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]]>Zeitschrift für Politik, Atemtur und Kunst.
3«. Jahrgang.
I. Semester. I. Sand.
Leipziq,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Will). Grunow,)
1877.
Am Ausgange des alten Jahres wiederholen sich die Scenen, welche wir
erlebten, als wir im Jahre 1870 den ersten großen Schritt zur deutschen
Rechtseinheit thaten, mit Annahme des deutschen Strafgesetzbuchs. Alle reichs¬
feindlichen Parteien — selbstverständlich einschließlich der sogen, deutschen Fort¬
schrittspartei — geberden sich so, als sei die letzte Würde des Parlamentes
begraben, der letzte Schimmer dessen, was man Charakter und Princip zu
nennen wagen durfte, erloschen. Sie geberden sich so, weil bei den großen
Justizgesetzen zwischen den beiden Katheder des Parlaments- und Regierungs¬
willens, die im rechten Winkel aufeinanderstießen, die Diagonale gezogen und
zum Gesetz geworden ist. Das Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte er¬
kennen sie Alle an, die Schwarzen und Rothen, die Polen und die Fraction
Eugen Richter-Saucken. Aber in der Politik soll es nicht gelten. Da setzt
man in schnurgerader Linie über den Strom. Da giebt es keine Reibung und
keine Hindernisse für die von der Curie und der „Volkszeitung", dem „Vor¬
wärts" und dem „Curier poznanski" sauctionirten unveräußerlichen „Principien."
Da heißt es biegen oder brechen, sonst ruht, um mit Herrn Saucken zu reden,
die parlamentarische Würde und Freiheit unter einem Leichensteine. KabsÄnt
sibi dürfte die geeignete Grabschrift lauten — für die überlebenden Urheber
dieser Beisetzung.
Auch die vollkommene Verständnißlosigkeit für die Unerträglichkeit und den
Jammer der bisherigen deutschei; Rechtszerrisfenheit, für die seit Jahrhunderten
überkommenen und fortgelebten Rechtsmißbränche findet sich bei den Gegnern
des Zustandekommens der deutschen Justizgesetze heute mit derselben rührenden
Naivetät ausgeprägt, wie 1870 in den für Annahme des deutschen Strafgesetz¬
buchs entscheidenden Tagen. Damals wie heute verschlossen sich die Gegner
des Abschlusses, die Anwälte der Ablehnung und Vertagung auf unbestimmte
Zeit, geflissentlich die Augen über die Zustände, die fortbestehen mußten, wenn
in ihrem Sinne entschieden worden wäre. Damals wie heute wollten sie alle
großen Fortschritte der neuen Gesetzgebungsarbeit preisgeben, lieber das unleid¬
liche Alte fortbestehen lassen, weil das Phantom ihrer Wünsche nicht vollkommen
Gestalt gewonnen und Berücksichtigung erfahren hatte. Die Socialdemokraten
und der sogenannte Fortschritt polterten damals über die Aufrechterhaltung
der Todesstrafe für Mord und Fürstenattentat, mit solchem Zorn und Eifer,
als ob alle bekannten Ahnen der Unzufriedenen feit Deukaleons Zeiten auf
dem Schaffst gestorben wären, und die Beseitigung ähnlicher Todesursachen
für sie zu eiuer dringenden häuslichen Angelegenheit geworden sei. Sie über¬
sahen dabei vollständig, daß, wenn das Strafgesetzbuch abgelehnt wurde, die
Todesstrafe in Preußen allein auf vierzehn (statt zwei) Verbrechen in gesetzlicher
Wirksamkeit fortbestand, Zuchthausstrafe anch bei politischen Verbrechen (ohne
Prüfung der Ehrenhaftigkeit oder Ehrlosigkeit der Gesinnung) erkannt werden
durfte, die Redefreiheit der Einzellandtage so problematisch war als bisher,
der Begriff des Widerstandes gegen die Staatsgewalt, die Aufreizung zu Haß
und Verachtung u. s. w. ihren in den Reactionsjahren erhaltenen Gummi¬
charakter noch immer bewahrt hätten.
Ganz in derselben Weise verschlossen die Gegner des Compromisfes über
die Jnstizgesetze die ihnen von einer gütigen Vorsehung verliehenen Sinne
gegen die eminenten Fortschritte der großartigen Neuerung, welche diese Gesetze
über Deutschland herausführen. Daß die Polen allerdings jedem Gesetze
grollen, welches deutscher Gewissenhaftigkeit in der Rechtsprechung, der Er-
starkung deutscheu Wesens und deutscher Sprache weite Bahnen öffnet, statt,
wie unter dem System Muster, die Deutschen zu Gunsten der Polen zu ver¬
gewaltigen, finden wir natürlich. Daß die Socialdemokraten mit dem ihnen
zum Bedürfniß gewordenen theatralischen Aufwand durch Herrn Hasenclever
erklären, nicht mehr anzuthun, wenn ein großes Stück deutschen National-
strebens vollendet wird, das kann nur der Nichtkenner dieser Partei der cyni-
schen Vaterlandslosigkeit und gesellschaftlichen Auflösung auffallend finden.
Und wenn die Partei, welche von Rom ihre Losung und Führer empfängt,
allen Gesetzen widerstrebt, die ihrer Gesetzesanflehnung nicht völlige Straflvsig
keit sichern, so ist das ein Act aus dem Triebe der Selbsterhaltung, der dem
geringsten Thier innewohnt. Aber daß die sog. Fortschrittspartei, welche sich
sogar die „deutsche" nennt, bei dieser Gelegenheit ein so trauriges Debüt gab,
das könnte uns um einiger Männer von gutem Klang willen, die auf den
Bunten dieser Partei noch heute sitzen, leid thun. Es gab eine Zeit, wo die
Schulze-Delitzsch und Wiggers, die Duncker u. s. w. gehobenen Herzens
mahnten, vorerst einmal die Einheit des Rechtes in der und jener wichtigen
Frage für ganz Deutschland zu begründen, dann werde der Ausbau im Ein-
zelnen, den Mancher vielleicht noch wünschen möge, dnrch die gemeinsame
Discussion und den gemeinsamen Druck der ganzen Nation jedenfalls viel
leichter zu verwirklichen sein, als durch die energischsten Bestrebungen in den
einzelnen Staaten und Kammern. Das ist allerdings schon lange her. Es
geschah zu den Zeiten des seligen Nationalvereins, und es war damals frei¬
lich nicht zu befürchten, daß den Wünschen der Nationalvereinsredner gleich
die That und Verwirklichung folge. Aber der damals ausgesprochene Grund¬
satz ist durch die seitherige Entwickelung der Dinge sicherlich in keiner Weise
erschüttert, sondern nur befestigt worden. Wir haben seither an Hunderten von
Erfahrungen gelernt, daß ans dem Gebiete der Reichsgesetzgebung berechtigte
Wünsche und Fortschritte ungemein viel rascher zum Ziel gelangen, als in dem
mühsamen und zersplitterten Treiben der Einzelstaaten.
Und trotz alledem stimmte die sog. deutsche Fortschrittspartei gegen das
Zustandekommen der Reichsjustizgesetze. Trotzdem verwarf sie die eminenten
Fortschritte, welche diese Gesetze in Betreff der Verfvlgbarkeit ungesetzlicher
Handlungen von Beamten, in Betreff der Gerichtshöfe über Competenzconflicte,
in Betreff der Beseitigung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft, der
Beschwerdeführnng gegen dieselbe, der Aufhebung des bisher in Preußen gegen
die verantwortlichen Redacteure von Preßerzengnissen geübten Zengnißzwanges
und in Betreff des bestimmten letzten Termins der Jnkrafttretung der Reichs¬
justizgesetze verbürgen!
Für diejenigen, welche die Haltung dieser Fraction in dem letzten Jahr¬
zehnt genauer verfolgt haben, bedarf freilich auch dieses ihr Gebahren gegen¬
über den Justizgesetzeu keiner Erklärung. Die sog. „deutsche" Fortschrittspartei
hat in diesem Zeitraum, der uns an ein Jahrhundert und mehr gefordert hat,
gegen alle Gesetze und Fortschritte gestimmt, auf welche wir stolz sind: gegen
die norddeutsche Bundesverfassung und das Kriegsdienstgesetz von 1867, gegen
die Buudeskriegspflicht der Südstaaten bei Erneuerung der Zollvereinsverträge
1867, gegen das Strafgesetzbuch und gegen die Versailler Verträge 1870, gegen
die Reichsverfassung 1871 und gegen das Jesnitengesetz, gegen das Reichs-
militairgesetz und gegen den eisernen Kriegsfonds, gegen den deutschen Zolltarif
wie er heute besteht (im Zollparlament), alljährlich gegen eine ganze Reihe
der wichtigsten Etatpositionen, ohne welche die Erhaltung des deutschen Reiches
geradezu unmöglich wäre und nun zur Krönung dieses Verhaltens gegen die
Justizgesetze. Eine solche Partei hat in keiner Weise das Recht, sich eine fort¬
schrittliche, noch weniger sich eine deutsche zu nennen. Sie ist lediglich die
Partei der Reaction der Opposition gegen das gesunde Vorwärtsschreiten des
nationalen Lebens. Und sie hat sich die Bundesgenossen für ihr Treiben
außerhalb und innerhalb des Parlamentes lediglich in den Reihen der Reichs¬
feinde zu suchen, nicht nnter den nationalen Parteien Deutschlands.
Wie in allen großen Krisen die Klarheit der Gegensätze gewinnt, so hat
auch die Fraction Richter, welche aus einer unbegreiflich zähen Vorliebe für
das Alte sich deutsche Fortschrittspartei neunt, plötzlich, und leider viel richtiger
als manche Führer der nationalliberalen Partei, erkannt, daß sie mit der großen
Partei, welcher das Kompromiß über die Jnstizgesetze hauptsächlich zu danken
ist, absolut keine Fühlung habe. Sie hat den Nationalliberalen daher alle
Freundschaft gekündigt, die Wähler „ans Wacht" gerufen und die Lösung aus¬
gegeben, keinen Nationalliberalen zu wählen.
Unsere Freude über das Zustandekommen der Justizgesetze ist groß und
begründet in dieser mächtigen Errungenschaft der nationalen Entwickelung. Sie
hat mit Parteirücksicht nichts zu thun. Aber diese Kriegserklärung der Fort¬
schrittspartei an die Nationalliberalen bereitet uns fast ebenso große Freude.
Denn dieses Zerwürfnis; ist die unmittelbare, zuerst fühlbare und am Vor¬
abend der am 10. Januar zu vollziehenden Reichstagswahlen doppelt werth¬
volle Frucht des Zustandekommens der Justizgesetze. Möchte diese Feindschaft
eine recht gründliche, recht unversöhnliche werden! Um so rascher wird die so¬
genannte Fortschrittspartei sich abwirthschafteu, um so klarer und geachteter
wird die Stellung der nationalliberalen Partei werden.
Anscheinend nur die Besorgniß vor der neu entstandenen sogenannten „dentsch-
cvnservativen Partei" veranlaßteiln Laufe des vergangenen Sommers und Herbstes
einige Führer der nationalen Partei, die Losung einer Coalition der nationalen mit
der Fortschrittspartei für die Wahlen zum preußischen Landtag und zum dentschen
Reichstag auszugeben. Diese Besorgniß hat sich schon bei den Wahlen zum
preußischen Landtag als eine völlig unbegründete erwiesen. Dasselbe werden
die Reichstagswahlen darthun. Denn die „deutsch-conservative" Partei befrie¬
digt das anerkennenswerthe Bedürfniß nach einer Neubildung und Sammlung
der conservativen Kräfte Deutschlands in keiner Weise. Die „Deutsch-Conser-
vativen" bieten in ihren Reihen die bunteste Karte von Ansichten und Meinun¬
gen, welche je zu einer „Partei" sich zusammen fanden. Die Mucker und die
Agrarier, die junkerlichen Reactionüre Altpreußens und die reactionären Par-
ticularisten Sachsens und Hannovers, die Zünftler und die Schutzzöllner haben
sich zu dieser „Partei" angefunden. Allen diesen Elementen ist nur Eines ge¬
meinsam: Die Unzufriedenheit mit deu bestehenden Zuständen, mit dem
freisinnigen und deutscheu Charakter der nationalen Enwickelnng im letzten Jahr¬
zehnt. Und das will eine conservative Partei sein? Sie, die das Bestehende
auflösen, die bisherige Entwickelung zurückdrängen möchte. Es ist kein Zufall,
daß die wenigen Abgeordneten, welche uuter diesem neuen Banner ans den
Preußischen Wahlen hervorgingen, nicht einmal den Versuch gemacht haben,
eine Fraction zu bilden. Jeder derartige Versuch müßte schou ein den ersten
Abstimmungen der neuen Fraction scheitern. Einem so unbedeutenden Gegner
zuliebe brauchte die nationale Partei unseres Trachtens keineswegs das un¬
natürliche Wahlbündnis; mit der Fortschrittspartei in's Auge zu fassen und
einzugehen.
So hoffen wir denn zuversichtlich, daß aus den Rcichstagswcchlen des
Januar die große Partei, welche bei dem Zustandekommen der Jnstizgcsetze
abermals einen so glänzenden Beweis ihrer patriotischen Selbstverleugnung
und ihrer practischen politischen Tüchtigkeit gegeben hat, mindestens in derselben
Stärke hervorgehe, als sie bisher gewesen, noch klarer und fester als bis¬
her, da sie ihre Wahlsiege hoffentlich nicht dem faulen Bunde mit der Fort¬
schrittspartei danken wird. Wir wollen nicht prophezeihen, aber sehr bestimmte
Anzeichen deuten darauf hin, daß die Kraft der gefährlichsten Reichsfeinde, der
Ultramontanen und Socialdemokraten im Rückgang begriffen ist, und daß die
Anhänger dieser Partei daher kaum in der bisherigen Anzahl bei den nächsten
Neichtagswcihlen gewählt werden dürsten.
Wir haben im ultramontanen Lager die deutlichsten Symptome des Ver¬
falls vor Augen. Die geistlichen Anführer in der Rebellion gegen den Staat
haben die Heerde feige im Stiche gelassen, haben nur ihre werthe Person vor
dem wuchtigen Arme der strafenden Gerechtigkeit in Sicherheit gebracht. Eine
große Anzahl verführter Priester hat sich den Staatsgesetzen unterworfen. Zu
einem dauernden compacten Wiederstande ist Niemand unfähiger, als die große
Masse, am wenigsten dann, wenn die Flamme des Fanatismus nur durch so
künstliche Spitzfindigkeiten zu erhalten ist, wie sie der Ultramontanismus im
Kampfe gegen den Staat aufbieten muß, um den Widerstand fortzusetzen.
Was die Socialdemokratie anlangt, so türmen ihre Organe und Reise¬
prediger natürlich anch vor diesen Wahlen so sicgesprahlend wie immer. Die
Verschmelzung der Eisencicher mit den Lasallecmern scheint sie zu kräftigen.
Aber wiederholt ist schon in diesen Blättern ausgesprochen worden, daß
das nur Schein ist. Sie haben sich vereinigt, weil sie sich deu Luxus ver¬
schiedener Meinungen uicht mehr gönnen durften, ohne allmählig selbst bei den
Getreuen alleu Glauben einzubüßen und vor Allein deßhalb, weil die Partei
mit ihren äußersten Anstrengungen und trotz der Androhung so schimpflicher
Behandlung der Renitenten, wie sie keine andere Partei ihren Anhängern zu
bieten wagen würde, nicht mehr die Mittel aufzubringen vermochte, um zwei
Parteiorgaue und zwei Parteihauptquartiere zu erhalten. Das ist der
wahre und der einzige Grund der Vereinigung, die im Uebrigen nur
den völligen Sieg der vaterlandslosen Internationale über die von Haus
aus wenigstens auf nationalem Boden erwachsene Heilslehre Lasalles be¬
deutet. Und je mehr sich die Socialdemokratie von dem Mutterboden des
Vaterlandes entfernt, je schamloser und unverhüllter sie die heiligste» Er¬
innerungen und Gefühle unsres Volkes mit Füßen tritt, um so rascher ist
ihr der Niedergang gewiß. Der erschreckende Pauperismus an Gedanken
und Begeisterung, an dem sie von jeher gelitten, ist noch nie so nackt
zu Tage getreten, als seitdem sich die Verewigung der socialistischen Parteien
vollzogen hat, und namentlich seit dem Beginn der Wahlagitation. Nicht der
Schatten natürlicher Begeisterung, nicht die Spur innerer Ueberzeugung, eigener
neuer Gedanken in allem, was da vou Socialisten geredet und geschrieben wird.
Ueberall auch die alte Armuth an Talent. Menschen von der absoluten par¬
lamentarischen Werthlosigkeit eines Hasselmann, Vahlteich, Hasenelever, welche
in jeder andern Partei nach ihren Leistungen und Verstaudesproben für immer
unmöglich wären, werden aus Maugel an Material immer wieder aufgestellt
und nur mühsam wird die Blöße damit bedeckt, daß die Herren Bebel und
Liebknecht in etwa zwanzig Wahlkreiseu zugleich aufgestellt werdeu.
Ein besonders augenfälliger Grund für den Rückgang der Socialdemokratie
mag freilich in den traurigen Geschästsverhültnissen liegen, unter denen Deutsch¬
land am Ausgang des Jahres noch ebenso leidet, wie zu Anfang desselben.
Auch der Blödeste erkennt, daß es trügerische Lehre» waren, als die socia-
listischen Führer in den Jubelwochen der Milliarden das Sparen verboten
und ihre Weisheit als den Heilstrost für gute und böse Tage anpriesen. Jeder
leidet hente mehr oder weniger unter der Schwere der Zeit. Aber auch hier
künden uus die besten Kenner der Volkswirthschaft und darunter ein so vor¬
sichtiger Rechner, wie der preußische Finanzminister, daß das Barometer auf
besseres Wetter, größeres Vertrauen und größre Unternehmungslust zeige. Ge¬
wiß nicht am wenigsten aus dem Grunde, weil die orientalische Frage, welche
die östlichen und westlichen Völker Enropa's in ihren wichtigsten Lebens¬
interessen berührt und in der peinlichsten Spannung hält, Dank der Staatskunst
des Lenkers unserer Politik unter keinen Umständen für Deutschland einen
friedensbedrohlicheu Charakter annehmen wird.
So mögen denn dem lieben Vaterlande alle die reichen Hoffnungen,
Die weiten Landstrecken östlich des Caspischen Meeres bis nach den west¬
lichen Ausläufern der Tjcm-Schein-, Alaran-, Großen Altai-Gebirge hin bilden
an dem oberen und mittleren Laufe des Ann- und Ssyrdarja, dem Oxus und
Jaxartes der Alten, das Hochland des alten Turan. An dem unteren Laufe
der beideu Flüsse dagegen und dann weiter bis zum Caspischen Meere gestalten
sie sich zu einer trostlosen Steppenniederung, welche nur hier und da durch
fruchtbare Oasen unterbrochen wird.
Die Bewohner dieser fernen Gegenden, der arischen und turanischen Race
angehörend, haben in der Geschichte uur zwei Mal die Aufmerksamkeit der
abendländischen Völker auf sich gezogen: zum ersten Male, als sie den Er¬
oberungsplänen Alexanders von Macedonien nicht ohne Erfolg entgegentraten
und damals, als Timur mit seinen Horden von hier aus zur Eroberung der
Welt auszog. Nach diesen beiden kurzen Episoden vollständig unbedeutend
geworden, erinnerten nur die ewigen Kriege, welche sie lediglich nach den Launen
und zum Nutzen ihrer Tyrannen unter einander führten, und welche nach
Einführung des Mohamedanismus im achten Jahrhundert besonders grausam
und fanatisch geworden waren, die Welt an ihre Existenz. Erst als der
russische Fuß die Steppen Mittel-Asiens betrat, tauchten auch die turanischen
Völkerschaften wieder aus der Vergessenheit auf. Ihre Gebiete haben im
Großen und Ganzen denselben Charakter: Oasen bilden ihre Kernländer, und
sind von riesigen Steppenflächen umgeben, welche von diesen in größerer oder
geringerer Abhängigkeit stehen.
Das westlichste der drei Reiche — Chiwa — eine kleine Oase an dem
unteren Laufe des Ann-darja erstreckte seiner Zeit seine Machtsphäre über die
östlich und nordöstlich vom Caspischen Meere gelegenen Steppen. Oestlich
davon liegt Buchara, das die sehr fruchtbaren Niederungen längs des Flusses
Sariawschau und des oberen und mittleren Ann-darja zu seinem Hauptgebiete
zählte. Noch weiter östlich endlich zwischen dem Tjan-schau-Gebirge und
Buchara, zwischen Karatepin und dem Lande der Großen Horde der Kirgisen
bestand das Chanat Kokain.
Die Bewohner aller drei Reiche bilden ein buntes Gemisch der ver¬
schiedensten Racen und Stämme, welche je nach dem Maaße ihres numerischen
Uebergewichtes, ihres Reichthums, ihrer Intelligenz zu den herrschenden oder
zu den Unterdrückten gehören. So herrschten sowohl in Chiwa, wie in Buchara
und Kokan die Usbeken, ein Volk türkischer Abstammung. Sie geben den
Reichen die Cherr und Visire, die Anführer der Truppen, die höchsten Beamten
der Verwaltung, wenn von einer solchen hier überhaupt die Rede sein kann, und sind
so die Stützen der despotische« Autokraten, die mehr oder weniger ihrem Ein¬
flüsse unterworfen sind, Zum Theil sind es reine Nomaden, zum Theil siud
sie ganz-, zum Theil halbangesessen. Ihre Lebensweise ist die eines Steppen-
Barbaren. Der Usbek hält es unter seiner Würde, irgend eine häusliche
Arbeit zu verrichten. Dazu hat er die vollständig zu Sclaven herabgewürdigten
Frauen. Ans diesem Grundzuge seines Charakeers erklärt sich auch sein Haß
gegen die Tadjiki — die Hauptvertreter der arischen Race in dem Hochlande
Turans —, welche, bei einem regen Hange zum Erwerben, durch ihren größeren
Reichthum leicht das Uebergewicht über die Usbeken gewinnen. Letztere belegen
die Tadjikis mit dem Namen Ssarten, was gleichbedeutend mit Spitzbube, ein
Synonymon für dieses Volk geworden ist. Der Usbeke ist ein fanatischer Maho-
medaner, der Tadjiki steht dein Islam ziemlich indifferent gegenüber. Unter¬
würfiger, gefügiger als die Usbeken, geben die Tadjikis oder Ssarten den über
die Länder herrschenden Autokraten gute Werkzeuge für die oberen Verwaltnngs-
posten ab. Sie wissen hier stets die Vortheile derselben bei Eintreibung der
Abgaben wahr zu nehmen, ohne dabei ihren eignen Gewinn etwa außer Augen
zu lassen. Wie groß aber dieser sein mag, geht daraus hervor, daß sie jene
Stellen oft sehr theuer erkaufen. Ihre Lebensweise ist überall dieselbe: sie
leben als Ackerbauer, Händler, Handwerker, Schreiber, Mullas, in den
Städten und Ortschaften. In Buchara haben die Tadjikis entschieden das
Uebergewicht über die anderen Nationalitäten. — Die Turkmenen spielen
eine sehr wichtige Rolle in dem Chanat Chiwa; weniger ist dies in Buchara
und Kvkau der Fall. Der türkischen Race angehörend, zerfallen sie in eine
Menge Stämme und führen ein reines Nomadenleben. Die Viehzucht giebt
ihnen die Existenzmittel, aber sie leben nicht bloß von dieser allein: sie sind
anch als die gefährlichsten Steppenräuber bekannt. Bald nehmen sie ihre
Raubzüge nach Persien, bald fallen sie in russisches Gebiet ein, und bis vor
kurzem fanden sie für ihre Gefangenen, die sie als Sclaven verkauften, einen
nur zu guten Markt in Chiwa. — Einen sehr wesentlichen Bestandtheil der >
Bevölkerung der mittelasiatischen Gebiete bilden dann die Kirgisen, welche als
Nomaden überall das gleiche Hirtenleben führen. Im Sommer halten sie sich
in den Gebirgen, im Herbst und Frühjahr in den Ebenen auf, während sie im
Winter ihre Heerden in die Röhrichte an den Flüssen und an den Seeufern
treiben. Ebenso wie die Turkmenen zu Räubereien geneigt, traten sie besonders
in den Beziehungen Rußlands zu Chiwa als ein wichtiger Factor auf. — Ist
in deu nördlichen Gegenden des Khanats Chiwa noch das Nomadenvolk der
Karakalpaken zu nennen, so treten hauptsächlich in dem Chanat Kokain noch die
Kara-Kirgisen oder die Buruten auf. Letztere zerfallen wieder in verschiedene
Stämme, von denen die Adygine, Kiptschaken, Naimcmen in Kokan leben und
hier in der letzten Zeit einen bedeutenden Einfluß auf das Geschick des Chanats
geübt haben. Führen wir noch die Hindu, die Afghanen, die Araber und
Juden an, welche in geringer Zahl jenen Hauptvölkerschaften beigemischt leben,
so hat sich uns die so mannigfaltig gestaltete ethnographische Charte dieser
Gegenden in ihren Hauptzügen entrollt. Ohne sich zu einem harmonischen,
in sich selbst starken Ganzen zusammenzufügen, stehen diese einzelnen Natio¬
nalitäten, von den verschiedenartigsten Interessen geleitet, sich oft feindlich gegen¬
über. Durch stete innere Kämpfe geschwächt, werden sie unfähig, einen festen
nachhaltigen Widerstand nach außen zu leisten.
Auch das Regierungssystem der einzelnen Reiche, wenn es überhaupt
„System" genannt werden kann, ändert hieran nichts. Ein autokratisch-des¬
potisches — häugt das Geschick der Bevölkerung allein von der Persönlichkeit
ihres Tyrannen ab: der größere oder geringere Hang desselben zur Grausamkeit,
zur Knechtung und Unterdrückung bestimmt vor allem den Grad des Wohl¬
lebens des Volkes. Bei einem sast gleichen Verwaltungstypus sind jene drei
Reiche in Bezirke verschiedener Größe getheilt, deren Spitzen als Beth, Akssa-
kalen, Chakims, Datschen, eine ziemlich ausgedehnte Macht haben. .Diese
Beamtenhierarchie fungirt nach den bestehenden Gesetzen oder vielmehr Ge¬
bräuchen, welche in den Medressen gelehrt werden. Die Verwaltungsbeamten
haben übrigens kaum einen anderen Zweck, als die Abgaben für den Chan
oder Emir einzutreiben und nach dem Anziehen der Steuerschraube wird
wesentlich ihre Qualifiecition beurtheilt. Die Abgaben bestehen in Chiwa in
einer Grund- und Gebäudesteuer. In Buchara betragen die Abgaben ein
Drittel der geernteten Feldfrüchte, während in Kokan dieselben nach Tschariks
(einem Getreidemaaße) und nach Tills (einer Münze) berechnet wurden. Im
Jahre 1840 haben sie eine Höhe von cirea 2 Millionen Tschariks oder 8
Millionen Pud, und von 216,000 Tills oder 800,000 Rubel erreicht, — bei
^-»'^Bevölkerung von nicht über 700,00 Seelen. Dazu kommen die Unter¬
schleife ^'^bübereien der Beamten und man wird sich vorstellen können,
in was für drückenden Behältnissen das Volk lebt.
Daß somit ein Maaßstab nach europäischen Begriffen an jene Reiche, die
schon in Folge der eigenthümlichen territorialen Verhältnisse keine scharf mar-
kirten Grenzen haben tourner, nicht angelegt werden kann, möchte wohl auf
der Hand liegen. Man hat es hier eben mit ganz abnormen Verhältnissen
zu thun. —
Dieses nach Land und Leuten so eben skizzirte Gebiet wurde den Russen,
ebenso wie das nördliche Asien durch Kosaken, welche vom Jaik- (Ural-) Flusse
kamen, erschlossen. Freilich endete der erste um das Jahr 1570 gegen Chiwa
gerichtete Zug, wie auch der zweite unter Führung des Atcunans Netschai
und der dritte, vom Ataman schemal geleitete mit der Niederlage, ja völligen
Aufreibung der kühnen Abenteurer, ohne daß irgend ein Erfolg erzielt wäre.
Nunmehr war es aber die Regierung, welche die Initiative in den mittel'
asiatischen Angelegenheiten ergriff, und nie hat sie sie wieder aus der Hemd
gegeben.
Wie sich Alles, was Rußland erreicht hat, was es geworden ist, in seinen
Anfängen auf Peter den Großen zurückführen läßt, so ist auch er es gewesen,
welcher den ersten Schritt gethan hat, um seinem Reiche einen Einfluß in
Immer-Asien zu sichern. Er erkannte schon damals die hohe Wichtigkeit, welche
Mittelasien in handelspolitischer Beziehung für Rußland haben mußte, und
gab deshalb den dringenden Bitten des Chans von Chiwa, fein Reich zum
Schutz gegen Buchara als Vasallenstaat anzuerkennen, nach. Der bezügliche
Mas vom 30. Juni 1700 führte allerdings keine positive Aenderung in dem
bisherigen Verhältnisse Chiwas zu Rußland herbei. Ersteres zahlte den ver¬
sprochenen Tribut nicht und Rußland leistete seinerseits auch jenem keine Unter¬
stützung gegen seine Feinde.
Peter ließ indessen Chiwa nicht aus den Augen: Am 29. Mai 1714 be¬
fahl er eine Expedition dahin auszurüsten und betraute den Tscherkessenfürsten
Alexander Bekvwitsch mit deren Leitung. Nach Rekognoscirung der Halbinsel
Mcmgyschlak und des alten Oxus-Bettes im Jahre 1715 erstattete der Fürst
dem Kaiser Bericht und erhielt von diesem nunmehr die Instruction: zuerst
am alten Oxus-Bette ein Fort anzulegen, dann ersteres noch genauer zu re-
kognosciren und wenn möglich wieder Wasser hineinzuleiten; — in Chiwa selbst mit
den: Chan in freundschaftliche Beziehungen zu treten, demselben die Erbfolge seiner
Dynastie zu garantiren und ihm nöthigen Falls Hülfstruppen zur Verfügung
zu stellen; — dann solle er mit gleichem Auftrage eine Gesandtschaft nach
Buchara senden und schließlich einen Handelsweg nach Indien erforschen.
Im Jahre 1716 setzte sich die Expedition in Bewegung. Bei Tjup-Kai-aann
sowohl, wie am Balkan-Busen wurden Forts angelegt nud ^?ur?co 3300
Mann mit 6 Geschützen concentrirt. Im Juni 1717 Zuckten letztere nach dein
Euba-Flusse und von hier aus auf der alten Karawanen-Straße in südöstlicher
Richtung auf Chiwa. Am 18. Tage erreichten sie das Plateau des Ast-Art
und nach sechswöchentlichen Wüstenmarsche den ausgetrockneten Barsa-Kil-
maß-See, wo ein Fort angelegt und längere Zeit gerastet wurde. Der Plau,
gleichzeitig eine andere Abtheilung von Kraßnvwodssk aus nach Osten vorrücken
zu lassen, scheiterte an den dort ausgebrochenen Krankheiten und an dem
Mangel von Lastthieren, deren Gestellung die Nomaden verweigerten.
In Chiwa hatte sich indeß die Situation vollständig geändert: der den
Russen freundliche Chan hatte einem anderen, jenen feindlich gesinnten Platz
machen müssen. Das Land war vollständig gerüstet, und die vom Fürsten
Bekowitsch-Tscherkasski vorausgesandte Gesandtschaft wurde von den Chiwesen
gefangen genommen.
Die russische Colonne, welche sich mittlerweile bis auf 140 Werst der
Stadt Chiwa genähert hatte, schlug allerdings die sich ihr entgegenstellenden
Feinde, fand aber selbst durch Verrath ihren Untergang, nachdem Bekowitsch
selbst ermordet war. —
Auch dieser, immerhin mit großer Umsicht und großen Hoffnungen in's
Werk gesetzte vierte Zug der Russen blieb somit ohne directen Erfolg, wenn
auch die zwischen der Wolga und dem Ural wohnenden Kirgiskosaken russische
Unterthanen wurden. Für 122 Jahre — bis zum Jahre 1839 — waren die
Beziehungen Rußlands zu Chiwa unterbrochen. Es trat ein Antagonismus
ein, welcher erst in der neuesten Zeit völlig zum Austrag kommeu sollte.
Die russische Grenze in Asien lief im Jahre 1725 längs der Flüsse Ural
und Mijaß auf Kurgan und Omssk, von hier längs des Irtysch und der
Vorberge des Altai zwischen Biissk und dem Telezkischen See hindurch, an
den Quellen des Abakan vorbei nach der jetzigen Grenzlinie mit China hin.
— Während also das Gebiet aller sich nach Norden ergießenden Ströme in
den Besitz Rußlands schon übergegangen war, gehörte demselben in Mittel-
Asien noch nicht ein Fuß breit Landes.
Das Jahr 1732 führte aber in dieser Beziehung eine große Aenderung
herbei. Die Chane der kleinen und mittleren Horde der Kirgisen Abdulchair
und Schemjaka boten der Kaiserin Anna ihre Unterwerfung an, um sich gegen
ihre eigenen Unterthanen zu schützen. Dem Einfluß ihres ehrgeizigen Günst¬
lings Biron von Kurland nachgebend, trat die Kaiserin die Herrschaft über jene
Gebiete an und kam fo in den Besitz eines Territoriums, das sich im Süden
der damaligen russischen Grenze vom Ural bis zum Balchasch-See erstreckte
und hier an das Gebiet der Großen Horde der Kirgisen stieß. —
Unter der Regierung der Kaiserin Katharina II. erhielt Rußland keinen
Zuwachs an Land in Asien. Wohl aber ließ die große Kaiserin die russische
Macht hier tiefe Wurzeln treiben. Sehr geschickt wußte sie ans den inneren
Händeln und Zwistigkeiten der Völker dort Antheil zu ziehen; das alte Wort
„cliviäe et iwxerg." hatte auch hier seine volle Wirkung.
Abgesehen von den kleinen, meist gegen die eigenen nen erworbenen Unter¬
thanen gerichteten Expeditionen, war in den letzten Jahren des achtzehnten und
den ersten des neunzehnten Jahrhunderts in der asiatischen Politik Rußlands
eine vollständige Ruhepause eingetreten. Die kriegerischen Verwickelungen dieser
Jahre im Westen Europas hielten die Kräfte Rußlands zu sehr gebunden, um
sich selbst im fernen Osten frei bewegen zu können. Erst gegen das Jahr 1820
machte sich hier wieder Leben und Bewegung bemerkbar, um dann allerdings
bis auf die neueste Zeit, ja — bis auf den heutigen Tag anzudauern.
Der erste Schritt in der mit diesem Jahre neu anbrechenden Epoche in
der Geschichte der russischen Eroberungen in Mittel-Asien geschah in der Ab¬
sicht, die bis dahin eigentlich nnr nominell dem russischen Doppelaar Unter¬
thanen Kirgisen zu wirklichen zu macheu. Der damalige General-Gouverneur
von Sibirien, Ssperansskij legte zu dem Ende in den nen projectirten Verwal¬
tungscentren der mittleren Kirgisen-Horde befestigte Posten an, die sich all¬
mählich zu einer sogenannten „Linie" — nämlich zu einer Reihe befestigter
Pnnkte zum Schutze der Grenzen und zum Zwecke, die eigenen noch unbot¬
mäßigen Unterthanen im Zaume zu halten — gestalteten. Ebenso entstand
die vordere ilezkische Linie unweit Orenburg im Lande der kleinen Horde. —
Diese Linien erfüllten aber ihren Zweck nicht: Die Kirgisen wurden nicht zum
Gehorsam gebracht, die Unruhen dauerten nach wie vor fort, zumal sie von
Chiwa geschürt wurden, das den Rädelsführern jeder Zeit eine gesicherte Zu¬
flucht bot. Um also das Uebel bei der Wurzel anzugreifen, mußte sich Ru߬
land gegen Chiwa wenden, mußte Chiwa zu Boden werfen.
Die in den Jahren 1819, 20, 22 und 23 von den Generalen Mura-
wiew, Meyendorf und Berg zu militärpolitischen Zwecken ausgeführten Reisen
in jenen Gegenden, hatten ergeben, daß die von dem General Berg einge¬
schlagene Route zwischen dem Caspischen- und Ural-Meere hindurch die für
militärsche Operationen relativ günstigste wäre, so viel Schwierigkeiten sie an
und für sich auch bieten mochte. Eine Cooperation von der 1834 an der Kaidak-
Bucht im Caspischen Meere zur Schonung der Fischer gegen die Raubzüge
der Steppennomaden angelegten Befestigung Rooo-Alexandrowssk sollte dies
Mal nicht stattfinden. Diese allerdings kürzere Linie wurde nur für die Zu¬
fuhr von Verpflegung in Aussicht genommen.
Unter der Oberleitung des Kriegsministers Grafen Kankrin wurden von dem
General-Gouverneur von Sibirien, General Perowskij, welcher die Expedition
leiten sollte, die sorgfältigsten Vorbereitungen getroffen. Letztere erstreckten sich
vor Allem auf die Sicherstellung der Verpflegung, für den Marsch durch die
Wasser- und futterarme trostlose Einöde der Steppe. So legte man an dem
Euba-Flusse etwa 400 Werst südlich Orenbnrg den Euba-Posten und 160
Werst weiter südlich nach dem Ast-Art-Plateau zu den Posten Akbulak an.
Hier wie dort wurden Magazine etablirt. Auch sollte» von Astrachan aus
Transportschiffe nach Rooo-Alexandrowssk segeln, um dorthin Vorräthe zu
schaffen, welche man für den südlichen Theil des Marsches heranziehen wollte.
Das Expeditionscorps selbst war nur 4413 Mnuu stark, während der
Train für die Bagage und die Verpflegnngsbedürfnisse 2012 Pferde, 10,400
Kameele mit 2000 kirgisischen Führern zählte.
Am 14. November 1839 wurde eine Proklamation erlassen, in welcher
speziell auf die Freilassung der von den chiwesischen Steppenräubern in die
Gefangenschaft geschleppten russischen Unterthanen und ans die Anbahnung ge¬
regelter Beziehungen zu dem Chanat Chiwa hingewiesen wurde.
Am 29. November begann der Vormarsch vom Ural aus. Bei einer
ohngeführen Entfernung von 1250 Werst hoffte man die Hauptstadt des Cha-
nats in 50 Etappen zu erreichen. Um in den fast wasserlosen Steppen vor
Wassermangel geschützt zu sein, hatte man den Winter zur Ausführung der
Expedition gewühlt, — ein Umstand, welcher dies Unternehmen vollständig
zum Scheitern bringen sollte. Während nämlich im Winter 1839/40 im süd¬
lichen Deutschland der Aequatorialstrom mit großer Beständigkeit herrschte,
suchte von Norden her der eisige Luftstrom nach dem Ural- und Caspischen
Meere seinen Abfluß, um als ein mit dichtem Schneetreiben verbundener Sturm
bei einer Temparatur bis — 32« R. den russischen Truppen auf ihrem Marsche
gegen Chiwa Tod und Verderben zu bringen. Trotz der grausigen Kälte,
welche mit nur wenigen Ausnahmen jeden Tag mindestens 20° R. betrug und
sich in den letzten Tagen — wie gesagt — bis zu 32« R. steigerte, erreichte
man doch den Embaposten, freilich schon mit einem Verluste von 532 Mann
und von t/5 der Lastthiere.
Die hier einlaufenden Nachrichten, daß Ak-lmlak von dem Feinde über¬
fallen, daß die Transportschiffe in Folge des Eises keine Verpflegungsmittel
nach Rooo-Alexandrowsfk hätten bringen können, vermochten den Entschluß
des Generals Perowsskij, weiter zu marschiren, noch nicht schwankend zu
machen. Er hoffte auf einen Witterungswechsel und rückte am 12. Januar
vom Embaposten wieder ab. Das Wetter blieb aber dasselbe, die Kälte war
entsetzlich und der Schnee lag so hoch, daß Pferde und Kameele bis an den
Bauch versanken. Die furchtbaren Schneestürme zwangen die Truppen an:
Tage öfters zu halten und machten eine Verbindung der einzelnen Echelons
unter einander ganz unmöglich. In Ak-bnlak, das man nach 18 Tagen end¬
lich erreicht hatte, mußte Halt, ja Kehrt gemacht werden: am 13. Februar
wurde der Befehl zum Rückmarsch gegeben.' Aber erst am 8. Juni rückten die
Ueberreste des Expeditionskorps in Orenburg ein: 1054 Mann lagen todt in
der Steppe, 609 Kranke nahmen die Lazarethe in Orenbnrg auf.
Durch diesen Mißerfolg war das Ansehen Rußlands in den Steppen
selbst seinen Unterthanen gegenüber sehr geschädigt. Die Kirgisen waren im
vollen Aufstande und erst nach der Ermordung ihres kühnen Anführers
Keuissara Kassimow im Jahre .1846 durch sie selbst gelang es, sie zur Bot¬
mäßigkeit zurückzuführen. Um sie ferner im Zaume zu halten, legte der Ge¬
neral-Gouverneur von Orenbnrg, der General Obrutschew, in der Steppe an
dem Jrgis und Turgai die Posten Uralskoje und Oreulmrgskvje an; Eiubinssk
und Ak-bulak erhielten feste Garnisonen.
Da 1846 noch die Kirgisen der großen Horde die Oberherrschaft Ru߬
lands anerkannt hatte», entstand, um auch hier einen festen Stützpunkt zu
haben, Kopai südöstlich des Balchasch-Sees in der Sibirischen Steppe. Um
dieselbe Zeit wurde, nur den räuberischen Einfällen der Steppennomaden im
Westen einen Damm entgegen zu setzen, an der Mündung des Ssyr-darja das
Fort Raimsskoje erbaut.
Im Jahre 1847 wurden also die mittelasiatischen Gebiete Rußlands von
einer Linie begrenzt, welche von Osten nach Westen über den Ili-Fluß zum
Alatau-Rücken und längs des Tschu zum Ssyr-darja lief.
In diesem Zeitraume voll etwa 120 Jahren war die Grenze, von Knrgan
und Omssk aus, schon um Tausende von Werst südlich gerückt. —
Die Lage der Raimsskischen Befestigung erwies sich bald als ungünstig.
Man gab sie auf, und weiter östlich an der Stelle des heutigen Kasala ent¬
stand das Fort Ur. 1. Die russischen Colonnen gingen dann den Ssyr weiter
aufwärts, nahmen das den Kokanzen gehörige Kosch-kurgan und erbauten dort
das Fort Ur. 2.
Endlich — 1853 — begannen die Kokanzen den Russen mit den Waffen
in der Hand entgegenzutreten. Sie wurden voll dem gegen Chiwa so unglück¬
lichen General Perowski bei Akmetschet geschlagen. Das hier von den Russen
angelegte Fort erhielt, dem General zu Ehren, den Namen Perowskij.
Zwei Versuche Kokans, sich wieder in den Besitz von Akmetschet zu setzen,
mißlangen, so daß die Linie des Ssyr-darja bis zum Fort Perowskij — etwa
3S0 Werst östlich des Ural-See's gelegen, — schon 1854 gut befestigt war und
dauernd im Besitz der Russen blieb.
Bis zum Jahre 1860 trieb die russische Politik in Mittelasien keine
neuen Triebe. Die Verwickelung mit den Westmächten, der Krym-Krieg,
hatte nur zu sehr alle ihre Kräfte in Anspruch genommen. Das geflügelte
Wort: „!», Iwssis se i-kceuiUe" scheint indeß nnr für Europa der leitende
Gedanke seiner Politik, und das anch nur bis zum Jahre 1876, gewesen zu
sein. In Mittelasien sehen wir keine Ruhe, ein stetes Fortschreiten, eine stete
Erweiterung der russischen Machtsphäre ist hier als Prinzip adoptirt.
Die Situation der Russen war allerdings bei dem bloßen Besitze der
Ssyr-Linie bis zum Fort Perowskij eine äußerst gefährdete. Die Einfälle der
Kokanzen in russisches Gebiet mit Umgebung der Ssyr-Linie, oder auch von
Osten her, konnten damals durch nichts gehindert werden. So überfielen 1800
4000 Kokanzen die schwache westsibirische Festung Kostet, verloren dafür aber
die Festungen Tokmak und Pischpek, welche von den Russen zerstört wurden.
Während durch eine Kolonne von Kopai aus die Kara - Kirgisen unter
russische Herrschaft gebracht wurden, nahm gleichzeitig — 1860 — der oren-
burgische Generalgouvemeur, General-Adjutant Besant, die Forts Djnlek und
Jaup-Kuryan ein. Die Ssyr-Linie wurde dadurch wieder um einige 150
Werst nach Südosten verlängert.
Dessenungeachtet waren in der Folgezeit zu wiederholten Malen die Forts
Djnlek und Perowskij von Kokanzen angegriffen worden, ohne daß Rußland
energische Schritte gethan hätte. Der Aufstand in Polen machte sich auch in
Mittelasien fühlbar, — ein Zeichen, wie verwundbar doch dies mächtige Reich
ist, denn die Verhältnisse möchten sich in dieser Beziehung kaum wesentlich ge¬
ändert haben. Ein insurgirtes Polen wird bei allen politischen Constellationen
immer ein sehr gefährlicher Feind Rußlands sein.
Erst im Jahre 1864 nahm man die Operationen zum Zwecke, sich von
Osten und Westen her in dem fruchtbaren Gelände des Chanats Kokan die
Hand zu reichen, und so die nördlich liegende Hungersteppe ganz zu um¬
schließen, wieder auf. Während im Juni der Generaloberst Tscherniajew, der¬
selbe, welcher jetzt in Serbien eine so eigenthümliche Rolle gespielt hat, in süd¬
westlicher Richmng vorgehend, die mächtige Festung Aulie-Ala nahm, brach
gleichzeitig der Oberst Werewkin von Djnlek vor und eroberte die Stadt Tur-
kestan. Mit beiden Kolonnen dirigirte sich dann Tscherniajew auf das weiter
südlich gelegene Tschimkent, wohin sich die Kokanzen nach dem Falle Turkestan's
zurückgezogen hatten. Tschimkent fiel am 13. September in die Hände der
Russen, nachdem dieselben, einmal zurückgewiesen, Verstärkungen herangezogen
hatten.
Trotz dieses Erfolges war die Lage des russischen Detachements keines¬
wegs sehr günstig: das in Besitz genommene Territorium war von Räuber¬
horden angefüllt, die Kokanzen zogen sich wieder zu großen Massen zusammen,
und dazu war der Winter vor der Thür. Der General Tscherniajew meinte,
daß die Einnahme Taschkents dem Allem die Spitze abbrechen würde, und ge¬
wiß mit vollem Rechte. Ein am 2. October unternommener Sturm wurde
aber abgeschlagen und die Russen mußten nach Tschimkent zurückgehen.
Durch diesen den Russen abgerungenen Vortheil kühn gemacht, ergriffen
nunmehr die Kokanzen die Offensive. Tschimkent, wo der General Tschernia¬
jew seine Hauptkräfte concentrirt hatte, wagten sie freilich nicht anzugreifen.
Doch machten sie auf dem linken Ufer des Ssyr eine Diversion gegen die Stadt
Turkestan, ohne daß übrigens dadurch ein positiver Erfolg erzielt wäre.
Daß das stetige Vorgehen der Russen in Mittelasien, und besonders die
Erfolge der letzten Jahre, wo eine Stadt nach der andern gefallen, und in
Besitz genommen, selbst Taschkend schon angegriffen war, die Aufmerksamkeit
des meist betheiligten Englands auf sich ziehe« mußte, kaun nicht Wunder
nehmen. Um nun die Cabinette zu beruhigen, erließ der Reichskanzler, Fürst
Gortschakow, unter dem 2. December 1864 eine Circularnote, in welcher
vor Allem die Absicht weitere Gebiete zu annectiren geleugnet wurde. Mau
habe aber im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ruhe, sowie in Rücksicht
auf die Handelsverbindungen die Verpflichtung, eine Oberherrschaft über die
benachbarten Nomadenstämme auszuüben. Dieser Verpflichtung könne man
aber uur nachkommen, wenn man die die Steppen einschließenden Landstriche
vollständig beherrsche.
Im Sinne dieses letzteren Satzes wurde zu Anfang des Jahres 1865 das
neu eroberte Land mit der Ssyr-darja-Linie und den Erwerbungen an dem
See IM-tut, wo man vom Fort Wiärnoje her bis an den Naryn vorgegangen
war, zu dem Grenzbezirke Turkestan verbunden, und dem General Tschernia-
jew unterstellt. Die obere Leitung in politischer wie in militairischer Beziehung
blieb jedoch noch in den Händen des General-Gouverneurs von Orenbnrg, des
Generals Kryschanowski.
„Die im Chanat Kokan ausgebrochenen und nicht enden wollenden Wirren
ließen befürchten — so heißt es in den bezüglichen russischen Berichten — daß
sich der Emir von Buchara leicht des wichtigen und nur 100 Werst von der
damaligen russischen Grenze entfernten Taschkents bemächtigen könnte." —
Um dies zu verhüten, schien es Tscherniajew angezeigt, jenem das Prävenire
zu spielen, und selbst sich in den Besitz dieser Stadt zu setzen. Er rückte zu
dem Ende an den Tschirtschick, nahm das Fort Nias-del und erschien am
7. Mai vor den Thoren Taschkents. Ein unter der persönlichen Führung des
Chans von Kokan — Allen-tut — ausgeführter Ausfall wurde abgewiesen
und der Chan selbst tödtlich verwundet. Nach einem 3tägigen Kampfe um
die Mauern und in den Straßen der Stadt wurde Taschkend von den Russen
in Besitz genommen. Dann wurde Tschinas und Kelentschi erobert, das ver¬
lassene Fort Niasbek wieder hergestellt und besetzt.
Der Emir von Buchara hatte sich mittlerweile Chodjents und Kokans be¬
mächtigt und verlangte nun, als factischer Herr von Kokan, daß bis zu einer
definitiven Regelung der Tschirtschick von den Russen als Grenze betrachtet
werde. Die Russen antworteten darauf mit der dauernden Besetzung auch des
linken Ufers dieses Flusses.
Auf die weitere Forderung des Emirs, Taschkend zu räumen, wurde eine
Gesandtschaft zu weiteren Verhandlungen abgesandt. Die Gefangennahme der-
selben durch den Emir war die unmittelbare Veranlassung zu dem nunmehr
beginnenden Feldzuge gegen Buchara.
Zum Zwecke der Befreiung der Gefangenen ging der General Tscherniajew
im Januar 1866 gegen Djisak vor. Er ließ sich indeß durch den Emir Mnsa-
far täuschen, und trat auf die bloße Kunde hin, die Gefangenen seien freige¬
geben, den Rückmarsch an. In der That waren die Gefangenen aber nnr
noch in strengere Haft genommen.
Das wenig energische Auftreten Tscherniajews, die Nichterfüllung seines
Zweckes und gar das Zurückgehen mußten zur unmittelbaren Folge haben,
daß der Nimbus der russischen Macht in den Augen der noch ungebeugten
Vucharen auf ein Minimum sank, das Ansehen des Emirs aber sich in dem¬
selben Maße hob und befestigte.
In Petersburg konnte natürlich dieser thatsächliche Endet nur verstimmen:
Tscherniajew sowohl wie Kryschanowski wurden zur Verantwortung gezogen
und ersterer abgerufen. An seine Stelle trat der General Romanowskij.
Dieser traf mit der äußersten Sorgfalt feine Vorbereitungen, erbat und
erhielt Verstärkungen, und begann im Frühjahr 1866 eine energische Offensive.
Von Tschinas aus längs des linken Ufers der Ssyr-darjas vorrückend,
schlug er den Emir Musafar am 8. Mai ans der Ebene Jr-djar. Die Bucharen
gingen in wilder Flucht auf Sfamarkand zurück und ließen den Russen somit
volle Freiheit, entweder ihnen über Djisak auf Sfamarkand zu folgen oder
längs des Ssyr-darja auf Nan und Chodjent zu marschiren. Man wählte
die letztere Richtung, um sich zwischen die Kokanzen und die Bucharen zu
schieben und so ein gemeinsames Operiren derselben zu verhindern und nach
einer 8tägigen Belagerung wurde Chodjent am 24. Mai erstürmt.
Um diese Zeit erschien der Generalgouvemeur von Orenburg Kryscha-
nowskij selbst auf dem Kriegsschauplatze. Er fand, daß die bucharischen
Festungen Djisak und Ura-tjnbe an den Pässen des Kaschgar-Dawan gelegen,
für Rußland von einer zu großen strategischen Wichtigkeit wären, um sie in
dem Besitze Bucharas lassen zu können. Die Operationen wurden in Folge
dessen weiter fortgesetzt. Bereits am 2. October fiel Djisak, am 18. Ura-tjube,
und der Emir Musafar hatte seine letzten Stützpunkte im Thale des Ssyr-darja
verloren.
Der Kaschgar-dawar-Rücken war zu Ende des Jahres 1866 die Süd¬
grenze Rußlands in Mittelasien geworden.
Das Gesandschaftspersonal war mittlerweile in Freiheit gesetzt und der
Endet Tscherniajews vollständig wieder gut gemacht.
Noch aber hatte der Emir von Buchara die Hoffnung auf eine günstige
Wendung der Dinge nicht aufgegeben. Wenn er sich auch vergeblich nach
Constantinopel und Bombay um Hülfe gewandt hatte, so ließ wenigstens er
selbst es nicht an Rüstungen fehlen, um im Frühjahr auf Alles vorbereitet
zu sein. Wollte Rußland also nicht ans die Defensive geworfen werden, so
mußte es selbst wieder offensiv werden. Das geschah in der That im Frühjahr
1867. Das der neuen russischen Grenze zunächst gelegene Jaup-Kurgan wurde
besetzt und trotz eines zweimaligen Versuchs der Bucharen es wieder zu nehmen,
auch behauptet.
Das sich jetzt schon bis in das Herz Mittelasiens erstreckende russische
Territorium konnte füglich wohl uicht mehr unter der Leitung des General-
Gvnverneurs vou Orenburg belassen werden. Unter dem 11. Juli 1867
ordnete ein kaiserlicher Mas die selbständige Organisation desselben an. Aus
der Provinz Turkestan, dem Kreise Taschkend, dem jenseits der Ssyr-darja
gelegenen, im Jahre 1866 oecupirten Landschaften und dem südlich des Tar-
bagatai gelegenen Theile der Provinz Ssemipalatinssk wurde das General-
Gouvernement Turkestan gebildet, und in zwei Provinzen, in die Ssyr-
darins-skische und Ssemiriätschensskische getheilt. An die Spitze des General-Gou¬
vernements trat als Geueral-Gouverneur, mit der Militair- und Civilverwaltnng
betraut, der Generaladjutant von Kaufman, welcher auch heute noch diesen so
wichtigen Posten inne hat. Unter demselben verwalten Militair-Gouverneure
die beiden Provinzen, und den Kreisen derselben stehen Stabsofficiere als
Civilchefs vor. Letzteren sind noch drei bis vier jüngere Officiere als Gehülfen
beigegeben. —
Nach der Ankunft des General-Gouverneurs am 7. November 1867 in
Taschkend, dem Sitze desselben, fingen die innneren Verhältnisse des neu er¬
worbenen Landes sich allmählich immer mehr zu befestigen an. Die Beziehungen
nach außen dagegen blieben noch sehr lange schwankend und unzuverlässig.
Besonders die Stellung Bucharas Rußland gegenüber war eine derartige, daß
man auf ein günstiges Resultat der allerdings im Gange befindlichen Friedens-
verhandlungen nicht mit Sicherheit rechnen konnte. Die Grenze bei Djisäk
wurde häufig von Räuberbanden überschritten; und nicht mit Unrecht glaubte
man, daß der Emir Musafar seine Hand mit im Spiele habe. Selbst die
Zerstörung der Stadt Uchum fetzte diesem Räuberwesen kein Ziel.
Der Emir selbst war in Folge seiner Mißerfolge gegen die Russen in
einer schlimmen Lage. Seinen Unterthanen gegenüber hatte er fast alle Au¬
torität verloren, so daß überall Aufstände auszubrechen drohten. Das Volk,
von den Mullas und Ulemas, fanatisirt drängte zu einem Kriege gegen die
Giauren, die Ungläubigen. Allein, sich für zu schwach haltend, den Russen
wieder entgegenzutreten, suchte er mit Kokan und Chiwa ein Bündniß zu
schließen, aber — vergebens. Wollte er sich aber ans dem Throne erhalten,
so blieb ihm nichts anderes übrig, als der Kriegspartei nachzugeben. Die
Friedensverhandlungen mit Rußland kamen nicht zum Abschlüsse, und wieder
stehen )vir vor einem Acte des sich in Mittelasien abspielenden kriegerischen
Dramas.
Am 1. Mai 1868 rückt der General-Gouverneur von Kaufman in das
Thal des Sariawschau. Auf den Höhen vor der heiligen Stadt Ssamarkand
trifft er aus die Bucharen. Sie werden geschlagen und der Sieger zieht in
die Thore Ssamarkands ein, das sich ihm ohne jeden Widerstand ergiebt. Um
die gewonnene Position im Sariawschan-Thale zu sichern, nimmt man Kurgan
und das auf der directen Straße nach Buchara gelegene Kally-Kurgan. Auch
Tschilek fällt in die Hände der Russen.
Trotz dieser errungenen Siege konnte der Feldzug aber noch nicht als
beendet angesehen werden: es gingen Gerüchte über eine Concentrirung der
Schachrissiabzen bei Kara-Tjube und andererseits der Bucharen gegen Katty-
Kurgan. Auf die Meldung, daß der Emir schon im Vormarsche begriffen sei,
säumte der General-Gouverneur nicht, der bedrängten Garnison zu Hülfe zu
eilen, und am 2. Juli wird auch die letzte Armee des Emirs auf den scra-
bulakschen Höhen total geschlagen und nach allen Richtungen hin zerstreut.
Nach diesen Niederlagen sah der Emir Musafar nun endlich die Unmög¬
lichkeit ein, den Krieg fortzusetzen. Er war genöthigt Frieden zu schließen,
wonach Rußland auch das jüngst eroberte Territorium behielt, und er selbst
eine Contribution von 125,000 Tsu (500,000 Thlr.) zahlen mußte.
Auch Buchara lag nun ohnmächtig zu den Füßen Rußlands: die besten
Landstriche hatte es abtreten müssen. Kein Wunder, daß sich der Haß des so
gedemüthigten Volkes gegen den Emir selbst wandte. Ihm maß man die
Schuld von Allem bei. Sein eigener Sohn, Katy-Tjnrja, erhob sich und
nahm mit den Aufständischen Karsthi. Erst mit Hülfe der Russen gelang es
dem Emir den Aufstand zu unterdrücken, nachdem noch später — 1870 — die
schachrissiabschen Städte Schari und Kitab, wohin sich die Aufständischen ge¬
flüchtet hatten, genommen und wieder botmäßig gemacht waren. —
Das von den Russen neu eroberte Land an Sariawschan wurde dem
General-Gouvernement Turkestan einverleibt.
Kaum sind seit der Erbauung des ersten Forts am Ssyr-Darja 20 Jahre
vergangen und — wie ein Keil schiebt sich das russische Turkestan zwischen
die Charade Kokan und Buchara bis über den Sariawschan hinaus. Ueber
16,000 HI Meilen sind in dieser kurzen Zeit dem Scepter des „weißen" Zaren
unterworfen. Sie sind von einer Grenzlinie eingeschlossen, welche im Osten
etwa bei den Quellen des Sariawschan beginnend nach Norden zum Ssyr-
Darja läuft, denselben östlich Chodjent schneidet, dem Rücken des Tschotkal,
Urtschak-tan folgt, dann südlich über den Naryn springt, sich nach Osten wendet
und längs des Tjan-Schein bis zum Chan-Tenyri-Gebirge läuft, — von
hieraus eine nördliche Richtung annimmt, den Ili westlich Kuldja überschreitet,
dem Ala-tan-Rücken östlich Kopai folgt, und westlich der tschungarischen Stadt
Tschngntschak vorbeiziehend, fast nördlich derselben die Südgrenze Sibirens
trifft. Im Norden folgt die Grenze des General-Gouverments Turkestan dem
Tarbo-taisski-Rücken bis nördlich Ssergiopol führt in nordwestlicher Richtung
zum Balchasch-See, schneidet diesen, zieht zum oberen Laufe des Tschu-Flusses,
folgt diesem bis zur Mündung, nimmt eine nordwestliche Richtung an bis
westlich der Mündung des Jrgis-Flusses, von wo sie zum Nordufer des Aral-
meeres läuft. Im Westen — soweit überhaupt hier von einer Grenzbestim¬
mung die Rede sein kann — bildet eine von der Mündung des Ssyr-darja in
südöstlicher Richtung die Wüste Kissl-tun schneidende und westlich Kally-Kurgcm
den Sariawschau überschreitende Linie die Grenze. —
Schon im Jahre 1870 wurde dies Gebiet aber wieder im Osten erweitert.
Verwicklungen mit dem Sultan von Kuldja hatten zu eiuer Expedition gegen
denselben geführt, welche mit der Annectirung eines Territoriums von 1293 in>
Meilen endete. —
Unter der energischen und umsichtigen Leitung des General-Gouverneurs
von Kaufman gewann die Organisation der inneren Verwaltung immer mehr
an Festigkeit und es entstand im Innern eine sichere Basis für die gedeihliche
Entwickelung von Handel und Wandel. Daß indeß auf den weiteren Fort¬
gang derselben die Beziehungen nach außen wesentlich influiren mußten, liegt
auf der Hand. In Folge dessen war es das nächste Ziel der russischen Politik
in Mittelasien, mit den Nachbarstaaten Verträge zu schließen, die eine Garantie
für den dauernden freundschaftlichen Verkehr böten, und Rußland in den Stand
setzten, auch eiuen Einfluß auf seiue Nachbarn ausüben zu können. Das im
Innern seines Gebiets Erreichte durfte durch Einwirkungen von außen unter
keiner Bedingung in Frage gestellt werden.
Es kamen auch wirklich Handelsverträge zum Abschluß, durch welche ein
freier Verkehr der Kaufleute, das Halten von Agenten Seitens Rußlands in
den benachbarten Reichen und Seitens der letzteren in dem General-Gouverne¬
ment Turkistan gewährleistet, der Zoll auf 2'/z°/g des wirklichen Waarenwerthes
festgesetzt, und schließlich den russischen Kaufleuten ein freier Durchzug nach an¬
deren Reichen gesichert wurde.
Sowohl der Emir Musafar von Buchara, wie auch der Chan Chudojar
von Kokau, welcher nach dem Tode Allen-Knif von den Russe» dort eingesetzt
war, traten mit Rußland in ein solches Vertragsverhültniß, so daß mit beiden
zu Anfang dieses Decenniums die friedlichsten und freundschaftlichsten Bezieh¬
ungen in der That bestanden.
Ganz anders lagen aber die Dinge in Bezug auf Chiwa. Wie nämlich
die chiwesischen Chane — wie bereits hervorgehoben — die Aufstünde der Kir¬
gisen gegen Rußland stets unterstützt hatten, so that es auch Seid-Muhamed-
Rachim-Bahadur-Chan im Jahre 1869. Er leistete der Empörung offen Vor¬
schub und rief selbst auf dem orssk-kasalinsskischen Posttraete Unruhen hervor.
Alle Versuche, den Chan zu bestimmen, den räuberischen Einfällen seiner No¬
maden in russisches Gebiet Einhalt zu thun und vor Allem die auf diesen
Raubzügen in Gefangenschaft geschleppten russischen Unterthanen frei zu geben,
waren bisher erfolglos geblieben. Auch die russischer Seits erfolgte Besetzung
von Krasnowodssk am Balkan-Busen und die wiederholt ausgeführten Rekog-
noscirnngen auf dem Plateau des Ast-Art, in den Turkmenen-Steppen und
jenseits des Ssyr, mittelbar doch immer gegen Chiwa gerichtet, vermochten nicht
seine Halsstarrigkeit zu brechen. Hätten doch — so meinte der Chan — alle
Züge Rußlands gegen Chiwa und besonders jener des Generals Perowsskij ge¬
nugsam bewiesen, daß es fast unmöglich sei, die Steppen und Wüsten —
diese natürlichen Schutzmauern der Oase — zu überwinden. Wozu also
unterhandeln? —
Auch russischer Seits war man sich wohl bewußt, daß sich sehr, sehr große
Hindernisse dem Vorgehen gegen Chiwa entgegenstellen würden. Die in letzter
Zeit stattgehabten Recognoscirungen hatten es immer aufs neue bestätigt. Und
doch blieb Rußland nichts anderes übrig, als in einen Krieg gegen den über¬
müthigen Chan einzutreten, ihm die Macht des weißen Zaren voll und ganz
fühlen zu lassen. Im Oetober 1872 war der Feldzug gegen Chiwa be¬
schlossene Sache.
Um allen unliebsamen Weiterungen mit England, das mit gespannter Auf¬
merksamkeit und nicht gerade sehr sympathischen Gefühlen für Rußland diesen
Vorgängen gefolgt war, von vorne herein die Spitze abzubrechen, wurde der
Generaladjutant Graf Schuwalow in außerordentlicher Mission nach London
entsandt. Er gab die beruhigendsten Versicherungen ab, so daß der Lord Granville
in der Sitzung des englischen Oberhauses vom 6. Februar 1873 erklären
konnte: Die russische Regierung habe auf das Bestimmteste jeden Eroberuugs-
plan bei der Expedition gegen Chiwa in Abrede gestellt, und diesen Versiche¬
rungen sei ein solches Gewicht beizumessen, daß sie den formellsten Verpflich¬
tungen gleich erachtet werden könnten.
Mittlerweile hatte Rußland die Vorbereitungen zu dem Feldzuge auf das
Energischste betrieben. Eine genaue Beobachtung der einschlagenden Verhältnisse
während der Jahre nach der verunglückten Expedition des Generals Perowsskij
hatte zu der Ueberzeugung geführt, daß mau einen gefahrvollen schweren Kampf
mit dem geographischen, einen ungleich leichteren mit dem politischen Chiwa zu
bestehen haben würde, — denn Chiwas Stärke beruhte keineswegs auf seiner
militärischen Macht, sondern einzig und allein in seiner Unzugünglichkeit. Das
Plateau des Ast-Art, die Sandwüste Kysyl-tun, die Wüste Batpack-tun und
die turkmenische Wüste sind von Flugsand, Salzlachen, rohrbestandenen Mo¬
rästen und einigen wenigen zum nomadisiren geeigneten Steppenstrecken erfüllte
Einöden, welche, je uach dem man vou Norden, Osten oder Westen kommt,
theilweise zu durchschreiten sind, um die Oase selbst betreten zu können. War
man aber einmal glücklich in diese gelangt, so war auch höchstwahrscheinlich der
Feldzug — und die thatsächlichen Ereignisse haben es bewiesen — glücklich zu
Ende geführt.
Demgemäß mußte also auf den Transport und die Verpflegung ein großes
Gewicht gelegt werden, weniger anf die Aufstellung einer großen Trnppemnacht.
Waren die Verpflegung und deren Transportmittel so zu bemessen, daß sie auch
den allerungünstigsten Verhältnisse,: Genüge leisten könnten, so war die Zahl
der zur Verwendung kommendem Truppen auf das äußerste einzuschränken.
Je geringer deren Stärke war, je größer war die Wahrscheinlichkeit für die
Ueberwindung der territorialen Schwierigkeiten.
Auch die Jahreszeit, in welcher die Expedition zur Ausführung kommen
sollte, war wohl zu erwägen. Bei einem von Ende November oder Anfang
December bis Ende Februar dauernden Winter mit einer Kälte, die zuweilen
20° R. erreicht, und bei einem glühend heißen, fast regenlosen Sommer mit
28—3()o U. Hitze im Schatten am Tage, und kühlen Nächten, und bei einem
sehr veränderlichen Herbste erschien das Frühjahr als die den Erfolg am meisten
begünstigende Jahreszeit.
Was endlich die Operationslinie betraf, so kam man in Petersburg zu
dem Entschlüsse, gegen das feindliche Chanen vou drei Seiten aus vorzugehen:
von Osten, Nordwesten und Westen resp. Südwesten, also mit Truppen de,s
tnrkestanischen, oreuburgischen und kaukasischen Militär-Bezirks. Wenn möglich
sollten die Colonnen gleichzeitig die Chiwa-Oase betreten, und dann cooperiren.
Wäre dies nicht zu erreichen, so sei für jede einzelne die Hauptstadt Chiwa
das Operationsobjeet.
Die Operationslinien selbst sollten durch Anlegung von befestigten Etappen
an geeigneten Punkten sicher gestellt werden.
Das waren die Hauptmomente, in denen man von Seiten Rußlands eine
Garantie für das glückliche Gelingen der Expedition zu finden hoffte. Das
Resultat entsprach den Erwartungen vollkommen.
Die Präsidentenwahl im Centennialjahre der nordamerikanischen Union
ist in mehr als einer Beziehung höchst merkwürdig und bedeutungsvoll. Die
beiden großen Parteien, welche Präsidentschaftskandidaten in's Feld stellten,
schreiben sich den Sieg zu, die constitutionellen Bestimmungen, welche die Wahl
regeln sollen, scheinen sür den vorliegenden Fall nicht ausreichend zu sein und
so ist ein definitives Ende des erbitterten Wahlkampfes, der zweifelsohne nicht
überall in regelrechter Weise und mit den lautersten Mitteln geführt wurde,
vorläufig gar nicht abzusehen. Hoffentlich wird der böse Conflikt schließlich in
friedlicher Weise geschlichtet werden.
Da indeß die einschlagenden gesetzlichen Vorschriften ziemlich verwickelt
sind und selbst in amerikanischen Blättern vielfach unrichtig dargestellt werden,
so dürfte eine kurze und klare Darlegung derselben nicht unangebracht sein.
Für das Amt eines Präsidenten oder Vicepräsidenten der Vereinigten Staaten
find nnr Bürger, die in der nordamerikanischen Union geboren wurden, und
keine Adoptivbürger, wie z. B. Karl Schurz, wählbar. Die Wahl selbst ist
keine direkte, sondern eine indirekte; Versuche, sie zu einer direkten zu machen,
sind bis dahin stets ohne Erfolg geblieben. Die Präsidentenwahlmänner oder
Elektoren werden in den einzelnen Unionsstaaten und zwar an einem und
demselben Tage gewählt; dieser Wahltermin ist nach den gegenwärtigen gesetz¬
lichen Bestimmungen der auf den ersten Montag im November des Wahljahres
folgende Dienstag (im Jahre 1876 der 7. November). Jeder Unionsstaat hat
das Recht, so viele Wahlmänner zu wühlen, als die Gesammtzahl seiner Sena¬
toren und Repräsentanten im Kongresse zu Washington City ausmacht; auch
ist es jedem einzelnen Uniousstaate freigestellt, die Normen festzusetzen, nach
welchen er die Wahlmänner gewühlt haben will. Colorado miteingerechnet,
besteht die nordamerikanische Union zur Zeit aus 38 Staaten, welche zusammen
3K9 Wahlmänner wählen. Die Territorien betheiligen sich nicht an der Prä¬
sidentenwahl, die bekanntlich alle 4 Jahre stattfindet und zwar so, daß der
neugewählte Präsident sein Amt am 4. Mürz des auf die Elektorenwahl
folgenden Jahres antritt. Zu einer gültigen Präsidentenwahl ist die absolute
Mehrheit der jezeitigen Gesammtzahl aller Wahlmänner erforderlich; für die
in Rede stehende Präsidentenwahl sind mithin 185 Stimmen nöthig. Mit¬
glieder der Bnndeslegislatur oder Unionsbeamte könne», so lange sie in dieser
Stellung verbleiben, nicht als Wahlmänner fungiren. Die Regierungen der
einzelnen Unionsstaaten ertheilen den erwählten Wahlmännern die erforderliche
Legitimation. Nach der Bundesverfassung und nach der 135. Section der
revidirten Statuten der Vereinigten Staaten sollen die Wahlmänner sich in
ihren respectiven Staaten am ersten Mittwoch des ihrer Erwühlung oder Er¬
nennung folgenden Monats December an dem dazu von den Staatsgesetz¬
gebungen bezeichneten Orten (gewöhnlich am Sitze der Staatsregierung) ver¬
sammeln und daselbst die Wahl des Präsidenten, resp, des Vicepräsidenten,
mittelst Stimmzettel vornehmen, und zwar in der Weise, daß für jeden der
beiden genannten Beamten, die jedoch nicht beide Einwohner eines und desselben
Unionsstaates sein dürfen, auf besonderen Stimmzetteln abgestimmt wird.
