüren. Den Beweis bleibt er
wieder schuldig. Dagegen geht er soweit, das Verlangen des Grafen Lennox
nach Untersuchung des Mordes „unberechtigt" zu nennen. Für Maria's Be¬
nehmen findet er nur die Worte, der Mord sei nicht vor ihren Augen voll¬
zogen worden, der Mörder nicht bekannt, die ganze Sache in ein „impsus-
tradls lliMsrz?" gehüllt gewesen, während mit Fingern in den Straßen
Edinburgh's auf den Mörder gedeutet und Bothwell sogleich in Plataeer und
dann auch von Lennox als der Schuldige bezeichnet wurde. Daß in Spanien
das Urtheil über den Antheil Maria's an der Ermordung gleichfalls zu ihren
Ungunsten ausfiel — wie wir jetzt wissen —, fällt bei Hosack wenig in's Ge¬
wicht. Er sagt hier sehr einfach, man sei damals in Spanien Maria über¬
haupt feindselig (!) gesinnt gewesen.^)
Verhältniß und Ehe mit Bothwell. Die Apologeten Maria
Stuart's haben ihr Verhältniß mit Bothwell oft damit entschuldigen wollen,
daß die Königin damals dringend einer Stütze inmitten ihrer aufrührerischen
Unterthanen bedurft und Bothwell als ihren treuesten und zuverlässigsten An¬
hänger dazu erwählt habe. Nichts falscher als diese Behauptung. Gerade
damals hatte sich Maria Stuart mit ihrem Bruder wieder ausgesöhnt, gerade
damals hatte eine Annäherung zwischen beiden stattgefunden. Murray war
nach Riccio's Ermordung seiner Schwester zu Hilfe geeilt und sehr warm von
ihr aufgenommen worden. Hosack nennt es unweise, daß sich die Königin sogleich
mit ihrem Bruder versöhnte. Es war dies indessen das Beste, was Maria
thun konnte, und befestigte ihre Position mit einem Schlage. Fronde wirft der
Königin hier mit Unrecht Verstellung vor. „Sie habe Murray," sagt er,
„gehaßt, wie man die Hölle haßt." Der Unwille Maria's über ihres Bruders
Empörung wurde um so leichter begraben, als Murray ein Gegner Darnley's
war und die Königin gar nichts davon wußte, daß er den einen Bond gegen
Riccio auch unterschrieben hatte.
Bei Hosack finden wir die wunderliche Behauptung, Maria Stuart habe
sich damals nach Frankreich zurückziehen und allen Ernstes die Krone nieder¬
legen wollen, da dieselbe ihr eine „untolsradls buräsu" gewesen sei, während
die Königin in ihrer ersten Erregung nur an einen vorübergehenden Ausenthalt
in Frankreich gedacht hat, um hier ihre Niederkunft in Sicherheit und vor
jedem Gewaltstreich geschützt abzuwarten. Später änderte Maria Stuart ihren
Entschluß, nachdem sie entsprechende Vorsichtsmaßregeln für ihre Sicherheit
getroffen hatte. Murray und Argyle erhielten allein das Recht, im Kastell
von Edinburgh zu wohnen — worüber Hosack sein äußerstes Erstaunen zu
erkennen gibt — gerade weil sie die erklärtesten Gegner Darnley's waren.
Auch hieraus ergibt sich, daß damals das Verhältniß der Königin zu Bothwell
— worauf ich sogleich zurückkommen werde — noch kein intimes war. Das
Testament, welches Maria Stuart in dieser Zeit gemacht haben soll, wird
dann auch zuweilen als ein Beweis angeführt, daß sie sich mit Darnley völlig
ausgesöhnt und ihm seine Fehltritte vergeben habe, da ihm einige Werthgegen¬
stände darin zugewiesen sind. Abgesehen davon, daß dieses denn doch als ein
Beweis nicht gelten kann, möchte ich betonen, daß das Datum des Testa¬
mentes nicht bekannt ist und daß dasselbe weit früher abgefaßt sein kann.")
Befand sich Maria Stuart doch zur Zeit der Ermordung Riccio's bereits im
sechsten Monate der Schwangerschaft. —
Der Anfang eines ehebrecherischen Verhältnisses zu Bothwell wird ge¬
wöhnlich zu frühe angesetzt. Nicht ohne Grund betont hier Skelton, daß über
ein solches Verhältniß vor Darnley's Katastrophe sehr wenig oder fast gar
nichts in den verschiedenen Berichten — namentlich bei Castelnau de Mauvis-
siere — zu finden ist. Man findet auch in dieser Zeit kaum eine Andeutung,
daß Darnley sich eifersüchtig aus Bothwell gezeigt habe. Die späteren Ueber¬
treibungen Buchanan's müssen in der That zurückgewiesen werden. Der Beginn
der Neigung seitens der Königin, die sich dann rasch steigerte, wird etwa in
die Zeit der Taufe ihres Sohnes in Stirling festzusetzen sein. Jenem Besuche
Maria Stuart's in Jedburg wird meistens — auch von Mignet und Burton —
eine übertriebene Bedeutung beigelegt. Maria erschien in Jedburg, um Gericht
zu halten, sie besuchte den in seinem Amte von einem Freibeuter schwer ver¬
wundeten Bothwell in der Hermitage, erst nachdem acht Tage vergangen waren,
und auch dann in Begleitung verschiedener Großen. Aber auch auf der anderen
Seite finden wir beschönigende Uebertreibungen.
Daß sich die Königin, wie dieses von Skelton betont wird, für Bothwell's
Heirath mit Jane Gordon besonders interessirt haben soll, ist eine ganz will-
kührliche Behauptung. Einfach lächerlich aber und nur ein Beweis für die
Leichtfertigkeit seiner Untersuchungen ist die Angabe desselben Autors, daß
Bothwell damals bereits so alt gewesen sei, um Maria Stuart's Vater sein
zu können. Was nun die Ehe anbetrifft, welche die Königin mit dem Mörder
ihres Gatten einging, so führt Hosack aus, Maria Stuart sei nie legaliter mit
Bothwell verheirathet gewesen. Etwas Wahres ist in der That an dieser Be¬
hauptung, indessen kann auch darüber gestritten werden. Im Jahre 1566 hatte
sich Bothwell mit Jane Gordon, der Schwester des Grafen Huntly, vermählt.
Später ließ er sich um die Königin zu heirathen, von seiner Gattin scheiden, an¬
geblich, wie zuerst verbreitet wurde, „weil er im vierten Grade mit seiner Gemahlin
verwandt sei." Vor seiner Heirath hatte Bothwell jedoch einen Dispens des
päpstlichen Nuntius für seine Gemahlin erhalten, so daß nach Hosack's Ansicht
die Ehe legaliter vollzogen und nach den Gesetzen der katholischen Kirche un¬
trennbar war. Die Königin habe also nach den Lehren des Tridentinums, so
lange Jane Gordon lebte, nicht mit Bothwell eine gesetzliche Ehe eingehen können.
Der Dispens, vom 17. Februar datirt, wurde in Dunrobin aufbewahrt. Dr.
John Stuart hat ihn vor Kurzem entdeckt und in den Historical Lvramis-
sioners (Lsooiiä rsxort p. 177.) publizirt.
Wußte nun Maria Stuart, als sie ihre Ehe einging, von diesem Dispense?
Hosack bezweifelt es, „doch scheine sie später Nachricht davon erhalten zu haben,
da sie in einem Briefe an den Papst aus dem Jahre 1571 (Labanoff, III. 232.)
von der „xrktsoäizä äivoros ok Lotdvsll trovi ins räth" spreche." Von dem
Dispense habe außer Bothwell und Jane Gordon nur noch der Erzbischof
Hamilton, der denselben besorgte, Kenntniß gehabt und dieser, da sein Bruder
nach dem jungen Prinzen nächster Thronerbe war, habe Bothwell's Scheidung
begünstigt, wie alle Hamiltons, um Maria Stuart zu ruiniren.*) Die Sache
liegt indessen doch etwas anders, wenn der Erzbischof auch zweifellos um seiner
Familie willen den Dispens zurückbehalten haben wird. Bothwell war Pro¬
testant und konnte in Folge dessen wohl geschieden werden.**) Die Scheidung
Bothwell's wurde protestantischerseits aus eine Klage wegen Ehebruchs hin
ausgesprochen, welche von seiner Gattin gestellt worden war. Maria Stuar
hat sich später, als sie den Herzog von Norfolk heirathen wollte, lebhaft be-
müht, von Bothwell, der in dänischer Gefangenschaft war, geschieden zik werden.
Sie schrieb ihm in dieser Angelegenheit, und Bothwell erklärte sich auch bereit,
das Erforderliche zu veranlassen. Die schottischen Presbyterianer und das
Parlament wollten jedoch nicht darauf eingehen, und die Sache blieb der
vielen Schwierigkeiten wegen liegen.
Gefangenschaft in Lochleven. Flucht nach England. Elisabeth
hat — es kann dies nicht mehr bestritten werden — die Gefangenschaft Maria
Stuart's in Lochleven und den Triumph der aufständischen Lords als eine
schwere Schädigung des monarchischen Ansehens betrachtet. Sie war entrüstet
über das Benehmen der schottischen Großen und die Art und Weise, wie
Kirkaldy und Andere an Bedford über ihre Souverainin zu schreiben wagten.*)
Sie hat ihnen auch ausdrücklich ihr Mißfallen darüber aussprechen lassen, ja sie
war trotz der entgegengesetzten Ansicht ihrer Minister ernstlich entschlossen, eine
Absetzung Maria's nicht zu dulden.**) Hierzu wurde sie allerdings auch durch
die entgegenkommende Haltung bewogen, welche der französische Gesandte im
Auftrage seiner Herrin, der Königin Mutter, den Ereignissen in Schottland
gegenüber annahm. Das Ziel beider Frauen war, den jungen Prinzen in ihre
Hände zu bekommen und nach ihren Angaben erziehen zu lassen. „Wir sind,"
schrieb Cecil am 13. Juli an Sir Henry Sidney, „jetzt in einem heimlichen
Wettstreit mit den Franzosen begriffen, wer von uns den jungen Prinzen von
Schottland erhalten soll. Sie fischen mit goldenen Haken, wir nur mit
Ueberredung." ***) Karl IX. hätte damals gerne etwas zur Befreiung seiner
Schwägerin beigetragen, wie er sich denn auch Bothwell's, wo er konnte, in
Kopenhagen durch seinen Gesandten Daucay annehmen ließ. Wir wir jetzt
aus einem Berichte von Norris wissen, haben es nur Katharina de Medici
und der Connetable Montmorency geschickt zu verhindern gewußt, daß der
König damals ein Anerbieten, Maria Stuart zu befreien, annahm, f) Die Sym¬
pathien Elisabeth's für die gefangene Königin begegneten in Schottland und
namentlich in Frankreich einem starken Unglauben. Karl IX. sprach sich ganz
offen zu Sir Henry Norris darüber aus. „Er habe entdeckt," sagte er ihm,
„daß die Königin sich heimlich mit den Lords verbündet und ihnen Geld geschickt
habe." Es war dies ein grober Irrthum. Elisabeth hatte den aufständischen
Lords trotz allen Bitten Maitland's nicht die geringste Hilfe zugewendet.*)
Als Sir Nicolas Throgmvrton nach Edinburgh kam und Vermittlungsversuche
begann, erklärte ihm Maitland sogleich, man könne in die Zusicherungen Maria's
kein Vertrauen mehr setzen. Bekannt sind dann die weiteren Aeußerungen des
schottischen Staatssekretärs, als Throgmvrton mit der Rache seiner Herrin drohte.
Maitland übertrieb geschickt und gewann durch seine Kaltblütigkeit über Elisa¬
beth's leidenschaftliches Auftreten den Sieg. Throgmvrton mußte einsehen, daß
die Königin, seine Herrin, die Verhältnisse falsch beurtheilt habe, und daß die
Ereignisse zu schnell ihren Lauf genommen hatten, um wieder rückgängig ge¬
macht werden zu können. Er sah sich zur Unthätigkeit verdammt, seine Be¬
fehle konnte er nicht ausführen. Er konnte weder zu der gefangenen Königin
gelangen, noch etwas für sie thun und fürchtete ernstlich für ihr Leben. Mait¬
land hatte ihm ans seine Vorstellungen erwidert, wenn er in diesem drohenden
Tone gegen die anderen Lords ebenfalls sich ausließe, so könne die ganze Welt,
wie die Sachen ständen, die Königin nicht vor dem Tode retten, es werde so
wie so viel Mühe machen, ihr das Leben zu erhalten.
Da Throgmorton's Befehle sehr strenge lauteten, war ihm schließlich für
seine eigene Sicherheit bange. Er bat Cecil, sich nach Berwick zurückziehen zu
dürfen."") Den Befehl Elisabeth's, den jungen Prinzen zu fordern/**) wagte
er gar nicht auszuführen. Endlich bat er um seine Abberufung, da Maitland
ihm deutlich gesagt habe, er sei überflüssig, seine Gegenwart könne die Dinge
nur verschlimmern, und man könne die Wünsche Elisabeth's nicht erfüllen, ohne
die eigene Selbständigkeit aufzugeben. Die Königin möge Schottland sich selbst
überlassen und der Regierung weder Gutes noch Schaden zufügen, alles was
er, der Gesandte, thue, werde als verdächtig augesehen und die Schotten schneller
als sie es selbst wünschten in die Arme Frankreich's treiben. „Wir kennen,"
schloß Maitland, „alles was zwischen Euch, den Hamiltons, Argyle, Huntly
u. s. w. vorgegangen ist, seitdem Ihr hier seid." f) Elisabeth's Bemühungen
in dieser Zeit waren durchaus ernst gemeint. Die Beweise haben Hosack und
Fronde sorgfältig zusammengestellt. Am 29. Juli versicherte Robert Melon
der gefangenen Königin, daß sie auf die Königin von England als auf eine
sichere Freundin rechnen könne.ff)
Am 6. August schrieb Leicester an Throgmortou: „unsere Herrin will
einiges ausgeben, um die Königin von Schottland aus ihrer Gefangenschaft
zu befreien, „er möge bemüht sein, dieses Maria mitzutheilen.*) Am 14. August
schreibt diese an Throgmorton und dankt ihm für die Anstrengungen, die er
im Namen seiner Herrin für sie gemacht habe.**) Ja dem spanischen Gesandten
de silva theilte Elisabeth mit, baß wenn die schottischen Lords auf ihrem
Stücke beharrten, sie Frankreich auffordern werde, dieselben mit ihr in Ge¬
meinschaft zu bestrafen. „Sollte Karl IX. sich weigern, oder gar die Lords
unterstützen," so werde sie Philipp II. auffordern, die Franzosen in Schach zu
halten, während sie selbst eine Armee nach Schottland senden werde, um die
Königin zu befreien und auf ihren Thron zurückzuführen."***) Als dann der
schottische Staatsschreiber Maegill nach London geschickt wurde, um die Ent¬
sagungsurkunde der gefangenen Königin mitzutheilen, weigerte sich Elisabeth
entschieden, dieselbe entgegenzunehmen. Hatte sie doch soeben Maria Stuart
benachrichtigen lassen, daß sie eine erzwungene Abdankung für null und nichtig
ansehe, f)
Vor Gewaltmaßregeln den Lords gegenüber scheute indessen Elisabeth
doch trotz ihrer wiederholten Drohungen zurück. Ihre Politik wurde damals
durch sehr verschiedene Rücksichten, namentlich durch die veränderten Bezie¬
hungen zu den kontinentalen Mächten bestimmt. Sie wünschte Frankreich keinen
Anlaß zur Einmischung in die schottischen Angelegenheiten zu geben. Sie
stellte deshalb ihre Bemühungen, durch Vermittelung die Gefangene auf den
Thron zurückzuführen, ein und rief Throgmorton zurück. Maitland's Politik
triumphirte. Cecil schrieb am 11. August sehr bezeichnend an Throgmorton:
„in ins öriä ^ s^iÄ trat. vsreb.g.in?s in rurmiriA tds oonrss ed.« Hussn ok
Lovts iniAdt tM in to mors vsril, dz^ orinAMA tds lorcis into ÄssvörMon,
g.na ik tds vorst snoulü navxsQ, tdsn dör ni^sse^ ^porta dö vör/ sorr^
auel /se ruf mküios ok nsr sneiniss voulä Sö^ ed.g.t eh.s yMsns ivasöstx
iissä ssvsritzs tovarcls dew loräs to urZs ttisw to riä ÄMg,^ los ^usöQ," ff)
Noch immer nicht ganz aufgeklärt sind die angeblichen Bemühungen der ka¬
tholischen Hamiltons in dieser Zeit, eine Verurteilung und Hinrichtung Maria
Stuart's wegen Gattenmords durchzusetzen. Die einzige Quelle dafür ist doch nur
Tullibardine's Erzählung, die auch Fronde in seiner Darstellung benutzt hat.*)
Auch über Murray's Verhältniß zu seiner Schwester wäre etwas mehr Licht
zu wünschen. Am 15. August 1567 ging Murray nach Lochleven, um seine
Schwester zur Anerkennung der Regentschaft zu bewegen. Die Unterredungen
fanden ohne Zeugen statt, und wissen wir nur sehr wenig Zuverlässiges darüber.
Was Murray zu erzählen für gut befunden hat, ist von Throgmorton an
Elisabeth berichtet und von Mignet benutzt worden. Ob alle Mittheilungen
hier indessen Glauben verdienen, ist eine andere Frage.**) Elisabeth behielt
die wohlwollenden Gefühle gegen ihre im Unglück befindliche Verwandte auch
nach der Flucht Maria Stuart's bei. Die bisherige Anschauung, wie sie auch
bei Mignet, — der trotz aller Mühe, die er sich gibt, unparteiisch zu sein,
gegen Elisabeth eingenommen ist — zu Tage tritt, ist wesentlich zu modifiziren.
Es steht setzt vollkommen fest, daß Elisabeth die flüchtende Königin von Schott¬
land anfangs gut aufzunehmen Willens war, falls sie ihren Rathschlägen zu
folgen sich entschließe, und daß sie erst durch die Gründe Cecil's bewogen, eine
andere Haltung annahm. Es stimmt dieses auch damit überein, daß sie nach
der Flucht Maria's aus Lochleven Thomas Leigthon an die Königin abschickte
und ihr ihren vollen Beistand und zugleich ihre Intervention bei den Lords
anbot, wenn Maria keine auswärtige Hilfe annehme. Ihr erster Gedanke war
allerdings, den Regenten zu unterstützensie war überrascht durch die Flucht
und sah die Hoffnung einer Intervention vernichtet. Nach ihrer bisherigen
Haltung blieb ihr indessen gar keine andere Wahl. Beaton theilte ihr zudem
sofort mit, daß Maria Stuart sich an Karl IX. wenden werde, aber nur
wenn sie ablehne. Leiglhon kam indessen zu spät, die Entscheidung war schon
bei Langside gefallen.
Als Maria dann die englische Grenze überschritten hatte, schrieb der
französische Gesandte de la Forest an Karl IX.: „ich bin versichert, daß die
Königin im Geh. Rath mit aller Macht die Partei der Königin von Schott¬
land ergriffen hat, indem sie allen ihre Absicht kundgethan, sie zu empfangen
und zu ehren, wie es ihrem Range gebühre und nicht nach ihrer gegenwärtigen
Lage."*) Aehnliches berichtet de silva.**) Der Geh. Rath erklärte sich indessen
gegen einen solchen Empfang. Cecil's Politik liegt klar vor uns. Wir besitzen
von seiner Hand ein Papier, ans dem kurz nach Empfang der Nachricht von
Maria's Ankunft in Carlisle die Worte notirt sind: „los surstl^ ok tlo Huson
c»k Lovts i8 ürst to dö eonsiclsrsÄ, etat no zzraoties sds coulä evQVö^sa
out ok tus rö^lin".***) Als die größte Gefahr bezeichnete er, wenn Maria
nach Frankreich gehe, in zweiter Linie, wenn sie in England bleibe und als
dritte geringere, wenn sie nach Schottland zurückkehre, f)
Auch in der Korrespondenz mit Norris finden wir dasselbe ausgesprochen.
Cecil schreibt hier sehr besorgt über das unerwartete Ereigniß. „Weder ihr
Bleiben noch ihr Fortgehen sind gut sür uns." Am 20. Juni wurde im Geh.
Rath ein Finalbeschluß gefaßt, daß Maria Stuart von Carlisle fortzubringen sei,
da sie entfliehen könne, ferner daß sich Elisabeth über die Streitfragen zwischen
der Königin von Schottland und ihren Unterthanen unterrichten müsse. Es
wurde dabei die Gefahr betont, die entstehe, wenn man sie nach Frankreich
entlasse, da sie nie den Edinburgher Vertrag ratisizirt habe und eine „iinau-
tdorissä iriarrikAk" mit einem englischen Unterthauen eingegangen sei, und
schließlich ausgesprochen, die Königin könne sie mit Rücksicht auf ihre Ehre,
sowie die Sicherheit und Ruhe ihres Reiches weder vor ihr Angesicht kommen
lassen, uoch ihr Hilfsleistungen gewähren, ehe ihre Sache nicht „ehrenvoll ge¬
richtet" worden sei.ff) Elisabeth erkannte rasch die Zweckmäßigkeit dieser Politik
an. Doch hielt sie es ebensowenig sür ihrer Würde angemessen, ehe die Schuld
Maria's uicht bewiesen war, sich mit dem Regenten und seinen Freunden ein¬
zulassen. Sie spielte sich jetzt dem Abgesandten der gefangenen Königin, Lord
Herries, gegenüber — und das war allerdings nicht ganz aufrichtig — als
Maria's Sachwalterin auf. Als dieser sie bat, den schottischen Staatsschreiber
Mangili, der mit der in Lochleven unterzeichneten Entsagungsurkunde unterwegs
war, nicht empfangen zu wollen, erwiderte sie mit Wärme: sie werde keinen
empfangen, der gegen Maria Partei ergriffen habe, ffs) Sehr merkwürdig —
und deshalb will ich es hier erwähnen ist aber doch, daß Elisabeth sogleich
Befehl gab, daß die Speisen der Königin von Schottland von ihren eigenen
Dienern bereitet werden müßten, damit, wenn ihr etwas zustoße, nicht der
Verdacht einer Vergiftung auskäme.*)
Die Chatoullenbriefe. Konferenzen zu Aork und Westminster.
Es kann nicht meine Absicht sein, hier noch einmal alle bisher vorgebrachten
Gründe für und wider die Echtheit der berühmten Chatoullenbriefe anzuführen.
Es ist dieses so oft geschehen, und es sind mit fo vielem Aufwands von Geist
dabei Hypothesen aller Art aufgestellt worden,**) daß eine Wiederholung über¬
flüssig erscheint, besonders da den Gegnern der Echtheit kleine Sonderbarkeiten
oder unwesentliche Nebenumstände mehr gelten als die einfachsten Konsequenzen.
Meiner Ansicht nach ist die Echtheit der Briefe — wenn man vom Wortlaute
abstrahirt***) — gar keinem Zweifel unterworfen, und müssen die Versuche der
Mehrzahl der neueren Schriftsteller ganz entschieden zurückgewiesen werden.f)
Und um so eher darf dieses geschehen, als so gut wie nichts Neues von ihnen
vorgebracht wird, um ihre Ansicht zu begründen. Es sind die alten Spitz¬
findigkeiten, das Datum, den Stil u. s. w. betreffend, welche abermals her¬
vorgesucht werden, und denen wir bei allen ziemlich gleichmäßig begegnen. Neu
und von einiger Bedeutung ist nur der heftige Angriff auf Crcttvford's clsxo-
sitivll, und seine Begründung, für die ein kürzlich in den Haroilton xaxsrs
entdecktes Aktenstück das Material geliefert hat. Es ist dieses ein Brief,
welchen der Vater Darnley's, Graf Lennox, von Chiswick aus an Crawford
gerichtet haben soll, in dem er ihn beschwört, um Gottes willen mehr Anklage¬
material gegen die Königin herbeizuschaffen, da sonst das Schlimmste — also
Freisprechung Maria Stuart's — zu befürchten sei. ff) Von den Anhängern
Maria Stuart's ist bekanntlich enorm viel gefälscht worden und der Umstand,
daß dieser Brief sich in dem Besitze der Hamiltons vorgefunden haben soll, ist
doch sehr auffallend. Indessen die Echtheit dieses Briefes zugegeben, so würde
schlimmsten Falls nur daraus zu folgern sein, daß Crawford, der zur Zeugen¬
schaft in Dort berufen war und seine Aussage vorbereitete, vorher Kenntniß
von dem Inhalte der Chatoullenbriefe erhalten haben kann. Gegen die Echt¬
heit derselben aber zeugt der Inhalt des Lennox'schen Briefes mit nichten.
Die Chatoullenbriefe hatten dem schottischen Parlamente längst vorgelegen.
Ueberdies war die Besorgniß von Lennox nur natürlich. Als er den betreffen¬
den Brief schrieb, war Murray noch immer nicht aus seiner zögernden Haltung
herausgetreten, zu der ihn der Herzog von Norfolk bekanntlich veranlaßt hat,
und hielt mit der Hauptklage zurück. Die Besorgniß von Lennox wurde von
der Königin Elisabeth und den englischen Kommissairen lebhaft getheilt. End¬
lich erinnere ich daran, daß Throgmorton bereits am 15. Juli 1567 in einem
Berichte es ausgesprochen hat, daß man in Schottland Zeugnisse von Maria's
eigener Hand besitze. Ehe ich mich jetzt zu den einzelnen Punkten wende,
möchte ich noch betonen, daß die bisher beliebte Folgerung, daß wenn sich
die Unechtheit eines Briefes herausstelle, damit auch das Schicksal aller andern
entschieden sei, der historischen Kritik nicht entspricht.
Die Hauptgründe für die Echtheit der Chatoullenbriefe waren bisher
folgende. 1. Die Uebereinstimmung des ersten Hauptbriefes mit der Aussage
Crawford's, dem Darnley den Inhalt seiner Unterredung mit der Königin
unmittelbar nachher mittheilte, damit dieser seinem Vater Nachricht davon gebe
2. Die Erwähnung von Hiegate u. s. w., ein Umstand, den kein Fälscher er¬
finden konnte. Es war dieser Hiegate ein dorn, KlsrK von Glasgow, der sich
über die Absicht Darnley's, sich des jungen Prinzen, seines Sohnes, zu bemäch¬
tigen, geäußert haben sollte. Die Königin schrieb darüber an den Erzbischof
Beaton am 20. Januar 1567 und hat man lange Jahre die betreffende
Stelle nicht zu erklären gewußt. 3. Die eigenthümliche Fassung des Briefes,
der in der Mitte wegen Mangels an Papier u. s. w., abbricht und später
beendigt wird. 4. Der vertrauliche Brief des Grafen Lennox an seine Ge¬
mahlin, in welchem der Fund der Chatoullenbriefe besprochen wird. 5. Das
einstimmige Urtheil der englischen Kommissaire, unter denen sich auch der
Herzog von Norfolk befand. Niemand hielt die Briefe für gefälscht, es findet
sich keine Erwähnung der Art in den Akten. 6. Das Verhalten der Königin
selbst. Ihre Kommissaire erklärten nur (6. Dezember), daß alle Schriften, die
von Rebellen produzirt werden könnten, Verläumdungen und Privatmittheilungen
feien, die ihrer Herrin in keiner Weise präjudizirlich sein könnten. Endlich hat
die Königin selbst erklärt, daß Murray sich allerdings im Besitze schwerwiegen¬
der Papiere befinde.
Diesen Beweismitteln sind wir jetzt im Stande, ein neues, meiner Ansicht
nach nicht unerhebliches Argument hinzuzufügen. Eine Stelle jenes ersten
Briefes ist bisher — auch Fronde ist dieselbe entgangen — ganz unbeachtet
geblieben, da man sie einfach nicht verstehen konnte. Wir haben erst vor
wenigen Jahren durch Tenlet's Publikationen den Schlüssel dafür erhalten.
Gleich zu Beginn der Unterredung finden wir eine ganz kurze Frage Darn-
ley's, ob die Königin bereits ihren „Etat" gemacht habe, eine Frage, die von
ihr bejaht wird.
Wir wissen jetzt, daß dieser Etat ein übersichtliches Verzeichniß der Pen¬
sionen und Gehälter war, die auf das Wittwengeld der Königin (40,000 Livres)
in Frankreich ausgezahlt, und daß derselbe jährlich angefertigt und nach Frank¬
reich eingesendet wurde, um als ^rinnt für die Zahlungen zu dienen. Die
Mehrzahl der Empfänger waren Franzosen oder in Frankreich lebende Diener,
wie Beaton der Gesandte, der 3060 Livres empfing. Das Dokument vom
13. Februar 1567 datirt, ist vorhanden, von Maria Stuart und Joseph Riccio,
ihrem Sekretär, dem Bruder David's unterzeichnet, also unmittelbar vordem
Besuche in Glasgow gefertigt.*) Es ist fast unmöglich, daß ein Fälscher auf
diese Frage kommen konnte, sehr unwahrscheinlich, daß das Faktum überhaupt
vielen Personen bekannt war. Die kurze, einfache Frage ist hier von Wichtig¬
keit. Wenn ein Fälscher diesen Umstand hätte verwerthen wollen, so würde
die Stelle ohne Zweifel ganz anders gelautet haben. Von der allergrößten
Bedeutung ist es aber, daß auch im schottischen Parlamente, wie wir jetzt
wissen, als die Papiere vorgelegt wurden, niemand für Maria auftrat, obwohl
Huntly, Errol und vor allem Herries zugegen waren. Ein Umstand, der allein
schwer genug wiegen würde, um alle Einwände der Apologeten zu widerlegen.