Sollte durch irgend einen Umstand eine Vacanz in der Elektoren- oder Wahl¬
männerzahl eintreten, so gilt in den meisten Unionsstaaten die Regel, daß die
übrigen Elektoren diese Vacanz durch freie Wahl ausfüllen. Ueber das Er¬
gebniß der Abstimmungen der Elektoren wird ein dreifaches Protokoll mit
genauer Angabe der abgegebenen Stimmen ausgefertigt und, mit der Unter¬
schrift der Elektoren oder zum Mindesten der Majorität derselben versehen;
es werden davon zwei Exemplare versiegelt an den Präsidenten des Bundessenats
in Washington befördert, nämlich eines sofort per Post und das andere bis
spätestens zum ersten Mittwoch des darauf folgenden Januar durch eiuen be¬
sonderen von den Wcchlmünnern dazu beauftragten Boten. Das dritte Proto¬
koll endlich wird auf demjenigen Bundes-Bezirksgericht niedergelegt, innerhalb
dessen Gerichtsbarkeit die Abstimmung der Elektoren stattgefunden hat.
So complicirt nun dieses Wahlsystem auch erscheint, so ist es doch in
mancher Hinsicht nicht ausreichend; dies tritt deutlich hervor, wenn es sich,
wie z. B. bei der jüngsten Wahlmännerwahl, nur um eine einzige Wahlstimme
oder um eine ganz kleine Mehrheit handelt. Bisher ist es als ausgemacht
betrachtet worden, daß die in den einzelnen Staaten gewählten Elektoren
unfehlbar demjenigen Präsidentschaftskandidaten ihre Stimmen geben werden,
welcher von ihrer Partei nominirt worden ist. Es steht aber in der Macht
eines jeden Wahlmannes, seine Stimme für irgend einen Beliebiger, also auch
für den Kandidaten der Gegenpartei, zu werfen. Nach der Konstitution würde
eine solche Stimme unbedingt gültig sein und die von dem betreffenden Elektvr
betrogene Partei würde gesetzlich absolut keinen Regreß dagegen haben. Es
liegt also bei einer solchen von einer oder nur wenigen Stimmen abhängigen
Wahl die Möglichkeit corrupter Beeinflussung vor, um so mehr, als die Elek¬
toren im Wahlcollegium nicht offen, sondern mit geschlossenen Stimmzetteln
poliren. Ein solcher Fall ist allerdings noch nicht vorgekommen, aber wer
steht dafür, daß er nicht vorkommen kann, wenn es sich zur Entscheidung einer
Präsidentenwahl nur um eine oder sehr wenige Elektoralstimmen handelt?
Aber auch abgesehen von der Möglichkeit des Wortbruchs und der Corruption
könnten ein Elektor oder mehrere sehr leicht, sei es aus freiem Willen oder
wegen unvorhergesehener Hindernisse, von dem Versammlungsorte des Wahl-
eollegiums fern bleiben. Es ist bereits einmal der Fall da gewesen, daß die
Elektoren des Staates Wisconsin in Folge eines heftigen Schneestnrms an
dein für die Versammlung des Wahlevllegiums gesetzlich bestimmten Tage in
der Hauptstadt ihres Staates nicht eintreffen konnten, und die Zahlung des
Elektoralvotums von Wisconsin wurde im Kongresse beanstandet, weil das
Wahlcollegium sich an einem andern, als dem gesetzlich bestimmten Tage ver¬
sammelt hatte. Damals war dieser Umstand ohne Bedeutung, weil die Majo¬
rität sür den erwählten Präsidenten so groß war, daß die Stimmen von Wis¬
consin so oder so daran nichts andern konnten. Aber man denke sich, daß
das ganze Wahlergebniß davon abgehangen hätte, was dann? Nach dem
streng formellen Rechte Hütten die Elektorenstimmen von Wisconsin sehr leicht
ausgeworfen werden können, aber würde sich die thatsächlich siegreiche Partei
damit zufrieden gegeben haben? — Man sieht, von welchen Zufälligkeiten
unter dem jetzigen Wahlsystem in den Vereinigten Staaten das Ergebniß einer
dortigen Präsidentenwahl abhängen mag, und es ist zu hoffen, daß, sobald
sich die gegenwärtig hochgehenden Wogen der Parteileidenschaften gelegt haben,
der Kongreß sich mit einer gründlichen Reform der nationalen Wahlmaschinerie
beschäftigen werde.
Um nun in unserer kurzen Darstellung der auf die amerikanische Prä¬
sidentenwahl bezüglichen Gesetzesvorschriften fortzufahren, bemerken wir, daß
am zweiten Mittwoch des ans die Elektorenwahl folgenden Februarmonats
nach Vorschrift der Constitution der Präsident des Buudessenats die an ihn
eingegangenen Protokolle über das Elektoralvotnm „in Gegenwart des Senats
und des Repräsentantenhauses" (in tue vrsssnee c»k elle Senat.« g,va Kouss ok
revresenwtives) öffnen soll, worauf die Zählung der Stimmen zu beginnen
hat. Ergiebt sich dabei eine absolute Majorität der Elektoralstimmen für einen
Kandidaten der Präsidentschaft, resp, der Vicepräsidentschaft, so ist derselbe da¬
mit zum Präsidenten, resp. Vicepräsidenten, erwählt und übernimmt die Funk¬
tionen dieses Amtes am nächstfolgenden 4. März. Von einem weitern Mit¬
wirken der beiden Kongreßhäuser bei der Präsisentenwahl in dem angegebenen
Falle enthält die Constitution nichts.
In Bezug auf die jüngste Präsidentenwahl ist nun zu diesen eben er¬
wähnten Gesetzesvorschriften Folgendes zu bemerken: Alle über den Ocean zu
uns gekommenen Nachrichten stimmen dahin überein, daß von den am Mittwoch,
6. Dezember 1876, in den verschiedenen Unionsstaaten abgegebenen Elektoral¬
stimmen 185 auf Rue Herford B. Hayes, deu Präsidentschaftskandidaten
der Republikaner, und 184 auf Samuel I. Tilden, den Präsidentschafts¬
kandidaten der Demokraten, gefallen seien, daß mithin Hayes mit einer einzigen
Stimme Mehrheit zum künftigen Präsidenten gewählt sei. Das genaue Ver¬
zeichnis? der Unionsstaaten nebst der Zahl ihrer Elektoralstimmen ist folgendes:
Für Tilden stimmten: Alabama mit 10, Arkansas mit 6, Connecticut
mit 6, Delaware mit 3, Georgia mit 11, Jndiana mit 15, Kentucky mit 12,
Maryland unt 8, Mississippi mit 8, Missouri mit 15, New-Jersey mit 9, New-
York mit 35, Nord-Karolina mit 10, Tennessee mit 12, Texas mit 8, Virginien
mit 11, West-Virginien mit 5 Stimmen. Zusammen 184 Stimmen.
Für H ay es stimmten: Kalifornien mit 6, Colorado mit 3, Illinois mit
21, Iowa mit 11, Kansas mit 5, Maine mit 7, Massachusetts mit 13, Michignn
mit 11, Minnesota mit 5, Nebraska mit 3, Nevada mit 3, New - Hampshire
mit 5, Ohio mit 22, Oregon mit 3, Pennsylvanien mit 29, Rhode-Island
mit 4, Vermont mit 5, Wisconsin mit 10, dazu Florida mit 4, Louisiana
mit 8 und Süd-Karolina mit 7 Stimmen. Znsammei: 185 Stimmen.
Da nnn aber die demokratische Partei behauptet, daß in den zuletzt ge-
nannten drei Staate» (Florida, Louisiana und Süd-Karolina) Haycs nur durch
Betrug und Gewaltthätigkeiten seitens der republikanischen Partei den Sieg über
Tilden davongetragen habe, so ist es sehr wahrscheinlich, daß die Aufzählung der
Elektoralstimmen am 14. Februar 1877 nicht so ruhig, wie gewöhnlich von
Statten gehen, ja, daß vielleicht noch am 4. März (1877), dem Tage des
Amtsantritts des neuen Präsidenten, ein Conflikt zwischen den beiden großen
politischen Parteien in den Vereinigten Staaten Platz greifen wird. Präsident
Grant hat zwar in seiner Botschaft, die er dein am 4. Dezember (1876) zu-
sammeutretendeu Kongresse zugehen ließ, die obwaltende Krisis nur insofern
erwähnt, als er hervorhob, daß die bei der letzten Präsidentwahl zu Tage ge¬
tretenen Schwierigkeiten eiuer gesetzlichen Abhülfe bedürften, allein das Re¬
präsentantenhaus des Kongresses, in welchem die demokratische Partei die
entschiedene Majorität hat, faßte am 5. Dezember mit 156 gegen 78 Stimmen
den Beschluß, daß Ausschüsse ernannt würden, die sich sofort nach Florida,
Louisiana und Süd-Karolina begeben und bezüglich der dort stattgehabten
Elektoralwahlen genane Untersuchungen vornehmen sollten. Ebenso beschloß
das Repräsentantenhaus, daß der Justiz-Ausschuß die Frage prüfen möge,
ob Colorado schon zur Zeit der Elektoreuwahl in aller Form Rechtens ein
Uuiousstaat gewesen sei oder nicht. Es liegt auf der Hand, daß diese Beschlüsse
den Weg zur Beanstandung der Erwählung vou Hayes zum Präsidenten der
Union bahnen sollen.
Für den Fall, daß sich bei der Zählung der Elektoralstimmen am 14.
Februar (1877) keine absolute Majorität für einen Kandidaten der Präsident¬
schaft oder der Vieeprüsidentschnft ergeben sollte, hat nach der Bundesverfassung
da5 Repräsentantenhaus des Kongresses das Recht, die Wahl des Präsidenten,
und der Senat das Recht, die Wahl des Vicepräsidenten vorzunehmen. In
beiden Häusern ist alsdann eine Zweidrittelmajorität der Gesammtzahl ihrer
Mitglieder zur Beschlußfähigkeit, und eine absolute Majorität derselben zu einer
Wahl erforderlich. Das Repräsentantenhaus seinerseits wählt den Präsidenten
nach Staaten, wobei jeder Staat nur zu einer Stimme berechtigt ist, so daß
sich also die Abgeordneten der einzelnen Univnsstnaten unter sich auf einen
Kandidaten einigen müssen, um die Stimme des Staates zur Geltung zu
bringen. Können sich die Repräsentanten mit einer Majorität auf keinen der
Kandidaten einigen, so fällt die Stimme des betreffenden Staates ganz aus.
Da nun die Union zur Zeit, wie bereits erwähnt, ans 38 Staaten besteht, so
sind bei der Wahl der Präsidenten im Repräsentantenhause 20 Stimmen
nach Staaten erforderlich, vorausgesetzt, daß durch die Gegenwart der zur Be-
schlußfassung nöthigen Zweidrittelmajorität der Repräsentanten eine Wahl über¬
haupt ermöglicht würde. Die demokratische Partei hat nnn zwar im jetzigen
(44.) Kongresse im Repräsentantenhause in mehr als 20 Staaten die Majorität;
dieselbe verfügt jedoch nicht über eine Zweidrittelmajorität sämmtlicher Mit¬
glieder des Hanfes, und könnte daher diese Partei ihren Präsidentschaftskan¬
didaten, den sie aus den Männern nehmen muß, die bei den Abstimmungen
der Elektoren die meisten Stimmen hatten, durch die Wahl in dem Repräsen¬
tantenhause nur dann durchbringen, wenn die repichlikanischeu Repräsentanten
in genügender Anzahl erscheinen, um die vom Gesetz geforderte Beschlußfähig¬
keit herzustellen. — Die Wahl der Vicepräsidenten im Senate geschieht nach
Kopfzahl der Senatoren, deren Gesammtzahl sich jetzt auf 70 beläuft, da jeder
Staat 2 Senatoren stellt. Vou den 70 Senatoren müßten zur Beschlußfähig¬
keit 51 gegenwärtig sein, während zu einer gültigen Wahl des Vicepräsidenten,
welcher nur deu zwei Männern zu entnehmen ist, die bei der Abstimmung der
Elektoren die Majorität hatten, 39 Stimmen nöthig sein würden. Da nnn
aber die republikanische Partei zur Zeit im Senate nicht über 51 Mitglieder
verfügt, so könnten hier wiederum die Demokraten durch Wegbleiben die Wahl
des Vicepräsidenten verhindern.
Man sieht leicht, daß bei bösem Willen der Parteien die Präsidentenwahl
in den Vereinigten Staaten diesmal gewaltgen Schwierigkeiten unterliegen
kann, daß Wirren dabei entstehen können, deren Lösung nicht wohl abzusehen
ist. Wenn von einigen Seiten bereits ein neuer Bürgerkrieg als in Aussicht
stehend angenomen wird, so glauben wir, daß eine solche Anschauung der Dinge
zu pessimistisch ist, jedenfalls aber befindet sich die nordamerikanische Union
in einer Krisis, aus der sie nur durch die Weisheit und Mäßigung ihrer besten
Bürger und Staatsmänner ungefährdet hervorgehen kaun. Fast alle Nationen
der Erde haben solche gefahrvollen Perioden ihrer inneren Entwickelung zu
bestehen gehabt und nicht selten glücklich bestanden; man darf daher die Hoff¬
nung noch nicht schwinden lassen, daß anch die Vereinigten Staaten die
Tirol ist berühmt als ein ethnologisch merkwürdiges Land. Keine dieser
Merkwürdigkeiten dünkt mir aber so anffallend, wie die Ungemischtheit der
deutschen Sprache im oberen Etschthal, dem Vintschgau. Leicht erklären läßt
sich, daß da, wo die Grenze gegen die Schweiz durch hohe Bergzüge gebildet
wird, das Romanenthum des Engadin keinen Einfluß geübt hat. Eine eigen¬
thümliche Erscheinung dagegen bleibt es, daß in dem alten Val Venosta und
seinen Seitenthälern, das Romanische ganz verdrängt ist. Zu deu seltsamsten
Beobachtungen gibt in dieser Beziehung das von Mals westlich in das
Schweizergebiet hinein sich abzweigende Münsterthal Anlaß. Deutsch, wie
Mals, Glurns, Laatsch im Etschthal, ist auch noch das zwei Stunden seitab
im Münsterthal liegende Tanffers. Dann kommt die schweizerische Grenze und
das kaum eine Stunde jenseits derselben in dein gleichen Thal gelegene Se.
Maria ist durch und durch romanisch. Das hindert freilich nicht, daß das
Deutsche hier weit besser ausgesprochen und geschrieben wird, als in den um¬
liegenden Gebieten. Die Graubündner Romanen sind für ihr außerordentliches
Sprachtalent bekannt. Ob dasselbe eine Nnturaulage dieses anstelligen Volk¬
chens ist, oder ob es sich erst allmählich nnter dein Zwange der unausweich¬
lichen Nothwendigkeit, andere Sprachen, besonders das Deutsche sprechen zu
müssen, zu dieser Vollendung herausgebildet hat, mag dahin gestellt bleiben;
Thatsache ist, daß diese Nomnueu nicht allein das ihnen verwandte Italienische
und Französische, sondern anch das Deutsche in einer Reinheit sprechen, daß
es, namentlich gegenüber dein entsetzlichen Schweizerdeutsch, eine wahre Lust
ist, sie anzuhören. Natürlich ist dies Resultat, da im gewöhnlichen Leben aus¬
schließlich romanisch gesprochen wird, nnr zu erreichen durch die Schule.
Mau wird also dem bündiierischen Unterrichtswesen seine Hochachtung bezeugen
müssen.
Ehedem war der Weg durch das Münsterthal und über das Wormser
Joch die einzige Verbindung zwischen dem Vintschgnn und dem Veltlin. Seit-
dem die prächtige Straße ütier den Sielvion existirt, hat er diese Bedeutung
verloren. Voll österreichischer Seite wird er sogar mit entschiedener Mißgunst
behandelt: die von Zerez über Se. Maria führende Poststraße bricht an der
Grenze ab, und alle Bemühungen von schweizerischer Seite, die Tiroler zum
Weiterbau derselben nach Mals zu bestimmen, um so eine bequeme Verbin¬
dung zwischeu dem Oberengadin und dem Etschthal herzustellen, sind bis jetzt
gescheitert. Der Saumpfad über das Wormser Joch aber wird von schwei¬
zerischer Seite noch ziemlich lebhaft benutzt. Da kauu mau deun noch hent-
zutage das seltsame Schauspiel mit ansehen, wie auf einem Wege, den der Be-
wohner der Ebene für halsbrecherisch anzusehen geneigt ist, das geduldige
Saumthier sicheren Schrittes den edeln Veltliner auf höchst primitive» Fahr¬
zeugen über die Alpen befördert.
Für einen sonnenklaren Oktobernachmittag ist es eine herrliche Wanderung
uach dein Wormser Joch hinauf. Geraume Zeit schlängelt sich der Weg durch
prächtigen Wald, schäumende Bäche rauschen hernieder, ab und zu wird noch
eine weidende Ziege sichtbar oder wenigstens hörbar mit ihrem silberhellen
Glöcklein. Dann schwindet der Baumwuchs und die Weidealp beginnt. Eine
fast unheimliche Stille liegt über dem gelblich grünen Plan. Die Sennhütten
sind verlassen, der schmucken Heerden vielstimmiges Geläute ist verstummt.
Die Steigung wird steiler; der herbstlichen Kühle zum Trotz rinnen die dicken
Schweißtropfen von der Stirne. Plötzlich wird es lebendig: ein weiubeladener
Schlitten kommt in Sicht. Wehmnthvollen Blickes betrachtest du die festver-
spuudeteu Fässer; denn die Zunge klebt dir am Gaumen und das Schnee-
wasser, das hie und da in den Ruusen niederquillt, löscht den Durst nnr,
damit er bald darauf um so lästiger brenne. Rasch zieht die kleine Karawane
vorüber. Wiederum vollendetes Schweigen. Später kommeu ein paar schwarze
Gesellen, italienische Arbeiter, die in die Heimath zurückkehren, vielleicht auch
Schmuggler, jedenfalls eine unholde Gesellschaft. Nun wandelst Du im Schnee,
der Anfangs spärlich, dann immer dichter den Boden deckt, so daß Dir die
Spur des Weges verloren geht. Kurz, die Fahrt ist nicht gerade gemüthlich
zu nennen. Dennoch hat sie einen eigenen Reiz. Ans der Höhe des Jochs
augelangt, breitet sich rings um Dich öde Winterlandschaft; vor Dir die nack¬
ten schwarzen Wände des Branlivkessels, darüber der glänzende Firn des
Monte Cristallo; rechts der schneebedeckte Rücken des Piz Umbrail, links der
des Monte Pressura; Du selbst stehst bis an die Knöchel im Schnee. Aber
kein packenderer Contrast ist denkbar, als wenn der rückwärts gewandte Blick
über die Wälder des Münsterthals hinstreift, deren herbstliche Farbenpracht die
Strahlen der Abendsonne vergolden. Schon schleicht des Mondes bleiche Sichel
über den Christallo, ehe Du Dich entschließen magst, von diesem Bilde Ab-
schied zu nehmen und Dich dein nahen Wirthshause am italienischen Zollamt,
Santa Maria ti Stelvio oder die vierte Cantoniera genannt, zuzuwenden.
„Wirthshaus, wird geklagt" — das ist die unzweideutige Empfehlung
mit welcher Freund Bädecker den milden Wanderer in die vierte Cantoniera
einführt. Der erste Eindruck ist dem entsprechend. In der Abenddämmerung
stand ich vor den beiden öden Steinbauten, rathlos welches ich für das Zoll¬
amt und welches ich für das Wirthshaus halten sollte. Ein menschliches
Wesen war von außen nicht zu entdecken. Die Dienstpragmatik der italienischen
Manthbeamten scheint nicht allzu rigoros zu sein. Ich trat in die unheimliche
Vorhalle eines der Gebände und fand endlich einen Blousenmnnn, der mich indeß
ans meine deutsche Anrede mit einem energischen „Versteh nit deutsch" abfertigte.
Glücklicherweise kam mir ans meinem dürftigen italienischen Voeabelschatz das
Wort indol-M rasch genug auf die Zunge, worauf mein Cicerone eine überaus
freundliche Miene aufsetzte und mich unter einer nur absolut unverständlichen
Fluth von Wohllauten seines Idioms die Stiegen hinauf geleitete. Dort über¬
antwortete er mich einer Hebe, die ich nicht anders bezeichnen kann, denn als
eine ans eine westphälische Bauernmagd gepfropfte Italienerin. Von jener
hatte sie den robusten Körperbau, vou dieser die gebräunte Gesichtsfarbe, die
schwarzen Haare, die gluthvolleu Augen und das lebhafte Temperament. Ihre
Toilette und das Aussehen des „Salons," in welchen sie mich führte, ließen
allerdings ahnen, daß übertriebene Sauberkeit uicht gerade zu deu starken
Seiten dieses Hanfes zählt. Meine Frage: „Sie verstehen wohl auch uicht
deutsch?" beantwortete sie frischweg: ,M>, LiMore, italmno." Selbstver¬
ständlich ist dies Nichtdentschsprechen bloße Affeetirtheit. So unmittelbar an
der Grenze ist einem die Sprache des Nachbars niemals fremd, am aller
weingsten, wenn man ein Gasthaus hält, und obendrein seine Kindheit, wie es
bei dieser ehrenwerthen Dame der Fall war, unter der Herrschaft dieses Nach¬
bars verlebt hat. Die Lombarden meinen sich aber noch heute gegenüber den
mklvklktti '1'eÄv»o1u, mit welchem Kosenamen sie bekanntlich die Oesterreicher
auszeichnen, etwas zu vergeben, wenn sie deutsch reden.
Glücklicherweise sprach meine Dame aber, wenn auch schlecht, französisch.
„<^>, tun bien froick du?/ vous," sagte ich. »^it'" meinte sie, „lei it Kul, npnl'
me>is ä'Ilivor vt, t-wis mois ä« loin" — was freilich mehr als über
dem Meeresspiegel nicht anders zu verlangen ist. Dabei hatte sie aber die
Freundlichkeit, in dem weder geheizten noch überhaupt heizbaren Zimmer fort¬
während die Balkonthüren aufzusperren und nach Gott weiß was in den mond¬
hellen Abend hinauszuspähen, bis ich ihr dies Vergnügen durch die energisch
gestellte Jnterpellation nach dem Abendbrot verdarb. »VollW-plus un polet
Mi?« fragte sie. Ich bejahte; doch sah ich der Bescheerung mit einigeln Miß-
willen entgegen, welches theilweise freilich ans der Erinnerung an die Be¬
schaffenheit herrühren mochte, die diesem Artikel in den Berliner Restaurants
eigen zu sein Pflegt. Man ließ mich ein wenig lange warten. Dann aber,
nachdem ich die unvermeidliche Wassersuppe mit Parmesankäse glücklich über¬
standen, erschien vor mir ein trefflich zubereiteter halbwüchsiger Hahn, ein
wahres Muster seiner Gattung, mit Ausnahme der Krallen vollständig, selbst
den Kamm noch auf dem Haupte. Ich unterlasse, meine Gefühle zu schildern;
nur so viel will ich sagen, daß ich das Wohlbehagen, welches ein mit tüchtigem
Appetit genossenes Mahl erzeugt, niemals tiefer und dankbarer empfunden habe,
als an jenem Abende. Aehnliches erlebte ich gleich am folgenden Tage in der
„Post" zu Trafoi. Dort hat die sorgsame Wirthin noch dazu die goldene
Devise: „Einfach, aber reinlich" und ihr Haus bietet insofern einen höchst an¬
genehmen Contrast zu der italienischen Wirthschaft am Stelvio, aber in Küche
und Keller ist ihr die letztere, trotz aller lobenswerthen Anstrengungen doch
überlegen.
Wolle der Leser diese enlinarische Abschweifung verzeihen! Ich kenne jene
ascetischen Charaktere, welchen jede Lobrede auf ein gutes Essen und Trinken
als barbarischer Materialismus gilt, welche wohl gar eine moralische Pflicht
daraus machen, diese Dinge zum mindesten als gleichgültig zu betrachten. Mir
mangelt das Verständniß für diese Weisheit. Eine allseitige Civilisation wird
stets auch uns die Art und Weise, wie selbst die gewöhnlichsten Bedürfnisse
befriedigt werden, Gewicht legen. Es ist ein Widersinn, sich im geistigen Leben
auf den höchsten Höhen der Kultur zu bewegen und im Essen und Trinken
kaum das Niveau der niedrigsten Naturvölker zu überschreiten. Ganz besonders
thöricht aber dünkt es mir, anf Erholungsreisen diese Seite zu vernachlässigen.
Indeß, mehr als die Freuden der Tafel gilt mir in der Region des
Stelviopasses doch der Naturgenuß. Eine herrlichere und zugleich bequemere
Alpenaussicht, als die von Piz Umbrnil (etwa 10,000') kann ich mir nicht
denken. Unmittelbar vor uns, als ließen sie sich mit Händen greifen, hat man
die gewaltigen Eis- und Schneefelder der Ortlergruppe. Südwestlich erhebt
sich der schimmernde Koloß der Bernina, östlich die Oetzthaler Ferner, im Norden
und Westen die unabsehbare Gletscherwelt Graubündens. Dies Alles in das
glanzvolle Lichtmeer eines wolkenlosen Oktobermvrgens getaucht — in der
That, der Eindruck spottet aller Beschreibung! Und in gleichem Grade fesselnd
ist der sechsstündige Abstieg bis ins Etschthal zurück. Hat man das Stilfser
Joch überschritten , so bleibt freilich nur der Blick auf den Ortler. Aber mit
jedem Hundert Schritte weiter hinunter erscheinen dessen Formen überwältigender,
bis auf einem Straßeuvvrsprllng am „Weißen Krott" das grandiose Schauspiel
seinen Gipfel erreicht. Inmitten zweier mächtiger, steil abfallender Gletscher
erhebt sich der schwarze Kegel des Madatsch, überragt von der strahlenden
Kuppel des Ortler; tief unten, auf der Thalsohle, im grünen Nadelholz ver¬
steckt, die Kapelle zu den drei Brunnen. Dazu diese wunderbare Stille, unter¬
brochen nur durch das Rauschen der Gletscherbäche, durch das Gezwitscher der
schaarenweise über die Berge ziehenden Wandervogel, durch den gellenden
Schrei des Adlers, der hoch in den Lüften kreist. Wiederum ein Segen des
Herbstes kein anderer Tourist tritt dir belästigend in den Weg; auch die Post,
die im Sommer über den Stelvio geht, ist bereits eingestellt. Du hast das
Gefühl, als wären alle diese Wunder für Dich ganz allein geschaffen. — Als
ich am Abend, in das Etschthal zurückgekehrt, vom Balkon meines Zimmers
in dem einsamen Gasthause Neu-Spondinig aus noch lange Zeit nach den vom
klaren Mvndhimmel scharf sich abhebenden Ortlerbergen hinüberschaute, war
ich mir bewußt, einen der schönsten Tage verlebt zu haben, die das menschliche
Dasein zu bieten vermag.
Während unsere klerikalen Deputirten in Berlin jammern und wehklagen
über die Verderbnis; der Sitten und die Bosheit der Menschheit im Allgemeinen
und in dem hartgeprüften Reichslande im Speziellen und nicht müde werden
des Lmnentirens und Predigens, macht sich im Lande selbst eine Bewegung
geltend, die wohl berücksichtigt zu werden verdient, die aber weit entfernt ist,
den geistlichen Herren und ihren Deklamationen als Folie zu dienen. Es
scheint in der That, daß die Neuwahlen von 1877 uns ganz andere Resultate
bringen werden, als die von 1874. In allen Wahlkreisen rührt und regt es
sich. Man stellt Kandidaten auf, entwickelt Programme und zeigt überhaupt
ein lebendiges Interesse für die bevorstehenden Reichstagswahlen, das dem für
die kurzverflofsenen Gemeinde- und Bezirksrathswahlen in Nichts nachgiebt.
Mag man nun auch vorläufig über diese in den meisten Wahlkreisen
sichtlich hervortretende Bewegung denken wie man will — sicher ist das Eine,
daß wenigstens das Elsaß sich an den Neuwahlen zu Anfang des nächsten
Jahres in hervorragender Weise betheiligen wird und daß, so nicht alle Zeichen
trügen, diese Wahlen selbst einen wesentlich andern Charakter tragen werden,
als vor drei Jahren. Galt es damals, den Wühlern und ihre« Kandidaten
in erster Linie, zu „Protestiren", zu Protestiren gegen die Annexion, zu protestiren
gegen Alles und Jedes, was ihnen die neue Verwaltung gebracht, so heißt
heute ihr Wahlspruch: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!"
Das ohnmächtige System der Enthaltung, dessen unangenehme Folgen
man allenthalben im Lande gespürt hat, ist so ziemlich allgemein gerichtet.
Der ausgesprochene Wille der Elscisser ist in ihrer Mehrheit, diesmal mit zu
rathen und mit zu thaten. Der maßgebende Theil der Bevölkerung ist „xost.
tot cliserimina rerum'° zu der Einsicht gekommen, daß es damit nicht gethan
sei, die Hände in den Schooß zu legen und zuzusehen, „was daraus werden
wird"; daß das seither beliebte „I^isskö Küre et passer" immer nur zu Un-
gunsten des Landes und seiner verfassungsmüßigen Entwicklung ausschlagen
kann; daß, will man ernstlich Erfolgreiches und Ersprießliches für die Zukunft
erreichen, man sich unweigerlich und ohne unfruchtbare, retrofpective Gelüste
auf dem Boden der neuen Verhältnisse, wie sie sich einmal nach dem noth¬
wendigen historischen Verlauf der Dinge gestaltet haben, stellen und von hier
aus diejenigen Reformen anzubahnen suchen muß, die man in der Folge erstrebt.
War es nun unter den damaligen mißlichen Verhältnissen, „an lenctemain
ne ig. Auerrs", wie sich ein oberelsässisches Blatt kürzlich ausdrückte, „wo die
Options-Periode kaum geschlossen und das Elsaß blutenden Herzens den Verlust
vieler seiner Kinder zu beweinen hatte" — war es unter diesen Umständen
der klerikalen Partei im Lande ein Leichtes, im Trüben zu fischen und bei der
allgemeinen Apathie und Lethargie der Bevölkerung ihre Centrnmskandidaten
überall durchzubringen, wo sie sich nur regen mochte, so wird ihr diesmal,
wo sich Vieles geklärt und Vieles geändert hat, wo die Elscisser ihren alten
Muth und die gesunde Lebensfrische und bahnbrechende Thatkraft wieder ge¬
wonnen haben, ohne die von einer Fortentwicklung, von politischem und com-
munalen Leben nicht die Rede sein kann, manch' herber Strauß uicht erspart
bleiben. Sie wird diesmal die altelsässisch-liberale Partei auf ihrem Posten
finden, alle Mann an Bord, wie sie sich im Landesansschuß verkörpert und
wie sie unter dem Titel „Autonomsten-Partei" schon häufiger von sich hat
reden machen.
Weit davon entfernt, bezüglich der künftigen Wahlresultate im Reichslande
schon jetzt den Himmel voll Geigen und die Wahlurnen voll Wahlzettel sehen
zu wollen, darf man doch der sichern Ueberzeugung leben, daß wenigstensZdas
Elsaß bei den neuen Wahlen eine Anzahl Männer in den deutschen Reichstag
senden wird, die aus ehrlicher liberaler Gesinnung das zu erreichen streben
werden, was die jetzigen falschen Propheten des Landes mit ihrer Pastoralen
Redseligkeit nimmer erreichen werden; die es auch nicht verschmähen, mit den
altdeutschen Collegen zusammen zu wirken und sich unverdrossen und mit Eifer
der sauren Arbeit in den Commissionssitzungen zu unterziehen, statt diese sich
selbst zu überlassen, um in xlsno mit rhetorischer Weisheit auf hohem Cothurn
einher zu schreiten. Man darf überzeugt sein, daß wenigstens das Elsaß seinem
Namen Ehre machen und der in diesen Blättern schon häufiger vertretenen
Ansicht Raum geben wird, daß der Kern seiner Bürgerschaft zum Banner des
Liberalismus und des Fortschrittes hält, zwar uicht eines solchen Schein-Libe¬
ralismus , wie man ihn Heuer jenseits des Rheines in manchen Fragen zu
construiren beliebt, aber wohl eines solchen, womit sich ein vernünftig Wörtchen
reden läßt, und der sich nicht von vornherein ablehnend gegen alles verhält,
was „Deutsch" heißt oder von „Deutschen" herstammt.
Schon werden in einzelnen Wahlkreisen Namen genannt und „Kandidaten"
prüsentirt, die weder zur Protest- noch zur klerikalen Partei gehören. In
Colmar soll der bisherige klerikale Deputirte Pfarrer Söhnlin von Neu¬
breisach, von dessen parlamentarischer Wirksamkeit die Reichs-Annalen wenig
oder gar nichts zu sagen wissen werden, dem elsässischen Publizisten Karl
Grad aus Logelbach Platz machen, von dem man zwar keiner besonders
deutschthümlichen Sympathien wohl aber gut elsässischer im Sinne des
Landesausschusses versichert sein kann. In MülHausen wird die Kandi¬
datur des Herrn Jean Dollfus aufgestellt, eines wackeren 80jährigen
Greises, der zu den bedeutenderen Industriellen des Wahlbezirkes gehört und
früher Bürgermeister der Stadt war. Für Zabern verspricht man sich einigen
Erfolg von der Kandidatur des Herrn August Schneegans, eines der Re-
daeteure des „Elsüsser Journals", der kürzlich den Berathungen des elsa߬
lothringischen Budgets im Reichstage persönlich beigewohnt und darüber die
bekannten „Berliner Briefe" in dem genannten Blatte veröffentlicht hat, die
hier größtenteils beifällig aufgenommen worden sind. In Straß bürg spricht
man von einer Kandidatur des derzeitigen Präsidenten der Handelskammer,
Gustav Bergmann, der sich schon früher durch einige volkswirthschaftliche
Brochüren über die Eisenbahn-Tarife u. dergl. vortheilhaft bekannt gemacht hat.
Nebenher geht allerdings die Meldung einiger Blätter, daß der Protest-Kandidat
L an es sich hier wieder um ein Mandat für den neuen Reichstag zu bewerben
gedenkt. Doch wird derselbe, wenn er nicht ganz taub und blind gegen den
Umschlag der Stimmung in der Bevölkerung ist, wohl selber fühlen, daß es
diesmal mit dein einfachen „Protestiren" nicht abgeht, und daß auch die Stra߬
burger Bevölkerung von ihren: Vertreter Arbeit und Wahrung ihrer Interessen
verlangt. Sollte er aber dennoch dieser unmaßgeblichen Ansicht sein, so wird
er doch wohl mit dem einen oder anderen Gegen-Kandidaten zu rechnen haben,
den man ihm in der Person eines Anhängers der Autonomsten-Partei oder
gar eines Altdeutschen unzweifelhaft entgegen stellen dürfe. Da sich die Par-
dei-Verhältnisse in der elsaß-lothringischen Landeshauptstadt aber zur Zeit noch
immer nicht recht geklärt, und gelichtet haben, so dürfte es wohl verfrüht sein,
hier ans bestimmte Männer und Namen zu zeigen. Jedenfalls wird auch
Straßburg sich seiner Würde wohl bewußt und nicht in der allgemeinen Bewe¬
gung die Letzte sein wollen, in der das ganze Land vorwärts und nicht rück¬
wärts schreiten will.
Neben diesen Kandidaten, zu deren Wahl sich der deutsche Reichstag und
die liberale Mehrheit in demselben mehr oder weniger gratuliren könnte, wird
der eine oder andere klerikale Heißsporn, der sich in der gegenwärtige Campagne
„aä ma,M-6in Dsilloriam" besonders hervorgethan, jedenfalls auch wieder ge¬
wählt werden, und wir werden auch im künftigen Jahre hoffentlich den theuern
Namen eines AbbS Gurber, Simonis und Genossen in dem parlamen¬
tarischen Namens - Verzeichniß wieder begegnen. Hoffentlich — denn es wäre
schade, wenn der Reichstag sich nicht auch in Zukunft gelegentlich bei den
lustigen Kanzelreden dieser Herren Z. Ja ^dradam a Santa (ülara erheitern
oder — langweilen dürste.
Dies ist die Situation vor den Wahlen im Reichslande, wie sie auf
Grund eigener Anschauung der Verhältnisse und der Stimmen der einheimischen,
vornehmlich altelsüssischen, Presse nach bestem Wissen und Gewissen gezeichnet
Aegypten. Handbuch für Reisende von K. Baedeker. Erster Theil: Unterägypten
bis zum Fayum und der Sinai-Halbinsel. Leipzig, K. Baedeker, 1877.
Ein würdiges Seitenstück zu dein vor Kurzem erschienenen Handbuche für
deutsche Reisende in Syrien und Palästina, welches alles, was bisher von Reise¬
führern dieser Art existirte, mit Einschluß der Murrayschen in den Schatten stellte.
Von fast durchgehends vortrefflichen Mitarbeitern durch Beiträge unterstützt, so weit
es sich um Gegenstände gelehrten Wissens handelt, in Betreff der in Betracht
kommenden praktischen Fragen durch eigne Besichtigung und Erkundigung an Ort
und Stelle unterrichtet, hat der Herausgeber ein Buch geschaffen, welches die größte
Reichhaltigkeit mit der höchsten Zuverlässigkeit verbindet. Der Reisende führt
in demselben eine förmliche kleine Bibliothek mit sich, die mit praktischem
Blicke gewählt ist, und die ihn nirgends im Stiche lassen wird, wenn er Aus-
kunst verlangt. Eher könnte man sagen, es sei in einzelnen Kapiteln des
Guten zu viel gethan, da die große Mehrzahl der Reisenden schon an der
Hälfte des gebotenen Details mehr als genug haben wird. Nur für einen
kleinen Kreis z.B. kann die ungemein ausführliche und mit zahlreichen Hiero¬
glyphen illustrirte Abhandlung über die Schrift der alten Aegypter bestimmt
sein. Auch das Kapitel über die arabische Sprache ist, wie wir schon bei der
Anzeige ! des Führers durch Syrien zu bemerken Gelegenheit nahmen, mit
seinen Anweisungen, sich verständlich zu machen, zu viel des Guten. Man
wird sich, wenn man die hier gegebenen Vocabeln und Redensarten auswendig
gelernt hat, zur Noth verständlich machen, aber die ertheilte Antwort in den
allermeisten Fällen nicht verstehen können, also über Verlorne Mühe zu klagen
haben. Also entweder für eine Reise von etwa fünf Monaten das Volksidiom
Aegyptens lernen, was freilich zu viel sich zumuthen hieße, oder — und
das scheint uns allein das Richtige — sich auf seinen Dragoman verlassen,
der doch nicht zu umgehen ist. Sonst ist uns nur aufgefallen, daß es S. 26
heißt: „Die arabischen (türk.) Bäder sind bekanntlich Schwitzbäder in trockner
heißer Luft." Wir glaubten, auf unsere Erfahrungen in Kairo, Kenneh und
sind gestützt, daß sie Dampfbäder seien.
Außer diesen Kleinigkeiten wüßten wir an dem Buche nichts auszusetzen.
Die Rathschläge, die es über Reiseplan und Reisezeit ertheilt, der Anschlag
der Kosten, die Bemerkungen über Münz-, Paß- und Zollwesen, Consulate
und internationale Gerichtshöfe, über Dampfer, Dragomane, Ausrüstung für
die Reise, öffentliche Sicherheit, Bakschisch, Gesundheitspflege, Kaffeehäuser und
Bazare, endlich die Regeln über den Umgang mit Orientalen stimmen, soweit
wir nach unserer Erfahrung urtheilen können, durchweg mit der Wahrheit
überein und genügen zur Beantwortung jeder etwa auftauchenden Frage. Wir
nehmen an, daß der Abschnitt, der diese Gegenstünde behandelt, vom Heraus¬
geber allein verfaßt ist. Der nächste, von Dr. Schweinfurth in Kairo, enthält
eine politisch-physikalisch-geographische Uebersicht über Aegyten, Grenzen und
Areal, Einteilung und Verwaltung, Agrarverfassung und Einwohnerzahl des
Reiches des Khediw, bespricht die Herkunft und Abstammung der Aegypter
und die verschiedenen Bestandtheile der heutigen Bevölkerung des Nilthales
und beschäftigt sich dann mit dem Strome des letzteren in ausführlicher Weise.
Daran schließen fich kurze Abhandlungen über Geologisches und die Wüste
(von Prof. Zittek) sowie über die westlichen Oasen (von Prof. Ascherson).
Dann werden die klimatischen Verhältnisse und der Ackerbau des Landes be¬
sprochen, und weiterhin folgen (von Heuglin und Dr. Munzinger) Bemerkungen
über die Thisrwelt Aegyptens, Das dritte Kapitel giebt zunächst einen guten
Ueberblick über die Geschichte desselben von den ältesten Zeiten (fast 4000 Jahre
v. Chr.) bis auf die Gegenwart, wie es scheint, vorwiegend vom Heraus¬
geber zusammengestellt, dann einen Excurs über die Hieroglyphenschrift
von Prof. Ebers,*) eine Darstellung der Götterlehre des Pharaonenvolkes,
einen von Prof. Svein verfaßten Abriß der Dogmen des Islam, woran sich
Mittheilungen über Sitten und Bräuche der Muhamedaner schließen, ferner
einen Ueberblick über die altägyptische Kunst in ihrer Entwickelung, auf den
eine Betrachtung der Baukunst der Araber folgt, deren Verfasser der Architekt
Franz Bey in Kairo ist. Den Schluß dieses Abschnittes bildet die obener¬
wähnte Beigabe in Betreff der arabischen Sprache nebst angehängtem Vocabular.
Der zweite Theil des Buches führt uns dann nach den fehenswürdigsten
Orten und Gegenden des Deltas und des Nilthales bis nach Mittelägypten
und zuletzt nach der Halbinsel am Rothen Meere, welche den Sinai einschließt.
Die Wanderung beginnt mit einem Gange durch Alexandrien und Ausflügen
nach sehenswerthen Orten in dessen Umgebung. Dann begeben wir uns, der
Eisenbahn folgend, am mnreotischen Sumpfsee hin und über Tarda (die be¬
rühmte Wallfahrtsstadt, zu deren Messen sich eine halbe Million Käufer, Ver¬
käufer und Vergnügungsjäger einzustellen pflegen) und Benda nach Kairo, von
dem und dessen Umgebungen rechts vom Nil wir eine sehr ausführliche (fast
hundert kleingedruckte Seiten starke) Schilderung erhalten. Darauf besuchen
wir mit unsern: Führer das Pyramidenfeld von Gizeh, überall aufs Gründ¬
lichste über alle in Betracht kommenden Verhältnisse, Geschichte, Lage, Bau
dieser Riesenbauten unterrichtet, betrachten den Sphinx und die Bauwerke in
dessen Nachbarschaft und folgen dann dem Leitfaden über Abusir mit feinen
wenig bedeutenden Pyramiden nach Sakkara und den von Mariette zum Theil
blosgelegten Begräbnisstätten des alten Memphis, wo uns namentlich die
dortige Stufenpyramide, das Serapeum und die Gruft der Apisstiere in
Anspruch nehmen. Nach Kairo zurückgekehrt, unternehmen wir einen Ausflug
nach Suez, der Mosesquelle und dem Rothen Meer. Dann wird der große
maritime Kanal in Augenschein genommen, der von hier bis Port Said am
Mittelmeer führt, und über dessen Geschichte und Statistik wir genaue und (wie
bei Allem in unserm Handbuche) bis auf die neueste Zeit gehende Auskunft
erhalten. Von Port Said aus wird die Trümmerstätte von Pelusium und
der Landsee Menzaleh besucht. Dann folgen Touren nach den interessanteren
Städten des mittlern und nördlichen Delta, von Kairo nach Mansura, von
hier nach Damiette und der dortigen Nilmündung, nach Said, Rosette und
San, dem einstigen Tanis.
Die weitere Reise führt uns nach der westlich von Benisuef (oberhalb
Kairo) gelegenen Halboase des Fayum, wo sich einst der Moerissee und das
Labyrinth befanden. Dann schließen wir bis auf Weiteres mit einem Ausflug,
den wir in Begleitung unseres rothen Dragomans von Kairo über Suez nach
dem Sinai und seinem Kloster unternehmen, von wo wir einen Abstecher nach
der Nabatäerstadt Petra und ihren interessanten Ruinen machen. Allenthalben
kommen wir durch unsern Führer genügend vorbereitet und mit so viel Be¬
quemlichkeit an, als das Laud und seine Verhältnisse bieten. Nirgends fehlt
es an genügender Auskunft auf unser Begehren nach Belehrung, und überall
ist jene aus bester Quelle geschöpft.
Und was vom Texte zu sagen war, gilt in gleichem Maße von den bei¬
gegebenen Karten und Plänen, die hier um so nothwendiger waren, als man
von den Eingeborenen, selbst wenn man der Sprache mächtig ist, über Wege,
Entfernungen u. dergl. kaum zuverlässig<Auskunft erhalten kann, und die, indem
nicht nur die vorhandenen Kartenwerke benutzt, sondern auch neue Aufnahmen
an Ort und Stelle vorgenommen wurden, fo viel neues Material bieten, wie
man in derartigen Handbüchern für praktische Zwecke nirgends wiederfinden
wird. Recht hübsch sind endlich die kleinen Stahlstiche, die das Buch schmücken,
namentlich die nach Originalabklatschen angefertigten Illustrationen zu dem
Todtenfelde von Sakkara (Memphis).
Fassen wir unser Urtheil zusammen, so ist das Buch ein neuer Beweis
für die Sorgfalt, die Herr Bäedeker seinen Publicationen zuwendet, und wir
sagen durchaus nicht zu viel, wenn wir behaupten, daß kein Reisehandbuch über
die betreffenden Gegenden und Städte existirt, welches sich an Reichhaltigkeit
und Zuverlässigkeit mit dem hier geschaffenen auf eine Stufe stellen, ja auch
nur vergleichen läßt.
Der erste Theil, der unter obigem Titel bei Trübner in Straßburg er¬
schienen Brochüre wird in seinem wesentlichen Bestände von einer Reihe von
Aufsätzen gebildet, die früher bereits in der Augsburger Allgemeinen Zeitung
erschienen sind, die jedoch nicht verwechselt werden wollen mit einer früheren
etwas elegisch angehauchten Briefserie desselben Blattes, die seitdem auch von
ihrem Verfasser S. in Buchform herausgegeben worden sind. Im Gegensatz
zu diesen, weiß der unbekannte Verfasser die frische Farbe der Entschließung auf¬
zutragen, wenn er dem zu Leibe geht, was er dentschen Chauvinismus nennt,
d. h. dem Vorurtheile aller derer, welche neben der ethnographischen Verwandt¬
schaft anch eine Gemeinschaft des politischen Denkens und Fühlens im Elsaß
zu finden hofften und denen, als sie sich enttäuscht sahen, die Milch der frommen
Denkart sich in Molken verwandelte. Nach offenbar sehr gründlichen Studien,
entwickelt uns der Verfasser dann die Naturgeschichte des Elsässers, wie wir
dasselbe in That und Wahrheit im Jahre 1870 aus Frankreichs Händen zu¬
rückempfangen haben. Eine Lücke ist empfindbar, im Titel wie im Buche: für
die Gegenwart des Reichslandes muß der gehaltvolle Abschnitt des Laband'schen
„Staatsrecht des deutschen Reiches" zu Hülfe genommen werden. Dafür
kommt soweit es der Zukunft gilt, durchaus dem Verfasser eigenthümlich der in
seiner Einfachheit überraschende Vorschlag, das Reichsland in ein Kaiser-
land zu verwandeln*), den Kaiser zum Landesherrn von Elsaß-Lothringen
zu machen, um so dem Lande die Selbständigkeit zu verleihen, die ihm auf
die Dauer nicht vorenthalten werden kann, und doch alle Gefahren einer par-
tikularistischen Neuschöpfung zu vermeiden. Daß man im 19. Jahrhundert
am schnellsten eine politische Assimilation bewirkt, wenn man freieste Circu-
lation der Säfte bei engstem Anschluß gestattet, werden wohl alle Doktoren
der politischen Medicin zugestehen. Auf der andern Seite erscheint der Vor¬
schlag, den Kaiser in dieser seiner Eigenschaft mit einer Landesherrlichkeit
auszustatten, höchst förderlich für die innere Entwickelung des Reiches,
namentlich wenn es sich um Landeshoheit in einem Territorium handelt,
dessen Erwerb so eng mit der Begründung der Kaiserkrone verknüpft ist.
Wir erwarten, daß dieser Gedanke in künftigen Discussionen fruchtbar
gemacht wird und empfehlen einstweilen die Brochüre jedem, der sich über
reichsländische Zustände von einem unbefangenen aber scharfen Beobachter be¬
Ein klassisches Buch, nicht, weil der Verfasser sich in den letzten zehn
Jahren als großer Strateg erwiesen hat, sondern weil er sich in dieser Schrift
als Beobachter ersten Ranges zeigt, der mit Interesse und scharfem Blicke für
Alles, selbst das scheinbar Kleine, hohe Bildung und deshalb auch Verständniß für
Alles verbindet und ganz vortrefflich zu erzählen und zu schildern weiß. Sein
Werk beruht auf Beobachtungen und Erlebnissen, die er in den Jahren
1835 bis 1839 während eines Aufenthalts in der Türkei in Briefen
nach der Heimath schilderte. Was er darin sagt, umfaßt, da er, als
eiuer der preußischen Organisatoren der türkischen Armee an deren Um¬
formung durch Sultan Mahmud mitwirkend, Reisen nach den verschiedensten
Gegenden des osmanischen Reiches, in Europa und Asien unternahm, in hohen
und niedern Kreisen verkehrte und den unglücklichen Feldzug Hafis Paschas
gegen die Aegypter uuter Ibrahim Pascha mitmachte, alle möglichen Verhält¬
nisse und ist, von allen Unarten touristischer Behandlung der Dinge, Zustände
und Menschen vollkommen frei, durchaus geeignet, ein klares und genaues Bild
der Türkei vor dreißig Jahren zu geben; ja es spiegelt uns auch die heutige
Türkei in ihren wesentlichen Zügen wieder, die trotz aller Reformversuche, aller
Verheißungen, aller Zusagen höchstens dahin gelangt ist, ein etwas besseres
Heer zu besitzen als das, welches bei Nisib auseinanderlief. Wir brauchen
das Buch nicht zu empfehlen, man lese ein paar Seiten, und man wird mit
Genuß und Gewinn weiterlesen und nicht eher aufhören, als bis man zu
Ende ist.
Mit diesem Hefte beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres
36. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Haftan¬
stalten des In- und Auslandes zu beziehe» ist. Preis pro Quar¬
tal 9 Mark.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften, Kaffee¬
häuser und Konditoreien werden um gefällige Berücksichtigung derselben
freundlichst gebeten.
Leipzig, im December 1876. Die Verlagshandlung.
Auch der Chan von Chiwa hatte schließlich es für rathsam gehalten, Vor¬
kehrungen zu treffen, um den drohenden Schlag womöglich abzuwenden. Die
schon Ende 1872 gemachten Versuche, bei seinen mahomedanischen Glaubens¬
genossen Asiens, und gar bei England Unterstützung zu finden, waren ge¬
scheitert. Um den an und für sich schon so schwierigen Marsch durch die
Steppen den Russen noch mehr zu erschweren, richtete der Chan an alle dort
nomadisirenden Kirgisen die von den schwersten Drohungen begleitete Auffor¬
derung, die Russen in keiner Weise zu unterstützen, und mit ihren Heerden
nach Chiwa zu ziehen, — ein Mittel, das seinem Zwecke in der That sehr
gut entsprach.
Im Chanat selbst begannen eilige Rüstungen: alle streitbaren Münner
wurden aufgeboten und mit Pferd, Säbel oder Flinte, vielfach auch nur mit
Streitkeule und Beil bewaffnet. Diese zusammengerafften Schaaren wurden
anfangs zum Theil über Kuugrad nach dem Fort Djany-Kala bei dem Vor¬
gebirge Urgumuruu, zum Theil in der Stärke von 6 — 7000 Mann in die
Gegend Dau-Kara dirigirt, da der Chan den Angriff nur längs des West-
und längs des Ost-nfers des Aralmeeres ausführbar glaubte.
Ein Allerhöchster Befehl vom 12. Dec. 1872 enthielt den detaillirten
Operationsplan für die Expedition gegen Chiwa; die Ansführungsbestimmungen
wurden von den Oberkommandirenden der Truppen in dem turkestanischen,
orenburgischen und kaukasischen Militair-Bezirke erlassen.
Danach rückt das turkestcmische, also das von Osten her gegen Chiwa
operireude Detachement, in zwei Colonnen: aus Kasala unter dem Befehl des
Obersten Golow, und aus Djisak unter dem Befehl des Generalmajors Golo-
watschew ab, vereinigt sich am Butan-lau und geht dann in einer Gesammt-
stärke von 4687 Mann und 1400 Pferden mit 20 Geschützen in der Richtung
auf die Stadt Chiwa gegen den Anm vor.
Das orenlmrger Detachement wird im Embaposten concentrirt, und
marschirt in südlicher Richtung zum Aralmeere, und längs dessen Westnfer auf
Urgu-murum. Ueber die 3461 Mann und 1797 Pferde mit 20 Geschützen
übernimmt der Generalmajor Werewkin das Commando.
Das kaukasische Detachement schließlich besteht aus zwei vollständig ge¬
trennten Colonnen. Die eine wird in einer Stärke von circa 2000 Mann,
900 Pferden und 9 Geschützen an der Kinderli-Bucht zusammengezogen und
setzt sich uuter dem Obersten Lomakin über den südlichen Theil der Halbinsel
Mangyschlak auf den Aibugir-See in Marsch, wo die Vereinigung mit dem
orenburger Detachement anzustreben ist, um dann mit unter den Befehl des
Generalmajors Werewkin zu treten.
Die andere Colonne der kaukasischen Truppen tritt nnter dem Befehle des
Obersten Markosvw von Tschikischljar den Vormarsch an und dirigirt sich
östlich an dem Südostrande des Gr. Balchangebirges vorbei über die Brunnen
Jgdy und Dudur auf die Stadt Chiwa. Sie ist etwa 2200 Mann, 600 Pferde
und 16 Geschütze stark.
Das ganze uach seiner Vereinigung in der Chiwa-Oase circa 13,000 Mann
zählende Operationscorps tritt dann unter den Oberbefehl des General-Gouver¬
neurs von Kaufmcm.
Zur Unterstützung der Landtruppen sollten schließlich die beiden Dampfer
der Ural-Flotille Perowski und Sscnnarkand und drei Marine-Barkassen nach
der Mündung des Ann-Darja dirigirt werden. Sie haben aber — wie ich
schon hier vorgreifend bemerke — keine wesentlichen Dienste geleistet.
In Betreff der Verpflegung ergingen folgende Anordnungen: Für das
orenburger Detachement sollten die Kirgisen auf jeder Station vom Emba¬
posten ab bis zum Aralmeere Schlachtvieh, nach der Norm von 1 A. Fleisch
pro Tag und Kopf, und 400 — 600 Pud Heu gegen Bezahlung liefern.
Außerdem gingen aber noch soviel Vorräthe mit, daß die Verpflegung selbst
nach dem Einrücken in das Chanat noch auf einen Monat sicher gestellt war.
10,319 Kameele waren für den Transport erforderlich. In ähnlicher Weise
wurde auch für das turkestanische Detachement gesorgt: der djisaklchen Colonne
folgten 6700, der kasalinsskischen 2800 Kameele.
Die beiden kaukasischen Detachements stießen bei diesen Vorbereitungen auf
größere Schwierigkeiten. Die Atrek-Turkmenen verweigerten nämlich den Ver¬
kauf von Kameelen, so daß der Oberst Markosow sich deren erst mit Gewalt
bemächtigen mußte, um seinen zweimonatlichen Proviant transportiren zu
können. Schließlich hatte er aber auch 3000 Lastthiere zur Verfügung.
Ebenso erging es dem Obersten Lomakin. Da aber der Befehl zur Formirung
dieses Detachements erst am 28. Februar erfolgt war, so war Eile geboten. Zur
Fortschaffung der Verpflegung für drei Monate mußte man sich anfangs mit
1.000 Kameelen behelfen, bis ein abgesandtes Reqnisivnskommcmdo noch 300
Thiere gleich direkt nach dem Brunnen Bischakty brachte. —
Am 6. März 1873 trat nun die kasalinsskische Colonne des Obersten
Golow — als die erste — in vier Echelons den Vormarsch an. Bei sehr
ungünstigem Wetter — Schnee wechselte mit Regen — ging der Marsch in
süd-süd-östlicher Richtung durch das ewige Einerlei der Sandhügelsteppe. Am
18. März erreichte man Jrkibai, wo ein Fort als nordöstlicher Stützpunk an¬
gelegt wurde. Es erhielt, nach dem Tage seiner Einweihung — dem 25.
März — den Namen „Blahowiüschtschenssk" (Mariä Verkündigung). Zwei Com¬
pagnien Infanterie und 100 Kasaken mit zwei Einhörnern blieben als Be¬
satzung hier zurück, zum Schutz der Gegend gegen Dan-Kara und Min-Bulak. —
Am 28. Mürz setzte sich die Colonne in der Richtung über den Brunnen
Kysyl-Kak nach dem Butan Gebirge in Bewegung; -hier wurde am 2. April
Halt gemacht. — Anstatt hier aber der Disposition gemäß mit der djisakschen
Colonne zusammenzutreffen, erhielt man nur den Befehl des Geueral-Gouver-
neurs, in südlicher Richtung bis zur Quelle Jus-kuduk weiter zu marschiren
und dort das Weitere abzuwarten. —
Die djisaksche Colonne, erst am 13. März in vier Echelons mit dem
Hauptquartier aufgebrochen, dirigirte sich längs der bncharischen Grenze über
die nord-östlichen Abhänge des Kara-lau- und Nurata-Gebirges. Der Marsch
war in Folge der immer noch andauernden Kälte ein äußerst beschwerlicher
In Temir-Kabul trafen indessen Abgesandte des Emirs von Buchara ein und
brachten, um die freundschaftlichen Gesinnungen ihres Herrschers gegen die Russen
zu bethätigen, Brennmaterial, Fourage und 100 Kcnneele mit. Am 20. März
gelangte man bei dem Brunnen Balta-ssaldyr an den Rand der Kysyl-tum
Wüste und am 29. März — nach unsäglich mühseeligen Märschen durch den
tiefen Sand, in den von beständigen Südwest-Winden aufgewirbelten Staubmasfeu,
und bei stets bitter-salzigem Wasser — bei Arystau-bel-kuduk wieder an den
Fuß der westlichen Berge. — Eingezogene Nachrichten ergaben hier, daß man
von Arystau-bel-kuduk aus über Chat-ata weit leichter an den Ann-darja ge¬
lange, als wenn man der ursprünglichen Disposition folge und die Route
über Tamdy und Minbulak nach Schurachana einschlage. Eine Abkürzung
des Marsches um 150 Werst erschien schon wegen des bereits eingetretenen
Verlustes an Kameelen wichtig genug, um die Marschrichtung zu ändern, und
auch die kasalinsskische Kolonne über Tamdy nach Arystau-bel-kuduk zu dirigiren.
Die Vereinigung beider Kolonnen wurde aber, da der General von Kaufmau
schon am 11. April auf Chat-ata abmarschirte, bis zu letzterem Orte hinaus¬
geschoben. Hier erfolgte sie am 24. April. Die djisaksche Kolonne hatte gegen
450, die kasalinsskische gegen 700 Werst zurückgelegt. Das vereinigte
turkestanische Detachement trat nunmehr unter den Befehl des Generals
Golowatschew.
Die in Chat-ata angelegte Befestigung — Se. Georgs-Befestigung ge¬
nannt — erhielt eine Besatzung von 1 Ins.-Comp., 1 Ssotnie Kasaken und
2 Festungsgeschützen.
Wenn auch Wasser — die Hauptsache bei einem Steppenfeldzuge —
reichlich vorhanden war, es auch an Nahrungsmitteln keineswegs mangelte, so
war doch der Aufenthalt bei Chat-ata bei einer Temperatur von 39° R.
und den steten Sandstürmen ein sehr unerquicklicher, so daß der Oberst Ko-
lokolzow in seinem Feldtagebuche schreibt: „Unsere Lage war keine Minute
lang eine menschliche, Tag und Nacht ein wahres Chaos, Tag und Nacht eine
Art jüngster Tag ohne Ruhe, ohne Rast". — Und doch standen die größten
Strapatzen dem Detachement noch bevor.
Nachdem der General von Kaufman schon am 27. April eine kleine Ka-
saken-Abtheilung zum Schutze der Brunnen bei Adam-krylgan (zu deutsch:
„Menschenuntergang") gegen Turkmenen, welche sich bereits am 23. als die
ersten Feinde gezeigt hatten, vorausgeschickt hatte, brach er selbst mit 9 Comp.
Infanterie, ^ Sfotnie Kasaken und 8 reit. Geschützen am 30. April von
Chat-ata ans. Die Cavallerie sollte erst später nachfolgen, das Gros noch
vor dem Anm einholen; die übrigen Truppen aber vorläufig zurückbleiben.
Mit dem ganzen Detachement gleichzeitig den Marsch anzutreten, war unmöglich,
da schon 700 Kameele gefallen waren.
Die 40 Werst von Chat-ata im tiefen Sande bergauf bergab, ohne
Brunnen bis Adam-krylgan zurück zu legen, gebrauchte man von 3 Uhr
Morgens bis 10 Uhr Abends, während welcher Zeit die Truppen nur sechs
Stunden geruht hatten. Der Kameel-train war über fünf Werst lang geworden;
— die Arrieregarde traf erst um Mitternacht ein.
Auf der letzten etwa noch 75 Werst betragenden Strecke bis zum Ann
bedürfte es der ganzen Energie der Officiere und der Ausdauer der Mann¬
schaften, um im Kampfe mit der Wüste den Sieg davon zu tragen. Der kaum
noch für 2 Tage ausreichende Wasservorrath zwang nämlich das Detachement,
diesen durch die wasserlose Wüste führenden Weg in höchstens zweimal vier¬
undzwanzig Stunden zurückzulegen, sollten nicht Menschen und Thiere der
Gescchr des Verdurstens ausgesetzt werden. Und nur mit genauer Noth ent¬
gingen sie diesem Schicksal. Am 2. Mai 2 Uhr Morgens setzte sich die Ko¬
lonne wieder in Marsch. Bis 9 Uhr Morgens sollte sie 20 Werst zurücklegen,
dann 7—8 Stunden ruhen und dann weiter marschiren. Die Avantgarde
erfüllte — wenn auch mit großer Mühe — den ersten Theil dieser Aufgabe.
Der Train aber blieb in Folge des so schwierigen Marsches über die von
tiefem Sande gebildeten Hügel weit zurück, und konnte theilweise nicht
nachgeführt werden. Vor Mitternacht war an einen Weitermarsch gar nicht
zu denken.
Wie nun aber bei den geringen Wasservorräthen den Ann erreichen, wenn
nicht irgendwo Wasser gefunden würde? — In dieser entsetzlichen Lage ertönte
plötzlich um 11 Uhr Nachts der Ruf „Wasser! Wasser!" Ein kirgisischer Führer
hatte 7—8 Werst seitwärts einen Brunnen entdeckt. Um 1 Uhr Nachts brach
mau dorthin ans, und um 6 Uhr Morgens lagerte die Truppe bei Alty-
kuduk. — Die Brunnen waren aber doch zu wenig ergiebig, als daß sie das
ganze Detachement für den Weitermarsch genügend mit Wasser hätten versorgen
können. In Folge dessen sandte der General-Gouverneur einen Theil der
Kolonne und speziell alle Pferde und Kameele nach Adam-krylgcm zurück. Es
sollten dort soviel wie möglich Brunnen gegraben, die Thiere getränkt, ein von
Chat-ata eintreffender Prvviantzug abgewartet und dann möglichst viel Wasser
mit zurückgebracht werden.
Am 9. Mai war der Befehl ausgeführt und die Kolonne wieder in Alty-
kuduk zurück. Unverzüglich begann der Weitermarsch. Ein Theil des Trains
mußte aber unter einer Bedeckung zurückbleiben, da von den 2800 aus Chalata
mitgenommenen Kameelen nur noch 1240 vorhanden waren. Am folgenden
Tage — am 11. Mai — bezogen die Truppen das Bivak bereits angesichts
von Atfeh-uschak. Der grausige Kampf mit den Elementen in der Wüste wär
überstanden; man war am Ann, am Rande der Oase, angekommen. Nun
galt es nur noch mit den Waffen in der Hand zu kämpfen, — ein Kinderspiel
nach jenen überstandenen Strapatzen, nach jenein fast die Menschenkräfte über¬
steigenden Ringen in der Wüsteneinöde.
Am 9. Mai hatten sich bereits Turkmenen gezeigt, und eingebrachte Ge¬
fangene hatten ausgesagt, daß am Ann gegen 3500 Turkmenen und Kirgisen
den Russen den Weg verlegen würden. Schon in der Nacht machten sie einen
Angriff auf das russische Lager, und wurden zurückgewiesen. Am 11. Mai
rückten die russischen Truppen — zum ersten Male zum Gefechte geordnet —
vor, wo der Feind sich entgegenstellte, wurde er geworfen. Auch in seinem auf
den Höhen am Ann aufgeschlagenen Lager hielt er nicht Stand: die Russen
nahmen von dem Lager Besitz: der Schlüssel der Chiwa - Oase war in ihren
Händen.
Anderen Tags setzte der General von Kaufman den Vormarsch in der
Richtung auf Schurachcm fort. Ohne weiter auf den Feind zu stoßen erreich-
ten die Russen am 16. Mai Ak-kamysch, 30 Werst diesseits Schnrachan und
7 Werst landeinwärts von Ann gelegen. Die Turkmenen hatten sich über den
Ann geworfen und am linken Ufer bei dem Fort Scheich-aryk ein befestigtes
Lager bezogen, aus dem sie aber nach kurzem Kampfe vertrieben wurden.
Der General-Gouverneur beschloß nun auch seinerseits den Fluß zu über¬
schreiten. Am Morgen des 18. begann mit Hülfe von 3 mitgeführten Pontons
und 17 ans dem Anm deuteten Kajuks das Uebersetzen der Truppen und
war am 22. beendet. Die Truppen bezogen das Lager zwischen dem Anm
einer-, Chasarasp und Pitnjak andrerseits. Die Kavallerie verblieb auf dem
rechten Ufer, um den Anmarsch der noch zurückseienden Truppen und Trains
zu sichern.
Das orenbnrger Detachement, zu welchen wir uns nun wenden, war mit
dem Gros am 30. März vom Embaposten aufgebrochen. In den ersten Tagen
lag bei einer Kälte von 12° noch tiefer Schnee, welcher das Vorwärtskommen
sehr hinderte. Am 11. April erstiegen die Truppen den Nordrand des Ust-
Urt-Plateaus, und erreichten am 16. — bei einer Temparatnr von schon 4-
36« R. — Jssenschagyl am Südrande der großen Barssuki-Wüste, und am
25. Kassarma, etwa die Mitte des am Aralmeere hinführenden hohen
Küstenweges.
In Folge der aus dem Fort Bisch-akty datirten hier angelangten Nach¬
richten, welche das Eintreffen des Obersten Lomakin an der Südspitze der
Aibugir-Bucht zwischen den 4. und 9. Mai in Aussicht stellten, schickte der
General Werewkin dem Obersten den Befehl, jene Route nicht einzuschlagen,
sich vielmehr auf Cap Urga zu dirigiren, und hier die Vereinigung mit dem
orenburger Detachement zu suchen. —
Das mangyschlaksche Detachement, welches in 3 Echelons um den 15.
April das Lager an der Kinderli-Bucht verlassen hatte, war um den 20. April
in dem durch eine voransgesandte Abtheilung bereits angelegten Fort Michael
bei Bisch-akty eingetroffen. Der Marsch dorthin war theilweise von fast un¬
überwindlichen Schwierigkeiten begleitet gewesen: die Truppen mußten die 80
Werst lange wasserlose Strecke zwischen den Brunnen Kandy und Ssenek bei
37« K. Hitze in einem 42« heißen Sande in 2 Tagen durchschreiten.
Nachdem das Fort Michael mit 2 Comp. Infanterie und einer toad.
Kasaken-Ssotnie besetzt war, rückte das Detachement zwischen dem 20. und
25. April in 3 Echelons über die Brunnen Kamysty, Karaschtschik, shal-kujn
nach dem Brunnen Bussaga und von hier über die Brunnen Karakya, Kynyr,
Alpai-Maß und Ak-metschet nach Jltje-Jdje, wo es sich am 30. April wieder
concentrirte. Vorher jedoch kam es in eine gleich gefahrvolle Lage, wie das
tnrkestanische Detachement am 2. Mai. Der Brunnen Kynyr war zu tief, um
zum Wasser zu kommen, und ehe der Brunnen Alpai-Maß erreicht wäre,
hätten die Truppen 1 '/s Tage auf einem Marsche von 70 Werst bei glühender
Hitze ohne einen Trunk Wasser bleiben müssen, wäre nicht zufällig etwa
2 Werst nördlich der Route ein bis dahin unbekannter Brunnen entdeckt
worden.
In Jltje-Jdje wurde wieder eine Befestigung angelegt und mit einer
Compagnie besetzt. Am 1. Mai setzte das Detachement seinen Marsch über
den Ast-Art weiter fort. Die anfangs eingeschlagene Richtung auf die Süd¬
spitze der Aibugir-Bucht änderte der Oberst Lomakin in Folge jenes vom
General Werewkin erlassenen Befehles nunmehr dahin ab, daß sich das De¬
tachement bei dem Brunnen Alan concentriren sollte. Das geschah am 6. und
7. Mai. Mittlerweile trafen neue Boten vom General Werewkin ein, welche
den bereits erfolgten Abmarsch der Orenburger von Urga meldeten, und die
Directive überbrachten, baldmöglichst die Vereinigung vor Kungrad zu be¬
werkstelligen. —
Der General Werewkin selbst war von Kassarma am 28. April abmar-
schirt und hatte am 2. Mai Urga erreicht, wo bereits in Folge einer Prokla¬
mation des Generals Karakalpaken, Turkmenen und Kirgisen eintrafen, um
ihre Unterwerfung unter das Scepter des „weißen Zaren" anzuzeigen.
Die Aibugir-Bucht fand man bei dem Weitermarsche ausgetrocknet, und
das Chiwesische Fort Djany-tala, wo man Widerstand erwartet hatte, von den
Chiwesen verlassen. Nachrichten besagten, daß der Feind die Russen erst bei
Kungrad erwarte.
Das chiwesische Fort wurde zerstört, und an seiner Stelle eine Feldredoute
als Etappen- und Stützpunkt aufgeführt, und dort eine Compagnie und eine
Ssvtnie als Besatzung zurückgelassen.
Auch das Orenburger Detachement hatte nun die Oase betreten. 600
Werst hatten die Truppen vom Embaposten bis Urga in 35 Tagen
durchmessen.
Am 6. Mai trat das Detachement den Vormarsch wieder an; — am 12.
passirte es schon die erste chiwesische Stadt Kungrad und an demselben Tage
wurde die Vereinigung mit der mangyschlakschen Colonne hergestellt. —
Der Overst Lomakin hatte, um die unpassirbarer Salzlachen Barssa-
kilmaß zu umgehen, am 7. Mai von Alan aus eine nordöstliche Richtung auf
den Brunnen Jrbasan eingeschlagen, und sich dann nach Südosten gewandt:
er berührte den Brunnen Karaknduk, traf den Aibugir bei Karakumbet, über¬
schritt diesen in der directen Richtung nach Kungrad und vereinigte sich hier
— wie schon erwähnt — mit dem orenburger Detachement.
Diese letzte etwa 160 Werst lange Strecke verlangte indeß von den Trup
pen noch die äußersten Anstrengungen, indem sie von Karakuduk ans 75'/2
Werst in Folge des großen Salzgehaltes der Brunnen bei einer tropischen
Hitze ohne auch nur einen Tropfen Trinkwasser zu haben, durchziehen mußten.
Die braven Kaukasier leisteten diese Aufgabe am 10. und 11. Mai in 35
Stunden. —
Nicht so glücklich, wie die Führer des turkestcmischen, orenburgischen
und mangischlakschen Detachements war der Oberst Markosow, welcher von
Tschikischljar, von Südwesten aus, gegen das Chanat Chiwa vorgehen
sollte. Noch großer waren hier die Hindernisse, hier waren sie in der That
unübersteiglich.
Von Tschikischljar aus, das die drei Echelons am 19., 25. und 26. März
verlassen hatten, ging der Marsch in nord-nord-östlicher Richtung, fast paralell dem
Caspischen Meere, nach dem im Thale des großen und kleinen Balchan gelegenen
Brunnen Albin. 238 Werst wurden in 21 Tagen glücklich durchschritten. Nur
die von Aufang an schwachen Kameele hielten nicht aus: ein Theil der Ladungen
mußte weggeworfen werden.
Bei dem Brunnen Uley-kuju traf das Detachement auf den Usboi — das
alte Oxus-Bett — und, längs dessen Ufer weiter marschirend, kam es am
11. April bei dem Brunnen Topiatan an. Am 13. traf eine vorpoussirte Ka-
saken-Abtheilung auf Turkmenen, die augenscheinlich dem Chan von Chiwa
zu Hülfe zogen. Ihre Hauptmasse sollte bei dem etwa 120 Werst weiter öst¬
lich gelegenen Brunnen Jgdy lagern. Um sie zu zerstreuen, schickte der Oberst
Markosow das ganze combinirte Kasaken-Regiment voraus. Nach einem scharfen
Ritte vom Morgen des 15. bis zum Morgen des 16. trafen die Kasaken einige
Werst vor dem Brunnen Jgdy auf die Feinde, jagten sie auseinander und
verfolgten sie uoch etwa 50 Werst weit. Die Kasaken hatten somit in 33'/-,
Stunde über 120 Werst durchritten. Es waren über 5000 Hammel und gegen
1000 Kamele erbeutet, und letztere waren ein willkommener Ersatz für die schon
zu Hunderten gefallenen Lastthiere.
Nachdem auch das Gros am 17. April beim Brunnen Jgdy angekommen
war, sollte der Brunnen Orta-kuju das nächste Marschziel sein. Nach den
Schätzungen der turkmenischen Führer sollte derselbe etwa 60—75 Werst weiter
in der gänzlich unbekannten wasserlosen Sandsteppe liegen.
Am 18. April brach der Oberst Markosow mit 6 Kompagnien Infanterie,
6 Berggeschützen, einem Sappeurkommando und 25 Kasaken dorthin auf,
während der Rest der Infanterie und Kavallerie erst an den folgenden Tagen
echelonweise abmarschiren, die Kavallerie schon am Abend des 18. aber folgen
und Orta-knjn bis zum nächsten Abend erreichen sollte, Wasservorräthe glaubte
man somit für die letztere nicht mitführen zu brauchen.
Das erste Echelon marschirte, wie festgesetzt, am 18. 25 Werst. Doch ließ
die entsetzliche Hitze die Leute und Pferde kaum noch vorwärts kommen, und
— worauf man gar nicht gerechnet hatte — das in den Wasserbehältern mit¬
genommene Trinkwasser fing in Folge der ganz ungewöhnlichen Trockenheit
der Luft zu verdunsten an. Schon war es um ein Viertel geschwunden, —
ein Umstand, welcher das Schlimmste befürchten ließ, zumal man noch 2 Tage¬
marsche bis Orta-kuju hatte.
Mit der Morgendämmerung des 19. trat das Echelon den Marsch wieder an.
Nach kurzer Zeit wurde es von der Kavallerie eingeholt. Oberst Markosow ritt mit
letzterer voraus, um möglichst bald Orta-kuju zu erreichen, und von da aus,
wenn irgeud möglich, den nachfolgenden Truppen Wasser entgegen schicken zu
können. Die Kasaken waren aber nur im Stande, von 3—10^ Uhr Morgens
25 Werst zurücklegen. Die Hitze war so groß, daß ein 55 theiliges Reaumur-
Termometer 52° zeigte, und schließlich zersprang. An ein geschlossenes Reiten
war nicht mehr zu denken; zum Theil mußten die Pferde geführt werden; —
es war ein ungeordneter Zug von 10 Werst Länge. — Dennoch brachen die
Kasaken um 4 Uhr Nachmittags wieder auf; — sie schleppten sich aber nnr
mühsam fort: der Sand war zum feinsten, glühend heißen Staube geworden.
Die Zahl der Maroden wurde immer größer: Offiziere mußten zurückbleiben,
um sie zu sammeln. Um Mitternacht wurde nothgedrungen Halt gemacht,
ohne daß das sehr ersehnte Wasser des Brunnen Orta-kuju erreicht war.
An ein weiteres Vordringen, ohne genau zu wissen, wie weit der Brunnen
Orta-kuju noch sei, durfte der Oberst Markosow nicht denken. Und da eine
zur Rekognoscirung ausgeschickte Patrouille nicht zurückkehrte, so entschloß sich
der Oberst zu dem so schweren Kommando „Kehrt!" Um den Leuten Wasser
zu verschaffen, wurde eine Abtheilung Kasaken zu dem 1. Echelon zurückgeschickt;
letzteres solle den zu Tode erschöpften Mannschaften die noch gefüllten Wasser¬
behälter entgegenbringen, dann mit den leeren Fässern nach dein östlich der
bisherigen Route gelegenen etwa 15 Werst vom letzten Lagerplatze der In¬
fanterie entfernten Brunnen Baka-ischem abbiegen und dieselben wieder füllen.
Die Infanterie war am Morgen unter den größten Strapazen — wenn
es ihr auch noch nicht ganz an Wasser fehlte — 12 Werst, am Nachmittage
7 Werst weiter marschirt. Am 20. hatte aber auch sie nach einem Marsche
von nur 7 Werst liegen bleiben müssen. Sowie die Boten des Obersten ein¬
trafen, wurde der Befehl desselben unverzüglich ausgeführt. Es ging sofort
ein Wassertransport an die Kasaken ab, und die Kameele mit den bereits leeren
Fässern wurden nach Baka-Jschem geschickt. Bis 9 Uhr Abends waren schon
1300 Eimer Wasser in das Infanterie-Lager geschafft, auch hier als Hülfe in
größter Noth, denn schon im Laufe des Nachmittags war auch hier der letzte
Tropfen Wasser verausgabt. Die Kasaken dagegen konnten erst am andern
Morgen sich an dem ihnen zugeführten Wasser erquicken. Der Gefahr des
Verdurstens waren sie entgangen, ihre Kräfte aber waren geschwunden. Ein¬
zeln, mit genauer Noth erreichten sie die Infanterie oder andere den Brunnen
Vala-ischein, wohin am Morgen des 21. April das Jnfanterie-Echelon beordert
wurde.
Gegen 200 Mann waren in Folge von Entkräftung und zum Theil vom
Sonnenstich getroffen, außer Stande zu gehen oder zu reiten. Der Marsch
bis zum Rande der Chiwa-Oase nahm aller Wahrscheinlichkeit nach noch
10—12 Tage in Anspruch. Den für diese Zeit nothwendigen Wasservorrath
mitzuführen, war rein unmöglich, — und so wäre jeder Versuch, den Marsch
auf Chiwa wieder aufzunehmen, als ein tollkühnes Spielen mit dem Geschick
der Truppen zu kennzeichnen gewesen. Hiervon überzeugt, entschied sich der
Oberst Markosow, das ganze Detachement nach Kraßnowvdssk zurückzuführen. —
Am 14. Mai traf das letzte Echelon dort ein. — Die Truppen hatten im
Ganzen 960 Werst in 57 Tagen durchzogen, davon die etwa 520 Werst lange
Strecke von Tschikischljar bis vor Orta-kuju in 33, und den Rückweg von dort
bis Kraßnowvdssk 440 Werst in 24 Tagen. Todt blieben nur 3 Maun.
Wenden wir uns nunmehr wieder zu den Truppen zurück, welche glück¬
licher als die Kaukasier des Obersten Markosow, bereits die Chiwa-Oase be¬
treten hatten/
Nachdem das orenburgische Detachement am 8. Mai bei Kungrad zuerst
mit dem Feinde Fühlung gewonnen hatte, erreichte es, letzteren vor sich her¬
treibend, und bereits mit dem mangyschlak'schen Detachement vereinigt, am
13. Mai Chodjeili und am 20. Mangyt. Hier hatten sich die Chiwesen in
einer ungefähren Stärke von 3000 Mann gestellt, wurden aber wieder ge¬
worfen, so daß der General Werewkin über Gurken direct auf Chiwa mar-
schiren konnte, und am 25. Mai nur noch einen Tagemarsch von der Haupt¬
stadt des Chanats entfernt war. Nachdem er am 26. Mai 8 Werst weiter
vorgerückt war, und am folgenden Tage einen feindlichen Ausfall aus der
Stadt zurückgewiesen hatte, gelang es ihm am 28. einen Theil seiner Truppen
und besonders eine Bergbatterie bis dicht vor das Nordthor vorzuschieben.
Das turkestanische Detachement hatte, nach Einnahme der Festung Cha-
sarasp, auch seinerseits den Vormarsch gegen die Stadt Chiwa angetreten, wo
in Folge des so energischen Vorgehens der Russen Alles den Kopf verloren
hatte. Seid-Rachim war geflüchtet, und sein 20jähriger Bruder als Chan
ausgerufen. Es herrschte die vollständigste Anarchie: die einen wollten Frieden,
die andern drangen ans Fortsetzung des Krieges. — Während der neue Chan
schon dem General v. Kaufman seine Unterwerfung angezeigt hatte, wurde
noch ans der Nordseite der Stadt gekämpft. Der General Wcrewkin ließ das
Nordthor in Bresche legen und nahm die Stadt mit Sturm. Um 2 Uhr
Nachmittags hielt der General-Gouverneur seinen feierlichen Einzug. Das
Ziel war erreicht, die Hauptstadt des Chanats war im Besitz der Russen; sie
konnten den Frieden dictiren.
Der geflohene Seid-Mohamed-Rachim-Chan folgte der an ihn gerichteten
Aufforderung, zurückzukehren, sofort, und wurde — da er sich bedingungslos
dem „Weißen Zaren" unterwarf — wieder in seine Rechte eingesetzt. Zur
weiteren Regelung der Verhältnisse stellte man ihm aber einen Beirath aus
3 von dem General-Gouverneur ernannten Russen und 3 von demselben be¬
stätigten chiwesischen Würdenträgern zur Seite. Der Chan hatte den Ehren¬
vorsitz, der General Kaufman das Bestätigungsrecht aller wichtigen Beschlüsse.
Die bisher im Chenal bestandene Sclaverei wurde aufgehoben. 3000
Sclaven, meist Perser, erlangten ihre Freiheit wieder und kehrten zum Theil
unter russischem Schutze in ihre Heimath zurück.
Je tiefer man aber in die inneren Verhältnisse des Chanats eindrang, je
klarer wurde es, daß das Eintreten der geordneten Zustände in Chanat wesent¬
lich von .dem Verhalten der Turkmenen abhängig sein werde. Sie waren bis¬
her die Hauptvertreter der Feindschaft gegen Rußland gewesen und hatten
auch an dem Kriege den thätigsten Antheil genommen. Sie besonders zu
züchtigen, erschien als ein Unterpfand für die künftige Ruhe und Sicherheit.
Es wurde ihnen in Folge dessen eine Contribution von 300,000 Rubeln auf¬
gelegt. Die Turkmenen dachten aber nicht daran solche zu zahlen. Der Ge¬
neral Golowatschew mußte mit den Waffen in der Hand sie erst dazu zwingen,
und fand hierbei einen hartnäckigeren Widerstand als in dem ganzen bisherigen
Feldzuge. Aber auch dieser wurde gebrochen und 26 Geißeln aus den ange-
sehendsten turkmenischen Familien bürgten schließlich für die Abzahlung der
jetzt auf 310,000 Rubel erhöhten Contribution.
Der zügellose, halsstarrige Charakter der Turkmenen war in diesem Nach¬
spiele der Expedition gegen Chiwa wieder grell an das Licht getreten. Um
die für den Augenblick Eingeschüchterten anch ferner im Zaume zu halten, oder
doch bei jedem Aufstände derselben wenigstens schnell bei der Hand sein zu
können, erschien die Anlage einer Befestigung und deren Besetzung mit russischen
Truppen unbedingt geboten. Ein solches Fort konnte nur an dem rechten
Ufer des Ann-Stromes erbaut werden, mußte aber selbstredend auch eine ge¬
sicherte rückwärtige Verbindung mit dem russischen Territorium haben, — und
so war eine Gebietsabtretung Seitens des Chans von Chiwa nicht zu um-
gehen. Aus rein militairscheu Gründen mußte das rechte Anm-Ufer in den
Besitz Rußlands übergehen.
In handelspolitischer Beziehung war der Besitz der Mündung des Ann,
des Ann-Deltcis, für Rußland von großem Werthe, um den Strom sicher be¬
fahren zu können. — Ferner mußte aus gleichen Rücksichten Chiwa die Mög¬
lichkeit genommen werden, den Karawanenhandel zwischen Rußland und Buchara
stören zu können. Dies geschah, wenn die Karawanenstraße in Zukunft nicht
mehr chiwesisches Gebiet berührte. Die Abtretung eines weiteren Stückes
Land am rechten Anm-Ufer Seitens Chiwa an Buchara leistete dieser Noth¬
wendigkeit Genüge, und belohnte gleichzeitig die gute Haltung des letzteren
Staates während des Krieges.
Der Absicht endlich, den Chan selbst auf dem guten Wege der Willfährig¬
keit zu erhalten, entsprang die ihm aufgelegte Kontribution von 2,200,000
Rubeln, deren letzte Rate erst im Jahre 1893 fällig ist.
Auf Grund dieser Erwägungen wurde der Friede zwischen Rußland und
Chiwa am 12. August 1873 geschlossen.
Das Fort Petro-Alexcmdrowssk entstand 2^ Werst vom rechten Ufer des
Ann-Darja zwischen Charta und Schurachana, und erhielt eine Besatzung von
9 Compagnien, 4 Ssotnien und 8 Feld-Geschützen; armirt wurde es mit 12
Festungs-Geschützen.
Die übrigen Truppen verließen das Chanat und trafen im Laufe des
Septembers und Oktobers in ihren Garnisonen wieder ein.
Das neu gewonnene Gebiet — 1880 ^-Meilen — wurde unter dein
Namen Ann-darja-Gebiet dem General-Gouvernement einverleibt, so daß
letzteres im Westen jetzt bis an den Ann-darja sich erstreckt und das Amu-
Delta mit umfaßt.
Trotz dieses Gebietszuwachses und trotz der dem Chan und den Turk¬
menen auferlegten Kontribution kann aber doch von einem materiellen Gewinn
nicht die Rede fein. Die Kontributionen decken die Kosten der Expedition,
welche man — als die Truppen noch in Chiwa standen — schon auf 3^
Millionen Rubel bezifferte, bei weitem nicht. Und das eroberte Gebiet ist
zum größten Theile unfruchtbare Steppe, nur der westlichste Theil am Ann
selbst ist bevölkert und bebaut.
Wohl aber kann man behaupten, daß in ideeller Beziehung der Gewinn
ein großer war: Abgesehen von der Aufhebung der Sklaverei im Chanat felbst,
war ein mittelasiatisches Reich zu Boden geworfen, dessen Unbezwinglichkeit
bis dahin unbezweifelt dastand. Der russische Doppelaar war wieder der
Schrecken der Mittelasiaten geworden: Chiwa war bezwungen — wie leicht
konnte auch jeder andere Staat, wollte er dem mächtigen nordischen Reiche Wider¬
stand leisten, zerbrochen werden!
Die Nothwendigkeit der Anlage des Forts Petro-Alexandrowssk sollte in¬
dessen gleich nach Abzug der russischen Truppen durch die That bewiesen wer¬
den. Nur durch die russischen Besatzungstruppen konnte ein erneueter Auf¬
stand der Turkmenen unterdrückt werden, so daß im Februar 1874 der Oberst
Jwanow, Chef der Truppen des Ann-darja-Bezirks die Wiederherstellung der
Ruhe melden konnte.
Um die Tukmenen aber auch von Westen her stets unter Aufsicht halten,
und ihren Ausschreitungen sofort entgegentreten zu können ist unter dem 9.
März 1874 ferner der „transkaspische Militair-District" organisirt. Derselbe
reicht im Norden bis zum Mertwyi-lüllül des Caspischen Meeres, im Westen
bis an das Ufer des letzteren, in: Süden bis zum Atrek und im Osten bis
an das Chanat Chiwa. 5939 ^-Meilen groß, zerfällt er in die Bezirke
Mangyschlcck und Kraßnowvdssk, gehört aber nicht zu dem turkestcmischen,
sondern zum kaukasischen Militair-Bezirke. Indem so einerseits die wilde No-
madenbevölkernng zur Ruhe und Ordnung angehalten und dadurch der Handel
und Wandel gefordert wird, ist anderseits Chiwa vollständig von russischem Ge¬
biete umgeben, liegt gefesselt in den eisernen Banden Rußlands.
An die Expedition gegen Chiwa, welche immer sowohl was Anlage, als
auch was Durchführung betrifft, eine hervorragende Leistung der russischen
Führer und Truppen bleiben wird, reiht sich nun der — bis heute — letzte
Feldzug der Russen in Mittelasien. Es ist dies der Feldzug in Kokan.
Wir baben gesehen, daß die Beziehungen Rußlands zu diesem Chanat,
nachdem der Friede zwischen beiden zu Stande gekommen war, allmählich ganz
freundschaftliche geworden waren. Die äußere Politik Chndojar-Chans wurde
ausschließlich von Taschkend aus geleitet, und da der Chan sich dem vollständig
fügte, so war er in Bezug auf die inneren Angelegenheiten bisher vollständig
sein eigener Herr geblieben. In Folge seiner grenzenlosen Bedrückungen hatte
er sich aber bei seinem Volke so verhaßt gemacht, daß sich dasselbe im Juli
1875 empörte und ihn sogar zwang, auf russisches Gebiet zu fliehen. Der
Kiptschake Abdurachman-Awtobatschi wurde bald der Leiter des Aufstandes.
Er rief Nassr-Eddin, den Sohn des geflohenen Chans, als Herrscher von Kokan
aus und zwang denselben diese unter solchen Umständen sehr zweifelhafte Würde
anzunehmen.
Der Thronwechsel wurde dem General von Kaufman officiell notificirt.
Als dieser aber mit Nassr-Eddin in dasselbe Verhältniß treten wollte, wie bis
dahin mit Chudojar, zeigte sich der den Russen feindliche Einstich Abdnrachmcms
so mächtig, daß die Verhandlungen scheiterten. Abdurachman plante nichts
geringeres als einen gemeinsamen Krieg aller mittelasiatischen Mahomedaner
gegen Rußland, nichts geringeres als den „Hasawat", den heiligen Krieg.
Schon am 7. August überschritten die Aufständischen die russische Grenze
ein Theil in der Richtung ans Aulie-Ala, im Norden des Chanats, ein anderer
drang in das Angren-Thal, und schließlich ein dritter unter der persönlichen
Führung Abdurachmans-Awtobatschi zog gegen Chvdjent.
Die Lage der Russen war eine äußerst gefährliche: war doch sein mit
Koran grenzendes Gebiet erst vor kaum 10 Jahren von jenem abgetrennt,
und gehörten doch seine Bewohner denselben Stämmen an, welche jetzt als
die Befreier von dem russischen Joche auftraten. Wollte man nicht Alles ans
das Spiel setzen, mußte schnell, energisch gehandelt werden.
Erst Abends waren jene Nachrichten in Taschkend eingetroffen, und schon
am andern Morgen früh 6 Uhr brach der Generallieutenant Golowatschew
mit 4 Comp., 4'/z Ssotnien und 4 Geschützen reitender Artillerie nach Teljau
am Angren-Flusse auf. Am 9. August langte er dort an, traf am folgenden
Tage das 10 Werst östlich von Teljau aufgeschlagene Lager der Kokcmzen,
griff es an und zerstreute sie nach allen Richtungen. Das Angren-Thal wurde
vollständig gesäubert und auch die auf Anlie-ata vorgedrungenen Schaaren
zogen es vor, schleunigst in das Chanat zurückzugehen.
Chodjent war mittlerweile von der Bande Abdurachmans umzingelt; seine
rückwärtigen Verbindungen waren abgeschnitten, und seine Garnison, 9 Comp.,
1 Ssotnie und 8 Geschütze, vorläufig bis zum 11. August auf sich selbst an¬
gewiesen.
Am 12. August trafen Verstärkungen ein, und sofort ergriff man die
Offensive, schlug den Feind und verfolgte ihn in der Richtung auf Machram
bis zur Grenze.
Der General von Kanfman erschien mit weiteren ans Taschkend heran¬
gezogenen Truppen, und M der disponibel gewordenen Colonne des General¬
lieutenants Golowatschew am 18. August in Chodjent, und verfügte nunmehr
hier über ein Operativnscorvs von 16 Comp. Infanterie, 20 Geschützen, 8
Raketengestellen und 9 Ssotnien.
Nachdem dasselbe am 20. August aus Chodjent ausgerückt war, traf es
am 22. den Feind in der Stärke von über 50,000 Mann in und bei der
Festung Machram. Die Festung wurde genommen und die den geschlagenen
Feind auf das energischste verfolgenden Kasaken zersprengten ihn in eine Menge
kleiner Haufen.
Obgleich schon jetzt viele Deputationen aus der Umgegend kamen, ihre
Unterwerfung zu erklären, so brach der General-Gouverneur doch am 26. August
auf die Hauptstadt Kokan auf, nachdem Machram eine russische Besatzung er-
halten hatte. — Schon nach 4 Tagemärschen bezogen die Truppen unmittelbar
vor der Hauptstadt das Lager und besetzten die Festungswerke derselben.
Da Abdurachmcm neue Schaaren bei Margelan um sich versammelt hatte,
setzte der General von Kaufman am 3. September seinen Vormarsch dorthin
fort. Am 7. September bezogen die russischen Truppen bei Uley-aryk etwa
25 Werst von dem Lager Abdurachmans, wo 10,000 Mau concentrirt waren,
das Bivak. Die Furcht vor den russischen Waffen war aber schon so groß,
daß deren Nähe allein eine solche Paniqne verbreitete, daß die Kokcmzen nach
allen Richtungen auseinauderstobeu, und nur 400 Reiter bei Abdurachman,
welcher nach Assake floh, aushielten.
Am 8. September lagerten die Russen vor den Thoren Margelans, und der
Oberst Sskobelew wurde mit einem Detachement zur Verfolgung Abdurachmans
abgeschickt. Obgleich der Oberst bis nach Asch streifte, wobei die Kasaken eine
enorme Ausdauer bewiesen — (einmal legten sie 68 Werst in 10 Stunden
zurück), — auch einzelne feindliche Haufen zerstreut wurden, so konnte man
sich doch nicht der Person Abdurachmans bemächtigen und mußte unver-
richteter Sache zurückkehren.
Jetzt trat der General-Gouverneur mit dem Chan Nassr-Eddin in Ver¬
handlungen. Auch eine Menge Städte und selbst die Hauptführer der auf¬
ständischen Banden — speciell noch durch den kühnen Verfolgungsritt der Ka¬
saken in Schrecken gesetzt — erklärten ihre Unterwerfung.
Das Resultat jener Verhandlungen war, daß unter dem 23. September
die Landstrecken auf dem rechten Ufer des Ssyr-darja von der russischen Grenze
bis zum Naryn in die russische Verwaltung übergingen.
In Petersburg wurde dieser Vertrag am 19. October sanctionirt und Ru߬
land war in den Besitz einer der fruchtbarsten Landstriche Mittel-Asiens
gekommen. —
Oberst Sskvbölew wurde zum Chef der Verwaltung des neu einverleibten,
in die beiden Kreise Namcmgan und Tus getheilten Gebiets ernannt und nahm
seinen Sitz in Nmnangan. — Die russischen Truppen wurden von dem linken
auf das rechte User des Ssyr-darja gezogen.
Dies war kaum geschehen, als in dem verlassenen Gebiete die Flammen
des Aufruhrs vou neuem emporloderten. Auch diesmal war Abdurachinan-
Awtobatschi das Haupt der Empörer. In Kurzem hatte er wieder an 70,000
Mann um sich geschaart. Er veranlaßte, daß Putat-del, ein Verwandter Nassr-
Eddins, zum Chan ausgerufen wurde. Der Geueral von Kaufman, welcher,
um das neu erworbene Gebiet zu sichern, der Anarchie auf dem linken Ssyr-
Ufer ein Ende machen mußte, ließ eine etwa 1400 Mann starke Colonne am
28. September gegen Andydjau, den Mittelpunkt des Aufstandes, aufbrechen.
Es gelang freilich den russischen Truppen am 1. Oetober den Widerstand der
Kiptschaken zeitweise zu brechen, in Andydjan einzudringen, und die die Straßen
absperrenden Barrikaden zu nehmen, — sich darin aber festzusetzen und zu
halten, war thuen unmöglich: sie wurden in das Lager zurückgeworfen, und
mußten nach Namangan zurückgehen.
Dieser Mißerfolg der Russen belebte die Hoffnungen der Kiptschaken aufs
neue: uicht bloß brachen in Namangan und Umgegend auf Anstiften des
früheren Begs dieser Stadt Batyr-Tjurja Unruhen aus, sondern auch in
Kokan wurde Nassr-Eddin zur Flucht auf russisches Gebiet gezwungen, während
die Aufständischen im Namen von Putat-del Besitz von der Stadt nahmen.
Auf dem rechten Ufer des Ssyr trat indessen bald eine verhältnißmäßige Ruhe
ein, so daß die Truppen in ihre alten Garnisonen zurückgezogen werden konnten,
und dem Obersten, jetzt zum General beförderten, Skobölew, nnr 13 Comp.
9'/.2 Ssotnien und 12 Feldgeschütze verblieben.
Die Verringerung der russischen Truppen wurde sofort von Batyr-Tjurja
benutzt, um, unter dem Vorgeben, alle Truppen seien abgerückt, wieder Kirgisen
und Kiptschaken in der beträchtlichen Stärke von 12,000 Mann um sich zu
sammeln. Es gelang ihm sogar, als der General Skobölew gegen Tus vor¬
ging, sich der Stadt Namangan zeitweise zu bemächtigen. — Während von
Machram aus gegen die dort auftretenden Banden Streifzüge unternommen
wurden, führte der General Skobölew einen Hauptschlag gegen Balyktschi, wo
20 — 30,000 Mann sich anschickten, den Naryn zu überschreiten.
Trotz aller dieser Erfolge, war es klar, daß nur durch die Niederwerfung
der Kiptschaken, dieser unruhigsten und den Russen am feindlichsten gesinnten
Elemente der Bevölkerung Kokans, eine endgültige Ruhe hergestellt werden
konnte. Zu dem Ende befahl der Generalgouvemeur dem General Skobölew,
in den letzten Tagen des Decembers mit einem Theile seines Detachements
von Namangan aus in die Gegend zwischen dem Naryn und dem Kara-darja,
dem Centrum der Kiptschaken, zu dringen, um ihnen in einer Zeit, wo sie mit
ihren Familien und Heerden in den Winterlagern bleiben müßten und nicht
in die Gebirge ziehen könnten, einen empfindlichen Schlag beizubringen.
Diese Ausgabe wurde auf das vollständigste gelöst. Am 25. December 1875
rückte Skobölew mit etwa 2800 Mann aus und ging, nachdem er das rechte
Ufer des Kara-darja gesäubert hatte, am 2. Januar 1876 auf das andere Ufer
über. Andydjan, wo Abdurachman mit den Aufständischen stand, wurde bom-
bardirt und dann am 8. Januar mit Sturm genommen. Es bedurfte aber
noch eines Sieges der Russen bei Assake, ehe Abdurachman endlich die Nutz¬
losigkeit seines Widerstandes einsah. Am 24. Januar ergab er sich mit 26
Hauptführern der Aufständischen dem General Skobölew auf Gnade und Un-
gnade. Auch Putat-del wurde bald darauf in der kleinen Befestigung Utsch-
kurgau gefangen genommen.
Nassr-Eddin kehrte als Chan nach Kokan zurück. Ein ganz schwacher
Charakter war er aber bald wieder in den Händen der russenfeiudlichen Parthei.
Ja, er gab sogar dieser das schriftliche Versprechen, so bald wie möglich den
Krieg wieder zu beginnen. Darauf hiu wurde am 8. Februar die Stadt Ko¬
kan besetzt und am 19. Februar erging der Befehl: das neu eroberte Terri¬
torium, das bisherige Chanat Kokan, dem russischen Reiche als das Gebiet
„Fergana" einzuverleiben. In administrativer Hinsicht wurde es nach einem
Allerhöchsten Befehle vom 5. März dem General-Gouverneur von Turkestan
definitiv unterstellt.
Hatte das General-Gouvernement Turkestan bis dahin ein Areal von 19,210
>I> Meilen erreicht, so sind jetzt nach der Aneetirung des Fergana-Oblastj's dem¬
selben wieder über 1300 lH Meilen zugefügt. Ein Gebiet, das wohl 3 mal
fo groß wie unser Königreich Preußen ist, — das Resultat jener kriegerischen
Arbeit, welche hier zu skizziren versucht wurde.
Was liegt näher als die Frage nach dem Grunde dieser mächtigen Ge¬
bietserweiterung? Bringen diese 20000 in Meilen Rußland vielleicht einen
Nutzen, der mit den auf die Erwerbung verwandten Kosten an Menschen, Geld
und Material nur einigermaaßen im Verhältniß steht? Gewiß nicht. Denn
wenn auch das Russische Turkestan nicht wenig Keime einer größeren Ent¬
wickelung in sich trägt, hindern doch seine ethnographischen Verhältnisse — das
so große Uebergewicht der Nomaden über die seßhafte Bevölkerung — deren
wahre Entfaltung gewiß noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Bei einer
Betrachtung des Budgets der turkestanischen Verwaltung kommen wir sogar
zu der Ueberzeugung, daß das neue Gebiet nicht nur nichts einbringt, sondern
im Gegentheil immer neue Opfer des Staates verlangt. In den 5 Jahren
von 1868—1872 beliefen sich die Einnahmen z. B. auf 10,115,428 R., die
Ausgaben dagegen auf 28,967,300 R. Es war also ein Deficit vou 18,851,872 R.
vorhanden. Und damals hatte uoch keine Expedition gegen Chiwa Millionen
verschlungen.
Oesterreich und die Oricutfrcige. Wien, Pest, Leipzig, Hartlebcns Verlag, 1876.
»
Das Streben der Großmacht Oesterreich-Ungarn hat sich der gegenwärtigen
Lage der Dinge in der Türkei gegenüber darauf zu richten, daß dem plötz-
'
lichen Zerfall des Osmcmenreiches, sei es durch auswärtige Bedrohung, sei
es durch innere Unruhen, vorgebeugt und dem weiteren Vordringen Rußlands
im Südosten Europas Einhalt gethan werde. Sein Programm muß die Be¬
gründung eines verbesserten Uebergangs-Zustandes in den slavisch¬
türkischen Ländern sein. Das ist der Grundgedanke der obengenannten Flug¬
schrift, deren Verfasser, wie uus scheint, in unterrichteten Kreisen verkehrt, und
von deren Inhalt wir im Folgenden eine Analyse geben.
„Glauben Sie, wir haben einen kranken Menschen auf dem Arme, einen
sehr kranken Menschen", sagte zu Anfang des Jahres 1853 Kaiser Nikolaus
zu dem englischen Botschafter Seymour. „Es wäre ein großes Unglück, wenn
er uns eines Tages entfallen sollte, ehe alle nothwendigen Vorkehrungen ge¬
troffen wären. Was todt ist, können wir nicht wieder erwecken, und wenn
das türkische Reich fällt, so fällt es, um uicht wieder zu erstehen. Es ist ein
Ding, welches man wohl dulden, aber nicht wieder aufbauen darf. Wenn es
gelingt, daß wir, England und ich, uns über diese Sache verstündigen, so ist
an dem Uebrigen wenig gelegen." Und nun folgte eine Herzensergießung des
Czaren über die Eventualitäten, die sich bei einem Zerfalle der Türkei ergeben,
und über die Vertheilung der Rollen und der Erbschaft zwischen den beiden
Hauptmächten Rußland und England. „Die Donaufürstenthümer", sagte
Nikolaus, „sind in der That ein unabhängiger Staat unter meinem Schutze.
Dieß könnte so bleiben. Serbien könnte dieselbe Regierungsform erhalten,
anch Bulgarien, und es scheint kein Grund vorhanden, weshalb diese Provinz
nicht einen unabhängigen Staat bilden sollte. Was Aegypten betrifft, so be¬
greife ich die Wichtigkeit dieses Gebietes für England vollkommen. Ich kann
daher nur sagen, daß, wenn Sie bei einer Theilung des osmanischen Reiches,
die mit dem Falle desselben einträte, von Aegypten Besitz nähmen, ich nichts
dagegen haben würde. Ich sage Dasselbe von Candia, diese Insel paßt Ihnen."
Was Konstantinopel beträfe, fuhr der Kaiser fort, so werde er nie dulden, daß
England oder eine andere europäische Großmacht sich dort festsetze. Auch er
sei geneigt, sich zu verpflichten, dieß nicht zu thun — „wohlverstanden als
Eigenthümer; denn als Pfandhaber, das will ich nicht verneinen. Es könnte
geschehen, daß die Umstände mich in den Fall brächten, Konstantinopel zu be¬
setzen, wenn man Alles nach dem Zufall gehen läßt." Als Seymour äußerte,
daß diese Fragen doch anch Oesterreich nahe angingen und es dabei zu Rathe
gezogen zu werden erwarten würde, erwiderte der Kaiser: „O, Sie müssen
wissen, wenn ich von Rußland spreche, so spreche ich ebenso gut von Oester¬
reich, was dem einen ansteht, steht auch dem andern an. Unsere Interessen
hinsichtlich der Türkei sind vollkommen identisch."
Wir wisse», daß England den Erwartungen des Czaren damals nicht
entsprach. Rußland versuchte sich von der Pforte ein ausschließliches Protectorat
über die orientalischen Christen und damit das Recht zur Intervention in die
inneren Angelegenheiten der Türkei zu verschaffen. Die Gefahr, die hierin lag,
bewog die Pforte zum Kriege gegen Rußland, und England und Frankreich
unterstützten sie dabei. Die Erfolge des Krimkrieges lagen in der Zurückweisung
jener Ansprüche Rußlands. Die Türkei sollte nach dem pariser Friedensver-
träge erhalten, ihre inneren Zustände sollten verbessert werden, nu die Stelle
des einseitigen Schutzrechts Rußlands in den Donaufürstenthümern und zu
Gunsten der orientalischen Christen sollte die Gesammtgarantie der europäischen
Mächte treten. Der pariser Vertrag hat factisch keine rechte Geltung mehr,
der Hatihumajum von 1856, der das Reformwerk im Innern der Türkei be¬
gann, ist in allem Wesentlichen unausgeführt geblieben. Man muß die Arbeit
unter veränderten Verhältnissen und mit erheblicher Modification von vorn
anfangen. Die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen, liegen hauptsächlich
in der Unfähigkeit und Indolenz der Pforte und in der Schwäche und Ver¬
kommenheit der muselmännischen wie der griechisch-slawischen Volkselemente,
für welche das neue Staatsgebäude aufgerichtet werden soll. Die letzten
zwanzig Jahre haben das bewiesen. Durch eigenen Antrieb und eigene Kraft
kann heute weder der Türke noch die Rajah sich zu einer höheren Cultur, zu
einem befriedigenden, haltbaren Gemeinwesen erheben. Einen verbesserten staws
que> in der Türkei herstellen, heißt daher nichts Anderes, als das heutige Os-
manenreich allmählig der Auflösung entgegenführen, und diese Arbeit ist im
Juteresse des Weltfriedens zu unternehmen, ob die türkischen Staatsmänner
wollen oder nicht. Der Fortbestand der Osmanenherrschaft in ihren bisherigen
Grenzen ist eine historische Unmöglichkeit, und das Interesse der europäischen
Großmächte an diesem Fortbestand kann nur ein temporäres und egoistisches sein.
Die Unabhängigkeit und Integrität des osmanischen Reiches soll erhalten
und gleichzeitig eine gründliche locale Reform in den insurrectionellen Pro¬
vinzen von der türkischen Regierung durchgeführt werden. Für beides wird
die Garantie der europäischen Großmächte verlangt. Das ist in der Kürze das
allgemeine Friedensprvgramm. Die Pforte hat seit 1856 so gut wie gar
nicht reformirt. „Die Gewalthaber in Stambul wußten stets mit diplomatischer
Geschicklichkeit sich der Verlegenheit des Moments zu entziehen und durch schöne
Worte und allgemeine Versprechungen den gerechten Zorn ihrer Feinde und
Freunde zu beschwichtigen. Mißwirthschast und Corruption, Brutalität und
Stumpfsinn blieben nach wie vor die kennzeichnenden Merkmale der türkischen
Verwaltung, und was die Hatihumajums und Fermane der Sultane von
Gleichberechtigung in religiöser und jndicieller Beziehung, von Einführung ge-
mischter Gerichte lind eines geregelten Steuersystems, von der Errichtung auto¬
nomer Behörden u. d. feierlich verkündigt hatten, das blieb zumeist todter
Buchstabe, während in Wirklichkeit die großen und kleinen Paschas in den
Provinzen ihr Unwesen forttrieben." Das muß jetzt anders werden. Die
„Unabhängigkeit und Integrität der Türkei" ist eine diplomatische Phrase von
höchst zweifelhaftem Werthe, welche die Türkenherrschaft nicht weiter decken
darf. Was ist zu thun?
Das Suzeränetätsverhältniß, in welchem heute Rumänien und Serbien
noch zur Pforte stehen, ist unhaltbar und zur völligen Lösung reif. Wer die
Entwickelung der Länder an der unteren Donau vorurtheilsfrei betrachtet,
kann sich hierüber keiner Täuschung hingeben. Oesterreich-Ungarn darf der
Erhebung jener Länder zu voller Selbständigkeit nicht entgegentreten. „Hat
die Pforte verhindern können, daß die Moldau und Walachei sich zu einem
rumänischen Fürstenthume vereinigt haben? Hat sie es auch nur versucht, sich
deshalb ernstlich auf den Wortlaut ihrer Verträge und Fermane zu berufen?
Hat sie ihre befestigte Stellung in Serbien zu behaupten vermocht? So muß
auch der letzte Schein der türkischen Souveränetät hinsichtlich der Fürstentümer
endlich dahin schwinden, damit diese sich nicht länger durch die Schmach ihrer
tributpflichtigen Existenz zu abenteuerlichen Kriegszügen und den allgemeinen
Frieden gefährdenden Großmachtsspieleu aufgestachelt fühlen, und damit sie
endlich, aus dem Bereiche der asiatisch beherrschten Völker tretend, sich der
europäischen Staatsordnung fügen." Die Sorge vor dem Entstehen souveräner
Kleinstaaten an der unteren Donau theilt der Verfasser uicht. Das bisherige
internationale Verhälniß Oesterreich-Ungarns zu den Regierungen in Belgrad
und Bukarest war kein angenehmes. Die falsche Stellung, in der jeder sich
befand, der mit diesen Regierungen zu verhandeln hatte, verhinderte jedes klare
Vertragsverhältniß; weder in Belgrad und Bukarest noch in Konstantinopel
fand man die richtige legitime Behörde, bei der mau sein Recht und seinen
Einfluß geltend machen konnte. Ist man in Wien gegenüber den Fürsten-
thümern der diplomatischen Rücksicht entbunden, welche man infolge der seltsamen
Verquickung von Souverän und Suzerün gleichzeitig zu nehmen hat, fo wird
die österreichische Politik dort eine ganz andere Basis gewinnen. Man wird
dann die mächtigen Nachbarn im Norden als offne Feinde oder als offne
Freunde schätzen lernen.
Auch die Furcht vor den nationalen Sympathien und Antipathien der
Fürstenthümer scheint grundlos zu sein. „Was bedeuten die nationalen Be¬
strebungen dieser kaum zur ersten Staatsreife gelangten, schwach organisirten
Nachbarstaaten, wenn sie nicht durch die Politik Rußlands geführt und zu
gemeinsamer Action getrieben werden? Gerade die Erfahrungen, welche im
Laufe des letzten Krieges gemacht wurden, die Noth und Hülfslosigkeit des
auf eigne Faust kiiinpfenden Serbien, die eigenthümliche Haltung Montenegros,
welches nur für sich Kriegs- und Friedeusvortheile zu erbeuten bemüht war,
die kluge Reserve, mit welcher die rumänische Regierung dem Zweikampfe zwischen
Türken und Serben zusah, das plötzliche Erlöschen des Aufstandes in Bosnien
und der Herzegowina — dieß alles sind Zeugnisse für die innere Disharmonie,
welche zwischen den angeblich verbrüderten Nationalitäten auf der illyrischen
Halbinsel herrscht, eine Disharmonie, welche theils in der Verschiedenheit der
Stämme, theils aber auch in der Verschiedenheit ihrer staatlichen Interessen
begründet ist." In Wahrheit zu fürchten ist nicht die nationale Anziehungs¬
und Agitationskraft der Kleinstaaten im Südosten Ungarns, sondern deren
unfreiwillige Abhängigkeit von Rußland und dessen panslawistischen Plänen.
Dieser Gefahr zu begegnen, zu verhüten, daß die Fürstentümer durch die
Erlangung ihrer Souveränetät aus nur tributpflichtigen Unterthanen des
schwachen Padischah die willenlosen Werkzeuge des mächtigen Kaisers von
Rußland werden, dahin muß die ganze Kraft der österreichischen Politik ge¬
richtet sein und zwar im Einvernehmen mit der Gesammtheit der europäischen
Mächte und im Einverständnisse mit den zunächst bedrohten zur Selbstbestim¬
mung berufenen Donaufürstenthümern. Die völkerrechtliche Stellung derselben,
die durch den pariser Vertrag geschaffen ist, entrückt sie bereits ausdrücklich
der russischen Beeinflussung und stellt sie unter den Schutz Europas. Im
Sinne dieser Schutzpflicht hat Oesterreich-Ungarn als die nächste Großmacht
die moralische Obliegenheit, über die strenge Wahrung der neutralen Stellung
der Fürstentümer zu wachen und dieselben in deren eigenem wie im Interesse
Gesammteuropas gegen jeden unberechtigten Eingriff zu schützen. Vom staats-
wirthschaftlichen wie vom allgemeinen politischen Standpunkt aus giebt es
auch keine divergirenden Interessen zwischen Oesterreich und den Donaufürsten¬
thümern. Vielmehr hat der große Handelsstrom, der Süddeutschland, Oester¬
reich-Ungarn und die Donauländer verbindet, einen natürlichen Jnteressenbnnd
zwischen diesen Staaten geschaffen.
Im Sinne der eben gezeichneten Politik liegt es, daß auch hinsichtlich
jener türkischen Provinzen, deren Aufstand Anlaß zu der jetzigen Verwickelung
gegeben hat, Maßregeln getroffen werden, daß sie sich zu eigenen politischen In¬
dividualitäten heranbilden können. Diese Arbeit ist in Folge der Verschieden¬
heit der Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse in diesen Provinzen (Bosnien,
Herzegowina und Bulgarien) eine sehr schwierige, und sie kann nicht, wie bis¬
her, der Einsicht und dem guten Willen der Pforte überlassen bleiben. „Welcher
Staatsmann könnte heute ernstlich daran denken, irgend eine Reform, irgend
ein Stück des europäischen Rettungswerkes, an dessen Durchführung der Welt-
friede hängt, einzig und allein den zitternden Händen eines Sultans oder
Großwessirs zu überlassen, der für die Erfüllung eines Regierungsaetes so
wenig zu bürgen vermag wie für die kurze Spanne Zeit, die ihm vielleicht zu
leben vergönnt ist? Was nützen alle feierlichen Versprechungen, was nützen
selbst die besten Verfassungsurkunden, wo die Elemente einer gesunden, staat¬
lichen Entwickelung fehlen, wo der blinde Fatalismus oder der blinde Zufall
in alleu Lebenssphären das Scepter führt, wo der Padischah als Nachfolger
des Chalifen verpflichtet ist, den Glauben als die oberste Staatsmaxime zu
vertreten? Was ist also zu thun, um den europäischen Provinzen der Türkei,
Ländern mit fast vorwiegend christlicher Bevölkerung die wirkliche Durchführung
der ihnen zugesicherten Reformen zu sichern? >
Hier sind wir am Brennpunkte der heutigen diplomatischen Lage angelangt,
und wenn wir mit dem Verfasser bisher im Wesentlichen einverstanden waren
so können wir ihm im Folgenden nur gelegentlich beipflichten. Die Frage
nach den Bürgschaften für die türkischen Reformen ist die Hauptfrage der
jetzt in Konstantinopel versammelten Conferenz. Die soeben verkündete Ver¬
fassung ist kein Aequivalent dafür. Diese Bürgschaften, von Rußland mit
vollem Rechte verlangt, sind temporäre, die nur dazu dienen sollen,
von Seiten der europäischen Mächte den nöthigen moralischen Druck auf die
Entschließungen der Pforte zu üben, und dauernde, für die Zukunft wirk¬
same, welche in dem Inhalte und dem Durchführungsmodns der Reformen
selbst liegen sollen.
Als temporäre Bürgschaften hatte das Petersburger Kabinet die Occu-
pation Bulgariens durch Rußland und Bosniens durch Oesterreich vorgeschlagen,
wobei eine Flottendemonstration vor Konstantinopel von Seiten Englands
nicht ausgeschlossen sein sollte. Wir finden das billig, der Verfasser nicht;
denn man weiß, sagt er, was man von einer „vorübergehenden" Occupation
eines Landes durch russische Truppen zu gewärtigen hat. Er glaubt also
den Versicherungen des Kaisers Alexander nicht. Wir meinen, man sollte ihnen
mit dem Fürsten Bismarck glauben, und man könnte österreichischerseits ab¬
warten, ob man sich getäuscht hätte.
Als dauernde Bürgschaften zur Sicherung der lokalen und administrativen
Autonomie der Provinzen Bosnien, Herzegowina und Bulgarien wurden von
Rußland allgemeine Entwaffnung der Bevölkerung, Concentrirung der osmani-
schen Truppen in den festen Plätzen, eine lokale Miliz und Polizei, Entfernung
der Tscherkessen, Einführung der lokalen Sprache in die Gerichtshöfe, Aufhe¬
bung der Zehnten, und Einscunmlung der Steuern durch eingeborne Beamte,
Ausschließung nicht eingeborner Würdenträger, Ernennung von Gouverneuren
entsprechend dem Glauben der Majorität der Bevölkerung, Untersuchung des
Zustandes der bulgarischen Districte dnrch eine Specialcommission, Untersuchung
der letzten Greuelthaten in Bulgarien und Bestrafung der wirklichen Uebel¬
thäter, endlich directe Controle der Verwaltung von Seiten der Mächte durch
die Consularcommissionen gefordert. — Auch diese Vorschläge gefallen dem Verfasser
nicht. Denn „die ersten vier Punkte enthalten nnr eine versteckte Wiederholung
der auf Occupation gerichteten Vorschläge" (was wir beim besten Willen nicht
begreifen) und im Zusammenhange mit den andern sieben Punkten, und falls
diese Vorschläge von der Pforte angenommen und ausgeführt würden, bedeutet
die dadurch zu eonstituirende lokale und administrative Autonomie nichts ge¬
ringeres als die officielle Erhebung der bisherigen türkischen Provinzen zu
suzeränen Vasallenstaaten". Er will, wenn wir ihn recht verstehen, keine solchen
Vasallenstaaten, sondern völlige Loslösung der genannten drei Provinzen von der
Herrschaft derPforte, womit wir einverstanden wären, wenn er uns die Durchführ¬
barkeit dieser Maßregel ohne einen großen Krieg nachwiese. Die Localisirung der
orientalischen Krisis sagt er, ist unmöglich, so lange der Begriff der Integrität der
Türkei von den Katarakten des Nil bis an die Donau reicht, und so lange Europa
sich für verpflichtet hält, für die Erhaltung dieses Begriffs unter allen Umstünden
der Türkei beizustehen. „Nur durch die factische Beschränkung dieser Integrität
auf jene Gebiete, für deren Wahrung und Erhaltung die heutige Macht und
die innere Reorganisationskraft des türkischen Staatswesens ausreicht, und
durch allmähliche Loslösung der zur Selbständigkeit reifen Provinzen des
heutigen Osmcmenreiches (eine solche allmähliche Loslösung liegt unzweifel¬
haft in den russischen Garantieforderungen) wird man wirklich die Localisirung
der Krisis erreichen.
„Die Rolle, welche Oesterreich bei der Begründung jenes inneren Gleichge¬
wichtssystems zu übernehmen hat, scheint" — dem Verfasser — „klar vorgezeichnet.
Oesterreich sollte fortan im Namen und im Interesse der continentalen
Mächte die Führung in den Angelegenheiten der Balkanhalbinsel übernehmen.
Ans der submissen, oder gelinde gesagt, zweiten Rolle des blos geduldeten
Nachbars und Großstaates muß Oesterreich ^endlich heraustreten und sich wieder
die volle Gleichberechtigung einer leitenden Großmacht neben Rußland er¬
ringen. Wo im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte die Alleinherrschaft des
Moskowiterthnms sich festzusetzen suchte, da muß nun unsere Staatskunst
bemüht sein, jeden Zoll breit an Einfluß und Macht dem Russenthum abzuringen."
Das klingt alles recht gut, obwohl es ein wenig dunkel und in Betreff
des Wie sehr allgemein gehalten ist. Wird Rußland sich die Ersetzung seines
Protektorats durch ein österreichisches gefallen lassen? Wir denken durchaus
nicht so klein von Oesterreichs Macht und Bedeutung als manche Andere, wir
wünschen ihm alles Gute und würden sicher nichts dagegen haben, wenn es
die vom Verfasser vorgezeichneten Wege ginge und damit Erfolg hätte. Aber
wir zweifeln, daß es erhebliche Erfolge erzielen würde. Den Russen steht für
„moralische Eroberungen" in den Balkanländern in der kirchlichen Verwandt¬
schaft ein sehr wichtiges Mittel zu Gebote, welches Oesterreich nicht hat. Auf
eine Unterstützung des continent aler Europa, wobei offenbar in erster Linie
an Deutschland gedacht wird, ist, wie die Verhältnisse jetzt liegen, nicht wohl
zu hoffen, da uns die jetzt türkischen Slaven sehr fern wohnen und Rußland
unser Nachbar ist, in den letzten Jahren ein recht wohlwollender Nachbar war
und für die nächste Zeit allem Anschein nach ein solcher Nachbar bleiben wird.
Wir meinen also, daß die österreichischen Staatslenker sich der vom Verfasser
empfohlenen Politik nicht anschließen, nicht aggressiv werden, sondern es bei
der bisherigen vorsichtigen Politik belassen werden — natürlich so lange, als
Rußland uicht Annexionen vornimmt, und an solche ist gegenwärtig doch kaum
zu deuten. Was Oesterreich dann thun würde, braucht uns vorläufig nicht zu
beschäftigen. Was für Wege Deutschland, im Falle Oesterreich dann gegen
Rußland zu Felde zöge, einschlagen müßte, wird man auf der berliner Wil¬
helmstraße sich vermuthlich schon überlegt und dabei das Rechte gefunden
haben. Unsrer bescheidenen Meinung nach könnten wir dabei zusehen — viel¬
leicht bis zu Ende.
Das deutsche Volk ist berechtigt, ein Weihnachtslied anzustimmen ob dem
Geschenk, welches der vorgestern geschlossene Reichstag ihm hinterlassen. In
das Weihnachtslied, welches aus der Brust ernster und verständiger Menschen
empvrdringen will, tönen freilich häßliche Töne einer Katzenmusik hinein. Wer
diese Katzenmusik eigentlich veranstaltet und warum sich so viele an ihr bethei¬
ligen, ist uicht leicht zu sagen, wenn wir auch die Musikanten erkennen. —
Um nun ohne Bild zu sprechen, die vier Justizgesetze, welche in der eben
beendeten Session zum Abschluß gelangt, enthalten einen der größten Fort¬
schritte, welchen die deutsche Nation in ihrem Staats- und Culturlebeu jemals
errungen. Das große Werk der nationalen Rechtseinheit ist bis über die Mitte
des Baues hinaus aufgeführt. Es darf nun nicht mehr gezweifelt werden,
daß auch die Herstellung des großen Gesetzbuches für das gesammte bürgerliche
Recht etwa binnen eines Lustrums gelungen sein wird. Schon die nächste
Reichslegislatur wird eine Anwaltsordnung, Notariatsordnung und Gebühren¬
ordnung sür das gesammte Reich unzweifelhaft zu Stande bringen. Auf dem
gelegten Grunde der Einheit des Gerichtsverfahrens wird- sich das schon gel¬
tende einheitliche Strafrecht und später das noch auszuarbeitende einheitliche
bürgerliche Recht wirksam und segensreich aufstellen lassen.
Es sollte kaum eines Wortes bedürfen über den unendlichen Segen, welcher
dem bürgerlichen Verkehr nicht nur, sondern dem gesammten Staatsleben, der
Sicherheit der Gesellschaft, der Characterreife der Nation und ihrem sittlichen
Vorstellungskreis aus einem einheitlichen, der lebendigen Bildung unseres Jahr¬
hunderts entsprungenen und entsprechenden Recht erwachsen muß. Und doch
sind es wohl nur wenige selbst unter den Gebildeten, die sich den Umfang und
die tiefreichende Bedeutung dieses Segens klar machen. Spätere Geschlechter
werden vielleicht wünschen, die Zeit erlebt zu haben, wo die deutsche Rechts¬
einheit geschaffen wurde. Sie würden diese Sehnsucht mäßige», wenn die Zeug¬
nisse auf die Nachwelt übergehen sollten, wie wenig die Bedeutung des Werkes
bei seiner Entstehung verstanden wurde.
Und doch Hütten wir Grund, über noch anderes uns zu freuen, als über
die Schaffung der Rechtseinheit. Nächst dem „Daß" kommt das „Wie" in Be¬
tracht. Wenn wir fragen, wie ist das geschaffene Recht beschaffen, fo dürfen
wir getrost behaupten, daß von den vier jetzt vollendeten Gesetzen zwei in
ihrer Art beinahe vollendete Kunstwerke sind. Es läßt sich dies sagen von der
Coneursordnung, ist aber von größter Bedeutung bei der Civilprozeßordnung.
Bei dieser ist mit einer Folgerichtigkeit, wie es noch von keiner Gesetzgebung
gewagt worden, das Prinzip der Mündlichkeit oder der unmittelbaren Auf¬
nahme des gesammten Thatbestandes durch das entscheidende Gericht durchge¬
führt. Es muß einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben, nachzuweisen,
welcher Fortschritt in diesem Prinzip nicht nur für die bürgerliche Rechtspflege,
sondern für die gesammte geistige Cultur liegt oder wenigstens liegen kann.
Denn allerdings setzt die fruchtbare und sachentsprechende Ausführung desselben
einen Grad von Durchbildung und Geistesgegenwart bei den Richtern und
Anwälten voraus, die wohl erst durch längere Uebung vollständig zu erreichen
sind. Daß aber unsere Gesetzgebung unserm Richter- und Anwaltsstand die
Befähigung zutraut, eine solche Höhe der Berufsübung zu erreichen, ist ein
glänzendes Zeichen für das, was in einem ihrer wichtigsten Stände unsere
Nation sich selbst zutrauen darf. Wir zweifeln nicht, daß der Richterstand
dieses Vertrauen rechtfertigen und daß damit sein Ansehn und seine Stellung
in der Nation in bedeutendem Maaße noch wachsen werden. —
Was die Strafprozeßordnung anlangt, so bot ihre Herstellung für die
heutige Gesetzgebung vielleicht die schwierigste Aufgabe. Denn über die Grund¬
prinzipien der Strafrechtspflege sind in der deutschen Juristenwelt wie unter
den gebildeten Laien, welche sich dafür interessiren, die Ansichten am wenigsten
ausgeglichen und geklärt. Es kann wohl kein größeres Zeichen der in diesem
Punkt noch herrschenden Verworrenheit geben als die Thatsache, daß einige
unserer Juristen, darunter ein Name ersten Ranges, die Reform des deutschen
Strafprozesses auf die barbarischen Grundlagen des englischen Strafverfahrens
zu vasiren vorschlagen. Dieses Verfahren ist nämlich ein folgerichtig durch¬
gebildeter Parteiprozeß, der auf dem Gedanken ruhte, daß ein Verletzter und
ein Beschuldigter um Verhängung oder Abwälzung der Strafe mit einander
streiten. Der Gedanke ist diesem Verfahren noch völlig fremd, daß der Staat
das Verbrechen nach seinem Bestand und seiner Beschaffenheit zu durchdringen
und, mit Rücksicht auf den Kampf gegen die Wurzel des Verbrechens in der
Gesellschaft, zu ahnden hat. Das deutsche Rechtsgefühl würde sich in die
Türkei versetzt glauben, wenn in unserem Strafprozeß Zeugen auftreten sollten,
die blos zu Gunsten des Klägers, und andere Zeugen, die blos zu Gunsten
des Beschuldigten aussagen dürften. Wir wollen uns hier jetzt nicht weiter
vertiefen in die Scheinhumanität und Barbarei des englischen Strafprozesses,
welche ebenso oft die Ohnmacht gegen das Verbrechen, wie die Ungerechtigkeit
gegen den Angeklagten zur Folge hat. Aber es darf nun freilich nicht verhehlt
werden, daß der moderne, der wahren Cultur allein entsprechende Gedanke
des Strafprozesses: das Verbrechen vom Standpunkt der öffentlichen Wohlfahrt
zu erkennen und in seinen Wurzeln zu bekämpfen, sich ein entsprechendes Ver¬
fahren noch nicht durchgebildet hat. Man hat bisher in den Ländern des
öffentlichen Staatslebens, nachdem der schriftliche Jnquisitionsprozeß in Folge
zunehmender Entartung verlassen worden, den modernen Gedanken der Straf¬
rechtspflege auf den mittelalterlichen englischen Strafprozeß mehr oder minder
unharmonisch aufgepfropft. Ueber diese Verquickung unverträglicher Momente
ist auch die neue deutsche Strafprozeßordnung noch nicht hinweggekommen.
Und man muß so gerecht sein anzuerkennen, daß die wahre Gestalt des modernen
Strafprozesses nicht mit einem Schlag sich aufstellen ließ, selbst wenn sie in
einem oder dem andern der an der Gesetzgebung betheiligten Köpfe schon
theoretisch ausgezogen gewesen wäre, nachdem die Praxis bisher noch in so
unvollkommenen Bildungen ohne Ausnahme sich bewegt hat. Es mag einer
späteren Gelegenheit vorbehalten bleiben, den Widerspruch, der unvermeidlich
war, der aber doch die Strafe macht, im Einzelnen darzulegen. Daß die
Einsicht in diese Mängel bei den an der Gesetzgebungsarbeit thätigen Kräften
vorhanden gewesen, zeigt der Commissionsbericht über die Strafprozeßordnung,
verfaßt von dem sächsischen Generalstaatsanwalt Dr. v. Schwarze, der in allen
Fachkreisen als ein Meisterwerk anerkannt wird. Abgesehen von den Mängeln
der Grundgestalt, die unüberwindlich waren, zeigt die Strafprozeßordnung in
den Einzelheiten eine Umsicht, die von der reichsten und sorgfältigsten Erfah¬
rung der Redactoren Zeugniß ablegt. —
Dies also ist es, was uns bescheert worden. Und worüber erschallen die
Klagen? Der Reichskanzler hatte am 12. December an den Präsidenten des
Reichstags ein Schreiben gerichtet mit Bezeichnung der Punkte, welche nach
zweiter Lesung der Justizgesetze dem Bundesrath unannehmbar geblieben waren.
Ueber diese Punkte fand nun vertrauliche Verhandlung mit der Reichsregie¬
rung statt, geführt durch drei angesehene Mitglieder der national-liberalen
Partei. Dieselben brachten eine Vereinigung mit der Reichsregierung zu
Stande und brachten die punktirten Vereinbarungen als Anträge bei der
dritten Lesung ein. Und diese Anträge haben die Annahme der Mehrheit
des Reichstags gefunden. Und was ist in diesen Punkten preisgegeben
worden?
Man hatt der Presse das Privilegium der Sitz-Redacteure verweigert. So¬
eben wurde in Berlin ein scandalöser Prozeß verhandelt gegen einen Sitz-
Redakteur, den man gering bestrafte, weil er offenbar nicht der Urheber der
verbrecherischen Schmähartikel war, für die er nnter Anklage stand. — Man hat
ferner den Preßvergehen, nicht den Preßverbrechen, die Zuständigkeit der Ge¬
schwornen verweigert. Die Geschwornen würden aber auf diesem Gebiet, das
wird ihr größter Freund nicht in Abrede zu stellen vermögen, eine große Un-
gleichmäßigkeit und große Unsicherheit der Rechtsprechung bewirkt haben. Ob
das eine Wohlthat gerade für die Presse gewesen wäre, kann man doch minde¬
stens bezweifeln.
Man hat ferner die Versetzbarkeit der Staatsbeamten vor den ordentlichen
Gerichten an eine Vorentscheidung durch den obersten Verwaltungsgerichtshof,
wo ein solcher besteht, sonst durch das Reichsgericht, in Betreff der Frage ge¬
bunden, ob eine Verletzung der Amtspflicht vorliegt. Ohne eine solche Vor¬
entscheidung könnte jeder beliebige Parteigänger den Reichskanzler und alle
Beamten tagtäglich mit Civil- und Criminalklagen behelligen. Hiergegen wird
durch die getroffene Bestimmung allerdings Schutz gewährt, andrerseits aber
muß die Verfolgung wegen Verletzung der Amtspflicht, wenn eine beschädigte
Privatperson darum Klage erhebt, durch das ordentliche Gericht erfolgen, sie
kann nicht mehr auf den Disciplinarweg gewiesen werden. —
Man hat weiter die Ziehung der Grenze des öffentlichen Rechts, wie es
bereits die Beschlüsse der zweiten Lesung gethan, den Competenzhöfen für die
Zuständigkeit der Verwaltung belassen. Man hat nur in der dritten Lesung
bestimmt, daß die reichsgesetzlich gegebenen Vorschriften über die Bildung dieser
Competenzhöfe durch landesherrliche Verordnung eingeführt werden können, also
uicht von der Vereinbarung mit der Landesvertretung abhängig sein müssen.
Es war dies der einzige Weg, jenen Vorschriften überhaupt Geltung zu
verschaffen. —
Man hat weiter das Bruchstück einer Anwaltsordnung fallen lassen, weil
der Bundesrath die Vorlage einer vollständigen Anwaltsordnung schon in der
nächsten Legislatur zugesagt. —
Man hat endlich den ersten Oktober 1879 als Einführnngstermin der
Jnstizgesetze festgehalten, man hat nur die Bedingung zugelassen, daß gleichzeitig
eine Gebührenordnung in Kraft treten muß. Ist dies etwa eine Bedingung
die unerfüllbar oder auch nur schwierig wäre? Unentbehrlich ist sie, aber
nicht im Mindesten schwierig. —
Dies sind also die Punkte, durch deren Annahme das Vaterland und die
Freiheit verrathen worden! Und wer ist im Stande, dergleichen zu behaupten?
Es können nur solche sein, die auf einen Conflikt zwischen dem Reichskanzler
und der national-liberalen Partei schon längst speculiren und den ersehnten
Moment gekommen glaubten. Der Moment ist wieder vorübergegangen, ohne
die Hoffnungen zu erfüllen, die in der That nur starke Gier und Verblendung
ans ihn setzen konnten.
June illae 1g,er^ing.e!
Am wenigsten epochemachend von den vier Justizgesetzen ist das Gerichts-
verfassuugsgesetz, und dennoch kann die einschneidende Bedeutung auch dieses
Gesetzes nicht verkannt werden, welche in der geschaffenen Einheitlichkeit der
Gerichtsverfassung liegt. Dagegegen ist hier das wenigste Neue geboten in
Bezug auf werthvollen Inhalt. Die Hauptwerthe sind die Institution der
Amtsrichter als ständiger Einzelrichter, so zu sagen am Fuße der Gerichts¬
verfassung, und sodann das Reichsgericht als Spitze des einheitlichen Orga¬
nismus. Dagegen sind der Gerichtsstnfen noch viel zu viele, des Jnstanzen-
znges noch viel zu viel. Amtsgerichte, Landesgerichte, Schwurgerichte, Ober¬
landesgerichte, Reichsgericht, das sind die fünf Stufen, die kleinere Hälfte wäre
gut. Aber das wird kommen, wenn die deutsche Nation im Stande ist, im
Vorwärtsgange, im gesunden, stetigen Vorwürtsgange zu bleiben. Heute war
es noch nicht zu verlangen, wo die meisten Juristen und Laien vor dem Bild
der wahren Gerichtsverfassung noch geschaudert Hütten.
Mau macht auf Seiten der Opposition viel Aufhebens darüber, daß in
Baiern, Würtemberg und Baden die Zuständigkeit der Geschwornen die Pre߬
vergehen einbegreift, was im übrigen Reich nicht der Fall ist. Als ob an
dieser unbedeutenden Unregelmäßigkeit die Rechtseinheit zu Grunde ginge.
Man erinnert an das Wort des Reichskanzlers vom Mai 1870, als er die
Ausschließung der Todesstrafe nicht partikularistisch gelten lassen wollte, um
nicht Deutsche erster und zweiter Klasse zu haben. Als ob eine geringe
Unregelmäßigkeit der Rechtspflegeform sich in Vergleich stellen ließe mit
der Verschiedenheit einer hochwichtigen Bestimmung des materiellen Rechts,,
einer Bestimmung, welche auf die sittliche Würdigung des Verbrechens den
stärksten Einfluß übt!
Eine große Störung der Symmetrie des Gerichtsorganismus will man
auch in der Zuziehung von Schöffen bei der Abnrtheilnng leichter Straffälle,
der Ausschließung aller Laien bei mittleren Straffällen, in der Zuziehung der
Geschworenen bei deu schweren Straffällen finden. Ich glaube, diese Ungleich¬
heit wird in der Praxis viel weniger empfunden werden, als bei der von
Außen auf den Gerichtsorganismus gehefteten Contemplation. Ich glaube
uicht von der Empfindung der Uugleichmüßigkeit wird der Anstoß der Reform
kommen, sondern eher von den Mängeln, welche die Schwurgerichte in der
neuen Abgrenzung in ihrer Funktion durch die Strafprozeßordnung erst recht
zeigen werden. Ersetzt man die Geschwornen bei den schweren Straffällen
durch die Schöffen, so wird man die Letzteren anch wohl bei den mittleren
Straffällen einführen. Aber ob diese doppelte Reform rasch kommen wird,
steht sehr dahin. Auch wenn Alles gut geht in deutschen Dingen und gut zu
gehen fortfährt, das Tempo des Fortschritts wird doch bedeutend langsamer
werden. Um der Symmetrie allein willen, wird man gewiß nicht so bald eine
neue Gerichtsverfassung in Angriff nehmen. Bei allen Reformen, die jetz
erarbeitet werden, muß man allerdings eingedenk sein, daß Anstoß, Kraft,
Gelegenheit zur abermaligen Verbesserung in unberechenbarer Zukunft liegen
und ganz und gar nicht damit gegeben sein werden, daß wir morgen wieder
Am Ende des sechzehnten und im Beginne des siebzehnten Jahrhunderts
erregte das öftere Vorkommen von jahrelangem Fasten weiblicher Personen
allgemeines Aufsehen und zog namentlich auch das Interesse ärztlicher Auto¬
ritäten auf sich. Die nachstehenden Notizen über diesen Gegenstand entnehme
ich den Werken des berühmtesten Chirurgen jener Zeit, des Wilhelm Fabricius
aus Hilden bei Cöln; derselbe war ein frommer und gläubiger Mann, welcher
den in Rede stehenden Erscheinungen die wärmste Aufmerksamkeit zuwandte.
In einem seiner Briefe vom Jahre 1623 heißt es: „Unter den Zeichen und
Wundern, durch welche Gott uns arme sündige Menschen in dieser lasterhaften
Welt zur Buße treiben will, ist meines Erachtens nichts wunderbarer, auch
nichts, welches der menschliche Verstand weniger fassen und begreifen kann,
als wenn wir solche Leute sehen, die in viel Tag, Monat und Jahr ohne
Speis und Trank leben." Er sammelte, was er über dergleichen Fälle konnte
in Erfahrung bringen, und da, wo es unmöglich war, persönlich zu beobachten,
erbat er sich brieflich Auskunft von angesehenen Männern, welche in den be¬
treffenden Gegenden wohnhaft waren. Einige dieser fastenden Mädchen scheinen
außer der Nahrungseuthaltung wenig oder nichts Wunderbares geboten zu
haben; andere jedoch besaßen außerdem die Fähigkeit in die Zukunft zu blicken
und mancherlei Ereignisse vorherzusagen.
Wenn ich bei der rein objectiven Wiedergabe der Erzählung fast durchweg
die deutsche Uebersetzung des Friedrich Greift, vom Jahre 1652, benutze, so
geschieht es nicht ohne vorherige Vergleichung derselben mit dem lateinischen
Texte des Fabricius; ich wühlte aber die Sprache jener Zeit, weil sie zur
Darstellung dieser Dinge besonders geeignet erschien.
Zunächst theilt Fabricius in einem Briefe vom 25. Februar 1602 seinem
Freunde Paul Lentulus in Bern, Folgendes mit: L,rav 1594 ist ein Mägdlein
von ungefähr 14 Jahren aus dem Jülicher Land nach Cöln geführet worden,
da man sie in dem Wirthshaus zum weißen Rößlein auf der breiten Straßen,
als ein sonderbares Wunder den Leuten gewiesen und sehen lassen. Dasselbige
aber, wie seine Eltern gesagt und mit gewissen, wahrhaftigen Zeugnissen dar¬
gethan und bewiesen, habe 3 Jahre lang ohne alle Speis und Trank gelebt.
Ich habe sie mit allem Fleiß besichtigt und alles wohl in acht genommen.