Das Parlament erklärte, „das Verfahren gegen die Königin sei ihren eigenen
Vergehen zuzuschreiben, die durch verschiedene vertrauliche Briefe von ihrer
eigenen Hand an Bothwell vor und nach der Ermordung des Königs erwiesen
seien."**) Ich wende mich jetzt zu den Einwänden, die von der anderen Seite
gemacht worden sind. Was das Datum der Briefe betrifft, so fällt in's Ge¬
wicht, daß die Originalbriefe nicht vorhanden sind, und bei Abfassung der
Uebersetzungen sehr leicht Irrthümer und Schreibfehler vorgekommen fein können.
Wenn man fälschen wollte, so war es leicht, das Datum entweder ganz fort-
zulassen oder mit größter Genauigkeit anzugeben. Ich kann überdies keine
Widersprüche entdecken. Am 24. Januar traf die Königin in Glasgow ein,
in derselben Nacht schrieb sie jenen großen, berüchtigten Brief an Bothwell,
den sie am Morgen des 25. beendigte, Paris reiste sofort ab, kam Sonnabend
in der Nacht nach der Hauptstadt und brachte die Antwort am 27. Morgens
nach Glasgow zurück.*) Murray's Journal irrt, wenn es Bothwell erst am
28. in Edinburgh eintreffen läßt oder, was viel wahrscheinlicher ist, Bothwell,
der sich am 25. und 26. incognito in der Hauptstadt aufgehalten hatte, verließ
dieselbe mit Paris und kehrte am 28. wieder dorthin zurück. Hosack's Gründe
sür die Unechtheit der Briefe sind ganz bedeutungslos. Er leugnet geradezu
Maria's Leidenschaft für Bothwell, an der gar nicht zu zweifeln ist, „weil sie
ihn viel zu lange gekannt habe." Die Kühnheit der Hosack'scheu Schlüsse ist
überhaupt bewundernswürdig. Er führt auch Murray's Testament als einen
Beweis für Maria's Unschuld an.
Wenn eine befriedigende Erörterung kirchenpolitischer Fragen davon ab¬
hängig ist, daß ihr Urheber ein hohes Maß religiöser und sittlicher Energie
besitzt, dann gibt es in Deutschland niemanden, der so befähigt ist, auf dem
genannten Gebiete thätig zu sein, wie Baumgarten; wenn aber nur derjenige
hier zu arbeiten berufen ist, welcher die in Betracht kommenden Faktoren mit
Rücksicht auf die Mannichfaltigkeit ihrer Beziehungen und die geschichtliche Be¬
dingtheit ihres Ursprungs, Seins und Wirkens objektiv zu würdigen vermag,
dann gibt es in Deutschland niemanden, der so wenig befähigt ist, ein kompe¬
tentes Urtheil abzugeben, wie Baumgarten.^)
Dieses Mißverhältniß in der Begabung Baumgarten's tritt auch in der
vorliegenden Schrift zu Tage. In ihm ist es begründet, daß seine Darstellung
der geschichtlichen Verhältnisse, sei es der Vergangenheit, sei es der Gegenwart,
eine Leidenschaftlichkeit athmet, die ihn nicht selten zu Uebertreibungen und
Ungerechtigkeiten verführt. Mit dem Selbstgefühl und in dem Tone eines alt-
testamentlichen Propheten schwingt er das Schwert des richtenden Wortes.
Mit glühendem Haß verfolgt und bekämpft er, wer nicht zu seiner Fahne hält;
mit glühender Begeisterung streitet er für diese. Dort sieht er nur Finsterniß,
hier nur Licht.
Und fragen wir nun: was ist ihm Finsterniß, was ist ihm Licht, wogegen
und wofür kämpft er? so ist die Antwort, die wir empfangen, keineswegs ge¬
eignet, uns von der Gerechtigkeit seiner Kampfesweise zu überführen. Es
sind zwei Feinde, gegen die Baumgarten und dem größten Eifer streitet. Den
einen findet er in jeder rechtlich geordneten Verbindung zwischen Staat und
Kirche, die er als Staatskirchenthum bezeichnet, und über welche er die vollen
Schalen seines Zornes ergießt. Er wird nicht müde, die schwerwiegendsten
Angriffe gegen dieses Staatskirchenthum zu richten. Er läßt aus ihm eine
Verweltlichung der Kirche entstehen, welche den christlichen Charakter des geist¬
lichen Amtes verfälsche und einen Pastoralen Klerikalismus erzeuge, der dann
seinerseits wieder Anleitung gebe, das Heiligthum des christlichen Geistes und
Lebens in Werkheiligkeit und Zeremonienwesen zu verkehren. Er redet von
der scheinheiligen Lüge des Staatskirchenthums, und wenn Freunde desselben
behaupten, daß seine Aushebung zwar nicht der Kirche, wohl aber dem Staate
Schaden bringe, so nennt er dies eine gleißnerische Rede. Er fordert, daß
evangelische Predigten im Sinne und Geiste Luther's die, wahre Gemeinde aus
der Gefangenschaft und dem wüsten Staatskirchenthum erlöse; und er klagt,
daß durch dasselbe die Kraft der Predigt entnervt sei.
Die Kehrseite dieses Hasses gegen die Staatskirche, in der er nur Finster¬
niß erkennt, ist die Begeisterung für die Freikirche, in der er nur Licht zu
sehen vermag. Die Kirche der ersten drei Jahrhunderte, die Kirche Nord¬
amerika's — das sind ihm die vorbildlichen Erscheinungen. Er begrüßt daher
in der Gegenwart mit der wärmsten Sympathie die obligatorische Zivilehe,
weil dnrch sie das Staatskirchenthum beseitigt sei. Und die, welche diese be¬
klagen und durch die Nothzivilehe ersetzt wissen wollen, verurtheilt er mit den
herben Worten: „Diese lieben Leute thun außerordentlich fromm, merken aber
gar nicht, daß sie mit ihren scheinheiligen Reden einen wahren Abgrund eigener
Gottlosigkeit aufdecken." Und ein Zusammensprechen, das Tranformular, ist
ihm unter allen Umständen, man möge es näher zu bestimmen suchen, wie
man wolle, eine unchristliche, unevangelische, hierarchische Anmaßung des Pastors.
So sehr uun aber auch Baumgarten gegen das Staatskirchenthum eifert,
so hat doch auch ein Christenthum, welches das öffentliche Leben und die
Interessen des Volks ignorirt, durchaus nicht seinen Beifall. Im Gegentheil
beschuldigt er das Staatskirchenthum, daß es zum Servilismus führe und auf
die Entwickelung der öffentlichen Angelegenheiten hemmend wirke. So ist ihm
denn, fast noch mehr als Luther, der seine Prinzipien nicht konsequent zur
Geltung gebracht habe, Oliver Cromwell das Ideal eines kirchenpolitischen
Reformators. So sehr ist er für denselben eingenommen, daß er auch die
Enthauptung Karl's I. nur durchaus billigt und diejenigen, welche in ihr eine
schwere Schuld seiner Richter erkennen, eines dummen unchristlichen Vorur¬
theils über eine große That der Völkergeschichte zeiht. Diese That, sagt er,
mit solchem heiligen Ernste vorbereitet, vollzogen und gerechtfertigt, ist eine
Luftreinigung auf lange Zeiten, sie wird, wie Cromwell den Schotten sagte,
ein Schrecken bleiben für Tyrannen.
Es ist begreiflich, daß bei diesen Sympathien Baumgarten's die Bezie¬
hung zwischen Christenthum und öffentlichen Angelegenheiten, wie sie sich im
protestantischen Deutschland gestaltet hat, von ihm auf das Schärfste verurtheilt
wird. Er findet hier einen naiven Servilismus der Theologen und Pastoren,
der nach kirchlicher Theorie und Praxis für christlich und lutherisch gehalten
werde. Und er beruft sich dafür besonders auf die Geschichte unseres Jahr¬
hunderts. In der Zeit der Napoleonischen Invasion hätten die rettenden
Geister vorzugsweise dem Lnienstande angehört, nur Schleiermacher sei unter
ihnen fast der einzige Vertreter der Kirche gewesen. Und die politische Reaktion,
die nach den Befreiungskriegen eingetreten sei, habe bei den geistlichen und den
kirchlichen Laien eine kräftige Unterstützung, Schleiermacher's Protest gegen die¬
selbe aber keinen Wiederhall gefunden. Auch daß die hannöversche Geistlichkeit
mit schüchternem Stillschweigen über die Aufhebung der Verfassung dnrch Ernst
August hinweggegangen sei, müsse als ein Zeugniß für eine verderbliche Kor¬
ruption in dem öffentlichen Gewissen, namentlich in geistlichen Kreisen betrachtet
werden. Und ebenso trage an der politischen Reaktion der fünfziger Jahre
die pietistische Partei die Hauptschuld. Bciumgarten straft ferner die Gleich-
giltigkeit, wenn nicht Dänenfreuudlichkeit, welche dieselbe Richtung in der Sache
Schleswig-Holstein's an den Tag gelegt habe, und zeiht sie endlich der Sym¬
pathien mit dem Papstthum. Und es ist besonders die Kreuzzeitung, das
Organ dieser Partei in der Presse, gegen welche er diese schweren Beschuldi¬
gungen richtet.
Wir sind natürlich weit davon entfernt, diesem Feldzug Baumgarten's
gegen gewisse Eigenthümlichkeiten der kirchlich-konservativen Partei der Gegen¬
wart jede Berechtigung abzusprechen. Wir sehen mit ihm in denselben gefähr¬
liche Verirrungen, aber darin unterscheiden wir uns von ihm, daß wir die
Ursachen derselben ebenso wie ihre Motive auf einem anderen Gebiete suchen
und deshalb in der Lage sind, gerechter und milder über sie zu urtheilen.
Wir stellen zuerst in Abrede, daß jede organische Verbindung zwischen
Staat und Kirche, die Baumgarten als Staatskirchenthum brandmarkt, mora-
lisch verderblich auf die protestantische Geistlichkeit gewirkt und eine servile
Gesinnung gegen die Fürsten in ihr erzeugt habe. Bis über die Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts hinaus ist davon wenig zu spüren. Wir berufen
uns dafür ans die unbestreitbare geschichtliche Thatsache, daß die Unionsbe-
strebungen der Hohenzollern den heftigsten, ja rücksichtslosesten Widerstand
auf Seiten der lutherischen Geistlichen gefunden haben. So wenig wir diesen
Widerstand billigen, so ist er doch ein unwüerleglicher Beweis dafür, daß die
protestantische Geistlichkeit Mannhaftigkeit genug besaß, ihre Ueberzeugung
auch gegen die Fürsten zur Geltung zu bringen. So wenig ist die Beschul¬
digung Baumgarten's begründet, daß innerhalb der genannten Zeitgrenzen viel¬
mehr die Gefahr einer Theologenherrschaft vorlag, und viel weniger der Kirche
der Cäsarenpapismns als dem Staate die Th.cÄatie drohte. Die spätere
kirchenrechtliche Theorie des Territorialismus, der do Kirchengewalt des Fürsten
als einen Ausfluß seiner Staatsgewalt ansah, c eine einseitige Reaktion
gegen das lange Zeit erfolgreiche Bemühen der The^- geu, die Interessen des
Staates den vermeintlichen Interessen der Kirche dienstbar zu macheu. So fern
lag bis dahin der protestantischen Geistlichkeit Deutschland's die Neigung zum
Servilismus, daß Georg Calixt, der Vertreter der kirchlichen Union im sieb¬
zehnten Jahrhundert, in derselben vielmehr ochlokratische Agitatoren sah, gegen
die er das Einschreiten der Fürsten forderte. Für diese ganze Zeit ist auch
der Vorwurf unbegründet, daß die Geistlichen für das öffentliche Leben keine
Theilnahme gehabt und sich von demselben zurückgezogen hätten. Von der
Mitte des siebzehnten Jahrhunderts an allerdings trat in dieser Hinsicht eine
große Aenderung ein. Das deutsche Reich zerfiel, in seinen einzelnen Theilen
aber gründeten die Territorialfürsten nach dem Vorbild Ludwig's XIV. abso¬
lute Monarchien. Die Landstände wurden immer machtloser und schwanden
hin. Der alte mannichfaltig gegliederte Staatsorganismus löste sich auf und
wurde durch die unbedingte, zentralisirende und uniformirende Herrschaft des
Fürsten ersetzt, der durch seine Beamten das Land regierte. Innerhalb dieser
neuen Ordnung der Dinge nun sank natürlich das Selbständigkeits- und Un-
abhängigkeitsgesühl in allen Gliedern des Volkes, und so auch in den Dienern
der Kirche, die mit dem Aufhören der Landstände, unter denen auch ihre Prä¬
laten gesessen hatten, das sie der Regierung gegenüber vertretende Organ ver¬
loren hatte. Denn die Konsistorien wurden je länger je mehr in Folge der
territorialistischen Theorie zu staatlichen Behörden, die nicht sowohl die Inter¬
essen der Kirche zur Geltung zu bringen, als vielmehr nach dem allgemeinen
maßgebenden Verwaltungsschematismus das staatliche Departement für kirchliche
Angelegenheiten zu verwalten hatten.
Also das Sinken des Selbständigkeitsgefühls i>- der Kirche war nicht das
Resultat der rechtlich geordneten Verbindung derselben mit dem Staate, sondern
eine Folge des Uebergangs des Staatslebens ans der ständischen in die absolut
monarchische Form, die ihrerseits wieder in dem Auflösungsprozeß des deut¬
schen Reiches begründet war. Ueber ein Jahrhundert aber hat der Zusammen¬
hang zwischen Staat und Kirche das Freiheitsbewußtsein der Geistlichen keines-
Wegs geschädigt und ihrer Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten keinen
Abbruch gethan; ein Beweis, wie die Staatskirche keineswegs unbedingt zu
der Korruption der Gesinnung führt, welche Baumgarten als ihre nothwen¬
dige Folge voraussetzt. Vielleicht hätte indessen das allgemeine Sinken des
Freiheitsbewußtseins in allen Ständen seit der zweiten Hälfte des siebzehnten
und im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts bei den Dienern der Kirche mehr
Widerstand gefunden, wenn dieselben von der eigenthümlichen Hoheit der ihnen
gestellten Aufgabe durchdrungen gewesen wären. Aber das Bewußtsein der¬
selben mußte ihnen in dem Maße abhanden kommen, als sie in Folge der
Herrschaft der Aufklärung sich nicht als Boten Gottes und Verkünder der
ewigen Heilswahrheit, sondern als Vermittler allgemeiner Bildung ansahen.
Wir kommen zur Gegenwart. Dieselbe zeigt uns die allerdings sehr be¬
trübende Thatsache, daß die Männer, in denen das neuerwachte christliche Leben
zum vollen Bewußtsein gelangt ist, zu einem sehr großen Theile der politischen
liberalen Bestrebungen feindlich gegenüber stehen. Wir sind weit davon ent¬
fernt, dies zu billigen, am wenigsten sind wir geneigt, eine Lanze für die
Kreuzzeitung zu brechen, die so viel dazu beigetragen hat, den Gegensatz zwischen
kirchlich gläubiger Gesinnung und politischem Freiheitssinn zu befestigen. Aber
es wäre ungerecht, die Schuld nur auf einer Seite zu suchen. Sie liegt ebenso
auf Seiten des Liberalismus. Derselbe hat in Deutschland lange Zeit den
kirchlichen Interessen Gleichgiltigkeit, wenn nicht Feindschaft bewiesen. Und
wenn er mit einer kirchlichen Partei Fühlung gesucht hat, so war es nicht die
positive, fest an den biblischen Heilsthatsachen haltende, sondern die negative,
welche diese verflüchtigte und in allgemeine religiöse und sittliche Ideen auf¬
löste. Es schien so, als ob politischer Liberalismus und kirchlicher Jndifferen-
tismus Hand in Hand gehen müßten.*) Was lag da der positiv christlichen
Richtung näher, als der politischen Partei sich anzuschließen, bei welcher sie
sicher war, Schutz und Förderung zu finden. Hätte unser politischer Libera¬
lismus von vornherein erkannt, daß das religiöse und sittliche Leben ein durch¬
aus eigenartiges Gebiet ist, das mit entgegengesetzten politischen Bestrebungen
in Einklang steht; hätte er darauf geachtet, wie sich in den Mutterländern poli¬
tischer Freiheit, in England und Nordamerika, der lebendigste und entschiedenste
biblische Glaube mit der Führerschaft einer liberalen Partei verbindet, dann
wäre manche trübe Erfahrung uns erspart geblieben. Und so sehen wir denn
mich, seitdem in neuester Zeit der Liberalismus ein tieferes Verständniß für
die Kirche gewonnen hat, — wir haben die Freikonservativen und den rechten
Flügel der Nationalliberalen vor Augen — viele kirchlich konservative Männer
mit demselben Fühlung gewinnen. Aber es wäre auch ein großes Unrecht,
wenn man den Geistlichen und andern kirchlich gerichteten Männern, welche auf
politischem Gebiet streng konservativ gesinnt siud, meinetwegen sogar reaktionären
Tendenzen huldigen, daraus einen moralischen Vorwurf machen, sie etwa
des Servilismus bezichtigen wollte. Dazu liegt gar kein Grund vor, da die
Leiter unserer Politik gegenwärtig durchaus nicht solchen Bestrebungen günstig
find. Ob jemand politisch konservativ oder politisch liberal gesonnen ist, das
wird wesentlich davon abhängig sein, wie er über die sittliche und intellektuelle
Reife des Volkes denkt. Je höher ihm dieselbe erscheint, desto liberaler; je
niedriger, desto konservativer wird er denken. Idealistische Naturen werden ge¬
neigt sein, diese Reife zu überschätzen, realistische, sie zu unterschätzen. Ein
optimistischer Liberalismus und ein pessimistischer Konservativismus — das sind
die beiden Gefahren, vor denen die Politik sich zu hüten hat. Man kann
sicher sein, daß auf einen einseitigen abstrakten Liberalismus ein ebenso einsei¬
tiger abstrakter Konservativismus folgen wird, und umgekehrt. Ebenso steht
es fest, daß die Regierung die größte Aussicht auf Bestand hat, die es ver¬
steht, das Recht beider Theile zur Geltung zu bringen, konservative und liberale
Bestrebungen in sich zu verschmelzen.
Wenn man so nüchtern die innere Bedingtheit beider Parteien begreift,
dann wird man gewiß die Ausschreitungen hier und dort scharf beurtheilen,
aber auch in der Erkenntniß des relativen Rechts, auf welches eine jede An¬
spruch hat, sich davor hüten, intellektuelle Verirrungen zu sittlichen Verbrechen
zu stempeln. Denen, die noch mitten im Kampfe stehen, wird es gern ver¬
ziehen werden, wenn sie Anschuldigungen gegen den Gegner richten, die das
Maß nicht inne halten; aber wer uns, wie Baumgarten, in den Spiegel der
Vergangenheit schauen läßt, der sollte sich von der Leidenschaftlichkeit frei halten,
die dem Gegner nicht gerecht wird, weil sie ihn nicht versteht. Diese Milde
des Urtheils schließt es keineswegs aus, wie wir eben schon gesagt haben, daß
wir bestimmte Handlungen mit der größten sittlichen Energie verurtheilen;
wir haben kein Wort der Entschuldigung, auch nicht der Milderung der Schuld
für den Eidbrnch Ernst August's von Hannover, für die Demagogenhetze der
Herren Schmalz und von Kcunptz. Aber wir halten es für ungerecht, eine
ganze Partei für das verantwortlich zu machen, was Einzelne gesündigt haben.
Und daß diese, zumal die christlich Gesinnten unter ihnen, nicht dagegen Protest
erhoben haben, daß die gläubigen Geistlichen nicht Wortführer des Rechts
gegen das Unrecht gewesen sind, daß nur vereinzelt ihre Stimme hörbar ge¬
worden ist, wie sehr wir es beklagen und mißbilligen, der Mangel an Öffent¬
lichkeit des politischen und kirchlichen Lebens gereicht ihnen zur Milderung
der Schuld.
Von derartigen Verirrungen würden nun nach Baumgarten's Ueberzeu¬
gung die Vertreter des kirchlichen Lebens frei geblieben sein, wenn die Refor¬
mation eine reinliche Sonderung zwischen bürgerlicher und kirchlicher Gemeinde,
zwischen Kirche und Staat vollzogen hätte. Auch wir sind davon überzeugt,
daß die in der Reformation vollzogene Verbindung zwischen Staat und Kirche
an der Idee gemessen eine mangelhafte war, wir sind nicht blind gegen die
verderblichen Folgen, die daraus hervorgegangen sind, die Theologenherrschaft
hier, der Cüsciropapismus dort; wir haben seit mehr als einem Jahrzehnt
für die Umwandlung der Staatskirche in eine Landeskirche durch Herstellung
presbhterialer und synodaler Formen gewirkt und ihre Verwirklichung in Preußen
mit freudigem Dank begrüßt, aber alles dies hindert uns nicht, das Verfahren
der Reformatoren als ein geschichtlich nothwendiges anzusehen und die Ge¬
fahren der Staatskirche für geringer zu achten, als die Segnungen, die Kirche
und Staat von dieser empfangen haben.
Es hätte doch Baumgarten stutzig machen sollen, daß der Protestantismus
auf allen Gebieten, wo er staatliche Anerkennung fand, staatskirchliche Bil¬
dungen hervorgebracht und nur da, wo der Staat eine feindliche Stellung
gegen ihn einnahm, zu einer selbständigen Gestaltung sich entschlossen hat.
Die Gründe dieses Verfahrens der Reformatoren sind unschwer zu er¬
kenne::. Es war einmal die äußere Noth, die sie trieb. Es fragte sich, in
wessen Hand die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten gelegt werden solle.
Wären die Bischöfe protestantisch geworden, so hätte diese Frage" sofort eine
befriedigende Erledigung gefunden. Es ist bekannt, wie besonders Melanchthon
für diese Lösung des Problems die lebhaftesten Sympathien hegte. Aber mit
wenigen Ausnahmen setzten die Bischöfe der protestantischen Bewegung heftigen
Widerstand entgegen. Nun hätte ja nichts näher gelegen, als gemäß der refor¬
matorischen Lehre vom allgemeinen Priesterthum die Kirchengewalt den Ge¬
meinden zu überantworten und dieselben zu organisiren. Aber dieser Aufgabe
waren die Gemeinden nicht gewachsen, Ihnen fehlte dazu die religiös-sittliche
Reife nicht minder wie die intellektuelle. Vereinzelte in dieser Richtung vor¬
gehende Entwürfe blieben auf dem Papiere, oder eingeführt erwiesen sie sich
als untauglich und wurden bald wieder beseitigt. Die Herstellung einer pro¬
testantischen Hierarchie aber im Pastorat scheiterte daran, daß demselben die
Autorität fehlte. Was blieb übrig, als der Obrigkeit die Ordnung der kirch¬
lichen Angelegenheiten anzuvertrauen! Und um so leichter konnten sich die
Reformatoren dazu entschließen, als sie es gerade waren, welche die hohe sitt¬
liche Bedeutung und Aufgabe des Staates zur Geltung gebracht hatten, die in
ihm wie in der Kirche eine Verwirklichung des Reiches Gottes sahen. Waren
sie sich auch der Gefahren wohl bewußt, die aus dieser Verbindung des Staates
mit der Kirche hervorgehen konnten, die Nothlage der Zeit ließ ihnen keine
andere Wahl. Wir sprechen sie frei von aller Schuld. Freilich vermögen wir
ein ebenso günstiges Urtheil über die Leiter des kirchlichen Lebens in den fol¬
genden Zeiten nicht zu fallen, denn was für die Reformatoren nur ein noth¬
wendiges Provisorium war, erschien ihnen als ein Definitionen, und so unter¬
ließen sie es, die Gemeinden zur Selbständigkeit zu erziehen.
Und nun blicken wir auf die protestantischen Kirchen, welche sich von der
Anlehnung an den Staat frei hielten. Es ist dies, wie schon oben gesagt, nur
da geschehen, wo der Staat eine feindliche Stellung zur Reformation einge¬
nommen, oder im Gegensatz zu einer von ihm privilegirten Richtung innerhalb
des Protestantismus eine andere niedergehalten hat, die dann die Opposition
gegen das Prinzip der Staatskirche zu ihrem Programm machte. In diesem
Fall waren die Gemeinden zu einer freien, selbständigen Organisation ge¬
nöthigt, aber der Druck, dem sie ausgesetzt waren, hatte auch ihr religiöses und
sittliches Leben zu schnellerer Reife entwickelt. Gestalteten sich hier nun die
Beziehungen der Kirche zum Staat etwa normal, d. h. entsprechend den ge¬
gebenen Verhältnissen? Die französischen Protestanten bildeten einen Staat im
Staate, eine konföderirte Republik in einer Monarchie, in heftigen, blutigen
Bürgerkriegen kämpften sie für die Freiheit des Glaubens, und es gelang ihnen,
politische Sicherheiten für dieselbe zu gewinnen. Im Juni 1573 wurden die
Städte La Rochelle, Mcmtanbcm, Nimes den Protestanten so völlig übergeben,
daß sie aus dem Nexus der allgemeinen staatlichen Verwaltung heraustraten
und vollkommen als Republiken anerkannt wurden. Der Protestantismus
wurde je länger je mehr eine politische Partei, ein Staat im Staate, der nach
immer stärkerer und umfangreicherer Befestigung strebte. Die Protestanten von
Languedoc, Guienne, der Provence und der Dauphine gingen soweit, noch zwei
Städte in jeder Provinz und eine Besatzung aus Leuten ihres Glaubens, für
deren Unterhalt der König sorgen sollte, und ein protestantisches Parlament
zu fordern. Gab es doch manche Protestanten, die von einem calvinischen
Freistaate, unabhängig von der' französischen Königswürde träumten, und hatte
sich doch die pcotestautische Partei so selbständig gestaltet, daß sie sich weigern
konnte, Heinrich IV. Heeresfolge im Krieg gegen Spanien zu leisten. Der
französische Protestantismus war durch und durch politisch geartet, so sehr, daß
nicht wenige an die Thronbesteigung Heinrich's IV. die Hoffnung auf die Er¬
richtung einer reformirten Staatskirche knüpften. Dies wird genügen, um deu
Beweis zu liefern, daß der französische Protestantismus nur durch die äußere
Nothwendigkeit davon abgehalten wurde, einen ebenso engen Zusammenhang
zwischen Staat und Kirche herzustellen, wie derselbe sich im protestantischen
Deutschland gebildet hatte, daß seine Intentionen aber auf dasselbe Ziel ge¬
richtet waren.*) Wir wenden uns nun nach Großbritannien. Von Schottland
sehen wir hier ab, da hier der Calvinismus Staatsreligion wurde; am 10.
Juli 1560 verbot das schottische Parlament den katholischen Gottesdienst.
Dagegen interessiren uns in hohem Maße die Puritaner England's. Wie
urtheilte nun ein John Milton. ein Oliver Cromwell über die Beziehung
zwischen Staat und Kirche, jene Männer, in denen Baumgarten die Bollender
der protestantischen Prinzipien erkennt! Es ist richtig, daß sie für die Glaubens¬
freiheit in tkssi eintraten, aber ein Milton will die Katholiken davon ausge¬
schlossen wissen, weil sie einem fremden Herrscher in Rom Gehorsam schuldig
seien und er es für widersinnig hielt, denen Freiheit zu gewähren, deren herrsch¬
süchtiges Streben nur auf Unterdrückung der Freiheit gehe. Und ebenso dachte
Cromwell. Der Katholizismus sollte in England keinen Raum finden. Eng¬
land seiner providentiellen Bestimmung als Schutz- und Großmacht des Pro¬
testantismus entgegen zu führen, die Weltherrschaft des Protestantismus anzu¬
bahnen: das war der Grundgedanke seiner auswärtigen Politik. Und seine
innere Kirchenpolitik? Es ist wahr, daß er keine protestantische Denomination
verfolgt hat, anfänglich gestattete er auch deu Episkopalisteu, nach ihrer Weise
Gottesdienst zu halten, und unterdrückte denselben erst, als von ihrer Seite
ein Empörungsversnch gemacht wurde. Aber dennoch wurde der Jndependen-
tismus von ihm bevorzugt, und die Presbyterianer klagten über Zurücksetzung
und Hemmung."') Blicken wir aus die Niederlande, so finden wir auch hier
eine staatskirchliche Gestaltung des Protestantismus, und zwar keineswegs eine
tolerante. Aus der Dortrechter General-Synode, die vom 13. November 1618
bis zum 9. Mai 1619 tagte, wurden die Arminianer verurtheilt, und in
Folge dieses Beschlusses, der durch Denkmünzen verherrlicht wurde, mußten
diese Holland verlassen. Erst im Jahre 16Z6 durften sie zurückkehren, und
wurde ihnen freier Gottesdienst gewährt.