Sie hatte ein traurig-melancholisch Gesicht, am ganzen Körper Fleisch genug,
doch den Leib ausgenommen, (welcher gegen das Rückgrat hineinwärts gedrücket
war) die Leber und innerlichen Glieder, wenn man ihr den Leib mit der Hand
betastet, waren erhärtet, wie bei einem Lez^rrKo. Sie brauchte niemals zu
Stuhl zu gehen oder etwas von sich zu geben. Ob der Speise hatte sie einen
solchen Widerwillen, daß, da einer von denen, welche sie zu besichtigen hin¬
kamen, ihr heimlich ein wenig Zucker in den Mund geschoben, sie alsbald
darüber in eine Ohnmacht gefallen. Aber welches das allerwunderbarlichste
sie konnte dabei wandeln, mit ihresgleichen Mägdlein spielen, tanzen und andere
kindische Geschäfte verrichten. Der Leib hatte seine natürliche Wärme; das
Athemholen, Reden und Schreien geschah ihr nicht schwer. Dieses Alles hab
ich mit meinen Augen gesehen und mit meinen Ohren gehöret. Sie ist zu
Cöln etliche Monat geblieben und von vielen mit großer Bewunderung gesehen
worden. Von daraus ist sie an einen andern Ort geführet worden; was es
nun für einen Ausgang mit ihr genommen, kann ich nicht wissen."
Ungleich berühmter als dieses sind drei andere Mädchen geworden nämlich
1) die Apollonia Schreyerin in der Schweiz, 2) eine Französin, deren
Leben von Citerius beschrieben ist, und 3) das Mädchen von Moers.
Der zweite Fall bleibt hier unberücksichtigt, und von der Apollonia Schreyerin
sei nur erwähnt, daß sie in oder bei Bern wohnte und dem Fabricius
persönlich bekannt war; nachdem sie zehn Jahre lang Nichts genossen, nahm
sie wieder Speise und Trank zu sich, wie andere Menschen auch. Ausschließlich
soll uns der dritte Fall beschäftigen; und aus einer Reihe von Briefen, die
theils von Fabricius geschrieben, theils an ihn gerichtet sind, habe ich alles
zusammengetragen, was auf den Fall Bezug hat.
Fabricius reiste im Jahre 1612 nach Cöln und Hilden; und da er bereits
von der wunderbaren Jungfrau in Moers gehört hatte und nicht, ohne sie ge¬
sehen zu haben, nach der Schweiz zurückkehren wollte, so begab er sich mit
einem Empfehlungsschreiben des Grafen von Falkenstein nach Moers, woselbst
er von dem Schloßvogt Schweichel freundlichst aufgenommen wurde, und die
Jungfrau durch Vermittlung des Pfarrers Feldhus kennen lernte, welcher die¬
selbe in sein Haus kommen ließ.
Unter dem 1. Oktober 1623 schreibt nnn Fabricius über diesen Besuch
an den Professor Pfister in Basel: „Es war aber dasselbe Mägdlein mit
Namen Eva von gen End, sonsten Flegen genannt, von ehrlichen Eltern,
Tilman und Greta Flegen, in Repel geboren, banalen ihres Alters im 37.
Jahr und hatte schon in das 16. Jahr ohne Speis und Trank gelebt. Sie
selbst und auch Herr Feldhusius, Diener am Worte Gottes daselbst, sagen,
daß sie von Kindheit ans siech und dem Hauptweh stetigs unterworfen ge¬
wesen. Aber im Jahre 1597, welches war das 21. ihres Alters, als sie von
einer beschwerlichen, langwierigen Krankheit, mehr durch die Natur, als durch
die Kunst der Aerzte wieder gesund worden, hat sie gemälig angefangen, einen
Ekel ab der Speis zu haben, also, daß.sie in Jahresfrist alles ausgeschlagen
und Nichts mehr zu sich nehmen wollen.
Vom Anfang und bis in das fünfte Fahr ihres Fastens hat sie gesagt,
daß sie allezeit um dritten Tag um den Aufgang der Sonnen mit einem hellen
Licht umbleichet werde, welches ihr eine wunderbare Freud mitbringe, und
werde ihr zugleich der Mund mit einem honigsüßen Wesen befeuchtet, von
welchem sie frische Kräfte bekomme und erhalte.
Ja auch banalen noch als ich sie besuchte, sagte sie, daß gemeiniglich
ihr Mund mit einer süßen Feuchtigkeit benetzet werde. Anno 1602, am 11.
Oktober, als sie morgens um 7 Uhr, wie sie dann fromm und eifrig ist, in
den Garten hinab, ihr Gebet zu verrichten gegangen, habe sie unterschiedene
Erscheinungen gehabt, welches ich sowohl vou Herrn Feldhusio, als aus einem
Schreiben des Herrn Johann Weinsiper, seligen Gedächtniß, Pfarrer zu Moers,
vernommen.
Sonsten ist das Mägdelein mit einer sonderbaren Frömmigkeit begabt,
stellet sich gemeiniglich bei dem Gottesdienst ein; ist mittelmäßiger Große, bleich
von Farb, schamhaftig mit niedergeschlagenen Augenliedern; doch nicht so
fleischig wie die Apollonia, sondern mager; der Leib ist gegen das Rückgrat
gezogen, als ich sie gesehen, jedoch ohne Erhärtung der innern Glieder. Ohren
und Nasen waren ihr ziemlich feucht, und gemeiniglich hat sie geweinet; doch
hat sie nie geharnet, ist auch nie zu Stuhl gegangen, noch viel weniger hat
sie den weiblichen Fluß gehabt, wie auch keinen Schweiß. Die Wärme der
äußern Theile war mäßig; der Puls langsam, dunkel, schier gar keiner; bis¬
weilen ordentlich. Sie gehet zwar unter die Leut, aber an einem Stecken.
Ich habe ferner von ihr erforscht, ob zur Sommerszeit sie Mucken und Flöhe
belästigen; darauf hat sie geantwortet: gar sehr! Auch fühlte sie, wenn die
Lust warm oder kalt war. Bei der Apollonia hab ichs anders wahrgenommen,
als ich sie im Jahre 1607 mit Herrn Lentnlo besuchte. Denn obschon die
Mücken, (deren in der Stube, darin die Apollonia gelegen, eine solche Menge
waren, daß sie uns allen lästig wurden) ihr um das Gesicht und andere ent¬
blößte Theile des Körpers flogen, hat sie doch beständig betheuert, sie empfinde
nichts von denselbigen; ja die Kälte in der Winterszeit verletze sie auch nicht
sonderlich.
Das Mägdlein ist zwar nicht listig, sie redet jedoch fromm von Glaubens¬
sachen und verständig, sowohl vom Hans- als allgemeinem Wesen, mit schwacher
Stimme; indessen ist das Athemholen frei. Es hat mir ferner Herr Feldhusins
erzählt, daß er sie 12 Tage laug in sein Haus aufgenommen habe und mit
höchstem Fleiß so viel möglich in Acht genommen, ob kein Betrug mit unter¬
laufe. Aber er hat heilig versichert, er habe nichts dergleichen spüren können.
Da ihre Eltern viele Jahre bevor sie in diese sonderbare Krankheit gefallen, mit
Tode abgegangen sind, und sie ihr Heimwesen bei frommen und redlichen
Leuten gehabt hat, welche anßer allem Verdacht find, so sehe ich kein Hinder¬
niß, diese Geschichte in das fünfte Hundert meiner Beobachtungen auf¬
zunehmen."
So dieser erste Brief des Fabricius; der Antwort des Professor Pfister
ist ein sehr gelehrtes Schreiben vom Doctor Zwinger beigefügt, dessen Resüm6
sich in den: Satz zusammenfassen läßt: „solches wundersame Fasten stimmt
nicht mit den Satzungen der Natur überein und ist daher unter die Wunder
zu rend neu."
Der zweite Brief des Fabricius an Pfister ist datirt vom 19. Februar
1626; er theilt uns darin mit, was er vom Apotheker Gottschall Monheimius
in Düsseldorf und dessen Sohn, Doctor meäieiuae daselbst erfahren hat. Der
Erstere schreibt am 28. Februar 1623: „Das Mägdlein von Moers, Eva
Flegen, lebt noch in demselben Stand, wie sie der Herr gesehen hat 1612.
Sie isset und trinket nicht das Geringste, doch giebt sie vor, daß alle Morgen,
wann sie im Garten umwandere, sie empfinde, wie ihre Lippen gleichsam mit
einem sehr lieblichen Thau befeuchtet werden; vieles sagt sie vorher, welches
von redlichen Leuten nicht verworfen wird, und dessen Wahrheit der Ausgang
bezeuget."
Der Doctor Franziscus Monheimius bestätigt zwei Jahre danach die
Angaben seines Vaters und sagt: „Es ist ein Wunderwerk, darüber sich zu
entsetzen, zu dieser unserer Zeit, um welches sich billig alle Geistliche, Medici
und Philosophi ihre Kopfe brechen und ihre Sinne üben sollten. Vieles von
dem, was sie vorher gesagt, ist eingetroffen, sonderlich die große Bedrängniß
der Bürger- und Bauerschaft und die traurige Verwüstung dieser so frucht¬
baren Grafschaft. Es fehlt uur die Belagerung, welche aber auch geschehen
wäre, wenn nicht der gütige Gott sie durch Krankheit und Tod verhindert
hätte."
Fabricius wollte, „daß solches Wunder Gottes uicht in Vergessenheit ge-
rathe, sondern vielmehr auch deu Nachkommenden bekannt und in Schriften
verzeichnet werde" und hatte deshalb beschlossen, alles, was er über das
Mägdlein in Erfahrung gebracht, in das fünfte Hundert seiner Beobachtungen
aufzunehmen. Um jedoch möglichst sicher zu gehen, begnügte er sich mit dem
Zeugniß der beiden Monheimii nicht, sondern wandte sich vielmehr an den
hochangesehenen Bredorovius, Rath der vereinten Städte im Niederland, mit
der Bitte, Nachforschungen darüber anzustellen, was sich seit 1612 mit der
Eva Flegen zugetragen. Bredorovius sandte diesen Brief an Bilaerbeck in
Cöln, der ihn seinerseits an Becker in Moers schickte. Dieser Letztere nun
antwortet am 18. Januar 1624: „Das Mäglein lebt in derselben Weise, wie
es Herr Fabricius aus Hilden im Jahre 1612 gesehen!" Wir erfahren von
ihm nur das Neue, daß die bereits erwähnte 12tägige Beobachtung des
Mägdleins durch den Pfarrer Conrnd Feldhns ans Befehl der Obrigkeit ge¬
schehen sei."
Wenn ich im Vorstehenden den Briefwechsel des Fabricius, soweit er
unsern Gegenstand berührt, ausführlich besprochen habe, so geschah es lediglich
in der Absicht, zu zeigen, wie vorsichtig der berühmte Chirurg bei seiner Unter¬
suchung zu Werke ging. Um so überraschender wirkt daher die kurze Ansprache
an den Leser, welche er in der zweiten Ausgabe seiner Beobachtungen dem
Obigen ohne jedes vermittelnde Wort folgen läßt: „Etliche gute Freunde,
gelehrte Leute, haben mich gebeten, ich solle die Observation von dem falschen
und erdichteten Fasten des Mägdleins von Mvers auslöschen und an ihre
Statt eine andere setzen. Weil ich aber bei mir erwogen, es würde solches
dem Leser, welcher die erste Edition dieses Hunderts schon gesehen, irre machen,
so habe ich nichts ändern wollen; denn ich schäme mich nicht, zu bekennen,
daß ich in dieser Sache sei betrogen worden; weil ich weiß, daß es Jeder¬
mann bekannt, dasselbe habe 30 und mehr Jahren unzählbar viel vortreffliche
und gescheidte Leute selbst in der Stadt Moers angeführt. Ich wollte aber
wünschen, daß Einer von denen, welche das Mädchen vor Anfang ihres er¬
dichteten Fastens gekannt, den ganzen Verlauf beschreibe?: und an den Tag
kommen ließe, damit künftighin Jedermann in dergleichen bezüglichen Sachen
und Anführungen desto behutsamer sein könne."
Zorniger und entrüsteter spricht er sich 1628 in einem Briefe an seinen
Freund Peter Affenhand in Frankfurt aus! In demselben heißt es: „O ab¬
scheuliches, teuflisches Laster und Bubenstück, durch welches so viel Menschen
mit und neben mir betrogen worden;' ja selbsten auch der Herr Feldhusius,
Diener am Worte Gottes, und ein trefflicher, frommer Mann! Ich würde
mich wahrhaftig nicht wenig betrüben, daß ich das Geringste von solchem er¬
dichteten Fasten geschrieben, wenn nicht auch so viel ausgezeichnete Männer
von ihr wären geäfft und angeführt worden. Aber das tröstet mich etwas,
daß auch Andere find betrogen worden."
Daß das „Mägdlein von Moers" sich als eine Betrügerin entpuppt habe,
erfuhr Fabricius zuerst im Sommer 1628 durch Gottschall Monheim; leider
theilt derselbe nicht mit, auf welche Weise das Entpuppen stattgefunden.
Die Unterhaltung in dem Landhause der Frau von Pruski war bei
einem Glase Grogg, der nach dem Abendessen den Gästen gehste» wurde, recht
lebhaft gewesen. Sie war deutsch geführt worden ans Rücksicht auf meinen
Vater und auf die französische Gouvernante Madame Peltret, die wohl noth¬
dürftig deutsch, aber gar uicht polnisch sprach. Dem polnischen Theile der
Gesellschaft war dadurch kein Opfer auferlegt, denn der polnische Adel West-
preußens, in dem diese meine Jugenderinnerung spielt, hat seit der Ordenszeit
die deutsche Sprache nie verlernt.
Um zehn Uhr hatten wir Gäste uns von der gnädigen Frau verabschiedet,
indem wir der Reihe nach ihr die zarte, weiche Hand küßten. Ich, der drei¬
zehnjährige Quartaner, machte damit den ersten Versuch polnischer feiner Sitte.
Wir waren darauf vom Bedienten, der zugleich die Aemter eines Gärtners
und eines Jägers versah, in den oberen Stock des Hauses über einen weit¬
läufigen leeren Flur in das weißgetünchte Gastzimmer geführt worden, in
welchem sich neben einigen altmodischen Polsterstühlen vier Betten in Feldbett¬
stellen befanden, die Herr Kowalski, ein benachbarter Gutsbesitzer, mein Vater,
ich und der ältere Sohn des Hauses, der vierzehnjährige Quintaner Emilian,
einzunehmen hatten. Herr Kowalski, ein großer, kräftig gebauter Fünfziger,
mit einem starken braunen Schnurrbart, war in sehr guter Stimmung, obwohl
ihm das Gehen schwer fiel. Seine Zunge litt jedoch uicht an Gicht, und so
gefiel er sich denn, während wir uns entkleideten, ohne Rücksicht auf uns
Knaben, in der ununterbrochenen Erzählung von Zoten. Die Versuche meines
Vaters, dem Redestrom Einhalt zu thun, blieben erfolglos. Zuletzt, als er
sich uur in unbeschreiblichen untern Unaussprechlichen befand, machte er sich
noch den Hauptspaß, an die selbstverständlich verschlvssue Thür, welche
unser Zimmer von demjenigen der alten zahnlosen Madame Peltret und der
kleinen Tochter des Hauses trennte, zu humpeln, anzuklopfen und von ihr zu
einem Besuche Einlaß zu verlangen. Die Französin besaß nicht Tact genng
zu schweigen, sondern gab ihm durch ihre Zurückweisung Veranlassung, ihr
noch einige nicht eben zarte und saubere Worte durch die Thüre zuzurufen,
zur Erquickung der Kinderohren hüben und drüben.
Auf diese Weise machte ich die Bekanntschaft des Mannes, in dessen Hanse
ich im Laufe der Jahre das traurigste Versinken einer früher wohlhabenden
polnischen Familie beobachten sollte. Ich komme später auf sie zurück. Für
heute wollen wir die Familie von Pruski und ihr Gut Zahlenan (polnisch
Aalno) näher kennen lernen.
Die Familie Prnski ist, soweit meine Nachrichten reichen, dem allgemeinen
Schicksal des polnischen Adels, dem Herunterkommen, bisher noch nicht ver¬
fallen, dieses Glück verdankt sie ihrer Neubegründerin, der Frau Natalie von
Prnski, der achtnngswerthesten und einsichtsvollsten Polin, die ich kennen gelernt
habe. Hütte ihr Manu länger gelebt, so würde den Seinigen wahrscheinlich
die Lage seines Vorgängers ans dein Gute, des Obersten von Woyna-Citronski
und seiner Angehörigen bestimmt gewesen sein. Citronski hatte durch seine
Verschwendung und Trunksucht seine Vermögensverhältnisse dermaßen zerrüttet
daß er das Gut an Pruski verkaufen mußte und nur einen Bauernhof im
zugehörigen Dorfe übrig behielt, auf dem der Branntwein seinem Leben bald
ein Ende machte. Ohne sich durch dieses Vorbild abschrecken zu lassen, schlug
Pruski dieselben Wege ein, wie Citronski, und er würde es auch noch ebeu
soweit gebracht haben, wenn ihn nicht noch zu rechter Zeit der Tod von der
Flasche gerissen hätte, als die Schulden den Werth des Gutes noch nicht er¬
reichten. Von dem brutalen Peiniger erlöst, that seine Wittwe alles, was zur
Herstellung der Wohlfahrt der Familie dienen konnte und in ihren Kräften
stand. Was das Laster des Vaters an der Seele ihrer Kinder verbrochen
hatte, das vermochte sie freilich nicht wieder gut zu machen; ihnen fehlte es
durchweg an Verstand — ein Mangel, den man der polnischen Jugend im
Allgemeinen uicht zum Vorwurf machen kann. Der älteste Sohn litt außer¬
dem an einer seltsamen Muskelschlaffheit, die ich auf Schwäche der Nerven
zurückführen möchte, und die sich auch auf seinen Geist übertrug; knickbeinig,
mit gesenktem Nacken und kraftlos herabhangenden Armen und Händen, blaß
und mager, schlich er umher, ohne eignen Willen, jedem fremden Antrieb Folge
leistend, gegen keinen Angriff sich zur Wehr setzend, sondern ihm ausweichend
oder erliegend, bei seinen Altersgenossen weder Liebe noch Achtung, sondern
nur Geringschätzung erregend. Solchen Naturanlagen und Schwächen ver¬
mochte Frau vou Pruski nicht Einhalt zu thun, aber sie scheute keine Kosten,
um die schwachen Geistesgaben ihrer Kinder ausbilden zu lassen, sie hielt
ihnen deutsche Hauslehrer und französische Gouvernanten, dann gab sie die
Knaben auf ein Gymnasium mit rein deutscher Unterrichtssprache und in die
beste Pension, die ihr bekannt war, die Töchter in eine französische Pension
und Unterrichtsanstalt in Berlin. Sie verfuhr dabei, wie man sieht, ohne
nationales Vorurtheil; denn sie war eine welterfahrene, vielbelesene Dame mit
klarem Verstände, sie wußte namentlich die geistige und sittliche Ueberlegenheit
der Deutschen zu würdigem Wenn alle diese kluge Fürsorge nichts nützte,
wenn namentlich von den Söhnen Emilian es mit Mühe und Noth bis zur
Quarta, Benno sogar nur bis Quinta brachte, so erwies sich nur, daß die
schwachen Kopfe nicht weiter zu treiben waren. Durch diese Beschränktheit des
jüngeren Geschlechts wurde ihm die Aussicht versperrt, sich zu höheren Stellungen
in der Gesellschaft zu erheben; doch indem die polnische Prunksucht und die
Neigung zu Schwelgereien in ihm unterdrückt, dagegen der Sinn für Wirt¬
schaftlichkeit und Sparsamkeit geweckt und ausgebildet wurde, war die Mög¬
lichkeit gegeben, daß es sich wenigstens auf gleicher Höhe hielt. Frau von
Pruski verkaufte in den letzten dreißiger Jahren des Jahrhunderts Zahlenau
an einen wohlhabenden deutschen Landwirth und behielt nach Abzahlung der
Schulden von dem Kaufgelde noch so viel übrig, um bei Warschau größere
Güter zu kaufen und ihren Töchtern bei ihrer bald erfolgenden Verheirathung
mit größeren Gutsbesitzern eine nicht unerhebliche Kapitalanssteuer mitzugeben.
Wieviel der Kaufpreis von Zahlenau damals betrug, weiß ich nicht, doch
dürfte er 80,000 Thlr. schwerlich erreicht haben, während Herr W. das Gut
heute wohl kaum für eine Million Mark hingeben würde.
Doch kehren wir wieder in die ersten Dreißiger-Jahre zurück und sehen
uns etwas auf dem Gutshof von Zahlenau um. Das Wohnhaus ist im Ver¬
gleich zu andern polnischen Landhäusern jener Zeit sehr geräumig, es dürfte
8 oder 9 Stuben und andere Räume enthalten haben. Es ist zur Hälfte von
Fachwerk, zur andern massiv gebaut und durchweg weiß getüncht, nnr das
Holzwerk trägt einen schwarzen Anstrich. Auch durch das Ziegeldach unter¬
scheidet sich das Gebäude vou den meisten polnischen Gutshäusern, die mit
Stroh gedeckt sind. Unter einem rechten Winkel geht von der linken Ecke ein
langer, schmaler und niedriger Anbau ab, in welchem sich hintereinander be¬
finden ein Stübchen, welches als Schlafzimmer für Gäste benutzt wird, ein
Stübchen für den Koch, der anch etwas Jäger war, eine Gesindestube, die
ihren Eingang durch die Küche, deu letzten Raum im Anbau, hat. In der
Küche werden die Speisen für die Herrschaft von dem Koch und auf einem
andern Herd für das Gesinde von Mägden bereitet. Sie ist die belebteste
Stelle auf dem ganzen Gehöft, zu ihr fühlt sich alles hingezogen, weil es da
immer Gesellschaft und Unterhaltung, auch außer der Kost wohl öfter einen Lecker¬
bissen, von liebevoller Hand bei Seite gestellt, giebt. Ein wichtiges Mitglied
der Gesellschaft ist der Struse (LtroS), ein den polnischen Landhöfen eigen¬
thümlicher Stand, eine Art Hausknecht, aber mit der Besonderheit, daß er der
Knecht der andern Dienstleute ist und alles verrichten muß, was diesen zu
thun nicht ansteht. Dafür dient er ihnen zur Ablagerung aller derben Späße
und Neckereien, mit denen sie sich müssige Stunden verkürzen. Pioch in Zahlenau
eignete sich um so mehr zu diesem Berufe, als er halb blödsinnig war. Außer
diesen mehr oder weniger menschlichen Bewohnern und Gästen der Küche, ge¬
hört dazu, auch ein Rudel Hunde von allerhand Racen, einer und der andere
mit einer Spur von Dressur zur Jagd, die meisten nur brauchbar zur Ver¬
scheuchung der Hasen und zum Ablecken der Teller, worauf sie dann in der
Regel abgewaschen werden. Daß sie vom Struse mit einem Pferdeschwanz
blos nachgewischt würden, um wieder auf deu herrschaftlichen Tisch zu kommen,
diese altväterliche polnische Sitte war in meiner Jugend schon abgekommen.
Dagegen habe ich die harmlosen Grunzthiere noch oft in herrschaftlichen Küchen
verkehren sehen, nicht aber in Zahlenau, wo sich nur Hühner und Enten viel
davor und darin zu schaffen machten. Im Ganzen war dies Leben und Treiben
noch recht polnisch; auch die Abgelegenheit der Küche vom herrschaftlichen
Wohnhaus war es, nur daß die Entfernung, die hier etwa 40—50 Schritte
betrug, sonst noch viel größer war. Die Polen wissen als einen Vortheil
dieser Einrichtung zu rühmen, daß dadurch die Abkühlung der Speisen be¬
wirkt werde, ehe sie auf den herrschaftlichen Tisch kommen, und daß deswegen
sie (die Polen) meistens viel gesundere Zähne haben als die Deutschen, bei
deuen die Suppen kochend heiß auf den Tisch kommen und auf das Andringen
der Hausfrau gleich gegessen werden. So ist der Geschmack verschieden. Wir
Deutschen ziehen es vor, die Suppen im Teller, der sich durch Augen- und
Tastprüfung als durchaus rein erweist, erst etwas abkühlen zu lassen, ehe wir
sie essen, anstatt aus eiuer Küche zu speisen, über deren Schwelle die Haus¬
frau nie den Fuß setzt und in der schmierige Mägde, der Struse und Hunde
so viel Sauberkeit herstellen, als in ihren Kräften liegt. Die guten Zähne be¬
ruhen auf polnischer Selbstberühmung.
Gehen wir nun in Zahlenau weiter. Hinter der Küche führte eine Pforte
dnrch einen niedrigen Lattenzann in den Garten. Nicht auf allen polnischen
Gütern, die ich gesehen, habe ich Gärten angetroffen, man müßte grade einige
Beete Gemüseland, auf denen Frühkartoffel, Mohrrüben, Wrucken (Unterrüben)
und Weißkohl kunstlos gebaut wurden, als solchen ansehen. Wo aber Obst¬
uno Blumengärten vorhanden waren, da konnte man allenfalls erkennen, daß
sie in graden rechtwinkligen Linien, mit Gängen von Beerensträuchern oder
sehr alltäglichen Blumen eingefaßt, angelegt waren, ihr Zustand aber war ein
vollkommen verwahrloster. Von Beerensträuchern gaben nnr die Himbeeren
erkleckliche Früchte, weil sie weite Wanderungen unternahmen und sich den
Boden aufsuchten. Von den Obstbäumen thaten desgleichen die sauren Kirschen,
indem sie in Wnrzelschvslingen wucherten. Auch Blumen, Gartenblumen,
fanden sich vor, wenn sie selbst Beharrlichkeit und Geschick genug besaßen, um
das Feld !zu behaupten. Ringelrosen (Vg-Ienäula), auch Stinkpeter genannt
spielten unter ihnen eine hervorragende Rolle; Schwertlilien, Akelei, auch wohl
Eisenhut, gehörten zu diesen standhaften Blumengeistern. Man ist versucht,
Stechapfel ebenfalls dazu zu rechnen, denn er findet sich, so selten er in deutschen
Gegenden kommt, in jeder Art von Gärten, so weit die polnische Zunge reicht
und bringt dort Jahr aus Jahr ein manch' spielendem Kinde den Tod. Das
Fortdauern dieses gefährlichen Unkrauts ist bezeichnend für die slawische Träg¬
heit, weil nichts leichter ist, als es auszurotten. Mitten in dem wildesten
Gestrüpp traf ich wohl hin und wieder die reizendste Rose in voller Blüthen¬
pracht. Im Großen und Ganzen ist hiermit auch der Garten in Zahlenau
beschrieben. Fügen wir nur noch hinzu, daß- der „Gärtner" einzelne Stücke
des Gartens mit Kartoffeln, Wrncken u. dergl. besetzen ließ.
Wenn man aus dem dargestellten Zustand der Gärten schließen wollte,
daß die Polen keinen Sinn für die lieblichen Kinder Floras, für wohlgepflegte
Rasenplätze, für die Pracht alter Ulmen oder Linden besitzen, so würde man
irren. Ich habe polnische Edelleute einen sehr bescheidenen, aber sorgfältig
behandelten Garten eines deutschen Gutsbesitzers mit aufrichtiger Bewunderung
und Freude betrachten sehen. Mit Worten und Blicken fragten sie den Deut¬
schen, wie er einen solchen Zauber herzustellen im Stande sei. Der hielt denn
auch mit seiner Antwort nicht zurück. „Wir Deutsche" erklärte er thuen
„werden schon mit mehr Interesse als die Polen für dergleichen erzogen, wir
verbringen von früh an nicht soviel Zeit mit Tanzen, Pfänderspielen, nach¬
barlichen Besuchen und andern Zerstreuungen, die uns von dem Ernst des
Lebens abhalten, später ebenfalls mit der, Geselligkeit, dann mit Karten¬
spiel, mit der Flasche, mit Reisen nach den Städten, um dort unser Vier¬
gespann, unsere prunkende Livree und unsre möglichst blanke Kutsche zu
zeigen. Wir verachten das alles meistens auch nicht, aber das Wichtigste,
ist uns immer die Arbeit und die Sorge sür Haus und Hof. So finden wir
auch Zeit, uns mit dein Garten zu beschäftigen, unterstützt von unsern Frauen,
die in weniger wohlhabenden Familien oft ganz die Stelle der Gärtner -ver¬
treten." Die polnischen Herren hörten diese Auslassung deutscher Gradheit
schweigend an. Zu Herzen haben sie dieselbe nicht genommen.
Für die Bewirthschaftung von Zahlenan besaß ich in meiner damaligen
frühen Jugend zu wenig Verständniß, um darüber urtheilen zu können. Ueber
polnische Land wirthschaft ein andermal.
Lentner, ein geborener Münchener, der als Landschaftsmaler viele Jahre
in Tirol lebte und vor einigen zwanziger Jahren in Meran starb, hat auch
verschiedene andere Sachen, darunter den Roman „Ritter und Bauer" (1844)
geschrieben. Dieselben sind jetzt vergessen, vielleicht mit Unrecht; denn die
neuen hier vorliegenden Erzählungen sind recht hübsch. Den Stoffen, die er
behandelt, und der Sprache nach, in der er uns seine Geschichten vortrüge, ge¬
hört er zu deu Volksschriftstellern, die in der Weise Hebels dichteten. Die
Mehrzahl der hier gebotenen Stücke sind Sagen und Märchen, die sich anhören,
als ob sie unmittelbar aus dem Volksmunde kämen. Einige, wie die Proze߬
geschichte „Aus den Tagen des Streites," zeigen einen recht ansprechenden Hu¬
mor. Andere, wie „Der Fluch einer Braut" sind düstrer Natur. Besonders
angesprochen haben uns „Das Pestmännlein," „Bet, Kindle, bet, jetzund
kommt der Schwed" und „der gaugende Schuster" (Der ewige Jude). Ein
Schlußkapitel, welches sich „Ein Sommerfrischleben" nennt, enthält allerlei
touristische Plaudereien über Land und Leute in der Gegend vou Insbruck
und Botzen.
Der vor etwa Jahresfrist verstorbene Verfasser dieser vier Novellen ist
eine der bedeutendsten poetischen Schriftsteller der Schweiz. Mag er Gottfried
Keller an plastischer Kraft und realistischem Humor einigermaßen nachstehen,
so ist er ihm an schöner Menschlichkeit, an Seele und an künstlerischer Technik,
namentlich aber an jenem schwer zu definirenden Etwas überlegen, was wir
Stimmung nennen. Sein historischer Roman „Die Waise von Holliger" ist
unbestritten die beste Leistung, welche die schweizerische Literatur aufzuweisen
hat, und in der ersten Sammlung seiner kleineren Erzählungen „Zwischen
Jura und Alpen," die 1858 bei I. I. Weber erschien, sowie in der zweiten,
die sich „Schweizerbilder" nannte und 1864 bei Sauerländer herauskam, be¬
gegnen wir mehreren Stücke, die als Meisterwerke bezeichnet werden dürfen.
Namentlich mit der Dorfgeschichte „Der Alpenwald" steht er mit den gefeiertsten
Namen dieses Genres vollkommen auf gleicher Höhe. Auch in diesen neuen
Schweizerbildern haben wir großentheils sehr anziehende Schöpfungen des da¬
hingegangenen Novellisten vor uns. „Der letzte Hirt im Dorfe" und „Der
Verbrecher in Gedanken" sind ungemein ergreifende Erzählungen, die sich durch
Einfachheit und Wahrheit der Erfindung, echte, tiefe Empfindung und große
Kraft und Schönheit der Seelenzeichnung, sowie jene Knappheit des Styls
auszeichnen, die gerade durch das, was nur angedeutet wird, den Meister zeigt.
Ueberall begegnen wir feiner Charakteristik, einer schönen Wärme und einer
großen Beherrschung der Sprache. Häufig durchspielt seine Schöpfungen ein
düstrer, wehmüthiger Ton, als traure er über die Herbheit des Geschickes, das
er uns vorführt; es ist aber keine krankhafte Sentimentalität, in die seine
Feder sich taucht, sondern wahres tiefes Gefühl, welches die Gestalten der
Dichtung wie Goldgrund umschwimmt. Wir empfehlen das kleine Buch den
Lesern d. Bl. aufrichtig und angelegentlich. Sie werden von der Lectüre sich
im besten Sinne erbaut und gehoben fühlen. Schließlich sei noch bemerkt, daß
noch eine weitere Sammlung von Erzählungen Frey's in Aussicht steht.
Verfolgt man die mittelasiatischen Angelegenheiten in der russischen Presse
aufmerksam, und sucht sich aus deren Auslassungen jene Frage zu beantworten,
so trifft man immer und immer wieder auf den Satz: Rußland hat die Mission,
in Mittelasien, Kultur zu verbreiten und muß sich deßhalb zum Herrn jener
Gebiete machen. Aber auch diese, schon zum Gemeinplatz gewordene, fast
verbrauchte Redensart kann uns wohl kaum diesen mit so mannigfachen Opfern
erkauften Länderzuwachs Rußlands genügend begründen. Wäre wirklich nur
diese civilisatorische Mission Selbstzweck des russischen Vorgehens in Central-
Asien, so könnte der Regierung wohl mit Recht der Vorwurf gemacht werden,
fernen barbarischen Völkerschaften Wohlthaten zuzuführen, welche Tausende und
Abertausende selbst im europäischen Rußland — geschweige denn auf deu
256,321 >n Meilen Sibiriens — noch vollständig entbehren. Man findet ja
allerdings bei einem nähern Studium der russischen Verhältnisse nur selten
jenes langsame aber sichere Fortdauer auf fester, nicht wankender Grundlage,
was unsern Staat groß gemacht hat und dessen Zukunft verbürgt, — sondern
vielmehr oft ein Springen von Reform zu Reform, ohne daß eine Basis vor¬
handen ist. Dessenungeachtet dürfen wir aber nicht zugeben, daß Rußlands
Politik auch hier einen solchen Sprung gemacht habe, indem sie ferne Völker¬
schaften mit einer Kultur beglücken wolle, die eigene Unterthanen noch nicht
besitzen und wohl auch lange noch nicht besitzen werden.
Dem Vorgehen Rußlands in Mittelasien liegt vielmehr in gewisser Be¬
ziehung ein — ich möchte sagen — Verhängnis? zu Grunde, welchem sich die
Regierung — hatte sie einmal die Initiative in jenen Angelegenheiten ergriffen
— nicht wieder ohne Weiteres entziehen konnte: ein Verhängnis?, dem sie auch
heute noch mehr oder weniger verfallen ist.
Wahrend das nördliche Asien durch kühne Eroberer ans eigenem Interesse,
aus Sucht nach Gewinn und Beute, Rußland erschlossen und für dasselbe
sogar in Besitz genommen wurde, war es in Mittelasien die Regierung selbst,
welche — abgesehen von den verunglückten Kasakenzngen nach Chiwa — die
ersten Schritte zur Besitznahme jener Länder that. Peter der Große rüstete,
wie wir gesehen haben, die erste Expedition gegen Chiwa aus. Sie verlief
für die Russen unglücklich und hat gerade deßhalb directe zwingende Folgen
für ein weiteres Vordringen in Mittelasien nicht gehabt. Es war ein Versuch,
er mißglückte, und man hatte damals noch keine Veranlassung, diese Scharte
wieder auszuwetzen.
Ganz anders aber gestalteten sich die Verhältnisse, als im Jahre 1732
Biron seine Kaiserin bestimmte, die Unterwerfung der mittleren und großen
Horde der Kirgisen anzunehmen. Die Aufnahme derselben in den russischen
Unterthanenverband, die damit übernommene Verpflichtung, einmal sie zu
schützen, daun aber auch — und das hauptsächlich — sie der Regierung in:
wahren Sinne des Worts Unterthan zu machen, war der erste verhängnißvolle
Schritt, welcher Rußland mit kategorischer Nothwendigkeit von Eroberung zu
Eroberung führen sollte.
Freilich begannen erst 1820 die ersten Versuche, die Fiction des Unter¬
thanenverhältnisses der Kirgisen zu eiuer Thatsache zu machen. Man schritt
— wie wir sahen — zur Anlage von befestigten Punkten, zur Anlage einer
„Linie". Der Aufstand der Kirgisen zwang dann zur Ueberschreitung dieser
„Linie", zu Expeditionen erst gegen die aufständischen Unterthanen selbst und
in unmittelbarem Zusammenhange damit zu dem Feldzuge gegen Chiwa im
Jahre 1839, als der Hauptstütze der Aufständischen.
Das Mißgeschick der Expedition des Generals Perowsski ließ nunmehr
das Verfahren ändern: man glaubte in der Anlage von Steppenbefestigungen
eine größere Garantie für deu Erfolg zu haben, als in der Ausführung von
Expeditionen.
Wo aber die Steppenbefestiguugeu etabliren? Selbstredend an der Grenze
des eigenen Gebiets. Da aber in diesen Gegenden — wie ich schon zu zeigen
versucht habe — von fest bestimmten Grenzen in keiner Weise die Rede sein
kann, so trat an die Stelle der „politischen" die „natürliche" Grenze, ein nicht
bloß hier, sondern überall so vager Begriff; — zumal die Festsetzung derselbe»
immer mehr oder weniger von der persönlichen Anschauung der gerade in
diesen Angelegenheiten maßgebenden Persönlichkeit abhängen mußte. Anfangs
der vierziger Jahre hatte — wie bekannt — der General Obrutschew eine
entscheidende Stimme. Er war der Ansicht, daß die „natürliche" Grenze des
russischen Gebiets am Nordrande jenes Hunger- und Sandsteppen-Gebiets laufe,
das sich von Caspischen Meere nach Osten über den Ast-Art, nördlich des
Aralmeeres zum Tschn-Flusse und längs dessen nördlichen Ufers zum Nordufer
des Balchasch-Sees hinziehe. Der General Obrntschew machte in Folge dessen
den Vorschlag, sich nicht weiter nach Süden auszudehnen, sondern nördlich jeuer
Linie die Befestigungen anzulegen. Man wäre dann im Stande, durch eine
kleine Zahl solcher befestigten Punkte zu verhindern, daß große Banden durch
die Huugerwüste in das rassische Gebiet eindringen könnten, und wäre dann
ebenso in der Lage, die eigenen Unterthanen in Ruhe und Ordnung zu halten.
Der Befehl des Kaisers Nicolaus aber, zu deu beideu schon bestehenden Posten
Uralskoje und Orenbnrgskoje noch einen dritten, — nicht wie Obrntschew vor¬
geschlagen an der untern Euba, — sondern an der Mündung des Ssyr-darja
anzulegen, muß als der zweite verhängnißvolle Schritt in der mittelasiatischen
Politik der russischen Regierung charakterisirt werden.
Einmal lag diese neue Befestigung Raimsskoje äußerst exponirt — ihre
Entfernung von Orenburg, der damals noch einzigen Basis für ein Vorgehen
nach Mittelasien, betrug schon in der Luftlinie 750 Werst, — und dann erfüllte
sie auch uicht einmal ihren Zweck. Die Ruhe war nicht hergestellt und selbst
in ihrer nächsten Nähe wurden Karawanen geplündert.
Hatten die Russen es bis dahin wesentlich nnr mit Nomaden zu thun
gehabt, so war man bereits jetzt mit der seßhaften Bevölkerung in Berührung
gekommen, welche natürlich alles aufbot, um die Eindringlinge zum Zurück¬
gehen zu bewegen. Wollte Rußland aber nicht für lange Zeit, wenn nicht
für immer all und jeden Einfluß in Mittelasien verlieren, so mußte es alles
darau setzen, um die einmal gewonnene Position zu behaupten. Denn selbst
der moralische Einfluß kann in Mittelasien nur dadurch gehoben werden, daß
ein Erfolg dem andern folgt, daß nicht das geringste mißglückt, oder gar
ein Zurückweichen nöthig wird. Für diesen Satz lassen sich ja ans der Ge¬
schichte der Eroberungen der Russen in Mittelasien eine Menge Beispiele an¬
führen. Ich erinnere nur an die verunglückte Perowsskische Expedition gegen
Chiwa, an das Zurückgehen Tscherniajews ohne die Gefangenen des Emirs
von Buchara befreit zu haben, und an den Krieg in Kokain. Nach jedem
mißglückter Unternehmen trat immer eine sehr gefährliche Reaction ein.
Wir haben gesehen, daß es bei der am Ssyr einmal angelegten Be¬
festigung Raimsskoje nicht blieb. Es entstand eine „Linie" am Ssyr-darja
und mit der Einnahme von Akmetschet — 1853 — befand mau sich in offenem
Kriege mit Koran. Der Fels, welcher die mittelasiatischen Reiche zertrümmern
sollte, war im Rollen. Ein Halt erschien unmöglich, zumal der linke Flügel
der neu angelegten Linie gar keine Anlehnung hatte und zwischen dein Fort
Pervwsski im Westen und Wiürnoje im Osten ein 900 Werst breites Thor
sich befand, das dem Eindringen in das nördlich gelegene russische Gebiet nicht
die geringste Schranke entgegensetzte. Eine Vorwärtsbewegung gegen den
Kirgisnyn-Alatau, den Boroldai und Karatan sollte jene weite Lücke schließen.
Die oben nur kurz erwähnte Circularnote des Fürsten Reichskanzler
Gortschakow giebt gerade über die damalige Situation Aufschluß, so daß es
nicht uninteressant sein dürfte, einige Hnnptstellen aus derselben hier hervorzu¬
heben: „Die Stellung Rußlands in Central-Asien"— heißt es dort — „ist die
aller civilisirten Staaten, welche sich mit halb wilden, umherstreifenden Völker¬
schaften ohne feste sociale Organisation im Contakt befinden. In dergleichen
Fällen verlangt das Interesse der Sicherheit der Grenzen und der Handelsbe¬
ziehungen stets, daß der civilisirte Staat ein gewisses Uebergewicht über Nach¬
barn übe, deren unruhige Nomadensitten sie äußerst unbequem machen. Man
hat Einfülle und Plünderungen zurückzuweisen. Um denselben ein Ende zu
machen, ist man genöthigt, die Grenzbevölkeruug zu eiuer mehr oder minder
directen Unterwürfigkeit zu zwingen." .... „Dies ist der Grund gewesen" —
ist dann weiter ausgeführt — „welcher die kaiserliche Regierung veranlaßt hat,
sich zuerst einerseits am Ssyr-darja, anderseits am Jssik-tut festzusetzen, und
diese beiden Linien durch vorgeschobene Forts zu befestigen, welche all¬
mählich in das Herz dieser entfernten Gegenden gedrungen sind, ohne daß man
dahin gelangt wäre, jenseits derselben die für unsere Grenzen unerläßliche Ruhe
herzustellen. Die Ursache dieser Erfolglosigkeit lag zunächst in dem Umstände,
daß zwischen den Endpunkten dieser doppelten Linie ein ungeheurer wüster
Raum unbesetzt blieb, wo die Einfälle der räuberischen Stämme jede Colonisi-
rung und jeden Carawanenhandel unmöglich machten." .... Ferner heißt
es: „Trotz unserer Abneigung, unserer Grenze eine weitere Ausdeh¬
nung zu geben, waren diese Beweggründe doch mächtig genug, um die
kaiserliche Regierung zu veranlassen, die Continuität dieser Linie zwischen dem
Jssik-tut und dein Ssyr-darja herzustellen, indem die kürzlich von uns besetzte
Stadt Tschimkent von uns befestigt wurde. Indem Nur diese Linie annahmen,
erhalten wir ein doppeltes Resultat: einerseits ist die Gegend, welche sie um¬
faßt, fruchtbar, hvlzreich, von zahlreichen Gewässern durchströmt; sie ist theil¬
weise von Kirgisischer Stämmen bewohnt, welche unsere Herrschaft anerkannt haben;
sie bietet deshalb günstige Elemente für die Colonisation und für die Verprvvianti-
rung unserer Besatzungen. Andererseits giebt sie uns zu unmittelbaren Nachbarn die
angesiedelte ackerbau- und handeltreibende Bevölkerung von Kokain. Wir befinden
uns einer socialen Bevölkerung gegenüber, welche solider, kompakter, weniger
beweglich und besser organisirt ist, und diese Erwägung bezeichnet mit geo¬
graphischer Genauigkeit die Linie, zu welcher uns Interesse und Vernunft vor¬
zugehen rathen und hier still zu steheu heißen, weil einerseits jede fernere
Ausdehnung weiterhin nicht auf solche unbeständige Bevölkerungen, wie die
nomadischen Stämme, sondern ans regelmäßiger eingerichtete Staaten stoßen,
beträchtliche Anstrengungen erfordern und uns von Annexion zu Annexion, zu
unabsehbaren Verwickelungen fortreißen würde." . . . Schließlich sprach der
Reichskanzler aus: „Ich habe nicht nöthig, auf das augenfällige Interesse
hinzuweisen, welches Rußland hat, sein Gebiet nicht weiter zu ver¬
größern."
Den zuletzt herausgehobenen Satz haben — wie wir wissen — die Ereig¬
nisse nicht bewahrheitet. Rußland ist vielmehr — wie der Reichskanzler ja
vorhergesagt — von Annexion zu Annexion fortgerissen. Jene Versiche¬
rungen, sich nicht weiter auszudehnen, verloren ihre bindende Kraft, so bald die
Voraussetzungen, unter denen sie gegeben waren, andere wurden. Die Völker¬
schaften, mit denen Rußland nunmehr in Contakt gekommen war, entsprachen
eben nicht den Erwartungen: sie zeigten sich nicht weniger unbeständig, als die
Nomaden. Dazu kam dann serner, daß der Emir von Buchara sich noch in
den Besitz des Chanats Kokan zu setze« drohte. Hätte Rußland nach Consti-
tuirung des Grenzbezirks Turkestan Halt gemacht, wiirde es, in Folge jener
Bestrebungen des Emir Musafar, sich plötzlich einer Macht gegenüber gesehen
haben, die wohl die Kraft gehabt hätte, den Fortbestand des bisher Erreich¬
ten wenigstens wieder in Frage zu stellen. So nahm Rußland Taschkend, und
trat noch mit Buchara, das sich seinen Willen entgegenstellte, in einen Krieg
ein, der es bis Ssamarkand führte.
Die Nothwendigkeit, gegen Chiwa im Jahre 1873 entschieden vorzugehen,
resultirt unmittelbar aus jenem Schritte der Kaiserin Anna, die Kirgisen
in den russischen Unterthanenverband aufzunehmen. Um den Westen Mittel¬
asiens endlich zur Ruhe kommen zu lassen, mußte Chiwa, der Mittelpunkt
jener widerspenstigen, hartnäckigen, räuberischen Nomaden, die ganze Schwere
der russischen Macht fühlen, mußte jeden politischen Einfluß nach Außen ver¬
lieren. Sollte Rußland aber nicht immer wieder zu solchen mit großen Opfern
verknüpften Kriegszügen gezwungen fein, so mußte es sich die Garantie schaffen,
daß jener Raubstaat uicht wieder erstarke und nach wie vor die alte Rolle in
teilen Gegenden übernehme. Dazu war die Anlage des Forts Petro-Alexan-
drowssk vor den Thoren der Chiwa-Oase nöthig: die Annectirung jenes Land¬
striches mußte die unmittelbare Folge sein.
Es ist uicht zu leugnen, daß diese Thatsache den Versicherungen des
Grafen Schnwalow diametral entgegengesetzt ist. Die Politik wird aber nicht
durch die Moral beherrscht, sondern allein dnrch die Interessen. Und das Interesse
Rußlands verlangte kategorisch die Beschneidung des chinesischen Terri¬
toriums. —
Was nun schließlich den Krieg Rußlands mit den aufständischen Kvlanzeu
betrifft, so war ersterem anfangs, — wie uns bekannt — eine defensive
Rolle zugewiesen: sein Gebiet, seine Unterthanen mußte es gegen die Einfälle
der Aufständische» vertheidigen. Das spätere offensive Vorgehen war anch ein
gezwungenes: die anarchischen Zustände im Chanat durften nicht einen Umfang
erreichen, welcher die höchste Gefahr für den eigenen Besitz in sich bergen
konnte. Nassr-Eddin hatte nicht die Macht, den Aufstand zu unterdrücke»; —
Putat-del, Abdurachman-Awtobatschi waren erklärte Feinde der Russen. Sollte,
konnte man diesen die Zügel der Regierung in die Hände geben? Unmöglich.
Was blieb also anders übrig, als das Chanat in eigene Verwaltung zu
nehmen. Es war das die einzige Garantie sür die Sicherheit des eigenen
Besitzthums.
Es ist ja auch noch sehr zu bezweifeln, ob Rußland ans der Einverlei-
bung Kokaus wirkliche materielle Vortheile erwachsen werden; — und es fragt
sich, ob die Oberherrschaft, die es ja thatsächlich über deu vertriebenen Chu-
dojar-Chan, seit der Begründung des General-Gouvernements, ausübte, minde¬
stens nicht weniger kostspielig war, als der jetzt eingetretene eigene Besitz des
Chcmats. Haben die Russen aber in Mittelasien ein Land einmal mit den
Waffen in der Hand betreten, so können sie nicht wieder davon Abstand nehmen,
ohne an ihrem moralischen Einflüsse selbst ihren eigenen asiatischen Unterthanen
gegenüber Einbuße zu erleiden.
Daß also das Vorgehen Rußlands in Asien doch nicht bloß mit dem Satze:
«I'g.xvLt,it, pisile. en ilmnZsant» — wie es wohl häufig geschieht — begründet
werden kann, dürfte wohl aus jenen Deductionen hervorgehen. Rußland ist
mehr getrieben worden, als selbst treibend gewesen. An irgend einem beliebigen
Punkte Halt zu machen — wie es so oft besonders die englische Presse verlangt
hat — lag thatsächlich nicht in seiner Macht.
Daß Rußland andererseits aber an der Besitzergreifung jener Gebiete nicht
auch ein sehr großes Interesse gehabt, daß es jene dort bestehenden Verhältnisse
nicht auch zu seinem Nutzen ausgekauft habe — das zu behaupten kann mir
natürlich nicht in den Sinn kommen. Es wäre weit über das Ziel hinaus¬
geschossen. Im Gegentheil, Rußland hat in der That ein großes Interesse
daran, in Mittelasien festen Fuß zu fassen, — und das liegt in seiner Handels¬
politik begründet.
Rußland ist — das wird selbst von russischer Seite zugegeben — als
Kulturstaat hinter den andern Großstaaten Europas zurückgeblieben. Es hat
trotz seiner enormen Anstrengungen, die es von Peter dem Großen an bis
auf den heutigen Tag gemacht hat, den Standpunkt jener noch nicht erreichen
können. Sein rastloses Vorwärtsstreben aber auf allen Gebieten des Staats-
Wesens, der Industrie, der Volkswirtschaft kann und darf nicht geleugnet
werden, wenn man uicht zu vollständig falschen Schlüssen gelangen will. Die
Fortschritte speciell während der Regierung des Kaisers Alexander II. liegen
klar zu Tage; ich erinnere nur an die fast zu Ende geführte Armeereorgani¬
sation, die vielleicht in nächster Zeit ihre Feuerprobe bestehen wird, an die
enorme Entwickelung des Eisenbahnnetzes. Die übrigen Großstaaten sind indeß
auch nicht stehen geblieben. Sind auch die Resultate ihrer Arbeit relativ ge¬
ringere, so ist doch die Summe ihrer Leistungsfähigkeit besonders in national-
ökonomischer Beziehung eine positiv größere als die Rußlands. Eine natur¬
gemäße Folge dieser Verhältnisse ist, speciell in merkantiler Beziehung, daß
uur Rußlands Naturproducte einen Exportartikel nach dem übrigen Europa
bilden können. Aber selbst auf diesem Gebiete erwächst ihm eine mächtige
Konkurrenz in Amerika. Handelt man doch jetzt schon amerikanischen Waizen
neben russischem; amerikanische Wollen und Rohleder gehen nach England und
Deutschland, ja amerikanisches Talg kommt sogar in Warschau auf den Markt,
alles Artikel, in denen bis dahin Rußland das Uebergewicht hatte. Und die
Konkurrenz Amerikas wird noch mit jedem Jahre zunehmen.
Die Erzeugnisse russischer Industrie, so groß deren Aufschwung auch in
der letzten Zeit ist, können natürlich gar keinen Markt in dein westlichen
Europa finden. Und selbst in dem eigenen Lande möchte ihnen in den west¬
lichen Fabrikaten eine Konkurrenz erwachsen, sowie der Rußland fast hermetisch
abschließende Schutzzoll fällt, wozu allerdings jetzt noch nicht die geringste
Aussicht vorhanden ist. — Zur Vertreibung seiner Erzeugnisse, seiner Fabrikate
bedarf der russische Handel indeß eines Marktes, — und dieser Markt kann
nur im Osten, in Asien liegen.
Schon seit Jahren hat der russische Handel gesucht, dorthin seine Waaren
abzusetzen. Dem Gesuche Peters des Großen schon, mit Chiwa in freund¬
schaftliche Beziehungen zu treten, lagen — wie bereits hervorgehoben —
wesentlich handelspolitische Motive zu Grunde. Es dauerte aber lange, ehe
diese Handelsbestrebungen sich verwirklichen ließen. Sie trafen auf große
Hemmnisse. Einmal führten die Handelsstraßen dnrch Steppen und Wüsten,
und dann hatten die Kaufleute nie die Garantie, daß ihre Karawanen auch
wirklich unberanbt an ihr Ziel gelangten. Ueberfälle, Beraubungen dnrch die
asiatischen Horden bildeten die Regel. Der russisch-mittelasiatische Handel war
somit fast zur Unmöglichkeit geworden. Wollte sich also die russiche Regierung
hier einen Markt schaffen — und daraus mußte sie bedacht sein — so lag
es wohl in ihrem unmittelbarsten Interesse, hier auch festen Fuß zu fassen,
dein Räuberunwesen ein Ziel zu setzen, geordneten und sicherm Zuständen Bahn
zu brechen.
Mit der einfachen Sicherung der Handelsstraßen, mit der bloßen Besitz¬
ergreifung jener Länder in Mittelasien ist es aber allein nicht gethan, um den
Handel dorthin zu einem blühenden zu machen. Die russischen Waaren müssen
verlangt werden, es muß Nachfrage danach sein.
Die Bedürfnisse eines Volkes stehen mit dem Grade seiner Bildung, mit
seiner höhern oder niedern Kulturstufe in unmittelbarer Wechselbeziehung. Je
kultivirter ein Volk ist, je mehr Bedürfnisse wird es haben. Aus rein mer¬
kantilen Rücksichten also schon, um seinen Kaufleuten Absatz zu verschaffen, ist
es eine unabweisliche Verpflichtung der Regierung Rußlands, nach den mittel¬
asiatischen Besitzungen Kultur zu tragen. Die civilisatorische Mission Rußlands
in Mittelasien ist also erst eine Folge seines Vordringens dorthin, ist in handels¬
politischer Beziehung geboten; — keineswegs aber liegt in ihr die sich dort
vollziehende Gebietserweiterung begründet. Eine solche Behauptung ist — wie
gesagt — eine leere, hohle Phrase.
Wir können aber noch weiter schließen. Da die Anfänge der Kultur eines
jeden Volkes auf einem geordneten Staatswesen beruhen, so hatte auch die
russische Regierung auf die Einführung eines solchen in ihren mittelasiatischen
Besitzungen ihr erstes Augenmerk zu richten. Und in der That ist ihr Streben
dahin, vom ersten Augenblicke ihrer Besitzergreifung jener Gebiete an, unver¬
kennbar hervorgetreten. Hatte bis dahin ein ewiger Wechsel der Dynastieen
stattgefunden, hatten neue Kronprätendenten neue Kriege gebracht, und war es
auch nicht einer Dynastie nnr im Entferntesten gelungen, auf die Dauer die
zügellosen Elemente der im Lande zerstreuten Nomadenhorden zur Ruhe zu
bringen, so hat Rußland dies Ziel in seinem Gebiete erreicht. Es hat — viel¬
leicht freilich nicht immer mit humanen Mitteln — Ruhe und Ordnung in
seinem Reiche hergestellt. Das ist aber die Basis für alles weitere. Glückt
es der Regierung ferner, die Nomadenbevölkernng zu einer mehr seßhaften
Lebensweise zu bringen, so wird auch die Einführung einer formellen Bildung
dort möglich, denn ein Staat mit überwiegender Nomadenbevölkerung möchte
kaum einer höhern Entwickelung fähig sein. In dieser Beziehung sind
schon Fortschritte zu merken: Kirgisen und Sarteu geben schon das Nomaden¬
leben mehr ans und treiben Ackerbau. Freilich die wildeu Söhne der Wüste
werden bleiben, was sie sind, bis zu ihrer gänzlichen Vernichtung.
Endlich hängt mit dieser Vorbedingung, der Einführung einer Kultur, noch
die Höhe der Einnahmen zusammen, welche Rußland aus seinen mittelasia¬
tischen Besitzungen ziehen kann. Je kultivirter das Volk dort wird, je mehr
werden die Producte jener keineswegs armen Natur gehoben und verwerthet
werdeu köunen. Wir sahen ja, mit was für einem Deficit die Verwaltung
Turkestans noch zu kämpfen hat. Wie wichtig ist also eine Aenderung zum
Bessern! —
Werfen wir nun einen Blick ans die militair-politische Situation Ru߬
lands in Mittelasien, so ist diese keineswegs eine günstige zu nennen.
Es tritt uns hier zuerst die so entfernte Lage des General-Gouvernements
Turkestan von dem eigentlichen Rußland entgegen, welche noch besonders da¬
durch in's Gewicht fällt, daß sich zwischen beiden weite Wüsten- und Steppen¬
strecken hinziehen, welche die Kommunieation aufs äußerste erschweren. Zwischen
Taschkend und Orssk am Ural beträgt die Entfernung ohngefähr 1800, zwischen
Taschkend und Ssemipalatinssk am Irtysch ohngefähr 1700 und sogar bis
Wiärnoje über 700 Werst.
Diese weiten Entfernungen machen sich um so mehr für die Situation Ru߬
lands in jenem neu eroberten Gebiete in ungünstiger Weise geltend, da dort
sich gar keine Mittel bieten, die Armee im Falle großer und allgemeiner
Operationen zu ergänzen und auszurüsten. Das neue Wehrgesetz, wonach
jeder Russe zum activen Dienste verpflichtet ist, hat bekanntlich vorerst noch
keine Anwendung auf die russische Bevölkerung Turkestans gefunden, obwohl
Berathungen darüber schon seit geraumer Zeit gepflogen werden. Die ein¬
geborene Bevölkerung ist ganz von der Dienstpflicht ausgeschlossen. In Folge
dessen muß Rußland, um z. B. die Truppen des Ssyr-darinsskischen Oblasstj's
zu ergänzen, jährlich an 3800 seiner Söhne dahin senden. Sie kehren größten
Theils nicht zurück, und gehen somit — da sie auch im Lande keine Mittel
finden, eine Familie zu gründen und sich fest anzusiedeln — für die russischen
Interessen fast ganz unproductiv verloren. Die Transportkosten für die Er¬
gänzungsmannschaften sind nach Hunderttausenden zu berechnen, und die Trans¬
portdauer ist nicht etwa nach Tagen, sondern nach Wochen, ja Monaten zu
bemessen. Drei bis vier Procent, wenn nicht mehr, müssen über den Rekruten¬
bedarf ausgehoben und abgeschickt werden, um nur die nöthige Anzahl an Ort
und Stelle zu bringen. — Da überhaupt im asiatischen Rußland sich weder
eine Geschütz-, noch eine Gewehr-, noch eine Pulver-Fabrik befindet, so bedarf
auch der materielle Theil der Kriegsmacht große Zufuhren an Waffen, Ge¬
schossen und Pulver. Ein Kanonenschuß, welcher in Taschkend abgefeuert wird,
kommt dem Staate allein an Transportkosten auf 10 Rubel zu stehen. Ueber¬
haupt kostet der Soldat in Asien nach einem Durchschnitte der Jahre 1868,
1869 und 1870 5 R. 56 Kop. mehr als der Soldat, welcher im europäischen
Theile des Reichs steht, und für welchen 95 R. 29 Kop. in Ansatz kommen.
In diesen Beziehungen wird aber der Bau der Anfang dieses Jahres von
der Regierung bestätigten sibirischen Eisenbahnlinie von Nijni-Nowgorod nach
Tjumen an der Tura von großem unberechenbarem Einfluß sein. Schon die
dadurch mit Rücksicht auf die Zeit bewirkte Verkürzung der enormen Ent¬
fernungen zwischen den Centren des Reichs und den westlichen Grenzgebieten
von Russisch-Asien muß vortheilhaft einwirke«. Weitertragende Folgen,
speciell für die Beziehungen Rußlands zu Mittel-Asien, wird indessen eine
Bahn haben, welche an jene sibirische Linie bei Jekaterinenburg anschließend
in südlicher Richtung über Tscheljawinssk am Mijas-Flusse über Troizk am Ul
nach Taschkend und Ssamarkand führt. Und dieses Project fängt schon an,
aus dem Kreise rein theoretischer Erwägungen herauszutreten und durch die
bereits auf Befehl des Geueral-Gouverneurs von Turkestan angestellten Vor¬
arbeiten eine praktische Gestalt anzunehmen. Seine allerdings auf große
Schwierigkeiten stoßende Ausführung dürfte wohl nur noch eine Frage der
Zeit sein.
Die ethnographischen Verhältnisse in dem neu eroberten Lande ferner
machen die Lage Rußlands dort zu einer äußerst schwierigen. Allen den
Fremdvölkern gegeuüber, welche im Laufe der Arbeit an uus vorüberge¬
gangen sind, bildet das russische Element nur einen sehr geringen Bruchtheil
der Bevölkerung überhaupt. Alle diese Völkerschaften sind Bekenner des Islam
und so an und für sich schon den Russen feindlich gesinnt. Vor allen sind
die Geistlichen, die nach Besitznahme jener Länder durch die Russen an Ein¬
fluß eingebüßt haben, und nun kein Mittel unversucht lassen, das Verlorene
wieder zu gewinnen, die größten Widersacher der Russen. Der Ulema, der
Weltgeistliche, fügt sich wohl noch; — der Ordensgeistliche bietet aber Alles
auf, um die Bevölkerung zu fanatischem Haß gegen Alles, was russisch heißt,
aufzureizen. Dazu kommt noch, daß die Muhamedaner noch lange nicht zu der
festen Ueberzeugung gelaugt sind, daß sie hier ans ewige Zeiten den Ungläubigen
Unterthan sind. Der Aufstand in Kokan hat uns gezeigt, wie hartnäckig ein
solcher Widerstand werden kann, wenn die fanatisirten Massen den „Hasawat",
den heiligen Krieg, kämpfen. Die bulgarischen Gräuel, das jetzt so beliebte
Stichwort in der Presse, geben uns ein Bild von dem, was die Russen zu er¬
warten hätten, erlangten jene mittelasiatischen Horden einmal das Uebergewicht
über dieselben.
Diese Rußland feindselige Gesinnung der Bevölkerung bedingt nothwen¬
digerweise eine Verzettelung der dort stehenden Truppen in eine Menge Garni¬
sonen, welche theils von den Russen angelegte, theils noch von den Bucharen
und Kokanzen erbaute befestigte Posten sind. Die Zahl dieser Befestigungen ist
ur ein Corps von circa 20,000 Mann, welche Stärke die Besatzung des General-
Gouvernements etwa hat, eine ziemlich große, so daß bei der Nothwendigkeit,
jene Punkte immer besetzt zu halten, kaum mehr als 6000—8000 Mann
feinem Geguer im offenen Felde entgegengestellt werden können. Für einen
Feldzug gegen Reiche, wie Buchara und Kokau, reicht eine solche Truppeuzcchl
allerdings aus. Thatsächlich haben sogar die russischen Kommandirenden in
den bisherigen Feldzügen über Truppe» verfügt, deren Stärke noch geringer
war; so z. B. hatte der General Perowski 1853 nnr cirea 3000 Mann zur
Disposition, während die Kokauder an 15,000 Maun stark waren; — Tscher-
najew besiegte 1865 mit 2500 Mann das 10,000 Mann starke Heer Alim-
kuls; — Romanowsli stand 1865 mit nur 3600 Maun 40,000 Bucharen
gegenüber; auch der General von Kanfman schlug die Schlacht bei Ssamar-
kand 1868 mit 4—5000 Mann gegen circa 8,500 Bucharen. — Schon der
Feldzug gegen Chiwa — 1873 — machte es aber doch nöthig, daß sowohl
vom Kaukasus wie auch aus Orenburg Verstärkungen herangezogen wurden.
Ich glaube indessen mit der Annahme nicht fehl zu greifen, daß die Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht für die russische Bevölkerung Turkestans eine wesent¬
liche Aenderung zum Bessern herbeiführen wird.
Die kleinen Garnisonen wirken indessen auch sowohl auf die Einheit der
ökonomischen Verwaltung der Truppen, wie auch auf deren Ausbildung auf
das Ungünstigste ein. Die Letztere besonders steht, wie in Rußland überhaupt,
mit der Disloeirung der Truppe» in unmittelbarer Wechselbeziehung: je con-
centrirter die Dislocation, je besser die Ausbildung. — Die Zusammenziehung
von Truppen zu einer nnr etwas größeren Expedition wird unter diesen Ver¬
hältnissen eine Zeit in Anspruch nehmen müssen, die oft wohl verhängnißvoll
werden kann. Nur der großen Energie des General-Gouverneurs von Kanf¬
man z. B. ist der rechtzeitige Entsatz Chodjents in dein Kriege gegen die auf¬
ständischen Kokanzen zu verdanken.
Die Nachbarschaft selbständiger mohamedanischer Staaten muß auch als
ein Moment hingestellt werden, das bei der Beurtheilung der militair-politischen
Situation Rußlands in Mittelasien wohl zu beachten ist. Die Bevölkerung
derselben gehört denselben Nationalitäten an, wie solche anch im russischen
Turkestan vertreten sind. Gegenseitige Beziehungen sind somit gar nicht zu
vermeiden, und Unruhen in den Nachbarreichen pflanzen sich nur gar zu leicht
fort, da zumeist in dieser Beziehung die politischen Grenzen eine reine Illusion
sind. — Die Bevölkerung der Nachbarreiche bekennt sich aber auch — und
das fällt ganz besonders in die Wagschaale — mit den neu erworbenen Unter¬
thanen Rußlands zu ein und derselben Religion: hier wie dort sind es Be-
kenner des Islam. Die Interessen des Mohamedanismus siud aber in allen
Ländern der Erde solidarisch. Der Koran bildet ein festes Band des Zu¬
sammenhanges zwischen hundert Millionen Menschen, zwischen einer Menge von
halb oder ganz barbarischen Staatengebilden in Asien und Afrika. Die Grund¬
lage dieses Zusammenhangs ist eine religiöse; seine Kraft das Feuer des
Fanatismus, das noch immer in seinen Bekennern lodert. Noch hente ist der
Großherr in Stambul alles der Nachfolger der Chalifen. Wir haben gesehen,
wie sich der Emir von Buchara, der Chan von Chiwa um Hülfe gegen die
Russen nach Konstantinopel wandten. Jacub-Bel, der Herrscher von Kaschgar,
sandte vor seinem jüngsten Kampfe mit den Chinesen Botschaft an den Sultan,
in der er demselben seine Huldigungen darbrachte und für seinen Glanbeus-
kampf die Segnungen Allahs erflehte. Die thatsächliche Schwäche des Be¬
herrschers der Gläubigen ändert an dieser Zusammengehörigkeit nichts, ja die
augenblicklich bedrängte Lage desselben möchte solche vielleicht erst recht stärken.
Schon hört man wieder von Gährungen unter den Turkmenen, speciell durch
die augenblickliche Lage des Sultans veranlaßt. Wie nahe liegt also die Mög¬
lichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß — wenn es zu einer Katastrophe auf der
Balkan-Halbinsel kommt — anch im Osten, in Mittelasien, sich die gewaltsamsten
Zuckungen in dem Verhältnisse Rußlands zu jenen Reichen fühlbar machen
werden?! — Es bedarf der schärfsten Maßregeln, um die Aufregung nieder¬
zuhalten, und Humanitätsprincipien kann Rußland — wie es so oft von ihm
verlangt wird — in seiner gefahrvollen Lage nicht adoptiren.
Die bedeutendsten und nächsten Nachbarn Rußlands in Mittelasien sind
jetzt Chiwa, Buchara und Kaschgar.
Das erstere — Chiwa — hat in jüngster Zeit den wuchtigen Arm Ru߬
lands gefühlt. Seitdem beugt es sich dem Willen des Letzteren, seine Selbst--
Ständigkeit ist nicht viel mehr als ein bloßer Schein. Allerdings werden jetzt
— wie schon oben erwähnt — Nachrichten über Ereignisse laut, welche das
Verhältniß zu Rußland leicht wieder in andere Bahnen lenken könnten. Die
Bevölkerung Chiwas soll mit der Regierung des Chans und dessen russen¬
freundlicher Politik unzufrieden sein. Die Nomaden sollen wiederholt Em¬
pörungen versucht haben. Bewahrheitet sich dies Gerücht, was nur zu wahr¬
scheinlich ist, so wird Rußland wieder den Umständen weichen und wieder das
Schwert in die Wagschaale werfen müssen. Es ist dann sehr fraglich, ob es
selbst diesen Schein von Selbständigkeit dem Chan lassen kann, oder ob es
nicht geradezu gezwungen wird, die Verwaltung selbst in die Hand zu nehmen,
das Land ganz zu annectiren. Es ist das ein ganz drastischer Beleg für
meine ausgesprochene Behauptung, daß Rußland durch die Verhältnisse in
Mittelasien mehr getrieben wird, als selbst treibt, und daß die Annectirung
des rechten Ann-darja-Ufer eine gebotene war.
In Buchara scheint eine den Russen wirklich wohlwollende Politik Platz
gegriffen zu haben. Die wesentliche Unterstützung der Russen Seitens des
Emirs während der Chiwa-Expedition möchte dafür wohl Zeugniß ablegen.
Und doch bedarf es vielleicht auch bloß eines Anstoßes von außen, und Ru߬
land findet auch dort die fanatischsten Gegner.
Gewiß trifft auch heute noch zu, was der „Goloß" damals vor dem
Chiwa-Kriege in einem Aufsatze „Unsere Beziehungen zu den mittelasiatischen
Charaden" ausgesprochen hat: „Es glauben bei uns viele—heißt es dort —
in vollem Ernste an jene Verträge; sie glauben an die Möglichkeit, daß inter¬
nationale Beziehungen mit den mittelasiatischen Herrschern bestehen können...
Speziell in Asien haben Verträge nicht die geringste Bedeutung. In Asien
achtet man nur die Macht: ist solche vorhanden, so werden unsere Forderungen
auch ohne das Bestehen von Verträgen erfüllt; ist keine Macht vorhanden,
so helfen auch Verträge nichts." „Nicht weniger irrthümlich" — fährt der
„Goloß" dann fort— „sind die Redensarten von den freundschaftlichen Gefühlen,
welche die benachbarten asiatischen Charade zu uns hegen. Abgesehen von
dem muhamedanischen Fanatismus, von welchem die mittelasiatischen Herrscher
durchdrungen sind, und welcher von der Geistlichkeit im Volke unterhalten
wird, darf auch nicht außer Acht gelassen werden, daß wir im Laufe der letzten
8—9 Jahre ihnen den größten Theil ihrer Gebiete fortnahmen und sie aus
unabhängigen Herrschern ersten Ranges zu solchen zweiten Ranges, ja fast zu
Vasallen gemacht haben. Wir täuschen uns nicht, sowohl die Herrscher wie
anch ihre Unterthanen hassen uns; wenn auch erstere sich bisweilen als unsere
Freunde stellen, so geschieht dies doch nur, weil sie jetzt durch die Umstände
dazu gezwungen sind."
Dadurch, daß jetzt nun auch Kokan dem russischen Reiche einverleibt ist,
wurde auch Kaschgar ein unmittelbarer Grenznachbar des Letzteren. Früher
im chinesischen Besitze, gelang es deck jetzigen Herrscher Inland-Bel in Folge
der Wirren des dnnganischen Aufstandes als Führer der Truppen Kokans im
Jahr 1864 die Fahnen des Islams auf den Mauern von Kaschgar aufzu¬
pflanzen. Jacub hat es aber verstanden, Chudvjar-Chan von Kokan bald in
den Hintergrund zu drängen und sich zum selbständigen Herrscher von Kasch¬
gar zu machen. Seine Herrschaft ist jetzt in Ost-Tnrkeswn unumschränkt und
sogar ganz populär.