Wir sehen überall, wo der Protestantismus Macht gewann, auf lutherischem
wie reformirten Gebiet, hat er einen rechtlichen Zusammenhang mit dem Staat
gesucht und theokratische Tendenzen gezeigt. Sogar der Protestantismus, der,
solange er unterdrückt war, für die Glaubensfreiheit eintrat, verlor die Sym¬
pathie für diese, sobald er zur Herrschaft gelangt war. Die dem Druck Eng¬
land's entfliehenden Puritaner gründeten in Amerika Staatskirchen.""') Nur
kleine Flüchtlingsgemeinden in Deutschland haben eine dem Staat gegenüber
mehr oder weniger freie Stellung sich errungen und bewahrt. Ziehen wir
schließlich die Kirche der drei ersten Jahrhunderte in Betracht, so ist es ja
gewiß richtig, daß dieselbe durch Tiefe des Glaubens und Reinheit des Wandels
sich auszeichnete und nur durch diese Eigenschaften auf rein innerlichem Wege
eine so große Anziehungskraft anf die heidnische Welt ausgeübt hat, aber wir
werden auch eingestehen müssen, daß sie mit dem sie bekämpfenden Staat in
keine innere Beziehung treten konnte. Von dem Augenblick an aber, wo dies
ihr möglich war, ist sie sich auch dessen bewußt geworden, daß sie mit dem
Staat eine erziehende Aufgabe am Volksleben auszuüben habe, und hat Pri¬
vilegien nicht verschmäht, die ihr dies Werk erleichterten.
Doch kehren wir zu den protestantischen Kirchen zurück. Es war in
der zweiten Hälfte des siebzehnten und im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts,
daß das Verhältniß zwischen Staat und Kirche eine neue Wendung nahm.
Die Nothwendigkeit, mehrere kirchliche Denominationen in sich aufzunehmen
mit größeren oder geringeren politischen Rechten, wurde die Ursache, daß der
Staat eine Stellung über den einzelnen kirchlichen Parteien einnahm. Das
Bewußtsein, schlechthin ans eigenen Füßen zu stehen, verleitete ihn freilich,
territorialistisch die Selbständigkeit der Kirche zu mißachten und ihre Angelegen¬
heiten nach seinem Ermessen zu reguliren. Wie er in seiner Ausgestaltung
zum Beamtenstaat nivellirend die geschichtlich gebildeten Besonderheiten in seinen
Verwaltuugsmechanismus absorvirte, so entging auch die Kirche diesem Ge¬
schicke nicht.
Ein anderes Moment, das uns die veränderte Stellung des Staates zu
den Kirchen begreiflich macht, ist der Einfluß der modernen Philosophie, welche
den Gesichtskreis erweiterte und der Idee der Toleranz Raum schaffte.
War so die staatskirchliche Gestalt des organischen Zusammenhangs beider
Faktoren erschüttert und mußte im Laufe der Zeit in Folge der parlamenta-
tarischen Regierungsform auf der einen, in Folge des immer mächtiger wer¬
denden Dranges nach einer repräsentativen Kirchenverfcifsung auf der andern
Seite schließlich aufgelöst werden, so ergab sich damit noch keineswegs die
Nothwendigkeit, diesen organischen Zusammenhang selbst zu beseitigen, viel¬
mehr war es angezeigt, denselben in einer sowohl den gegenwärtigen Verhält¬
nissen als auch dem Begriff dieses Zusammenhanges entsprechenderen Gestalt
wieder herzustellen. Eine solche finden wir in der landeskirchlichen Verbindung
zwischen Staat und Kirche, wie sie jetzt in den meisten deutschen Territorien
besteht. Wir verkennen die unleugbaren Uebelstände dieses Verhältnisses nicht,
aber wir halten sie für geringer als die Nachtheile, welche für Staat und
Kirche aus der Zerreißung des in der Landeskirche sie verknüpfenden Bandes
entstehen würden. Ebenso verkennen wir auch nicht die Vorzüge freikirchlicher
Bildungen, wie sie sich uns in Amerika zeigen, aber weder halten wir sie im
Allgemeinen für so bedeutend, daß die sie begleitenden Nachtheile von ihnen
aufgewogen würden, noch erscheinen sie uns als ein Ziel, das für die deutschen
Verhältnisse erreichbar wäre, ohne die tiefsten Erschütterungen und die größten
Schädigungen für unser Volk herbeizuführen. Wir verzichten darauf, den
Beweis für diese Behauptungen hier von neuem zu führen und verweisen
auf unsere früheren eingehenden Erörterungen in diesen Blattern.") Nur dies
eine wollen wir bemerken. Baumgarten's Konstruktionen ruhen auf dem
fundamentalen Irrthum, daß er die pädagogischen Aufgaben verkennt, die Staat
und Kirche am Volke auszuüben haben. Daraus entspringt sein Radikalismus.
Daraus erklärt es sich auch, daß ihm alles Verständniß dafür fehlt, daß
die Einführung der obligatorischen Zivilehe einen so starken Widerstand ge¬
funden hat und in bestimmten Kreisen noch gegenwärtig keinen Beifall findet.,
Referent hat noch vor Einführung des Zivilehestandsregisters dieselbe als eine
unabweisliche Nothwendigkeit angesehen und sich in diesem Sinne in akade¬
mischen Vorlesungen ausgesprochen, aber das hat ihm immer fern gelegen,
die Widerstrebenden des Hierarchismus anzuklagen. Es war eine fehr ernste
Frage, vor welche die gestellt wurden, in deren Hand die Entscheidung lag.
Und sie sind sich dessen sehr wohl bewußt gewesen. Es handelte sich darum,
auf ein nicht geringes Maß pädagogischer, versittlichender Einwirkung auf
das Volksleben zu verzichten. Denn so liegt es nicht, daß die Vollziehung
der Eheschließung durch die Diener der Kirche an sich eine Beeinträchtigung
des Staates in sich schließe. Wir berufen uns auf das Urtheil eines Mannes,
den wohl Niemand hierarchischer Sympathien bezichtigen wird, der freilich aber
auch nichts von Radikalismus und Fanatismus in sich hatte, auf Trendelen¬
burg. Seine Worte sind so zutreffend und beachtenswerth zur rechten Würdi¬
gung dieser Angelegenheit, daß wir nicht umhin können, sie hier im Zusammen¬
hange anzuführen: „Es ist — ein richtiger Zug des Gemüths, daß die Ehe,
welche die tiefsten ethischen Seiten hat, der Kirche, d. h. dem auf den Glauben
an das Göttliche gegründeten ethischen Gemeinwesen, in Obhut gegeben wird,
und der Staat der Kirche mit der Weihe die Fürsorge sür die rechtlichen Be¬
dingungen der Ehe überläßt. Wo freilich im Widerspruch mit dem, was sein
sollte, aber in der Konsequenz dessen, was geschichtlich ist, Staat und Kirche
in der Auffassung des Eherechts in Widerstreit gerathen, da wird das bürger¬
liche Gesetz, wie in der Zivilehe geschieht, zunächst seine Ansprüche zur Geltung
bringen und die Ansprüche der Kirche als eine innere Sache ihr und ihren
Genossen anheimgeben.*)
Ebenso ist auch Baumgarten im Irrthum über die weit verbreiteten Be¬
strebungen, in dem Trauungsakt anch gegenwärtig noch den Begriff des Zu¬
sammensprechens festzuhalten. Mag hier und da mit demselben eine Tendenz,
die Bedeutung der bürgerlichen Eheschließung herab zu drücken, sich verbinden,
im Wesentlichen liegen ihm andere Motive zu Grunde. Die Frage, die hier
in Betracht kommt, ist in erster Linie eine liturgische. Es handelt sich um die
Aufgabe, dem liturgischen Akt das höchste Maß der Feierlichkeit zu verleihen, das
sich mit der Wahrheit desselben vereinigen läßt. Dies ist dann erreicht, wenn
in dem zu segnenden Paare durch die Trauformel das Bewußtsein erzeugt
wird, daß ihre eheliche Gemeinschaft, wenn auch durch menschliche Faktoren,
durch ihren gegenseitigen Konsensus sowie durch die diesen legitimirende staatliche
Vollziehung, schließlich doch von Gott selbst begründet ist. Hat nun das ehe¬
liche Leben thatsächlich schon begonnen, bevor die kirchliche Trauung stattfindet,
so fehlt für eine Formel, die einen solchen Inhalt hat, die innere Möglichkeit.
Anders da, wo die Trauung vor dem wirklichen Anfang des ehelichen Lebens
erfolgt, wo sie also, wenn auch nicht rechtlich, so doch thatsächlich dasselbe herbei¬
führt, wo in ihrem Auftrag, als ihr Mandatar, die Kirche durch ihren Diener
beide Theile zusammenfügt, da ist es statthaft, eine solche volle Formel zur
Anwendung zu bringen. Referent hat anf der preußischen Provinzial-Synode
dieses Jahres als eine geeignete Fassung den Begriff des „Zusammengehens
oder Vereinigens oder Traums d. h. auf Treue hin Uebergebens" bezeich¬
net, der geschichtlich wohl begründet ist und auf mittelalterliche und reforma¬
tionsgeschichtliche Kirchenordnungen sich berufen kann, also auf eine Zeit zurück¬
geht, in welcher das Verlöbniß eheschließende Kraft besaß, und die Trauung
den faktischen Beginn der Ehe vermittelte. Aber auch der Begriff des Zu¬
sammensprechens erscheint unter der Voraussetzung zulässig, daß er keine recht¬
lichen Beziehungen, sondern nur das sich durch das Wort vermittelnde Zu¬
sammengehen vermitteln will.
Von hierarischen Bestrebungen ist hier keine Spur, es handelt sich, wie
gesagt, nur um eine liturgische Frage. Und man sollte eben deshalb sie daran
gewöhnen, sie unbefangen und leidenschaftslos zu beurtheilen. Auf dem
linken Rheinufer besteht bekanntlich seit einem halben Jahrhundert beides zu¬
sammen, die Zivilehe und das zusammensprechende Trauformular, ohne daß das
Ansehen der ersteren gelitten und ohne daß das letztere Anstoß erregt hätte.
Wir haben damit hinlänglich die Angriffe Baumgarten's gegen eine orga¬
nische Verbindung zwischen Staat und Kirche auf ihr Recht hin geprüft. Unser
Urtheil mußte dahin gehen, daß sie die Mängel derselben maßlos übertreiben
und ihre Segnungen verkennen.
Anders stellt es sich, wenn wir die Angriffe, die Baumgarten gegen den
Ultramontanismus und das Jnfallibilitäts-Dogma richtet, in das Auge fassen.
Hier können wir nur unsere volle Zustimmung aussprechen. Hier sind seine
Darlegungen vortrefflich, der geschichtliche Nachweis von der noch immer fort¬
wirkenden berüchtigten Bulle Bonifaz' VIII. Ilnura SÄNctÄUi ist meisterhaft
durchgeführt. Nur eine Ergänzung und eine Ausstellung sei uns gestattet.
Baumgarten's Schrift ist offenbar verfaßt vor dem Regierungsantritt Leo's XIII.,
und so konnte er auf die veränderte Lage der Dinge nicht Rücksicht nehmen.
In Beziehung auf diese nur ein Wort. Daß wir nicht nach Canossa gehen
werden, dafür bürgt uns die Persönlichkeit des Reichskanzlers, und wir siud
ohne Sorge. Dagegen sind wir es nicht in einer andern Beziehung. Es ver¬
lautet, daß die Errichtung einer Nuntiatur in Berlin nicht außerhalb des
Bereichs der Möglichkeit liege. Das würden wir auf das Tiefste beklagen.
Es mag sein, daß die Verhandlungen mit Rom zeitweilig dadurch gefördert,
unter Umständen sogar einem günstigen Ausgang entgegengeführt werden können.
Ein Nuntius vermöchte ja auf die Führer des Zentrums und auf renitente
Bischöfe im Sinne der Nachgiebigkeit gegen die Regierung einen Druck auszu¬
üben. Das ist alles möglich. Aber bei der Errichtung von bleibenden In-
stitutionen dürfen nicht momentane Vortheile maßgebend sein, vielmehr müssen
sie nach dem Werth geprüft werden, welcher der Natur der Sache nach ihnen
zukommt und der sich, abgesehen von zufälligen und deshalb nur kurze Zeit
währenden Wirkungen, im geschichtlichen Leben zur Geltung bringen muß. Wenn
wir nach diesem Maßstabe nun die Errichtung einer Nuntiatur würdigen, so
ergibt sich, daß sie durchaus schädliche Folgen mit sich führt. Dieselben erkennen
wir zuerst darin, daß das Papstthum, das gegenwärtig nur als eine ausschlie߬
lich kirchliche Institution zu betrachten ist, die Autorität einer politischen Sou¬
veränität empfängt. Die Genehmigung einer Nuntiatur schließt die Anerkennung
einer im Papstthum vertretenen kirchlichen Weltmonarchie in sich. Wir finden
sodann in derselben eine Stärkung des Kurialismus gegenüber dem Episko¬
palismus. Nun geben wir gern zu, daß in dieser Hinsicht seit dem Vatikanum
nicht mehr viel zu verderben ist, die Macht der Bischöfe ist jetzt schon auf ein
Minimum reduzirt, aber sollen sie denn völlig vernichtet werden, sollen die
Bischöfe und damit der Klerus überhaupt nur willenlose Organe der Kurie
werden? Verfolgen nicht die Maigesetze das Bestreben, dem katholischen Klerus
eine nationale Bildung zu geben, also auch den ans ihm hervorgehenden Epis¬
kopat mit den nationalen Interessen in einen lebendigen Zusammenhang zu
versetzen, und wird nicht durch die Begründung einer Nuntiatur, die naturgemäß
den nationalen Faktor und das aus ihm sich nothwendig erzeugende Selb¬
ständigkeitsbewußtsein niederdrückt, dieser Tendenz der Maigesetze entgegen ge¬
wirkt werden? Soviel zur Ergänzung. Und nun noch ein Wort der Abwehr,
das uns von Neuem zu der Frage nach dem Recht einer organischen Ver¬
bindung zwischen Staat und Kirche zurückführt.
Baumgarten spricht am Schlüsse seines Buchs den ungeheuerlichen Ge¬
danken aus, daß wenn die von ihm in Aussicht genommene Christkirche er¬
schienen sei, das deutsche Reich den Gliedern der Papstkirche, weil sie einem fremden
Herrn gehorchten, die Rechte deutscher Staatsbürger entziehen müsse. Verliert dieser
Gedanke etwas an Paradoxie dadurch, daß Baumgarten voraussetzt, die katholische
Kirche werde dann an Glanz und Umfang sehr reduzirt sein, so ist er doch
immer paradox genug. Denn ist diese Kirche so gering und schwach geworden,
daß ohne Gefahr einer Empörung der katholischen Bevölkerung diese so ge¬
schädigt werden können, dann ist eine solche Entrechtung durch die Interessen
des Reichs nicht geboten. Ist aber auch in dieser idealen Zeit die katholische
Kirche noch so stark, daß der Staat ihre politische Ohnmacht wünschen muß,
so wird sein darauf gerichtetes Streben eine Empörung hervorrufen, welche das
deutsche Reich nicht blos in seinen Grundfesten erschüttern, sondern völlig ver¬
nichten müßte. Und schließlich, wie wenig verträgt eine solche Proskription des
Katholizismus sich mit der Proklamation des Prinzips der Religionsfreiheit
und der Trennung von Kirche und Staat! In dem Zukunftsstaat Baum-
garten's würde weniger Freiheit des religiösen Bekenntnisses herrschen, als in
dem Staat der Gegenwart, der beides mit einander zu vereinigen weiß, die
Ertheilung des staatsbürgerlichen Rechts, abgesehen vom religiösen Bekenntniß,
und die Privilegirung der religiösen Gemeinschaften, denen die große Mehrheit
des Volks angehört, und die an demselben die Aufgabe einer sittlichen Päda-
gogie erfüllen.
Wo immer Bergfesten ans einem geschichtlich häufig erschütterten Boden
aufsteigen, werden sie den natürlichen Zufluchtsort der in den Kämpfen unter¬
liegenden Völker bilden, und die nacheinander aufgenommenen Trümmer ver¬
schiedenartiger Stämme modelliren sich auf dem engen Raume des allem be¬
wohnbaren Terrains der Hochthäler zu einem neuen charakteristischen Typus.
In Bergländern kann deshalb ebensowenig die unberührte Wiege der
UrVölker gesucht werden, wie die Quellen der Kultur, die man früher ihren
Gipfeln entspringen glaubte, während sie sich doch erst in den Ebenen aus viel¬
fachen Zuströmungen im Gebiete mächtiger Flüsse entwickelten. Aus welcher
Mischung von Völkern sind nicht z. B. unsere Tyroler hervorgegangen, wie
ist die Fluth der Völker, mit den noch immer räthselhaften Rhätiern beginnend,
nicht gerade über dieses Alpenland dahingeranscht. Und sie alle hinterließen
Spuren und Bodensatz, die in den heutigen Tyrvlern fortleben.
So auch im Kaukasus, dessen Sprachgewirr und Völkerbuntheit schon
Strabo hervorhebt. Einheit der Race ist dort ein kaum findbarer Begriff,
und Radde's Verdienst war es, schon vor zwölf Jahren darauf hingewiesen zu
haben, daß das schwer zugängige freie Bergvolk der Swanen nicht etwa ein
ursprünglicher Stamm, sondern vielmehr, trotz seiner Abgeschiedenheit und
seines seit dem Alterthum unveränderten Namens, ein aus fremden Elementen
zusammengewürfeltes Mischvolk ist, dessen höchstgelegenes Dorf fast ebensoviel
Vertreter verschiedener Nationalitäten, wie Häuser auszuweisen hat.
Desselben Forschers Verdienst ist es, jetzt wieder ein Volk des Kaukasus
gleichsam entdeckt zu haben, welches trotz ausgesprochener Eigenthümlichkeit sich
doch nicht als ein ethnisch isolirt dastehendes erweist. Das interessante Werk
Radde's, welches uns mit diesem merkwürdigen Völkersplitter bekannt macht,
sührt den Titel: „die Chewsuren und ihr Land. Ein monographischer Versuch.
Mit 13 Tafeln, vielen Holzschnitten und einer Karte." (Kassel, Theoder
Fischer 1878).
Die Chewsuren wohnen in den höchsten Thälern des Kaukasus, östlich
vom Kasbek-Berge, wo die riesigen Schneewasser dieses riesigen Alpengebirges
zwischen schwarzen Schiefergebirgen sich zum Aragwa-Strome vereinigen. Alles
in allem zählt das Volk, das in acht Genossenschaften zerfällt, nur 6000 Köpfe.
Sie sind grusinischer Abkunft, darauf weisen ihre Traditionen, vor allem aber
die Sprache hin, die ein antikes Grusinisch ist, das sich unbeeinflußt in den
Verstecken des Hochgebirges erhielt. Nun kennen wir die Stellung der Chew¬
suren in der Völkerreihe. Käme es aber darauf an, diese brünetten, schwarz¬
haarigen Leute anthropologisch zu fixiren, so würden wir schwer eine Ant¬
wort geben können. „Ich will aus tausenden der Nachbarvölker den Chew¬
suren herauserkennen, auch wenn er nicht das originelle Kostüm oder die
Rüstung trägt; aber ich kann darum doch keine Diagnose für die Chewsuren
im Allgemeinen niederschreiben," sagt Radde. Sie sind aber ein Mischvolk, von
vorwiegend grusinischer Basis, welches im Laufe der Jahrhunderte aus den
Nachbarbevölkerungen sich in den Verstecken des Hochgebirges bildete und hier
eine große Anzahl schon angebrachter sonderbarer Gebräuche konservirte, andere,
beeinflußt durch eine wilde, unbändige Natur, in sich entwickelte und, sich um die
Außenwelt absolut nicht kümmernd, den antiken Typus erhielt. Aber eines
läßt den echten Chewsuren erkennen: ein Gesicht voll schmisse, wie es der
wildeste Raufbold deutscher Hochschulen nicht schöner aufzuweisen vermag. Der
mit eisernen Spitzzähnen am Daumen getragene Sazeruli-Ring hat den Kops
und das Gesicht fast eines jeden Chewsuren einmal bearbeitet. Die Ohrfeige,
mit ihm ausgeführt, reißt, vom Ohre beginnend die Wangenfläche auf und
streift nicht selten den Nasengipfel wie eine gerecht durchgerissene Quart, und
so sind denn bei den männlichen Chewsnren wenig unverletzte Nasen zu finden.
Die Mädchen dagegen bieten die frischesten und drallsten Körperformen, die
man sich denken kann. „So etwas von strotzender Gesundheit, ohne zu große
Ueppigkeit, wird man schwerlich bei zahmeren Völkern finden."
Begleiten wir kurz dies merkwürdige Völkchen von der Wiege bis zur
Bahre. Das Chewsurenweib darf uicht im Hause oder im heimathlichen Dorfe
gebären; das schwangere Weib ist unrein und kommt in einer elenden Stroh¬
hütte im Gebirge ohne jede Hilfe, nicht selten bei 20 Grad Kälte nieder; da
liegt sie auf Stroh allein, ganz allein ohne irgend welche Hilfe. Und doch
vollzieht sich der W leicht und normal. Dann muß das Weib mit dem Kinde
noch einen vollen Monat in der elenden Hütte zubringen: die Nahrung, unge-
säuertes Gerstenbrot, wird ihr hinaufgeschickt. Bleibt das Kind am Leben, so
wird es vom russischen Popen getauft, erhält aber alte Chewsuren-Namen; die
Knaben: Löwe, Wolf, Panther, Bär; die Mädchen: Sonnchen, Rose, Zitzchen,
Perlchen, Schatz. Schon in der Wiege werden durch die Eltern Ehebündnisse
geschlossen, doch wird die Ehe nicht vor dem 20. Jahre des Mädchens ge¬
schlossen, und es gilt für eine große Schande, wenn dem jungen Paare vor
Ablauf der ersten vier Jahre ein Kind geboren wird. Daher sind die Ehen
der Chewsuren sehr kinderarm. Die Zeremonie der Trauung findet am hei¬
mathlichen Feuerherde statt und sie ist dadurch interessant, daß der Priester
die Kleider des jungen Paares mittelst einer Nadel zusammensteckt oder mit
einem Faden aneinanderheftet. Selbst nach geschlossener Ehe bleibt das Ver¬
hältniß des Mannes zur Frau in der ersten Zeit ein geheimnißvolles, und es
gilt für eine Schande, wenn der Mann seine Frau öffentlich liebkost oder mit
ihr spricht. Ist das Weib mit dem Manne nicht zufrieden, so kann es ihn
wohl verlassen, aber der Mann muß entschädigt werden. Das Maximum dieses
Loskaufpreises beläuft sich auf 80 Rubel, die aber in Rindvieh bezahlt werden.
Eine dem Manne losgekaufte Frau kann wieder heirathen. Untreue der Frau
wurde früher durch Ohren- und Nasenabschneiden bestraft, und Radde sah noch
im Dorfe Blo in dieser Weise verstümmelte Frauen.
Da der Chewsure (wie viele Naturvölker) glaubt, daß die Leiche das Haus
verunreinige, so wird der Sterbende in's Freie gebracht, um dort den Geist
aufzugeben. Dann kommt der Klageweiber Schaar, und das dramatische Leichen¬
gespräch beginnt, wobei der in seinen Kettenpanzer gehüllte Todte unter Anderem
folgendermaßen angeredet wird:
Du schweigst noch? So soll Dein Siegesrnfen
Verstummen zu des Gegners eigner Freud'?
Steh Held der Helden auf! es rostet sonst Dein Schild,
Erblinden will die Schneide Deines Schwertes:
Und das zur Freude Deiner eignen Feinde!
O, laß noch einmal Deine Stimm' erschallen,
Die einst erschütterte die Felsenwände
Und in die Flucht vertrieb der Kisten Schaar.
Steh auf! Steh auf! und wie der Asche gleich
Verwehe ihren Sitz von dieser Erde.
O Gott! Er hört uns nicht und gibt uns keine Antwort.
Echt ritterlich folgt das Pferd des Hingegangenen im Trauerzuge. Die
Beisetzung erfolgt in Steingräber; alle Gleichnamigen werden in ein und das¬
selbe Grab gelegt, die Leichen kommen im Laufe der Zeit übereinander zu
liegen, und zwar schaufelt man die alten Knochen auf die neuen Leichen.
Eine Betrachtung der religiösen Verhältnisse dieses Völkchens zeigt es uns
nominell als Christen, indessen mit mohammedanischen und heidnischen Bei-
Mischungen. Mohammedanischen Ursprungs sind die Verachtung des Schweins,
die Feier des Freitags, das Rasiren des Kopfes, die leichte Lösbarkeit der Ehe
und gelegentliche Vielweiberei. Dem Christenthum entlehnt sind die bis fast
zur Unkenntlichkeit entstellten Gebete der Dekanosse (Priester), die Verehrung
des Kreuzes, die Erwähnung von Petrus und Paulus, die Anerkennung einiger
Heiligen. Da aber viele alte Götter noch bei ihnen lebendig sind, so kann
man die Chewsuren kaum zu den Monotheisten rechnen. Auf das Heidenthum
müssen vor allem die Opferaltäre, die Verehrung heiliger Haine, von den ver¬
schiedenen Göttern zurückgeführt werden. Vollständig beherrscht und nach
eigenem Gutdünken geleitet werden die religiösen Ueberzeugungen und alle aus
ihnen entspringenden Handlungen durch eine geschlossene Priesterkaste, die eine
vollständige Hierarchie bildet. Zu den Obliegenheiten dieser Priester gehört
unter Anderem das Aufmachen des gebrauten Bieres zum Feste, welches in
verdeckten Bottichen in den heiligen Brauereien steht, und die Befreiung der
Kranken vom Teufel, wobei vollständig nach Art der sibirischen Schamanen
oder der nordamerikanischen Medizinmänner verfahren wird.
Jedes Verbrechen bei den Chewsuren kann vollständig durch Bezahlung
gesühnt werden, und als Einheit bei der Bezahlung gilt der Preis einer Kuh,
die 7 bis 10 Rubel werthet. Fragt man, wie viel kostet eine Stute? so lautet
die Antwort „vier Kühe". Was kostet ein Gewehr? „Zwanzig Kühe". Die
größte Strafe fällt auf den Mord, der in Folge von Blutrache ausgeübt wurde.
Zwar ist moralisch nach den Anschauungen der Chewsuren derselbe nicht allein
gebilligt, sondern geboten, doch wird er juridisch aufs Strengste verfolgt. Die
Folgen der Blutrache sind unabsehbare, und nach Radde ist die ganze Land¬
schaft unter sich und mit den Nachbarn der Blutrache verfallen. Daher geht
auch der Ackersmann hinter dem Pfluge im vollen Waffenschmuck einher; viel¬
leicht hat er selbst Niemanden getödtet, aber er erbte die Blutrache von seineu
Vorfahren. Bei Radde findet sich auch eine Taxe, wie die verschiedenen Ver¬
gehen gesühnt werden. Man zahlt für beigebrachte Wunden je nach der Größe
und der Waffe 5 bis 25 Kühe, für Verstümmelung des Daumens 5, des kleinen
Fingers 1 Kuh u. s, w. Nachgewiesener Diebstahl wird mit dem siebenfachen
Werthe des gestohlenen Objektes bestraft.