Da das Gebiet — wie gesagt — früher zu China gehörte und Letzteres
auf Grund eines am 2. November 1860 zu Peking abgeschlossenen Vertrages
Rußland das Recht eingeräumt hatte, im Gebiete Kaschgar Handel treiben und
selbst Consuln halten zu können, — so wurde Jacub-Bel als Usurpator der
Rechte Chinas von Rußland auch angehalten, den von demselben über¬
nommenen Verpflichtungen nachzukommen. Nur unter dieser Bedingung sollte
er als Herrscher von Kaschgar anerkannt werden. Es kostete indessen doch
große Mühe, Jacub willfährig zu machen. Erst am 8. Juni 1872 kam end-
lich ein Vertrag zu Stande, auf Grund dessen nunmehr alle Märkte des kasch-
garischen Gebiets dein freien Handelsverkehr der russischen Kaufleute geöffnet
sind. Eine dorthin abgesandte russische Gesandtschaft eröffnete Jacub Bel in
Folge dessen, daß eine Wiederherstellung der chinesischen Macht in jenen Ge¬
bieten nicht im Plane Rußlands liege. Jacub antwortete darauf, indem auch
er einen Gesandten nach Petersburg entsandte. Gleichzeitig suchte er aber auch
eine Anlehnung an England, das sich nicht weniger um seiue Freundschaft be¬
warb. Die englisch-indische Regierung suchte besonders deshalb mit Kaschgar
in gute Beziehungen zu treten, um ans den Märkten Ost-Turkestans die Herr¬
schaft der englischen Waaren zu befestigen und um aus diesem Laude in poli¬
tischer Beziehung eine Schutzmauer zu bilden.
Sollte Rußland in Zukunft einmal mit Kaschgar in Verwickelungen ge¬
rathen, so dürfte es den Sieg ungleich theurer erkaufe» müssen, als dies bei
der Niederwerfung Kvkcms, Bucharas, ja auch Chiwas der Fall war. Es liegt
dies einmal in der geschützten Lage Kaschgars, indem die es einschließenden
hohen Gebirge nur auf einigen wenigen Pfaden zu überschreiten sind, und
dann auch darin, daß Jacub-Bel bei weitem bessere Truppen zur Disposition
hat, als die Herrscher jener Reiche. In letzterer Beziehung ist ihm die Un¬
terstützung Englands wesentlich zu statten gekommen. Es gelang Jacub uicht
blos, erfahrene Jnstructenre, sondern auch Waffen aus Jndien zu erlangen.
Und ob ihm bei einem Zusammenstoße mit Rußland nicht England noch that¬
kräftigere Hülfe gewähren würde, das dürfte wohl nicht ohne weiteres verneint
werden. —
England hat von je her — wie schon öfters im Laufe meiner Arbeit her¬
vorgehoben — das stete Vorschreiten der Russen in Mittelasien mit Mißtrauen
betrachtet und mit wachsender Eifersucht auf deren Annäherung an den obern
Ann-darja und besonders an den Hindukusch geblickt. Die Warnungsrufe der
englischen Presse , welche jetzt augenblicklich allerdings den Ereignissen auf der
Balkan-Halbinsel ihre ungetheilte Aufmerksamkeit zuwendet, haben die mittel¬
asiatische Frage zwischen den beiden Großmächten fast zu einer brennenden ge¬
macht. Alle bezüglichen Artikel liefen immer auf das Eine hinaus, daß jede
Bewegung Rußlands in Mittelasien das Interesse Englands bedrohe und
schädige! Auch bei uns ist diese Ansicht wohl die verbreiteste, auch bei uns
wendet .man sich im Allgemeinen gegen Rußland. Ist es denn aber nur
irgendwie gerechtfertigt, Asien lediglich als die Domäne Englands zu betrach¬
ten? Liegen denn dem Vorgehen Rußlands dort wesentlich andere Beweg¬
gründe zu Grunde, als sie bei der Eroberung Indiens durch England ma߬
gebend waren? Schreitet Rußland nach Süden vor, so sucht England seinen
Einfluß im Norden seiner Besitzungen geltend zu machen. Su choim Jahre
1843 versuchte England über den Indus zu gehen, um den Russen am Hin¬
dukusch zuvorzukommen. Im Jahre 1857 schloß es einen Vertrag mit dem Emir
von Kabul, in welchem es sich zur jährlichen Zahlung von 120,000 Pfund Ster¬
ling verpflichtete, wenn der Emir eine Armee von 10,000 Mann hielte, die
zum Widerstande gegen die Russen geeignet wäre. Später kam England dann
auf die Idee, durch directe Verhandlungen mit Rußland zwischen den russischen
und englischen Besitzungen in Asien ein neutrales Gebiet zu constituiren, das
eine direkte Berührung beider Reiche verhindern solle. Die bezüglichen Ver¬
handlungen begannen kurz vor dein Chilva-Kriege. Afghanistan schien diesem
Zwecke zu entsprechen, und deshalb einigten sich beide Regierungen darüber,
ihren ganzen Einfluß auf die benachbarten Staaten zu verwenden, und jede
Berührung oder Schwächung dieser Zwischenzone zu verhindern. Bei der ge¬
nauen Abgrenzung derselben kam es aber zwischen den beiden Cabineten zu
Meinungsverschiedenheiten: Englaud bezeichnete uümlich die Provinz Badak-
schan mit Wachau als zum rechtmäßigen Besitze schir-Ali-Chans, des gegen¬
wärtigen Herrschers von Afghanistan, gehörig; — Rußland glaubte dagegen
dem nicht beistimmen zu können. Besonders der General von Kaufman machte
geltend, daß schir-Ali keinen Anspruch auf die Provinz Badakschan zu machen
habe; der gesetzliche Herrscher sei vielmehr Dschaugir-Chan. — Englischer Seits
suchte man nun den Beweis anzutreten, daß die Provinz Badakschan mit dem
Bezirke Wachau kraft des Erobernngsrechtes dem schir-Ali zuzusprechen sei,
zumal sich ihm anch die Häupter der Bevölkerung auf das Formellste unter¬
worfen hätten. Daraufhin erließ der Reichskanzler Fürst Gortschakow unter
dein 19. Januar 1873 eine Depesche des Inhalts: „Mit Rücksicht auf die
Schwierigkeiten, welche eine Feststellung aller Einzelheiten der Thatsachen in
diesen entfernten Ländern hat, mit Rücksicht auf die größere Bequemlichkeit,
über welche die britische Regierung in Betreff des Sammelns genauer Nach¬
richten verfügt, mit Rücksicht endlich auf unsern Wunsch, dieser, eine unbedeu¬
tende Einzelheit berührenden Frage nicht eine größere Bedeutung zu geben,
als ihr gebührt, weigern wir uns nicht, die von England vorgeschlagene Grenz¬
linie zuzulassen. Wir sind um so eher zu diesem aeto ü« eourtoisis geneigt,
als die englische Negierung sich verpflichtet, ihren ganzen Einfluß auf Schir-
Ali zu gebrauchen, um ihn zur Aufrechterhaltung des Friedens und zur Ent¬
haltung vou allen Angriffen oder ferneren Eroberungen zu veranlassen. Dieser
Einfluß ist unbestreitbar. Er beruht nicht blos auf der materiellen und mo¬
ralischen Ueberlegenheit Englands, sondern auch auf den Subsidien, welche
schir-Ali erhält. Unter solchen Umständen sehen wir in diesem Versprechen
eine wirkliche Garantie des Friedens." —
Diese neutrale Zone, englisch „upper Oxu» 8ta,es" genannt, so wie über¬
haupt das Verhältniß Englands zu Rußland findet eine Beurtheilung in dem
Werke: „Ein Versuch eines militärischen Ueberblicks über die Grenzen Ru߬
lands in Asien." Der Autor dieses Werkes, der russische Artillerie-Oberst
Wenjukow*), wirkliches Mitglied der k. russischen geographischen Gesell¬
schaft zu Petersburg, ist eine Autorität in Bezug ans die asiatischen Angelegen¬
heiten Rußlands; — und dürfte es somit vielleicht nicht uninteressant sein,
wenn ich die eigenen Worte desselben hier noch folgen lasse: „Wenn die
Engländer nicht wünschen" — schreibt Wenjukow — „daß wir durch unser
Erscheinen am Indus Hindostan aufrührerisch machen, haben wir mit
nicht wenigerem Grunde das Recht zu verlangen, daß der politische
Einfluß der Engländer unter den Bewohnern Turkestans vollständig auf¬
höre. Das neutrale Gebiet ist aber danach angethan, namentlich zu einer
dieser Erscheinungen zu führen. Das ist der Grund, weshalb die Theorie des
«uxxer Oxus 8wee", ja auch eines Vasallen Englands, unter keiner Bedin¬
gung unsererseits zugelassen werden kann, um so weniger, da die Engländer mit
der Abhängigkeit von Afghanistan noch nicht zufrieden, anfange», Kafiristan
ihrer Macht unmittelbar zu unterstellen. Es liegt übrigens unter allen Um¬
ständen klar zu Tage, daß früher oder später die beiden Mächte — Nußland
und England — an der einzigen natürlichen Grenze, dem Hindukusch, in
gegenseitige Berührung kommen. Erfolgt diese Berührung auf friedliche Weise,
so verspricht sie für die ganze Welt große und wohlthätige Folgen. Wenn
aber eine der beiden Mächte durch unmäßige Forderungen, durch eine unauf¬
richtige Haltung oder durch irgend welche andere Effecte die gerechte Unzu¬
friedenheit der anderen erregt, so ist das Resultat ein Krieg, dessen verheerende
Folgen schwer vorauszusehen sind. Heben wir nur hervor, daß schon jetzt die
Engländer, um sich für den Erfolg in diesem Kriege möglichst große Chancen
zu schaffen, ihre Wacht über den Indus hinaus ausdehnen, und offen sagen,
daß nicht ostindische Truppen, sondern eine turkmenische Reiterei, von ge¬
schickten Offizieren geführt, Indien gegen Rußland vertheidigen wird."
Ein besonderer Vorzug des Staatsbahnsystems in Beziehung auf die
Eigenthumsverhältnisse liegt darin, daß das Eisenbahnnetz rationeller aus¬
gebaut werden kann, daß folglich entbehrliche Concurrenz vermieden und da¬
durch Nationalkapital erspart wird. Das herrschende System der Concessio-
nirung verhütet zwar, daß Concurrenzbahnen dicht bei parallelstehenden angelegt
werden können. Hingegen verhindert es nicht, daß Eisenbahnen gleicher Rich¬
tung in solcher Entfernung angelegt werden, daß sie immer noch in einem ge¬
wissen Grade concnrrenzfähig bleiben. Der Nachtheil, welchen die längere
Linie gegenüber der kürzeren wegen der höheren Fracht erleidet, Pflegt dann
durch Differentialtarife ausgeglichen zu werden, welche, wie wir weiter unter
sehen werden, große Ungerechtigkeiten gegen die lokale Bevölkerung mit sich
bringen. Wir wissen, daß die Concurrenz, d. h. die echte freie Concurrenz
vieler Produzenten, wo solche möglich ist, allerdings eine bessere Bedienung
des Publikums zur Folge hat. Dieß kann aber keineswegs von der Concurrenz
der Eisenbahnen behauptet werden, welche der Natur der Sache nach in ihrem
Wettbewerb ans höchstens zwei oder drei Linien beschränkt bleiben muß. Denn
solche industrielle Wettkämpfe endigen, wie die ältere Erfahrung in Großbritannien
gelehrt hat, doch stets zuletzt mit der Verabredung der Concurrenten zum Nach¬
theil des Publikums. In manchen Fällen, wo die Anlegung einer zweiten
Concurrenzbahn gar nicht durch die Bedürfnisse des Verkehrs geboten war,
hat sie geradezu eine Kapitalvergeudung zur Folge, welche anderen rentableren
Erwerbszweigen die Betriebsmittel schmälert. Auch aus diesem Grunde hat
das Staatsbahnsystem einen großen Vorzug, weil der Staat sich mit den
vorhandenen Linien begnügen kann, so lange sie für den bestehenden Verkehr
ausreichen, weil er erst dann zur Anlage einer neuen Bahn in derselben
zu schreiten braucht, bis die alte mit zwei Geleisen versehen und nach und
nach vollkommen besetzt ist. Auch in der todten Last wird ans diese Weise
gespart und dadurch eine bessere Ausnutzung des Betriebsmaterials herbeige¬
führt. Diese ökonomische Zurathehaltung des Kapitals drückt auf den Zins¬
fuß und hat deshalb die Folge, daß die Betriebsmittel der anderen Industrie¬
zweige geschont werden, daß die Produktion stärker genährt wird, welche
dann rückwirkend auch den Eisenbahnen einen reichlicheren Personen- und
Güterverkehr zuführt.
Was den Eisenbahnbetrieb betrifft, so liegen die Vortheile des größeren
Umfanges des Betriebs auf flacher Hand, dem System der Staatsbahnen ge¬
bührt also auch in dieser Beziehung der Vorzug, insofern sie ein größeres
Netz umfassen, als jede der Privatbahnen, mit welchen sie verglichen werden
können. Insofern ergiebt sich auch ein Vortheil der Reichsbahnen vor den
einzelnen Staatsbahnen. Wir sind nicht gewillt, alle die mannigfachen Uebel¬
stünde des gegenwärtigen Eisenbahnbetriebs im deutschen Reiche mit seinen
ca. 70 selbständigen Verwaltungen und seinen 500 verschiedenen Tarifen auf's
Neue bis in's Detail zu verfolgen oder zu wiederholen, was bereits in den
preußischen Motiven oder in den Schriften von Maybach und Weizmann an
Unzuträglichkeiten dieser vielköpfigen Verwaltungen nachgewiesen ist. Wir
wollen nur einige Hauptpunkte hervorheben, in welchen der Reichsbetrieb den
Vorzug verdient. 1) Das ganze Betriebsmaterial wird mehr nach überein¬
stimmenden Mustern fabrizirt, so daß wie bei den amerikanischen Nähmaschinen
jeder Theil derselben Gattung von Wagen an jedem einzelnen Wagen ver¬
wendet werden und bei nöthigen Reparaturen ausgewechselt werden kann. Da¬
durch wird nicht nur Zeit gespart, sondern auch Kosten, weil Einzelrepara¬
turen viel theurer siud, als wenn die Stücke im Großen fabrizirt und blos
ausgewechselt werden. Ferner wird eine bessere Ausnützung der Wagen be¬
wirkt, weil dieselben nicht so lange zur Reparatur leer stehen. Zwar ist der
Verein der deutschen Eisenbahnverwaltungen ans Anregung des preußischen
Handelsministers bemüht, die im französischen Krieg gemachten Erfahrungen
auszunutzen, da nämlich während desselben durch die Verschiedenheit des Ma¬
terials häufige Verzögerungen eingetreten waren, so sucht man Nvrmal-
schablonen für das Untergestell der Güterwagen, sowie auch für die Persvnen-
wagen und Loevmvtiven zu vereinbaren. Allein bis alle diese Vereinbarungen
zum Ziel geführt haben, pflegt eine so lange Zeit zu verstreichen, daß gerade
dadurch der Vorzug des größeren Compler.es erwiesen wird. Nicht blos da¬
durch indessen, daß jede einzelne Schraube am ganzen deutschen Wagenpark
auf jeden einzelnen Wagen paßt, würde das Reichseisenbahnsystem den Vorzug
verdienen, sondern auch dadurch, daß gewisse technische Verbesserungen rascher und
leichter eingeführt werden können. In neuester Zeit behaupten z. B. hervor¬
ragende englische Ingenieure, daß bei den Güterwagen sämmtlicher Eisenbahnen
eine gewisse Verschwendung dadurch herrsche, daß dieselben bloß aus Rücksicht
auf die schwerste Last gebaut werden, nämlich so, daß jeder einzelner Güter¬
wagen die für sein Kaliber bestimmte schwerste Last soll tragen können. Die
Folge davon ist, daß der größte Theil der Güterwagen, weil er weniger als
die schwerste Beladung hat, nicht bloß überflüssigerweise zu schwer gebaut ist,
mehr Holz und Metall enthält als nöthig ist und daher theurer zu stehen
kommt, sondern daß sie auch mehr todte Last, als absolut erforderlich ist,
führen und dadurch den Kohlenverbranch steigern. Es ließen sich daher an
der Construction der Güterwagen zweierlei ökonomische Verbesserungen an¬
bringen: erstens, indem man das Eisen durch Stahl ersetzt; wegen seiner
größeren Zähigkeit und Dauerhaftigkeit genügt ein geringerer Gewichtstheil
von Stahl für denselben Zweck, und es wird dadurch nicht bloß eine Erspar-
niß in den Herstellungskosten erzielt, sondern auch in den Betriebskosten durch die
Verminderung der todten Last. Zweitens: wenn man mehrere Gattungen von
Wagen für schwere und leichte Lasten baut, so können die Letzteren anch viel
leichter im Holz construirt werden. Ein englischer Ingenieur glaubt dadurch
eine Verminderung der todten Last um ungefähr 25°/„ erzielen zu können. Eine
kleine Eiseubahngesellschaft ist nun allerdings nicht so gut im Stande, eine
solche Verbesserung zu adoptiren, weil sie keine zu große Auswahl von Güter¬
wagen halten kann und fürchten muß, daß ihr zu oft welche leer steheu
bleiben; der große Complex hingegen kann die Wagen der verschiedenen Ka¬
liber viel besser nach den Bedürfnissen der einzelnen Gegenden vertheilen und
dadurch sowohl in den Anschaffung^- wie in den Betriebskosten größere Er¬
sparnisse erzielen.
Auch durch das bessere Ineinandergreifen der Züge und die bessere Aus¬
nützung der Wagen muß beim Reichseisenbahnsystem die todte Last bedeutend
vermindert werden. Es besteht allerdings jetzt schon der Brauch, daß die
Wagen fremder Gesellschaften so viel als möglich wieder beladen an den Ur-
sprnngsvrt zurückgeschickt werden. Allein in Zeiten der Verkehrsstockung lassen
die Eisenbahnverwaltungen natürlich lieber die fremden Wagen leer zurückgehen
und beniitzen ihre eigenen. Durch dieses Leerlaufeil werden aber sowohl die
Wagen stärker als nöthig abgenützt, als anch mehr Brennmaterial als nöthig
verbraucht. Maybach berechnet, daß z. B. von den Güterwagen auf deu
preußischen Eisenbahnen im Jahr 1874 nur "/z beladen und '/z unbeladen
gefahren sind, und daß, wenn nur die Hälfte dieser Leerfahrten hätte vermieden
werden können, eine Ersparnis; von ungefähr 33 Millionen Mark hätte erzielt
werden können.
Auch die Vereinfachung der Verwaltung namentlich des Transpvrtdienstes
würde bedeutende Ersparungen mit sich bringen, weil einesiheils die Zahl der
Jnstratirungen ermäßigt werden und bei der Güterversendung alle jene Um¬
wege vermieden würden, welche jetzt nur durch Differentialtarife aufrecht erhalten
werden. Wenn Güter kraft der Letzteren einen Umweg von 10 oder 20 Meilen
machen können, so ist natürlich der ans diesem Umwege gemachte Mehrverbranch
an Kohlen und Betriebsmaterial hinausgeworfen. Dazu kommen noch die
militärischen Rücksichten. Ju dieser Beziehung verdienen die nachfolgenden
Worte eines Fachmannes über die Erfahrungen im deutsch-französischen Kriege
Beachtung: „In dem Kriege mußte die Verwaltung der Eisenbahnen, obendrein
in Feindesland, von einem Beamtenheere geführt werden, wie es vielgestaltiger
und bunter bis in die kleinsten Einzelheiten des Dienstes nicht gedacht werden
kann und mit einem Betriebsmaterial, das in seinen Abweichungen hunderte
von Verschiedenheiten auswies und alle Augenblicke unbrauchbar wurde, weil
nöthige Reparaturen nicht sofort beseitigt werden konnten, sondern erst Ersatz¬
stücke aus der Heimath beschafft werden mußten. Die Schwierigkeiten, unter
solchen Umstünden eine einheitliche Verwaltung zu schaffen, die nicht nur den
Ansprüchen unserer Kriegsleitung zu folgen vermochte, sondern anch die noth¬
wendigsten Verkehrsbedürfnisse der ohnehin von dem Kriege hart betroffenen
Bevölkerung berücksichtigte, sind ans der Ferne kaum zu bemessen. Um nur
ein Beispiel anzuführen, sei erwähnt, daß die in Weißenburg errichtete, später
nach Straßburg verlegte Betriebseommission, deren Linien von Weißenburg
nach Nancy, Basel, Dijon und Dole reichten, ihren Personalbedarf von 42
verschiedenen Verwaltungen entlehnt hatte, von denen nnr bei 8 darunter be¬
findlichen Staatsbahnverwaltungen in Organisation und Dienst Ueberein¬
stimmung bestand. Welches Vortheiles erfreute sich dagegen die einheitlich und
auf den Krieg organisirte Telegraphie und Post. Es fehlte bei den Bahnen
an Allein, was zur Einheit nöthig ist, mit Ausnahme der unermüdlichsten
Dienstfreudigkeit und Pflichttreue — uicht eine Instruction war vorhanden,
selbst Karten fehlten."
Was den Tarif betrifft, so sind wir keine Anhänger des Wagenraum- und
Cvllotarifs, weil derselbe uur einzelne Klassen auf Kosten des Ganzen be¬
günstigt, und weil derselbe entweder zu einer allgemeinen Erhöhung des Tarifs
nöthigt, oder zu einem Deficit im Ertrag führt. Wir gehören auch keineswegs
zu denjenigen, welche sich von dem System der Reichsbahnen eine allgemeine
Ermäßigung der Tarifsätze versprechen. Allein wir erwarten davon eine Be¬
seitigung der Härten der Differentialtarife, der Mißhandlung des Lokalverkehrs,
weil das Gesammtnetz nicht genöthigt ist, die Concurrenz auf Tod und Leben
zu führen, wie einzelne Gesellschaften. Es sollte in Zukunft die Anomalie
nicht mehr vorkommen, daß ganze Eisenbahnwagen von Berlin nach Straßburg
geringere Fracht zahlen als von Berlin nach Mainz. Gerade gegenwärtig hat
man die beste Gelegenheit, im Verkehr zwischen Dentschland und Oesterreich zu
studiren, zu welchen Auswüchsen die Differentialtarife führen. Es ist erst
kürzlich in einer Denkschrift des industriellen Clubs zu Wien nachgewiesen
worden, daß die Fracht von New-Castle in England nach Pest billiger zu
stehen kommt, als von Aussig in Oesterreich nach Pest. Wie ich aus sicherer
Quelle weiß, ist die chemische Fabrik in Aussig gegenwärtig genöthigt, Seil-
düngen, die nach Pest bestimmt sind, erst in's deutsche Reich auszuführen, um
sie dort der nächsten Hauptstation für Pest zu übergeben. Aehnliche Anomalien
kommen auch innerhalb des Landes vor. Eine Kiste von gleichem Gewicht,
die auf der Südlmhu von Trieft nach Wien 12 si. kostet, hat von Trieft über
Wien nach Paris nnr si. 7 zu zahlen!
Wir glauben hiermit genügende Gründe für die Vorzüge des Staatsbahn-
systems aufgeführt zu haben, ohne uns in Einzelheiten einzulassen, welche nur
den speciellen Fachmann interessiren können. Auch haben sich die Argumente,
welche bis jetzt gegen das Staatsbahnsystem vorgebracht worden sind, als so
schwach erwiesen, daß man erst wieder Gründe hören müßte, um sich zu neuen
Erörterungen darüber veranlaßt zu sehen. Merkwürdigerweise sind gerade die
zwei gewappnetsten Gegner der Reichsbahnen Anhänger des Staatsbahnsystems,
nämlich Moritz Mohl und Freiherr von Varnbüler. Principiell ist aber
eigentlich, nachdem man den Vorzug des Staatsbahnsystems anerkannt hat,
nichts mehr gegen die Reichsbahnen vorzubringen, denn was für das Erstere,
gilt nicht auch nicht bloß für die Letzteren, sondern das Reichsbahnsystem stellt
ebenso gut eine höhere Ordnung her gegenüber dem der einzelnen Staaten, wie
das Staatsbahnsystem gegenüber dem Privatbahnsystem. Jene beiden tüch¬
tigsten Gegner des Reichseisenbahnsystems kämpfen eigentlich nnr für die Er¬
haltung des Staatseiseubahnbesitzes in Würtemberg, Baden, Baiern und Sachsen
und zum Theil mit Gründen, welche eine aufmerksame Beachtung verdienen.
Die Berechnung des eventuellen Kaufschillings, welcher für die deutschen Eisen¬
bahnen vom Reich zu erlegen wäre und mit welcher Freiherr von Varnbüler
vor dem Kauf abzuschrecken sucht, scheint uns freilich gar nicht begründet. Er
verwendet Elemente zur Berechnung des Kaufschillings, welche nicht zum Rein¬
ertrag gehören. Wenn nämlich der Reinertrag als Basis dieser Berechnung
angenommen wird, dann ist noch festzustellen, welche Periode zur Berechnung
des Durchschnittes des Reinertrags gewühlt werden soll, und welcher Maßstab
für solche Bahnen gelten soll, die zu kurz errichtet sind, um schon eine solche
Periode aufweisen zu können. Wir haben schon früher erwähnt, daß die letzten
fünf Jahre des Betriebs, welche in dem preußischen Expropriationsgesetze fest¬
gesetzt sind, eine zu kurze Frist, sind, um den Reinertrag richtig zu bemessen,
weil diese fünf Jahre leicht in Perioden außerordentlichen Aufschwunges oder
außerordentlichen Niederganges fallen können und dann das zur Basis ge¬
nommene Reinerträgniß in dem einen Fall den Käufer, in dem andern Fall
den Verkäufer benachtheiligen würde. Um sicher zu gehen, müßte eine so lange
Periode dem Durchschnitt des Reinertrags zu Grnnde gelegt werden, daß die
Zeiten des Auf- und Niedergangs sich ausgleichen. So weit die Erfahrungen
und geschichtlichen Aufzeichnungen über die Bewegung des Handels reichen,
kann man aber zu einer einigermaßen sicheren Berechnung keine kürzeren als
20-jährige Perioden annehmen. Da nun mehr als die Hälfte der Eisenbahnen
kürzeren Datums ist, so scheint uns überhaupt diese Dnrchschnittsberechnung
des Reinertrags lange nicht so viel Garantien der richtigen Beurtheilung zu
bieten, als der Durchschnitt des Börsenkurses. Der Marktpreis ist uuserer An¬
sicht nach die sicherste Schätzung des wahren Werthes, wenn er in einem solchen
Durchschnitt genommen wird, daß die durch die Tagesspeeulation hervorge¬
brachten kleinen Schwankungen ausgeglichen werden. Denn bei der Herstellung
des Börseukurses wirken nicht bloß die competentesten Richter mit, sondern auch
alle betheiligten Interessenten der beiden einander entgegengesetzten Richtungen.
Das Interesse pflegt aber stets die schärfsten Angen zu haben und alle Elemente
der Preisbildung mit dem größten Scharfsinn aufzuspüren und zu beurtheilen.
Unter den Interessenten sind der Verkäufer und der Kaufliebhaber repräsentirt.
Dieselben haben längst alle Verhältnisse der Eisenbahnen studirt; sie stützen
sich bei ihrem Urtheil und ihrer Schätzung nicht bloß ans den Reinertrag,
sondern auch auf die Art und Weise, wie für die Erhaltung und Erneuerung
der Bahn gesorgt wird, welcher Puukt für den Käufer der wichtigere Faktor
der Schätzung sein muß, während für den Verkäufer natürlich der Reinertrag
maßgebend ist. Aus dem Durchschnittsergebniß der Schätzung dieser beiden
Faktoren bildet sich der richtige Marktpreis. Deshalb ist der Börsenkurs uach
einem angemessenen Durchschnitt derjenige Preis, welcher dem wahren Werthe
am nächsten kommt. Der Reinertrag ist, abgesehen von dem schon oben an¬
gegebenen Bedenken, auch deshalb ein unsicherer Maßstab, weil die Sorge für
die Erhaltung und Erneuerung der Bahnen nicht bei allen Verwaltungen die¬
selbe ist. Wir haben dies bereits oben an einem eclatanten Beispiele gesehen.
Weit entfernt, die Frage von dieser Seite zu beleuchten, begnügt sich Freiherr
v. Varnbüler nicht einmal mit dem Reinertrag, sondern zieht anch noch einen
Theil der Erneueruugskosteu als Elemente der Berechnung des Kaufschillings
der Eisenbahnen herein. Offenbar ist dieses Verfahren aber nicht zulässig.
Der Eigenthümer eines Gutes kann unmöglich den zur ordnungsmäßigen Er¬
haltung und Erneuerung desselben nothwendigen Aufwand mit als Faktor zur
Berechnung des Kaufschillings verwenden. solle es überhaupt geschehen, so
kann derselbe nur als Element zur Beurtheilung des Reinertrags dienen, in¬
sofern nämlich, als dieselbe Höhe des Reinertrages bei zwei Bahnen in Wirk¬
lichkeit einen ganz verschiedenen Werth repräsentiren kann, je nachdem die Eine
ihren Ernenernngsfonds gut, die Andere schlecht versorgt hat. Zum Reinertrag
können diese Ausgaben nicht gezählt werden. Ueberhaupt kann als Reinertrag,
wie er zur Basis der Werthschätzung einer Eisenbahn dienen soll, nnr derjenige
Ueberschuß der Einnahmen über die Ausgaben anerkannt werden, welcher als
Zins und Dividende an die Eigenthümer vertheilt wird. Dadurch fällt aber
das ganze Gebäude der Argumentation, welches v. Varnbüler aufgeführt hat,
um zu beweisen, daß das Reich einen Kaufschilling von 10 Millionen Mark
zahlen müßte, d. h. eine Summe, deren Verzinsung durch den gegenwärtigen
Reinertrag nicht gedeckt sein würde, so daß das Reich genöthigt wäre, noch
ans Staatsmitteln darauf zu zahlen. Wie auch die Schätzung des Werthes
und die Art der Eigenthumsübertragnng vorkommenden Falls eingerichtet werden
möchte, so viel glauben wir fast wie ein Axiom hinstellen zu dürfen, daß das
Reich als Kaufschilling in Gestalt von Reichseisenbahn-Obligationen nicht mehr
zu zahlen genöthigt sein kann, als es mit dem gegenwärtigen Reinertrag zu
verzinsen vermag.
Die Wertschätzung der Eisenbahnen ist nur in dein Falle schwierig, wo
eine Bahn erst so kurze Zeit dem Betrieb übergeben ist, daß der Reinertrag
noch nicht seine normale Grenze erreicht haben kann und der Börsenkurs der
Aktien unter dem verhültnißmäßigen Antheil am Baukapital steht. Um für
solche Fälle zu sorgen, könnte man sich vielleicht damit helfen, daß nnter ge¬
wissen Voraussetzungen dem Verkäufer die Wahl gelassen wird, ob er den
Betrag des Börsenkurses oder des Baukapitals als Kaufschilling zu beziehen
wünscht. Wir müssen uns auf diese Andeutung beschränken, da ein näheres
Eingehen auf diese Frage zu weit abführen würde.
Ein noch weniger stichhaltiger Einwand Varnbülers betrifft die eventuelle
künftige Rentabilität der Reichsbahnen. Derselbe schließt aus dem Umstände,
daß die Reichsbahnen in Elsaß-Lothringen die höchsten Betriebsausgaben und
den geringsten Reinertrag haben, daß auch künftig die deutschen Eisenbahnen
in Händen des Reiches einen sehr schlechten Ertrag ergeben und die Finanzen
des Reichs ruiniren würden, während gegenwärtig gerade die Eisenbahnfinanzen
der süddeutschen Staaten nichts zu wünschen übrig lassen. Herr v. Varnbüler
unterläßt aber dabei zu bemerken, daß die großen Kosten und der schlechte
Reinertrag der Eisenbahnen des Reichslandes von zwei Ursachen herrührt,
welche bei dem Gesammtnetz der Eisenbahnen wegfallen würden. Die erste
Ursache ist die, daß man ans politischen Gründen ans den elsaß-lothringischen
Eisenbahnen ungewöhnliche Erleichterungen bewilligt hat, welche den Grund¬
sätzen des rationellen Betriebes zuwiderliefen. Die zweite Ursache war die
Einführung des Collo- und Wagenraumtarifs. Seit diesem Experiment hat
sich anch die Reichsregierung überzeugen können, daß man bei der Eisenbahn-
Tarifirung die Klassification der Waaren nach dem Werthe nicht entbehren
kann, weil ohne dieselbe, wenn die Waaren nach einer Schablone tarifirt
werden, zweierlei Fülle sich denken lassen. Will die Verwaltung einen solchen
Frachtertrag beziehen, daß sie keinen Schaden hat, so muß sie den Tarifsatz
so hoch stellen, daß die geringerwerthigen Waaren des allgemeinen Vervrauchs
bedeutend höher als gegenwärtig taxirt werden. Will die Verwaltung dies
aber nicht, dann erhält sie einen großen Ausfall, welcher aus anderen Mitteln
gedeckt werden muß. Die Reichsregierung würde sich also wohl hüten, den
Collo- und Wagenraumtarif auf sämmtlichen Bahnen einzuführen. Es ist viel¬
mehr anzunehmen, daß sie dieses System auch auf den Bahnen im Reichsland
wieder aufheben wird, sobald man sich einmal über die Grundsätze der künftigen
einheitlichen Tarifeinrichtung geeinigt haben wird, wozu die Beschlüsse der
Tarif-Enquete-Conferenz als ganz brauchbares Material dienen können.
Gewichtiger ist der Einwand von Moritz Mohl, welcher auf die Thatsache
hinweist, daß die preußischen Staatsbahnen bis jetzt einen geringeren Ertrag
abgeworfen haben, wie die Privatbahnen und die Staatsbahnen Süddeutschlands.
Da die künftigen Reichsbahnen, wie es in der Natur der Dinge liegt, dieselbe
Verwaltung wie die preußischen Staatsbahnen erhalten würden, so würde
das deutsche Eisenbahnnetz in Zukunft daher einen geringeren Ertrag abwerfen
als bisher. Die Mittelstaaten würden daher nicht bloß der Gefahr ausgesetzt
werden, daß die Ueberschüsse ihrer gut rentirendeu Bahnen dazu verwendet
würden, die ärmeren Gegenden Norddeutschlands mit Eisenbahnen auszustatten,
sondern daß sie nach ihrem Antheil an den Reichsfinanzen auch noch dazu
beitragen müßten, den etwaigen Ausfall der Reichsbahnen zu decken. Dieser
Einwand verdient in der That Berücksichtung, obgleich dabei auch der Grund¬
satz beachtet werden muß, daß der Vortheil, einem großen, mächtigen, geachteten
und gefürchteten Staatsorganismus anzugehören, auch natürlich gewisse Pflichten
im Gefolge habe» muß. Die genannten Eventualitäten werden jedenfalls einen
Gegenstand der Unterhandlung bilden müssen, sobald mit dein Uebergang der
Eisenbahnen an das Reich Ernst gemacht werden sollte. Dann wird ja das
erste Bedenken schon durch die angemessene Festsetzung des Kaufschillings be¬
seitigt werden können. Die zweite Besorgniß ließe sich etwa durch eine Art
Garantie bannen, welche doch bloß nominell sein würde, denn es ist mit
Sicherheit vorauszusehen, daß die Eisenbahnen in Zukunft einen höheren und
nicht einen geringeren Ertrag abwerfen werden. Es darf nämlich nicht ver¬
gessen werden, daß die Ursache der geringeren Rentabilität der preußischen
Staatsbahnen uicht in einem Fehler der Verwaltung liegt, sondern in dein
Umstände, daß Preußen erst in einer Periode zu der Errichtung, beziehungs¬
weise Erwerbung von Staatsbahnen kam, als Privatbahnen erster Klasse bereits
das Fett abgeschöpft hatten. Die guten Bahnen werden daher auch in den
Händen der preußischen oder der Reichsverwaltung ebenso gut als bis jetzt
rentiren, wahrscheinlich aber aus den bereits angeführten Gründen noch besser.
Wir halten es aber nicht einmal für erforderlich oder wünschenswert!), die
Mittelstaaten zur Uebergabe ihrer Staatsbahnen an das Reich zu zwingen;
denn da dieselben an sich schon große Complexe umfassen und gut verwaltet sind,
so können mit ihnen dieselben ökonomischen und militärischen Zwecke auch durch
eine angemessene Reichsanfsicht und Einfügung in das Reichsnetz erzielt werden.
Mit der Zeit werden es die Mittelstaaten vielleicht in ihrem eigenen Interesse
finden, freiwillig ans diese selbständige Verwaltung zu verzichten, indem sie
nacheinander den Betrieb und das Eigenthum an das Reich abtreten, wenn
es sich zeigen sollte, daß dieses mit seinem größern Complex doch im Stande
ist, den Betrieb billiger zu führen, so daß die Obligationen des Kaufschillings
eine bessere Reute abwerfen würden, als der wirkliche Reinertrag ihrer Staats¬
bahnen in eigener Verwaltung. Vorläufig genügt es also vollständig, wenn
das Reich nur die preußische» Staatsbahnen und die deutschen Privatbahnen
erwirbt.
Es bleibt nun noch zu untersuchen, ob diese Maßregel auf dem Wege
freien Kaufvertrages oder auf dem der Expropriation erfolgen foll. Man
darf sich keinen Illusionen darüber hingeben, daß der Weg des freien Kaufver¬
trages alle Leidenschaften der Börsenspekulanten entfesseln würde, die bekannt¬
lich in der Wahl ihrer Mittel nicht verlegen sind. Man muß sich uur er¬
innern, wie es bei der Gründung der meisten Privateisenbahnen zugegangen
ist. Es ist ein offenes Geheimniß, daß schon bei der Erwerbung der Con-
cession bei den meisten Eisenbahnen in allen Ländern gewisse Geschäfte gemacht
zu werden Pflegten, welche eigentlich gesetz- und pflichtwidrig sind, aber mit
dem Schleier milder Nachsicht bedeckt werden. Fast überall erhielten nämlich
einflußreiche Personen für die Ausmittlung der Concession Werthgeschenke, zum
größten Theil von sehr hohen Beträgen. Man nennt heute noch in manchen
Ländern die Summen und deutet mit den Fingern auf die Personen, welche
plötzlich aus nicht offenen Gründen reich geworden sind. Dies ist auch noch
einer der Gründe gegen das Privatbahnsystem, welche wir oben nicht mit angeführt
haben. Nun sind wir freilich von der Characterfestigkeit der oberen Reichsbe¬
hörden zu vollkommen überzeugt, um glauben zu können, daß sie irgend einem
eigennützigen Einfluß zugänglich sein konnten, allein die Werkzeuge, mit denen
sie zu thun haben, die Experten, die Umgebung werden nicht alle aus Heiligen
bestehen, und es wird da ohne Zweifel ein gewisser Spielraum zur Corruption
von Staatswegen eröffnet. Nun kommen dazu alle die künstlichen Mittel,
welche die Interessenten der Bahnen in Begegnung setzen werden, um den Werth
höher erscheinen zu lassen, als er ist. Soll der Börsenkurs zur Basis gelegt
werden, dann wird man im Augenbick, wo der Entschluß feststeht, die Curse
der Aktien mit allen künstlichen Mitteln zu steigern suchen. Wird der Rein-
ertrag zu Grund gelegt, so wird man diesen so hoch als möglich zu berechnen
suchen. Zu diesem Zweck wird man an den Verwaltuugs- und um den Er-
neneruugskosten so viel als möglich zu sparen suchen, man wird alle irgend
entbehrlich Angestellten entlassen und die Schienen, Schwellen, Wagen und
Locomotiven so wenig als möglich erneuern, sondern bis auf's Aeußerste aus¬
nützen. Dadurch würde aber nicht blos der Künfer über den wahren Werth
der Eisenbahnen getäuscht, sondern auch die Sicherheit und das Leben des
Publikums in einer Art gefährdet, welche nicht verantwortet werden könnte.
Wenn sich die Reichsbehörden durch alle diese Machinationen auch über den
wahren Werth der Bahnen nicht täuschen ließen, so könnten sie das Unglück
doch nicht wieder gut machen, welches durch Eisenbahnunfälle hervorgerufen
würde, die durch eine solche Verlotterung des Materials verursacht würden.
Wir müssen uns schon aus diesen Gründen allein für den Weg der Ex¬
propriation erklären. Demselben steht in Preußen allerdings das oben er¬
wähnte Gesetz im Wege, weil dasselbe einen zu schwankenden und unbilligen
Maßstab der Entschädigung festgesetzt hat. Denn bei einer Expropriation im
gegenwärtigen Augenblick würden die guten . Bahnen einen unbillig hohen
monopolistischen Entschädigungspreis erhalten, während die schlechten zu sehr
verkürzt würden. Man wird in dieser Beziehung eben abwarten müssen, bis
eine solche 5-jährige Betriebsperiode verflossen ist, in der keine solche abnorm
hohen Betriebsergebnisse vorkommen, wie in den Jahren 1870—72. Wartet
man z. B. bis zu dem Augenblick, wo die Betriebsergebnisse des Jahres 1877
vorliegen, so wird der 5-jährige Durchschnitt wahrscheinlich eine bedeutend ge¬
ringere Summe darstellen. Vielleicht kann der Reichsregiernng auch eine
alternative Befugniß ertheilt werden, so daß sie zuerst den Weg des freien
Kaufvertrages versuchen und zuletzt den der Expropriation beschreiten kann,
wenn Ersterer kein Resultat gehabt hat. Die Fehler der früheren preußischen
Eisenbahnpolitik treten eben überall hindernd in den Weg. Dies ist aber kein
Grund, dieselben in Ewigkeit fort zu ertragen, sondern vielmehr ein Motiv,
denselben so bald als möglich ein Ziel zu setzen, wenn es auch nicht ohne
Opfer abgeht.
Die Ueberschrift ist eum Zrano salis zu nehmen. Gemeine sind die
Mysterien der althellenischer Welt und die Geheimbünde, die jene Bräuche und
Lehren neben der allgemeinen Volksreligion fortpflanzte«. Nicht gemeint ist
damit, was früher ziemlich allgemein und noch vor Kurzem in manchem Kreise
der Freimaurerei angenommen wurde, daß nämlich die Mysterien ein Glied
in der Entwickelung der Letzteren gewesen seien. Noch vor nicht sehr langer
Zeit, in den Tagen, wo die Schelling'sche Philosophie blühte, wo auch die
„profane" Wissenschaft an eine UrWeisheit der Menschheit glaubte und Mangel
an geschichtlichem Sinne auf dem Gebiete der alten Culturwelt vielfach Phan¬
tasiespiele gestattete, liebte man es, die Anfänge der Masonei in das höchste
Alterthum zu verlegen. Namentlich geschah dieß in den Logen selbst, wo man
die „Königliche Kunst" zu ehren vermeinte, wenn man sie für eine solche aus¬
gab, bereu Leben nach Jahrtausenden zählte. So warf man ohne Bedenken
alles, was in der antiken Welt und dann im Mittelalter einige Aehnlichkeit
mit den geheimen Bräuchen und Lehren der Maurerei erkennen ließ, mit dieser
in einen Topf. Die Vereinigungen der ägyptischen Priester, die Pythagoräer,
die jüdischen Essäer, die Templer wurden allen Ernstes für Erscheinungen au¬
gesehen oder wenigsten erklärt, die Stufen in der Herausbildung des Ordens
oder Bundes bezeichneten. Auch die griechischen Mysterien und die Genossen¬
schaften, die sich um sie gruppirten, sind in diese Fabelküche hineingezogen worden.
Wir brauchen nicht zu beweisen, daß dieß in der That Aberglaube und
ungeschichtliche Betrachtung der Dinge ist. Wenn wir gleichwohl für unser
Thema den Titel „Altgriechische Freimaurerei" wählten, so mag sich derselbe
vor denen, welche Kenntniß von masonischen Ceremonien und Doctrinen haben,
dnrch die folgende Mittheilung rechtfertigen. Wir haben, wie gezeigt werden
wird, in den Mysterien eine der Maurerei verwandte Erscheinung vor uns,
wenn anch mit nichten eine blutsverwandte, keine solche, in der irgend eins
von den jetzt existirenden Systemen, nach welchen maurerisch „gearbeitet" wird,
gleichsam das Denken und Thun seiner Ahnen zu erblicken hätte. Sie beruhten
auf der Sehnsucht und dem Streben, neben der Volksreligion ein Höheres zu
gewinnen, mehr Reinheit der Seele zu erwerben und mehr vom Geheimniß
des Jenseits zu erfahren, als die profane Welt zu gewähren schien; sie ver¬
banden die Wissenden zu einer nach Außen abgeschlossenen Genossenschaft, und
sie waren, wie schon ihr Name sagt, zum großen Theil von Geheimniß um¬
hüllt. Das ist so ziemlich alles, worin sie dem Organismus der Freimaurerei
bis zu einem gewissen Grade ähneln. Ein Meuschheitsbuud, der keinen Unter¬
schied der Völker und Religion kennen soll, waren sie nicht. Ebenso wenig
standen sie mit ihren Bestrebungen abseits vom Staate und den Göttern des
Landes. Endlich existirt zwischen den Mysterien der Tage, wo Perikles und
Platon lebten, und den Mysterien der Loge kein Zusammenhang der Art, daß
jene ans die Gestaltung dieser irgend welchen natürlichen Einfluß gehabt hätten.
Wir kommen jetzt zur Darstellung unseres Gegenstandes in den Einzeln¬
heiten, wobei wir uns theils Schömann, theils Duncker anschließen und ge¬
legentlich auch Prellers Meinung hören werden. Es gab in der althellenischer
Welt verschiedene Mysterien, je nach den Gottheiten, die ihren Mittelpunkt
bildeten. Auf der Insel Scunothrake gruppirten sie sich um die geheimnißvollen
Kabiren, Götter oder Dämonen, deren Kultus von den phönizischen Ein¬
wanderern der Urzeit eingeführt worden war. Durch ganz Griechenland ferner
waren die gleichfalls im Geheimen arbeitenden Logen der Orphiker verbreitet,
welche als ihren Stifter den fabelhaften Dichterheros Orpheus verehrten und sich
an aus dem Orient nach Hellas verpflanzte Vorstellungen anlehnten, die in der
Hauptsache auf eine Erbsünde des aus der Asche der götterfeindlichen Titanen
entsprossenen Menschengeschlechts, auf einen zur Büßung der alten Schuld noth¬
wendigen Kreislauf der Seele durch irdische Leiber, einen seligen Zustand der
so Geläuterten in einem besseren Leben und ans die Forderung hinausliefen, der
Reinigung und Verklärung durch religiöse Weisen, durch Einhaltung von
Fleischkost und Bohnen, dnrch Waschungen, Gebete n. dergl. zu Hülfe zu kommeu.
Als später, uach Alexander dem Großen, der Dienst der ägyptischen Isis in
Griechenland Eingang gefunden hatte, knüpften sich an deren Tempel geheimni߬
volle Feste mit wundersamen Sühnungen, Symbolisirungen und Offenbarungen,
an denen nur Eingeweihte theilnehmen durften. Andentungen, wie es dabei
zuging, giebt uns ein Wissender, welcher zu Korinth in die Verbrüderung auf¬
genommen worden war. „Höre", sagt er vorsichtig, „aber glaube, was davon
wahr ist. Ich betrat das Gebiet des Todes, überschritt die Schwelle der
Unterweltsgöttin, wurde durch alle Elemente hindurchgeführt. Daun zurück¬
gekehrt, sah ich um Mitternacht die Sonne im hellsten Glänze; ich sah Götter
des Himmels und der Unterwelt gegenwärtig und betete sie in nächster Nähe
an. Hiermit habe ich dir gesagt, was du, obwohl du es gehört hast, doch
nicht begreifen darfst. Nun aber tönt ich dir berichten, was ich ohne Sünde
anch den Uneingeweihten mittheilen darf. Der Morgen war angebrochen, und
nach Vollendung heiliger Gebräuche trat ich vor, angethan mit zwölf leinenen
Behängen. Dann mußte ich mitten im Tempel auf eine Bühne steigen, die
vor dem Bilde der Göttin errichtet ist. Mich schmückte ein buntgeblümtes
Gewand von feiner Leinwand, von meiner Schulter bis zu den Fersen herab
wallte ein prachtvoller Mantel mit Thierbildern in verschiedenen Farben, in¬
dischen Drachen und nordlündischen Greifen. Dieser Mantel hieß der olympische
Ueberwurf. In der rechten Hand trug ich eine Fackel, auf dem Haupte eine
Krone von Palmenzweigen, deren Blätter gleich Strahlen hervorstanden. Dann
fiel ein Vorhang, und ich wurde der versammelten Menge sichtbar. Dann
folgte ein Festmahl, gleichsam zur Geburtsfeier meiner Einweihung, und am
dritten Tage wurde mit ähnlicher Feierlichkeit und einem frommen Festmahl
das Ganze beschlossen."
Wir unterlassen es, auf diese Mysterien, so interessant sie sind, näher ein¬
zugehen, um Raum zu ausführlicher Schilderung derjenigen zu behalten, welche
unter allen die erste Stelle einnehmen, der eleusinischen Mysterien,
die sich an den Dienst der Demeter, der Persephone und des Bakchos oder,
wie er in der Sprache dieser geheimen Gottesdienste hieß, des Jakchos an¬
lehnten.
Die Erde ist in allen Naturreligionen ein Bild des Wechsels der Dinge
auch im Menschenleben. Im Frühling mit seinen grünwerdenden Bäumen und
seiner aufsprießenden Saat erblickt der sinnende Geist Geburt und junges Leben
überhaupt; die Zeit der versengenden Sonnengluth, der Ernte und des Winters
ist ihm mit ihren Erscheinungen das Gebiet des Todes, des Zurückweichens
alles Gewachseueu und Gebornen in die Tiefe, in das Grab. Aus der Erde
gekommen, wie das Getreide, geht der Mensch nach Verlauf seines Lebens in
die Erde zurück, um — so ahnte man später — wieder zurückzukehren an das
Licht. Die göttlich gedachte Erde war sein immer offenes Grab, aber auch
seine ewige Mutter in dieser Zeit der Erhebung über die unterste Stufe re¬
ligiösen Empfindens, Phantasirens und Denkens. Auch bei den Griechen war
es so, und darum hatte die Art von religiöser Anschauung, welche mit der Zeit
zu den soeben genannten Geheimdiensten und ähnlichen Culten führte, die Ver¬
ehrung der Erde und ihres Lebens zum Mittelpunkte. Das Charakteristische
an den Mysterien ist, wie Preller mit Recht bemerkt, das Sentimentale, das
Ekstatische, Mystische, eine Stimmung, welche mit heftiger Erregung des Ge°
müthes und jähem Wechsel von Lust und Schmerz verbunden und der an¬
deutenden Naturoffenbarnng mehr wie jede andere aufgeschlossen war. „Das
Göttliche wurde überwiegend als Geheimniß und Wunder aufgefaßt, das man
schweigend hinnehmen müsse und uur in leisen symbolischen Andeutungen ver¬
gegenwärtigen könne. Diese Symbole ließen die emportreibenden und schaffenden,
wie die zerstörenden Kräfte des Lebens der Erde mit denen des menschlichen
Entstehens und Vergehens, seiner geschlechtlichen und sittlichen Entwickelung
zusammenfallen und wiesen in inhaltreichen Analogien ans sie hin."
In uralter Zeit war in Eleusis, einer Stadt vier Wegstunden von Athen,
die geehrteste Gottheit Demeter, die Personification der Erde als Mutter der
Dinge, mit ihrer Tochter Kore, welche den Gedanken der alljährlich nenergrnnenden
und im Herbst wieder verschwindenden Vegetation verkörperte. Dieses Kommen,
Gehen und Wiederkehren von Land und Gras wurde vom unbewußt dichtenden
Volksgeist in die Mythe verwandelt, daß die Tochter der Demeter von Pluton
dem Beherrscher der Unterwelt, geraubt und von der Mutter lange vergebens
gesucht worden, bis sie endlich zurückgekehrt sei, und hieran knüpften sich jeden,
Frühling und Herbst festliche Bräuche, bei denen das Volk von Eleusis unter
Führung seines Adels diese Mythe dramatisch darstellte. Dieselben waren also
anfänglich ein rein agrarisches Fest. Als aber Athen Eleusis eroberte, es seinen?
Staatswesen einverleibte und jenen Cultus ebenfalls in letzteres aufnahm, erhielt
derselbe, indem der Unsterblichkeitsglaube sich im Lauf der Zeiten heraus¬
bildete und feste Umrisse annahm, einen wesentlich andern Inhalt und mit
demselben höhere Bedeutung. Die Ackergöttin Demeter und deren Tochter
wurden in Beziehung zum Tode und dein Wiederaufleben nicht blos der
Natur, sondern auch der Menschen gebracht, Persephone, die zur Gemahlin des
Todtenkönigs gewordene Kore, und deren Sohn Jakchos traten an ihre Seite,
und die Feste, mit denen man sich diese Gottheiten und ihr Verhältniß zur
Welt der Menschen vergegenwärtigte, wurden zu beinahe völlig andern, sie
wurden reicher und tiefer, und sie wurden geheim oder wenigstens in ihren
wichtigsten Theilen nnr den Eingeweihten zugänglich. Die Götter der Unter¬
welt, auf die sie sich jetzt fast ausschließlich bezogen, waren düstere, unheimliche
Mächte, denen man sich nnr mit Zagen und von schützenden Bräuchen umgeben
nahen durfte, und deren Dienst dem Lichte und Leben des Tages fern bleiben
mußte. Es bedürfte also fortan der Weihen für die, welche zu den eigentlichen
Mysterien, die mit dem alten Ackerbanfeste verschmolzen waren und dessen
Hauptbestandtheil bildeten, Zulaß zu finden begehrten. Indeß wurden den
Suchenden keine großen Schwierigkeiten gemacht. Man nahm nicht nnr Bürger
von Attika auf, sondern auch Sklaven von griechischer Abstammung, ferner
Hellenen jedes Stammes und Staates und später auch Römer. Nur Bar¬
baren sollten ausgeschlossen sein; doch kamen anch in Betreff der letzteren Aus¬
nahmen vor, wie zu Solons Zeit der Skythe Anacharsis und unter Augustus
der Inder Zarmarus, indeß mußten dieselben vorher das ätherische Bürger¬
recht erwerben. Wer zur Theilnahme an den Mysterien zugelassen werden
wollte, hatte sich an einen schon eingeweihten Athener zu wenden, der ihn
einem der mit der Prüfung der sich Meldenden betrauten Priester vorstellte
und ihn, wenn er diese bestanden, über alles weiter zu Beobachtende unterwies.
Wer sich ohne die dann folgenden Weihen empfangen zu haben in die Heilig-
thümer von Eleusis eindrängte, wurde ebenso wie der, welcher sich gegen die
dort verehrten Gottheiten verging, und der, welcher die Mysterien Profanen
verrieth, gerichtlich angeklagt und verfolgt; denn er gab mit solchem Frevel
Veranlassung, daß die Todesgötter dem Staate grollten. Der Oberpriester, von
dem sogleich die Rede sein soll, konnte den Fluch über den Frevler und sein
Geschlecht aussprechen, und bei besonders schweren Fällen trat dazu die Hin¬
richtung desselben und die Confiscation seines Vermögens.
Die Sorge für die äußere Anordnung der Mysterienfeier gehörte zu den
Obliegenheiten des Beifilms, des zweiten der neun Archonten, welche Athen
regierte». Die oberste Leitung der Feste selbst hatte der Hierophant in der
Hand, der immer aus dem alten eleusinischen Geschlechte der Eumolpiden und
zwar auf Lebenszeit gewählt wurde, und dem eine Hierophantis zur Seite
stand; denn auch Frauen durften an diesen gottesdienstlichen Versammlungen
theilnehmen. Beide zeigten den Geweihten die geheimnißvollen Heiligthümer
dieses Kultus und hatten die liturgischen Gesänge anzustimmen. Andere Be¬
amte waren der Keryx, der die Gemeinde durch deu herkömmlichen Ruf zur
Andacht aufzufordern, die Gebete vorzusprechen und bei den Opfern zu helfen
hatte, der Daduchos oder Fackelträger, dann ein Funetionür, der griechisch
o s?re /Sen^P, der auf dein Altar, hieß, ein Jakchagogos, von dessen Pflichten
wir später hören werden, und ein Hydranos, der bei den Waschungen und
Reinigungen der Eingeweihten zu thun hatte, sowie verschiedene niedere Mi¬
nistranten, zu denen noch Sänger und Musiker kamen. Alle höheren Beamten
gehörten wie der Hierophant und die Hierophantis eleusinischen Adelsge¬
schlechtern an.
Das Ganze der Mysterien bestand aus zwei auf einander bezüglichen
Festen. Das erste derselben, die sogenannten „kleinen Mysterien", wurde im
Monat Anthesterion, der unserm Februar entspricht, in der athenischen Vor¬
stadt Agrä am Ilissos begangen, wenn dieser Bach seine volle Strömung
hatte und die ersten Blumen blühten. Es galt vorzugsweise der zu ihrer
Mutter zurückkehrenden Kore, doch wurde dabei auch eine den Dionysos oder
Jakchos betreffende mystische Feier vorgenommen, mit welcher sich eine auf
dessen Geburt bezügliche Darstellung verbunden zu haben scheint. Endlich fehlte
es dabei nicht an allegorischen Beziehungen auf Tod und Leben und ver¬
schiedenen Sühnungen und Reinigungen, zu denen man das Wasser des be¬
nachbarten Baches verwandte, und deren sich der Sage nach zuerst Herakles
bedient haben sollte. Mit diesen Sühnungen und Reinigungen galten die
kleinen Mysterien als Vorbereitungen ans die großen, zu denen nur die Zu¬
tritt fanden, die in jene eingeweiht worden waren. Sie waren also gewisser¬
maßen, wenn wir freimaurerisch reden sollen, Arbeiten im ersten oder Lehr¬
lingsgrad. Die in sie Eingeweihten hießen „Mystü"; zum zweiten Grade be¬
fördert wurden sie erst bei den großen Mysterien desselben Jahres, und die
Weihe zum dritten Grade, zu „Schauenden", griechisch Epoptü, durfte nicht
eher als bei den großen Mysterien des nächsten Jahres stattfinden.
Die Feier der „großen Mysterien," begann um die Mitte des Boedromion,
der mit unserm September zusammenfällt, und dauerte wahrscheinlich neun
Tage. Der erste derselben hieß Agyrmos, der Tag der Versammlung, indem
sich an ihm auf eine Bekanntmachung des Basileus hin, die zugleich alle Un¬
berechtigten, alle mit Blutschuld Befleckten und alle mit Ehrlosigkeit Belasteten
ausschloß, die Mysten in der StvaPoikile, einer großen, mit Gemälden geschmückten
Halle am Markte von Athen, zusammenfanden, vermuthlich um zunächst ein
Opfer zu bringen. Am folgenden Tage zogen, nachdem auch der Hierophant
alle Unreinen mit herkömmlichen Spruche von der Theilnahme am Feste weg¬
gewiesen, die Mysten auf den Ruf des Keryx: ,"^«<s-, M<5t«t/" —An's
Meer, ihr Geweihten! — nach der nahen See, wo sie eine vorbereitende Waschung
vornahmen und Reinigungsopfer von Ferkeln brachten, die vorher ebenfalls
in der heiligenden Salzfluth gebadet worden waren. Die folgenden zwei
oder drei Tage brachte man noch in Athen zu, indem man sich nach den
Heiligthümern der Gottheiten begab, denen die Feier galt, und dort verschiedene
Andachtsübungen vollzog, von denen wir indeß nichts Bestimmteres wissen.
Am 20. Boedromion brachen die Geweihten in feierlicher Procession von
Athen nach Eleusis ans, um hier die Hauptaete des Festes zu begehen. Das
Bild des Jankndos wurde aus seinem Tempel in Athen geholt, um, vom Jak-
chagogos getragen, und begleitet von der Schaar der Mysten, auf der heiligen
Straße den beiden in Eleusis weilenden Göttinnen zugeführt zu werden. Dieses
Götterbild trug eine Fackel. Alle Geweihten waren festlich geschmückt, mit
Myrthenzweigen bekränzt und dnrch Fäden von safrangelber Farbe, die sie um
den rechten Arm und den linken Fuß gewunden hatten, von den Profanen
unterschieden. Letztere durften dem Zuge folgen, aber nicht in ihm mitgehen.
Tausende vou Mysten und Epopeen füllten an diesem Tage die heilige Straße,
und da der zurückzulegende Weg reichlich zwei Meilen betrug und man an
mehreren der an ihm liegenden Heiligthümer anhielt, um gottesdienstliche Aete
zu vollziehen, so werden die letzten Theilnehmer am Zuge nicht vor Einbruch
der Nacht vor ihrem Endziele angelangt sein. Dieses war das (beiläufig erst
nach den Perserkriegen erbaute und sehr stattliche) „Telesterion" oder Weihe¬
haus, wo die meisten der eigentlichen mystischen Handlungen stattfanden, ein
Tempel mit einen: Hofe, der ein unregelmäßiges Fünfeck von 387 Fuß Länge
und 328 Fuß Breite bildete und mit einer doppelten Mauer umgeben war.
Das Erste war nun wahrscheinlich, daß man das mitgebrachte Bild des
Jankndos in den Tempel zu den ihm verwandten eleusinischen Göttinnen brachte.
Die Festaete der folgenden Tage mit einiger Genauigkeit zu beschreiben, sind wir
außer Stande, da die alten Maurer, wenn wir die Mysten so nennen dürfen,
das Gelübde der Geheimhaltung ihres Wissens im Ganzen besser zu bewahren
wußten wie die modernen, über deren Ceremonien und Lehren die profane
Welt mehr als zur Genüge bildlich und schriftlich unterrichtet ist. Indeß
dürfen wir nach den Andeuinugen alter Schriftsteller annehmen, daß sie sehr
mannigfaltiger Art waren, daß sie theils mit fröhlichen Gesängen und ver¬
zückten Tänzen, theils mit feierlichem Ernst und andächtiger Sammlung be¬
gangen wurden, und daß sie theils innerhalb der Mauern des Tempelhofes,
theils im Telesterion, also unter Dach, vielleicht selbst unter der Erde, theils
aber auch draußen vor dem Heiligthume stattfanden, wo dann die Höhen von
den Gesängen wiederhallten und die Wellen der eleusinischen Bucht von den
Fackeln erglänzten. Was wir im Folgenden sonst noch über diese Vorgänge
sagen werden, wolle man im Stillen mit einem „es scheint so" oder „wie
man vermuthen darf" begleiten.
Zunächst wurden abermals Waschungen und Opfer vorgenommen. Dann
hörte man den herkömmlichen Reden und Sprüchen der Priester zu, durch
welche die Mysten des ersten Grades in den zweiten aufgenommen, aus Ge¬
weihten in schauende verwandelt wurden. Sie hatten dafür der Demeter
ein Schwein darzubringen, und der Priester vollzog jene ihre höhere Weihe
dadurch, daß er ihnen eine Purpurbinde reichte.
Die weiteren Gebräuche des Festes bestanden zunächst in einer Vorführung
der Schicksale, welche Demeter erfahren, als ihre Toaste Kore ihr im Herbste
vom Gotte der Unterwelt entführt worden war. Die Festgenossen trauerten
laut wehklagend mit der Göttin und suchten mit ihr das verlorene Kind.
Fackeln in den Händen, schweiften sie über die Berge und durch die Thäler bei
Eleusis. Sie sahen am Wege von hier nach Megara den „Stein der Trauer",
wo Demeter „ohne zu lächeln" gesessen hatte, und daneben den „Blumen¬
brunnen", von andern der „Schönreigenbrunnen" genannt, wo die Töchter des
Keleos die betrübte Mutter gefunden hatten, als sie um Wasser zu schöpfen
erschienen waren. Sie enthielten sich der Speise und des Trankes, wie De¬
meter in ihrem Kummer gethan. Sie erblickten in der Nähe der Stadt, nicht
weit vom Flusse Kephissos, die Kluft, aus welcher Pluton hervorgebrochen
war, um die junge Gattin in die Nacht hinabzureißen. Zuletzt wurde auch
der Vorgang dargestellt, wo Demeter, nachdem Jambe, die Magd des Keleos,
sie durch ihre Possen aufgeheitert, den ihr von der Königin Metanira darge¬
botenen Kykeon getrunken und so zum ersten Male seit ihrem Verluste wieder
etwas genossen hatte. Mit Andacht trank man zuerst jenen Kykeon, ein Ge¬
misch aus Mehl und Wasser, der mit Pökel und andern Zuthaten gewürzt
war, dann konnte man andere Speisen und Getränke zu sich nehmen, doch
waren gewisse Nahrungsmittel und Genüsse für die heilige Zeit verboten.
Ans diesen Schmaus folgte der verborgene Theil der Feier im Innern
des Tempels. Der Fackelträger erhellte die dunklen Räume desselben, der
Hierophant zeigte und erklärte die hier verwahrten heiligen Dinge, der Herold
wies die Mysten an, wie sie sich ferner zu verhalten hätten. Ans die Frage
des Hierophanten antworteten die Geweihten mit einer Formel, die zugleich
als ihr Erkennungszeichen diente, und die folgendermaßen lautete: „Ich habe
gefastet, ich habe den Kykeon getrunken, ich habe aus der Kiste genommen
und gekostet, ich habe in den Korb gelögt und aus dem Korbe in die Kiste."
Was dieser Gebrauch bedeuten sollte, ist Räthsel. Duncker meint, „die
Kiste war der Sarg, der den Todten barg, das Symbol der Unterwelt, der
Korb war der Fruchtkorb der Demeter, ein Symbol der fruchtbaren Kraft der
Erde. Das Hineinlegen aus der Kiste in den Korb (nachdem das aus der
Kiste Genommene „gekostet" worden?) und aus dem Korbe in die Kiste war
der Wechsel zwischen Absterben und Keimen, zwischen Tod und Leben, ein
Symbol des aus dem Tode neu erstehenden Lebens". Vorsichtiger äußert sich
Schömann: „Es konnte einer sagen, die Kiste bedeute die Erde, aus welcher
der Mensch seine Nahrung nimmt; von dieser verzehrt er einen Theil, den
andern verwahrt er in der Scheuer, um ihn dann als Saatkorn der Erde
wiederzugeben — ein Anderer könnte etwas Anderes, keiner aber etwas Ge¬
wisses sagen." Wir meinen, daß das Nehmen aus der Kiste, das Kosten des
Geronnenen, das Legen des Restes in den Korb und das Wiederhineinlegen
desselben in die Kiste offenbar wie das Fasten und das Trinken des Kykeon
zu den symbolischen Handlungen des Festrituals gehörten. Ueber die
Bedeutung der Ceremonie wagen wir bescheiden kein Urtheil abzugeben.
Die Geweihten stiegen dann — bei ihrer großen Zahl jedenfalls in Ab¬
theilungen — selbst in die Unterwelt hinab, d. h. wohl in die Krypta des
Tempels, wo diejenigen liturgischen Acte stattfanden, die nur für die Epopeen
bestimmt waren und das Letzte und Höchste (r^-rA auffaßten. Sie bestan¬
den vermuthlich zunächst wieder im Vorzeigen heiliger Dinge, wie eines immer¬
grünen Myrthenkranzes, des Sinnbildes ewiger Lebensfülle, ferner eines Rades,
welches den rastlosen Umschwung alles Existirenden von oben nach unten und
empor bezeichnen mochte, und der Aepfel des Lebens, lauter Gegenständen, über
welche es Ueberlieferungen gab, die zum Theil in poetischer Form und in Ge¬
sängen, entweder vom Hierophanten allein oder von Sängerchören nnter Be¬
gleitung von Instrumenten vorgetragen wurden. Ausdrückliche Zeugnisse lassen
ferner kaum daran zweifeln, daß ans diese Vorträge auch dramatische Vorstel¬
lungen folgten, welche den Schauenden das Leben und Leiden der betreffenden
Gottheiten lebendig vergegenwärtigten, und ebenso sicher ist, daß die Priester
in der späteren Zeit sich hierbei der Scenerie und Maschinerie bedienten, welche
die ätherische Schaubühne zu ziemlicher Vollkommenheit ausgebildet hatte. Die
Epopeen blickten — vielleicht, nachdem ein Vorhang gefallen war — wirklich
in die Unterwelt und sahen dann wirklich über dieser Schattenwelt das neue
Leben aufleuchten. Lukian sagt , daß die Schrecken der Unterwelt und das
Leben der Seligen in den Mysterien zur Anschauung kämen. „Zuerst Jrrgänge",
so berichtet Plutarch, „mühseliges Umherschweifen und gefährliches und ver¬
derbliches Wandeln in der Finsterniß. Dann folgen alle Schrecknisse, Schaudern
und Zittern, Angstschweiß und Entsetzen. Der, welcher zum ersten Male Zu¬
tritt hatte, glaubte sich in deu Zustand eiues Sterbenden versetzt." Man hörte
unheimliche Laute und vernahm den dumpfen Schall der Pauke, man sah die
Gespenster der Todtenwelt und die Fackeln der rächenden Göttinnen. „Dann
brach plötzlich", wie Plutarch weiter berichtet, „ein Helles Licht hervor, man
erblickte strahlende Gegenden und Auen, ans denen Stimmen von jubelnden
Tänzern sich hören ließen und die Herrlichkeit heiliger Worte und Erscheinun¬
gen sich zeigte." Die Nacht war vorüber, und man sah die Frommen mit
Myrthen bekränzt in der Glorie des neuen Lichtes ans den Gefilden der Se¬
ligen wandeln.
Das war der Kern der heiligen Bräuche, der scenischen Darstellungen nach
der dritten Weihe der eleusinischen Geheimenlte. Von predigtartigen Vorträgen
war hier so wenig wie sonst wo in der vorchristlichen Welt die Rede. „Die
kleinen Mysterien waren", wie Preller sagt, „nur eine Vorbereitung auf die
größeren, durch allerlei Reinigungen und Sühnungen, damit an den Mysten
jede Verunreinigung durch den Schmutz des Lebens, der Leidenschaft und des
Verbrechens getilgt werde, ehe sie sich den höheren Anschauungen näherten.
Die großen Mysterien führten darauf vermuthlich in die symbolische und alle¬
gorische Bedeutung der heiligen Geschichte von Eleusis weiter ein, müssen aber
auch gewisse positive Vertröstungen und Beruhigungsmittel gegen die Schrecken
des Todes und der Unterwelt gewährt haben. Wenigstens nehmen die in die
eleusinischen oder gleichartige Mysterien Eingeweihten immer ganz besondere
Auszeichnungen und Privilegien im Reiche des Pluton und der Persephone in
Anspruch, und auch sonst wird von den Elensinien immer ganz vorzüglich
hervorgehoben, daß sie bessere und süßere Hoffnung über des Lebens Ende
und eine beruhigende Ansicht über das ganze menschliche Dasein gewährt hätten.
Die Epoptie endlich wird vielleicht noch sublimere Vorstellungen in so klaren
Bildern und Gleichnissen überliefert haben, als dieß überhaupt innerhalb der
Naturreligion mit ihrem ganz bildlichen und symbolischen Grundcharakter mög¬
lich und thunlich war. Denn über diese beiden Bedingungen, die Natur als
Object und das Bildliche als formalen Ausdruck, hat sich die Religion der
Alten nie erhoben, und deshalb können dogmatische Ueberlieferungen einer
deistischen Gotteserkeuntniß, wie man sie oft den Mysterien zugemuthet hat,
nicht wohl in ihnen stattgefunden haben. Auch erscheint bei alle» verreden-
unseren Andeutungen über die eleusinische Weihe die Uebcrlieferungsform der¬
selben immer als eine vorherrschend ästhetische, auf die Sinne und die Ein¬
bildungskraft berechnete, wie es der gesummte Gottesdienst der Alten war.