Das Volk, über welches wir durch Radde's fleißige Schrift zum ersten
Male Kenntniß erhalten, wohnt nur fünfzehn Meilen von der kaukasischen
Hauptstadt Tiflis entfernt. Man sieht daraus, wie Rußland's Macht hier sich
nur äußerlich Anerkennung verschaffen konnte und mit den geringen Steuern
fürlieb nehmen muß. Im Uebrigen regieren sich diese Völker selbst und be¬
stehen, im Rahmen des europäischen Rußland, fort nach der alten Weise ihrer
In dieser Woche hat sich eine Reihe bemerkenswerther Verhandlungen des
Abgeordnetenhauses über wichtigere Angelegenheiten zusammengedrängt. Gleich
der Montag brachte die schon in vorhergehender Woche angekündigte Bespre¬
chung der Sozialisten-Verordnung. Der Vorschrift des Sozialistengesetzes, daß
die Rechenschaft über seine Ausführung dem Reichstage zu geben sei, lag die
Absicht zu Grunde, zur Vermeidung sich widersprechender Beschlüsse die Kon¬
kurrenz der Landesvertretungen in dieser Beziehung zu vermeiden. Gleichwohl
erschien eine Erörterung der die theilweise Verhängung des sogenannten kleinen
Belagerungszustandes über Berlin und Umgegend aussprechenden Verordnung
des Staatsministeriums vom 28. November angemessen, jedoch nur, damit sich
aus regierungsseitigen Erklärungen entnehmen lasse, ob den geglaubten Ge¬
rüchten über neue drohend gewesene staatsverbrecherische Vorgänge etwas zu
Grunde gelegen habe. Hatten wirklich über Berlin Bomben wie neulich zu
Florenz in der Luft geschwebt, und waren durch Umsicht der Behörden Ge¬
fahren beseitigt, an deren Abgrund das Publikum ahnungslos gewandelt, so
würde dieses die Verordnung doppelt gerechtfertigt gehalten haben; jedenfalls
schien es, nach Lage der Dinge, einen Anspruch zu haben, anstatt in acht
Wochen durch den Reichstag, schon jetzt durch Vermittelung des Landtags über
etwa weitere Fortschritte des Uebels aufgeklärt zu werden. Die Debatten vom
9. Dezember haben über diesen Punkt Beruhigung gebracht.
Nach den Erklärungen, welche bei weiterer Berathung des Etats des
Ministeriums des Innern Graf Eulenburg auf Anregung Virchow's gab. stand
fest, daß nicht gerade ein solch' schwebendes Schreckniß die Verordnung veran¬
laßt hat. Der präzise, korrekte und elegante Vortrag des Ministers bewies,
daß der Grund nur in der schweren Verantwortlichkeit lag, in welcher sich die
Regierung im Hinblick auf den ganzen Stand der Sozialistenfrage nach begon¬
nener Ausführung des Reichsgesetzes und nach traurigen Vor gangen in anderen
Ländern, zumal bei der bevorstehenden Rückkehr des Kaisers befand. Diese
allgemeinen Gründe, verstärkt durch die in Berlin begonnene geheime Neuor¬
ganisation der Sozialdemokraten, schien denn auch so einleuchtend, daß Virchow
alsbald gestand, er würde in gleicher Lage ebenso gehandelt haben. Mit jener
Eröffnung hätte daher füglich die Sache beendet sein können. Das war aber
durchaus nicht die Absicht der Fortschrittspartei. Es hieße anch eine Ver¬
leugnung ihres ganzen Wesens, wenn sie solche Gelegenheit, ohne sachlichen
Nutzen nach allen Seiten hin Malicen zu sagen, hätte vorbeigehen lassen. Sie
sandte ihre drei größten Helden vor: anßer Virchow noch Richter und Hänel.
Vermochte ersterer dem Minister nichts direkt anzuhaben, so suchte er ihm
wenigstens durch heftige Anklage gegen dessen Oheim und Vorgänger empfind¬
lich beizukommen. Richtig ist, daß die skandalösen Aufzüge der Berliner
Sozialdemokraten, gegen welche die Polizei nicht einschritt, unter des letzteren
Amtsführung fielen; es war aber ein starkes Stück, diesem vorzuwerfen, solcher
Art die Sozialdemokratie großgezogen zu haben. Ganz richtig wies Graf
Bethusy darauf hin, daß damals und überhaupt seit langer Zeit die Fort¬
schrittler über Uebergriffe der Polizei geklagt. Er hätte auch geradezu sagen
können, daß letztere eben dadurch kopfscheu geworden war. Vor allem aber
hätte vom Minister, welcher den Angriff auf seinen Oheim ruhig hinnahm,
erwidert werden können, daß gerade dieser als der Erste am eindringlichsten vor
der Sozialdemokratie gewarnt hat. Es geschah dies am 28. Januar 1876 im
Reichstage bei Berathung der Strafgesetznovelle; die Bestimmung des § 130
war ganz besonders auf die Sozialdemokraten gemünzt, der Reichstag war
aber blind gegen die Gefahr, so lebhaft sie Eulenburg auch schilderte, und ver¬
warf den Artikel, den er unbedingt für Kautschuk hielt. Der Grund, warum
Virchow den Spieß umdrehte, zeigte sich bald: er kann es dem vorigen Minister
des Innern nicht vergessen, daß derselbe die Gefährlichkeit des wüsten Nörgel¬
systems der Fortschrittler richtig erkannt, so bezeichnet und als die Vorfrucht
jenes Uebels bekämpft hatte. Nun höhnt der Professor diese Bekämpfung,
durch welche nur Schlimmeres bewirkt sei. Auch die „schlechte Politik" des
Kanzlers soll, nach Virchow, die Sozialdemokratie verschuldet haben. Hierauf
wurde ihm jedoch eine Antwort zu Theil, die ihm schon bei vielen früheren
Anlässen hätte gegeben werden sollen: er kann es eben, bemerkte Bethusy tref¬
fend, noch immer nicht verwinden, daß Bismarck die Einheit Deutschland's nicht
nach der Fayon des Fortschritts, sondern auf die einzig mögliche Art bewirkt
hat. Bei seiner ferneren umständlichen Wiederholung der zur Genüge im
Reichstag besprochenen Gesichtspunkte suchte Virchow die Nationalliberalen
durch die gesuchtesten Spitzfindigkeiten zu reizen. Welche Verwirrung kann der
Mann ferner im Lande anrichten durch die Insinuation, daß der Minister kein
Material habe, um die Ausgewiesenen der Billigung des Königsmords zu zeihen!
Als ob je solch' direkter Zusammenhang behauptet wäre! Welche Ermuthigung
endlich für die Sozialdemokraten, das Mitleid für sich angeregt zu sehen durch
die Insinuation, daß man sie härter als die Jesuiten behandele und erst von
einem Orte zum andern Hetzen werde, bevor man sie aus dem Lande jage.
Die Häupter, welche den Sozialdemokraten in Berlin verloren gingen, scheinen
ihnen durch diesen Protektor wieder etwas ersetzt.
Indem wir uns mit Widerwillen von diesem Bilde abwenden, sehen wir
auf der Tribüne Herrn von Ludwig erscheinen. Derselbe, ein wunderbares
Mixtum von Fortschritt, Zentrum und Komik, trieb das Reden von Allotria
auf die Spitze, gefiel sich in so barocken Wendungen, daß uns der Wunsch be-
schlich, die Photographien seiner Wähler zu sehen, und wurde durch den Un¬
willen des Hauses fortwährend, vom Präsidenten nur bei eingehender Darstel¬
lung der Politik Cavour's unterbrochen, konnte auch nicht begreifen, warum
der Präsident seine Bemerkung mißbilligte, die preußischen Prinzen seien mal
in Breslau als Hunde bezeichnet. Mit Virchow den Grund der Sozialdemo¬
kratie in der Politik Bismarck's sehend, verhöhnte Redner schließlich sich selbst
durch die Behauptung, daß die Schuld auch an den endlosen Kammerreden liege.
Die Verhandlung stand auf der vollen Höhe der Parteienverhetzung, als
Richter unter vielfacher Zustimmung die Rede von Ludwig's für eine so schlimme
Erregung des Klassenhasses erklärte, wie sie bei Sozialdemokraten üblich. Er
selbst schien zu meinen, Gleiches dadurch zu vermeiden, daß er die Verordnung
als Beweis für die Wirkungslosigkeit des Sozialistengesetzes bezeichnete. Bei
Richter kann man sich schon längst über nichts mehr wundern; immerhin aber
werden wir durch die Dreistigkeit seiner jetzigen Behauptung frappirt, daß der
glänzende Empfang des zurückkehrenden Kaisers das Werk der Fortschritts¬
partei sei. Am Ende ist dieselbe noch die loyalste! Sie ist vielleicht loyaler
als die Regierung, denn nach Richter hat gerade die Verordnung Handel und
Verkehr beunruhigt. Es war doch wirklich viel zu gutmüthig, daß Bethusy
die Fortschrittler als die Kraft bezeichnete, die stets das Gute will und stets
das Böse schafft. Hänel trat mit seinem Verlangen nach Angabe bestimmter,
die Verordnung rechtfertigender Thatsachen, die doch nur vor den Reichstag
gehören, ganz aus dem Rahmen der hier zulässigen Erörterung und verging
sich im Uebrigen in einer unklaren und widerspruchsvollen Schilderung seiner
eigenen Partei bis auf den römischen König Tarquinius hinab, v. Rauchhaupt
bedauerte zwar, daß die Debatte die Gegensätze der Parteien verschärft, trug
aber doch selbst etwas dazu bei, indem er die Hinüberziehung der sozialdemo¬
kratischen Wähler in das eigene Lager als Zweck des jetzigen Vorgehens der
Fortschrittler angab. Endlich konstatirte Laster das Ergebniß der ganzen
Debatte ganz richtig dahin, daß man ihre Ueberflüssigkeit nun allgemein ein¬
sehen werde, nachdem Partei gegen Partei die Gelegenheit benützt, sich soviel
wie möglich wechselseitig in der öffentlichen Meinung zu schaden.
Einmal auf unfruchtbarem Boden, erlebte das Haus am 9. Dezember
auch noch etwas Kulturkampf, der sich, wie jene Debatte, uuter der Firma des
Etats des Ministeriums des Innern abspielte. Bachem beschwerte sich in ein¬
stündiger Rede über Schwierigkeiten, welche die Katholiken jetzt fänden, um zu
höheren Aemtern zu gelangen. Minister Eulenburg leugnete entschieden eine
Parteilichkeit und deutete an, daß die Anstellung von den Katholiken weniger
genehmen Beamten nöthig werde, weil diese den loyal die Gesetze befolgenden
Beamten die gesellschaftliche Stellung zu erschweren pflegten. Aus dieser Kund¬
gebung scheint zum ersten Mal hervorzugehen, daß der neue Minister auf dem
Boden der bisherigen Kirchenpolitik steht.
Dem Parteihader folgte am 10. Dezember eine kurze Erfrischung durch
die erste Berathung des Kommunalsteuer-Gesetzentwurfs. Es zeigte sich dabei
wieder, daß die ersten Berathungen von Vorlagen, deren Verweisung an eine
Kommission zweifellos ist, eingeschränkt werden könnten, denn eine Besprechung
der verschiedenen Gesichtspunkte, wie sie hier Löwe vornahm, schließt erfah¬
rungsmäßig eine Wiederholung auch nach der Kommissionsprüfung nicht aus,
sodaß Dasselbe meist zweimal vorgetragen wird.
Die Freude an einer geschäftlichen Debatte dauerte jedoch nicht lange; der
11. Dezember brachte ein neues Schauspiel, dem man mit Unwillen entgegen¬
sehen mußte, das wir aber nun, wo es abgespielt, nicht missen möchten. Kaum
hatte der König die Regierung wieder übernommen, so nahm das Zentrum
mit erneutem Eifer die Versuche zur Nedressirung der kirchenpolitischen Gesetze
wieder auf. Es rechnete dabei ganz augenscheinlich auf den in Folge der Atten¬
tate und der Sozialistengefahr sowohl im Mai dieses Jahres als auch am 5.
und 6. dieses Monats hervorgetretenen Wunsch des Königs, daß das Volk sich
der Religion wieder mehr zuwenden möge. Die hierauf gebauten Hoffnungen
evangelisch Orthodoxer und Ultramontaner datiren schon seit Herbst 1876, wo
der König am Rhein sich über die Schulverhältnisse geäußert. Allen den Ge¬
rüchten über bevorstehende Reaktion, welche nach dem ersten Attentate herrschten,
schien allerdings wenigstens in Hinsicht auf Tendenzen des evangelischen Kirchen¬
regiments etwas zu Grunde zu liegen. War endlich doch auch das damalige
Entlassungsgesuch Falk's nur in Folge des Regierungswechsels hinfällig ge¬
worden. So begreift es sich, daß das Zentrum gleichzeitig mit dem Gerüchte
einer Erneuerung dieses Gesuchs die Zeit für einen neuen Vorstoß gegen die
bisherige Kirchenpolitik der Regierung gekommen glaubte. Der zunächst ein¬
gebrachte Antrag auf Herstellung der Artikel 15, 16, 18 der Verfassung und
der bald folgende Antrag auf theilweise Sistirung des Ordensgesetzes bilden
ein Ganzes. Durch ersteren wurde den Verhandlungen der Regierung mit
Rom vorgegriffen. Die Feindseligkeit der Ultramontanen konnte gegenwärtig
keinen stärkeren Ausdruck finden, als durch die Zumuthung der Herstellung
eines Zustandes, dessen Beseitigung durch das Gesetz vom 18. Juni 1875 dem
Staate erst völlig die Bahn zu einer seiner würdigen Selbstbestimmung der
Grenzen gegen das kirchliche Gebiet eröffnet hatte und die Hauptstütze seiner
bis dahin siegreich behaupteten Stellung bildete.
Aus Bedenken, die in letzter Stunde gekommen, stellte das Zentrum plötzlich
Sondirens halber den Antrag wegen des Ordensgesetzes voran. Hierbei ließ
sich der eigentliche Zweck vorerst noch verdecken durch den Schein, im Interesse
der Menschlichkeit aufzutreten und Mäßigung zu affektiren. Wollte man doch
nur, daß die Auflösbarkeit der am 1. dieses Monats noch bestehenden Ordens¬
niederlassungen, welche sich mit Unterricht und Erziehung der Jugend beschäf¬
tigen, sistirt werden solle. Das konnte so harmlos und wohlgemeint aussehen
und war doch so stark auf die angeblich an höchster Stelle herrschende Tendenz
berechnet. Bachem entwarf ein höchst trauriges Bild eines durch das Ordens¬
gesetz angeblich angerichteten Elends. Er suchte das Mitleid zu erregen sür
die armen „vertriebenen" Ordensfrauen und für die durch Beschaffung von
Ersatz für die Klosterschulen vorgeblich schwer geschädigten Gemeinden. Zur
Illustrirung mußte eine Anzahl unverbürgter großer Zahlen dienen und zur
Krönung der Diabolik wurde der Antrag gar als einer der ersten positiven
Schritte zur Heilung des sozialdemokratischen Uebels dargestellt.
Da ergriff Minister Falk mit völliger Ruhe und in sichtlichem Gefühle
größter Sicherheit das zum Sprung ansetzende Ungeheuer bei den Hörnern,
riß ihm unbarmherzig die heuchlerische Maske ab und warf es rücklings zu
Boden. Er zerriß den gegnerischen Kriegsplan, indem er den eigentlichen Zweck
des Zentrums in den Vordergrund stellte und die Feindseligkeit des Vorgehens
in ihrer ganzen Bedeutung scharf beleuchtete. Man glaubte den personifizirten
Staat zu vernehmen, als Falk unter dem Frohlocken der aufathmenden Freunde
der bisherigen Entwickelung und uuter den leidenschaftlichen Zwischenrufen der
grausam enttäuschten Angreifer die Unabänderlichkeit der staatlichen Stellung
betreffs des Prinzips, unter Anlehnung an das Schreiben des Kronprinzen
an den Papst, so bestimmt proklcimirte, daß man auch sür alle Zukunft scheint
beruhigt sein zu können. Nach Falk's Andeutungen scheint übrigens der Papst
bei aller Friedfertigkeit sich noch nicht entschließen zu können, dem staatlichen
Standpunkte Rechnung zu tragen. Nicht am geringsten wurde das Zentrum
auch durch die Erklärung frappirt, daß es auf dem Gebiete der Schule nichts
zu hoffen habe.
Hiermit war eigentlich der Antrag und der weitere klerikale Feldzug hin¬
fällig geworden. Unter dem tiefen Eindruck jener Rede verhallten treffliche
Ausführungen von Richter-Sangerhausen völlig und die Versuche Windthorst's,
durch neue Angriffe auf Falk, durch sophistische Auslegung jenes kronprinzlichen
Schreibens und durch unvorsichtig übertriebene Klagen über die Lage der
Katholiken das Gegengewicht zu halten, scheiterten völlig. Gegen das Gewicht
von Falk's Rede konnte nichts aufkommen und weitere Debatten wurden durch
die schroffe Form der einfachen Tagesordnung abgeschnitten. Die Fortsetzung
jener Etatsberathung brachte am 12. Dezember ein Nachspiel, indem Sybel
die dem deutschen Verein der Rheinprovinz angehörenden Beamten gegen
Vorwürfe Bachem's in Schutz nahm, wobei er durch den Vorhalt der vielen
Fleischesvergehen katholischer Geistlichen die Klerikalen empfindlich reizte.
Am 13. und 14. Dezember wurde bei Berathung des Etats des Innern
eine gar bunt schillernde Menge von Beschwerden gegen die Verwaltung er¬
hoben. Ihre Beantwortung durch Eulenburg machte fast durchgängig guten
Eindruck; man gewann immer von neuem die Anschauung, daß der Minister neben
großer Festigkeit von den ehrlichsten Absichten erfüllt ist. Die bedeutendste Klage
war die hinsichtlich der Einwirkung der Landräthe auf die Wahlen, hier war
aber die Erklärung des Ministers unbefriedigend. Er will nur die Ausschrei¬
tungen der Landräthe verfolgen, erklärte aber eine Unterstützung der Regierung
durch dieselben für wünschenswert!). Angesichts der großen Beutel von Nach¬
weisen über Mißbräuche der Landräthe bei den letzten Wahlen, welche Rickert,
Richter und Miquel ausschütteten, erscheint die fernere Statthaftigkeit einer solchen
Unterstützung sehr bedenklich, ja die Landräthe werden nunmehr sich geradezu
aufgefordert fühlen, bei den Wahlen im nächsten Sommer einzuwirken. Die
Insinuationen Richter's, als ob Eulenburg die Verwaltungsreform nicht fort¬
zuführen wünsche, stellten sich als irrig heraus, wenngleich der Minister seine
Ziele in dieser Beziehung noch nicht näher andeutete. Röstell's Rede ließ am
14. Dezember nochmals die Mißstände ungenügenden Einschreitens gegen die
bei den Wahlen übereifriger Landräthe hevortreten; die sich hieran knüpfende
Debatte sowie die über die Klagen von Heeremcmn's wegen des zerstörenden
Einflusses des Kulturkampfes auf die Verwaltung der westlichen Provinzen
verlor sich jedoch in Einzelheiten. Der bedeutenden Mehrforderung für Ver¬
stärkung der Sicherheitsmannfchaft Berlin's suchten fortschrittliche Berliner
Abgeordnete durch das Verlangen nach Reorganisation der Berliner Polizei¬
verwaltung Schwierigkeiten zu bereiten, das Haus zog aber, unter Genehmigung
des Betrags, vor, den Minister hierzu nur aufzufordern. Bei dem großen
Zeitverbrauche endete die Woche, ohne daß der Etat des Innern erledigt ist.
Unter den Prachtwerken, die uns zur Besprechung eingesandt wurden,
erwähnen wir mit Freude die zweite Auflage des namentlich durch seine vor¬
züglichen Holzschnitte hervorragenden, von Karl Stieler, Eduard Paulus und
Woldemar Kaden herausgegebenen Werkes Italien (Stuttgart, I. Engelhorn),
das freilich leider bis zum Feste keinesfalls vollendet sein wird. Uns liegen
dermalen nur die ersten Lieferungen vor. Doch lassen diese schon das schöne
Streben aller Betheiligten erkennen. Ein Vergleich mit der ersten Auflage be¬
lehrt uns zugleich darüber, mit welcher erfreulichen Kritik die Unternehmer
weniger gelungene Abbildungen durch tadellose zu ersetzen verstanden.
Als ein „Prachtwerk ersten Ranges" kündigt sich selbst an das nun ab¬
geschlossene Werk Germania von Johannes Scherr, „zwei Jahrtausende
deutschen Lebens kulturgeschichtlich geschildert" (W. Spemann, Stuttgart). Daß
der kunstsinnige, immer das Schönste und Beste anstrebende Verleger Alles
erfüllt hat, was sein Prospekt ursprünglich verhieß, soll gern zugestanden werden.
Jedenfalls bietet das Werk weit mehr, als die Germania auf dem Umschlage
versprach, welche bekanntlich in der Tracht einer Diakonissin dargestellt ist,
welche offenbar ungenügende milde Beitrüge ducht. Druck, Papier, Ausstattung
sind wirklich schön, die Bildwerke meist vortrefflich — einige von ihnen, wie
z. B. gerade die Krönung Friedrich's I. von Preußen in der Schlußlieferung,
freilich auch sehr wenig gelungen, aber nicht durch Schuld des Verlegers und
Holzschneiders, sondern durch diejenige der Herren Künstler. Dagegen tritt
auch bei diesem Werke jener Unstern hervor, welcher schon öfter das beste Streben
dieser Verlagshandlung in seinem Erfolg beeinträchtigt hat. Die Hauptarbeit
ist in die unrechte Hand gelegt worden. Wer die Schreibweise und das Wissens-
und Urtheilsmaß einigermaßen kennt, über welche Herr Johannes Scherr ver¬
fügt, hätte dem Verleger vorhersagen können, welchen geringen Werth der Text
haben würde, der diesem Verfasser übertragen war. So ist denn auch das
ganze Werk ein im höchsten Maße unharmonisches Ding geworden. Die besten
künstlerischen, typographischen, xylographischen Leistungen sind — wir finden
keinen andern Ausdruck — verschwendet worden an einen Text, den kein wirk¬
lich unterrichteter Kenner deutscher Kulturgeschichte genießbar oder gar erfreulich
finden wird, und aus dem der nicht Unterrichtete — wenn dieser überhaupt
das theure Werk liest — nichts lernen kann, weil dem Verfasser vor Allem
jene Eigenschaft gebricht, die den Historiker macht, die Objektivität.
Einzelne geistvolle Essays aus dein Gebiete der Kultur- und Literaturge¬
schichte bieten die „Denksäulen im Gebiete der Kultur und Literatur, von
August Silberstein (Wien, W. Braumüller), unter welchen die „Denksäule"
für Abraham a Sancta Clara und „Neidhart Fuchs, der Banernfeind" die
gelungensten sein dürsten. Dann: die „Dichterprofile aus dem neunzehnten
Jahrhundert" von Adolf Strodtmann, (Stuttgart, Abenheim), welcher so¬
wohl deutsche als ausländische Dichtercharaktere (von deutschen: Hoffmann von
Fallersleben, Freiligrath, Geibel, Herwegh, Dingelstedt, Hebbel, Lingg, Hamer-
ling, Auerbach, Spielhagen, Lewinsky (!); von ausländischen: Frau von Stahl
und Benjamin Constant, Swinburue, Andersen, Almquist) in seiner bekannten
zierlichen Weise vorführt. Diese beiden Werke überragt aber bei weitem Julian
Schmidt durch seine Portraits aus dem neunzehnten Jahrhundert
(Berlin, W. Hertz). Der Altmeister unter den deutschen Literarhistorikern, dessen
hohe Verdienste sogar vom deutschen Kaiser feierlich anerkannt wurden, vereinigt
in dieser Sammlung eine Anzahl der ausgezeichneten Abhandlungen, die er in den
letzten Jahren, namentlich in den Preußischen Jahrbüchern, veröffentlichte. Die
Lebendigkeit und Gründlichkeit der Darstellung und die meisterhafte Komposition
dieser Essays läßt sie zu den besten Arbeiten Julian Schmidt's zählen. Die
Sammluug bietet Abhandlungen über Lord Byron, Fürst Pückler, Carlyle,
Feuerbach, G. Sand, Dickens, Thakeray, Kingsley, Richard Wagner, Flaubert
Zola, Daudet, Erkmann, I. Wolfs, Alwina von M., Reichenau. also nament¬
lich eine fast vollständige Uebersicht über die namhaftesten neuesten Roman¬
schriftsteller der Franzosen.
Zur Beachtung.
Mit übernächstem Hefte beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal
ihres 38. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Postan-
stalte» des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro Quartal
9 Mark.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften, Kaffee¬
häuser und Konditoreien werden um gefällige Berücksichtigung derselben
freundlichst gebeten.
Leipzig, im Dezember 1878. Die Verlagshandlung.
Als Murray sich nach Darnley's Ermordung nach Frankreich begab,
machte er sein Testament, in welchem er seine einzige Tochter der Fürsorge der
Königin empfahl.*) Von den Chatoullenbriefen wußte er damals noch nicht
das Geringste. Aber auch dann hätte Murray noch immer seine Tochter seiner
Schwester und Souveränin empfehlen können, ohne damit ihre Schuldlosigkeit
anerkannt zu haben. — Auch die „geräuschvolle" Art und Weise, mit der Darnley
umgebracht worden ist, ist oft zu Gunsten Maria Stuart's hervorgehoben
worden. Es läßt sich allerdings nicht leugnen, daß schon die Vernunft die
Königin hätte veranlassen müssen, im Falle sie in den Plan ihres Geliebten
eingeweiht war, sich gegen diese Todesart auszusprechen. Wenn man gerecht
sein will, so muß man ferner zugestehen, daß außer den Aussagen der Be¬
diensteten Bothwell's — auf die ich ein sehr geringes Gewicht lege — kein
Beweisstück dafür vorhanden ist, daß die Königin von allen Details Kenntniß
gehabt hat. Dies verringert aber ihre Schuld nur in sehr geringem Grade;
es nimmt ihr nicht einmal völlig den Charakter der Hinterlistigkeit, denn daß
etwas gegen ihren Gemahl im Werke war, hat Maria Stuart so sicher gewußt,
als sie mit Bothwell in einem Liebesverhältnisse stand. Wir besitzen die un¬
zweifelhaftesten Zeugnisse darüber.
Fronde, ihr Gegner, kann hier seine Verwunderung auch nicht verbergen.
„Ein Giftmord," meint er, „würde ihrem Rufe verhältnißmäßig wenig geschadet
haben." Abgesehen davon, daß in Schottland dergleichen nicht üblich war, so
wußte Bothwell sehr genau was er that, als er die „geräuschvollere" Todesart
wählte. Im Besitze der Chatoullenbriefe, besaß er alsdann ein Mittel, die
Königin zur Ehe zu zwingen. Gerade die geräuschvolle, sonst ganz unsinnige
Todesart ist ein wenig beachteter aber sehr schwer wiegender Beweis mehr sür
die Echtheit der Briefe. Durch die Öffentlichkeit des Verbrechens erhielten
diese Briefe erst ihren eigentlichen Werth. Daher auch nach der Vermählung
die seltsame bisher unverstandene Traurigkeit und Verzweiflung der Königin,
der keine Wahl blieb, als sich dem Willen Bothwell's zu fügen, obwohl sie die
Folgen voraussah und von ihrem Geliebten schlecht behandelt wurde. Viel¬
fach ist ferner neuerdings wieder behauptet worden, der Stil der Briefe sei zu
unelegant und roh, um von der Königin herzurühren, auch die Sonnette seien
zu schlecht, um als das Werk einer dichterisch so begabten Frau gelten zu können.
Maria's Briefe seien fein, elegant, harmonisch, diese das Gegentheil „vo^rss,
Ap^^ra emä tbs rasrsst xatoti^ort", wie Skelton sie nennt.
Die Sonnette sind indessen gar nicht so übel, besonders wenn man die¬
selben mit jenem Gedichte der Königin auf ihren ersten Gemahl vergleicht; über¬
dies Form und Wortlaut, wie sie jetzt vorliegen, wahrscheinlich nicht die ur¬
sprünglichen. Endlich besitzen wir nur sehr wenige wirklich intim und vertrau¬
lich geschriebene Briefe der Königin. Diese Briefe aber, wie z. B. die an den
Herzog von Norfolk, den Maria nie gesehen hat, verrathen im Stil eine merk¬
würdige Aehnlichkeit mit jenen Chatoullenbriefen, wie dieses Burton fein und
treffend hervorgehoben hat"), und dasselbe gilt in noch weit höherem Maße von
jenem bekannten Briefe, den Maria Stuart in leidenschaftlicher Erregung an
Elisabeth geschrieben hat, in welchem sie die Verleumdungen der Gräfin Shrews-
bury zurückweist. Ein Fälscher hätte überdies diesen Grad von Leidenschaftlichkeit
sicher nicht in die Briefe hineingelegt, er lag im Charakter der Königin; ferner
niemals die zahllosen Kleinigkeiten erwähnt, vor denen man sich bei Fälschungen
gerade zu hüten pflegt. Petit behauptet, — da ihm andere Beweisgründe fehlen
— jenes Sonnet, in dem die Worte vorkommen „meinen Sohn lege ich in
seine Hände" sei allein schon ein Beweis für die Unechtheit, da der junge
Prinz niemals in Bothwell's Händen gewesen sei. Indessen steht nicht da
„habe ich gelegt"; auch soll doch nur damit angedeutet werden, daß Maria
mit ihrer Verbindung ihre und ihres Sohnes Sicherheit vertrauensvoll in
Bothwell's Hände zu legen gedenke. Ganz wunderlich aber ist die Ansicht des¬
selben Schriftstellers, daß Bothwell wenn er im Besitze der Briefe gewesen wäre,
dieselben unfehlbar den Lords in der ^.iuMs T^porus gezeigt haben würde,
nicht minder endlich, daß Vothwell diese Briefe nach seiner Vermählung hätte
zerstören müssen, da es sein Interesse gewesen sei, die geschriebenen Beweise
seiner Schuld zu vernichten. Es waren Beweisstücke für Maria's Schuld,
für Bothwell gab es ganz andere und weit schwerere Belastungsstücke.
Auch muß hervorgehoben werden, daß der Bericht de silva's an Philipp II,
vom 21. Juli 1567 von Petit aus dem Zusammenhange herausgerissen ver¬
werthet worden ist.") Elisabeth war im höchsten Grade erzürnt über Lethington
und die anderen Lords. Ueber die Briefe war sie noch nicht genügend unter¬
richtet. Sie konnte daher gar nicht anders zu de silva sprechen. Merkwürdiger
Weise verwirft Skelton die Echtheit der Chatonllenbriefe nicht vollständig, und
es zeigt dieses, daß er sich dem Eindruck der Prüfung durch die englischen
Kommissäre in Westminster doch nicht hat entziehen können. „Zum Theil", meint
er, „rührten sie wirklich von der Hand der Königin her," doch nimmt er die
beiden aus Glasgow und Stirling datirten Briefe aus. Die anderen seien
von Maria's Hand, jedoch — an Darnley gerichtet und von den Gegnern der
Königin, d. h. in diesem Falle den Fälschern, ihren Papieren entnommen, um
„Wahres mit Falschen zu durchmischen und dem Gefälschten den Schein der
Echtheit zu geben." Er nennt dabei Lethington — Murray nimmt er aus¬
drücklich aus, denn die Briefe seien in seiner Abwesenheit von Schottland ange¬
fertigt worden — geradezu als den Fälscher, was um so thörichter ist, als
Lethington gerade aus politischen Gründen in Westminster die größten An¬
strengungen gemacht hat, um Murray's Anklage und die Vorlegung der Briefe
zu verhindern.
Hingegen ist man, was die direkte Betheiligung und Mitwisserschaft Maria
Stuart's an der Ermordung ihres Gemahls betrifft, bisher denn doch etwas
zu weit gegangen. Daß Mignet den Aussagen der Bediensteten Bothwell's, welche
sie vor ihrer Hinrichtung abgaben, kurzweg vollen Glauben geschenkt hat, ist
mir stets merkwürdig gewesen. Die Wahrscheinlichkeit lag sehr nahe, daß die
zum Tode verurteilten Helfershelfer sich durch eine Betheiligung und Billigung
der Königin zu decken bemüht waren. Entscheidend aber dürfte doch der Um¬
stand in's Gewicht fallen, daß jener Hauptakteur Hubert, genannt French Paris,
erst am zweiten Tage des Verhörs die kompromittirenden Aussagen gegen die
Königin machte, am ersten dagegen nur Bothwell's Anordnungen und Thätig¬
keit schilderte. Der Schluß ergibt sich beinahe von selbst, daß seine letzten Aus¬
sagen ihm von den Gegnern der Königin mit Hinweis auf Rettung abgepreßt
wurden. Dazu gehört vor allem die Erzählung von der kostbaren Decke, welche
die Königin kurz vor der Explosion hätte fortschaffen lassen. Ueber das Verhör
Hubert's und das Urtheil wissen wir nichts. Man beeilte sich, ihn hinrichten
zu lassen, als er Mitte Juni 1569 durch Kapitän Clark von Kopenhagen nach
Schottland gebracht worden war. Eine dringende Aufforderung Elisabeth's, ihn
nach Westminster bringen zu lassen, kam zu spät; er war bereits seit 8 Tagen
todt. Uebereinstimmend wird dann auch von diesen neueren Schriftstellern das
angebliche Testament Bothwell's angeführt, auf welches einzugehen ich hier
um so weniger Veranlassung habe, als dasselbe in neuester Zeit durch Fred.
Schlern in Kopenhagen nach sehr sorgfältigen Untersuchungen in überzeugendster
Weise als eine, wenn auch nicht ungeschickte Fälschung nachgewiesen worden ist.
Sehr heftig wird ferner das Artikelbuch angegriffen. Ohne Frage enthält
dasselbe auch verschiedene Uebertreibungen, wie die Schilderung der Reise der
Königin nach Ulloa, ihres Besuches in Jedburg, des Benehmens Darnley's
feiner Gemahlin gegenüber, indessen sind dieselben für die Hauptfrage von ge¬
ringer Bedeutung. Das ok Mtiolss, welches Hosack indessen aus den
Hvxstvrui wÄQuserixts im R,6Aiswr douss in Edinburgh veröffentlicht hat, ist
keine authentische Abschrift, weit eher ein Brouillon. Wir besitzen leider keinen
Abdruck dieses Dokumentes, sondern kennen nur ungefähr den Inhalt. Der
ganze Ton und Charakter des Hosack'schen Schriftstückes stimmt, wie von Burton
CV. 200) schon mit Recht hervorgehoben worden ist, mit Murray's Vorsicht und
Gründlichkeit gar nicht überein. Die Hauptsachen fehlen, dagegen werden eine
Menge unwesentlicher Kleinigkeiten erwähnt. Alles steht wirr durcheinander,
man sieht gar nicht, daß es sich um ein wirkliches Verbrechen handelt, welches
hier klar gelegt werden soll. Das Ganze macht den Eindruck, als ob der Ver¬
fasser allerhand kleine Sachen in boshafter Weise zusammengestellt habe.*)
Burton nennt das Hoxstorui inÄMserixt nicht ohne Berechtigung das Brouillon
eines der Betheiligten. Als einen neuen bedeutsamen Beweis für Maria
Stuart's Unschuld führt Hosack endlich auch einen allerdings höchst interessanten
Brief des Earl of Sussex an Cecil in's Feld, der aber bei näherer Prüfung
doch ganz andere Dinge enthält, als Hosack uns glauben machen will.**)
Sussex sagt in diesem Briefe nur, „man werde schwer eine Anklage gegen die
gefangene Königin erheben können, denn wenn ihre Gegner die Briefe vor¬
legten, so würde sie dieselben einfach ableugnen und viele von ihnen mit Recht
anklagen, selbst in den Mord gewilligt zu haben, so daß die Beweise noch besser
sein könnten." Deshalb den Schluß zu ziehen, daß Sussex die Briefe für
gefälscht hielt, ist unhistorisch, besonders da er dieselben noch gar nicht ge¬
sehen hatte. Der Brief ist vom 22. Oktober 1568 datirt.
Sussex' Rathschläge gehen dann weiter dahin, man möge am besten Maria
in England festhalten, nachdem man sie des Mordes für schuldig erklärt habe
Wenn dieses nicht angehe, da sie die Briefe ableugnen werde, so solle man sie
dahin bringen, der schottischen Krone zu entsagen. Sussex, der einen sehr
klaren Kopf verräth und außerdem betont, daß Maria's Vermehrung, im
Falle Jakob stürbe, nur den Hamiltons zu Gute kommen werde, was Murray
nicht wünschen könne, besorgt schließlich eine Aussöhnung zwischen der Königin
und ihren Anklägern. Er räth, dieselbe auf jede Weise zu verhindern, da Elisa¬
beth alsdann keine Ursache haben werde, die Gefangene weiter fest zu halten
und ihre Feindschaft zu fürchten sei.*) Er schlägt deshalb vor:
1. Maria Stuart und Jakob in England zu behalten „s.t tds etiMKSs ok
Lvotlxmä". 2. Den Regenten zu unterstützen. 3. Den Regenten mit den Hamil¬
tons zu versöhnen und die Händel in Schottland durch eine englische Inter¬
vention zu schlichten.
Die Szene bei, Uebergabe der Briefe, die auch Mignet in seine Darstellung
aufgenommen hat, ist eine Erfindung Melon's; dasselbe gilt von den Thränen,
welche Murray vergossen haben soll. Von großem Interesse aber ist eine Mit¬
theilung Hosack's über die Stimmung in England während der Konferenzen in
Westminster. Man scheint in der That damals, sogar in der Hauptstadt, sehr
für Maria Stuart eingenommen gewesen zu sein. Die City d. h. der Lord
Mayor gab Lord Herries und den anderen Kommissairen der Königin ein osten¬
sibles Banquet, bei dem diese Stimmung auch zu Elisabeth's größtem Mißver¬
gnügen einen lebhaften Ausdruck gefunden hat.**) Ich komme schließlich zu
Crawford's Aussage. Burton betont mit Recht das Gewicht, welches seine
Aussage in jedem Falle besitzt, dieselbe gab mehr Klarheit als eine jede
Aufzeichnung der Fakta, welche die Lords einreichten. Er war als ein
ruhiger und ehrenwerther Mann bekannt, ein ausgezeichneter Soldat, der
später Hervorragendes leistete. Crawford erklärte das Vorgelesene eidlich für
wahr und treu, „obwohl vielleicht nicht ganz in denselben Worten".***) Er
sagte aus, daß Lennox ihn, über den unerwarteten Besuch der Königin beun¬
ruhigt, gebeten habe, alles was vorgehen würde, zu notiren, und daß der König
ihm unmittelbar nachher die Einzelheiten der Unterredung mitgetheilt habe,
damit er sie seinem Vater berichte. Die Kommissaire Maria Stuart's wiesen
es in Westminster ab, Crawford mündlich darüber zu verhören. Hosack
erklärt es für ganz unmöglich, daß ein Gespräch von zwei Augenzeugen in so
gleichlautenden Ausdrücken wiedergegeben werden könne, und führt als Beispiel
zwei Berichte über eine moderne Gerichtsrede an. Es handelt sich hier indessen
um einige wenige, ganz bestimmte Fragen und Antworten; überdies ist, wie
schon erwähnt, die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß Crawford die Briefe
der Königin zu Gesicht bekommen hat, ehe er seine Aussage verfaßte. Jene
Schreiben von Lennox und Wood, die Crawford um Details über den Aufent¬
halt der Königin in Glasgow ersuchten, über ihre Ankunft, Begleitung, das
Gespräch, ob sie Briefe und Sendungen abgeschickt und Rücksendungen erhalten
habe, beweisen nur, daß Lennox nach Kräften Material zu sammeln bemüht
war, wie ja auch Murray ohne Zweifel sein book ok artiolkL sorgfältig vor¬
bereiten ließ.
Killegrew's Sendung. Der Inhalt dieser vielbesprochenen, Elisabeth
schwer kompromittirenden Sendung, die bei Tytler bereits ausführlich darge¬
stellt ist, wird durch die neuesten Forschungen durchweg bestätigt. Die betreffenden
Aktenstücke sind im Record office von Hosack und Fronde originalster benutzt
worden. Die Partei Maria Stuart's in Schottland war damals wieder sehr
groß geworden. Fast der gesammte Adel gehörte ihr an, wenn auch der Be¬
richt de la Motte Fenelon's an Karl IX., daß nur vier Familien (also Lennox,
Mar, Morton und Glencairn) Gegner der Königin gewesen seien, sicher eine
Uebertreibung enthält. Unzweifelhaft empfand die schottische Regierung nicht
minder als die englische die Unbequemlichkeit von Maria Stuart's Gefangen¬
schaft sehr schwer und hätte ihren Tod mit Freuden begrüßt. In dieser
Stimmung schickte Elisabeth damals Sir Henry Killegrew nach Schottland
mit dem Auftrage, eine Auslieferung der gefangenen Königin, falls man in
Schottland geneigt sei, sie unschädlich zu machen, in Aussicht zu stellen. Die Art
und Weise wurde dem Regenten überlassen, entweder sollte eine heimliche Hin¬
richtung oder ein förmlicher Prozeß stattfinden. Es konnte indessen bei den
Parteiverhältnissen in Schottland nur von einem heimlichen Verfahren die
Rede sein. Ein allgemeiner Aufstand, dessen Ausgang für den Regenten un¬
berechenbar sein konnte, wenn ihm auch der Beistand England's jeder Hilfs¬
leistung der katholischen kontinentalen Mächte gegenüber gewiß war, wäre die
Folge gewesen.
Cecil benutzte bei der Mission Killegrew's geschickt die Aufregung, welche
in England wie in Schottland in Folge der Bartholomäusnacht vorhanden
war. Wenige Tage, nachdem die Nachricht eingetroffen war (8. Sept.), ver-
langte der Bischof von London, Saudys, daß man dieses Attentat mit einer
Hinrichtung Maria Stuart's beantworte.*) Schon am 12. Mai war eine
Kommission niedergesetzt worden, der Mitglieder aus beiden Häusern des Par¬
laments angehörten, um das Verfahren gegen Maria Stuart zu berathen.
Auch war eine Bill durchgegangen, daß, wenn Maria die englischen Gesetze
von neuem verletze, sie wie die Frau eines englischen Peers nach den Gesetzen
behandelt werden solle. Eine Deputation von Bischöfen hatte sich zur Königin
begeben, die sie um Gerechtigkeit gegen die Intriguen der Königin von Schott¬
land ersuchen sollte. Elisabeth wurde dadurch nur in ihrer Absicht bestärkt,
die Gefangene nicht länger unter ihrer Obhut zu behalten. Killegrew's In¬
struktionen datiren vom 10. September.**) Es wird hier als nothwendig be¬
zeichnet, England von der Anwesenheit Maria Stuart's zu befreien. Obwohl
sie gesetzmäßig in England hingerichtet werden könne, sei es „aus
gewissen Gründen" besser, sie dem Regenten und seiner Partei zu überliefern,
vorausgesetzt, daß dieselben das Richteramt übernahmen.*'"*) Es müsse aber Ge¬
währ gegeben werden, daß man sie richten werde, und daß beide Reiche nicht
länger durch sie gefährdet würden, denn „sie im Lande zu behalten und zu be¬
wahren sei das Gefährlichste".-!-) Er möge daher dem Regenten „von sich aus" ff)
mittheilen, daß man eine Aufforderung die Königin auszuliefern nicht zurück¬
weisen werde, doch solle er sehen, den Regenten von selbst darauf zu bringen. Da
Morton erkrankt war,-ff1-) so fand in dieser wichtigen Sache auf seinem Schlosse
Dalkeith eine geheime Konferenz statt, der auch der Regent Mar beiwohnte.
Beide erklärten, der Tod Maria's werde ihnen erwünscht sein, denn nur durch
ihn würden sie von allen ihren Sorgen befreit werden. Morton versicherte,
daß Maria Stuart bereits 3 Stunden nach ihrer Ankunft in Schottland hin¬
gerichtet sein werde,*f) wenn man ihre Bedingungen annähme. Ein Prozeß
werde nöthig sein, ebenso der Tod dem Adel und der Geistlichkeit mitgetheilt
werden müssen, nachdem ein heimliches Verfahren stattgefunden habe. *ff) Er
stellte dann sehr präzise Bedingungen. Erstens müsse Elisabeth den jungen
König offen und ohne Reserve anerkennen und sich als seine Protektorin be¬
kennen, zweitens müsse das englische Parlament durch ein Gesetz feststellen,
daß die Verurtheilung Maria Stuart's die Rechte des jungen Königs auf die
englische Krone nicht beeinträchtige, drittens müsse ein Bündniß zwischen Schott¬
land und England geschlossen werden, gegen alle, die aus religiösen oder
anderen Ursachen eines der Reiche angreifen würden, auch müsse das Kastell
von Edinburgh, welches sich noch immer in Maitland's und Kirkaldy's Besitz
befand, unter des Königs Autorität gebracht werden.
Er verlangte endlich und vor allem eine sehr starke Bedeckung für den
Transport: die Earl von Huntington und Bedford müßten bei der „Ausfüh¬
rung" zugegen sein mit 2—3000 Mann englischer Truppen.*) Wie die Doku¬
mente beweisen, sollte daraufhin der Vertrag geschlossen werden. Mit Sicher¬
heit ist indessen nicht daraus zu entnehmen, — und man hat dies gethan —
daß man in Schottland die heimliche Hinrichtung Maria Stuart's wirklich
beabsichtigt habe. Auch Burton weist darauf hin, daß die Sätze nicht recht
deutlich sind, und daneben auch von einem öffentlichen Prozesse die Rede ist.
Daß Elisabeth den Schotten nicht recht traute, geht daraus hervor, daß sie
Geiseln für die Ausführung verlangt hat.**) Wenn Morton zu Killegrew
sagte, das Gericht müsse heimlich sein Urtheil sprechen, so geht daraus nur
hervor, daß er die Verhandlung nicht vor das Parlament bringen wollte.
Killegrew berichtete, es sei doch sehr zweifelhaft, ob Maria zum Tode ver¬
urtheilt werden würde, schuldig finden werde man sie, aber das genüge doch nicht.
Regentschaft Morton's. Ueber die Beziehungen der gefangenen Königin
zu ihrem ärgsten Feinde, Morton, liegt ein neues und höchst interessantes Akten¬
stück vor; es gehört nebst einigen anderen Briefen zu den wenigen bis dahin
unbekannten Dokumenten, die Hosack (im Appendix B.) mitgetheilt hat. Nicht
genug wußten damals Elisabeth's Gesandte das rasche Emporblühen Schott¬
land's unter der starken Hand Morton's zu rühmen.***) Aber gerade die rück¬
sichtslose Energie des Regenten, allen Ständen gegenüber, hatte ihm viele
Gegner namentlich unter seinen Standesgenossen zugezogen. Der schwache, eines
Günstlings bedürftige, junge König wurde nach feiner Mündigkeitserklärung
ein Werkzeug jenes Esens Stuart, auch Herr von Aubigny genannt,f) der
obwohl Agent der Guises, sich angeblich aus Liebe zu seinem Gebieter und
durch seine Argumente überzeugt, zum presbyterianischer Glauben bekannt hatte.
Morton's Sturz, Prozeß und Hinrichtung waren Aubigny's Werk. Elisabeth
war über Aubigny's Einfluß in große Besorgniß gerathen. Sie fürchtete eine
spanische oder französische Heirath Jakob's und Vernichtung der englischen Partei.
Sir George Bowes wurde noch vor Morton's Verhaftung in außerordentlicher
Mission nach Schottland geschickt, um eine Aenderung herbeizuführen. Seine
Berichte find vorhanden und von hohem Interesse.
Bowes fand weit größere Schwierigkeiten vor, als er erwartet hatte. Seine
Vorstellungen bei dem jungen Könige, obwohl ihn derselbe sehr zuvorkommend
empfing und seine freundschaftlichen Gefühle für Königin Elisabeth wiederholent-
lich betheuerte, machten wenig Eindruck. Als alle Mittel der Beredtsamkeit, ja
der Drohung erschöpft waren und auch Peter Joung, des Königs Erzieher, alle
Anerbietungen Elisabeth's in dem gewünschten Sinne auf Jakob zu wirken,
zurückgewiesen hatte, *) wurde diese überaus erzürnt. Sie befahl am 31. August
ihrem Gesandten, sich mit Morton in Verbindung zu setzen und um jeden Preis
den Sturz Esne Stuart's herbeizuführen, wenn nöthig mit Gewalt und ver¬
mittelst eines Aufstandes.*'") Am folgenden Tage nahm sie indessen diesen be¬
denklichen Befehl wieder zurück, der ihre ganze Position in Schottland hätte
gefährden können. „Man sei noch unschlüssig, welche Maßregeln er zu ergreifen
habe," schrieb Walsingham an Bowes, „er möge sich noch von Konferenzen ge¬
waltsamer Art fern halten, dagegen noch einmal die Gefahren, welche für beide
Reiche aus Aubigny's Gegenwart entstehen könnten, dem Könige vortragen."
Bowes hatte indessen keinen weiteren Erfolg und verließ daraufhin Schottland.
Morton's Haltung Maria Stuart gegenüber muß mit Hinsicht auf diese
Ereignisse beurtheilt werden. Es war um die Zeit, als Don Juan d'Austria
jenes Projekt zu Gunsten Maria Stuart's entworfen hatte, als die Königin
durch Erzbischof Beaton eine höchst unerwartete Kunde erhielt, nämlich daß
ihr Todfeind Morton, der Regent Schottland's, ihre Rehabilitation und eine
Versöhnung wünsche. Im Frühjahre 1577 hatte ein alter Anhänger Maria
Stuart's, Lord Ogilvie, mit dem Regenten in Edinburgh eine dahin bezügliche
Unterredung gehabt. Morton fing plötzlich an, so erzählt Ogilvie, mit den
Ausdrücken höchster Achtung von Beaton zu sprechen, und gab schließlich seine
aufrichtigen und loyalen Gesinnungen für die gefangene Königin zu erkennen.
Er sei bereit, ihr zu dienen, äußerte er, wenn sie vergangene Dinge vergessen
wolle, und werde alsdann thun, was in seinen Kräften stehe, um eine Restau¬
ration Maria Stuart's herbeizuführen. Als erstes Zeichen seiner Gesinnung
erbot er sich, die oftmals von der Königin verlangten Juwelen in ihre Hände
zu geben. Ogilvie, .der Morton nicht recht traute, berieth sich daraus mit
Sir James Balfour. Balfour, damals Lordoberrichter von Schottland (pro-
siZsnt ot' elk Oourt ot' Lsssion), versicherte ihm, Morton meine es ehrlich und
habe die Absicht, sich von den Geschäften zurückzuziehen und als Privatmann
unter Maria's und Jakob's Regierung zu leben. Er drängte Ogilvie, die Ab¬
sichten des Regenten sogleich Beaton mitzutheilen, er solle hinzufügen, „daß
wenn Beaton die Versöhnung zu Staude bringe, er Schottland einen großen
Dienst erweisen werde."'")
Was Morton zu diesem Schritte bewogen hat, ist nicht klar ersichtlich.
Wahrscheinlich wünschte er in der That, seinen Frieden mit seinen Feinden
zu macheu und sein Leben in Ruhe zu beschließen. Er kannte Jakob's Natur
und sah voraus, daß sein Einfluß mit der Volljährigkeit des jungen Königs
ein Ende haben würde. Durch die harte Herrschaft, die er geführt — obwohl
Schottland derselben eine verhältnißmäßig lange Friedenszeit verdankte — hatte
er sich viel Gegner gemacht. Auch seiue alten Anhänger, die Geistlichkeit und
die Städte, waren damals verschiedener Steuern wegen gegen ihn eingenommen.
Daß Morton es ehrlich meinte, wird kaum bezweifelt werden können, der
Grund wenigstens, warum er einen derartigen Schritt that, ist sonst schwer
ersichtlich. Ging die Königin auf sein Anerbieten ein, so wurde sie, auch
wenn er ihre Absicht an Elisabeth verrieth, kaum dadurch kompromittirt,
da von einer Verschwörung in England selbst nicht die Rede war. Maria
Stuart indessen war von Mißtrauen gegen den Regenten erfüllt. Ogilvie
benachrichtigt Beaton von der Unterredung. Es verging aber eine lange
Zeit, bis die Königin in Sheffield Castle etwas davon erfuhr. Sie war so
argwöhnisch diesen Eröffnungen gegenüber, daß sie in der Sache selbst zu
schreiben unterließ. Sie fürchtete, Walsingham könne seine Hand dabei im
Spiele haben, und ließ Ogilvie nur durch Beaton für seinen Eifer danken.**)
Wie bei jeder noch so unpassenden Gelegenheit zieht Hosack auch hier aus
ihrem Verhalten einen ganz merkwürdigen und kühnen Schluß. Er folgert
mit mathematischer Sicherheit abermals daraus, daß Maria von Darnley's
Ermordung nichts gewußt habe, „denn wäre sie schuldig gewesen, so würde sie
nicht geschwankt haben, Morton's Hand zu ergreifen. Morton dagegen, der
schuldig war, habe sich sichern wollen".*)
Rettungsversuche. Master of Gray. Von Interesse ist ein ver¬
zweifelter Versuch Philipp's II. (Teulet, V. 462), Elisabeth durch den Hinweis
auf die Erbschaft, die ihm durch den Tod Maria Stuart's zufalle, zur Milde
zu bewegen. Er schrieb an Mendoza am 28. Januar, er möge dem englischen
Gesandten in Paris mittheilen, daß die Hinrichtung der Königin von Schott¬
land ihm uur Vortheile bringen und angenehm sein könne, da er dadurch die
beste Gelegenheit erhalte, Herr von England zu werden. Natürlich ohne jeden
Erfolg. Die Beschuldigung Hosack's, Gray habe Elisabeth vorgeschlagen, Maria
nicht hinrichten, sondern vergiften zu lassen, bedarf durchaus des Beweises,
ebenso die Behauptung, daß Walsingham ihm zugestimmt habe.**) Daß Gray
nichts gethan hat, um die Königin zu retten, ist gewiß. Courcelles, der
französische Gesandte, geht aber zu weit, wenn er (31. Dezember) in seinem
Zorn über die Unthütigkeit der schottischen Abgesandten, die seine Bemühungen
so wenig unterstützten, Gray und Archibald Douglas als die Mörder Maria's
bezeichnet.***) In Schottland hat man Gray diese Unthütigkeit später bitter vor¬
geworfen; der allgemeine Unwille gegen ihn war so groß, daß Jakob VI. ihn
von seinem Hofe verbannte.
Jakob hatte keine Liebe für seine Mutter, immerhin war die Hinrichtung
ein Insult gegen sein Haus, und ein Mann von Ehrgefühl würde, wie Burton
mit Recht betont, ganz anders gehandelt haben. Seine Worte „feine Mutter
müsse den Trank, den sie gebraut, nun auch austrinken" sind gemein. Es
kann Jakob nicht zur Entschuldigung dienen, daß man ihm sogleich von dem
Inhalte der Papiere, die man in Chartley gefunden, Nachricht gegeben hatte.
Ihm war somit bekannt geworden, daß seine Mutter ihn enterbe habe. Er
schrieb sogleich zurück, daß er sich in nichts zu mischen gedenke, so lange seine
Mutter nicht mit dem Tode bedroht sei. Walsingham antwortete, daß man
Jakob's offene Zustimmung nicht einholen, sondern die Gefangene gemäß eines
Beschlusses des letzten Parlamentes richten werde,*) Endlich entschloß sich
Jakob doch, von den katholischen Mächten gedrängt, einige Vorstellungen in
London zu machen. Seine Instruktionen an Ares. Douglas und W. Keith
sind nicht bekannt. Nur ein kurzer Brief ist vorhanden, in dem es heißt, sie
möchten weder Worte des Schmerzes noch der Klage sparen. Von einer
Drohung findet sich keine Spur. Als später Gray und R. Melon nach London
gesendet wurden, gab er ihnen Instruktionen mit, die im mildesten Tone ge¬
halten waren. Sie sollten ausführen, daß eine Sonveränin von Unterthanen
nicht gerichtet werden dürfe, daß es ein gefährliches Präzedenz für alle Fürsten
sein werde, und schließlich vorschlagen, daß man Maria weiter gefangen
halten möge.**)
Sein Hauptwunsch war, bei dieser Gelegenheit, selbst auf Kosten seiner
Mutter, eine Bestätigung seines Erbrechtes von Elisabeth zu erhalten. Wir
finden in den Briefen, die zwischen beiden Höfen gewechselt wurden, es ziemlich
deutlich ausgesprochen, daß er um diesen Preis sich jeder Einmischung zu ent¬
halten Willens war***). Gray übernahm die ganze Sendung sehr widerwillig.
Wir besitzen die klarsten Schriftstücke darüber. Noch bevor der Prozeß statt¬
gefunden hatte, schrieb er am 11. Oktober an Archibald Douglas: „tuis is g.
ers-rei in^lehr, to svsick trulz^ dy tuo KivA, our sovsroi^n, u.ot, to mento anz^
msäi^tioir lor Iris motdor; an z^6t tuo eng,lehr is küso b^rÄ on tiro otdor Ms
lor z^on g-na ins, lor ^ imov, as 6va livstd., it öd.M dö Ä statt lor our voll
usaZs;"f) und als das Urtheil gefällt war, und Jakob eine Gesandtschaft zu
Gunsten seiner Mutter uach London zu senden beschloß: „tinz KiriA is vor^
instartt lor Iris noth.gr ana minas to oirÄr^s räh ^itlr g, oommissioir to ttrat
olloot, in es-so z^orr provail not, out I sIiÄll strikt all till I b.Sö,r kron z^on.
?or too Commission lor mis motnor, -k lilro it notuud endlich am 9. Dezember:
„g.s lor this Commission ^ am onarAsä, ^ «zg-nnot osono'v it, virt imsvor to tuo
yosöQ tdsrs M wz^ kÄvour^vie trisnäs, tidal ed.sz?' statt Krä ins s,1ve>.^s
eoristWt, M et^t in mz^ usAveiations. ^ sdaU Kriov votdinK ti^t lor tdsir
eontsutrosrits. Ol tdis ^ssurö tdsni »riä xrowiss it in mz-- n^iris."*)
Wels die Unterzeichnung des Todesurtheils betrifft, so ließ Elisabeth
Davison rufen, mit dem Befehle, das Urtheil fertig mitzubringen. Als
Davison erschien, war die Königin überaus gesprächig, sie fragte nach seiner
Gesundheit und endlich nach dem Urtheil.
Davison überreichte es, und Elisabeth unterzeichnete es rasch und ohne zu
zaudern. Dann fragte sie Davison, ob er darüber bekümmert sei. Dieser er¬
widerte, er sei nur bekümmert über das Schicksal einer ihr so nahe verwandten
Fürstin, er sehe aber ihren Tod als einen Akt der Gerechtigkeit und der Noth¬
wendigkeit an. Elisabeth lächelte und sagte, er möge das Urtheil zum Lord
Kanzler bringen, damit es gesiegelt werde, da der Befehl nicht vor der
Hinrichtung bekannt werden solle. Als Davison sich zum Gehen
wandte, sagte die Königin alsdann noch scherzend zu ihm, ob er nicht glaube,
daß die Nachricht Walsingham tödten werde.**) So die Unterredung. Auf¬
fallend ist es allerdings, daß Elisabeth kein Wort weiter über die Hinrichtung
verlor, unzweifelhaft geht aber aus den Worten, „daß der Befehl vor der Hin¬
richtung nicht bekannt werden solle", hervor, daß sie die Hinrichtung auch voll¬
zogen zu wissen wünschte.