Das Zeigen der Heiligthümer i-^«', daher der Hierophant), der
melodische Vortrag von heiligen Gesängen oder Liturgien, die plötzliche Enthül¬
lung glänzend beleuchteter Bilder vou ausgezeichnetemKuustwerthe, das waren auch
in den Mysterien die vorherrschenden Mittel des Gottesdienstes. Aber freilich ist
dabei vorauszusetzen, daß sowohl jene Heiligthümer als diese Gesänge und
Bilder einen tiefen und bedeutungsvollen religiösen Sinn hatten."
Das Symbol allein also, die Anschauung mußte ihre Wirkung thun. Und
sie scheint sie gethan und wirklich bei vielen und selbst bei hochgesinnten
Geistern die gewisse Hoffnung erweckt zu haben, daß dem Frommen auf deu
Tod das Leben, auf die Nacht von Neuem das Licht und zwar reineres
Licht folgt.
„Selig", so singt der Dichter eines Hymnus ans Demeter und Kore,
„selig, wer von den Menschen auf Erden diese hohen Weihen gesehen hat!
Wer ohne Antheil an diesen und ungeweiht stirbt, hat keineswegs ein gleiches
Loos im weiten Reiche des Dunkels."
Pindar ruft aus: „Selig, wer, nachdem er diese Weihen geschaut, unter die
Erde hinabsteigt, er kennt des Lebens Ende und dessen gottgegebenen Wieder¬
anfang."
Sophokles bricht in die begeisterten Worte aus: „O dreimal selig die
Sterblichen, welche die Weihen von Eleusis geschaut haben! Für sie allein
ist Leben in der Unterwelt, für alle Anderen Drangsal und Noth."
Plutarch endlich berichtet: „Die Geweihten sahen mit Stolz auf die Un
geweihten herab, anf alle die, welche in ihrer Unwissenheit zu den übrigen
Uebeln auch noch von der Furcht vor dem Tode gequält wurden."
Das Herbstfest von Eleusis war mit dem Erblicken des neuen Lichtes
nicht beendigt. Es verwandelte sich gegen den Schluß hin in der Hoffnung
auf ein jenseitiges schöneres Leben mit einer dem Jakchos geweihten großen
Freudeufeier, mit der auch Wettkämpfe in körperlicher Kraft und Rüstigkeit
verbunden waren, um an die durch Demeters Gaben als Ackergöttin dem
menschlichen Leibe mitgetheilte Stärke zu erinnern, bei der aber Fackeltänze,
welche man mit Chorgesängen begleitete, eine Hauptrolle spielten. Die Fackel
war das Licht der Nacht, das Sinnbild des aus dem Tode aufleuchtende»
Lebens. Einer von jenen Gesängen ist uns in den „Fröschen" des Aristophanes
aufbewahrt und lautet nach Donners Übersetzung:
Jakchos, der Du nah hier in dem hoch¬
herrlichen Sitz weilst,Jakchos! O Jakchos!
Komm Hieher auf die Nachwiese zum
Reis'ntanz,In die Schaar Deiner Geweihten,
Und im Schwunge walte duftig
Dir der Myrthenkranz voll Beeren
Um das lockige Haupt!
Und kühn stampfe den Takt uns
Mit dem Fuße zum neckisch
Sich entfesselnden Lustreih'n,
Der in holdreizender Anmuth,
Der in Unschuld Dich umhüpft,
Der Geweihten heil'gen Chortanz!Ermuntre Dich: naht doch,
In der Hand schwingend die Fackeln.Er naht schon, Jakchos,
Stern des Lichts, in Nacht leuchtend zu
Feste!
Von der Flamme glüht die Wiese,
Ja, das Knie der Greise rezt sich.
Und sie schütteln ab die Sorgen
Und die Bürde der Zeit,
Die Last bleichender Haare
In der heiligen Festlust.
Du, Seliger, führe
Die zum Tanz rüstige Jugend
Zu des Quelles blumigen An'n
Mit voranslammcnder Fackel.m
Den Schluß des Ganzen bildete ein Ritus mit symbolischer Bedeutung:
man füllte zwei Thongefäße von kreiselförmiger Gestalt und goß das eine
nach Osten, das andere nach Westen aus, wozu man eine mystische Formel
aussprach. Womit diese Gefäße, die Plemochoä hießen, gefüllt waren, ist
ebenso wenig bekannt, als das, was dabei gesprochen wurde. Preller erblickt
in der Ceremonie ein Todtenopfer.
Daß Frauen von den eleusinischen Mysterien nicht ausgeschlossen waren,
haben wir schon bemerkt. Aber auch Kinder wurden bisweilen schon unter
die Zahl der Mysten aufgenommen. Dieß ergiebt sich, abgesehen von andern
Zeugnissen, aus der Erwähnung des sogenannten „Knaben vom Herde" (/r«»?
«P Zo'ritt?), von dem wir allerdings weiter nichts erfahren, als daß er
für die Gesammtheit der Theilnehmer an den Mysterien, um die Huld der
unterirdischen Götter zu erbitten, gewisse heilige Bräuche zu verrichten hatte.
Das Ansehen der eleusinischen Geheimkulte war in der Zeit der Selbst-
stündigkeit Griechenlands sehr groß und erhielt sich bis in die Jahrhunderte
hinein, wo das Christenthum sich auszubreiten begann, wie es scheint, unge¬
schwächt fort. Auch unter deu Römern verschmähten es die Vornehmsten nicht,
der Weihen, die so viel Segen gewährten, theilhaftig zu werden. Wir wissen
dieß u. A. von den Kaisern Hadrian und Marc Aurel. Als der christliche
Kaiser Valentinian alle nächtlichen Feiern verbot, blieben ans Verwendung des
Proconsuls der Provinz Achaja die Elensinien gestattet. Dieselben hörten erst
auf, als die Philosophenschule der Neuplatoniker die Hauptlehren, welche die
Mysterien versinnbildet hatten, in ihren Schriften dem großen Publicum vor¬
trugen, und ans diese Weise der Reiz des Geheimnisses schwand.
Wir kommen zum Schlüsse. Die vornehmsten Dichter haben, wie wir
sahen, die Mysterien verherrlicht und gepriesen, und es ließen sich ähnliche
Lobsprüche aus dem Munde von Rednern und Philosophen des Alterthums
anführen. Andrerseits aber fehlt es anch nicht all Beispielen, daß nicht blos
leichtsinnige Religionsspötter wie Alkibiades, sondern auch ernste und fromm¬
gesinnte Männer sich feindlich oder doch gleichgültig gegen diese geheimen Got¬
tesdienste verhielten. Wie werden wir uns zu diesem Masonenthum der antiken
Welt stellen?
Unverkennbar waren die Gottheiten, die in den Mysterien gefeiert wur¬
den: Demeter, Kore-Persephone und Jakchos-Dionysos, Mächte von weitum¬
fassender Bedeutung und Wirksamkeit. Sie walteten gleichmäßig in der Ober¬
welt und in der Unterwelt, sie sendeten aus den Tiefen der Erde eine Fülle
von Trost und Hoffnung empor, sie nahmen das Leben nur zurück, um es
immer wieder neu hervorgehen zu lassen, gleich der mit jedem Frühling
neu ergrünenden und wieder jung werdenden Pflanzenwelt. Die Unter¬
welt war in der Blüthezeit der Mysterien von Eleusis nicht mehr wie
in den Tagen Homers nur ein Land bleicher nächtiger Schatten, sondern ein
Reich, in dem neben dem Tode unvergängliches Leben sich regte; es herrschten
dort Götter, die nicht am Todten, sondern am Lebendigen Wohlgefallen fanden.
Und die Folgerung aus diesem Bewußtsein war: wie in den Naturgebieten,
welchen diese Götter zunächst vorstehen, aus dem todten Winter der lebendige
Frühling hervorsprießt, wie sie selbst nach der heiligen Sage zwar gestorben
sind, aber ewiges Leben haben, so werden sie auch des Menschen Leben nicht
der Vernichtung anheimfallen lassen, sondern, wie sie es diesseits des Grabes
genährt haben, es jenseits desselben erhalten. Der Mensch wird, wenn der
Tod ihn hinabführt, nur das irdische Dasein mit einer andern Existenzform
vertauschen, welche nicht weniger als jenes, sondern mehr noch wahres Leben
sein wird.
Feruer, wenn audere Götter vorzugsweise in Beziehung auf spezielle
Gaben und Segnungen verehrt wurden, die man von ihnen erwartete, oder
mit Rücksicht auf besondere Verpflichtungen, die man ihnen gegenüber hatte,
so wurden die Gottheiten der eleusinischen Feste weit mehr in der allgemeinsten
Beziehung zu dem gesammten Leben der Menschen und zwar nicht blos zu
dem diesseitigen, sondern auch zu dem jenseitigen gedacht. Sie waren die all¬
gemeinen Segenspender, zu gleicher Zeit aber auch die Richter, die man am
meisten zu fürchten hatte, da man noch über das Grab hinaus unter ihrer
Gewalt stand.
Daß eine solche Wirksamkeit von übermenschlichen Mächten in keinem
andern Kultus der damaligen Zeit dem Geiste der Menschen in gleichem Maße
vergegenwärtigt wurde, wie in den eleusinischen Mysterien, ist sicher, und wenn
hier auch keine Lehre in dogmatischer Form vorgetragen wurde, so erinnerten
doch die vorgeschriebenen Reinigungen und Weihungen an die Bedingung auch
sittlicher Reinheit und Würde, und so erweckten die Gebete und Gesänge sowie
die Darstellungen aus der heiligen Geschichte die Vorstellung, daß mit dem
gegenwärtigen Dasein das Leben nicht abgeschlossen sei, und daß jeden nach
dem Tode ein Loos erwarte, wie er es durch sein Verhalten auf Erden ver¬
dient habe.
Sofern freilich die religiöse Belehrung ganz oder doch vorzüglich durch
symbolische Darstellungen vermittelt wurde, kam es auf die Natur des Einzelnen
an, welche Anschauungen und Bestrebungen dadurch in ihm erweckt wurden,
und jene Lobsprüche über die heilsame sittlich-religiöse Wirkung der Mysterien
sind wohl mehr Zeugnisse für das, was sie bei Gemüthern, welche von Hanse
aus einen religiösen Zug hatten, zu bewirken im Stande waren, als Beweise
für das, was sie in Wahrheit bei der großen Menge bewirkt haben. Diese
Menge hat sie ohne Zweifel als ein Gnadenmittel betrachtet, wie heutzutage
von dem großen Haufen die Gnadenmittel der Kirche betrachtet werden, als
ein ohne inneres Zuthun des Betreffenden heilbringendes Zauberwerk. Mit
andern Worten: man wähnte sich durch bloße Erlangung der Weihen, durch
die Bäder und Waschungen, durch das Trinken des Kykeon und Erfüllung der
sonst noch vorgeschriebenen Bräuche Anspruch auf das göttliche Wohlwollen
erworben zu haben, ohne sonderlich an die innern Bedingungen zu denken, die
Anderen Voraussetzung des Heils waren.
Dieses bekannte verdienstvolle Werk, welches in erster Auflage vor zwanzig
Jahren erschien, tritt uns hier nach zwei Richtungen hin verbessert entgegen. Es
erstreckt sich einerseits auf Grund der bedeutenden Ergebnisse, welche die Durch¬
forschung der Katakomben geliefert hat, weiter auf das Gebiet der altchristlichen
Zeit und andrerseits infolge des Umstandes, daß seit dem ersten Erscheinen des¬
selben das Streben erwacht ist, das Kunsthandwerk zu heben, auch auf die
Kunst der Renaissance. Die äußere Einrichtung ist dabei die frühere geblieben,
nur ist das Geschlecht der deutschen und französischen Hauptwörter hinzugefügt
worden, und das wesentlich bereicherte Verzeichnis; lateinischer Wörter, welches
in der ersten Auflage den Schluß bildete, nimmt jetzt die zweite Stelle ein;
auch ist statt der früher gebrauchten Fractur, um das Buch nichtdeutschen
Archäologen zugänglicher zu machen, die Antiqua für deu Druck gewählt worden.
Selbstverständlich ist die angestrebte Vollständigkeit nicht ganz erreicht worden,
indeß wird der dargebotene Wörtervorrath nnr in seltenen Fällen den Nach¬
suchenden im Stiche lassen.
Der Verfasser dieses Buches hat lange Zeit — neun Jahre — in dem
von ihm hier vorzugsweise ius Auge gefaßten Oberägypten und in Kvsseir am
Rothen Meere gelebt, er hat als Arzt mit allen Klassen des dortigen Volkes
Bekanntschaft gemacht und auch die Sitten der untern Stände, das Leben der
Bauern gründlich studiren können, er hat endlich sein Studium mit Liebe und
Interesse vorgenommen und das gesammelte Material geschickt zu Sittenbildern
zusammengestellt. Poetischer Schmuck, phantasievolle und empfindsame Excurse
über allerhand und sonst noch 'was, in gewöhnlichen Touristenbücher oft bis
zum Ueberdruß gehäuft und meist zur Verdeckung ungenügender Kenntniß an¬
gebracht, werden verschmäht, überall begegnen wir einem einfachen, gut beob¬
achtenden, aus eigner Erfahrung schöpfenden, die Wahrheit liebenden Geiste.
In der Schilderung des Charakters und Lebens der Aegypter hat Lane Un¬
übertreffliches geleistet. Demnach bedürfte er der Ergänzung; denn er hatte
fast nur mit den Bewohnern der Großstädte des Landes verkehrt und dann
über sie berichtet. Kluuzinger hat ihn dnrch sein erstes Kapitel „Vier Tage
in einer Landstadt" (Kenneh am Nil ist gemeint) in einer Weise vervollständigt,
die seiner durchaus würdig ist und reiche ethnographische Belehrung enthält.
Auch die folgenden drei Abschnitte bringen, indem sie uns durch das Nilthal
und auf die Schiffe führe», die der Strom trägt, uns das Werktagsleben des
gemeinen Mannes, seine Feste, die ägyptische Frauenwelt und endlich die Wüste
und ihre Karawanen schlicht, aber mit großer Anschaulichkeit beschreiben,
mancherlei Neues. Von besonderem Interesse ist wieder der fünfte Abschnitt
des Buches, der uns Kvsseir und seine Bewohner schildert. Ein sechster hat es
mit den Naturschätzen des Rothen Meeres zu thun, und ein siebenter, „Die ge¬
heimen Wissenschaften des Moslimiu", giebt einen guten Ueberblick über Ein-
zelnheiten des Aberglaubens der Aegypter, der gleichfalls geeignet ist, Lane
in einigen Punkten seines klassischen Werkes zu ergänzen. Wir schließen unsere
Anzeige mit aufrichtiger Empfehlung des Buches.___
Neue Beiträge zur Geschichte des alten Orients. — Die Assyriologie in
Deutschland. Von Alfred v. Gutschmid. Leipzig, Verlag von
B. G. Teubner, 1876.
Alfred v. Gutschmid ist — wir bemerken dieß für Leser, welche den Kreisen
der Fachgelehrten fernstehen — einer der gründlichsten Kenner der alten Ge¬
schichte mit Einschluß derjenigen des Orients. Veranlassung zu seiner hier vor-
"? liegenden Schrift gab der Umstand, daß Max Dunker einen Theil der historischen
Thatsachen, welche gewisse Gelehrte aus den Keilschrifttafeln der Trümmerstätten
Mesopotamiens herausgelesen haben wollen, als verbürgt und zweifellos in die
neueste Auflage seiner „Geschichte des Alterthums" aufnehmen zu dürfen ge¬
glaubt hatte. Zweck des Buches ist, nachzuweisen, daß damit eine Uebereilung
begangen worden, andere Historiker vor Aehnlichem zu warnen, die Exegeten des
Alten Testaments, die Geschichtslehrer an Gelehrtenschulen gleichfalls zur Behut¬
samkeit zu veranlassen, das Publikum auf die rechte Stellung aufmerksam zu
machen, die es diesen angeblichen Entdeckungen und ihrer Ausposaunung in den
Zeitungen gegenüber einzunehmen hat, wenn es nicht getäuscht sein will, schließlich
aber die Herren Assyrivlvgen selbst mlfzufordern, künftig sorgfältiger zu arbeiten und
gewissenhafter zwischen Vermuthungen und Thatsachen, zwischen Phantasie und
Wirklichkeit zu unterscheiden. Der Weg endlich, den der Verfasser zu diesem
Behufe einschlägt, ist der, daß er, die von den Entzifferern jener Keilschriften ge¬
botene Grundlage einstweilen für richtig gelten lastend, seine vielfachen Zweifel
an deren geschichtlichen Ergebnissen zusammenstellt und rechtfertigt und die
Methode, welche von den Assyriologen bei der Ableitung historischer Schlüsse
aus den Keilgrnvpen der Monumente befolgt worden ist, mit dem Maßstabe
allgemein gültiger und in allen anderen wirklichen Wissenschaften anerkannter
kritischer Grundsätze in der Hand einer eingehenden Prüfung unterzieht.
Der Assyriolog, gegen den sich diese Polemik vorzüglich richtet, ist der Ber¬
liner Professor und Akademiker E. Schrad er, früher in Jena, eigentlich Theolog.
nächster Grund der Bevorzugung ist nicht, wie man vermuthen könnte, der Um¬
stand, daß derselbe unter den deutschen Interpreten der Keilinschriften am Meisten
von sich und seinen Erfolgen reden zu machen verstanden hatte, sondern der,
daß er Dunckers hauptsächlicher Gewährsmann gewesen war, und daß er, als
v. Gutschmid die Benutzung der historischen Funde der Assyriologen von Seiten
Druckers besprochen und als unvorsichtig bezeichnet hatte*), der Meinung ge¬
wesen war, mit einer Antikritik antworten zu müssen**), die hochfahrende
Manieren haben dürfe. Unsere Schrift ist die ausführliche Erwiderung auf
diesen Versuch, sich zu wehren. Als wir sie durchlasen, gingen allmählich alle
andern Empfindungen, die wir hätten haben sollen, und die sich in der That
später wieder einstellten, Stannen z. B. über das stupende Wissen des Ver¬
fassers, Bewunderung seines Scharfsinnes, Wohlgefallen an der eleganten und
doch wuchtigen Art, mit der er seine Waffe handhabte, Freude, daß ahnende
Zweifel, die wir in den letzten Jahren in Betreff der Reelamen der Assyrio¬
logen gehabt, nun zur klaren Gewißheit erhoben waren, in dem einzigen Ge¬
fühle eines immer intensiver werdenden Mitleids ans. Der Gegner hätte, so
sagten wir uns zuletzt fast kummervoll, ungemein klug gethan, wenn er, des
Sprichworts eingedenk: Wer sich in Gefahr begiebt, kommt darin um, seine
Empfindlichkeit verschluckt, seine Vornehmheit bei sich behalten und im Stillen
die in jener ersten Recension ihm ertheilte Mahnung beherzigt und befolgt hätte,
sich zu bessern. Er war an den Unrechten gerathen, er war erdrückt, platt
geschlagen. Kurz, eine Thräne wäre am Orte gewesen über dieses Opfer un¬
vorsichtigen Selbstgefühls.
Wir denken, unsere Leser werden dieselbe Empfindung verspüren, wenn sie
Schraders Vertheidigung gelesen haben und wir ihnen jetzt die Beweisführung
v. Gutschnüds in einem Auszuge vorlegen.
Die assyrische Schrift ist keine Buchstaben-, sondern eine Sylben¬
schrift, und die Sylbenzeichen sind theils einfache (ba, cet), theils zusammen¬
gesetzte (bak). Doch werden die Mediae und Tenues, theilweise auch die em¬
phatischen Laute, häufig in der Schrift nicht unterschieden. So durchgehends
im Auslande sowohl der einfachen wie der zusammengesetzten Sylben. Ein
Zeichen kann ab und ap, ib und ip, ub und up, eiues ag, ak und aq, ig, ik
und iq, ug, ut und uq, eines ad, at, it, it, ud und ut bedeuten. Unter den
zusammengesetzten Sylbeuzeichen vertritt eines die Werthe bak, pat, bal, pat, dit,
pit, bis, pis, bay, pap, dur und pur, eines die Werthe git, til, gien, tun, gan,
kan, guil, tun, git, lit, gat, qak, lis, qis, kat und qat, eines die Werthe bat,
tat, bin, ein, dan, tan, din, tin, das, tas, dis, dis, day und tap, und außerdem
werden dir, Pir — die, pit — gir, kir — kar, qar und zahlreiche andere
Sylbenzeichen so massenhaft mit einander vertauscht, daß von einer Unter¬
scheidung kaum noch die Rede sein kann. Sodann ist nur ein Zeichen vor¬
handen für da und edel, während du, tu und thu sast immer unterschieden
werden. Ferner hat die assyrische Schrift nur ein Zeichen für M und V.
Ein besonderes Zeichen für Aleph existirt nicht, der Spiritus lenis wird außer
beim Sylbenschluß einfach durch die Vocale ausgedrückt. Dieses indireet be¬
zeichnete Aleph muß auch He und Ajin vertreten. Bei der Herübernahme
fremder Namen wird Ajin entweder auf diese Weise oder durch Chet umschrieben.
In gewissen zusammengesetzten Sylbenwerthen scheint die Schrift sogar Chet und
Kaps nicht genügend auseinander zu halten. Sodann verfügt sie an einfachen
Sylbenzeichen, welche die Zischlaute vertreten, nur über je eines für za und 9a/
je eines für az, ay und as, je eines für in,;, iz und is, je eines für uz, u? und
us. Noch schlimmer steht es mit den zusammengesetzten Sylbenzeichen, wo
die Zischlaute an: Ende der Sylben fast niemals unterschieden werden, und
auch im Anlaute ist hier die Scheidung der Zischlaute nur unvollkommen
durchgeführt.
Ueberblicken wir diese Thatsachen, so gelangen wir zu der wenig tröstlichen
Ueberzeugung, daß die assyrische Schrift nur elf Consonanten als solche an¬
erkennt, die unter allen Umständen auseinander gehalten werden müssen, also
nur die Hälfte der Laute des altsemitischen Alphabets regelmäßig wiedergiebt.
Die Assyriologen nehmen daher an, daß ihr eine rein ideographische Schrift
zu Grunde liege, die für eine nichtsemitifche Sprache bestimmt gewesen sei. Wie
sie uns jetzt auf den Denkmälern entgegentritt, ist sie theils phonetisch oder
Lautschrift, theils ideographisch oder Bilderschrift. Darüber, ob etwas mit
Lautzeichen oder mit Begriffe vertretenden Keilgruppenbildern auszudrücken sei,
entschied keinerlei Gesetz, sondern der Schreiber wählte die Schreibweise nach
Bequemlichkeit, je nachdem die eine oder die andere der Norm, mit der Zeile
einen Satztheil auslaufen zu lassen, besser entsprach.
Eigenthümlich sind ferner der assyrischen Schrift eine lange Reihe von
Chikanen. Da haben wir zunächst die Homophonie, kraft deren in vielen
Fällen ein und derselbe Laut durch mehrere Zeichen ausgedrückt werden kann,
eine Thatsache, die Schrader früher geleugnet, später aber zugegeben hat. In
der von ihm gelieferten Liste der zusammengesetzten Sylbenzeichen, die auf Voll¬
ständigkeit keinen Anspruch erhebt, finden sich je zwei Zeichen für die folgenden
Werthe: git, gut, guy, gir, duk, tüp, zar, lin, kir und lip. Viel tiefer schneidet
die Polyphonie ein. Hier haben wir zunächst die der syllabarischen Zeichen,
d. h. die Eigenschaft, kraft deren ein und dasselbe Zeichen verschiedene Laut¬
werthe haben kann. „Principiell", sagt Schrader, „kann jedes fyllabarische
Zeichen an sich zur Bezeichnung noch weiterer Sylbenwerthe, sei es einfacher,
sei es zusammengesetzter, dienen." Ein und dasselbe Zeichen kann u. A. dich,
um, vus und lip, ein anderes kann zugleich dan, tat, lap und rip, ein drittes
dur, hun, ku und luß bedeuten, und eines hat außer ka noch fünf andere
Werthe. Derselben Polyphonie unterliegen die ideographischen Zeichen der
Keilschrift: ein einziges Ideogramm kann „Sohn", „Assur" (der Gott), „Assur"
(das Land) und „in", ein zweites „Berg", „Land", „Beute" und „nehmen",
ein drittel „Sonne", „Tag", „Licht" und „Meer", ein viertes endlich „nehmen",
„anfüllen", „ausgießen" und „wägen" heißen. Nicht genug der Schwierigkeiten:
dieselben Zeichen, die phonetisch find, sind meist auch ideographisch; „massen-
weise bestimmen die Syllabare Zeichen nach ihrem Lautwerthe und nach ihrem
Sinnwerthe", und „es trifft sich nicht selten, daß einem Zeichen, welches schon
ein- oder mehrfach polyphon ist, auch noch ideographische und dazu sehr oft
mehrfache derartige Werthe eignen." Beispielsweise bedeutet ein Zeichen Pho¬
netisch gar, sa und ideographisch „nehmen" oder „gewähren", ein zweites pho¬
netisch duk, ka und ideograpisch „Mund" oder „wünschen", ein drittes phonetisch
kak und ideographisch „Baum", „machen" oder „Ganzheit", ein viertes pho¬
netisch man, mis und ideographisch „König" oder „Zwanzig", ein fünftes pho- ^
netisch tur, lat, mat, nat, sat und ideographisch „Berg", „Lad", „Leute",
„nehmen" u. s. f. Die Schwierigkeit wächst durch die Alloph ville, die darin
besteht, daß ein Begriff nicht blos durch ein einfaches Ideogramm, sondern
auch durch ein zusammengesetztes, eine Gruppe von Zeichen ausgedrückt werden
kann. So werden Diglat, Babilu und Nabukndurriu^ur mit Zeichen ge¬
schrieben, die phonetisch Bar-til-gar, Din-dir-ki und An-pa-sa-dn-sis lauten
würden. Endlich dienen bisweilen dieselben Zeichen, die bereits einen polyphonen
Charakter und daneben ideographische Werthe haben, lediglich dazu, als deter¬
minative Ideogramme auf ein ihnen folgendes Wort hinzuweisen.
Fragen wir nach - den Hülfsmitteln, die dem Entzifferer zu Gebote stehen,
wenn er wissen will, ob ein Zeichen phonetischen oder ideographischen Werth
hat, so nennt uns Schrader: Verstöße gegen den Charakter der assyrischen
Sylbenschrift, die eintreten würden, wenn ein bestimmtes Zeichen phonetisch
genommen würde, ferner sprachliche Erwägungen, endlich Berücksichtigung des
Sinnes und Zusammenhanges der ganzen Stelle. Aber zu dem ersten Punkte
muß Schrader selbst Ausnahmen zugeben, und für das Eintreten der beiden
andern Fälle ist nothwendige Voraussetzung, daß das richtige Verständniß bereis
in der Hauptsache gesichert ist.
Die einzige ernstliche Hülfe gewährt das phonetische Complement, dessen
Wesen darin besteht, daß dem Ideogramme eine oder mehr Sylben angehängt
werden, welche den Ausgang des durch das Ideogramm vertretenen Wortes
bilden.
„Trotz aller dieser Schwierigkeiten", meint Schrader, „dürfen wir uns
nicht verhehlen, daß derartige Fälle (in denen außerordentlich schwer zu ent¬
scheiden ist, ob wir Ideogramme oder phonetisch geschriebene Wörter vor uns
haben) doch nur Ausnahmsfälle sind, und sind die betreffenden Wörter oder
Ideogramme nicht Hapaxlegomena, so gelingt es früher oder später fast immer,
ihrer wahren Natur auf den Grund zu kommen." Und an einer anderen
Stelle sagt er: „Die Anzahl der Ideogramme ist eine bei der Durchforschung
neuer Documente stets wachsende, insofern unbegrenzte."
Mit vollem Rechte bemerkt hiergegen v. Gutschmid: „Für den Assyrivlogen
mag ein solcher Wechsel auf die Zukunft etwas recht Tröstliches haben; uns
aber, an welche die Zumuthung gestellt wird, die Ergebnisse, welche die Assyriv¬
logen für sicher erkläre«, in Bausch und Bogen als sicher hinzunehmen, geht
lediglich die Frage an nach dem Grade von Sicherheit, den die Entzifferung
auf ihrem heutigen Stande beanspruchen darf, und bei der Entscheidung
dieser Frage kann uns nach den bisher gemachten Erfahrungen der dehnbare
Begriff „Ausnahmsfälle" im Munde eines Apologeten nur mäßige Beruhigung
einflößen, muß uns vielmehr der Eindruck beschleichen, daß gerade hier uoch
Alles im Flusse, daß die Entzifferung gerade hier von einem auch nur vor¬
läufigen Abschlüsse, der ersten Vorbedingung eines wirklich sicheren Verständ¬
nisses, noch recht weit entfernt ist."
Der größte Uebelstand, dem der Entzifferer assyrischer Inschriften begegnet,
ist und bleibt die Polyphonie, die es mit sich bringt, daß er fast immer zwischen
zwei, oft zwischen drei und vier, bisweilen sogar zwischen neun Möglichkeiten
die Wahl hat. Sein Thun bekommt dadurch etwas subjectives, wie dieß bei
keiner andern Arbeit der Art der Fall ist. Daß die Grundlagen zur Ent¬
zifferung durch Oppert gelegt sind, gesteht v. Gutschmid zu, d. h. er erkennt
an, „daß das Sylläbar im Ganzen und Großen festgestellt ist und die Möglich¬
keiten, welche infolge der Polyphonie und der ideographischen Natur der assy¬
rischen Schrift in jedem einzelnen Falle eintreten können, ermittelt sind." „Die
Deutung des Entzifferten aber", so fährt er fort, „welche in jedem Augenblick
auf die Basis der Entzifferung selbst zu recurriren bereit fein muß, diese ist
es, in welcher die wahre Schwierigkeit steckt, diese, deren Sicherheit ich bestritten
habe und zu bestreikn fortfahre."
Welche Hülfsmittel aber stehen hier dem Assyrivlogen zu Gebote? Sebra-
der nennt zuerst die große Inschrift von Behistan, die neben dem persischen
Originaltext die babylonische Uebersetzung desselben enthält; aber die Hälfte
der Zeilen, oft mehr, ist durch einen über die betreffende Felswand laufenden
Gießbach im Laufe der Zeiten zerstört worden, und in Folge dessen ist nicht
ein einziger babylonischer Satz vollständig erhalten. Schrnder führt ferner die
Paralleltexte assyrischer Inschriften an, die oft das phonetisch schreiben,
was auf andern Inschriften durch Ideogramme ausgedrückt ist. Aus¬
giebigere Hülfe gewähren die aufgefundenen Syllabare, eine Art Wörterbücher
zur Uebertragung der Ideogramme. Hier liegt ein ungeheures Material für
spätere Studien vor, welches viele Jahrzehnte zu seiner völligen Verwerthung
in Anspruch nehmen wird. Fortwährend^ enthüllen sich mit Hülfe dieser Syl¬
labare Zeichen, die man bisher als phonetische las, als Polyphone, die zu¬
gleich ideographischen Werth haben, und mit vollem Recht fragen wir uns
mit v. Gutschmid, ob die Assyriologen nicht besser thäten, erst dieses reiche
philologische Material zu einem soliden Ausbau der Grundlagen ihrer Wissen¬
schaft auszunutzen, statt ihre Kraft und Zeit darauf zu verwenden, den Inhalt
historisch interessanter Inschriften im Allgemeinen zu verstehen, im Einzelnen
zu errathen und auf diese Art „einen luftigen Oberbau aufzuführen, von dem
ununterbrochen einzelne Säulen einstürzen und auch künftig noch oft genug
einstürzen werden." Weiter geben die den Inschriften beigegebenen bildlichen
Darstellungen für die Deutung des Inhalts jener eine bescheidene Stütze, und
schließlich nennt uns Schrader als letztes Hülfsmittel die geschichtliche Tradition
und die freie Combination; seine Beispiele für die letztere beschränken sich jedoch
auf die paläographische und sprachliche; in Wahrheit ist aber auch die historische
„Tradition" vielmehr Combination. Daß dieses Hülfsmittel dem Entzifferer
unentbehrlich, und daß er folglich zu dessen Anwendung berechtigt ist, stellt
v. Gutschmid natürlich nicht in Abrede. Dagegen tadelt er ebenso natürlich,
„daß es von den Assyriologen mit einer ganz ausschließlichen Vorliebe in
Anwendung gebracht wird"; denn das „führt zu einem fortwährenden Schielen
nach den historischen Folgerungen, die sich etwa aus dem Inhalte einer zu
lesenden Inschrift Heransstellen könnten", und „ein solches Verfahren setzt
ein gewisses Maß historischen Wissens, namentlich aber die rechte Uebersicht
über das ganze Gebiet, Empfänglichkeit für historische Kritik und den sicheren
Besitz der Technik und Methode der Geschichtsforschung voraus, lauter Kennt¬
nisse, die sich nun einmal nicht von selbst einstellen und durch bloße Begeiste¬
rung für die Sache nicht zu ersetzen sind. Kein Wunder daher, daß diese
Richtung aus der Mehrzahl der Assyriologen historische Dilettanten gemacht
hat. Es ist dies eine Vermischung der Aufgaben des Entzifferers und des
Historikers, von der weder der Geschichtsschreibung noch der Assyriologie selbst
dauernder Gewinn erwachsen kann. Bei dieser führt es zu fortwährendem Auf¬
stellen und Zurücknehmen provisorischer Hypothesen.*) Die Geschichtswissen¬
schaft andrerseits kann den durch einen solchen Proceß zu Stande gekommenen
Resultaten der Assyriologie nicht den Grad objectiver Wahrheit und Unum-
stößlichkeit zuerkennen, den sie fordern muß,, ehe sie mit ihnen wie mit über¬
lieferten Thatsachen operiren kann."
„Ob der Zeitpunkt gekommen ist, wo die Resultate einer Entzifferung
für die Geschichte ohne Weiteres verwendbar werden, darüber hat nicht die
Ungeduld des Entzifferers, nicht das Entzücken der Dilettanten, sondern einzig
und allein der Takt des Historikers zu entscheiden. In der Entzifferung der
cyprischen Inschriften, die jetzt vollendet ist, waren die Hauptschwierigkeiten
bereits überwunden, als man noch in der größten Inschrift von Idalion einen
Pachteontract erkennen konnte, während sie ein Decret zu Gunsten eines Mili¬
tärarztes ist. Keiner ihrer Entzifferer hat aber nach Art der Asfyriologen an
die griechische Geschichtsschreibung das seltsame Ansinnen gestellt, sie solle sich
den Inhalt jener provisorischen Entzifferungen einfach als Thatsachen aneignen.
Und doch stand es selbst um jene provisorischen Entzifferungen der cyprischen
Inschriften, deren Sprache bekannt war, erheblich bester als um die assyrischen
auf ihrem heutigen Stande."
Schrader behauptet, daß „alle Inschriften oder Abschnitte von Inschriften,
in denen in einfach historischer Darstellung äußere, insonderheit politische und
kriegerische Ereignisse berichtet werden, als völlig entziffert und gelesen betrachtet
werden können." Aber selbst bei diesen verhältnißmäßig leicht'zu verstehenden In¬
schriften findet, wie v. Gutschmid an mehreren Beispielen darthut, „sobald sie
sich etwas von der Heerstraße der durch Nennung biblischer Namen berühmt
gewordenen und bis zum Ueberdrusse immer wieder von Neuem übersetzten und
besprochenen Paradetexte entfernen, bei einer gewissen Uebereinstimmung in den
allgemeinsten Umrissen doch in allem Detail ein solches Auseinandergehen in
den Uebersetzungen der verschiedenen Assyriolvgen statt, daß oft kaum noch von
einem Verstehen, sondern nur von einem nachempfinden des Inhalts die Rede
sein kann." Eines der v. Gutschmidschen Beispielen wird dieß deutlicher machen.
Es ist die sogemnnte assyrische Verwaltuugsliste, „das Alpha und Omega
jeder historischen und chronologischen Forschung über das alte Assyrien", nach
den drei Uebersetzungen von Oppert, 1869, von Schrader, 1872, und G.
Smith, 1875 erschienen. In dem ersten Stücke finden wir folgende Ab¬
weichungen:
Dieses erste Stück hat 94 Zeilen, und auf die kommen 47 Abweichungen
— und was für welche! Setzen wir mit v. Gutschmid den Fall, ein Historiker
nähme in der Absicht, Studien über die Culturmission der Assyrer zu machen,
die neueste Übertragung dieser Liste als die sicherste zur Hand. „Mit Wohl¬
gefallen würde sein Auge auf der Notiz zum Jahre 739 über die Erbauung
der Stadt Birtu ruhen; der Aermste, er würde gar bald belehrt werden, daß
dieses Volk nicht erbaut, sondern nach Oppert nur verwüstet, nach Schrader
nur erobert hat! Noch ganz voll von dem erhebenden Eindrucke der assy¬
rischen Lehr- und Äußpsalmen und ihrer ehrbaren Langenweile, wird er sich
freiem, einen Beweis der Achtung, die dieses Volk vor der Religion und ihren
Vertretern hatte, in der Stellung zu sehen, die es dem Haupte der Priester¬
schaft unter den höchsten Beamten des Reiches eingeräumt habe; sonderbarer
Schwärmer, erfahre, daß dieser selbe Beamte von Oppert und Schrader eastrirt
worden ist!" Unser Historiker macht sich an die Feststellung der geographischen
Thatsachen, findet aber bald, daß hier erst recht Alles unsicher ist. Sei es,
denkt er — über die Hauptstädte und Hauptländer, mit denen die Assyrer zu
thun hatten, werden hoffentlich keine Zweifel bestehen. So verzeichnet er ge¬
trost zwei Aufstände in der alten Reichshauptstadt Assur und nicht weniger
als zehn Feldzüge nach Medien. Aber wie enttäuscht, wie verblüfft ist der
Unglückliche, wenn er darauf erfährt, daß Oppert und Schrader statt Assur
ein unbekanntes Libzn und statt Mediens „das Stromland" nennen, unter dem
jener Hocharmenien, dieser Chaldäa versteht!
Wir lesen weiter in der Verwaltungsliste, und hier ergiebt die Vergleichung
Folgendes:
Man sieht, wieder eine Anzahl capitaler Meinungsverschiedenheiten. „Dem
König Sanherib mochte es vielleicht gleichgültig sein, ob nach Smith er selbst
einen Palast erbaute, oder nach Schrader ein Dritter fiir ihn; seinem Vater
Sargon war es aber ganz gewiß nicht gleichgültig, ob er jemand ermordete,
oder selbst ermordet wurde. Und dem Historiker ist es ebenso wenig
gleichgültig."
Die Assyriologen können nun sagen, wenn der eine von uns „Medien"
und der andere „Stromland" übersetzt, so kommt das daher, daß jener den
ganzen Namen phonetisch (Matai) liest, während dieser in der Sylbe mat, mit
welcher der Name anfängt, das Wort für „Land" erkennt und die zweite
Hälfte des Namens als ein Ideogramm auffaßt, welches „Wasser" bedeutet.
Und in Betreff des Schwankens zwischen Libzu und Assur ist zu bemerken,
daß Oppert bereits 1869 neben der phonetischen Lesung Libzu die ideogra¬
phische Assur für möglich erklärt, und daß Schrader 1874 ganz bestimmt aus¬
gesprochen hat, Libzu sei ein Ideogramm für Assyrien, speziell für Snmiri,
d. h. Südasfyrien. Solcher Tröstung gegenüber wird der Geschichtsschreiber,
wir uns mit v. Gutschmid oben dachten, sich nicht beruhiget!, sondern böse
werden und verdrießlich antworten: „Ach was! Es kann mir ganz und gar
einerlei sein, warum ihr verschiedeuer Meinung seid, mir genügt, daß ihr's
seid. Ich weiß jetzt, woran ich mit euch bin, laßt mich bis auf Weiteres in
Ruhe und kommt mir mit euren Entzifferungen nicht eher wieder, als bis ver¬
schiedene Ansichten über Ermorden und Ermordetwerden unter euch nicht mehr
möglich sind."
Dieß ist der Inhalt des ersten Abschnitts unsrer Schrift in der Haupt¬
sache. Den ferneren können wir nicht in dieser Ausführlichkeit folgen, und so
greifen wir zunächst aus dem zweiten, der ans eine große Anzahl geschichtlicher
und geographischer Unglaublichkeiten hinweist, nur Einzelnes heraus.
Nach Schrader erscheint unter den syrischen Königen, die Salmanassar der
Zweite bei Karkar schlug, Aha-ab-bu Sirlai, d. h. Ahab von Israel. Die
Sache scheint nach der Bibel unmöglich zu sein, aber für Schrader läßt der
Zusammenhang über die Richtigkeit derselben „keinen Zweifel." „Es ist (mit
Sirlai) natürlich Israel gemeint, wie sich aus dem davorstehenden Lünder-
determinativ (mat) mit Sicherheit ergiebt. . . Das sonst gemeiniglich mit dein
Lantwerthe <zir (nicht zir) erscheinende Zeichen ist somit hier mit dem Laut¬
werthe Sir angewandt." Schrader erfindet also einen Lautwerth für
ein Sylbenzeichen, den dasselbe sonst nirgends hat, eigens zu dem Zwecke,
um die Combination des Namens mit Israel zu ermöglichen, und hält
das offenbar für ganz in der Ordnung. Ist das ein erstaunliches Verfahren,
so erstaunen wir noch mehr, wenn er das weitere Geständniß macht: „Als
Gescunmtname der Jsraeliten findet sich der Name Israel in den Keilinschriften
nicht. Auch als Name des nördlichen Reiches erscheint derselbe in der Regel
nicht; es ist vielmehr statt dessen der Name mat Bie Humri im Gebrauche, d.
h. „Land des Hauses Omri's . . . oder aber mat Humri, „Land Omri's" . . .
Der Name „Israel" findet sich, und zwar als Name für das „Reich Israel",
nur einmal in den Inschriften, nämlich auf dem neuentdeckten Steine Salma-
nassars II., wo Ahab von Israel als Sirlai, d. h. als „der von Israel" be¬
zeichnet wird." Also zu dem Hapaxgraphomenon wird auch ein Hapaxlego-
menon eigens um jener Combination willen von Schrader erfunden! Aber
Noch nicht genug: das Erstaunlichste von allem ist, daß Schrader hartnäckig
verschweigt, daß jenes Zeichen, welchem er den Lautwerth Sir aufnöthigt, ein
Polyphon ist, und daß sein Lautwerth zwar bisweilen Sir, viel häufiger aber
su ist, weshalb man viel eher an einen König des oft erwähnten Savia bei
Damaskus, als an Ahab von Israel denken kann.
Besonders schädlich hat die Sucht Schraders und andrer Assyriologen, die
fremdklingenden Namen zu popularisiren, gewirkt. König Binnirar der Dritte
nahm nach einer Inschrift „das Gebirge Bilchu nach feinem gesammten Ge?
biete bis hin zur großen See, welche im Osten gelegen", in Besitz. Schrader
macht aus Bilchn „Balkh." Was mag er sich dabei gedacht haben? Er
folgte nach v. Gutschmid wahrscheinlich ohne nähere Prüfung einer französischen
Quelle. „Balkh ist die französische Orthographie der neupersischen Form des
Namens Bakhtri, aus dem zunächst dnrch dieselbe Lantwcmdlung, die part zu
gut werden ließ, Bansi und erst daraus wieder durch eine Umstellung Bates
geworden ist. Und diese neupersischeste aller neupersischen Formen findet
Schrader auf einer assyrischen Inschrift des nennten Jahrhunderts vor Christi
Geburt wieder! Und diese Inschrift läßt Bilchn „bis zur großen See im
Osten" unterworfen werden, welcher Ausdruck im Munde eines Assyrers doch
nur das Kaspische.Meer bedeuten kann. Balkh liegt aber für den Assyrer jen¬
seits, nicht diesseits des Kaspischen Meeres. Anderswo erklärt zwar Schrader,
der persische Golf sei gemeint, aber auch abgesehen davon, daß dieser südlich,
nicht östlich von Assyrien liegt, wäre damit nichts gewonnen; denn wer hat je
von einem bis zum persischen Meerbusen reichenden Gebiete von Balkh gehört?
Und zum Schlüsse möchten wir noch daran erinnern, daß wir uns wohl ent¬
sinnen, von einer Stadt, einer Provinz, niemals aber von einem Gebirge Balkh
gelesen zu haben."
„Vielleicht keine Stelle ist für Schraders geographische Beweisführung
charakteristischer als die, welche wir aus Anlaß der Erwähnung von Palastav,
d. h. Philistäa, in einer Inschrift Binnirars des Dritten lesen: „Auffallen
muß es aber, daß, währeud Nordisraels (Land Omri) Erwähnung geschieht,
das von den angeführten Ländern gänzlich eingeschlossene Juda Übergängen
ist. Daß dieses absichtlich geschehen, etwa, weil dieses allein nicht tributär ge¬
wesen, ist kaum denkbar. Es gewinnt somit den Anschein, als ob die Assyrer
unter Palastav, d. h. Philistäa, auch Juda mitbegriffen haben, etwa wie
später dieser Name (Palästina) Gesammtname für ganz Kanaan geworden ist.
Ist dem so, so begreift sich, wie in der Verwaltungsliste. . . . der Feldzug
Tiglath Pilesers des Vierten lediglich als nach „Pilasta" (Pi-la-as-ta), d. h.
Philistäa, nicht zugleich, wie man doch erwarten sollte, nach Juda, bezw. Sa-
marien gerichtet bezeichnet wird." Gleich nachher definirt dann Schrader ohne
Weiteres „Pilasta, d. h. Nordisrael und Phönicien." Also erst wird unter
einer schon an sich geographisch wie historisch betrachtet nichts weniger als
unbedenklichen Anwendung des Argumentum a silentio daraus, daß Juda neben
Palastav nicht erwähnt wird, gefolgert, daß die Assyrer Juda mit zu Palastav
gerechnet hätten, und hieraus wieder, daß sie auch Samarien, Nordisrael nnter
Pilasta mit inbegriffen haben werden, obgleich doch die ganze Argumentirnng
davon ausgegangen war, daß zwar Nordisrael, nicht aber Juda neben Palastav
besonders aufgeführt worden. Die Assyrer hätten es demnach ähnlich gemacht,
wie Zwickcmers Söhnchen, das den Marabntstorch im Thiergarten über den
Pelikan hinweg mit dem Phönix verwechselte."
Mit der Ueberschätzung der eignen Ergebnisse geht bei vielen Assyriologen
eine Geringschätzung der besten griechischen Quellen der alten Geschichte des
Orients Hand in Hand. „War Duncker", so lesen wir bei Schrader, „noch in
der dritten Ausgabe in der Lage, sich mit den Berichten der Griechen über die
früheste Geschichte des alten Orients ernsthaft auseinanderzusetzen, so haben
die neuesten Entdeckungen dieselben in vernichtender Weise Lügen gestraft. Die
chronologischen Aufrisse weiter des Herodot und der Hebräer sind zerschellt an
den zwei-, drei- und vierfach contrvlirten Regenteneanones und Eponymenlisten
der assyrischen Thontafeln." Unsere Schrift weist nach, daß zu diesem triumphi-
renden Gerede wenig oder gar kein Anlaß ist. In glänzender Weise wird
namentlich der Bericht Herodots über Dejokes vertheidigt. Wiederholt wird
gezeigt, wie die Herren Assyriologen, namentlich die deutsche Schule, aus noth¬
gedrungenen Auskünften Regeln fabricirt, ans einmaligem Vorkommen auf ein
stetiges oder jedesmaliges geschlossen und ohne Grund mit allerlei andern bei
Lichte besehen grundlosen Hypothesen Geschichte gemacht haben und Ausstel-
lungen gegenüber Recht zu behalten bestrebt gewesen sind. Wir müssen uns
versagen, hier auf die Einzelheiten einzugehen, und bemerken nur, daß die
Polemik v. Gntschmids hänfig — z. B. in Betreff der Entstehung des medi-
schen Reiches, welche durch das cmologe Aufkommen des parthischen erläutert
wird, hinsichtlich der Natur der Suzeränetät im alten Orient und (in Ur. 1
der angehängten Excurse) in Bezug auf die Fortdauer des nordisraelitischen
Reichs nach 721 v. Chr. — zu sehr dankenswerthen positiven Beleh¬
rungen führt.
Die Richtigkeit des entzifferten Inhalts der Inschriften wird bei diesen Er¬
örterungen meist nicht angefochten, doch erinnert der Verfasser daran, daß durch¬
aus nicht alles Urkunde ist, was auf den Thontafeln Mesopotamiens gelesen wird.
Namentlich sind die Eponymenlisten offenbar Entstellungen durch Abschreiber
ausgesetzt gewesen, und die assyrischen Herrscher haben den Bulletinstyl ebenso
gut gekannt und angewendet, als Napoleon und andere Moderne. Die Untrüg¬
lichkeit, die dein Kanon des Ptolemäus allseitig zuerkannt wird, kommt den
Eponymenlisten keineswegs zu. Sie sind deshalb, weil sie aus der Bibliothek
des Sardanapal stammen und auf Thonziegel geschrieben sind, nicht weniger
ein gewöhnliches Buch, als ein beliebiges hebräisches oder griechisches. Sie
sind älter, als die Bücher der Könige in der Bibel, eine Urkunde aber sind sie
nicht. „Nichts vielleicht predigt die Lehre, daß man nicht das erste beste assy¬
rische Schriftstück für eine Urkunde nehmen soll, eindringlicher, als der mehrfach
übersetzte Text, welcher von der Kindheit des Königs Sargon I. handelt. Die
G. Smith. Sargina der mächtige Konig, König
von Agave bin ich.
Meine Mutter ward schwanger, mein
Vater wußte nicht (davon); meines
Vaters Bruder unterdrückte die Gegend.In der Stadt Azuvirani, welche
an der Seite des Euphrat gelegen ist,Empfing sie mich; meine Mutter
war schwanger, und in einem Haine
brachte sie mich zur Welt.Sie legte mich in eine Wiege
von Weidenruthen; mit Erdpech
verschloß sie meinen Ausgang,Und ließ mich fort auf den
Fluß treiben, welcher weg
von ihr mich trug.Der Fluß schwemmte mich
zu AM, dem Abal.Mi, der Abal in der Zärtlich¬
keit seines Herzens hob mich auf.AM, der Abal, zog mich auf
als sein Kind.AM. der Abal, stellte mich
an als seinen Ackermann,Und bei meinem Ackerbau
begünstigte mich Istar.Fox Talbot. Ich bin Sargina, der große König,
Der König von Agami.Meine Mutter kannte nicht meinen
Vater; meine Familie waren die
Herrscher des Landes.Meine Stadt war die Stadt Atzupirani,
welche ist an den Ufern des Euphrat.Meine Mutter empfing mich; an
einem geheimen Orte brachte
sie mich zur Welt.Sie legte mich in einen Kasten
von Binsen, mit Erdpech schloß
sie meine Thür zu.Sie warf mich in den Fluß,
der nicht in den Kasten zu mir
eindrang.Der Fluß trug mich, zur Wohnung
Attis, des Wasserträgers, brachte
er mich.AM, der Wasserträger, in seiner
Herzensgüte hob mich heraus aus
dem Flusse.AM, der Wasserträger, zog
mich auf als seinen eignen Sohn.AM. der Wasserträger, stellte
mich an unter einem Stamme von Wald¬
leuten.
Von diesem Stamme von Waldleuten
machte Istar mich zum Könige.
Smith nennt Sargon den babylonischen Moses und mit Grund; denn abge-
gesehen von der eigentlichen Peripetie, die mit den Worten Exodus 2, 2—3
übereinstimmt, gehen die beiden Uebersetzer in allen die Rettung des Sargon be¬
treffenden Einzelnheiten weit auseinander. Wäre der Text, wie Smith meint,
die assyrische Kopie einer wirklichen Inschrift des genannten Königs, so würde
viel näher als die von dem englischen Assyriologen gezogene Folgerung, daß
hier ein Usurpator spreche, welcher der Sohn eines früheren Herrschers sein
wolle, die andere liegen, daß Dinge in die Inschrift hineingelesen worden seien,
die gar nicht darin stehen. Denn daß ein König so über sich selbst berichtet
haben sollte, ist einfach undenkbar. Erst dann hört der Wortlaut auf, ver¬
dächtig zu sein, wenn man den Text als freie Composition eines viele Jahr¬
hunderte später lebenden Schriftstellers ansieht, der die Sage von der wunder¬
baren Kindheit des alten babylonischen Königs Sargon diesem selbst in den
Mund gelegt hat. Das Schriftstück, von welchem Fox Talbot ansprechend
vermuthet, daß es als Aufschrift auf dem Piedestal der Bildsäule des Königs
angebracht gewesen sei, steht auf einer Linie mit den Epigrammen und Elvgieu,
die in den alexandrinischen und römischen Bibliotheken unter den Büsten be¬
rühmter Männer standen, und die Analogie ist um so frappanter, als an
den Namen Dargons des Ersten die Ueberlieferung eines Werkes über Omma
geknüpft ist, das in assyrischer Uebersetzung der Bibliothek des Sardanapal
einverleibt war.
Wir übergehen das Kapitel über die Anwendung der Entzifferungen, da
es sich nicht in dem hier gebotenen Maße abkürzen läßt, und kommen
zum Schlußabschnitte der Schrift, um den Verfasser derselben noch einmal
ausführlich sagen zu lassen, was ihm bei deren Abfassung vor Angen stand,
und was er mit ihr vor Allem bezweckte.
„Kein einziger Assyriolog hat für feine Disciplin so begeistert Propaganda
gemacht wie Schrader. Sie ist ihm die „vielleicht brennendste Frage der
altorientalischen Wissenschaft." Immer von Neuem sucht er den sich noch fern
Haltenden die Verwerflichkeit ihres Zauderns und Zweifelns begreiflich zu
machen. Die jungen Assyriolvgen arbeiten nach ihm „zur Ehre Deutschlands,
das eine alte Schuld nun endlich einzulösen hat." Unermüdlich im Anwerben
von Rekruten, stellt er, damit ja keiner zurückschrecke, die Schwierigkeiten des
Assyrischer als eine kleine Mühe dar, der man sich gern unterziehe, da die
eminente Bedeutung der Keilschriftstudien in geschichtlich-archäologischer Be¬
ziehung so sehr zu Tage liege. Auch die fragwürdigsten Leistungen werden,
sobald sie nur die Assyriologie betreffen oder ihr Concessionen machen, von
Schrader freudig begrüßt und dnrch Lobsprüche ermuthigt. Wenn irgend Einem,
möchte man Schrader die goldene Mahnung Talleyrands zurufen: «M8 trop
ne 2Ac!« Er sehe zu, daß er nicht durch diese Art Propaganda der Sache,
die er fördern will, mehr schadet als nützt.
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Nun, es genügt ein Blick in
das erste beste halbwissenschaftliche Journal, um zu erkennen, daß die Früchte,
welche eine der Schraderschen anologe rührige Propaganda für die Assyriologie
in England gezeitigt hat, nichts weniger als erfreulich sind. Was uns Deutschen
bevorsteht, davon können wir uns ein deutliches Bild machen, seitdem in der
Zeitschrift für ägyptische Sprache und Alterthumskunde ein internationaler
Sprechsaal für Assyriologie eröffnet worden ist. Was uns in diesem geboten
wird, steht im auffallendsten Contraste zu der Gediegenheit des sonstigen In¬
halts der Lepsius'scheu Zeitschrift. Da wird das eine Mal eine wilde ver¬
wegene Jagd unter den Schäfern von Urru und den Oberschäfern von Nippur
nach Nimrod angestellt, endlich wird er in dem Hammurabi der Inschriften
gefunden und mit ihn: zugleich Amraphel von Sinear, der Unterkönig des Kedor
Laomor; denn — Amraphel ist ein AlloPhon von Nimrod, wie klärlich aus
dem Targum Jonathans bewiesen wird. Ein andres Mal wird Nabonassar,
der die Königsreihe des ptolemäischen Kanon eröffnet, deshalb, weil er auf den
Inschriften noch nicht wiedergefunden worden ist, 'einfach aus der Geschichte
gestrichen. Hier wieder wagt sich in einer Anmerkung die verschämte Vermuth¬
ung hervor, daß der Name des alten Tobias*) in einer Urkunde des Jahres
717 enthalten sein könne, und dort werden die Gull der assyrischen Inschriften
für — die Gothen erklärt**), die damals in Armenien gewohnt hätten, sie,
welche die nordische Sage anch als Asen kennt, neben den am Wan-See hausen¬
den Banen, und so ist es kein Wunder, daß auch die akkadische Mythologie in
der Edda sich wiederfindet: Freia ist keine andere als Istar. Ein andrer Ge¬
lehrter läßt das Schwarze Meer im Jahre 715, also sechzig Jahre vor den
frühesten authentischen griechischen Colonialgründungen daselbst, „von dem zahl¬
reichen Kranze griechischer Colonien" von den Assyrern das griechische Meer
genannt werden, findet den Ambaridi der assyrischen Inschriften in dem Namen
des Colonialgründers Ambrontas, der längst richtig in ^5 verbessert
worden ist, und das Usnanis der Inschriften in dem angeblichen zweiten
Namen von Trapezunt <M^s wieder, der ebenfalls verdorben sein wird, in
dessen Amiant aber anch Anfänger im Griechischen eine abgeleitete Feminin¬
endung und etwas erkennen werden, was nicht zum Körper des Wortes gehört:
das inschriftliche tznrri endlich, welches Sargon erobert hat, versetzt er an den
Tyras und combinirt es mit «l^roh, eolonia. Mosnieium», die der Ignoranz
Ammians ihren Ursprung verdankt. Natürlich ist das griechische Tyras gemeint.
Man sieht, diesen Vorfechtern der Assyriologie ist, so rasch sie auch bei der
Hand sind, Herodot und ähnliche wirkliche Quellen zu größerer Ehre ihrer
neuen Wissenschaft unter das alte Eisen zu werfen, kein Zeugniß des Alter¬
thums spät oder schlecht genug, um nicht dem, was sie in die assyrischen In¬
schriften hineinlesen, als Stütze zu dienen."
Unsere Schrift führt noch einige erbauliche Beispiele solcher Faseleien an
und führt dann fort: „Bei einem Stande der Assyriologie, wo nach Schraders
eigenem Geständniß in den Syllabaren ein ungeheures Material noch brach liegt,
das kaum in Decennien ausgeschöpft sein wird, und wo, so sollte man glauben,
auf lange hin als Hauptaufgabe vorgezeichnet ist, das Verständniß des Ent¬
zifferten durch philologische Arbeit, Feststellung des Lexikons, Ausbau der
Grammatik zu vertiefen, hier und da sogar erst zu schaffen, könnte es schwerlich
als ein Glück betrachtet werden, wenn ans dem bisher von der Wissenschaft
mit großer Einseitigkeit eingeschlagenen Wege weiter fortgeschritten würde, auf
welchem thatsächlich neun Zehntel von dem, was Assyriologie heißt, zu einem
historischen Dilettiren herabsinkt, das sich dnrch einen dreifachen Panzer von
Ideogrammen, Polyphonen und Allophvnen gegen die Einwürfe der Kritik zu
schützen meint. Ans diesem Wege wird die „vielleicht brennendste Frage der
altorientalischen Wissenschaft" schwerlich je gelöscht werden. Einige Eimer kalten
Wassers auf den Brand und auf die Köpfe der die brennende Frage jubelnd
umgaukelnden Thhrsusschwinger würden jedenfalls die Löschung rascher bewirken,
als die von Schrader angewendeten Mittel."
Wir unterbrechen hier den Verfasser, um den Lesern die Mittheilung zu
machen, daß zwar der Guß kalten Wassers, den v. Gutschmid dem Schraderschen
Kreise hier applicirt hat, ohne Wirkung bleiben zu wollen scheint, da die Herren
dem Vernehmen nach meinen, ein Historiker habe hier nicht drein zu reden,
es müsse ein Assyriolog oder doch ein genauer Kenner der semitischen Sprachen
sein, wenn sie sich um eine Kritik kümmern sollten, daß aber ein zweiter Eimer
auf die brennenden Köpfe der Korybanten ausgegossen worden ist, der von
einem Assyriologen kommt und zwar von keinem geringeren als von ihrem
Großkophta in Paris, und der an Kälte nichts zu wünschen übrig läßt.
Oppert spricht in einer Recension unsrer Schrift in den Göttinger Gelehrten
Anzeigen vom 1. November in gewohnter geschwollener Weise über einen Theil
der v. Gutschmidschen Angriffe ab, aber das, worauf es bei diesem vor Allem
abgesehen war, acceptirt er und spricht es fast höhnisch in seiner Weise nach.
Schrader muß sich von seinem Herrn und Meister zunächst das zweifelhafte
Compliment machen lassen, er habe „durch seine lichtvolle Behandlung die
Keilschriftforschnng den deutschen Gelehrten mundgerecht gemacht." „schaffend
aufzutreten ist bis jetzt sein Beruf nicht gewesen." O weh! Es kommt aber
besser, kälter. „Sich selbst Geschichte einreden, darf nur ein Roman¬
schriftsteller. Auf diesem Felde wird indeß jeder Assyriologe hinter dem letzten
der dichtenden Autoren zurückbleiben. Seit sechs Jahren habe ich mich ver¬
geblich bemüht, meinem werthen Freunde Schrader („werthen", wie herablassend
und wie ironisch zugleich!) diese Thatsache klar zu machen. Er hat das Ge¬
fährliche eigenmächtiger Geschichtserfindung nicht erkennen wollen.
Nun sind seine Ansichten den Angriffen ausgesetzt, die man ihm längst voraus¬
gesagt hatte. Haboat. sibi!" Gehaben Sie Sich wohl, und lassen Sie Sich's
wohl bekommen! Sprach's und wandte sich ab. Furchtbar!—Weiter sagt der
Große zum Kleinen, ihn wieder ans falschem Wege findend, „Herodot" sei
„durch die Inschriften glänzend bestätigt worden." Endlich erreicht die Ab¬
kanzelung ihre Klimax in folgenden Worten: „Der ernsteste Vorwurf, der ge¬
rade Duncker zu machen ist, ist, daß er der ganz grundlosen Schrader-
schen Theorie gehuldigt hat. Herrn Schrader ist sein Lyrismus zu
verzeihen; der Historiker Duncker ist unbegreiflich." „Beckers Weltgeschichte ist
gerade nach assyrischen Quellen der Wahrheit gemäßer als Duncker, der
Schraders Verwirrung vulgarisirt hat." Sich selbst Geschichte einreden —
eigenmächtige Geschichtsersindnng — die ganz grundlose Theorie Schraders —
sein Lyrismus — seine Verwirrung — man sieht, Eimer ans Eimer kältesten
Wassers. Ob es den Brand wohl löschen wird? Jedenfalls wird der in solchem
Ton Desavouirte Herrn Oppert wenig Dank wissen, daß er auf diese Art „für
seinen wissenschaftlichen Schüler eingetreten" ist; vielleicht wird er sogar be¬
dauern, daß er uicht durch Schweigen zu v. Gutschmids erstem Angriff sich diesen
— nun, wie sollen wir sagen — diesen groben Rüssel von oben herab er¬
spart hat.
Wir lassen nun v. Gutschmid noch einmal kurz zusammenfassen, was er
an der Assyriologie in Deutschland und speziell an Schrader, „demjenigen Ge¬
lehrten, der hier in seinem Fache der Erste ist", auszusetzen hatte. „Ich tadle,
daß Entzifferung und Deutung des Entzifferten in einer Weise mit historischen
Combinationen verquickt wird, daß die Sicherheit sowohl der Entzifferung als
der historischen Combinationen darunter leidet. Ich tadle die Leichtigkeit, mit
der am Ende jeder Sackgasse, in welche zu großes Sicherheitsgefühl den Ent¬
zifferer geführt hat, ein allgemeines Theorem bereit gehalten wird, das für
den einzelnen Fall heraus ins Freie führt, aber die Willkür vermehrt und
damit die Verläßlichkeit der Entzifferung im Ganzen gefährdet. Ich tadle,
daß zwischen dem, was sicher, und dem, was nicht sicher ist, nur in sehr un¬
genügender Weise geschieden wird und so die, welche die assyriologischeu Ergebnisse
benutzen wollen, irre geführt werden. Ich tadle das Mundrechtmachen der fremden
Eigennamen für das große Publikum durch „geschmackvolle" Uebersetzungen,
die Behandlung der geographischen Nomenclatur, die auf ungefähren Gleich¬
klang hin in ganz autoschediastischer Weise gedeutet wird, und die Ignorirung
oder Geringschätzung aller griechischen Quellen, sowie die Ueberschätzung alles
durch die assyrischen Entdeckungen zu Tage geförderten Materials, namentlich
den Mißbrauch des Argumentum a silentio. Ich tadle ferner den Mangel an
Methode, der in der vorschnellen Aufstellung und ausgiebigen Verwendung
kritisch verpönter Auskunftsmittel, wie der Polyonymie von Königen, der Homo¬
nymie von Ländern zu Tage tritt, und kann in der vermeintlichen Nöthigung
zum Gebrauch solcher Auskunftsmittel nur ein Anzeichen sehen, daß die Assy-
rivlvgie über den Zusammenhang, in welchem die den Anstoß gebenden Namen
vorkommen, im Dunkeln tappt, ohne sich dieß einzugestehen. Ich tadle mit
einem Worte das nach den verschiedensten Seiten hin zu Tage tretende Ueber-
hasteu der Entzifferung und die sanguinische Art, mit der man sich über die
Schwierigkeiten derselben hinweghilft und durch apologetische Schönfärberei auch
Anderen darüber hinwegzuhelfen sucht. Schrader verdankt das Vertrauen,
welches in weiten Kreisen seinen assyriologischen Arbeiten entgegengebracht
worden ist, in erster Linie einem Rufe der Ehrlichkeit, welche die sicherste
Garantie gegen jede Art von Schwindel geben wird. Allein er besitzt eine
Eigenschaft, welche bei der Enträthselung einer unbekannten Sprache und
Schrift schlimmer ist als Schwindel: er ist Enthusiast. Noch heute bleibt —
daran hat auch das von ihm auf diesem Gebiete Geleistete mich nicht abzubringen
vermocht — der Assyriolvgie gegenüber das Mahnwort des alten Cato in
Kraft: <ÜKg.Iäavos rie eonsulito!"
Holt euch nicht Rathes bei den Assyriologen! Wir danken für das Buch,
das hiermit als mit seiner Moral und Quintessenz schließt, dem Verfasser auf¬
richtig, wir werden seine Mahnung in einem feinen Gedächtniß behalten, und
wir hoffen, unsere Leser werdeu Desgleichen thun. Sie werden sich gut da¬
bei stehen.
Wenn ans dem Gebiete der internationalen Industrie und ihrer Hülfs¬
wissenschaften Entdeckungen von tief einschneidender Wichtigkeit gemacht werden,
so eilen sie, auf den Flügeln des Dampfes über Land und Meer den Rund¬
gang über die Erde zu machen. Umgekehrt verhält es sich mit neuen Erfin¬
dungen auf dem Gebiete der Kriegswissenschast. Werden sie von dem Mitglied
eines einzelnen Staates gemacht — wir reden hier mir von wirklichen Er¬
findungen, nicht von den oft auftauchenden, hänfig für den Sachverstän¬
digen äußerst komisch gestalteten Projecten — dann pflegt der Staat die
neue Erfindung ängstlich zu hüten, und erst der nächste Krieg lüftet den
Schleier des Geheimnisses, stellt aber auch den wahren Werth der neuen Ein¬
richtung fest, mitunter sehr im Widerspruch mit den Resultaten der Friedens-
experimente auf den Uebnngsplätzen. — Fast zugleich, seit ungefähr 15 Jahren,
traten Panzerboote und Torpedo auf. Die allgemeinen Züge beider setzen wir
bei unsern Lesern als bekannt voraus. Wahrend indessen der Kampf zwischen
der Artillerie und dem Panzerboote die ideellen Principien jeder wahren
Kriegführung: Vernichtung der feindlich en Streitmittel, Wechselwirkung,
die sich fortwährend steigert und keine Schranken anerkennt, als das Recht des
Stärkeren — so recht in aller Reinheit zur Geltung bringt, als wollte er Hohn
sprechen allen jenen gutgemeinten Conventionen und Konferenzen, die vergebens
sich abquälen, dem bluttriefenden Ares Glaeeehandschuhe anzuziehen — während
dieser laute Kampf tobte, wuchs ganz im Stillen ein Gegner dem Panzerschiff
heran, der berufen scheint, die Frage, ob Panzer, ob nicht, zu einer endgültigen
Lösung zu bringen.
Wohl durchschlagen die beiden größten Geschütze der Neuzeit, das englische
81-Tons-Geschütz, und Krupps 35,5-Centimeter-Kanone, Schiffspanzer von
22 Zoll Eisenstärke wie eine Pappschachtel, aber nicht allein technische Schwie¬
rigkeiten aller Art, auch der Kostenpunkt hindert die Anschaffung solcher Riesen¬
geschütze. — Auch hat der „Panzerbauer" noch nicht sein letztes Wort ge¬
sprochen; er droht, und bisher hat er auch stets sein Wort gehalten, ebenso
wie der Artillerist, auch gegen diese Projectile sich unverwundbar zu machen.
Wenn der friedliebende und ökonomische Leser erwägt, daß 10 Millionen
Mark gerade hinreichen, ein Panzerschiff „anständig" auszurüsten, wenn er
bedenkt, daß die Herstellung und Ausrüstung einer Landbatterie gegen dieses
Panzerschiff dieselbe Summe ungefähr beansprucht, und er in Folge dessen mit
Grausen seinen sauer erworbenen Nickel in dem Curtiusschlund dieser Kriegs¬
ausrüstung verschwinden sieht, so wird er dankbar erleichtert ausathmen, wenn
wir ihm sagen können, es ist dafür gesorgt, „daß die Bäume nicht in den
Himmel wachsen." Sehr bald erkannte man in allen Staaten, daß richtig an¬
gewendete Torpedo das beste Schutzmittel gegen Panzerschiffe seien. Drei Ar¬
ten von Torpedo sind gegenwärtig im Gebrauch, (die dritte vielmehr soll erst
in Gebrauch kommen), welche uns hier beschäftigen. 1) Defensiv-Torpedo.
Darunter versteht man Sprengmittel jeder Art, welche unterseeisch in gewisser
Höhe über dem Grunde verankert, vom Lande aus durch elektrische Zündung
im gegebenen Moment gesprengt werden. Mehrere Reihen solcher Torpedo^
schachbrettförmig vertheilt, durch einen vorliegenden breiten Gürtel von Flo߬
hölzern gesichert, unter dem Kreuzfeuer gut gepanzerter Batterien liegend,
bilden eine sogenannte Torpedo-Sperre. Die Gegner des Torpedo wer¬
den allerdings sehr schnell mit einer solchen Torpedo-Sperre fertig — auf
dem Papier. Man will dagegen Geschwader von Ruderbooten der angreifen¬
den Marine mit sogenannten Torpedo-Sonden in Thätigkeit bringen.