Prozeß und Hinrichtung. Maria Stuart's Antheil an der Ver¬
schwörung Autors Babington's kann nach den in dem Record Office befindlichen
Briefen nicht geleugnet werden. Die unberechtigten Versuche, in verschiedenen
Stellen des kompromittirendsten Briefes Maria's an Babington vom 17. Juli
1586 eine Fälschung Walsingham's erkennen zu wollen, die dieser durch einen
seiner Agenten, Namens Phelips vollführen ließ, müssen ganz entschieden zu¬
rückgewiesen werden.***) Eine Verdächtigung dieser Art ist leicht ausgesprochen,
wenn dieselbe aber unbewiesen bleibt, so geht aus einem solchen Versuche nur
die Keckheit derjenigen hervor, welche das Urtheil des Publikums zu verwirren
bemüht sind. Lsinxsr all^rM K^rst. Gleichwohl verdient Maria Stuart's
würdevolle Haltung und Beredtsamkeit, ja die Klugheit und Kühnheit, mit der
sie ihren Richtern gegenüber operirte, volle Bewunderung. Sie erscheint hier
abermals als eine ungewöhnlich begabte Frau, deren Geistesgaben in nichts
durch die harte Unbill ihrer laugen Gefangenschaft gelitten hatten. Auf die
einzelnen Details, deren Kenntniß wir dem Tagebuche Bourgoing's verdanken,
hier näher einzugehen, würde den Raum, den ich hier beanspruchen kann, weit
übersteigen. Der Herausgeber desselben hätte aber gut gethan, sich nun wenig¬
stens etwas strenger an die Aufzeichnungen Bourgoiug's zu halten und unbe¬
glaubigte Einzelheiten — die hier fehlen — nicht mehr in seinen Text auf¬
zunehmen.*) Auch über die Hinrichtung Maria Stuart's waren bisher eine
Menge unverbürgter Details verbreitet, die Berichten sogenannter Augenzeugen
entnommen waren.""") Es thut wirklich Noth, dieselben, wenn man gewissenhaft
verfahren will, völlig über Bord zu werfen und eine einfache Zusammenstellung
des vorhandenen Thatbestandes an ihre Stelle zu setzen. Der Fanatismus
Fronde's, der ihren Tod mit einem gewissen Triumpf erzählt, wird freilich auch
niemand erwärmen können. Fronde hat sich hier wirkliche Rohheiten zu Schulden
kommen lassen.*'*")
Maria's Hinrichtung ist ohne Frage mit unnützer Grausamkeit in Szene
gesetzt worden. Am 19.-24. November erschienen Beate und Buckhurst in
Fotheringhay, um der Königin das Todesurtheil anzukündigen. Maria konnte
von da an die Ausführung jeden Tag erwarten. Nichts destoweniger ver¬
gingen Wochen, ohne daß etwas Weiteres erfolgte. Die Gefangene fürchtete
bekanntlich zuletzt, als drei Wochen einer doch sicherlich qualvollen Ungewi^eit
verstrichen waren, man werde sie heimlich hinrichten lassen. Sie schrieb an
Elisabeth einen Brief, in welchem sie auf eine öffentliche Hinrichtung drang.
Elisabeth hat denselben nie beantwortet. Der Tod Maria Stuart's rief in
Schottland durchaus keine allgemeine Entrüstung hervor, wie oft behauptet
worden ist. Jakob VI. hatte den Geistlichen befohlen, für seine Mutter öffentlich
beten zu lassen. Sie wiesen es zurück, da dieses indirekt Elisabeth's Verfahren
verurtheilen und Maria's Unschuld anerkennen hieße. Der König ließ darauf
durch den Erzbischof Adamson das Gebet in der Se. Glich-Kirche verrichten
und erschien selbst bei dem Akte. Er fand indessen, von den Gegnern seiner
Mutter herbeigerufen, bereits einen anderen Geistlichen, John Cowper, in der
Kirche vor, dem er befahl, dem Bischöfe seinen Platz zu geben, was dieser un¬
willig that. Er brach in die Worte aus: „Der König werde sich einst dafür
vor dem großen Richter zu verantworten haben."
Jakob's Befehl an die Geistlichen ging auch nur dahin, sie möchten Gott
bitten, daß er seine Mutter erleuchte, und daß die Sentenz nicht an ihr voll¬
streckt werde.
Einige „rasraw'gs ok tus sstg-dös" — Parlamentsmitglieder waren es nicht
— hielten dann ein Meeting ab, um auf die schottischen Gesandten eine Im¬
pression auszuüben. Dies war jedoch die einzige Bewegung zu Gunsten Maria
Stuart's. Nach dem Tode der Königin wandte sich der allgemeine Haß auch
nur gegen Gray, weil man ihm vorwarf, er habe die Hinrichtung eher gefördert
als hintertrieben.
In den letzten oder genauer gesprochen: in dem letzten Jahre ist auf dem
sozialpolitischen Büchermarkte eine Überschwemmung eingetreten, von welcher
sich der Laie nur schwer einen Begriff wird machen können. Täglich, und fast
wäre man versucht, zu sagen: stündlich erblickt irgend eine Veröffentlichung
das Licht der Welt, welche sich rühmt, ein Beitrag zur Lösung der sozialen
Frage zu sein. Vom dickleibigen Folianten bis zum fliegenden Hefte von
wenigen Bogen oder selbst Blättern sind in dieser Sintflut alle Formen der
literarischen Arbeit vertreten; der geistig-sittliche Inhalt dieses ungeheuren Tohu
Wabohu weist alle Grade und Schattirungen von Ehrlichkeit und Unehrlich-
keit, von Verstand und Unverstand, von Kopf- und von Handwerk auf. Und
zwar von Handwerk im handwerksmäßigsten Sinne des Wortes. Es gibt
Leute, welche ihren Kopf gänzlich feiern lassen und doch mit Tinte und Feder
noch umfangreiche Bücher schreiben können; wären diese die Schlimmsten auf
dem Gebiete der neuesten, sozialpolitischen Literatur, so wären wir noch lange
nicht so schlimm daran, wie wir thatsächlich sind. Für die neuesten Retter
und Richter in unseren sozialen Wirren sind Tinte und Feder nur zu häufig
noch viel zu edle und erhabene Dinge; Kleistertopf und Scheere sind die Massen,
mit denen sie schlagen und siegen. Siegen wenigstens, so weit der Unverstand
der großen Menge und leider auch die kritische Stimme eines nicht ganz un¬
erheblichen Theils der Tagespresse entscheiden. In letzterer Beziehung darf
und muß gesagt werden, daß es sich dabei nicht sowohl um eine geflissentliche
Hehlerei, als vielmehr nur um einen gewissen Auswuchs patriotischen Sinnes
handelt, der, sobald eine sozialpolitische Schrift der heutigen Ordnung ein
freundliches und der sozialdemokratischen Agitation ein feindliches Gesicht zeigt,
ohne weiteres Bedenken den Grundsatz anwendet, daß die Flagge die Ladung
deckt. Sollte dieser Gesichtspunkt, was hier dahingestellt bleiben mag, selbst
eine Art relativer Berechtigung beanspruchen können, so sollte er doch unter
allen Umständen gewisse Schranken respektiren; man kann über einen offenbaren
Unfug zur Noth schweigen, weil er das kleinere von zwei Uebeln ist; man
sollte aber niemals das Schlechte loben, weil es noch Schlechteren feind ist. Es
ist weder ehrenvoll noch erfreulich, daß, wer alle Sozialdemokraten kurzweg als
Gauner oder Narren brandmarkt, alle Gründer als nationale Kulturheroen
feiert und alle, welche über Diese wie über Jene ein wenig ehrlicher und sach¬
licher zu urtheilen sich bemühen, für heimliche Helfershelfer der Umsturzpartei
erklärt, sofort als moderner Drachentödter auf die breiten Gänseflügel der
Reklame erhoben wird. Beispiele dieser Art ließen sich gerade aus den letzten
Monaten in unerfreulicher Menge beibringen. Der große Schaden, den dieses
Treiben anrichtet, besteht darin, daß es der Lesewelt, die endlich ein ernstes
und lerneifriges Interesse diesen brennenden Fragen entgegenträgt, eine Menge
literarischen Schundes in die Hände spielt, der nicht nur nicht aufklärt und be¬
lehrt, sondern im geraden Gegentheil die eingehende Beschäftigung mit sozial¬
politischen Dingen gründlich verleidet.
Indessen ist es nicht meine Absicht, dies Thema hier weiter auszuspinnen
oder etwa gar im Einzelnen das unfruchtbare Gebiet zu durchstreifen, auf
welchem solche Sumpfpflanzen gedeihen. Vielmehr möchte ich nur mittelbar
dem erwähnten Uebelstande zu steuern suchen, indem ich die Aufmerksamkeit
des geneigten Lesers auf eine Reihe von Schriften lenke, welche als gesunde
und reise Früchte in unserer sozialpolitischen Literatur der letzten Monate er¬
wachsen sind. Denn auch an solchen fehlt es nicht, Gott sei Dank; man wird
nur sorgsam darauf zu achten haben, daß die nährende Halmfrncht nicht durch
die Unmenge wuchernden Unkrauts erstickt wird. Nach Art und Form äußerst
verschieden, haben die Werke, welche in den nachfolgenden Zeilen besprochen
werden sollen, durchweg gerechten Anspruch darauf, als ernsthafte und wirkliche
Beiträge zur Hebung und Lösung unserer sozialen Wirren, zur Anbahnung
und Förderung der sozialen Reform betrachtet zu werden. Dieser Grundzug
kennzeichnet sie alle, wenn auch natürlich die einen in schwächerer und die
andern in stärkerer Färbung; sonst lassen sie sich freilich unter keinerlei einheit¬
lichem Gesichtspunkte rubriziren. Sie erstrecken sich über alle möglichen Rich¬
tungen des weiten Gebiets, das man mit dem Schlagworte der sozialen Frage
zu bezeichnen gewohnt ist; die Ordnung und Reihenfolge, in welcher sie an
dieser Stelle vorgeführt werden sollen, muß daher mehr oder weniger will-
kührlich sein.
Zunächst mag eine Schrift genannt werden, welche über das ganze Kampf¬
feld, um das es sich handelt. Heerschau abhält, unsere sozialpolitischen Parteien
auf geschichtlichem Hintergrunde gleichmäßig beleuchtet und dadurch eine fühl¬
bare Lücke in der deutschen Sozialwissenschaftlichen Literatur auszufüllen sucht
und in der That auch ausfüllt. Sie trägt den Titel: „Unsere sozialpolitischen
Parteien" (Leipzig, Brockhaus), und ihr Verfasser ist Hans von Scheel, früher
Professor an der Universität zu Bern, seit kurzem Mitglied des statistischen
Amts des deutschen Reichs. Er hat in seinem geistigen Wesen etwas Feines,
Vornehmes, Zurückhaltendes und versteht es in geradezu merkwürdiger Weise,
in seinen Schriften, deren geistige Bedeutung zu ihrer spärlichen Zahl und
ihrem geringen Umfange im umgekehrten Verhältnisse steht, seine eigenen, vom
freihändlerischen Standpunkte ans ziemlich ketzerischen Ansichten eben nur durch¬
scheinen zu lassen, ohne daß seine Darlegungen dadurch irgendwie unwahr
werden. Er ist kein lauter Rufer im Streit, sondern ein denkender und sin¬
nender Kopf, der häufig im Schweigen mehr sagt, als im Sprechen. Hier¬
durch unterscheidet er sich namentlich von Adolf Wagner, mit dem er sonst
wohl, Alles in Allem, etwa auf gleichem Standpunkte steht. Das heißt, auf
einem Staudpunkte, der sich nur durch leichte Farbentöne von dem wissen¬
schaftlichen Sozialismus der Rodbertus, Schäffle, Lange abhebt. Diese Partei-
stelluug hindert Scheel indessen nicht, in seiner neuesten Publikation mit fast
durchweg anerkennenswerther Objektivität rein nach historischen Maßen zu
messen, und wenn er die Hoffnung ausspricht, daß seine Schrift dem großen
gebildeten Publikum ein willkommenes Orientirungsmittel sein werde, so kann
man ihm durchaus beistimmen, da seine Erörterungen ohne soziale und poli¬
tische Voreingenommenheiten geschrieben sind, ferner eine Sammlung der Pro¬
gramme und endlich die nothwendigen Literaturhiuweise bieten.
Daneben wird aber auch der erfahrene Sozialpolitiker das Büchlein mit
aufrichtiger Freude begrüßen. Gerade auf diesem Gebiete üben ja die Phrase
und das Schlagwort eine fast unerträgliche Herrschaft aus; gleich den home¬
rischen Helden überschüttet man sich unausgesetzt mit wahren Felsblöcken don¬
nernder Scheltworte; dadurch schwebt man aber ebenso unaufhörlich in der
Gefahr, den schlimmsten Fehler zu begehen, der politisch überhaupt möglich ist,
den Fehler nämlich der Unterschätzung seiner Gegner. Man hält Spitznamen
für ebenso tödtlich, wie Spitzkugeln, und macht bei der Gelegenheit dann oft gar
böse, Erfahrungen. Deshalb ist es nicht nur eine geistige Erfrischung, sondern
auch eine strategisch sehr nützliche Maßregel, hin und wieder aus dem Brand-
und Schlachtlärm des Tages auf die lichte Höhe der historischen Betrachtung
zu steigen und auch einmal zu begreifen, statt nur zu bekämpfen. Ein ehrlicher
Parteimann wird dadurch an Eifer nichts verlieren, aber viel an Einsicht ge¬
winnen. Gerade auf sozialpolitischen Gebiete ist eine beständige Selbstkorrektur
nothwendig, wenn man sich schließlich nicht in ganz einseitige Schroffheiten ver¬
rennen will. Hier hat jede Parteirichtung, welche eine gewisse Lebenskraft ent¬
faltet, das günstige Vorurtheil für sich, wirklich im Volke zu wurzeln und relativ
berechtigt zu sein. Auf religiösem und reinpolitischem Gebiete mag die Doktrin,
der Glaube, die Theorie parteibildend sein, in Fragen des materiellen Interesses
sind sie es nicht, wie noch in den letzten Jahren die Geschicke des Katheder¬
und Stciatssvzialismus gezeigt haben. sozialpolitisch sind verkehrte Partei¬
programme immer nur der Widerschein verkehrter Zustände; nur indem man
diese aufhebt, widerlegt man jene mit unwiderstehlicher Beredtsamkeit. Diese
Momente lassen es auch für Sozialpolitiker von Fach sehr willkommen er¬
scheinen, daß Herr von Scheel einmal mit eindringender Geschichtskenntniß und
fein abwägenden Urtheil die Entstehung und Entwickelung unserer sozialpoliti¬
schen Parteien seit der großen, französischen Revolution bis auf diesen Tag
verfolgt hat.
Im Ganzen und Großen, wie gesagt, mit anerkennenswerther Objektivität.
Sehr treffend wird beispielsweise nachgewiesen, daß der reaktionäre Sturmlauf
gegen die liberale Wirthschaftspolitik des letzten Jahrzehnts der reine Unsinn
und Widerspruch in sich selbst ist, daß im Ernste Niemand weniger daran
denkt und, ohne sich selbst aufzugeben, auch nur daran denken kann, die gege¬
benen Grundlagen zu verlassen, wie gerade die konservativen Parteien. Bei¬
spielsweise der Bauernstand, den man mit Recht ebenso für einen der gesun¬
desten, wie konservativsten Theile der heutigen Gesellschaft betrachtet, dankt erst
der französischen Revolution und ihren mächtigen Nachwirkungen sein Dajein.
Ueber die Sozialdemokratie urtheilt Scheel vielleicht zu schonend; in schärferer
und stärkerer Weise, als sich sachlich wohl rechtfertigen läßt, betont er ihr Ent-
stehen als eine nothwendige Folge der sozialpolitischen Entwickelung und legt
zu wenig Gewicht aus die vermeidbaren und zufälligen Umstände, welche nicht
in letzter Reihe ihr riesiges Anwachsen ermöglicht haben, allein er verliert
deshalb doch nicht den Blick für den inneren Widerspruch dieser ganzen Partei¬
bildung, den er vielmehr durch eine feine Bemerkung schlagend aufdeckt. Be¬
kanntlich stellt Marx unsere gegenwärtige Wirtschaftsform als Vorbereitungs-
stadinm und Vorschule für die kommunistische Epoche dar, indem er voraussetzt,
daß unter der Herrschaft der freien Konkurrenz der kleine Besitz vernichtet und
in die Hände einer geringen Zahl von Großkapitalisten übergehen werde. In
diesen Großunternehmungen würden die Arbeiter so an das Gefühl der Gleich¬
heit und das Zusammenarbeiten gewöhnt, daß es nnr noch der Entwickelung
des nöthigen Grades von Geschäftskenntniß bedürfe, um die „kapitalistische
Spitze" abzustoßen und das kapitalistische in ein kommunistisches Unternehmen
zu verwandeln. Mit Recht sagt nun Scheel, daß ein Zustand, welcher erst
das Ergebniß einer geschichtlichen Entwickelung sein solle, vernünftigerweise gar
nicht als Grundlage einer Parteiagitation, als das Ziel einer agitatorischen
Thätigkeit gebraucht werden könne. Gelänge wirklich eine Revolution behufs
Abschüttelung der „kapitalistischen Spitze" und Einleitung des kommunistischen
Betriebes, so müßte sie naturnothwendig scheitern, theils aus Mangel an
„kapitalistischen Spitzen", theils, wo bestehende Großbetriebe wirklich in kom¬
munistische Genossenschaften umgewandelt werden könnten, aus Mangel an
geschäftsmäßiger Vorbereitung.
Am härtesten urtheilt Scheel über die sozialpolitischen Strebungen der
liberalen und speziell der nationalliberalen Partei. In diesen Partien seiner
Schrift ist er von dem Vorwurfe tendenziöser Beeinflussung seines geschichtlichen
Urtheils schwer freizusprechen. Darin hat er zwar vollkommen Recht, wenn
er die liberale als die sozialpolitisch konservativste der bestehenden Parteien
kennzeichnet, denn in der That ist es ihre Aufgabe, die wirthschaftlichen Er¬
rungenschaften, welche sie vornemlich hat erzielen helfen, gegen alle Angriffe
von rechts und links zu erhalten und zu schützen. Aber Herr von Scheel geht
weiter und schiebt der liberalen Partei in allerdings nur mehr andeutender,
aber doch auch wieder recht verständlich andeutender Weise unter, daß sie sozial-
Politisch auf jenem ganz ungeschichtlichen Standpunkte des Beharrens stände,
welcher die Möglichkeit und vollends die Nothwendigkeit jeder Weiterentwickelung
leugne. Auch dieser Anschauung ließe sich vielleicht noch zu Gute halten, daß
sie durch die zu ausschließliche Beachtung vereinzelter Aeußerungen einzelner
Wortführer der liberalen Wirthschaftspolitik entstanden sei, aber wenn Scheel
dann endlich einen prinzipiellen, sozialpolitischen Unterschied zwischen der national¬
liberalen und der Fortschrittspartei statuirt, wenn er jener das dumpfe Be-
harren, dieser das freudige Weiterstreben zuweist, so ist schwer zu verstehen,
wie eine so völlige Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse bei einem so geist-
und kenntnißreichen Manne hat entstehen können. Bei gerechter Wägung aller
maßgebenden Momente wird man sagen dürfen, daß durch die liberalen Par¬
teien zwei sozialpolitische Strömungen gehen: die Einen legen das Hauptgewicht
auf die Konsolidation der modernen Wirthschaftsordnung, die, wie Scheel ja
selbst an dem Beispiele der konservativen Parteien zeigt, noch den thörichtsten
Anfechtungen ausgesetzt ist; die Andern halten sie für hinreichend fest und sicher
gegründet, um schon an ihren weiteren Ausbau gehen zu können. Mag man
nun diese oder jene Richtung, oder genauer eigentlich nur Taktik für augen¬
blicklich angezeigter halten, so ist es jedenfalls ganz unhaltbar und unverständ¬
lich, wenn man diese Strömungen sich scheiden läßt durch die politische Partei¬
grenze zwischen den Fortschrittlern und Nativnalliberalen. Sie gehen vielmehr
gleichmäßig durch beide Parteien; viel eher könnte man noch sagen, daß die
Fortschrittler sozialpolitisch konservativer seien, als die Nationalliberalen. Wenig¬
stens ihre maßgebenden Führer, wie Eugen Richter, sind Manchesterleute in
dem minder schmeichelhaften Sinne dieses Worts, während fast alle Katheder¬
sozialisten sich zur nationalliberalen Partei zählen. Der einzige Ruhm, auf
den die Fortschrittspartei besonders pochen könnte, wäre die abenteuerliche
Sozialpolitik von Max Hirsch, der freilich von den Führern der Partei in un-
verholenster Weise verleugnet zu werden pflegt. Seine Feldzüge sind in ihrem
tragikomischen Mißlingen — tragisch, so weit es sich um das Schicksal be-
thörter Arbeiter, komisch, so weit es sich um Herrn Hirsch selbst handelt, —
allerdings zu wenig verlockend, als daß selbst die Fortschrittspartei sich be¬
sonders versucht fühlen könnte, ihre politischen Kosten zu tragen. Ueber diese
Verhältnisse urtheilt Herr von Scheel mit einer seltsamen Befangenheit, welche
die einschlägigen Abschnitte seines trefflichen Büchleins sehr gegen die durch¬
sichtige Klarheit- des übrigen Inhalts zurücktreten läßt. Betheiligt er sich doch
auch praktisch an dem neuesten Scherz von Max Hirsch, der Gründung einer
„Humboldt-Akademie" in Berlin, welche die Sozialdemokratie durch Ausrollen
der Halbbildung vernichten und behufs dieses löblichen Werks den Arbeitern
durch Vortragszyklen von je zehn bis zwölf Stunden über Geologie, Paläon¬
tologie, Philosophie, Psychologie, Erkenntnißtheorie, Aesthetik, Ethik, Rechts¬
wissenschaft, Kunstgeschichte in. eine „harmonische, wissenschaftliche Bildung" ein¬
flößen will. Ein hübsches Pröbchen sozialpolitischer Weisheit, aber durchaus
würdig seines Urhebers, der noch immer der mächtigste Förderer alles dessen ge¬
wesen ist, was er vernichten wollte!
In demselben Verlage erschienen wie „Unsere sozialpolitischen Parteien",
aber ein ganz anderes Werk eines ganz andern Mannes ist Viktor Böhmert's
„Die Gewinnbetheiligung. Untersuchungen über Arbeitslohn und Unternehmerge¬
winn" (Leipzig, Brockhaus). Der Autor ist bekanntlich Direktor des statistischen
Amts für das Königreich Sachsen und liest am Dresdener Polytechnikum über
Volkswirthschaft. Wie zu unseren namhaftesten, so gehört er zu den in unserem
gesegneten Vaterlande nicht allzuhäufigen Nationalökonomen, deren literarisches
Wesen und Wirken dnrch einen tief sympathischen, auch widerwillige Leser
unwiderstehlich fesselnden Zug gekennzeichnet ist. Bei seltenem Wissen zeichnet
ihn eine seltene Bescheidenheit aus, eine freundliche Milde des Urtheils, eine
völlige Abwesenheit von anmaßender Ueberhebung, wie sie bei viel geringerem
Anlasse gar manchem unserer Volkswirthe eignet. Wissenschaftlich steht Böhmert
ganz auf dem Boden der Freihandelsschule, aber sein harmonischer Charakter
bewahrt ihn vor jedem beschränkten Fanatismus, und er berührt sich ziemlich
nahe mit dem rechten Flügel des Kathedersozialismus, wie er etwa durch Held
und Nasse vertreten wird. Gerade seine gewinnenden Eigenschaften erklären
es am leichtesten, wenn er in der literarischen Fehde vielleicht zu reservirt, in
der Auffassung unserer wirthschaftlichen Entwickelung vielleicht zu optimistisch
ist. Für die sozialdemokratische Agitation war es höchst charakteristisch, daß
sie gerade diesen wohlwollenden Mann, den die redlichste Liebe für den Ar¬
beiterstand beseelt, zur Zielscheibe der boshaftesten und verlogensten Angriffe
machte. Namentlich ein Schriftsetzer^ in Zürich zeichnete sich hierin aus; er
schrieb ein dickes Pamphlet gegen Böhmert als einen „Fälscher der Wissen¬
schaft", ein ganz unsagbar widerwärtiges Machwerk, das in Wirklichkeit nur
die Kraftschimpfreden Lassalle's gegen Schulze-Delitzsch, natürlich nach sorg¬
fältigster Ausscheidung aller geistigen Bezüge, zu einem wüsten Brei zusammen¬
rührte, aber trotzdem selbst in „wissenschaftlichen" Kritiken „unparteiischer"
Zeitschriften über den Schellendaus gepriesen wurde, was für die deutsche
Gelehrtenwelt nicht besonders erhebend und für den Gefeierten nicht besonders
günstig war. Denn er verfiel natürlich dem Größenwahn, verließ sein ehrliches
Gewerbe, wurde Schriftsteller, Buchhändler, sozialdemokratische Autorität, ge¬
riet!) in Konkurs, Elend, Noth und verschwand schließlich jenseits des großen
Wassers, ein „Lebenslauf in auf- und absteigender Linie", in dem sich gewisse
deutsche Dinge in einer nicht gerade erquicklichen Weise spiegeln, wobei das
unglückliche Opfer selbst noch lange nicht den peinlichsten Eindruck macht.
Doch dies nebenbei. Das erwähnte Werk Böhmert's erwirbt sich das
Verdienst, in zwei starken Bänden über ein schwieriges, verwickeltes, vielum¬
strittenes Problem der modernen Produktionsweise zum ersten Male erschöpfen¬
des Material beizubringen, so weit augenblicklich überhaupt schon erschöpfendes
Material beizubringen ist. Ans den ersten Blick erscheint die Betheiligung der
Arbeiter am Gewinn als die einfachste, gründlichste nud Nächstliegende Lösung
der Wirren, welche aus der ungenügenden Regelung des Arbeitsverhältnisses in
der heutigenWirthschaftsordnung entstanden sind, und in der That haben es
in früheren Jahren sehr einsichtige und hervorragende Volkswirthe, wie bei¬
spielsweise V. A. Huber, in dieser Weise aufgefaßt. Von anderer Seite wurden
daun freilich wieder ebenso einleuchtende, wie schwerwiegende Bedenken geltend
gemacht und namentlich praktische Versuche, auch solche, die von kundigen Händen
und in immerhin großem Maßstabe eingeleitet wurden, mißlangen mehr oder minder.
Die Folge war, daß die Gewiunbetheiligung in der öffentlichen Meinung auf
den Rang eiuer gänzlichen Utopie herabsank. Hierin hat nunmehr das Werk von
Böhmert wieder einen gewissen Umschlag hervorgebracht, indem es die Streit¬
frage aus dem Gebiete der Theorie, auf welchem sie bei den gleich gewichtigen
Gründen für und wider niemals zu lösen sein wird, auf den Boden der That¬
sachen stellte und an ihnen maß. Für diese dankbare und lehrreiche, aber
ebenso auch schwierige und umfassende Aufgabe war Böhmert, dessen Stärke
nicht sowohl auf dem Gebiete der Sozialwissenschaftlichen Theorie, als in der
individualisirenden, lokalisirenden, spezialisirenden Erfassung und Ergründung
wirthschaftlicher Einzelfragen liegt, ganz besonders geeignet. Er hat eine
Enquete über alle Länder der zivilisirten Welt veranstaltet, um die geschicht¬
liche Entwickelung und gegenwärtige Ausdehnung des Gewinnbetheiligungs¬
systems festzustellen; mit gleicher Sorgsamkeit hat er die einschlägige Literatur
ausgebeutet und eine Fülle theoretischer Gutachten seitens urtheilsfähiger Männer
der Praxis und der Wissenschaft eingeholt. Aus diesem weitschichtigen Material
hat er dann in seiner „Gewinnbetheiligung" ein gleicherweise wissenschaftlich
durchdachtes, wie angenehm lesbares und vielfach felbst unterhaltendes Werk
geschaffen. Er weist an 120 praktischen Fällen ans den verschiedensten Erwerbs¬
zweigen und Ländern nach, daß die Gewinnbetheiligung der Arbeitnehmer sich
zwar durchaus uicht an allen, aber doch an vielen Orten als ein wirksames
Mittel zur Verbesserung des Lohnsystems und zur Hebung der sozialen Zu¬
stände bewährt hat und bewährt. Daraus ergibt sich, daß der dem Antheil-
systeme zu Grunde liegende Gedanke zwar gesund und richtig ist, aber nicht
als neues weltbeglückendes Prinzip und unfehlbares Heilmittel sozialer Schäden
aufgefaßt werden darf, sondern nur als eine schon vielfach erprobte Lvsungs-
methode, deren Einführung in allen Fällen, in denen die Natur der Sache eine
Betheiligung ermöglicht, ebenso den Geschäfts- wie den Arbeiteriuteressen nütz¬
lich werden kann. Für seine Anwendung läßt sich bei der unendlichen Ver¬
schiedenheit der einzelnen Fälle keine einfache Formel und kein überall nach-
ahmenswerthes Modell aufstellen. Diese Hauptergebnisse der Untersuchungen
von Böhmert näher zu beleuchten, verbietet hier der Raum; mag das Werk
jedem nachdenksainen Leser empfohlen sein, welcher mit dem Verfasser in dem
Satze übereinstimmt, daß das Vorurtheilslose, auf Erfahrungen gestützte Er¬
kennen in Betreff der menschlichen Wirthschaft viel richtiger ist, als das Auf¬
stellen und Vorschreiben noch so blendender und glänzender Dogmen.