Eine Torpedo-Sonde besteht aus 2—3 Booten, die unter einander durch breite
Latten resp, schmale Bretter verbunden sind. Solch Brettergerüst wird in ge¬
wisser Tiefe gehalten und soll beim Vorwärtsrudern, in Verbindung mit
Drahtnetzen :c>, die Torpedo durch Berührung zur Explosion bringen. Dieß
wird wohl anch gelingen, zugleich aber wird meist die Bemannung der Boote
ebenfalls ins Jenseits befördert werden. Der Zudrang zu diesen Expeditionen
dürfte daher; bald abnehmen, besonders da sie nur von Nutzen sind, wenn sie
vorgenommen werden, ehe die Landbatterien zum Schweigen gebracht find, also
in deren bestem Shrapnel- und Kartätschfeuer. Die Wegnahme und Erobe¬
rung der Landbatterien würde natürlich eine weniger gefährliche „Torpedo-
Suche" gestatten, macht sich aber in der rauhen Wirklichkeit nicht so glatt. —
Diese einfachste und ursprünglichste Art der Torpedo-Vertheidigung giebt also
schon recht befriedigende Resultate. Die Kosten derselben sind gleich Null zu
achten, wenn man sie gegen die Kosten des Versuchs hält, dasselbe Fahrwasser
durch Panzerschiffe zu sperren. Selbstverständlich lassen sich den Umständen
gemäß vielfache Variationen in der Anlage einer solchen Torpedo-Sperre
treffen, so daß man sie dem Terrain und den Absichten des Vertheidigers auf
das Genaueste anpassen kann. 2) Offensiv-Torpedo, nach ihrer ersten
Construction auch Cigarrenboote von den Konföderirten genannt, welche sie
zuerst und bis jetzt in unübertroffener Meisterschaft anwendeten. Es sind kleine
Dampfboote, deren bewegende Kraft verschiedenen Ursprungs sein kann, aber
stets auf mindestens 17—18 Knoten in der Stunde (d. h. cirea 5 deutsche
Meilen) sich steigern läßt, um bei der Verfolgung oder auf der Flucht auch
dem schnellsten Gegner gewachsen zu sein. An der Spitze tragen sie den Tor¬
pedo, der, auf die verschiedenste Weise laneirt, dem feindlichen Schiffe den Tod
bringt, indeß der Offensivtorpedo in der Regel Zeit zur Flucht behält. Durch
derartige Torpedo vernichteten die Konföderirten in zwei Jahren den Nord¬
staaten mehr Material, als sie in zwei großen Seeschlachten hätten thun können;
die Angst vor diesen Torpedo allein war es, welche die Häfen der Konföde¬
rirten trotz der großen feindlichen Flotte immer offen hielt und den Blocade-
Runners, den Blocadebrechern, ihre kühnen Fahrten ermöglichte. 3) Taucher-
Torpedo. Die große persönliche Gefahr, welcher die Führer von Offensiv-
torpedv Trotz bieten mußten, da sie fast immer den letzten schwierigsten Theil
ihrer Aufgabe unter dem heftigsten Gewehrfeuer der feindlichen Schiffsmann¬
schaft auf ganz kurze Distance ausführen mußten, führte auf die Erfindung der
Taucher-Torpedo, Minen-Boote, Spreng-Boote, welche verschiedenen Namen
alle ein und dasselbe Ding bezeichnen, einen Offensiv-Torpedo, der längere
Zeit unter Wasser „leben" kann. Wenn irgendwo, so kommt hier der chemische
Begriff: Leben heißt Sauerstoff verbrennen! zur reinen Gestaltung. Von einer
Erfindung im eigentlichen Sinne kann man zwar nicht reden. Taucherboote zu
friedliche» Zwecken kennt die Industrie schon seit längerer Zeit. Seit Jahren
aber arbeitet die Kriegsmarine aller Staaten daran, diese Einrichtung für
den Krieg nutzbar zu machen, und nicht ohne Erfolg. Man baut jetzt Taucher¬
boote, die mit Leichtigkeit unter Wasser 16 Knoten, oder 4 deutsche Meilen die
Stunde, machen. — Die „Landratte", besonders die „gebildete", ist sehr geneigt,
derartige neue Erscheinungen des Seewesens mit gleichgültigem Achselzucken an¬
zusehen. In diesem Falle dürfte aber das Interesse ein sehr gediegnes Motiv
haben. Es ist für uns Alle erfreulich, wenn der Staat nicht mehr gezwungen
ist, Hunderte von Millionen für Kriegsmaschinen auszugeben, deren Nutzen im
besten Falle fraglich bleibt. So lange als die großen Panzerschiffe keine
andern Gegner fürchteten, als die Artillerie, war keine Aussicht, daß die sich
fortwährend steigernde Wechselwirkung aufhören würde, welche zwischen einem
Schiffspanzer von 60 Centimeter Dicke, wie ihn der Inflexible trägt, zwischen
dem Geschoß von 800 Kilo, welches Krupps 35,5-Centimeter-Kanone braucht,
und zwischen dem Staatssäckel besteht.
Jetzt aber ist die Sache anders geworden: wie die Büchsenkugel des armen
Hakenschützen, sammt der Waffe nur wenige Thaler werth, den Ritter in Mai¬
länder Rüstung, die tausend Gulden kostete, röchelnd in den Sand der Wahl¬
statt warf, so ist der Taucher-Torpedo so recht „des armen Mannes Waffe".
Wenige Thaler genügen zu feiner Herstellung, 3—4 entschlossene Männer zu
seiner Bemannung, ja diese laufen Dank einer andern rechtzeitig gemachten
Erfindung nicht viel mehr Gefahr, als jede Patrouille in einem feindlich ge¬
sinnten Lande, als der Mineur des Pionirbataillons, der, auf Horchwache
liegend, dem Tode in scheußlichster Gestalt trotzt, den die Quetschmine zermalmen,
der Erddruck verschütten, das Messer oder Beil des Gegners zerfleischen kann.
— Die neue Erfindung, welche wir meinen, ist der unter dem Namen a, 1a,
Le>Mo bekannte Anzug, welcher auch dem Nichtschwimmer einen 20-stündigen
Aufenthalt im Wasser ermöglicht. — Wir werden weiter unten sehen, wieso
diese Erfindung von uns eine „rechtzeitige" genannt werden kann. Zunächst
wollen wir versuchen, unsern Lesern einen Begriff zu geben, von dem, was
man unter Taucher - Torpedo, Minen - Boot oder wie man den Todfeind der
Panzerschiffe nennen will, zu verstehen hat. Man denke sich ein von allen
Seiten luftdicht verschlossenes Gehäuse, Boot kann man kaum sagen, aus dem
sich nach Belieben des steuernden ein kleineres Gehäuse erhebt, 80—100
Centimeter hoch, mit Glasplatten, welche nach allen Seiten sreie Umsicht ge¬
statten. Das Boot ist von dem specifischen Gewicht des Wassers, kann nach
Belieben Wasser als Ballast nehmen und auswerfen, kann vermittelst hy¬
draulischen Apparates sowohl in der horizontalen als verticalen Ebene gesteuert
werden. Es muß einem bei weitem größeren Wasserdruck widerstehen, als
irgend ein oberseeisches Fahrzeug, und schou aus diesem Grunde wird es so gebaut
sein, daß es nach Belieben auf und unter der Oberfläche des Meeres gebraucht
werden kann. Eine Vorkehrung befindet sich an Bord, die selbstthätig schließend
durch den Druck des darüber hinströmenden Wassers das Boot bei dem Unter¬
tauchen sichert.
Um die Magnetnadel vor jenen Unregelmäßigkeiten zu sichern, welchen
sie an Bord von Panzerschiffen unterworfen ist, und welche nicht als letztes
Moment erscheinen, den Dienst auf einen: Panzerschiff unangenehm zu machen,
hat man vorgeschlagen, zur Herstellung der Taucherboote eine Kupferlegirung
zu verwenden. Eine derartige Neuerung würde bei der geringen Große der
Boote nur eine geringe Preissteigerung bedingen, welche noch durch die größere
Widerstandsfähigkeit gegen die Einflüsse des Salzwassers sich schließlich als
wirkliches Ersparniß herausstellen dürfte. Um nun eine sichere Steuerung
des Bootes, in der Dunkelheit, welche schon in geringer Tiefe des Wassers
herrscht, möglich zu machen, dient folgende Vorkehrung: die Steuerung erfolgt
von der Kajüte aus vor einem erleuchteten Kompaß, ganz in der Art wie ein
Schiff bei Nacht gesteuert wird, nur steht hier dem steuernden jeden Moment
ein Mittel zu Gebot, etwa begangene Richtnngssehler zu redressiren. Glaubt
er nämlich, in der Richtung nicht ganz sicher zu sein, so steigt er zur Ober¬
fläche empor, das gläserne Gehäuse erhebt sich über die Wellen auf einige
Augenblicke, und in demselben befindet sich eine kurze Zielstange, welche mit
Visir und Korn versehen, genau in der Scheitelebene über der Mittellinie des
Bootes angebracht ist. Die Zielstange wird gerichtet, das zum Ziel ersehene
Panzerschiff anvisirt, und lautlos verschwindet das verderbenbringende Meer¬
ungeheuer, in der Tiefe den Weg verfolgend zum Herzen seines Feindes. Je
wechselnder die Meeresströmungen auftreten, innerhalb deren die Boote ihren
Weg suchen müssen, desto häufiger wird das Boot von diesem Corrections-
mittel seines Kurses Gebrauch machen müssen. Eine Gefahr resultirt indessen
für das Boot nicht hieraus, nur wird unter Umständen das feindliche Panzer¬
schiff gewarnt die Flucht ergreifen können, falls es nicht von mehreren dieser
unheimlichen Gesellen gleichzeitig angefallen wird. Das kleine runde Gehäuse,
gänzlich unerwartet aus den Wellen emportauchend und 1—2 Minuten viel¬
leicht nur sichtbar, giebt selbst dem geübten Büchsenschützen auf ca. 200 Schritte
ein nur sehr ungewisses Ziel. Vom Schuß auf weitere Distancen oder etwa
vom Geschützfeuer würde das Boot gar nichts zu besorgen haben. Wer die
Schwierigkeit, selbst bei ruhiger See, ja selbst bei spiegelglattem Wasser auf
unbekannte Entfernung kleine Objecte zu treffen, aus eigener Erfahrung kennt,
der wird dem Schreiber dieser Zeilen Recht geben, wenn er den Ausspruch
liest: Gewehrfeuer ist ohnmächtig gegen die Taucher-Torpedo. Schließlich
würde es em Leichtes sein, das Gehäuse schußfest herzustellen, die Glasplatten
nicht ausgeschlossen. Da das untergetauchte Boot nur wenige Schritte weit
vor sich sehen kann, wegen der Undurchsichtigkeit des Wassers, so muß ein
anderer Weg eingeschlagen werden, um die Besatzung des Taucherbootes er¬
kennen zu lassen: jetzt sind wir in der Nähe unseres Opfers.
Da unter dem Wasser weder Wind noch Wellen, sondern nur constanter
Wasserdunst und stellenweise eine in ihrer Stärke genau bekannte Strömung
auf das Boot einwirken, so werden einmal die Bewegungen des Motors, sei
derselbe nun Schraube oder Kolben oder Turbine, einen ziemlich genauen
Distaneenschützer angeben, andererseits aber Meßinstrumente, direct in Ver¬
bindung mit dem Richtungsgehäuse die wünschenswerthe Genauigkeit ergeben.
Indem nun das Boot sich dieser Hülfsmittel bedient, wird es in einem be¬
kannten Fahrwasser, in welchem tausendfache Uebungsfahrten Officiere und
Mannschaften mit dem Meeresgrunde und seinen Strömungen vollkommen
bekannt gemacht haben, nur selten noch des Auftauchens bedürfen. Ruhig in
steter, langsamer Fahrt wird es den Rumpf des feindlichen Panzers erreichen,
den Torpedo mit Zeit- oder Leid-Zündung in der Nähe der feindlichen Schraube
logiren, und nach einigen Augenblicken existirt das feindliche Schiff nicht mehr!
Erfolgt der Angriff des Torpedo in einer hellen Sommer- oder Mondnacht,
so ist ein Wahrnehmen des auftauchenden Bootes für den Feind fast eine
reine Unmöglichkeit. Wir haben bis jetzt absichtlich als Zeit für den supponirten
Angriff den Tag gedacht, um es dem Angreifer fo schwer als möglich zu
machen. Wie bekannt, müssen aber die Panzerschiffe zu ihren Actionen möglichst
ruhiges Wetter haben, und daher werden diese Vorfälle meist im Sommer
stattfinden, dessen Nächte in unsern nordischen Meeren mit ihrer langen Dämme¬
rung derartigen Unternehmungen der Taucherboote ganz besonders günstig sind.
Eine feindliche Flotte, behufs Blokirung unserer Häfen auf einer oder mehreren
Rheden ankernd, würde in wenigen Tagen aufgerieben werden dnrch eine mit
den örtlichen Verhältnissen durch jahrelange Uebungsfahrten vertraute Torpedo¬
brigade, und dieß vermuthlich ohne nennenswerthe Einbuße, ja sehr möglicher
Weise, ohne ein einziges Menschenleben unsrerseits zu verlieren. Kostete doch
binnen zwei Jahren die Blocade von Charleston in Nord-Karvlinci den Nord¬
staaten vier treffliche Panzerschiffe und zwei Holzschiffe mit zusammen über
1500 Mann, ohne daß es bekannt geworden, daß von den damals üblichen
sechs Offensivtorpedo, welche zum Angriff verwendet wurden, mehr als einer
verunglückt sei. Und damals war die ganze Erfindung noch in der Kindheit.
Bei Gelegenheit der Sprengung des Hellgate-Riffs bei New-Iork hat man die
eingehendsten und günstigsten Erfahrungen über die Leistungsfähigkeit von
Taucherbooten gemacht. Wir würden uns in ein unsere Leser vielleicht er¬
müdendes Detail verlieren müssen, wenn wir über die Art, wie der eigentliche
Torpedo nun am Taucherboot befestigt und vou diesem auf das dem Unter¬
gange geweihte Schiff übertragen wird, eingehendere Mittheilung machen sollten.
Der Methoden giebt es hier so viele, daß in der That ein embarrÄS as
riedessk! vorhanden scheint. Es läßt sich heute durchaus uicht sagen, welche
Art und Weise den Vorzug verdient. Ist doch noch die ganze Frage eine
flüssige. Noch keine zwei Jahre ist es her, als von gewichtiger Seite her die
ganze Frage für eine illusorische erklärt wurde: Wenn auch alle Schwierig¬
keiten durch die Technik besiegt werden sollten, es wird unmöglich sein, Leute
für einen so gefährlichen Dienstzweig heranzubilden. Und heute? Nicht allem
die Technik hat alle Schwierigkeiten wenigstens in soweit verringert, daß alle
Mariner eifrig mit diesen Versuchen vorgehen, und nirgend Hort man die
Klage, daß es bis jetzt an Arbeitskräften fiir dieses neue Feld mangele. —
Was endlich die Unterhaltung des Sauerstoffes zur Athmung und Verbrennung
betrifft, so äußert sich eine fachmännische Autorität dahin, daß es nicht zweck¬
mäßig sei, verdichtete atmosphärische Luft zu diesem Behufe mitzuführen, da
nur ein Theil derselben, der Sauerstoff, zur Athmung und Verbrennung brauchbar
sei. Mehr würde sich hierzu verdichteter Sauerstoff empfehlen, den man durch
geeignete Vorrichtungen derart vertheilt, daß zugleich dem Bedürfniß der Ath¬
mung, wie dem der Verbrennung Genüge geleistet wird.
Wenn man anch das Boot so klein als möglich machen muß, so glaubt
man doch eine Größe annehmen zu dürfen, die demselben erlaubt, vier Tage vom
heimischen Hafen fortzubleiben, immer vorausgesetzt, daß die Construction des
Bootes eine solche ist, die gestattet, es auch über Wasser fahren zu lasten.
Es ist ersichtlich, daß Booten, welche derartig construirt, eine weit gewaltigere
Offeusivkraft innewohnt, als denen, welche nur auf den mitgeführten Vorrath
von Sauerstoff angewiesen find. Denkt man sich die deutsche Nord- und Ostsee¬
küste in Abschnitte getheilt, welche Geschwadern von solchen Taucherbooten zur
Vertheidigung zugewiesen werden, die sodann unter dem Schutze großer Kriegs¬
schiffe weitreichende Ausfälle gegen die feindlichen Panzerschiffe unternehmen,
denkt man sich ein oder zwei solcher Unternehmungen geglückt, so dürfte die
deutsche Küste mit ihren immensen Reichthümern auf die ganze Dauer des
Krieges geschützt sein. Und hier ist der Ort von der Wichtigkeit jener Erfin¬
dung zu berichten, die wir der Kürze wegen den Anzug a, ig, Lo^wu nannten,
obwohl Kapitän Boyton weder der erste, noch der einzige Erfinder ist. Nicht
allein die Mannschaften der Taues erd vote, sondern auch diejenigen und zwar
zu allererst, welche sich zu Führern vou Offen hio-Torpedo über Wasser
qualificiren, müssen mit solchen Anzügen ausgerüstet werden. Es muß das
ein durchaus privilegirtes und ganz gesetzlich verbrieftes Recht jeuer wackern
Männer sein. Es darf kein Einziger auch nur zu einer größern Probefahrt
oder Uebung commandirt werden, ohne einen Anzug, der ihm im Fall eines
Mißlingens die Möglichkeit giebt, sich zu retten. Sache der Technik wird es
sein, diese Anzüge so zu modificiren, daß sie die Mannschaften bei der Ausübung
des Dienstes wenig hindern und doch ihren Nutzen behalten. Es liegt in der
Natur der Sache, daß die Verwendung aller Torpedoboote fast nur in der
Nähe der Küste stattfinden kann. Hat man also die Möglichkeit, jedem Einzel¬
nen von der Besatzung jener Boote das Mittel zu bieten, sich 20 Stunden
über Wasser zu halten, so ist damit ihm auch seine Rettung beinahe verbürgt.
Wie wir oben schon erwähnten, brauchen die heutigen marinen Expeditionen
ganz besonders ruhiges Wetter, was den Werth jener Rettungsanzüge noch
bedeutend erhöht. Diejenige Regierung, welche recht ausgiebig und liberal mit
der Vertheilnng dieses neuen Hilfsmittels verfährt, wird sicher dadurch eine
gewaltige Steigerung des. moralischen Elements als Dank ihrer Humanität
ernten. Durch drastische und belehrende Experimente muß die neue Einrichtung
dem von Natur conservativen und mißtrauischen Seemann, wenn nöthig gegen
seinen Willen, mit energischer Disciplin klar gemacht werden. Eine Anzahl
solcher Schwimmer, in einer mondhellen Sommernacht als Eclaireurs gegen
feindliche Positionen vorgehend, könnte vortreffliche Dienste leisten, und der
Führer eines Torpedo, der überzeugt ist, mit Hülfe seines Schwimmanzuges
sicher so lange über Wasser zu bleiben, bis seine zwei Meilen entfernte Fregatte
herangedampft ist, wird mit sorgloser Kaltblütigkeit an seine Arbeit gehen. Er
weiß: „Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn mir etwas passiren sollte!"
Das macht ihm sein Herz leicht und seine Hand sicher.
Darum nannten wir die Erfindung des Boyton'schen Schwimmanzuges
eine zeitgemäße. Sind die Leute eines Minen-Bootes mit dem Anzüge ausge¬
rüstet, so ist ihnen damit die Möglichkeit gegeben, sich der Gefangennahme und
damit dem Tode zu entziehen. Darüber dürfen wir uns keinen Illusionen
hingeben: fällt die Bemannung eines Torpedobootes dem Feinde in die Hände,
so wird sie meist niedergemacht werden, viele Officiere werden nicht einmal den
Willen, wenige die Autorität ihren erbitterten Leuten gegenüber haben, sie zu
retten. Wer selbst Schlachten und Gefechte mehrfach mitgemacht, der wird hier
nicht widersprechen! Dazu kommt, daß der Angriff mit einem solchen Torpedo-
Taucher etwas ganz besonders Heimtückisches und Hinterlistiges hat, was den
Angegriffenen erklärlicherweise in die äußerste Erbitterung bringt. — Sollte
daher irgend eine genfer oder brüsseler Convention ihre papierne Stimme auch
zu Gunsten der Torpedoführer erheben, wir vermuthen, die Matrosen, die einen
erwischen, würden kurzen Proceß mit ihm machen. — Der einzige Krieg zwischen
europäischen Mächten, welcher uns gestattet, ein Beispiel für das Auftreten von
Torpedo zu citiren, ist der deutsch-französische von 1870. Damals sind auf
deutscher Seite nur Defensiv-Torpedo aufgetreten als Hafensperre. Da die
französische Flotte sich vollkommen leidend verhielt und keinen Hafen zu formen
versuchte, sind auch die deutscheu Torpedo-Sperren nicht zur Activität gelangt.
Zur Wirksamkeit aber gelangten sie wohl, denn die Schatten dieser Torpedo
spukten in allen officiellen und officiösen französischen Artikeln über die Flotten¬
angelegenheit; Torpedo-Sperren mußten als Vorwand dienen, daß nirgend ein
französisches Kriegsschiff näher als fünfzehn Seemeilen an einen deutschen Hafen
ging. Nehmen wir nun an, die Situation kehre ähnlich wieder. Vor Wilhelms¬
hafen, vor Kiel, vor Danzig, ankerten feindliche Panzerflotten, jeder dieser
Häfen aber sei mit einer Brigade von sechs Taucher-Torpedo Versehen, die seit
Jahren dort stationirt und geübt seien.
Nehmen wir an, jeder Taucher-Torpedo habe 60,000 Mark gekostet—das
ist eine unwahrscheinlich hohe Summe, aber sei es darum — dann repräsentiren
diese achtzehn Boote rund ca. 1 Mill. Mark.
Wir dürfen wohl ohne übertreibende Anmaßung annehmen, daß diese
Boote ebenso wohl ihre Schuldigkeit thun würden, als irgend ein anderer Be¬
standtheil des deutschen Heeres oder der deutschen Marine. Sprengt aber jede
Brigade nur ein Panzerschiff in die Luft, so dürfte der Eindruck auf die feind¬
liche Flotte nicht zu unterschätzen sein. Versuchen dann die feindlichen Panzer
trotzdem die so bewehrten Häfen zu foreiren oder an irgend einem andern
Punkt der Küste eine Landung zu versuchen, so steigern sich mit jeder Kabel¬
länge landwärts die Chancen für die Taucherboote; und es wäre wohl mit Sicher¬
heit anzunehmen, daß die sich häufenden schweren Verluste auch den kühnsten
Gegner zum stehen bringen würden, ehe er den Kampf mit den Strandbat-
terieu aufnehmen würde. Während eines solchen Kampfes aber würde erst
recht das reichste Wirkungsfeld sich den Taucherbovten darbieten, da sie in
völlig bekannten Fahrwasser, unter dem Schutz der befreundeten Batterien keine
andere Gefahr zu scheuen hätten, als zufällig von einem feindlichen Schiffer
„gerammt" zu werden, eine Gefahr, die zehnmal geringer ist, als sie jeder
Füsilier oder Grenadier im Dorf- oder Waldgefecht durchmachen muß.
Weder Schutznetze noch wasserdichte Kammern können dem Panzer Sicher¬
heit gegen den Torpedo verleihen. Wird ihm die Schraube oder das Steuer¬
ruder weggesprengt, so liegt er da, eine inerte Masse, die wenn nicht dem
ersten, so doch dem dritten und vierten Torpedo erliegt, welcher gegen ihren
Boden geschleudert wird.
Theorien siud oft trügerisch, bisher aber hat auch die Theorie, so frucht¬
bar sie oft an Ideen zu sein pflegt, noch kein Hülfsmittel gegen einen euer-
gischen Torpedoangriff gefunden. Netze, Schlagstangen, elektrisches Licht
sind in Vorschlag gebracht worden gegen die Offensiv - Torpedo, welche doch
wenigstens auf der Oberfläche blieben, und sie haben auch nicht einmal etwas
genutzt. Trotz aller dieser Mittel verloren die Nordstaaten vor Charleston, die
Südstaaten in der Roanoke-Mündung, die Brasilianer vor Humaita ihre Panzer¬
schiffe durch Torpedo.
Sicher ist es, daß derjenige Staat, welcher das Gebiet der Torpedo-An-
legenheit am eifrigsten aufbaut, bei dem Ausbruch des nächsten Krieges die
Panzerfrage gründlich entscheiden wird, vermuthlich zu Gunsten der neuen
W
Des Gutsbesitzers Kowalski Bekanntschaft haben unsre freundlichen Leser
bereits gemacht. Heute mögen sie, etwa zwei Jahr später, mir in sein Haus
und auf sein Gehöft folgen. Schicken wir einiges über seine Familienverhält¬
nisse voraus. Herr Kowalski war als früher herzoglich warschauer Beamter
von der preußischen Regierung übernommen und als Secretair bei der Re¬
gierung in Bromberg angestellt worden. Es dauerte aber uicht lange, da nahm
eine junge Polin, die an einen reichen alten Edelmann verheirathet war, ein
so heftiges Interesse an ihm, daß ihr Mann für geboten erachtete, sich von ihr
scheiden zu lassen, worauf sie Frau Regierungsseeretär Kowalski wurde. Diese
Stellung mißfiel ihr trotz aller heißen Liebe; so bewog sie denn ihren Neu¬
vermählten, seine Entlassung ans dem Staatsdienst zu nehmen und mit ihrem
nicht sehr ansehnlichen Vermögen ein Gut zu kaufen — ein Entschluß, welcher
bei dem Versiegen einer sichern, regelmäßigen Einnahmequelle der uenbegründetcn
Familie verhängnißvoll werden sollte. Das erworbene Gut Rasselwitz besaß
einen guten Mittelboden, der bei einiger Kultur alle Früchte zu tragen und
einen reichlichen Ertrag zu liefern vermochte. Diese Kultur hatten ihm aber
weder die polnischen Vorbesitzer gegeben, noch besaß Kowalski dazu Lust und
Verständniß. So kam es denn, daß die sich rasch vermehrende Familie sehr
bald in unablässige Geldnoth gerieth, während die leidenschaftliche Liebe der
Frau K. zu ihrem Manne sich rasch abkühlte und allmählich in glühenden Haß
umschlug. Das Bedürfniß der Geselligkeit blieb indeß so lebhaft in allen
Theilen der Familie, als wenn sie im Stande gewesen wäre, Gäste auf das
Reichlichste zu bewirthen. Freilich machten von dieser Gastlichkeit zu der Zeit,
von der ich aus eigner Anschauung berichte, nur solche Gebrauch, die nur sehr
bescheidene Ansprüche erhoben; es waren hauptsächlich Gymnasiasten aus der
benachbarten Stadt, darunter eben auch meine Wenigkeit. Der Stern, der
unsre Blicke von all den Nebendingen ablenkte und allein auf sich zog, war
die damals, als ich sie kennen lernte, kaum sechzehnjährige Anastasia, der Ab¬
gott ihrer Mutter — denn sie war schön.
Als ich nun, gleichfalls von diesem Magnet angezogen, einer Einladung
der Söhne, einige Tage der Sommerferien mit ihnen in Rasselwitz zuznbringei?'
Folge leistete, obwohl, ich schon stolzer Tertianer, Nepoumcen dagegen nur
Quintaner, die andern sogar nur Sextaner und Septimaner waren, wurde ich
voll Nepomucen, der mir fast gleichaltrig war, in einer schlichten Britschke
abgeholt. In freudiger Aufregung und Erwartung langte ich ans dem Gutshöfe
an. Dort wurde, ich denn doch überrascht, als der Wagen vor einer ver¬
fallenden Blockhütte vorfuhr. Da ihre Schwellen längst verfault waren, so
ging bei der fortdauernden langsamen Senkung des ganzen Gebäudes auch der
Verband der starken Wandbohlen auseinander. Sie wurden deshalb mehrfach
dnrch äußere Stützen in ihrer Lage festgehalten, damit nicht das ganze Haus
in sich zusammenstürzte. Alle Fenster und Thüren waren windschief. Als ich
dnrch die Hausthür eintrat, mußte ich mich bücken, obwohl ich noch nicht aus¬
gewachsen war. Von Zimmern habe ich nur zwei zu sehen bekommen, die
große Vorderstube, in welcher der Hausherr wohnte und schlief und auch
Gästen, z. B. mir, eine Schlafstätte bereitet wurde, und die lange schmale
Kammer daneben, die Wohn- und Schlafstube der Damen. Die dahinter ge¬
legene Küche, sowie die zwei Stuben oder Kammern, welche das Haus wohl
noch außerdem fassen mochte, und in denen die Söhne ihr Unterkommen fanden,
sind mir nicht zu Gesicht gekommen. Ich hatte auch genug an den Empfangs¬
zimmern.
Die vielgerühmte und rühmenswerthe polnische Gastfreundschaft bewährte
sich bei meinem Eintritt in das Vorderzimmer. Der alte Kowalski, in einem
gepolsterten Armstuhl am Fenster sitzend, neben sich die Krücke, reichte mir die
Hand entgegen und zog mich jungen Burschen zu einem Bruderkusse an sich,
wie einen alten Freund des Hauses. Ich gestehe, daß ich seine zärtlichen
Empfindungen nicht gleichmäßig erwiderte; sein Schnurrbart trug Merkmale
des Tabakschnupfens an sich, und seine Nanking-Leibwäsche zeigte anch meinen:
ungeübten Auge manche Schattirungen von dunklerer Farbe, die mich abstießen.
Bei der Dame des Hauses kam ich besser weg, ihr küßte ich (allerdings ohne
Appetit) die welke Hand und wurde indeß von ihr auf den Kopf geküßt. Der
reizenden Anastaschka gegenüber schien es mir bei allem innern Drange, ihr
die zärtlichsten Höflichkeiten zu erweisen, doch schicklich, mich mit einem Hände¬
druck und einer Verbeugung zu begnügen. Merkwürdig! diese Hände, die ich
niemals bei der Arbeit sah, die namentlich niemals in der Küche beschäftigt
wurden, waren dennoch rauh und roth — wie ich später erfuhr, zu großer
Bekümmerniß Anastaschkas. Daß noch eine ältere Tochter vorhanden war,
erfuhr ich zunächst gar nicht; sie war das Aschenbrödel der Familie und galt
nicht für gesellschaftsfähig. Und in der That, als ich Pauline später kennen
lernte, faud ich sie sehr unbeholfen im Umgang, was vielleicht daher kam, daß
sie immer fürchtete zu mißfallen; denn täglich und stündlich wurde sie von
ihrer Mutter und ihren Geschwistern durch Worte und durch zurücksetzende
Behandlung daran erinnert, daß sie nicht schön war. Aufrichtig gesprochen,
war sie es auch nicht, aber eben so wenig hatte sie irgend etwas Entstellendes
an Gesicht und Körper, wenn man nicht etwa die enge Stirn als solches an¬
sehen wollte. Bei Anastasia war dieser angebliche Sitz des Verstandes aller¬
dings viel ausgedehnter und wohlgestalteter, im übrigen besaß sie vor der
Schwester nur noch den Vorzug der größeren Frische und Rundung in Gesicht
und Körper. Dabei besaß Paula ein immerhin unverdorbenes Herz, Anastasia
dagegen an dessen Stelle einen Stein. Das war der Erfolg ihrer ungerechten
Bevorzugung durch die Mutter und infolge dessen auch durch ihre Brüder.
Diese schmähliche Vernachlässigung und Zurücksetzung unschöner Kinder,
besonders von Töchtern, die dann freilich auch oft verschuldete Verdummung nach
sich zieht, habe ich bei polnischen Familien mehrfach beobachtet; sie wirft einen
tiefen Schatten auf das Herz der polnischen Frauen, auch auf ihre Einsicht.
Eine deutsche Mutter wird sich wohl hüten, ein Kind fühlen zu lassen,
daß es von der Natur in seinem Aeußern vernachläßigt ist; anstatt es zurück¬
zusetzen, wird sie es eher mit doppelter Liebe umfassen. Ueberdieß weiß sie,
daß nicht die hübsche Larve den Werth des Menschen bestimmt und sein Lebens¬
glück entscheidet, sondern die Ausbildung seines Geistes und Herzens; darum
wird sie noch mehr bei ihren unschönen Kindern um diese Ausbildung bemüht
sein, als bei den schönen. Dieser Unterschied in dem Verhalten der Mütter
der beiden Nationen zu ihren Kindern — die polnischen Väter kümmern sich
in der Regel gar nicht um die Erziehung ihrer Kinder — gibt einen deutlichen
Fingerzeig dafür, daß die Polen in der Gesittung weit hinter den Deutschen
zurückstehen.
Doch kehren wir zu meinem ersten Besuch in Rasselwitz zurück. Ich stellte
weder über das Herz der habichtnüsigen Frau Kowalski noch über dasjenige der
hübschen Anaßka tiefe Grübeleien ein, sondern hielt alle Herzen im ganzen
Hans für vortrefflich. Es war schon Mittagszeit, und es wurde ein einfacher
alter Tisch von Kiefernholz in der Mitte der großen Stube gedeckt. Wir nahmen
daran auf verschiedenen Stühlen und Schemeln, zum Theil mit abgebrochenen
Lehnen, Platz. Außer Paulina fehlten dabei aber auch die beiden jungem
Sohne. Wie ich später erfuhr, wurden sie in der Küche abgespeist, weil es
an Tischgeschirr für sie fehlte. Es war alles aufgetragen, was Hof und Keller
zu liefern vermochten, das Beste darunter war ein Ferkelbraten. Dieses
Wildpret bedürfte nicht vieler Pflege und war in Rasselwitz zur Verwendung
jederzeit zahlreich zur Hand. Diese Tugenden, auch die Treue, mit der sie
immer wieder in ihren Stall zurückkehren, die Müßigkeit im Gebrauch ihrer
Freiheit, die Dienstwilligkeit, mit der sie ihren Herren das Forträumen ge¬
wisser Widerwärtigkeiten abnehmen, haben die Schweine von den ältesten Zeiten
an zu den Liebliugshausthieren der Slaven gemacht.
Der Ferkelbraten nun, der mir damals zum ersten Mal vor die Gabel
kam, schmeckte zwar etwas weichlich, dennoch aber mit den aufgesprungenen
Pellkartoffeln gut, sehr gut. Was sollte uns nicht gut schmecken in dem glück¬
lichen Alter von 16 Jahren, wenn wir zum Mittag eine Reise auf das Land
machen!
Die Unterhaltung wurde hauptsächlich von dem Hausherrn geführt, indem
er uns einzelne Erlebnisse, am meisten aber Schnurren und schlechte Witze
vortrug, ohne Rücksicht auf seine erwachsene Tochter, geschweige seine Frau zu
nehmen. Daß er sich dadurch selbst um jeden Respect bei seinen Kindern brachte,
abgesehen von der Mißachtung, die ihnen von der Mutter gegen ihn beigebracht
wurde, davon schien er keine Ahnung zu besitzen. Zwischen den Eheleuten
selbst fiel fast nie ein Wort; es blieb auch jeder Theil außer beim Mittag und
Abendbrot, wenn Gäste da waren, auf sein Revier eingeschränkt.
Die Sprache, in der man sich bei Tisch unterhielt, war die deutsche, die
alle Mitglieder der Familie fast wie ihre Muttersprache in ihrer Gewalt hatten,
was um so weniger auffallen konnte, als die Dienst- und Arbeitsleute des
Guts und der nächsten Umgebung ebenfalls dieser Zunge angehörten. Unter
sich sprach die Familie Kowalski indeß polnisch und bewahrte so ein gewisses
polnisches Nationalgefühl, welches meine halbknabenhaften Gefühle für Ana-
staschka zuerst abkühlte, als es mir von ihr bemerklich gemacht wurde. Ich ge¬
Horte nicht zu den Tausenden von deutschen Jünglingen, die sich durch die
zärtlichen Blicke feuriger Polinnen und dnrch die bevorzugte Stellung, die
ihnen die polnischen Männer einräumen, wie wenn sie selbst schon Männer
wären, die etwas geleistet haben, in einen Taumel versetzen lassen, in welchem
sie die unschätzbaren Errungenschaften ihrer Väter, ihre höhere Gesittung, Bil-
dung, Sprache und Religion wegwarfen, um dagegen eine äußerlich schillernde,
innerlich faule und untergeordnete Nationalität und eine geisttödtende Religion
anzunehmen und dadurch ihre eigne Nachkommenschaft dem allgemeinen pol¬
nischen Versumpfen und Verderben auszusetzen. Mich schützte gegen solche
Verirrung die früh entwickelte Liebe zur vaterländischen Geschichte, die ich für
mich las. Unvergeßlich wird mir unter den Büchern, die damals meinen
Geist und mein Herz nährten, Kohlrauschs Geschichte der Freiheitskriege bleiben.
So ließ ich mir denn die Männerehren, die meinem allerdings überpolnischen
Wissen erwiesen wurden, und die Mädchengnnst gern gefallen, blieb aber in¬
mitten von oft verbissenen Polen ein verstockter enthusiastischer Deutscher. Ich
lernte auch wenig Polnisch unter ihnen, sie mußten sich quälen, mit mir sich
deutsch zu verständigen. — Noch muß ich hier bemerken, daß der alte Ko¬
walski, obwohl er als Freimaurer im Ganzen ein Mann ohne Vorurtheil war,
doch den angeerbten Nationalhaß gegen die Deutschen nicht ganz unterdrücken
konnte. Als ich einst mit ihm durch ein deutsches Dorf fuhr, ging ein Bauer
vor unserm Wagen gemächlich über den Weg; auf der andern Seite an einen
Zaun angelangt, hob er langsam ein Bein über denselben und blieb dann ritt¬
lings sitzen, um uns erst vorbei fahren zu sehen. „Sehen Sie", rief mein
polnischer Begleiter aus, „da haben Sie einen solchen verfl......Deutschen!
Ehe der über den Zaun kommt, ist ein Pole schon zehn Mal darüber wegge¬
sprungen!" Es war nicht zu bestreiten, das deutsche Phlegma des Bauern
nahm sich gar nicht ansprechend aus; aber ihn deswegen zu verfluchen, konnte
nur durch einen tiefeingewurzelten Nationalhaß erklärt werden. Merkwürdig,
daß diese langsamen Bauern immerwährend, freilich anch nur langsam, aber
doch vorwärts kommen und die flinken Polaken durch Kauf verdrängen und
vor sich hertreiben.
Nach Tische gingen wir jungen Leute in Ermangelung eines Gartens auf
den uneingefriedeten Grasanger hinter dem Hause, auf dem unregelmäßig zer¬
streut einige Espen und Schwarzpappeln, auch zwei oder drei Linden und
eine Anzahl verwahrloster Sauerkirschen und Waldbirnen standen. Wir lager¬
ten uns im Schatten und plauderten, bis die Kaffeestunde herbeikam und wir
wieder in das Hans zurückkehrten. Hier wurde ich eingeladen, den Nachmit¬
tagstrank im Damenzimmer einzunehmen. In Ermanglung von Stühlen setzte
sich die kleine Gesellschaft auf die Betten. Der Kaffee kam fertig, mit Sahne
und Zucker zubereitet, in Wassergläsern aus der Küche; dazu wurde ein wirk¬
lich sehr schönes weißes Landbrod mit frischer Butter gereicht — ein köstlicher
Schmaus! Alles, auch das Brod, war das Verdienst des unsichtbaren Küchen¬
geistes Pauline.
Doch er wurde sichtbar. Nach dem Kaffee hielten es die jungen Beine
nicht länger aus, es mußte getanzt werden, und bei dem Mangel an Damen
wurde Pauline als Nothnagel ans der Küche geholt. Sie machte ihre Sache
auch ganz gut, nicht schlechter als Anaßka, die.etwas schwerfällig war. Die
„jungen Herren" aber bewiesen sich in der Tanzkunst als Meister und stellten,
nicht zum wenigsten der Septimaner, den Tertianer, der besonders den Masurek
noch nicht zu Stande brachte, in tiefen Schatten. Musik machte dazu der „Alte" mit
einer Violine. So wurde der Tag lustig verbracht und noch ebenso mancher andre.
An die Ferienarbeiten, an die Bücher überhaupt dachte keiner der jungen Bur¬
sche, und die Eltern auch nicht.
Was von diesen als noch achtungswerth anzuerkennen war, das war die Resi¬
gnation, mit der sie sich in ihre Armuth zu finden wußten, und die Geringfügigkeit der
Bedürfnisse, in der sie ihre Kinder erzogen. Es muß hierzu bemerkt werden,
daß diese Resignation in der Noth eine eigenartige Tugend der Polen ist.
Sie wissen schlechte Zeiten durch harte Entbehrungen bis zum vollständigen
Hunger zu überwinden. Viele Familien vermögen dadurch sich Jahre lang
auf Gütern zu halten, die ihnen fast gar keinen Ertrag liefern, sondern
sast wüst und in Ruinen liegen, und von denen Deutsche, die solche Entbeh¬
rungen nicht zu ertragen vermögen, schon längst verschwunden wären. Die
Familie Kowalski hat die kümmerlichen Verhältnisse auf Rasselwitz wohl min-
bestens zwei Jahrzehnte hindurch ertragen. Aus eigner Kraft sich wieder in
eine bessere Lage zu versetzen, der Gedanke lag allen ihren Gliedern fern. Die
Landwirthschaft, die bei einer nur geringen Einsicht, bei einem nnr mäßigen
Eifer für sie, die Familie anständig hätte ernähren können, blieb auf eine
sündhafte Weise vernachlässigt. Nur ein einziges Mal habe ich den alten
Kowalski außerhalb seiner Stube und in der Wirthschaft beschäftigt gesehen,
es wurde Getreide eingefahren, und er saß dabei im Taß der Scheune — es
war wirklich noch eine Art von Scheune, obwohl in sehr baufälligen Zustande,
vorhanden — um das Aufbansen zu beaufsichtigen. Was auf dem Feld ge¬
schah, schien des Herrn Auge nie, höchstens im Vorbeifahren von der Land¬
straße aus, zu sehen.
Ohne Hoffnung auf Besserung kann aber kein Menschenherz bestehen.
Worauf setzten die Kowalskis ihre Hoffnung? — Nun, auf weiter nichts als
auf „gute Parthien", welche die Kinder machen sollten. Und worauf gründete
sich diese Hoffnung? Bei Anastasia ausschließlich auf ihre Schönheit, bei den
Knaben auf ihre erwartete Fähigkeit, dem weiblichen Auge zu gefallen, also
durch Zierlichkeit in der Haltung und Bewegung des Körpers, durch einen
schönen Bart, durch ein gewisses ritterliches Auftreten, dann durch die Geschick-
lichkeit, möglichst passend dem weiblichen Ohr zu schmeicheln u. dergl. Alles
war demnach auf Schein und Aeußerlichkeit ohne Inhalt, ohne Realität abge¬
sehen. Als mit dem Tode des alten Kowalski in den ersten Vierziger-Jahren
des Jahrhunderts die Vorbildung auch der jüngeren Sohne abgeschlossen war,
fehlte ihnen sämmtlich jede innere Tüchtigkeit, auch die Fähigkeit, irgend einen
Beruf auszufüllen, weil sie nicht im Stande waren, mit Ausdauer zu arbeiten.
Und doch besaßen sie noch einen unschätzbaren Vorzug vor den meisten andern
jungen Polen: durch das andauernd eingeschränkte Leben ihrer Eltern, auch
wohl durch den vielfachen Verkehr mit Deutschen, blieben sie vor frühzeitiger
Genußsucht und Ausschweifungen bewahrt, auch blieb ihnen trotz des Cynismus
ihres Vaters Achtung vor dem weiblichen Geschlecht.
Verfolgen wir nun zunächst das Schicksal von Anastasia. Der Graf wollte
durchaus nicht kommen. Die zarte Röthe ihrer Wangen schlug schon in lebenskräf¬
tigen Purpur um, der sich zu ihrem Schrecken auch auf dem Kinn und auf dem
feinen Näschen ausbreitete, ihr zierliches Figürchen dehnte sich schon bedenklich
in allen Richtungen aus, und noch war überhaupt kaum ein ernstlicher Freier
dagewesen. Anbeter, schwärmerische Anbeter, bis zum Selbstmord schwärmerisch,
in Fülle — aber alles Knaben, Jungen, Milchbärte — alle sehr nett. Es wurde
auch keiner ganz zurückgestoßen, es konnte doch schlimmsten Falls mit irgend Einem
noch etwas werden. Für jeden hatte Staschka noch einen Blick, einen Hände¬
druck, der auf eine für ihn laut klingende Saite ihres Herzens schließen ließ.
Auch ich! O, ich war oft sehr selig! — Indeß ein Sperling in der Hand ist
immer mehr werth, als eine Taube auf dem Dache. In der Zeit, wo die
Noth schon groß war, wurden die Besuche eines benachbarten Wirthschafts-
inspeetors häufiger und häufiger. In der Nachbarschaft verlautete, der stattliche
Hermannowski bewerbe sich um die blühende Anastasia Kowalska. Anastasia
bestritt das: „Ein solcher Inspector wird doch nicht so dreist sein, mich hei-
rathen zu wollen!" Inzwischen wurde Rasselwitz endlich verkauft; bei der
Höhe der Güterpreise war es möglich, daß die Familie von dem Kaufgelde
noch ein nicht unbeträchtliches Kapital für sich erübrigte. Auf jedes Mitglied
traf etwa der Betrag von 2000 Thalern. Es war nicht polnisch, daß die Ko¬
walskis das Geld nicht sofort in Saus und Braus durchbrachter, sondern
ihre eingeschränkte Lebensweise fortsetzten. Fran K. zog mit ihrer Lieblings¬
tochter nach der Stadt und miethete sich eine bescheidene Wohnung. Anastasia
war aber thatsächlich jetzt erst in den Stand gesetzt, einen Mann zu nehmen,
weil sie erst jetzt mit einer Ausstattung versehen werden konnte. In der Stadt
ging immer bestimmter das Gerücht um, Herr Hermauuowski habe von Anastasia
das Jawort. Anastasia besuchte öfter meine Schwester, ihre „Freundin", und
betheuerte mit himmelwärts gerichteten Blicken, das sei eine Lüge, sie würde
keinen bloßen Inspector heirathen, sie könne auch den Menschen nicht leiden. Aber
der Gutsbesitzer mit dem prächtigen Viergespann vor der Kutsche kam nicht.
Endlich hieß es: Heute wird Anastasia mit Hermcmnowski getraut! — Da er¬
schien Anastasia bei meiner Schwester, in ihren schönen braunen Augen Thränen.
Sie hatte auch von dem Gerede gehört. schluchzend warf sie sich der Freundin
an die Brust: „Es ist alles Lüge, theuerstes Herz, bei Gott im Himmel! Du
glaubst nicht, wie schlecht die Menschen sind, daß sie mir so etwas nachsagen!"
— Das war Vormittag. — Am Nachmittag sah meine Schwester sie mit dem
Myrthenkranz im Haar am Arm des glückstrahlenden Hermannowski nach
der Kirche gehen. — Eine halbe Stunde darauf war sie wieder bei der
„Freundin". Ein neuer Strom von Thränen. „Ach, Geliebte, ich bin sehr
unglücklich! Das Schicksal wollte es einmal nicht anders, ich mußte ihn
doch nehmen."
Wie ist — abgesehen von der Herzenshärte — diese unerhörte Lügen¬
haftigkeit bei einem jungen Mädchen zu erklären? Ich glaube einzig durch die
Hoffnung, es würde vielleicht noch am letzten Tage, in der letzten Stunde der
Graf mit sechs oder doch der Gutsbesitzer mit vier Jsabellen oder Rappen an¬
kommen. Dann hätte es sich durch die Thatsache erwiesen, daß nicht die schöne
Anastasia, sondern die „schlechten Menschen" gelogen hatten. Hermannowski
hätte sich müssen zufrieden geben, denn er war ja „nur Inspector". Nun,
„da das Schicksal es nicht anders wollte", mußte Anastasia von ihrem Un¬
glück um so schwerer betroffen sein, als ihre so verachtete Schwester eigentlich
eine bessere Partie machte als sie. Paulina hatte schon Jahr und Tag vorher
einen kleinen Besitzer geheirathet, mit dein sie ganz glücklich lebte, zumal sie
ihre Pflichten als Hausfrau wacker erfüllte.
Die Hauptspeculativn der Familie Kowalski mißlang also. Sie gelang
aber bei einem der Söhne. Der älteste gewährte kaum Aussichten dazu, er
besaß ein wenig bestechendes Aeußere und noch weniger Kopf. Es geschah
vielleicht zu seinem Glück, daß er schon mit 20 Jahren an einer hitzigen Krank¬
heit starb. Der jüngste war gewandter als sein älterer Bruder, konnte aber
ebenso wenig die Bücher leiden und blieb in Sexta oder Quinta stecken. Er
ist verschollen und wird, wenn noch am Leben, irgendwo auf polnischem Boden
ein kümmerliches Dasein fristen. Der geistig begabteste und gewandteste der
drei Brüder war der mittlere, Apollinar; er brachte es bis Tertia, und wenn
er die Schule nicht weiter besuchte und einen Beruf mit geistiger Arbeit wühlte,
so lag das nicht am Mangel an Fähigkeiten, sondern an seiner Abneigung gegen
die Arbeit und daran, daß sein Sinn ganz darauf gerichtet war, den Eleganten
zu spielen. So ging er denn ab und verschwand bald aus dem überwiegend
deutschen Westpreußen nach dem „Herzogthum", wo unter den dort zahlreichen
Stammgenossen seine hohe „Bildung" und seine geselligen Fähigkeiten besser
zur Geltung kamen.
Im Jahre 1848 tauchte er unter den polnischen Insurgenten, selbstver¬
ständlich als Offizier, vielleicht Hauptmann oder Major, und als Kommandant
eines kleinen Nestes auf. Die Lorbeern, die er sich bei diesem Kommando,
wahrscheinlich ohne eine Pickelhaube sich gegenüber gesehen zu haben, erwarb,
haben vermuthlich das Herz einer patriotischen und zugleich reichen Polin
vollends zum Schmelzen gebracht — Apollincir machte bald darauf wirklich
eine „gute Partie". Das Glück war jedoch nur ein beschränktes und kurzes.
Erschien sein Patriotismus und seine feine Tournüre für die Dauer nicht als
genügende Grundlage für das praktische Leben und vermißte man andre reelle
Tüchtigkeit an ihm, oder lagen andre Gründe gegen ihn vor — mir ist nnr
so viel bekannt, daß er schon lange von seiner Frau getrennt ist und bald da,
bald dort von einer Rente lebt, die ihm sein Schwiegervater ausgesetzt hat.
Das ist nun das Glück des fähigsten und geschicktesten Mitgliedes der Familie
Kowalski, daß es keine Heimath besitzt und im kräftigen Mannesalter ohne
Beruf in Müßiggang und Unstätigkeit ein nicht verdientes Brot ißt. Polen
mag das freilich als ein Veneidenswerthes Loos erscheinen.
Bei den Wahlen des Jahres 1874 waren in den dreiundzwanzig Wahl¬
kreisen des Königreichs Sachsen gewählt wordein 7 Nationälliberale (Pfeiffer,
Frühauf, Stephani, Brockhaus, Koch, Georgi, Krause), 1 Reichsconservativer
(Schwarze), 4 Partieularisten, die sich zur deutschen Reichspartei schlugen
(Ackermann, Günther, Nostiz, Könneritz) oder wild blieben (Richter), 4 Fort¬
schrittler sächsischer Prägung (Minckwitz, Eysoldt, Oehmichen, Heine), und end¬
lich 6 Socialdemokraten (Gelb, Vahlteich, Most, Bebel, Moteller, Liebknecht).
Bei den Wahlen vom zehnten Januar sind nur sechzehn Wahlen fest zu
Staude gekommen. Drei Nationalliberale (Frühauf, Stephani, Gensel), vier
Partieularisten (Ackermann, Richter, Reich und Günther), sechs Socialdemokraten
(Moteller, Bebel, Liebknecht, Auer, Most, Gelb und Demmler), ein Reichs¬
conservativer (Schwarze) und ein Fortschrittsmann (Eysoldt) sind unzweifel¬
haft gewählt.
Nicht weniger als neun Wahlen in dem kleinen Lande stehen noch aus.
Drei von diesen Stichwahlen müssen zwischen nationallibercilen und social¬
demokratischen Candidaten, drei zwischen conservativen und socialdemokratischen
Candidaten, und endlich zwei zwischen einem Nationalliberalen und einem Par-
ticularisten ausgefochten werden. Die Fortschrittspartei hat es nur in einem
einzigen Wahlkreise, und hier nur mit Hülfe der Conservativen, zur Stich¬
wahl mit einem Nationalliberalen gebracht.
Unter diesen Umständen kann der Zweck dieser Zeilen nicht ein historischer
Rückblick sein auf abgeschlossene Thatsachen, sondern nur der Versuch, aus der
Lehre dieser Wahlen den besten Vortheil für die Zukunft, namentlich die be¬
vorstehenden Stichwahlen zu ziehen.
Mit die größten Erfolge hat bei den Sächsischen Wahlen vom zehnten Ja¬
nuar unzweifelhaft die nationalliberale Partei errungen. Sie hat drei Sitze im
Reichstag bereits fest gewonnen, von diesen hat sie einen (den des fünfzehnten
Wahlkreises) den Socialdemokraten abgenommen. In sechs weiteren Wahl¬
kreisen kommt sie zur Stichwahl. In drei von diesen sechs Kreisen ringt sie mit
der Socialdemokratie und hier wie in allen übrigen mit der größten Hoffnung auf
Erfolg. Zwei von den drei übrigen Stichwahlkreisen, welche die nationalliberale
Partei bei der Nachwahl gegen einen fortschrittlichen und einen conservativen
Stichcandidaten zu vertheidigen hat, gehörten ihr schon bisher, und werden ihr
nach dem Ergebniß der Wahl vom 10. Januar voraussichtlich gleichfalls ver¬
bleiben. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die nationale Partei numerisch stär¬
ker als je zuvor aus diesen Wahlen zum Reichstag hervorgehen.
Aber die numerischen Erfolge sind bei weitem nicht die größten,
welche die nationale Partei in diesem Kampfe aufzuweisen hat. Wenn man
sich erinnert, daß diese Partei bei den Wahlen zum constituirenden Reichstag
im Frühjahr 1867 nicht einen einzigen ihrer Candidaten durchsetzte, daß sie
im Herbst 1867 vier Abgeordnete in den ersten ordentlichen Reichstag des
Norddeutschen Bundes sandte, in beiden Sessionen des deutschen Reichs¬
tags durch je sieben Abgeordnete vertreten war und nun beim ersten
Rennen der letzten Januarwahlen drei Parlamentssitze sich gesichert hat,
und in sechs Stichwahlen mit der größten Aussicht auf Erfolg eintritt,
so wird man allerdings das moralische Schwergewicht anch dieser nume¬
rischen Erfolge nicht verkennen. Denn sie besagen deutlich genug: daß die
nationale Partei in drei Wahlkreisen die absolute, in sechs andern die
relativ größte oder zweitgrößte Majorität sich errungen hat. In dem Zeit¬
raum der letzten zehn Jahre ist das der größte Machtzuwachs, den irgend,
eine Partei in Sachsen — nächst der Socialdemokratie — erlangt hat
Aber diese sandte bereits in den constituirenden Reichstag zwei ihrer
Apostel, die nationale Partei nicht einen Vertreter. Noch rühmlicher wird aber
dieser Erfolg, wenn man sich die Wahlkreise ansieht, in denen die nationale
Partei nach der jüngsten Wahlschlacht gesiegt hat oder zur Stichwahl gelangt.
Einen der festgewonnenen Wahlkreise (den fünfzehnten) hat sie, wie bereits er¬
wähnt, der Socialdemokratie abgenommen. Und zur Stichwahl gelangt sie in
Kreisen, welche bisher zur unbestrittenen Domäne der Socialdemokratie und des
Fortschrittes, d. h. des radicalen Particularismus, gehörten. Die Hochburg
der sächsischen Hofdemokratie, Dresden, ist dem Fortschritt verloren; das Pa¬
radigma dieser unregelmäßigen Politiker, Dr. Minckwitz, ist beseitigt; der natio¬
nale Candidat Professor Dr. Mayhosf tritt in Dresden mit — Bebel in die Stich¬
wahl ein. Fast dasselbe Schauspiel bietet der seit 1867 stets durch den particula-
ristischen Fortschrittsmann Oehmichen vertretene Wahlkreis. Herr Bebel und
Herr Liebknecht mußten sich in ihren eigenen angestammten Wahlkreisen beinahe
zur Stichwahl mit einem Nationalliberalen bequemen. Auch Freiberg, das
1868 und wieder 1873 ein Raub der Socialdemokratie wurde, kann der
nationalen Partei, die es dort zur Stichwahl brachte, gewonnen gelten.
Jeder Sieg erlangt seinen wahren Werth aber erst durch die Macht und Wider¬
standskraft der überwundenen Gegner. Und darum hauptsächlich darf die nationale
Partei zufrieden sein mit ihren Wahlresultaten in Sachsen. Denn leicht ist ihr
der Kampf und Sieg nirgends gemacht worden. Ein bekannter preußischer
Reichstagsabgeordneter, der am Wahltag Leipzig passirte, sagte mir mit Recht,
nachdem er von unserer Wahlliteratur in Placaten und Presse Kenntniß ge¬
nommen: „Wie leidenschaftlich ist bei Ihnen der Wahlkampf! Wo der nationale
Mann nur hintritt, ist ihm Gift gelegt." Die nationale Partei hat in allen
Wahlkreisen*) mit dreifachen Gegnern sich zu schlagen gehabt: mit Socialisten,
mit Conservativen und fortschrittlichen Particularisten. Wo eine dieser Gegen¬
parteien zu schwach war, hat sie sich redlich mit ihrem Extrem verbündet, nur
um den nationalen Candidaten zu Fall zu bringen. Im ersten Wahlkreis
der Lausitz haben die Ultramontanen freudig mit für den angeblich fortschritt¬
lichen Schutzzöllner Fränkel gegen den nationalen Pfeiffer gestimmt. In
Leipzig warfen Conservative und Fortschrittler ihre Stimmen für Hänel in
die Urne und brachten es ans 1757. Und trotz dieser dreifachen Gegner diese
Wahlresultate für die Nationalliberalen!
Ueberreich verdiente Niederlagen hat die Sächsische Fortschrittspartei in
dieser Wahlschlacht geerntet. Von den vier Reichstagssitzen, die sie bisher inne
hatte, sind ihr zwei vollständig verloren: Dresden und der Leipziger
Landkreis. In zwei andern tritt sie mit geringen Chancen in die Stichwahl.
Und keine Partei war hochmüthiger und unduldsamer in den Wahlkcunpf ein¬
getreten als sie. Ueberall suchte sie in rein nationale Wahlbezirke ihre Candi-
daten einzuschmuggeln. Die Stadt Leipzig wurde bereits vor acht Monaten
dnrch ein Manifest der fortschrittlichen Localvorsehung überrascht, in welchem
diejenigen mit dem Zeugniß politischer Unreife bestraft wurden, welche den
weiland designirter, aber durch unvorhergesehene Hindernisse unernannt ge¬
bliebenen Justizminister Friedrichs des sachter von Augustenburg, Herrn Professor
Hänel in Kiel, nicht zum Abgeordneten für Leipzig wählen würden. Offenbar
gingen die Freunde dieser Kandidatur von der Ansicht aus, daß dieselbe durch
längeres Liegen besser werde. In Annaberg-Buchholz tauchte noch in den
letzten Tagen vor der Wahl die fortschrittliche Candidatur eines gewissen
Dr. Taunert aus Leipzig auf, der feine politische Bedeutung im Wahlkreise
selbst colportirte und dieser entsprechend es am Wahltage auf die erdrückende
Minorität von 283 Stimmen brachte. Im ersten Lausitzer Wahlkreis wünschten
englische Capitalisten den Director ihrer Fabrik, behufs besserer Notirung ihrer
Werthe in Bradford, mit einem deutschen Reichstagsmandat versehen; dieser
Herr stand auch nicht an, sämmtlichen Gewerben seines Kreises, jedem einzeln,
bessere Lebensbedingungen, bei seiner Wahl, mit Hülfe fabelhafter Schutzzölle
zuzusichern — und die Sächsische Fortschrittspartei proclamirte ihn als ihren
Candidaten. Im achtzehnten Wahlkreis intriguirten einige helle Fortschritts¬
geister noch im letzten Augenblick für Schaffrath gegen Gensel; daß der So¬
cialist nicht zum Siege gelangte, war nicht ihr Verdienst. Aber diese ungeschickte
und spaßhafte Selbstüberhebung will noch wenig bedeuten gegen die maßlose
Dreistigkeit und Unanständigkeit, mit der die Sächsische Fortschrittspartei den
Wahlkamps gegen die Nationalliberalen eröffnete und zu Ende führte. Kein
Wort der Verachtung gegen die nationalen ist ungesprochen und ungeschrieben
geblieben, als das Compromiß über die Justizgesetze geschlossen war. In der
gemeinsten Weise wurde persönlich geschmäht und verleumdet, namentlich der
höchst ehrenwerthe or. Stephani durch die fortschrittliche Presse beschimpft.
Der große Eugen Richter wurde nach Leipzig verschrieben, um „die Hochburg
des Nationalliberalismus zu stürmen", und erntete den Jubel der zur Messe
anwesenden Berliner Fortschrittler. Der lyrische Versuchspolitiker Herr Findel,
der seit 1866 bis 1875 zur nationalen Partei und von da an zur Fortschritts¬
partei sich zählte, erklärte in einer seiner Reden, ganz Sachsen sei eigentlich
fortschrittlich, die Wahl der Nationalliberalen sei bisher nur aus Mißverständniß
der Wähler erfolgt. Und der innerhalb des Weichbildes von Leipzig Einigen
bekannte „Führer", Herr Advocat Francke, erklärte in einer öffentlichen Ver¬
sammlung: in politischer Hinsicht stehe der Fortschritt ans dem Boden der
Socialdemokratie.
Die „deutsch - conservative" Partei, d. h. die junkerlich - particularistische,
hat überall, wo sie in neuen Wahlkreisen gegen die andern Parteien Kandidaten
aufstellte, sehr ungünstige Geschäfte gemacht, die im umgekehrtem Verhältnisse stehen
zu jenen hochtönenden Phrasen, mit welchen sie ihr Entstehen und ihre Kandidaten
der Welt vorstellte. Die Behauptung, daß sie die Treue zu Kaiser und Reich
und zum angestammten Landesfürsten in Erbpacht genommen habe, spielte da¬
bei eine Hauptrolle. Mit dem Unterliegen dieser Fraction müßte also die
Felouie in Sachsen nun allgemein losgehen. Doch ist man glücklicherweise
seit zehn Jahren gewohnt, das Gegentheil von dem in Erfüllung gehen zu
sehen, was diese Partei weissagt und anstrebt. In drei Wahlkreisen nur
(Borna, Plauen und Annaberg) hat sie es zur Stichwahl gebracht. Nur
in den Wahlkreisen, wo der deutsch - conservative Candidat gegen den
Socialdemokraten von den Nationalliberalen mit unterstützt wurde (in
Bautzen, Dresdner Landkreis, Meißen, Oschatz) gelang es der Partei, ab¬
solute Majoritäten im ersten Wahlgang zu erzielen. Das Streben, mit
„selbständigen" Kandidaten zu debütiren, hat der jungen Partei Demüthigungen
zugezogen, die nicht sobald zu verwinden sein dürften. In Zwickau hat die
Partei einen Kandidaten als conservativen empfohlen, welchen der Fortschritt
in Rossen als einen Mann seiner Farbe anpries."') Solche Männer gibt es
freilich nur in Sachsen, deren politisches Gepräge sie zu den Kryptogamen weist.
In den meisten Wahlbezirken, wo sie selbständige Zersplitterung - Kandidaten
aufgestellt, hat die deutsch-conservative Partei beschämende Minoritäten erzielt. Da¬
zu kommt, daß tonangebende Mitglieder sich zu Handlungen zu bekennen haben,
welche ihre gewiß sehr große Reichstreue in ein eigenthümliches Licht stellen.
Der Führer der sogenannten Deutsch-Konservativen im Leipziger Landkreis ist
gerichtlich überführt worden, der Verfasser der berüchtigten „Semper - Ideen"-
Artikel in der reichsfeindlichen „Neuen Reichszeitimg" in Dresden zu sein.
Ein noch weit maßgebenderer Mann derselben Partei aber, welcher besonders
berufen schien, bei den Kaiserfeierlichkeiten in Leipzig (im September
v, I.) die Anschauungen der Sächsischen Regierung auszusprechen, soll zu
Dr. Stephani, als dieser um einen Orden für den verdienten Urheber der
Leipziger Festbanten nachsuchte, erklärt haben: „Einen Preußischen will ich
ihm verschaffen. Einen Sächsischen kann er natürlich nicht bekommen. Denn
das" (die Festbauten Leipzigs u. s. w. zu Ehren des Kaisers) „ist doch nur ein
großer Affront, den Sie uns gemacht haben!" Falls das Vorkommniß ge¬
leugnet werden sollte, wird der Beweis erbracht werden. Wenn solche Worte
im Foyer des Leipziger Stadttheaters während der Kaiserfestvorstellung von
einem der höchstgestellten „Deutsch-conservativen" gesprochen werden, so ist nicht zu
verwundern, daß untergeordnetere Mitglieder dieser ungewöhnlich „reichstreuen"
Partei offen die wahre Meinung ihres Herzens dahin kundgeben: „Lieber einen
Soeialdemvkrciten, als einen Nationalliberalen!"
Der Sächsischen Regierung drängen unseres Erachtens die Januarwahleu
dieselbe Lehre auf, die ihr schon die 1874er Wahlen boten: daß die einzige
große Partei im Lande, ans welche die Regierung bei einem wirklich ernsten
Ankämpfen gegen die Socialdemokratie sich stützen und erhebliche Erfolge er¬
zielen kann, die nationalliberale ist. Daß die deutsch-conservative Partei diese
Stütze in keiner Weise gewährt, ist nun hinlänglich dargethan. Es mag zugegeben
werden: die Erfolge der Socialdemokratie bei den Wahlen find nicht so glänzend,
wie sie durch die Zahlenmassen aussehen. Fest behauptet hat die Partei bis
jetzt nur sechs von den Sächsischen Reichstagssitzen. Diese Erfolge hat sie er¬
rungen durch das Aufbieten ihrer letzten Reserven. Keine einzige Stimme mehr
hat die Socialdemokratie bei den Stichwahlen aus ihren eigenen Reihen auf¬
zubringen; während die übrigen Parteien theilweise noch über erhebliche Re¬
serven verfügen, weil am Wahltag an manchen Orten mit erschrecklicher Lauheit
gewählt wurde. Aber wenn die Socialdemokratie selbst bei allen Stichwahlen ge¬
schlagen würde: ein bedeutendes Wachsthum ihrer Anhänger, selbst bis in die
Residenz und in stockeouservative ländliche Wahlkreise hinein, beweisen diese
Wahlen doch. Und wir sind überzeugt, daß niemand die drohenden Gefahren, welche
diese Thatsache in sich schließt, weniger verkennt, als die Sächsische Regierung.
Das nächste Mittel, diese Gefahren abzuwenden, ist die entschiedenste Un¬
terstützung des nationalliberalen, des reichstreuen Candidaten bei allen Stichwahlen,
in denen dieser einem Socialdemokraten gegenübersteht, dnrch alle reichstreuen
Parteien und Männer und die Aufbietung des ganzen erlaubten Regierungsein¬
flusses in demselben Sinne. Wir hoffen zuversichtlich, auch die Fortschrittspartei wird
sich dieser Einsicht nicht verschließen und damit ihren „Führer" Francke desa-
vvuiren, welcher da meinte, seine Partei stehe in politischer Hinsicht auf dem
Boden der Socialdemokratie. Die weiteren Mittel zur Bekämpfung der Social¬
demokratie in Sachsen bestehen unseres Erachtens in der kräftigeren
Entfaltung der Strenge der Gesetze gegen ihre Wühlereien, Verleumdungen
u .s. w. und in einer besseren Belehrung der Massen durch die reichstreueu Par¬
Innerhalb drei Jahren sind zwei Geschichten der deutschen Philosophie
erschienen, die eine von E. Zeller, München 1873, die andere von Fr. Harms,
Berlin 1876. Die erste geht von der Ansicht aus, daß in Hegel der Idealis¬
mus Kant's seinen Abschluß gefunden habe. Die andre sagt, daß wir in der
mit Kant begonnenen Philosophie noch mitten inne stehen, daß Hegel nur
eine einseitige Richtung ausgebildet habe. Und das Erscheinen von Harms'
Geschichte zeigt jedenfalls, daß die Behauptung von Zeller noch eine offene
Frage ist. Nun sind aber zugleich beide Schriften von Männern geschrieben,
welche die Wissenschaft nur ihrer selbst und der Wahrheit wegen lieben; beide
Männer wollen mit seltener Treue das objectiv Gegebene darstellen und ver¬
einzelte subjective Anschauung vermeiden.
Zeigt nun grade diese Thatsache nicht, daß der Mensch einer individuell
subjectiven Anschauung nicht entrinnen kann? Läßt sie nicht wieder die Frage
auswerfen, ob bei diesem Individualismus ein allgemeines Wissen möglich sei?
Trefflich zeigt Harms (S. 86 ff.), wie diese Möglichkeit von Fr. H. Jakobi
geleugnet worden sei, und wie unsere Zeit mit ihrer vielfachen Verachtung der
Philosophie sich ganz die Anschauung des soviel mit Spott und Hohn ver¬
folgten sogenannten Glanbensphilvsophen angeeignet habe.
Indeß grade die Naturwissenschaften zeigen die Möglichkeit der Erkenntniß
allgemeiner Wahrheiten durch die Mittel des Experiments und der Erfahrung,
und auch im geistigen Leben giebt es Dinge genug, die an ihren Früchten er¬
kennen lassen, ob sie dem Ewigen entstammen oder nicht. Wir sind daher
überzeugt von der Möglichkeit einer Philosophie als der Wissenschaft der all¬
gemeinen Wahrheiten, als der Wissenschaft, welche ans den Lehren der ver¬
einzelten Fachwissenschaften ein zusammenhängendes, systematisches Wissen von
der Welt gewinnen will. Eines nur wird dabei vorausgesetzt, daß unser Geist
ein Vermögen allgemeiner Wahrheiten sei. Diese Gewißheit aber brachte grade
Kant, und deshalb gestehen wir, daß wir mehr der Ansicht von Harms als
der von Zeller Recht geben; denn Kant's Entdeckung wäre ein todtgebornes
Kind, wenn sie in einem System zum Abschluß kommen könnte. Aber der
Gedanke, daß der Geist eine Kraft der Wahrheit sei, kann er je zu einem Abschluß
führen? Verleihe nicht er grade stets neues Leben dem Trieb und Drang nach
Wahrheit? Deshalb, wenn dieser Gedanke Anlaß wurde zu einer Gedanken¬
entwickelung, die sich allmählich erschöpft hat, so erschöpfte sich damit nur eine
Einseitigkeit, die von der Entdeckung angeregt wurde, nicht aber das Leben
dieser Entdeckung selbst. Vielfach hört man daher auch den Ruf: Rückkehr zu
Kant! Aber sollte die ihm nachfolgende Philosophie völlig werthlos sein?
Da heißt denn „die Frage der deutschen Philosophie nicht: Kant oder nicht
Kant, soudern Fichte. Wie man Fichte's Lehren auffaßt, so denkt und urtheilt
man über die Philosophie seit Kant." (S. 57.)
Wir können das Gesagte als die Grundstimmung betrachten, aus welcher
Harms seine Geschichte schrieb. Um auf die bedeutende Arbeit, welche an
Klarheit gewann, da sie nur die Hauptsysteme giebt, hinzuweisen, wollen wir
kurz vom Inhalt referiren. Harms will die Philosophie seit Kant als ein
Ganzes darstellen, was jedoch nicht ohne Bezug auf die Entwickelung der
Philosophie geschehen kann. (S. 1.) Zwei Hauptseite sind zu unterscheiden.
Erstens die alte oder die griechische Philosophie; sie steht in Opposition zur
Mythologie, erhob sich aber nie daraus; ihre Ethik beruht auf der Ver¬
wechselung des Schönen und Guten, ihre Physik ist Evolutions- und Meta¬
morphosenlehre; sie ist nicht universell, sondern nur national, weshalb es un¬
geschichtlich und unphilosophisch ist, sie als wahre Philosophie restauriren zu
wollen; sie ist überdies nicht bloße Speculation, sondern ein Streben nach
vollkommenem Wissen, woraus das wahre Leben und Handeln hervorgehen
soll. (S. 23—26.)