Für engere Kreise berechnet ist Adolf Held's „Grundriß für Vorlesungen
über Nationalökonomie" (Bonn, Emil Strauß). Urspünglich nur für die Zu¬
hörer des Verfassers bestimmt, der bekanntlich an der Bonner Hochschule lehrt,
und als Manuskript gedruckt, hatte die Schrift, sogar über die deutscheu Grenzen
hinaus, so viel Anklang gefunden, daß alsbald eine zweite Auflage nöthig
wurde, die auf vielfachen Wunsch auch im Buchhandel erschienen ist. Natür¬
lich bietet sie außer ihrem nächstliegenden, praktischen Zweck nur für diejenigen
ein lebhafteres Interesse, welche die geistige Bewegung innerhalb der deutschen
Nationalökonomie genauer verfolgen. Herr Held gehört zu den namhaften
Kathedersozialisten, er ist ein hervorragendes Mitglied des „Vereins für So¬
zialpolitik" und hat sich das größte Verdienst um die Klärung der Ansichten auf
den Generalversammlungen dieses Vereins erworben. Ihm namentlich war
es zu danken, daß nach mannichfach verworrenen Anfängen die weit über¬
wiegende Mehrheit sich auf dem Standpunkte sammelte, daß die freien Or¬
ganisationen der wirthschaftlichen Stände und ihre Beförderung und Leitung
durch das Gesetz die Hauptaufgabe der sozialen Reform seien, während die
namentlich durch Adolf Wagner vertretene Minderheit an direkten Eingriffen
in das Privateigenthumsrecht festhielt. Eine literarische Fehde, welche sich
darüber zwischen Held und Wagner entspann, ist früher schon in diesen Blattern
erwähnt worden. Neuerdings hat Held gerade von entgegengesetzter Seite
nicht minder heftige, obgleich viel weniger geistvolle oder, um es kurz zu sagen,
ganz abgeschmackte und thörichte Angriffe wegen seiner sozialpolitischen Haltung
in M. Block's „Quintessenz des Kathedersozialismus" (Berlin, Herbig) erfahren.
Die Broschüre an sich würde kaum eine ernsthafte Erwähnung verdienen, wenn
sie nicht einen bequemen und naheliegenden Anlaß böte, einige Bemerkungen
zu machen, welche augenblicklich vielleicht doppelt am Platze sind. Ueber die
Sozialdemokratie und Verwandtes ist so lange und so viel gescholten worden,
und gewiß mit vollstem Recht, daß nachdem ihr nunmehr das Wort genommen
ist, vielleicht ohne besonderen Schaden eine kleine Pause eintreten könnte. Diese
Pause würde in sehr nützlicher Weise ausgefüllt werden durch einen gleich
energischen Feldzug der öffentlichen Kritik gegen die Gegenfüßler des Kommu¬
nismus, gegen jene absoluten und unfehlbaren Bekenner des leüsss-i lau-s se
xasssr, die nicht zufrieden damit, eine wissenschaftlich in'ihrer schrankenlos-
allgemeinen Form längst abgethane Doktrin zu vertreten, was man ihnen
schließlich gönnen könnte, mit perfiden und unglaublichen Angriffen die aus¬
gezeichnetsten, besonnensten und nüchternsten Forscher verfolgen, sobald die-
selben nicht etwa an den Grundlagen der heutigen Ordnung rütteln, son¬
dern nur der Ansicht sind, daß möglicher Weise soziale Schäden bestehen
könnten, welchen abgeholfen werden müsse. Ein Prachtbeispiel dieser ange¬
nehmen Sorte von Polemik ist die Art, wie Herr M. Block, welcher ja eine
gewisse Rolle ans volkswirthschaftlichen Gebiete spielt weniger durch die Qua¬
lität, als die Quantität der Produkte seiner sehr fleißigen Feder, Professor
Held bekämpft. Letzterer ist gar kein Sozialist im prägnanten Sinne des Wortes;
vielmehr wird er von den eigentlichen Sozialisten wegen seiner gemäßigten An¬
schauungen bekämpft; ein ebenso besonnener und loyaler, wie einsichtiger und
kenntnißreicher Gelehrter, ist er immer ein Bekenner der Freihandelstheorie
gewesen und unterscheidet sich, wie erwähnt, kaum von der Richtung Böhmert.
Trotz alledem — „Thut nichts, der Ketzer wird verbrannt!" Beispielsweise
überschüttet Herr Block sein Opfer mit den blutigsten Beleidigungen und Vor¬
würfen, weil Held es einmal für gedankenlos erklärt hat, die deutsche Sozial¬
demokratie für das Produkt der raffinirten Redekunst einiger gewissenloser
Agitatoren zu halten, denn eine Partei werde nie allein durch Reden erzeugt;
weil er also eine Anschauung vertreten hat. von welcher das ganze deutsche
Volk vom Reichskanzler bis zum letzten Spießbürger, der noch sein Wochen¬
blättchen zu lesen vermag, tief durchdrungen ist. Mit dem Gegenbeweise macht
es sich Herr Block sehr leicht; er beruft sich auf den Schreiber dieser Zeilen,
der geschichtlich nachgewiesen haben soll, daß die Sozialdemokratie allein durch die
Agitation entstanden sei. Der Nachweis von Verdiensten, die man sich erworben
hat, ohne es selbst zu wissen, mag ja unter Umständen sehr erfreulich sein;
in diesem Falle gleicht er aber einem jener frostigen Scherze, die dem Betrof¬
fenen nach Lessing gleich das kalte Fieber zuziehen können.
Ein dankens- und empfehlenswerthes Unternehmen in der sozialpolitischen
Literatur ist weiter die „Bibliothek der Volkswirthschaftslehre und Gesellschafts¬
wissenschaft", welche F. Stöpel zu Berlin (Expedition des „Merkur") heraus¬
gibt. Es ist ein Lieferungswerk, welches sich die Aufgabe stellt, die hervor¬
ragendsten Werke der nationalökonomischen und sozialen Schriftsteller aller
Nationen in billigen Ausgaben und guten Uebersetzungen dem gebildeten
Publikum zugänglich zu machen. Bisher sind einige zwanzig Lieferungen
erschienen, welche Adam Smith's epochemachendes Werk, Malthus' nicht minder
berühmten Essay über das Bevölkerungsgesetz, Carey's „Einheit des Gesetzes"
und Peshine Smith's „Handbuch der politischen Oekonomie" umfassen. Jede
Lieferung enthält sieben Bogen und kostet eine Mark. Es sollen folgen die
Hauptwerke von Ricardo, Sismondi, Bastiat, Comte, ferner anch der franzö¬
sischen Sozialisten, wie Baboeuf, Blanc, Fourier, Se. Simon :c. Genug, das
ganze Unternehmen foll eine gleichförmige und vollständige Bibliothek der be-
deutendsten Erscheinungen der volkswirthschaftlichen Weltliteratur werden. Die
lebhafte Anerkennung, welche es bei der Leserwelt und bei der Kritik gefunden
hat, und sein rüstiges Fortschreiten bewiesen gleicher Weise, daß es einem
vielfach empfundenen Bedürfnisse entgegengekommen ist und in der That als
ein schätzenswerthes Beförderungsmittel sozialwissenschaftlicher Erkenntniß be¬
trachtet werden darf. Gerade auf diesem Gebiete ist es dringend nothwendig,
zu den Quellen zurückzukehren, von denen man unendlich viel mehr spricht, als
man von ihnen weiß. Wie viele von denen, welche die Namen von Adam
Smith und Malthus auf der Zunge tragen, haben wirklich ihre Werke gelesen!
In wie trüber und verdorbener Vorstellung gehen vielfach die grundlegenden
Gedanken von Adam Smith selbst in gelehrten oder doch gelehrt thuenden
Schriften um! Jeder gebildete Deutsche sollte es für eine Ehrensache halten,
den berühmten Schotten ebenso zu kennen, wie Shakespeare und Byron. Unter
diesen betrübsamen Zuständen kann die gedachte Bibliothek viel Nutzen stiften.
Sie ist für den billigen Preis trefflich ausgestattet, die Uebersetzungen sind
flüssig, gewandt, klar und stehen, wie schon der bekannte Name des Heraus¬
gebers verbürgt, auf der vollen Höhe des wissenschaftlichen Verständnisses.
Ein bedeutsamer Zweig der Weltliteratur gleichsam in der Nußschale sind
A. Gehrke's „Kommunistische Jdealstaaten" (Bremen, Schünemann). Die kleine
Schrift gibt die Quintessenz der vier berühmtesten Utopien; nach der Reihe
führt sie Plato's Gerechtigkeitsstaat, Thomas Morus' Utopia, Campanella's
Sonnenstaat und Cabet's Iberien vor. Alle diese Staatsromane fast haben
sprichwörtlichen Ruf gewonnen, aber ihr Inhalt war nur noch den Fachkennern
bekannt und Laien um so schwerer zugänglich, als, von Cabet's Werke abgesehen,
die übrigen in den altklassischer Sprachen abgefaßt sind. Neben dem dichte¬
rischen und kulturhistorischen Werthe dieser phantastischen Schriften war es
wohl auch die Rücksicht auf die heutigen sozialen Erschütterungen, welche den
Verfasser bestimmten, gerade jetzt diese fleißige und gelungene Arbeit zu ver¬
öffentlichen. Unsere Weltverbesserer pflegten die überraschende Neuheit ihrer
Gedanken und Vorschläge überschwenglich zu rühmen, aber thatsächlich waren
auch sie Ben Allda's melancholischer Erfahrung unterworfen. Ihre Originalität
war nur, uralte Träume den besonderen Verhältnissen der modernen Gro߬
industrie anzupassen, eigenartig in der Kritik zu sein; in allem, was sie je
über ihre neue Welt haben positiv verlauten lassen, sind sie nur sklavische
Nachbeter der Utopisten gewesen. Man kann dies theilweise recht ergötzlich in
Gehrke's Schrift verfolgen. Wenn beispielsweise Cabet in seinem Iberien
noch eine vierzigjährige Arbeitszeit verlangte, war Herrn Most dies lange nicht
schlaraffenhaft genug, und so setzte er die unbescheidene Zumuthung flugs auf
ihren vierten Theil herab. Engels und Marx haben in der That gar keinen
Grund, auf die utopistischen Sozialisten von so hohem Throne herab zu sehen,
wie sie es zu thun pflegen, ihr wissenschaftliches System liegt noch ganz in
den Windeln einer ätzenden Kritik der heutigen Ordnung; auf eigenen Füßen
stehen, eine neue Welt aufbauen kann es nicht. Darin stehen sie weit hinter
Cabet und Fourier zurück, die denn doch einen gewissen großartigen Wurf der
schaffenden Phantasie berührt haben. Selbst Fourier's anscheinend hirnver¬
brannten Träume, denen zufolge nach Einrichtung seiner Phalangen Löwen und
Tiger zahm werden würden wie Schoßhündlein, und die salzige Meerfluth
süß wie Limonade, waren nicht ohne tieferen Sinu. In ihnen sprach sich die
unbestreitbare Thatsache aus, daß dies ganze Weltverbessererthum gegen alle
irdische Natur geht und nicht eher bestehen könne, ehe alle irdischen Dinge auf
den Kopf gestellt seien.
Ergibt sich aus Gehrke's Schrift mittelbar werthvolles Material zur Be¬
leuchtung der sozialdemokratischen Ideen, so richtet sich eine andere sozialpolitische
Publikation, die gleichfalls zu Bremen im Nordwestdeutschen Volksschriftenver-
lage erscheint, unmittelbar gegen die kommunistische Agitation. Es ist eine Serie
von Flugschriften, welche unter dem Titel: „Soziale Fragen und Antworten"
die Hauptgesichtspunkte des zwischen der modernen Kultur und ihren Tod¬
feinden schwebenden Streits erörtern soll. Bisher liegt erst ein Heft vor über
den „Klassenkampf", allein man darf jetzt schon sagen, daß, wenn dieser An¬
fang in gleicher Weise fortgeführt wird, eine wahrhaft glänzende Leistung im
Entstehen begriffen ist. In drei entscheidenden Gesichtspunkten steht das Schrift¬
chen bergehoch über allem bisher auf diesem Gebiete Geleisteten, bei welchem
nur zu oft der Grundsatz maßgebend zu sein schien, daß das Schlechteste gerade
gut genug für die Arbeiter sei. Erstens wird nicht gescholten und raisonnirt,
sondern sachlich und würdig entwickelt. Zweitens ist die Sprache nicht jenes
läppisch-widrige Gelalle, was man sonst wohl unter „populärer" Schreibweise
verstand, sondern ein anmuthig-graziöses, aber bis in die letzte Gedankenfülle
auch für schwache Augen durchsichtiges Geplauder. Drittens endlich stehen die
Ausführungen und Darlegungen auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkennt¬
niß, was der Arbeiter sehr bald spürt, und was ihn ebenso fesselt, wie ihn das
Gegentheil abstößt. Gerade hierin hat er ein nur mehr instinktives, aber feines
und sicheres Gefühl. Mögen die folgenden Hefte der „Sozialen Fragen und
Antworten" diesen höchst erfreulichen Weg einzuhalten verstehen!
Der seit mehreren Wochen wieder versammelte Landtag hat sich vorwie¬
gend mit der Einführung der Reichsjustizgesetze beschäftigt. Diese Arbeit ist
nun unter scharfer Dissonanz zwischen Regierung und Kammer zum vorläufigen
Abschluß gelangt. Der Differenzpunkte waren es mehrere. Wir erwähnen
nachstehend die wichtigsten derselben, wobei wir den, bezüglich dessen eine Ver¬
ständigung nicht erzielt wurde, in letzter Reihe aufführen. Sofort bei der Frage
nach Feststellung der Gerichtssitze gab sich eine Verschiedenheit der Anschauung
kund. Der Vorschlag, daß nur ein Oberlandesgericht, mit dem Sitz in Karls¬
ruhe, errichtet werden solle, war beiderseits genehm. Es sprechen keine Gründe
dafür, durch Errichtung zweier Oberlandesgerichte ein oberstes Landesgericht
zu ermöglichen, eine badische dritte Instanz ist existenzunfähig. „Schon aus
politischen Gründen ist überdies die Gravitation zu dem Reichsgericht zu be¬
fördern, und liegt die Unterstellung unter dasselbe im Interesse der Rechts-
sprechung und der Rechtseinheit." Karlsruhe erhält also das Oberlandesgericht.
Die Residenz wurde nicht für gefährlich befunden, selbst von Solchen nicht,
denen s. Z. die Domizilirung des Reichsobergerichts in Berlin ein absolut zu
perhorreszirender Gedanke war, und auch Mannheim, das bis jetzt der Sitz
des obersten Gerichtshofes ist, hat sich allem Anscheine nach mit Resignation
in die Thatsache gefunden. Die Uebereinstimmung zwischen Regierung und
Kammer erstreckte sich namentlich auch soweit, daß die Feststellung des Sitzes
des Oberlandesgerichtes durch Gesetz zu erfolgen habe. Dagegen wollte im
Widerspruche zum Entwürfe der Regierung die zweite Kammer, in Ueberein¬
stimmung mit ihrer Justizkommission, auch die Sitze und Bezirke der Landge¬
richte durch Gesetz feststellen, während Sitze und Bezirke der Amtsgerichte zu¬
nächst zwar durch Verordnung bestimmt, nach dem 1. Oktober 1882 aber auch
nur durch Gesetz sollten verändert werden können. Eine gewisse Stabilität der
lokalen Begründung und des Umfangs der Landgerichtsbezirke erscheint in der
That durchaus wünschenswerth. Diese wird am sichersten erreicht, wenn die
Festsetzung durch die Gesetzgebung erfolgt. Anders dürfte die Sache bezüglich
der Amtsgerichte liegen. Das Detail der lokalen Verkehrsverhältnisse u. tgi.
wird gewiß besser von der Regierung beurtheilt, als von großen parlamenta¬
rischen Körperschaften. Jedenfalls über sollte man, wenn die Bildung der
Amtsgerichtsbezirke in bleibender Weise dem Verordnungsrecht anheimgegeben
wird, bezüglich der Bestellung der Gerichtssitze keine andere Verfahrungsweise
einschlagen. Bezirk und Sitz des Gerichtes hängen so enge mit einander zu¬
sammen, daß die Bestimmung beider unseres Dafürhaltens unbedingt in einer
Hand liegen muß. Unnötigerweise trat sofort bei Diskutirung dieser Frage
eine gewisse Gereiztheit zwischen Regierung und Kammermajorität zu Tage.
Mindestens ebenso unnöthig war es, daß die „staatserhaltenden" Elemente
unseres Landes, die Deutsch-Konservativen, die Sache sofort dahin pointirter,
als ob die liberale Kammermajorität in einer Zeit, wo die Regierungsgewalt
mehr als je der „Stärkung" bedürfe, diese Vorschläge nur in der Absicht ge¬
macht habe, die Rechte der Regierung zu schmälern. Die Gelegenheit, sich der
Regierung auf Kosten der Liberalen in angenehme Erinnerung zu bringen,
war freilich um so verlockender, als die der Regierung entgegengesetzte An¬
schauung ihren eifrigsten Verfechter in dem Vorstand der nationalliberalen
Partei und Berichterstatter der Justizkommission, dem Abgeordneten Kiefer
fand. Und — so ganz erfolglos fcheint die Taktik nicht gewesen zu sein, denn
auch die Regierung trat noch energischer für ihre angeblich gefährdeten Rechte
und gegen die „Schwächung" der Regierungsgewalt ein.
Einen Differenzpunkt, der mehr innerhalb der Kammer selbst, als zwischen
Regierung und Kammer zu Erörterungen führte, bildete die Frage, wie und
durch welche Vertretung der durch die Reichsgerichtsverfassung (Z 40) für
Bildung der Schöffen- und Geschworenenlisten geforderte Ausschuß (7 Ver¬
trauensmänner) zu ernennen sei. Diese Ernennung soll nach näherer Bestim¬
mung der Landesgesetze durch die „Vertretungen" der Kreise, Aemter, Ge¬
meinden od. tgi. Verbände erfolgen. In Anlehnung an unser bisheriges Recht
hat der Regierungsentwurf den Bezirksrath als die mit der Ernennung des
Ausschusses zu betrauerte Behörde bezeichnet. Die Hälfte der Mitglieder der
Justizkommission trat diesem Vorschlag bei, während die andere Hälfte die
Kreisversammlung als das Organ bezeichnet wünschte, welches die betreffenden
Vertrauensmänner zu ernennen habe. Der Bezirksrath wird auf Vorschlag
der Kreisversammlung — die Vorschlagsliste muß die dreifache Zahl der be-
nöthigten Bezirksrathsmitglieder enthalten — durch die Regierung ernannt,
er ist nach unserem Verwaltungs-Gesetz die unter dem Vorsitz des Amtsvor¬
standes berathende und beschließende Verwaltungs- und Verwaltuugsgerichts-
behörde. Für eine „Vertretung" im Sinne der Reichsgerichts-Verfassung kann
er darum wohl kaum erkannt werden, indem die Schlußerklärung der Reichs¬
justizkommission über diesen Punkt (Protokolle S. 241) als das Wesentliche
der in dz 40 Reichs-Gerichts-Verfassung benannten „Vertretung" das bezeichnet,
daß dieselbe auf freier Wahl beruhe. Diese Bedingung ist bei der Kreisver¬
sammlung erfüllt, darum sie zur Ausübung jener Funktion geeignet erscheint.
Gegen den Bezirksrath spricht auch noch das, daß nach dem Willen der Reichs-
Gerichts-Verfassung den Administrativ-Behörden als solchen kein Einfluß auf die
Ernennung der Geschworenen eingeräumt werden darf. In Baden aber muß
auch der leiseste Schein einer Beeinflussung in der bezeichneten Richtung um
so mehr vermieden werden, als bei uns die Kompetenz der Schwurgerichte für
Preßdelikte aufrecht erhalten bleibt. All' diese Bedenken jedoch wurden nicht
als vollwichtig erkannt und die Regierungsvorlage augenommen.
Weiteren Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten gab die Stellung des
Staatsanwalts und die Ernennung der Amtsanwälte. Hier wurde der Wider¬
streit der Ansichten durch einen Kompromiß beseitigt, wonach die Amtsanwälte
„thunlichst" aus der Zahl der Rechtskundigen zu entnehmen sind. Eine prin¬
zipiell nicht unwichtige Frage war auch die, ob gegen die von der Polizeibehörde
ausgesprochene Strafe auch das Mittel des Rekurses an die vorgesetzte Ver¬
waltungsbehörde zulässig sei oder lediglich die Berufung an das Gericht. Die
Majorität der Kammer entschied nach lebhafter Debatte im Sinne des Regie¬
rungsantrags für die erstere Alternative, so daß es also dem Bestraften frei
stehen soll, die Entscheidung der dem Polizeigericht vorgesetzten Dienstbehörde
oder die richterliche Entscheidung anzurufen. Der Borwurf, daß mit dieser
Gesetzesbestimmung ein fremdes Element in die Rechtsprechung hineingezogen
werde, möchte kaum zu entkräften sein.
Nun erhob sich die letzte, wichtigste Streitfrage. Sie betraf die Derogcitivu
der in Folge der Reichsjustizgesetzgebuug außer Geltung tretenden Bestimmungen
unseres badischen Landrechts (ooäs eivil). Die zweite Kammer hat, unter
schärfsten Widerspruch der Regierung, fast einstimmig beschlossen, „daß die mit
den Reichsjustizgesetzen nicht übereinstimmenden Vorschriften des Landrechts
und der dasselbe ergänzenden Gesetze durch Aufhebung oder Abänderung dieser
Vorschriften in dem zu erlassenden Einführungsgesetze auszuscheiden seien."
Die Regierung machte hiergegen geltend, daß, wie die Reichsjustizgesetze ohne
Zuthun der badischen Gesetzgebung in unserem Lande zur Geltung kommen/ so
auch die Landesgesetzgebung überhaupt nicht befugt erscheine, in rechtlich ver¬
bindender Weise festzustellen, was von dem bisherigen Rechte durch die Reichs¬
gesetzgebung beseitigt sei und was neben ihm bestehen könne. Das Reichsrecht
allein verfüge, was außer Kraft trete. Die Derogation sei der richterlichen
Praxis beziehentlich der Wissenschaft zu überlassen. Dagegen ist ebenso unbe¬
stritten, daß, „so oft das Reichsrecht eine wirkliche Lücke in das Recht des
Einzelstaates reißt, die Nothwendigkeit einer landesrechtlichen Ergänzung ein¬
tritt, weil ein Zustand unerträglich wird, in welchem eingerissene Rechtsnormen
nicht wieder aufgebaut werden. Diese Nothwendigkeit kann auch eintreten, wo
es sich nicht gerade um den Wiederaufbau, sondern um Wegräumung von
Ruinen handelt." Für diese von der Kammer empfohlene Methode haben sich
auch die Gerichtshöfe des Landes, mit Ausnahme von zweien, ausgesprochen.
Sicher ist und jedem Laien einleuchtend, daß, wie das Gutachten eines Gerichts-
Hofes ausführt, die Schwierigkeiten, welche bezüglich der Auslegung der Gesetze
entstehen, viel leichter durch den Gesetzgeber überwunden werden, als durch den
Richter, welcher schlechthin an die Regeln der Gesetzesanwendung gebunde.n
und dessen Aufgabe um so schwieriger ist, als diese Regeln keineswegs feststehen.
Freilich liegt die Gefahr nahe, daß die Gesetzgebung beim besten Willen und
bei der größten Umsicht ihre Arbeit nicht ganz vollständig thut. Das Publi¬
kum wird aber zehnmal lieber diesen letzteren, später dann zu beseitigenden
Nachtheil in Kauf nehmen wollen, als die auf dem anderen Wege absolut zu
gewärti^ende Verwirrung und Unsicherheit.
Eben als man „des trockenen Tones" dieser gegenseitigen Auseinander¬
setzungen satt werden wollte, ist es dem Lehrer des französischen Zivilrechts
an der Universität Heidelberg, zugleich in Vertretung dieser Hochschule Mitglied
der ersten Kammer, Geh. Rath Dr. Renaud, gelungen, in gewohnter feiner
Urbanität den Verhandlungen frisches, funkensprühendes Leben einzuhauchen.
Die Regierung ließ nämlich in einer Berathungspanse durch den Justizministe-
rialpräsidenten ein früher von Renaud abgekehrtes Gutachten oder besser gesagt
eine flüchtig motivirte Meinungsäußerung desselben über die Derogationsfrage
ohne Vorwissen des Präsidiums der zweiten Kammer an deren Mitglieder
vertheilen. Im Gegensatze zu seinem Freiburger Kollegen vertritt Dr. Renaud
den Standpunkt der Regierung. Er erklärt es sür unmöglich, die von der
Justizkommission unternommene Arbeit zu leisten und meint, es sei „mißlich,
wenn der Gesetzgeber nicht blos den Schein der Unfähigkeit zu einer Arbeit
auf sich ziehe, sondern wirkliche Jukapazität zur Lösung einer von ihm ohne
Noth übernommenen Aufgabe darlege." Nach sonst gangbaren Begriffen er¬
scheint diese Auslassung, wie der Präsident der zweiten Kammer in öffentlicher
Sitzung erklärte, als sehr „verletzend". Während nun aber der Herr Justizministe-
rialpräsident schüchtern versuchte, durch eine günstigere Deutung des von ihm
in der Eile nicht scharf in's Auge gefaßten Satzes das Haus milder zu stimmen,
gelang es der Jnterpretationskunst des Heidelberger Rechtslehrers, in der ersten
Kammer in wunderbar feingefügter Erläuterung eine Darlegung zu geben,
deren logischer Deduktion nur uoch ein Glied beizufügen war, um der zweiten
Kammer und ihrer Justizkommission begreiflich zu machen, wie in jener Aeuße¬
rung durchaus mir ein fein ersonnenes Kompliment zu erblicken sei. Die
Sache ist zu den Akten gelegt. Sicher ist, daß das Renaud'sche „Gutachten"
nichts zur Verständigung beigetragen, im Gegentheil nach mancher Seite hin
die Lage nur noch schwieriger gemacht hat. Regierung und Justizkvmmission
beharrten bei den erneuter Verhandlungen jede auf dem bisherigen Stand¬
punkte, die Kammer hielt in der zweiten Berathung ihren früheren Beschluß
bezüglich der Derogation einstimmig fest, und da die Regierung den Beitritt
zu diesem Beschlusse rundweg ablehnte, so hat sie selbst die Arbeit zu Ende
geführt, die Ausscheidung der betreffenden Landrechtssätze vollzogen. Es kommt
nun vor Allem auf die Stellung an, welche die erste Kammer zu der Frage
nehmen wird. Danach erst kann Weiteres bemessen werden.
Der Justizministerialprüsident Dr. Grimm hat im Laufe der gegenwär¬
tigen Landtagssession, der ersten, welche er als Chef des Justizministeriums
erlebt, schon manche Dornen gepflückt, namentlich in der Derogatiousfrage.
Freilich verkennt auch kein Kundiger die große, schwere Arbeit, welche anläßlich
der Einführung der Reichsjustizgesetze in Vorbereitung des Landtags und jetzt
während der Dauer der Session in diesem Ressort zu leisten war und zu leisten
ist. Aber Vorkommnisse, wie das mit dem Renaud'scheu Gutachten, hätten sich
nie ereignen sollen. Zur Uebung der praktischen Regierungsthütigkeit genügt
ein reiches, umfassendes Wissen nicht. In einem Theile des Publikums hat
bei dem langsamen Fortschreiten der auf die Einführung der Reichsjustizgesetze
bezüglichen parlamentarischen Arbeiten sich eine gewisse Mißstimmung bemerk¬
lich gemacht. Man fand, daß die Verhandlungen zu spezifisch juristisch geführt
werden; man meinte, es werde, insbesondere mit der Derogation, unnöthige
Arbeit gethan, die ganze Materie lasse sich rascher, einfacher, praktischer ordnen.
Diese Stimmung ist zu begreifen. Hier hätte aber vor Allem die Presse ihre
Aufgabe richtig erfassen und üben sollen. Sie hätte das Publikum daran
erinnern sollen, daß diese verwickelte und die vielgestaltigsten Verhältnisse des
Rechtslebens in Mitleidenschaft ziehende Materie nicht im Flug erledigt werden
könne. Statt die Kammer und ihre Justizkommission der Verschleppung, der
juristischen Haarspalterei u. tgi. anzuklagen, sollte man ihr Dank wissen für
die Gründlichkeit und Umsicht, mit der sie die höchst schwierige Arbeit leistet.
Es ist nicht Jedem gegeben, über die bei Einführung der Reichsjustizgesetze
zur Diskussion stehenden und der gesetzgeberischen Lösung harrenden Fragen
ein selbständiges Urtheil zu fällen. Deshalb dürfte es sich aber auch geziemen,
daß sich das größere Publikum ein klein wenig bescheide und zu der Einsicht,
der Gewissenhaftigkeit und der Treue seiner in freier Wahl berufenen Abge¬
ordneten das Vertrauen hege, daß dieselben nicht Lappalien treiben, nicht zum
bloßen Vergnügen Stunden und Tage lang juristisch subtile Bestimmungen
erörtern. Die souverän absprechende, immer und allewege nur verurteilende
Kritik von Regierungsmaßnahmen, wie sie von der preußischen Fortschritts¬
partei beliebt wird, hat schon längst bei jedem ruhig denkenden Politiker allen
Kredit eingebüßt. Sollte in einem konstitutionell geschulten Volke das oft aus
sehr unklarer Mißstimmung geborene luftige Raisonniren über die parlamenta¬
rische Arbeit seiner Vertreter nicht noch schärferer Beurtheilung unterstehen?
Das Knabenhafte kann Männern nicht imponiren. —
Die nationalliberale Partei war erfreut, Lamey, der in Folge der Vor¬
gänge bei der Reichstagswahl des vorigen Sommers das von ihm für Frei¬
burg geführte Abgeordnetenmandat niedergelegt hatte*), sofort bei dem Wieder¬
zusammentritt des Landtags der zweiten Kammer zurückgegeben zu sehen. Die
Stadt Karlsruhe hatte sich beeilt, dem bewährten Volksmann und Parlamentarier
ein eben erledigtes Mandat zu übertragen. Die Kammer hat ihn alsbald
wieder auf den Präsidentenstuhl erhoben. Ein anderweitiger Verlust aber ist
der durch die Erklärung vom 9. November kund gegebene Rücktritt Kiefer's
von der Oberleitung des Organs der nationalliberalen Partei in Baden, der
„Bad. Correspondenz", und gleichzeitig von der Vorstand- und Mitgliedschaft
des Ausschusses der Partei. Das Aufsehen hierüber wird erhöht durch den
gleichfalls öffentlich kundgegebenen Entschluß Kiefer's, nach Ablauf der gegen¬
wärtigen, im Sommer des nächsten Jahres zu Ende gehenden Landtagssession
ein Mandat für die zweite Kammer nicht mehr zu übernehmen. Als Grund
dieses Rücktrittes und Entschlusses gibt man an, daß die gleichzeitige Führung
des Landtags- und Reichstagsmcmdats den Abgeordneten zu oft und während
zu langer Zeit seinem amtlichen Berufe entziehe. Das Gewicht dieses Grundes
ist durchaus anzuerkennen, zumal da bei Kiefer noch die Rücksichten auf die
persönlichen Gesundheitsverhältnisse schwer in die Wagschaale fallen. Gewiß
hat auch nicht etwa ein momentaner Entschluß die Rücktrittserklärung veran¬
laßt. Indessen wird man doch nicht fehlgreifen, wenn man noch tiefer liegende
Gründe aufsucht. Solche aber zeigen sich wohl erkennbar demjenigen, der die
seit Jahren geübte parlamentarische Wirksamkeit Kiefer's und seine energische
politische Thätigkeit außerhalb der Kammer genan beachtet hat und nun den
aus solcher Beachtung abstrcchirten politischen Charakter Kiefer's in der
augenblicklichen und wohl nicht nur kurz dauernden politischen und parlamen¬
tarischen Situation inne stehen sieht. Kiefer ist eine scharf ausgeprägte prin¬
zipielle Natur; er kann nur die für richtig erkannten politischen Zielpunkte mit
vollster Schärfe in's Auge fassen und mit schneidender Konsequenz sie zu ver¬
wirklichen streben. Mit rückhaltslosester Ueberzeugung steht er auf dem Boden
des nationalen und liberalen Programms. Diese Ueberzeugung macht ihn in
Verfechtung der modernen Staatsidee zum glühenden, im edeln Sinne des
Wortes leidenschaftsvollen Gegner Rom's, zum begeisterten Vertreter des natio¬
nalen Gedankens. Die große Gewandtheit und Schlagfertigkeit der Rede
qualifiziren ihn zu einem hervorragenden Parlamentarier, während gleichzeitig
sein reines Streben, seine rastlose Thätigkeit ihm innerhalb der eigenen Partei
rasch hohes Ansehen erwarben. Diese Partei und ihre Thätigkeit auf dem
Landtag ist seit länger als einem Jahrzehnt ohne Kiefer kaum denkbar,
namentlich in ihren Kämpfen und ihrer gesetzgeberischen TlMgkeit bezüglich
der staatlich-kirchlichen Fragen. Wir wollen jetzt nicht eingehender untersuchen,
ob und wie weit das, was man einen Verflüchtigungsprvzeß nennt, bei der
nationalen und liberalen Partei in Baden bereits eingetreten und fortgeschritten
ist. Ein gewisser konservativer Zug, eine Strömung jener Art, von welcher
in diesen Tagen im preußischen Abgeordnetenhaus der Kultusminister sagte,
daß die Regierung nöthigenfalls auch wider sie ihre im Kampf gegen Rom ge¬
wonnene Position behaupten werde, ist nicht erst seit gestern wahrnehmbar.
Gar Manche sehen dem arglos zu, lassen sich sogar ab und zu auch einmal
eine Strecke weit von der Strömung tragen, indem sie, die Getragenen, in
heiterer Naivetät dabei noch wähnen, aufrecht zu gehen auf eigenen Füßen.
Man bleibt national, man bleibt auch liberal. Aber man will möglichst
Mäßigung walten lassen, man weist weit zurück, Prinzipien konsequent zu ver¬
wirklichen. Das wäre Doktrinarismus. Bei Beginn der gegenwärtigen Land¬
tagssession haben sich Stimmen dahin vernehmen lassen, als ob das Fortbe¬
stehen einer selbständigen nationalliberalen Landtagsfraktion an der Seite einer
durchaus nationalliberal gesinnten Regierung zwecklos sei. Der scharf Zu¬
sehende glaubte in den letzten Wochen und zwar nicht nur ein- oder zweimal
zu gewahren, daß eine solche Anschauung, Manchem der Betreffenden vielleicht
unbewußt, auch in unserer zweiten Kammer ihre Anhänger habe. Der strenge,
Prinzipiell feste Zusammenhalt der nationalliberalen Landtagsfraktion wurde
vermißt. Das, was ein und das anderemal aus ihrer Mitte heraus einen
Sonderkopf erhoben hat, schien fast nach dein Bilde einer Regiernngspartei
sens xnrass geschaffen. Es ist vielleicht gut, daß Kiefer's Rücktritt gerade
in diese Zeit fällt. Besser, draußen auf dem weiten Terrain für sich allein
festen Fuß fassen, als daß mitten im Lager die mattbewegte naßkalte Fluth
hemmend die Knöchel umransche. Es kommen auch andere Zeiten wieder,
und dann wird Kiefer zweifellos auch wieder zur Stelle sein. Da mit dem
Rücktritt des seitherigen Vorstandes auch die übrigen sechs Mitglieder des
nationalliberalen Landesausschusses ihr Mandat niederlegten, so fand durch die
nationalliberalen Abgeordneten der zweiten Kammer eine Neuwahl statt, in der
die bisherigen Mitglieder wiedergewählt wurden, und als siebentes Mitglied,
an Stelle Kiefer's, der Abgeordnete Bürklin von Heidelberg hinzutrat.
Ein Mitglied des Ausschusses, Poravicini von Breiten, früher auch Reichs¬
tagsabgeordneter, ist eben in diesen Tagen gestorben. Das Land hat in ihm
einen seiner treuesten, bewährtesten und tüchtigsten bürgerlichen Abgeordneten
verloren. Der Landesausschnß besteht nun dermalen noch aus den Abgeord¬
neten Bär, Bürklin von Heidelberg, Fauler, Finser, Fridrich, Pflüger.
Die Arbeiten des Landtags sind in dieser Woche keineswegs im Verhält¬
niß zu der ihm durch die Umstände zugemessenen Zeit fortgeschritten. Das
Herrenhaus ist zwar fleißig gewesen: es erledigte, nachdem es am 17. Dezember
mit neun neuen Gesetzentwürfen bedacht war, deren sechs, am 18. Dezember
fünf und am 20. Dezember neun. Die meisten waren freilich nicht von allge¬
meiner Bedeutung, doch befinden sich unter den erledigten auch schon einige
der Justizgesetze. Mit dem Abgeordnetenhause geht es jedoch viel langsamer.
Der fortschrittliche Abgeordnete Paur stellte am 17. Dezember an den
Kultusminister eine Anfrage, welche nach Lage der Dinge den Stand der
Unterrichtsgesetzfrage betraf, wenngleich sie formell auf nur zwei Punkte des¬
selben gerichtet war. Es ist in der That eine seltsame Erscheinung, daß so
lange nach Beseitigung des von Muster'schen Systems das ersehnte Unterrichts¬
gesetz noch nicht hat zu Stande kommen können; aber es ist ja bekannt, daß
die Verzögerung nicht auf Minister Falk, sondern wie so manches Andere
was uicht vom Fleck rücken kann, auf die von der Regierung beim Reiche ge¬
plante Finanzreform warten muß. Der Entwurf ist im vorigen Jahre aus¬
gearbeitet und ein Theil desselben, die Rechtsverhältnisse der Studirenden be¬
treffend, dem Landtage als besondere Vorlage schon unterbreitet. Hinsichtlich
des übrigen Theiles hatte die Regierung in der Eröffnungsrede erklärt, daß
sie sich ihrer Verpflichtung, denselben auch ferner mit allen Kräften zu fördern,
völlig bewußt sei, zugleich hatte sie angedeutet, daß selbst auf demjenigen Ge¬
biete, auf welchem die Neuregelung der Verhältnisse am dringendsten sei, dem
der Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen, eine befriedigende Lösung der
Aufgabe nicht ohne noch zu beschaffende erhebliche Mehraufwendungen des
Staats möglich sein werde. Wenn nun Parr jetzt noch zwei Punkte heraus¬
griff, deren baldige Erledigung allerdings ebenfalls sehr erwünscht wäre, so war
doch eine Verweisung auf die noch nicht erfolgte Beschaffung der Mittel vor¬
auszusehen. Trotzdem fand es Interpellant angezeigt, das Unzulängliche des
Gehalts der ausgedienter Elementarlehrer sowie die Dürftigkeit der Pensionen
der Lehrerwittwen auszumalen. Er sagte damit niemandem etwas Neues;
seiner Anregung der Frage aber, ob die Lage jener Personen selbst bei weiterer
Verzögerung des Unterrichtsgesetzes jetzt schon verbessert werden könne, würde
sich nur dann einige Bedeutung haben beilegen lassen, wenn er anzugeben ver¬
mocht hätte, wie dies überhaupt möglich sei. Doch, da gab Richter plötzlich
dahin Aufklärung, die Fortschrittspartei habe die Anfrage nur eingebracht, um
sich die populären Fragen nicht sämmtlich vom Zentrum wegschnappen zu
lassen. Das war wirklich recht aufrichtig! Falk schien dieser Bewandtniß
schon vorher klar gewesen zu sein, er legte daher in seiner Antwort das grö¬
ßere Gewicht auf die immerhin angemessene Konstatirung des innigen Zu¬
sammenhangs der Fincmzreform mit jenem Gesetze. Die Sache wurde nicht
weiter erörtert, Windthorst's Zwischenruf jedoch, Falk habe eine Rede für das
Tabaksmonopol gehalten, wurde von einem Theile der Presse aufgefangen, so
daß in derselben die Ansicht spukt, die Bedürftigkeit der Lehrer werde regie¬
rungsseitig mit als Pression für ihre Finanzreform benutzt.
Die bei der fortgesetzten Berathung des Etats des Inneren von Schmidt
erhobene Beschwerde wegen des von der Stettiner Polizei erlassenen Verbots
der Ausführung von Angler's Theaterstück „Die Fourchambault" wird wohl
die allgemeine Aufmerksamkeit noch eine Zeit lang beschäftigen. Die Ansichten
darüber, ob ein solches Stück die Schicklichkeitsgrenze überschreite, werden alle¬
zeit verschieden sein, also auch die Ansichten der Aufsichtsbehörden darüber. Es
gibt eben hierbei keine obere Instanz, wie man eine solche in der bekannten
Umsturzfrage hat. So lauge nicht, wie Windthorst vorschlug, eine Jury ge¬
bildet oder, wie Miguel meinte, wenigstens in großen Städten eine Art von
Vertrauenskommissivn ans Bürgern der gebildeten Stände der Polizei gesetzlich
beigegeben ist, werden Fälle wie der Stettiner, wo das mit der Behandlung
an anderen Orten in Widerspruch stehende Verhalten der Polizei, nach der zu¬
treffenden Schilderung vou Horwitz, Mißstimmung und Spott des Publikums
hervorrief, nicht zu vermeiden sein. Graf Eulenburg zeigte sich nicht geneigt,
auf die Frage einer gesetzlichen Regelung einzugehen.
Die übrigen beim Etat des Innern vorgebrachten Klagen betrafen vor¬
wiegend lokale Dinge. Von allgemeinerer Bedeutung war allenfalls ein beim
Kapitel der Landgensdarmerie vorgekommenes Nachspiel zur Frage der Wahl¬
beeinflussungen. Die von Richter wiederholt und ganz bestimmt gestellte Frage,
ob die als aktive Militärs nicht wahlberechtigten Gensdarmen nach Ansicht
des Ministers Wahlzettel und Aufrufe vertheilen dürften, wurde von letzterem
durch Verweisung auf seine früheren allgemeinen Erklärungen über beamtliche
Wahleinmischung erwidert. Hiernach scheint festzustehen, daß Graf Eulenburg
jene Handlung für statthaft hält, sobald sich nur deduziren läßt, daß sie vom
Landrathe nicht gerade amtlich anbefohlen war. Wenn also dieser zum Gens¬
darmen als Wähler oder als Menfch zum Menschen geredet hat, so soll nichts
dagegen zu machen sein. Das sind keine guten Aussichten für die nächsten
Wahlen! Bei diesen wird unter Anderem wohl anch die in der Verhandlung
vom 11. Dezember von Virchow gethane unvorsichtige Aeußerung von den
„guten Revolutionären" ausgebeutet werden. Die Anzeichen dafür liegen schon
jetzt vor. Daher sind die Fortschrittler bereits eifrig daran, den ihnen von ihrem
so^ut tsrridls zugefügten Nachtheil möglichst abzuschwächen, und so mußte
auch der Etat der Gensdarmerie Herrn Richter zu einem längeren Diskurs
dieser Tendenz herhalten.
Die zweite Berathung des Gesetzentwurfes über Aenderungen in den '
Ministerialressorts, am 18. Dezember, hielt sich glücklicherweise fern von den
am 2. und 3. Dezember so ausführlich behandelten grundsätzlichen Fragen.
Der Uebertragung der Domänen- und der Forstverwaltung vom Finanz- an
das landwirtschaftliche Ministerium wurde fast ohne Weiteres zugestimmt, der
Theilung des Handelsministeriums in ein Ministerium der öffentlichen Arbeiten
und eins für Handel und Gewerbe aber erst nach längeren Erörterungen. Die
Ueberladung des Handelsministers steht außer Zweifel; sie ist in einer Denk¬
schrift nachgewiesen, von der Kommission anerkannt und wurde vom Münster
Maybach sowie Herrn von Wedell überzeugend dargelegt. Nach der früheren
Vorlage sollte ein besonderes Eisenbahn-Ministerium gegründet werden. Einen
der Gründe, welche am 27. März d. I. das Haus zur Ablehnung bestimmten,
hat die Regierung jetzt angenommen, indem sie die öffentlichen Arbeiten unter
Einem Ministerium belassen will. Gerade diese Berücksichtigung wurde ihr nun
von Windthorst, in trautem Vereine mit Hänel, zum Vorwurf gemacht. Ersterer
sprach von einem bedenklichen Schwanken der Regierung, will erst sicher sein,
daß das Reichseisenbahnprojekt ganz ausgegeben sei, und witterte hinter dem
Vorschlage einen bedenklichen Schritt zu sich überstürzenden Einheitsbestrebungen.
Das Entscheidende fand Rickert mit Recht in der Verbindung der Handels-
uud Gewerbesachen mit dem Reiche, und es war ein bedeutender Moment, als
Maybach konstatirte, daß der Handel ohnehin längst ein deutsch-nationales
Element geworden sei. Die Einwände wurden von Miquel schlagend wider¬
legt, der die Fortfchrittler vor dem Zusammengehen mit dem Hauptvertreter
des Partikularismus warnte.
Im Anschluß an die Genehmigung der Vorlage ließ das Haus durch eine
Resolution der Regierung eine Unterstützung in ihren Plänen bezüglich des
Eisenbahnwesens zu Theil werden. Die Wiederaufnahme des Versuchs wegen
eines Neichseisenbahngesetzes ist ein patriotisches Werk. Deshalb that Windt¬
horst sein Möglichstes, das Mißtrauen der kleineren Staaten gegen Preußen
wieder wachzurufen. Miquel dämpfte nach Kräften, und Richter knüpfte die
Zustimmung der Fortschrittler an die Bedingung der Aufgebung des Reichs¬
eisenbahnprojekts sowie der Verstaatlichung der Eisenbahnen, bekam darauf
aber von Maybach ein ihn und Genossen charakterisirendes derbes Wort zu
hören, worauf die Fortschrittler zustimmten, ohne über die Erfüllung der Be¬
dingungen Sicherheit erhalten zu haben.
Die Berathung des Etats der Forsten und Domänen am 19. Dezember
bot nichts Bemerkenswerthes; die Berathung kleinerer Vorlagen am 20. De¬
zember ging nicht ohne kleinliche Parteistreitigkeiten ab. Wenn sich das Haus
mit Wiederbeginn der Sitzungen, am 8. Januar 1879 nicht besser an die Ge¬
schäfte hält, wird es sich dem Vorwurfe der Verschleppung nicht entziehen
können.
Die Prachtausgabe von Schiller's Werken (Stuttgart, Eduard
Hallberger) ist zum Schlüsse unseres Jahrganges bis zur 37. Lieferung gediehen
und hat damit den Tell und die Schiller'schen Bearbeitungen griechischer Dramen
zum Abschluß geführt. Das Werk hat bisher in der Ausstattung das Beste,
im Holzschnitt Alles geleistet, was in dieser Gattung bildlicher Darstellungs¬
weise nur zu leisten war.
Vielversprechend und schon durch den Namen des Herausgebers Jakob
von Falke in hohem Grade anziehend, ist das zur Zeit leider erst in
wenigen Lieferungen vorliegende Unternehmen des Verlags von Spemann in
Stuttgart, Hellas und Rom, welches eine Kulturgeschichte des ganzen
klassischen Alterthums zu bieten verheißt. Die ersten Lieferungen deuten schon
an die glänzende Anlage und den weiten großen Plan des Werkes, dessen Fort^
schreiten zum Ziele die Besten mit ihrem Interesse begleiten werden.
Bei W. Spemann, Stuttgart, ist weiter soeben der zweite Jahrgang de?
im vorigen Jahre begonnenen Almanachs für das deutsche Haus, Kunst und
Leben von Friedrich Bodenstedt in glänzendster Ausstattung, mit gediegenen
Beiträgen von Heyse, Bodenstedt, Kekulö, Riehl, Bischer, Hiller, Stieler, Frenzel
u. s. w. erschienen.
Das von uns schon oftmals erwähnte Liefernngswerk Unser Vater¬
land (Stuttgart, Gebr. Kröner) ist bis zur letzten uns vorliegenden Lieferung
(Ur. 26) über die Ennsthaler Alpen und Aussee noch nicht hinausgekommen.
Auch die deutsche Literaturgeschichte von Robert König, die
mit der vierten Lieferung abgeschlossen vor uns liegt (Leipzig und Bielefeld,
Velhagen und Klasing), darf in gewisser Hinsicht zu den Prachtwerken gezählt
werden. Denn so ernst und streng der im besten Sinne des Wortes fromme
Verfasser seine Aufgabe auch auffaßt und ausführt, dem deutschen Hause die
Schätze der deutschen Literatur zu erschließen und die Spreu vom Weizen zu
sondern: den Hauptreiz und die große verdiente Verbreitung dankt das Buch
doch der reichen Ausstattung mit Bildwerken, Schrift- und Druckproben u. s. w.,
welche gleichsam eine bildliche deutsche Literaturgeschichte darstellen.
Heinrich Kruse hat uns mit einem neuen Drama „Rosamunde" er¬
freut (Leipzig, S. Hirzel) — einem neuen Drama, das gleichwohl eines seiner
ältesten ist, denn seit 1859, da es zuerst entstand, hat er es sieben Mal um¬
gearbeitet, bis es nun vor die Welt tritt. Dieselbe historische Treue, derselbe
tiefe, weihevolle, sittliche Ernst, dieselbe edle, klangvolle Sprache, dieselbe klare
Charakteristik und schön durchdachte Gliederung der Handlung ist an dieser
dramatischen Dichtung Kruse's zu rühmen, wie an seinen früher erschienenen.
Unter all' den Lieder- und Gedichtsammlungen, welche zum Weihnachtsfest
angeboten werden, möchten wir Felix Dahn's Lieder und Balladen
(Leipzig, Breitkopf und Härtel) eine hervorragende Stelle zuweisen. Dahn ist
Meister der Form, zugleich aber auch — man braucht nur an seinen Roman
„der Kampf um Rom" zu erinnern, der an historischem Werth reichlich alle
Ebers'schen Phantasiegebilde aufwiegt — als Historiker so vertraut und ver¬
wachsen mit der deutschen Sagenwelt und der deutschen Geschichte der Dent-
und Gefühlsweise des deutschen Mittelalters, daß ihm hier wenige zeitgenössische
Dichter gleichkommen, und die reiche Sammlung seiner Balladen und Romanzen
einen Genuß gewährt, wie er seit Uhland nicht mehr geboten wurde. In
seinen Liedern und Sprüchen findet der Leser Perlen reiner, ergreifender und
formvollendeter dichterischer Empfindung. Und die patriotischen Gelegenheits¬
gedichte, mit denen die Sammlung schließt, leben uns allen noch in frischer
Erinnerung seit der bewegten Stunde, die sie schuf, und viele von ihnen werden
noch Manche nach uns erheben.
Die Frithjofs-Sage hat in Pauline Schanz eine neue gewandte
Bearbeiterin gefunden (Dresden, Meinhold und Söhne). Die Ausstattung,
namentlich Papier und Druck, könnte eleganter sein. — Andersen's Märchen
sind von Emil I. Jonas neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen,
von der Verlagsbuchhandlung (Bichteler und Co., Berlin) aber mit etwas groben
Holzschnitten ausgestattet worden. Derselbe Uebersetzer führt Richard Gustav-
sson's Märchen zum ersten Male in Deutschland ein. Derselbe Verleger illu-
strirt sie mit Holzschnitten derselben Gattung wie Andersen. — Für das Back¬
sischalter bietet M. Ermann eine reizende Erzählung „Nur ein Mädchen" in
sehr eleganter Ausstattung (Stuttgart, Schmidt und Spring).
Einige der bedeutendsten Erzeugnisse der neuesten deutschen Novellenliteratur
bietet der Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin in den bekannten blaßrothen
Umschlägen: Neue Novellen von Theodor Storm; vier Novellen und Er¬
zählungen von Rudolph Lindau; die feine zweibändige Erzählung „Croquet"
von Gustav zu Putlitz; die beste historische Novelle, die Wilhelm Imsen
geschrieben hat, „Karln von Schweden"; den durch den unmotivirten Tod des
Knaben Benno peinlichen Roman „Im Hause der Väter" von Otto Roquette;
endlich den vielgenannten, vielgedruckten und unseres Trachtens weit über Ge¬
bühr geschätzten neuesten Roman Berthold Auerbach's „Landolin von Reuters¬
höfen". Lange bevor diese jüngste Blüthe spinozistischer Dorfgeschichten ihren
Duft entfaltete, berichtete uns die dienstfertige Tagespresse, der Verfasser habe
seinen Stoff einer wirklichen Kriminalgeschichte des badischen Landes entnommen.
Man hätte daher wenigstens voraussetzen dürfen, der Verfasser werde sich mit den
Paar juristischen Förmlichkeiten, die er zu berichten hatte, dem Verfahren vor
dem Schwurgericht, dem Verkehr eines Angeklagten mit dem Vertheidiger, der
Zeitfolge der Parteivorträge und des Präsidialschlußwortes, deu Formen des
Wahrspruches u. s. w. bekannt machen. Aber überall begegnen wir nur den
ungeheuerlichsten Schnitzern. Nicht einmal, daß die Sträflinge kurzgeschoren
und nicht mit langem, wirrem Haar aus dem Zuchthause kommen, ist dem
Verfasser bekannt.
Mit besonderer Freude begrüßen wir schließlich die soeben erschienene vierte
Sammlung der Wiener Spazi ergänze von D. spitzer (Leipzig und
Wien, Julius Klinkhardt). Der Zeit nach umfaßt dieser Band die Wochenbe¬
richte des gefürchteten Satirikers vom 1. Oktober 1876 bis zum 22. Oktober
1878; dem Stoffe nach ziemlich Alles, was in diesen Tagen in Wien, Oester¬
reich, Deutschland u. s. w. die Menschen bewegt hat: innere und äußere Politik,
Theaternovitäten, Richard Wagner-Manie, Makart's neueste Leistung, die orien¬
talische Frage und den russisch-türkischen, sowie österreichisch-böhmischen Feldzug,
den Berliner Congreß, das Ableben Viktor Emanuel's und Pius' IX. und die
üblichen sommerlichen Reisebriefe eines Wiener Spaziergängers. Früher schon*)
haben wir versucht, die Verdienste spitzer's um eine ehrliche Kritik der Zustände
eines engeren Vaterlandes und die besonderen Vorzüge seiner Schreibweise
eingehend zu würdigen. Diese Verdienste und Vorzüge treten auch in dieser
Sammlung von Neuem hervor. Kein literarischer Feinschmecker wird diese
Sammlung ohne den höchsten Genuß ans der Hand legen. Je öfter man sie
liest, je mehr man sie auf die Form und die Mache prüft, um so feiner
empfindet man diesen Genuß. spitzer's Spaziergänge erregen uns immer den
Eindruck wie eine alte köstliche Damaszenerklinge. Ans den ersten Anblick
erweckt ein solches Schwert zunächst immer die Vorstellung, wie vorzüglich es
sich als Waffe habe brauchen lassen. Dann erst wendet sich das Auge dem
kunstvollen Schliff, den fleißig und geschmackvoll angebrachten Zierrathen zu.
Jedes Wort spitzer's ist ein kunstvoll gearbeiteter, fleißig und bedächtig ge¬
schliffener Dolch, an dem Jeder seine Freude hat, mit Ausnahme desjenigen,
den er trifft. spitzer ist aber vor Allem ein Charakter, der nicht, wie ein ge¬
feierter deutscher Kritiker in seinen Ansichten und Urtheilen haltlos hin- und
herschwankt, bald sich mit einem andern Kritiker und Richard Wagner schlägt
und bald mit denselben sich mehr als verträgt. spitzer ist seinen Ueberzeugungen
unerschütterlich treu. Er mag darin irren: er war ein leidenschaftlicher Russen¬
feind schon vor zehn Jahren, lange ehe die N. Fr. Presse, seine Lieblingspro¬
menade, türkenfreundlich war, er findet die Haltung der deutschen Politik in
der orientalischen Frage unbegreiflich, den Berliner Kongreß spaßhaft; sein
Haß läßt nichts von historischer Gerechtigkeit aufkommen. Er war ein Wagner-
Verächter solange er schreibt — und darin irrt er schwerlich. Aber er ist es
auch geblieben trotz aller Ruhinessanfaren und Reklamekünste, welche bei uns
die Stimme der Kritik übertäubten und den Bauernfang der Recensenten von
Bayreuth bis Lindau mit Erfolg betrieben.
Mit dieser Nummer scheidet der Unterzeichnete aus der Redaktion der
Grenzboten, die er acht Jahre geleitet. Derselbe bittet Leser und Mitarbeiter,
ihm ein freundliches Andenken zu bewahren.
Zur Beachtung.
Mit nächstem Hefte beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres
38. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Postan-
stalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro Quartal
9 Mark.
Leipzig, im Dezember 1878. Die Verlagshandlung.
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