Der zweite Theil ist die Philosophie der neueuropäischen oder christlichen
Völker. Die des Mittelalters gehört hierher; denn obgleich von der griechischen
Philosophie vielfach beeinflußt, ist sie doch keine Fortsetzung derselben, da sie
neue Probleme aufstellt, die aus dem christlichen Glauben stammen. Das
Christenthum stellte sich vou Anfang an anders zur Wissenschaft wie die alten
Religionen. Die Mythologie excludirt die Wissenschaft, das Christenthum zog
sie von Anfang an heran, sich zu vertheidigen und sich zum System zu ge-
statten. Der Glaube soll zum Schauen werden. Daher ist alle Wissenschafts¬
bildung anfangs theologisch und geht erst später von der Geistlichkeit an andere
Stände über. Drei neue Probleme treten auf. 1) In der Metaphysik im
Gegensatz zur Evolution der Griechen und Emanation der Orientalen die Lehre
von der Schöpfung; wobei es lächerlich ist, nicht zu wissen, daß der Ausdruck
„Schöpfung aus Nichts" heißen will: „Schöpfung aus Gott". Er hat nur
polemische Bedeutung gegenüber dem Dualismus des Aristoteles, der die Welt
aus einer Materie entstehen ließ, die neben Gott seit Ewigkeit existirt haben
soll. 2) In der Ethik tritt das Problem der Philosophie der Geschichte ans.
Die Griechen kannten nur Griechen und Barbaren, statt dieses bornirt nationalen
Standpunktes tritt jetzt der universelle auf. Die Kirchenväter beginnen die
Geschichte der Völker im Zusammenhang zu betrachten, und fassen, was Lessing
erneuert, die Geschichte als Erziehung des Menschengeschlechtes durch göttliche
Offenbarung auf. 3) In der Logik tritt die Frage nach der Stellung des
Glaubens zum Wissen auf. Die Griechen hatten gesagt, aus dein Wissen folgt
das wahre Leben. Jetzt heißt es, aus dem wahren Leben folgt die Erkenntniß;
der Glaube geht dem Wissen, die Erfahrung der Erkenntniß vorher, nur durch
unser persönliches Wollen und Leben können wir zur richtigen Erkenntniß ge¬
langen. Hiermit erhält anch der Wille eine andere Bedeutung wie bei den
Griechen, die alles nur nach den Ideen der Vernunft betrachteten. Die Freiheit
des Willens wird jetzt Problem, und damit gewinnt die physische und die
ethische Weltansicht ihre Begründung. Erst mit dem Zerfall der Scholastik,
als eine Folge von Scepticismus und Mysticismus, kommt eine zweite Ansicht
auf, nämlich daß der Glaube zur Ergänzung des Wissens diene. (31—37.)
Diese neueuropäische Philosophie zerfüllt wieder in drei Perioden. Die
erste, die Zeit der Patristiker und Scholastiker, enthält die Wissenschaft in ein¬
seitig theologischer Richtung; alles ist hier der Theologie untergeordnet (26, 27).
In Deutschland gründet in dieser Zeit Victor von Se. Hugo die beschau¬
liche Betrachtung mit einer psychologischen Richtung, die später Cartesius
entschiedener geltend machte; er ist Gründer des Mysticismus, ein Norddeutscher
und repräsentirt den Platonismus im Mittelalter. Der Süddeutsche Albert
der Große, Graf von Bollstüdt dagegen vertritt den Aristoteles. Ihnen schließen
sich die deutschen Predigermönche an, die den Mysticismus erneuern und durch
Anwendung der deutschen Sprache in der Wissenschaft zugleich den Zwiespalt
zwischen Volksbewußtsein und Wissenschaft aufzuheben streben. (3. 4).
Die zweite Periode geht von der Wiederherstellung der Wissenschaften bis
zu Kant; sie umfaßt die Geschichte der Philosophie in einseitiger naturalistischer
Richtung (26). Der eigenthümliche Charakter dieser Zeit liegt in der Grün¬
dung der mechanischen Naturwissenschaft und der Extension ihrer Erklärungsart
auf alle Objecte des Erkennens, woraus der Naturalismus als die Weltansicht
der Wissenschaften im Gegensatze zu dem Supranaturalismus des Mittelalters
entstanden ist. Die Natur gilt als das alleinige Object der wissenschaftlichen
Erkenntniß, und Alles was ist, ist Natur (45. 46). Wiederhersteller wollte
man in dieser Zeit das, von dem man sich dachte, daß es über der einseitig
theologischen Richtung des Mittelalters verloren gegangen sei (38).
Insofern uun Harms selbst S. 4 richtig sagt: „Die moderne Natnrwisseu-
schnft hat sich wesentlich aus der Polemik gegen die Natnrbegriffe des Aristo¬
teles gebildet", könnte man fragen, ob es richtig sei, diese Zeit eine Zeit der
Wiederherstellung zu nennen. Denn in der That nicht um Wiederherstellung
griechischer Wissenschaft handelt es sich, sondern um Befreiung von griechischen
Irrthümern. Ich erinnere nur an die Fallgesetze Galilei's und an das Un¬
glück des Mannes, das der Haß der Aristoteliker über ihn brachte. Und doch
muß man von Wiederherstellung reden, denn wiederhergestellt ward die Freiheit
der Wissenschaft, wenn auch erst mit Kant die volle Klarheit dieses Princips kam.
Kein Volk hatte wie die Griechen eine Wissenschaft erstrebt, nur im Interesse
der Wahrheit; eine Wissenschaft, welche zugleich, frei von der Autorität der
Priester, nur aus der Vernunft geboren sein sollte. Und solches Streben, solcher
Geist der Wissenschaft ward seit dem Ausgang des Mittelalters wiederherge¬
stellt. Treffend sagt Harms: Wir finden in dieser Zeit das Streben nach einer
selbständigen, freien, unabhängigen Forschung, was man etwas unpassend die
Subjectivität der Modernen genannt hat. In der Erforschung der Wahrheit
wollte mau durch keine Autorität, weder durch die des Aristoteles, noch durch
die der Kirche gebunden sein. Diese Freiheit hoffte man zuerst in der Sprach¬
forschung und Philologie zu finden. Aber die Philologie führt uur zur Er-
kenntniß des von den Alten bereits Erkannten; und mau wollte Neues haben
zur Ergänzung der mittelalterlichen Einseitigkeit. Hierzu waren andere Mittel
nöthig, als das Studium der Alten. Mau verwarf sie daher als Führer der
Erkenntniß; nur die eigene, durch das Leben gewonnene Erfahrung sollte in
allen Dingen entscheiden. Und so entstanden ans dieser Maxime des Denkens die
empirischen Naturwissenschaften, die nnr fälschlich als Erneuerung des Heiden-
thums betrachtet werden. Ihre Gründung steht im Zusammenhang mit der
Reform des christlichen Glaubens und der Kirche, da beides aus dem gleichen
Streben nach einer Selbständigkeit des Lebens und des Denkens auf der
Grundlage selbsterwvrbener Empirie entstanden ist. (S. 39. 40).
Das über die mittelalterliche Philosophie und über die Wiederherstellung
der Wissenschaften Gesagte gehört zu dem Trefflichsten in der klaren, lichtvollen
Arbeit von Harms. Und in unserer Zeit, wo das Christenthum so gern als der
Tod aller Wissenschaft hingestellt wird, da ist der ruhige, uupolemische Ton
von Harms um so mehr anzuerkennen, und vielleicht um so wirksamer, die Erkenntniß
»nieder zu wecken, daß gerade das Christenthum es ist, welches die Probleme brachte,
die das Leben des Denkens der neuen Zeit bilden und deu Triumph derselben, die
Naturwissenschaft, ermöglichten. Freilich ist heutzutage oft kein Begriff verderb¬
licher für die Wissenschaft als der Schöpfungsbegriff, aber mit Recht sagt Harms S.
33: „Die Schöpfung setzt ein wahres Entstehen und die Möglichkeit einer Geschichte.
Die Evolutions-und Emanationslehren kennen nnr eine Metamorphose ins Bessere
oder ins Schlechtere, aber sie kennen keine Thaten und keine Thatsachen."
Derselbe Gedanke liegt zu Grunde, wenn Kant in seinen Anfangsgründen zur
Naturwissenschaft sagt: „Das Gesetz der Trägheit ermöglicht eine Naturwissen¬
schaft, das Aufhören desselben wäre der Tod der Wissenschaft, wäre Hylv-
zoism." Denn Hylozoism ist Evolution, und diese kennt nur stete Umwand¬
lung, aber kein thatsächliches Bestehen nach inneren ewigen Gesetzen, kein Ver¬
harren in einer bestimmten Natur, d. i. in einer bestimmten Art und Weise
des Keims und der Wirkungsweise. Mit Recht bringt daher Harms die Gründung
der Naturwissenschaft in Zusammenhang mit der Reform des Glaubens. Es ist kein
Zufall, daß die Entdeckung des Trägheitsgesetzes fiel in eine Zeit, in der man sich
frei machen wollte von der mittelalterlichen Vorstellung, daß Gott in seiner Frei¬
heit und Gnade ein Gott der schrankenlosen Willkür sei. Es ist kein Zufall, daß
in die Zeit des Auflebens der Vorstellung, daß die Schöpfung kein willkürlich
veränderlich Machwerk sei, sondern als eine Welt des Bestehens nach inneren
ewigen Gesetzen gewollt würde, die Entdeckung des Gravitationsgesetzes fiel.
Mit dieser Entdeckung tritt das Problem auf, die Materie als Kraft zu denken.
Eigentlich hatte schon Newton das Problem gelöst, indem er als dynamische
Natur der Materie ihre gravitirende Wirkungsweise zeigte; aber in der Philo¬
sophie ist es Kant, welcher den Dynamismus der Materie begründete. Solche
Probleme bilden jetzt das Leben in der Philosophie.
In dieser zweiten Periode der Geschichte der Philosophie unterscheidet
Harms zwei Richtungen. Die eine, die er die englische nennt, da sie von Baco
ausgeht, betrachtet die empirische Erfahrungswissenschaft als Ideal der Wissen¬
schaft; sie führt zum Sensualismus, und die Philosophie selbst erscheint in
ihr nur als empirische Psychologie (S. 27). In der anderen Richtung, welche
Harms die französische nennt, da sie von Cartesius gegründet ist, gilt die
Mathematik als Ideal der Wissenschaft und zugleich als die Aufgabe und die
Methode der Philosophie bestimmend (S. 27). Sie führt zum Rationalismus,
da sie die Vernunft allein als Quell der Erkenntniß gelten lassen will. Seit¬
her hatte man zwischen Körper und Geist uur eiuen Gradunterschied ange¬
nommen; jener hieß schwerer beweglich als dieser. Aristoteles sagte: der Körper
ermüdet eher wie der Geist, Nun aber wird durch Cartesius die specifische Ver-
schiedenheit beider erkannt und damit die mechanische Naturwissenschaft ermög¬
licht (S. 49). Diese führte bald zum Naturalismus, indem man die mecha¬
nische Erklärungsweise auf das ethische Leben des Geistes übertrug (S. 50).
Spinoza's Ethik ist nur eine Physik, die mit einer Ethik verwechselt
wird (51).
Ich möchte hier hinzufügen, daß die Opposition des Cartesius gegen New¬
ton's Gravitationsgesetz mitwirkte bei seiner Definition: die Materie ist die
Ausdehnung. Dies ist die Erklärung des mathematisch-geometrischen Stand¬
punktes, aber nicht die des mathematisch-dynamischen der Physiker aus New¬
ton's Schule. Und diese Ergänzung brachten die Deutschen. Denn nach Harms
stehen in Deutschland am Anfang dieser Periode der Vorläufer des Coperni-
cus, Nicolaus Cusanus (S. 5), am Ende Leibniz. Dieser erweitert die mecha¬
nische Erklärungsart, indem er ihr eine dynamische Grundlage giebt. Nicht in
der Ausdehnung der Materie, sondern in den Kräften der einfachen Substanzen
liegt ihm der Grund der mechanischen Bewegung (9). Zugleich aber schränkt
er den Rationalismus ein, dnrch den Hinweis auf die Wahrheit der That¬
sachen, die, wie die Naturgesetze, nicht aus der Vernunft allein zu entwickeln
seien (S. 45). Scheint er hiermit auch auf dem empirischen Boden der Eng¬
länder zu stehen, so tritt er doch in seinem Streit mit Locke dem Sensualismus
entgegen und vertheidigt deu metaphysischen Charakter der Philosophie (19).
Zeigen sich nun auch in dem Dynamismus seiner Monadenlehre und in dem
theosophischen Moment seiner Philosophie Ausdrücke einer eigenthümlichen
Richtung des deutschen Geistes, die originalster ans demselben entstanden ist, so
zeigt doch auch wieder die Stellung, die er der Mathematik, sogar noch
höher wie Cartesius es that, einräumt, wie er nur eine Richtung des Den¬
kens abschließt, die mit Cartesius begann (7).
Die dritte Periode neueuropäischer Philosophie enthält die Geschichte der
Philosophie seit Kant. In ihr gilt die Philosophie als die freie, unabhängige
Wissenschaft, die sich ihren Begriff weder von der Empirie, noch von der
Theologie vorschreiben läßt, sie ist die Wissenschaft, welche den Begriff
aller Wissenschaft bestimmt und sich selbst begründet, indem sie den Begriff der
Wissenschaften erklärt. Dem früheren Dogmatismus setzte sich Kant mit dem
Kriticismus entgegen, dessen Aufgabe es sein will, die Möglichkeit oder den
Begriff des Erkennens zu erforschen.
Alle Erkenntniß sei aus der Vernunft zu begründen. Die freie, unab¬
hängige Wissenschaft, welche die griechische Philosophie sein wollte, ist somit
seit Kant wieder erwacht (28). Weder einseitig in den Dienst der Theologie, noch
einseitig in den Dienst der Physik hat sich die deutsche Philosophie gestellt; sie will mit
religiösem Sinn die Erkenntniß der Naturwissenschaften und mit ihrer Erkennt-
riß jenen Sinn verbinden. Jedes System der deutschen Philosophie documen-
tirt diesen Willen (29).
Vier Richtungen enthält diese Periode, ohne deren Unterscheidung eine
klare Vorstellung vom Ganzen und ein richtiges Urtheil nicht zu erhalten sein
wird (56). Der erste Abschnitt enthält die Anfänge der deutschen Philosophie
durch Lessing, Herder, Jacobi (58 —117). Sie verhalten sich zwar polemisch
gegen den Kritieismus, aber sie haben auch den Standpunkt des Rationalismus
überwunden und erneuern das religiöse Leben, indem sie der Orthodoxie gegen¬
über hinweisen, daß die Religion nicht nur Sache des Verstandes, sondern
auch des Herzens und des Gemüthes sei. Lessing's Schilderung ist besonders
beherzigenswert!), denn er, der Vielen ein Voltaire ist, erscheint hier als erster
christlicher Philosoph. Er, der die Kirchenväter kannte, erneuerte zugleich das
Problem der Philosophie der Geschichte als Erziehung des Menschengeschlechts.
Herder folgt darin, sieht aber weniger wie Lessing einen ethischen Proceß in
der Erziehung als einen Naturproceß; damit arbeitet er der Schelling'schen
Naturphilosophie vor. Die Geschichte wird dabei Natur, und die Natur wird
Geschichte. Herder stellt auch zuerst, im Hinblick auf den Magneten, das Ge¬
setz der Polarität auf, das nachher in der Identitätsphilosophie so große Be¬
deutung gewann; denn alle Gegensätze sollten sich dabei zu höherer Einheit
verbinden. Lessing, Herder und Jacobi hielten zugleich fester an der Wahrheit
der Thatsachen als Kant und seiue Nachfolger. Jcicobi's Bedeutung liegt be¬
sonders in seiner Polemik und dem Hinweis des individuellen Bewußtseins
gegenüber dem allgemeinen Vernunftwissen.
Der zweite Abschnitt handelt von der Grundlegung der deutschen Philo¬
sophie durch Kant; der dritte enthält ihre systematische Ausbildung zur abso¬
luten Philosophie durch Fichte, Schelling und Hegel, und der vierte die Ein¬
schränkung der absoluten Philosophie durch Schleiermacher, Herbart und Schopen¬
hauer (56). Es ist nicht möglich, der Ausführung im Einzelnen zu folgen,
nur die Gesichtspunkte sind hervorzuheben, unter denen Harms' Darstellung
gegeben.
Kant ist der originellste deutsche Denker mit der größten Ursprünglichkeit
des Denkens, weder die Alten noch die Neueren hat er studirt; nicht aus der
Geschichte der Philosophie, sondern aus der Welt- und Menschenkenntniß hat
er die Philosophie geschöpft (118). Kant wird Gründer der deutschen Philo¬
sophie durch eine neue Problemstellung. Er fragt nicht, o b Erkenntniß möglich
sei; denn um dies zu entscheiden, wird schon vorher vorausgesetzt, daß sie möglich
sei, was ein Widerspruch ist. Kant fragte, wie ist Erkenntniß möglich? Leider
unterscheidet Kant in Concession gegen die formale Logik des Aristoteles zwei
Arten von Urtheilen, analytische und synthetische; nur in den letzteren, nicht in
den ersteren soll hiernach Erkenntniß liegen. Kant richtet daher seine Unter¬
suchung nnr auf die synthetischen, nicht auf die analytischen Urtheile, auf die
apriorische, nicht anf die empirische Erkenntniß. Und doch muß eine vollstän¬
dige Wissenschaft von der Erkenntniß auch die Möglichkeit der empirischen Er¬
kenntniß und der analytischen Urtheile untersuchen. Kant schließt dies aus.
Und indem er die Losung seines Problems beginnt mit der Untersuchung über
die Möglichkeit synthetischer Urtheile s. priori in der Mathematik, so tritt ein
Mangel ein, indem er unterläßt, die allgemeinen Bedingungen und Voraus¬
setzungen seiner Lösung für sich abzuhandeln. Er setzt als bekannt und gewiß
voraus, was nicht als bekannt gelten kann. Unrichtig ist es indeß, zu meinen,
daß das Wort ». priori eine temporale Bedeutung habe. Kant will damit nur
sagen, daß zur Erkenntniß mehr gehört als ein Gegenstand oder Stoff. Ein
Subject gehört dazu, das seine Erkenntniß nur dadurch besitzt, daß es sie selbst
durch seine den gegebenen Stoff der Sinne formende und ordnende Thätigkeit
hervorbringt. Alle wahre Erkenntniß ist erworben, ist Production eines Sub¬
jects (118 — 153).
Durch diese Begründung gewann Kant den Ruhm, den schon Leibniz er¬
werben wollte. Ihm gelang der Nachweis des metaphysischen Charakters der
Philosophie gegenüber dem Sensualismus. Er in Wahrheit begründete den
Dynmnismus philosophischer Weltanschauung; denn nicht nur ließ er die sinn¬
liche Materie als Dynamis, als anziehende Kraft begreifen, sondern auch den
Geist ließ er als Dynamis, als eine Kraft synthetischer Urtheile und sittlicher
Freiheit erkennen. Im Sensualismus war die Seele Passiv, kraftlos den sinn¬
lichen Eindrücken gegenüber, im Rationalismus war sie kraftlos, da sie mit ein-
gebornen Jdeeninhalt lebte. Der Kant'sche Kriticismus machte aber die Seele
wahrhaft zu einer Kraft, da der Inhalt der Erkenntniß ihr eignes Product ist.
Von jetzt an ward die deutsche Philosophie die Philosophie der Freiheit. Kant
zuerst stellte die Freiheit als Erklärungsgrund von allem sittlichen Handeln
auf (241). Wir können daher Hnrms nur Recht geben, wenn er in feiner Dar¬
stellung den Gedanken durchführt, daß in den beiden Kritiken der praktischen
Vernunft und der Urtheilskraft die wahre Ansicht Kant's enthalten sei. Und
jedenfalls waren es die Positionen dieser beiden Kritiken, es waren die Forde¬
rungen praktischer Vernunft, anf welche der deutsche Idealismus weiterbaute;
es war der aus dem Princip der Freiheit stammende kategorische Imperativ,
der eine Macht in Literatur und Geschichte ward und die weitstrahlende Ehre
Kant's begründete. Die Kritik der reinen Vernunft enthält dagegen nach Harms
nur die Negationen, die aber in der Kant'schen Philosophie machtlos sind gegen¬
über dem Primat der praktischen Forderungen. Ihre Bedeutung, dürfen wir
sagen, gewannen sie aber außerhalb des Kant'schen Systems. Denn Jndifferen-
tismus mit Materialismus trösteten sich damit und pochten darauf, daß Kant
in der Kritik der reinen Vernunft bewiesen habe, mau könne von Gott, Frei¬
heit, Unsterblichkeit nichts wissen. Indeß so wenig kann sich der Deutsche dem
Idealismus entziehen, daß es vielleicht keine in der Liebe zur Wahrheit ge¬
schriebene materialistische Schrift giebt, welche nicht, im Widerspruch mit ihrem
System, Kant's kategorischen Imperativ und das Princip sittlicher Freiheit fest¬
gehalten hat.
Scharfsinnig nicht allein, sondern mich geistvoll macht Harms auf den
Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft in Kant's Philosophie
aufmerksam. Und ich möchte seine Betrachtung in meinen Worten kurz so zu¬
sammenfassen. Im Verhältniß zwischen praktischer und theoretischer Vernunft
findet sich das Verhältniß wieder, das sich seit Zerfall der Scholastik zwischen
Glauben und Wissen bildete. Die praktische Vernunft, als Glaube, dient zur
Ergänzung der theoretischen Vernunft, des Wissens. Kant, der Vater der
Vernunftwissenschaft, degradirt daher die Vernunft doch eigentlich ganz wie die
Kirche; wie diese sagt er, die Vernunft erstrecke sich nur auf die Sinnlichkeit,
das Unsinnliche sei Forderung des Glaubens. Der Unterschied ist freilich, daß
Kant nicht mit der Kirche sagt: ich glaube, weil es absurd ist, sondern: ich
glaube, weil es Pflicht ist, und weil es die praktische Vernunft fordert.
Dieser Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bei
Kant, sagt Harms, forderte zur Lösung auf. Und indem Harms diesen Fort¬
gang in Fichte's Wissenschaftslehre, mit Aufstellung des Problems der wahren
Methode des Denkens an Stelle von Kant's Problem des Erkennens, gemacht
sieht, so ist klar, daß er nicht eine Rückkehr bis Kant, sondern zu Fichte will.
Verdienstvoll ist dabei seine auch schon in seinen früheren Schriften, wie in
seiner Rede bei Fichte's hundertjähriger Geburtstagsfeier geschehene Durch¬
führung, daß Fichte's System nicht subjectiver, sondern ethischer Idealismus
sei; daß Fichte nicht zwei Systeme, sondern nnr eins gelehrt habe. Ein Mangel
bei Fichte ist aber, daß er bei seiner einseitigen Werthschätzung des ethischen
Princips die Natur nur teleologisch als Mittel zur Verwirklichung des Sitt¬
lichen auffaßte. Diesen Mangel wollte Schelling ergänzen, als er in seiner
Naturphilosophie die Naturseite der Welt in Entwicklung darstellen wollte; aber
dabei geschah es, daß die Ethik ihr Recht verlor und die Weltentwicklung ein
Naturproceß, ein physischer Proceß wurde. Bei Hegel ward das Geschehen in
der Welt ein logischer Proceß.
So verlief der Anstoß der Wissenschaftslehre, obgleich Fortschritt über
Kant, in drei einseitigen Richtungen, einer rein ethischen, einer physischen und
einer logischen; eine weitere Einseitigkeit aber war die, daß sie zugleich absolute
Philosophie sein wollte, nicht nur eine Wissenschaft der Begriffe, sondern auch
der Thatsachen, daß sie in der Verwechselung des Sach- und Erkenntnißgrnndes
mit dem Denken des Begriffs auch die Sache zu denken und zu setzen meinte.
In diese Einseitigkeit riß die Begeisterung über die Entdeckung Kant's, daß
alles Wissen ein Product des Geistes sei. Man vergaß, daß das Wissen zwar
von einer geistigen Kraft producirt sei, aber doch nur, weil ein zu ordnender
Stoff gegeben ist. Und diese Einseitigkeit des Vernunftwissens rief dann Ein¬
schränkungen hervor. Man wies mit größerem Nachdruck wieder auf das in-
duetiv Gegebene, auf die Wahrheit der Thatsachen hin. In der Philosophie
machte Schleiermacher dein Vernnnftwissen gegenüber das Gefühl und das in¬
dividuelle Bewußtsein geltend. Herbart suchte das Räthsel, wie aus der unter¬
schiedslosen Einheit die Vielheit entstehe, zu vermeiden, dnrch die Annahme
realer Wesen und der Methode der Beziehungen. Gegenüber Hegel, welcher
wie Aristoteles das theoretische Leben als das göttliche und das praktische als
das endliche menschliche hinstellte (447) und so das reine Denken zum Prineip
machte, machte Schopenhauer den Willen zum Prineip des Ewigen. Insofern
nun der Wille, wie oben erwähnt, ein Problem der neueuropäischen Völker ist'
könnte man sagen, der Christenthumverächter Schopenhauer, in Opposition gegen
Aristoteles-Hegel, belebte ein Problem wieder, das seinen Ursprung grade dem
Christenthum verdankt.
In Betreff der Darstellung der einzelne» Systeme muß ich auf das treff¬
liche Buch selbst verweisen. In unsrer pessimistischen Zeit wird vielleicht
Harms'Kritik von Schopenhauer den meisten Zorn erregen; aber mit Unrecht
In einem kurzen Kapitel deutet Harms noch kurz auf die Gegensätze der Gegen¬
wart hin. Zwei Richtungen, sagt er am Schluß, bekämpfen sich; eine theistische
und eine atheistische. Letztere nennt er Anthropologismus, weil in ihr der
Mensch zum Princip und Endzweck der Natur gemacht ist. Die philosophische
Frage der Gegenwart sei, ob dieser Anthropologismus die Philosophie sei oder
nicht. Angelegt sei er in Kant's Kritik der reinen Vernunft und enthalten sei
er in Hegel's Naturphilosophie. Die Beantwortung dieser Frage hänge mit der
Auffassung von Kant's System zusammen. Harms hofft durch seine abweichende
Auffassung vom Wesen der Kant'schen Philosophie, wie durch die Grundlegung
zu ihrer Fortbildung einen Beitrag zur Lösung der philosophischen Frage der
Gegenwart gegeben zu haben. Und wir hoffen dies auch, wenn das Buch die
gebührende Aufnahme findet. Dies aber wünschen wir um so mehr, als an
dem Geist der Freiheit, den Harms' Schrift ausathmet, sich die Freude an der
deutschen ideale» Philosophie wieder allgemeiner entzünden kann; und diese
Philosophie ist es, welche die Freithätigkeit des Denkens und die Selbstgewi߬
heit des Thuns ermöglicht und begründet.
Luiz de Camoens, der Sänger der Lusiaden. Biographische Skizze von Dr. Karl
v. ReinhardsMtner. Leipzig, K. Hildebrand und Comp., 1877.
Wenn der Verfasser dieser verdienstvollen kleinen Schrift meint, der Sänger
der Lusiaden sei von der Mitwelt nicht gebührend gewürdigt, von der Nach¬
welt vergessen worden, „sein tragisches Leben sei wie sein herrliches Werk un¬
bekannt geblieben, sein Name habe die Grenzen seines Vaterlands nicht über¬
schritten", so ist das zu viel gesagt. Sein Name wird auf jedem guten deut¬
schen Gymnasium den Schülern der obern Klaffen bekannt sein, und sein Werk
ist ins Spanische, Italienische, Französische, Englische, Polnische und wiederholt
(von Heise, Winkler, Donner und Eitner) ins Deutsche übertragen worden.
Ueber sein Leben berichten unsere drei verbreiterten Conversationslexika.
Friedrich Halm hat ihn dramatisch, Ludwig Tieck hat ihn novellistisch gefeiert.
Dennoch können die Leser d. Bl. den Wunsch haben, mehr über den großen
portugiesischen Epiker zu erfahre», zumal seine Landleute nächstens, wo drei
Jahrhunderte seit seinem Ableben verflossen sein werden, sein Gedächtniß
zu feiern sich veranlaßt sehen dürften, und so geben wir zunächst einen
Auszug aus dem hier Gebotenen und dann eine kurze Charakteristik seiner
Dichtung.
Luiz de Camoens wurde im Jahre 1524 zu Lissabon geboren. Sein
Vater war Simon Vaz de Camoens, seine Mutter Anna de Sa e Macedo.
1527 mit seinen Eltern vor der Pest nach Coimbra geflohen, verlebte der
Dichter hier die ersten Jahre seiner Kindheit „heiter und zufrieden für sich und
freute sich des Lebens", wie er in der 4. Canzone selbst erzählt. Um 1537
begann er an der Schule des dortigen Klosters von Santa Cruz, dem sein
Oheim Bento als Prior vorstand, seine Studien, durch die er sich eine gute
klassische Bildung erwarb, welche sich in seinen Dichtungen namentlich durch häufige
Bezugnahme auf mythologische Personen und Vorgänge ünßert. Die ersten
Verse, die er schrieb, waren eine Elegie auf das Leiden Christi, die nach dem
Geschmacke der damaligen Zeit überreich an Namen und anderen Gegenständen
der griechisch-römischen Götterlehre war. Auch mit den proventzalischen Dich¬
tern scheint er sich eingehend beschäftigt zu haben, wenn wir nach den An¬
merkungen schließen dürfen, die er seiner ebenfalls in jene erste Periode seines
dichterischen Schaffens gehörigen Übersetzung der Triumphe des Petrarca beigab.
Etwa achtzehn Jahre alt, verließ er als »lMelmrel l^two« Coimbra, um nach
Lissabon zu gehen, wo seine Talente und seine Bildung ihm Zutritt bei
Hofe verschafften. An letzterem liebte und Pflegte man die klassischen Dichter,
man schrieb lateinisch, selbst die Damen wetteiferten in der Kenntniß der alten
Sprache Roms. Desgleichen las man fleißig Ritterromane, da die Infantin
Donna Maria eine große Freundin derselben war. Der Hof dichtete, so gut
es gehen wollte, die Damen gaben das Motto, welches ihre Umgebung glossirte,
und Camoens fand dabei Gelegenheit, seine Begabung zu zeigen. Zu Besserem
veranlaßte ihn der tiefe Eindruck, den ein Fräulein aus dem Gefolge der Kö¬
nigin Catharina, Donna Catharina de Athaide, die Tochter des Antonio de
Lima, ans ihn machte. Sie begeisterte ihn zu der siebenten Canzone, die eine
von seinen schönsten lyrischen Ergüssen ist, zog ihm aber im Vater seiner Ge¬
liebten einen heftigen Gegner und Verfolger zu. Daneben regten sich Neider-
nnter denen sich der Dichter Caminha befand, welcher ihm in giftigen Epi¬
grammen Poesie und Wissen absprach. Ferner trug das Spiel „El Rei Se-
leueo" (der König Seleneos), welches Camoens im Jahre 1545 schrieb, wesent¬
lich bei, ihn bei Hofe mißliebig zu machen. Endlich kam dazu noch, daß sein
Onkel Bento Streitigkeiten mit letzterem hatte. So erfolgte 1546 seine Ver¬
weisung ins Exil. Den Plan, nach Coimbra zurückzukehren, vereitelte der
Tod seines dortigen Oheims. Er begab sich daher nach Ceuta, um als Sol¬
dat an den Kämpfen seiner Landsleute mit den Mauren theilzunehmen. Er
blieb dort zwei Jahre, focht tapfer mit und verlor in einem Gefechte mit den
Ungläubigen ein Auge. 1549 durfte er nach Lissabon zurückkehren, traf hier
aber nur den alten Haß und Neid, der ihn selbst wegen des für die vater¬
ländische Sache Verlornen Auges zu verhöhnen die Gemeinheit hatte. Es war
klar, daß er vom Hofe nichts zu erwarten hatte, und so war er schon 1550
im Begriffe, mit Alfons de Noronha, dem zum Vicekönig von Indien ernann¬
ten Oheim eines seiner Freunde, nach dem fernen Osten abzugehen. Doch
blieb er noch bis 1553 zurück, indem er ans die Gunst des Kronprinzen
Johann hoffte, der sich ans die Poesie gelegt hatte und einen Kreis von Dich¬
tern zweiten und dritten Ranges um sich versammelte. Allein auch diese Hoff-
nung schlug fehl, da es seinen Verleumdern gelang, ihm durch ihre übeln Nach¬
reden den Zutritt zu diesem Fürsten zu versperren. Schon damals hatte er
die Absicht, ein nationales Epos zu schaffen. Das Erscheinen der „Deeadas"
des Geschichtsschreibers de Barros bestärkte ihn darin, und nach unsrer Schrift
hätte er den ersten Gesang der Lusiaden wahrscheinlich bereits vor 1553, also
noch in Portugal geschrieben. Zu gleicher Zeit aber stürzte sich der Dichter,
um seinen Verdruß über sein Unglück zu betäuben, in allerlei unrühmliche
Abenteuer und verkehrte namentlich mit einer Gesellschaft von Raufbolden und
Ruhestörern, um nächtlichen Unfug zu verüben.
Am Fronleichnamstage 1552 kam es bei der Procession zwischen zwei
Freunden des Dichters und einem Stalldiener des Königs Johann zum Streite,
Camoens aber stieß zufällig auf die Zankenden, und ohne die Sache weiter
zu untersuchen, zog er vom Leder und hieb den königlichen Diener über den
Nacken. Er wurde darauf verhaftet und erhielt erst nach zehn Monaten seine
Freiheit wieder, und zwar unter der Bedingung, als Soldat nach Indien zu
gehen. Am 7. März 1553 entließ man ihn aus dem Gefängnisse, und am
24. schon schiffte er sich nach Goa ein. Nach einer stürmischen Fahrt dort
angelangt, fand er betrübende Zustände vor. In Gedichten dieser Periode
nennt er das Land „das Grab jedes armen Ehrlichen" und klagt, daß in
diesem „blinden Reich des Irrthums Edelsinn, Kraft und Wissen an den
Thüren der Habsucht und Niedrigkeit betteln gehen." Trotzdem gefiel es ihm
anfänglich hier ganz wohl. Er traf Bekannte und Verwandte in indischen
Diensten und sah sich „geachteter als die Stiere von Merceana und ruhiger
als die Zelle eines Predigermönchs." Nur die Raufbolde der Straßen von
Lissabon fehlten, und statt der dortigen schönen Damen sah er hier nnr alte
Weiber, die ein elendes Portugiesisch sprachen und keinen Sinn für Liebesaben¬
teuer hatten. Indeß tröstete er sich über den letzten Punkt mit der Mulattin
Lniza Barbora, auf deren schwarzen Teint und deren sonstige Reize er schöne
Verse dichtete.
Nachdem er über sechs Wochen thatenlos in Goa gelegen, machte er den
Feldzug mit, bei welchem die Portugiesen unter Alfons de Noronha an der
Seite des Königs von Köchin kämpften, dann die Expedition, welche der Vice-
könig für seinen Sohn Fernando de Menezas ausrüstete — Erlebnisse, die
der Dichter in der zehnten Canzone schildert. Günstiger gestalteten sich die
Verhältnisse für Camoens, als im Sommer der neue Vicekönig Francisco
Bareto sein Amt antrat. Der Dichter verfaßte zur Feier dieses Tages das
Stück „Filodemus", und bei der Aufführung desselben trug der Poet Johann
Lopes Lenau jenes berühmte Sonett auf Camoens vor, in welchem dieser mit
Terenz und Plautus verglichen und schon auf eine virgilische Dichtung von
ihm hingedeutet wird. Doch sollte Camoens sich dieser besseren Wendung seines
Geschicks nicht lange erfreuen. Er verfaßte die Satire „Vom Turniere", ein
treues Bild der Verdorbenheit aller Stände, die in Indien eingerissen war,
und wurde dadurch in Goa unmöglich. Der Vicekönig schickte ihn im März
1556 nach Makao in China, wo er als Oberintendant der Güter verstorbener
oder abwesender Kaufleute, deren Eigenthum bis dahin gewöhnlich unterschlagen
worden war, Ordnung stiften sollte.
Hier erweiterte er den Kreis seiner Bekannten, gewann den Dichter An¬
tonio de Abreu sich zum Freunde und verlebte ruhige Tage, in denen er in
einer Felsengrotte beim Dorfe Patane einen großen Theil seines unsterblichen
Epos niederschrieb. Aber allmählich regte sich anch hier der Haß und Neid
seiner Gegner, und Ränke und Verleumdungen derselben bewirkten, daß er
1558 nach Goa zurückberufen wurde, um sich über seine Amtsführung zu ver¬
antworten. Auf der Reise dahin litt er an den Ufer des Mäkhaun in Cam-
bodja Schiffbruch, bei dem er nichrs rettete, als das Manuscript der bis
dahin vollendeten sechs ersten Gesänge seiner Lusiaden — allerdings das
Höchste, was er besaß, seine Unsterblichkeit und das hohe Lied des portugiesi¬
schen Namens.
In Goa erwartete ihn das Gefängniß, die Nachricht, daß Catharina de
Athaide gestorben, und die Kunde, daß sein Vater verbannt worden sei. Im
Kerker suchte er Trost in der Poesie, und so entstanden hier zahlreiche kleine
Gedichte, von denen wir nur dessen, welches er auf die verstorbene Geliebte,
und dessen, welches er auf den inzwischen ebenfalls erfolgten Tod des Königs
Johann dichtete, erwähnen. Der neue Vicekönig Constantino de Brciganza
setzte Camoens in Freiheit, der nun den ihn hierzu beglückwünschenden Freun¬
den ein Bankett gab, bei welchem jeder Teller an Stelle eines Gerichts ein
Gedicht enthielt.
Von 1558 an lebte Camoens nun unter wechselnden Schicksalen zu Goa.
Der Nachfolger de Bragcmzas, der Graf de Redondo, war ihm günstig gesinnt,
verwendete ihn zu verschiedenen Geschäften und befreite ihn einmal aus dem
Schnldgefängniß, in das ihn ein harter Gläubiger, der Ritter Coutinho, hatte
setzen lassen. Geachtet und geehrt, wenn auch immer in ärmlichen Verhält¬
nissen, konnte der Dichter einer besseren Zukunft entgegen sehen, als der Vice¬
könig, sein Gönner, 1564 starb, und nun die dunkelste Periode im Leben des
Dichters begann. Er reiste zunächst nach Malacka und den Molucken und
kam dann nach Goa zurück, wo sich wieder Aussicht auf Verbesserung seiner
Lage zeigte, indem ihm der neue Statthalter die Factorei von Chani, die jähr¬
lich 100,000 Reis trug, versprach. Während er auf Erledigung dieses Postens
wartete, sammelte er eine Anzahl seiner Poesien unter dem Titel „Parnaso".
Als sich seine Anstellung verzögerte, erwachte in ihm die Sehnsucht nach der
Heimath, und als Pedro Bareto 1567 mit einem Schiffe dahin abging, schloß
er sich ihm an. Bald indeß verwandelte sich die Freundlichkeit Baretos in
heftigen Haß, der seine Ursache in gewissen Gedichten des allerdings oft un¬
vorsichtigen Poeten gehabt zu haben scheint, und so setzte jener Camoens in
Mozambique aus. Hier verlebte dieser zwei Jahre in der bittersten Noth, in
der ihn nur die Barmherzigkeit von Freunden vor dem Hungertode und gänz¬
licher Entblößung bewahrte, in welcher es ihm aber doch möglich wurde, seine
Lusiaden für den Druck zu vollenden. Jene Freunde ermöglichten ihm auch
endlich die Rückkehr in das Vaterland, wo er am 7. April 1570 nach siebzehn¬
jähriger Abwesenheit wieder eintraf.
Es war eine traurige Heimkehr. Camoens fand das Volk nicht mehr, das
er verlassen hatte. Im Jahre vorher hatte die Pest Lissabon furchtbar heim¬
gesucht, und wenige Häuser waren ohne Trauer. Dazu kam die Finanzkrisis
im Laude und die schlechte Verwaltung. Der einst so ritterliche und poesievolle
Hof war ein Tummelplatz bigotter Unduldsamkeit geworden. Der junge König
Sebastian verfolgte eine thörichte und unheilvolle Politik. Die Geistlichkeit
hatte die Prophezeiung verbreitet, Lissabon werde durch ein Erdbeben zu
Grunde gehen. Die Stimmung, die sich aus alledem entwickelt hatte, war
einer begeisterte« Aufnahme seines großen Werkes nicht günstig. Er fühlte das
selbst, er verlor, wie er in den Lusiaden sagt, die Lust zu schreiben, und sein
Herz erkaltete. Indeß fand er am Hofe in Manoel von Portugal eiuen Gönner,
der ihm beim Könige die Erlaubniß zum Drucke seiner Dichtung auswirkte,
welche nun, nachdem sie noch die Censur der Inquisition passirt und eine nur
glimpfliche Verstümmelung dnrch die hier waltenden Dominicaner erfahren
hatte, im Juli 1572 bei Antonio Gonzalves erschien. Neid und Pedanterie
traten gegen dieselbe auf und wußten daran Allerlei zu tadeln. Doch fand
das Werk auch Anerkennung selbst in den Hofkreisen, wo der Graf Pedro da
Alcazova Carneirv dem Dichter auf die Frage, was der größte Fehler an seinen
Lusiaden sei, die Antwort gab: „Sie haben einen sehr großen, das Gedicht ist
nicht kurz genug, um auswendig gelernt werden zu können, und nicht lang
genng, daß man nie aufhören muß, darin zu lesen." Der König verlieh ihm
dafür eine jährliche Pension von 15,000 Reis (damals etwa soviel wie 80 Mark)
auf drei Jahre, und nach wenigen Monaten erlebten die Lusiaden eine zweite
Auflage. Der spanische Dichter Herrera übersetzte sie in seine Muttersprache,
und Tasso widmete Camoens ein schönes Sonett, so daß dieser mit Recht
sagen konnte, daß „ihn der Betis höre" und „der Tiber preise." Aber das
karge Jahrgehalt, das ihm der König ausgesetzt, wurde uur sehr unregelmäßig
ausgezahlt, und zum Ueberfluß wurden ihm die Gedichte, die er als „Parnaß"
herauszugeben beabsichtigte, und damit außer einem Theile seines Ruhmes
auch ein Mittel zu pecuniären Erwerb, um diese Zeit gestohlen. Zuletzt verlor
er 1577 durch Tod oder Wegzug auch seine bisherigen Gönner am Hofe, und
so versank der unglückselige Dichter in die bitterste Armuth, in der er oft nicht
das Nöthigste zum Leben hatte. Er würde verhungert fein, wenn sein treuer
Neger Antonio, der ihm aus Indien gefolgt war, nicht des Nachts in den
Straßen von Lissabon für ihn gebettelt hätte. Wie um dem Unglück des Dichters
die Krone aufzusetzen, kam im August 1578 die Kunde von der großen Nieder¬
lage nach Lissabon, welche der König Sebastian im Kampfe mit den Mauren
bei Alkaffar Kebir erlitten hatte. Der König war gefallen, mehrere Freunde
des Dichters in die Gefangenschaft der Mauren gerathen, der Kriegsruhm
Portugals war verdunkelt. Dieser jähe Sturz seines Vaterlandes von stolzer
Höhe brach dem Dichter das Herz. Viel Leid war über ihn hingegangen in
seinem Leben, dieses war das schwerste. Noch lebte er, um zu sehen, wie das
Land, vom Großoheim Sebastians, dem Kardinal Heinrich, an Philipp den
Zweiten verrathen, mit Spanien vereinigt wurde. Dann starb er. An dem
Tage, wo das spanische Heer in Portugal einrückte, am 10. Juni 1580, hauchte
er seine edle Dulderseele aus, getreu dem Worte, welches er einige Zeit vorher
an Francisco Alucita geschrieben: „Ich werde das Leben beschließen, und Alle
werden sehen, daß ich meinem Vaterlande so zugethan war, daß es mir nicht
genügte, in ihm, sondern mit ihm zu sterben."
Camoens hat sich in verschiedenen Gattungen der Poesie versucht. Die
neueste Ausgabe seiner gesammelten Werke bietet 354 Sonette, 19 Canzonen,
5 Sextinen, 13 Oden, 8 Octaven, 27 Elegien und 15 Eklogen, ferner die drei
Dramen „Seleueo", „Amphitrno" und „Filodemo", endlich das Epos der
Lusiaden. Als Dramatiker ist er nicht von Bedeutung. Seine lyrischen Ge¬
dichte, in denen er italienischen Mustern folgt, zeichnen sich dnrch Reinheit
und Klarheit des Ausdrucks aus und tragen das Gepräge eines großen Cha¬
rakters und eines tiefen Gemüthes. Seine eigentliche Große aber haben wir in
seinem Epos vor uns, welches, in 10 Gesänge getheilt, 1102 achtzeilige Stanzen
enthält. Er nennt es die Lusiaden (0s I,usis>as,s), d. h. die Nachkommen des
fabelhaften Helden Lusus, des Ahnherrn der Portugiesen; denn der Zweck des
Gedichts ist nicht die Verherrlichung eines Einzelnen, sondern die seines ge¬
stimmten Volkes. Er besingt die Umschiffung Afrikas durch Vasco de Gama
und die ersten Anfänge des Verkehrs der Portugiesen mit Malabar, beschäftigt
sich aber zugleich in episodischen Erzählungen mit der älteren Geschichte Por¬
tugals, sowie in der Form begeisterter Prophezeiungen mit den späteren Gro߬
thaten seines Volkes in Indien. Dabei spielen die Götter des Alterthums als
leitende Mächte in die Entwickelung der Dinge hinein, was ein paar Mal zu
Situationen führt, welche uns jetzt fast komisch erscheinen, und bisweilen bricht
anch das persönliche Gefühl des Dichters in lyrischem Ergüsse mit Macht hervor.
Nach der üblichen epischen Einleitung und einer Apostrophe an den jugend¬
lichen König, diesem „neuen Schrecken für den Speer des Mohren", versetzt
uns der Dichter sofort auf die Flotte Vasco de Gamas, die in der Nähe von
Madagaskar ruhig ihren Weg verfolgt. Droben über ihr haben sich ans Jupiters
Ruf die Götter versammelt, um Rath zu halten über das portugiesische Volk.
Jupiter selbst, Mars und Merkur, namentlich aber Venus erklären sich für
dasselbe, Bacchus dagegen zeigt sich ihm feindlich, weil er fürchtet, die Thaten
der Lusitcmier könnten den Ruhm verdunkeln, den er sich durch seinen Zug
nach Indien erworben hat. Auf Mars' Antrag wird Merkur zu Vasco de
Gnma gesandt, um die Flotte an einen Ort zu bringen, wo sie Nachrichten
über Indien einziehen kauu. So landen die Portugiesen in Mozambique,
wo indeß Bacchus bereits in Gestalt eines alten Mohren das Volk gegen sie
aufgewiegelt hat, so daß sie sich nur durch ihre Tapferkeit des tückischen An¬
griffs erwehren, den der Fürst des Landes gegen sie unternimmt. Auf der
Weiterfahrt sucht sie ein Wegweiser irre zu führen, aber Venus bringt ihre
Schützlinge glücklich nach Mvmbaza.
Im zweiten Gesänge sehen wir Bacchus hier den Versuch machen, die
Ankömmlinge zu verderben. Um die Portugiesen glauben zu lassen, das Land
sei von Christen bewohnt, nimmt er die von Vasco ausgeschickten Kundschafter
gastlich in seinem Hause auf, in welchem er der heiligen Jungfrau einen Altar
errichtet hat, vor dem er kniend betet. Aber Venus gewahrt noch zu rechter
Zeit die Gefahr ihrer Freunde und rettet die Flotte derselben, die eben in den
verrütherischen Hafen einlaufen will, mit Hülfe der Nereiden vor dem sichern
Untergange. Der Rettung froh, richtet Vasco ein Gebet an die göttliche Vor¬
sehung um ferneren Beistand, und Venus will zum Empyreum empor, um
dieses Gebet vor Jupiters Thron zu bringen — eine der schönsten Stellen des
Epos. Jupiter erhört deu Wunsch der Göttin und befiehlt dem Merkur, dem
Vasco im Schlafe den Weg nach Melinda zu beschreiben, dessen Volk die See¬
fahrer freundlich aufnehmen werde. Dieß geschieht denn auch, und der König
von Melinda schließt ein Bündniß mit den Portugiesen, worauf er deren
Führer bittet, ihm die Geschichte seines Vaterlandes zu erzählen.
Im dritten Gesänge beginnt Vasco damit. Nach einer kurzen Beschreibung
Europas erzählt er alle Großthaten der Portugiesen von den ältesten Zeiten
an. Einen Glanzpunkt seines Berichts bildet die tragische Geschichte der Jnez
de Castro, welche 1344 sich heimlich mit dem Infanten Don Pedro vermählt
hatte, worauf dessen Vater Alfons der Vierte sie umbringen ließ.
Der vierte Gesang erzählt die Heldengeschichte Portugals weiter. Der
tapfere Nuno tritt auf. Infolge eines Traumes, in welchem die Stromgötter
des Indus und Ganges den König Manoel zur Eroberung Indiens aufgefordert,
beruft dieser Vasco de Gama zu diesem Unternehmen. Die Abfahrt, bei der
ein Greis sich bitter über die eitlen Bestrebungen der Menschheit äußert, ist
wieder eine der glänzendsten Stellen der Dichtung.
Der fünfte Gesang schildert die bisher während der Reise der Flotte be¬
standenen Abenteuer und Gefahren, beschreibt die Völker Afrikas und berichtet in
Episoden von der Kühnheit der Leute Vaseos. Besonders schön ist hier die Be¬
schreibung einerMasserhvse und die Erscheinung des Sturmriesen Adamastor,
welcher den Schiffern am Vorgebirge der guten Hoffnung entgegentritt.
'
Im sechsten Gesänge gehen die Portugiesen, von ihren Gastfreunden mit
allem Nöthige»: ausgerüstet und von einem Lootsen des Königs von Melinda
geleitet, wieder unter Segel. Da beginnt Bacchus von Neuem seine Ränke
gegen die verwegenen Seefahrer, indem er die Meergötter gegen sie aufreizt.
Es folgt eine herrliche Scene. Müdigkeit hat sich der Mannschaft der Schiffe
bemächtigt, Schläfrigkeit verbreitet sich, eine eigenthümliche Stimmung, welche
das nahe Unheil ahnen läßt, lagert sich über die ganze Flotte. Um die Ge¬
müther wachend aufrecht zu erhalten, erzählt Velloso auf allgemeines Ver¬
lange» die Geschichte der „Zwölf aus England." Er ist damit noch nicht zu
Ende, als des Bootsmanns Pfeife das Herannahen eines furchtbaren Sturmes
anzeigt. Aeolus hat seine Winde ausgesandt. Das Meer ist in Aufruhr.
Segel zerreißen, die Schiffe fangen an zu sinken. Allein Venus eilt mit ihren
Nymphen herbei, und ihre Reize besänftigen die Winde. Die indische Küste
erscheint in der Ferne.
Der siebente Gesang schildert Indien. Die Portugiesen landen in Kalekut.
Vasco de Gama schickt einen Boten an den Herrscher des Landes, worauf
alsbald in dem Mohren Monzaide sich ein Dolmetscher und Führer einfindet.
Die Fremden werden gut aufgenommen, und man veranstaltet ihnen zu Ehren
verschiedene Feste. Ein indischer Großer besucht ihre Schiffe, und da er be¬
merkt, daß auf den Flaggen und Fahnen kriegerische Thaten abgebildet find,
bittet er um Erklärung dieser Bilder.
Vasco's Bruder giebt ihm im achten Gesänge den gewünschten Aufschluß,
wobei es wieder zu einer Verherrlichung der hervorragendsten Könige und
Helden Portugals kommt. Unterdessen hat Bacchus, noch immer der hartnäckige
Feind der Portugiesen, vermittelst eines Traumgesichts einen Priester und durch
diesen die Großen des Landes aufgereizt, als ob von den Fremdlingen ihrer
Religion Gefahr drohe. Der Fürst wird mißtrauisch und verlangt von Vasco,
er solle sich rechtfertigen. Die Rede desselben befriedigt, und nach Ueberwin¬
dung verschiedener Hindernisse, welche die Treulosigkeit der Inder den Portu¬
giesen in den Weg legt, treten diese, indem ihre Aufgabe für jetzt gelöst ist,
den Heimweg an.
Das Epos könnte damit schließen, und der neunte und zehnte Gesang
sind deshalb eigentlich eine unnöthige Zugabe der Phantasie des Dichters, die
sich indeß in so schönen Erfindungen bewegt, daß wir gefesselt bleiben.
Der neunte Gesang erzählt uns, wie Venus, um die Helden, ihre Schütz¬
linge, für die erduldete Mühsal zu entschädigen und ihnen die Heimfahrt zu
erleichtern, ans ihrem Wege mitten im Ocean ein reizendes Eiland emporsteigen
läßt, welches mit den schönsten Nymphen des Meeres bevölkert ist, und die
heimsegelndeil Portugiesen an das Gestade desselben führt. Das Zauberland
wird geschildert, desgleichen das Liebeleben zwischen den Nymphen und den
kühnen Seefahrern. Vasco de Gama vermählt sich mit Thetis.
Der zehnte und letzte Gesang ist vorwiegend eine politische Weissagung
der glorreichen Thaten, die nach dem König Manoel von den Portugiesen voll¬
bracht wurden und zum Theil in die Zeit des Camoens, selbst fallen. Während
eines köstlichen Mahles, das Venus veranstaltet, singt eine Nymphe prophetisch
diese Thaten der Nachfolger Vascos ans dem von ihm erschlossenen Wege nach
dem fernen Indien. Die Heldenkümpfe Pachecos, des lnsitanischen Achilles,
des Menezes, des Masearenhas, des Heitor da Silveira und vieler Anderen
werden hier gefeiert. Dann führt Thetis den Vasco auf einen hohen Berg,
wo sie ihm vermittelst eines wunderbaren Globus die Einrichtung des Welt¬
systems und der Erde zeigt. Endlich entläßt die Göttin die Seefahrer zur
Heimreise, welche dann in kurzen Worten geschildert wird.
Hier bricht der Dichter unmuthig ab: „Nicht weiter mehr, o Muse; denn
die Leier ist mir verstimmt, und rauh ist mein Gesang; vom Singen nicht, nein,
sondern weil ich seh, daß ich's vor tauben, hartem Volke thue. Die Gunst,
wodurch der Geist sich mehr entzündet, auf sie giebt nichts das Vaterland;
versunken ist es in Geizeswollust, in die Starrheit verdumpfter, düstrer, niedrer
Traurigkeit." Darauf schließt der Dichter mit einer ernsten Mahnung an den
König, als wüßte er jetzt am Ende des Epos, daß der zu Anfang desselben
in einer glühenden Apostrophe gefeierte junge Fürst keiner Hoffnung entspreche-
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Behandlung dieser Stoffe im
Einzelnen, so erinnert uns außer dem mythologischen Beiwerk auch sonst noch
Mancherlei an Virgil, der damals allgemein das Vorbild für epische Dichtungen
war. Aber im Ganzen unterscheiden sich die Lusiaden durch einen wesentlichen
Zug von allen andern Epen, und dieser Zug ist die außerordentlich naturwahre
und kraftvolle Schilderung der See und des Lebens auf ihr. Davor tritt auch
die patriotische Tendenz, das Streben, den portugiesischen Ruhm zu besingen,
in den Hintergrund. Wir begegnen allerdings auch bei andern Dichtern, in
der Odyssee, im Epos von Gudrun, Schilderungen des Meeres, aber die Macht
und Gewalt des großen Oceans draußen vor den Säulen des Herkules und
drunten tief in den Tropen tritt uns zuerst bei Camoens entgegen und zwar
in nie wieder von einem Epiker erreichter und noch weniger je übertroffener
Großartigkeit. Es sei gestattet, das Urtheil Humboldts über diese Haupt¬
eigenthümlichkeit der Lusiaden anzuführen. Er sagt im zweiten Bande des
..Kosmos" S. 58.
„Jene individuelle Naturwahrheit, die aus eigner Anschauung entspringt,
glänzt im reichsten Maß in dem großen Nationalepos der portugiesischen Lite¬
ratur. Es weht wie ein indischer Blüthenduft durch das ganze unter dem
Tropenhimmel — in der Felsgrotte bei Makao und auf den Molucken ge¬
schriebene Gedicht. Mir geziemt es nicht, einen kühnen Ausspruch Friedrich Schlegels
zu bekräftigen, nach welchem die Lusiaden des Camoens an Farbe und Fülle
der Phantasie den Ariost bei Weitem übertreffen: aber als Naturbeobachter
darf ich wohl hinzufügen, daß in den beschreibenden Theilen der Lusiaden die
Begeisterung des Dichters, der Schmuck der Rede und die süßen Laute der
Schwermuth nie der Genauigkeit in der Darstellung physischer Erscheinungen
hinderlich werden. Sie haben vielmehr, wie dieß immer der Fall ist, wenn
die Kunst aus ungetrübter Quelle schöpft, den belebenden Eindruck der Größe
und Wahrheit der Naturbilder erhöht. Unnachahmlich sind bei Camoens die
Schilderungen des ewigen Verkehrs zwischen Luft und Meer, zwischen der viel¬
fach gestalteten Wolkendecke, ihren meteorologischen Processen und den ver¬
schiedenen Zuständen der Oberfläche des Oceans. Er zeigt uns diese Ober¬
fläche bald, wenn milde Winde sie kräuseln und die kurzen Wellen im Spiel
des zurückgeworfenen Lichtstrahls funkelnd leuchten, bald, wenn Coelhos und
Paul de Gamas Schiffe in einem furchtbaren Sturme gegen die tiefaufgeregten
Elemente kämpfen. Auch die Beschreibung des Sturmes, der in einem Walde
wüthet (1. Gesang, 35), ist schön. Aber im eigentlichsten Sinne des Wortes ist
Camoens ein großer Seemaler. Als Kriegsmann hatte er gefochten am Fuße
des Atlas im marockanischen Gebiete, im Rothen Meere und im Persischen
Meerbusen; zweimal hatte er das Cap umschifft und, mit tiefem Naturgefühl
begabt, sechzehn Jahre lang an dem indischen und chinesischen Gestade alle
Phänomene des Weltmeers belauscht. Er beschreibt das elektrische Se. Eins^
feuer, Castor und Pollux der alten griechischen Seefahrer, „das lebende Licht,
dem Seevolke heilig", er schildert die gefahrdrohende Trombe in ihrer allmäh¬
lichen-Entwickelung, „wie der Dunst, aus feinem Duft gewoben, sich im Kreise
dreht, ein dünnes Rohr herabläßt und die Fluth dürstend auspumpt; wie er,
wenn das schwarze Gewölk sich satt gesogen, den Fuß des Trichters zurückzieht
und, zum Himmel fliegend, auf der Flucht als süßes Wasser den Wogen wie¬
dergiebt, was die Trombe ihnen brausend entzogen."*) Die Schriftgelehrten,
sagt der Dichter — und er sagt es fast auch zum Spotte der jetzigen Zeit —
mögen versuchen, der Welt verborgene Wunderdinge zu erklären, da, vom Geist
allein und von der Wissenschaft geleitet, sie so gern für falsch ausgeben, was
man aus dem Munde des Schiffers hört, dessen einziger Leiter die Erfahrung
ist." — „Wenn ich vorher den Camoens vorzugsweise als Seemaler rühmte,
so war es, um anzudeuten, daß das Erdeleben ihn minder lebhaft angezogen
hat. Schon Sismondi bemerkt mit Recht, daß das ganze Gedicht keine Spur
von etwas Anschaulichem über die tropische Vegetation und ihre physiogno-
mische Gestaltung enthält. Nur die Arome und nützlichen Handelsproducte
werden bezeichnet. Die Zauberinsel bietet freilich das reizendste Gemälde
einer Landschaft dar; aber die Pflanzendecke ist gebildet, wie einellua, äeVenus
es erfordert, „von Myrthen, dem Citrusbaume, duftenden Limonen und Gra¬
naten, alle dem Klima des südlichen Europa angeeignet. Bei dem größten der
damaligen Seefahrer, Christoph Columbus, finden wir mehr Freude an den
Küstenwäldern, mehr Aufmerksamkeit auf die Formen des Gewächsreiches; aber
Columbus schreibt ein Reisejournal und verzeichnet in diesem die lebendigen
Eindrücke jedes Tages, während das Epos des Camoens die Großthaten der
Portugiesen verherrlicht. Pflanzennamen den Sprachen der Eingebornen zu
entlehnen und sie in die Beschreibung einer Landschaft einzuflechten, in der, wie
vor einem Hintergrund, die Handelnden sich bewegen, konnte den an harmonische
Klänge gewöhnten Dichter wenig reizen."
Wir meinen, daß dieser Mangel sich besser dadurch erklärt, daß der
Dichter seinen Landsleuten verständlicher blieb, wenn er vom Malen tropischer
Pflanzen und der Nennung ihrer Namen in einem Wirrwarr von bloßen
Klängen absah, bei denen man sich nichts denken konnte. Jedenfalls hat er
die Eigenthümlichkeit der Tropenwelt durch zwei Dinge genügend, ja vortrefflich
gekennzeichnet, durch die Schilderung des Lichts, das Helios dort in Fluthen
verschwenderisch ausgießt, und des Würzgeruchs, der von den sonnedurchkochten
Pflanzen ausduftet.
Nach alledem ist, wie Rosenkranz mit vollem Rechte hervorhebt, die eigent¬
liche Handlung und Hauptsache in den Lusiaden nicht so sehr in den Kämpfen
der Portugiesen und Inder zu suchen, als in dem Kampfe jener mit dem Oeean
und dessen ungeheurer Wucht und Gewalt, die uns vorzüglich durch den Riesen
Adamastor versinnbildet wird, wie die Vermählung Vasco de Gamas mit
Thetis ein Symbol der Seeherrschaft der Portugiesen ist.
Die Wirklichkeit freilich gestaltete sich nicht nach dieser Prophezeiung unseres
Dichters, und dessen Werk wurde durch die Geschichte gewissermaßen in ein
Trauerspiel verwandelt. Der völlige Untergang der kühnen Nation an den
Gestaden Lusitaniens, ein Untergang, von dem sie sich nie wieder zu der alten
Kraft und Herrlichkeit erhob, schloß sich unmittelbar an die kurze Epoche ihrer
höchsten Licht- und Machteufaltung an, als deren strahlenden Wiederschein wir
jenes Nationalgedicht zu betrachten haben. Die Lusiaden sind das Triumphlied
der portugiesischen Heroenzeit, zugleich aber ihr Schwanengesang.
Ein heutzutage ziemlich seltenes Werk ist des Magisters Zacharias Theo-
bald „Hussitenkrieg oder Geschichte des Lebens und der Lehre Johanns Hustens,
ingleichen der Böhmischen Kirche, nebst einem Anhange des Böhmischen Glaubens¬
bekenntnisses. Mit verschiedenen Kupfern und einer Vorrede Siegmund Jacobs
Baumgartens. Breslau, zu finden bey Johann Jacob Korn, 1750." — Das
Werk enthält eine eingehende Schilderung des Wirkens und Lebens von Jo¬
hann Huß, soweit letzteres die Oeffentlichkeit angeht und finden wir daher in
ihm auch eine genaue Beschreibung seiner letzten Lebensstunden und seines
Märtyrertodes zu Kosemitz (Konstanz). Wir glauben, daß es unseren Lesern
nicht uninteressant sein wird, die authentischen und genanen Angaben hierüber,
die der Verfasser giebt, kennen zu lernen, und wir theilen sie daher hier mit.
Magister Theobald schreibt in dem ersten Hauptstück seines Buches, Z. 27,
wie folgt.
„Den 6. Juli (1415 nämlich), andere schreiben falsch den 6. Juni, wurde
die letzte Handlung vorgenommen. Zwo Stunden vor Tags kam der Bischof
v. Riga nebst einer mit Spiesser, Schwertern und Stangen gerüsteten Wache
in das Kloster der Minoriten, ließ Hussen aus dem Gefängnisse holen und
führete ihn in die Domkirche, wo die Cardinäle, Bischöfe, Prälaten, Pfaffen
und Mönche und viel gemeines Volk, die es mit ansehen wollten, versammelt
waren. Da er vor die Kirche kam, ließ er Hussen in dem Vorhofe bleiben,
damit er als ein Ketzer unter der Messe den Gottesdienst nicht entheiligen
möge. Da die Messe verrichtet war, mußte er in die Versammlung, die sich
rings herum an den Wänden, auf dazu erbaute Gerüste gesetzet hatte. Der
Kaiser selbst, der eine güldene Krone auf seinem Haupte hatte, saß auf seinem
kaiserlichen Thron; neben ihm hielte Herzog Ludwig von Bayern den Reichs¬
apfel mit dem Kreutze; auf der andern Seite stund der Burggraf von Nürnberg
mit einem blanken Schwerte. Mitten in der Kirche stund ein hoher Tisch,
darauf lag ein Meßgewand, mit welchem sie Hussen entweyhen wollten. Vor
diesen stellten sie Hussen, welcher niederkniete und betete. Unterdessen stieg
Bischof Nandinus, sonst der Mönch genannt, auf den Predigtstuhl, von welchem
sie ihre Decrete abzulesen pflegten, hielt einen langen Sermon aus dein sechsten
Kapitel des Apostels Pauli an die Römer über die Worte: Was wollen wir
hier sagen, sollen wir denn in der Sünde beharren? In dieser Predigt,
lehrete er weitläuffig, was für Schaden die Ketzerey anrichte, wie selbe die
christliche Kirche zerstöhre, die Leute Christo entführe, und gleichsam dem Teufel
in den Rachen stecke. Es stünde der weltlichen Obrigkeit zu, solche zu unter¬
drücken, und deren Anhänger aus dem Wege zu räumen. Denn solche Ketzer
wären viel ärger als ein Tyranne, er sey gleich wer er wolle: derohalben, fuhr
er fort, ist es billig, und gehöret, unüberwindlicher Kaiser, Ew. kaiserl. Majestät
zu, diesen halsstarrigen Ketzer, weil er in unseren Händen ist, hinzurichten.
Jhro kaiserl. Majestät werden dadurch, bey Jungen und Alten, weil die Welt
stehet, einen unsterblichen Namen erlangen, wenn dieselben so eine herrliche
und Gott wohlgefällige That vollbringen.
Als dieser ausgeredet, stieg einer auf mit Namen Heinrich, welcher der
Sprecher des Concilii, vermahnte die ganze Versammlung, sie sollen ja nicht
ruhen und nachlassen, bis sie den verstockten Ketzer, der so halsstarrig in denen
verdammten Irrthümern beharrete, verbrämte hätten. Nach diesen stund ein
Bischof auf, gieng zu dem Pulte, auf welchen sie ehemals ihre Decreta verlesen
liessen, und erzehlete, was Huß mit dem Erzbischof von Prag und den Herren
des Kapitels*) vorgehabt, er verlaß auch alles, was sie mit Hussen bey dem
Coneilio abgehandelt, und endlich anch dasjenige, was ihm die Zeugen schuld
gaben. Als man anfieng zu lesen, nehmlich: Huß lehret, es sey eine heilige
catholische Kirche, welches ist eine Hauffe aller Rechtgläubigen, zu dem ewigen
Leben von GOtt verordnet, welches ketzerisch ist, antwortete Huß mit lauter
Stimme: Ich zweifele ganz nicht, es sey eine heilige christliche Kirche, welche
ist eine Versammlung aller Auserwehlten beydes in dieser als auch in jener
Welt. Der Cardinal von Cammenach aber fiel ihm ins Wort und sprach:
Halte das Maul, bis es gelesen ist, alsdann so antworte. Aber Huß sprach:
Wollt ihr mir das Maul auch ietzo verbieten, wo ist es möglich, daß ich her¬
nach auf alles antworten kau, welches so viel ist, daß ich unmöglich alles zu
merken im Stande bin. Da man wiederum was anders vorlaß, und Huß
darauf antworten wollte, sprach der Cardinal von Florenz, einer von den
Richtern: Schweig du Ketzer, und befahl den Schergen, daß sie ihn darzu
zwingen sollen. Darauf hub Huß, feine Hände gen Himmel, und fagte mit
Heller Stimme: Ich bitte euch um GOtteswillen, höret mich nur wegen derer,
so herumstehen, auf daß ich mich entschuldigen, und deren Argwohn aus ihren
Herzen nehmen möge, hernach verfahret mit mir, wie ihr wollet. Da er noch
nicht konnte Verhör erlangen, fiel er auf die Knie, hub die Augen und Hände
gen Himmel und befahl die Sachen GOtt. Dieses that er öfters, als so lange
man laß. Nun kam man auf dasjenige, was die Zeugen sollen ausgesagt
haben. Hier gingen sie mit ihm um, daß es Gott hätte erbarmen mögen;
denn Niemand erfuhr und kounte wissen wer es gezeuget, denn es hieß immer:
das haben zwey Kanvniei zu Prag gehöret: das haben zween Pfarrherren,
das hat ein Kapellan, ein Doctor ?e. angehöret. Als mau aber laß: Huß habe
gelehret, daß, nachdem die Worte der Einsetzung über das Brod gesprochen
wären, so wäre und bliebe es ein natürliches Brod, welches ketzerisch ist,
desgleichen: daß ein Pfarrherr, welcher mit Todsünden beladen wäre, weder
das Sacrament des Altars austheilen, noch taufen könne: konnte sich Huß nicht
länger halten und wollte antworten. Der Cardinal vou Florenz hieß ihn
schweigen, doch thäte er es nicht, sondern sagte: Ich bitte euch doch um GOttes
willen, lasset mich nur wegen der Umstehenden reden, auf daß sie nicht glauben,
ich habe solches gelehret: denn 1) gestehe ich nicht, daß ich geglaubet, viel
weniger gelehret habe, daß das gesegnete Brod schlecht natürlich Brod sey.
Zum andern sage ich, das alles dasjenige, so von einem Priester, der mit Tod¬
sünden behaftet ist, vollbracht wird, vor Gott ein Greuel und Abscheu sey.
Wie man laß: Huß hat gelehret, es seyen vier Personen in der Gottheit, und
solches hat ein Doctor gehöret, sagte Huß, mau sollte ihm den Doctor nennen,
solches wollte der Bischof, der es laß, nicht thun, sondern sagte: Es sey nicht
von nöthen. Darauf rief Huß, daß sey ferne, daß ich arme elende Kreatur,
die vierte Person in der heyligen Dreyfaltigkeit einsetzen solte. GOtt weiß es,
daß mir solches Zeit meines Lebens nicht in den Sinn gekommen ist, viel
weniger hab ich's gelehret. Ich habe allezeit ein einiges göttliches Wesen in
drey Personen, GOtt Vater, GOtt Sohn, GOtt Heiliger Geist bekennet, worauf
ich sterben will. Man laß ferner fort: Huß hat in Gegenwart unserer aller,
zu dem Richterstuhl Gottes appelliret, welches ketzerisch ist. Hierauf schrie Huß:
Schau Herr Christe, dieses Concilium hält ein Gesetz und Gebot für ketzerisch,
der du doch selbst, als du von deinen Feinden überwältiget wärest, deinem
himmlischen Vater, als den gerechten Richter, deine Sache befohlen hast, wo¬
durch du uns armen, elenden und schwachen Menschen ein Exempel verlassen,
daß wir in unserm Kreutz und Nöthen zu dir, als zu einem gerechten Richter
fliehen und Hülfe suchen sollen. Zuletzt verdammten sie ihn, weil er des
Pabstes Bann verachtet hätte. Huß aber sprach: Worinnen hab ich ihn ver¬
achtet? Hab ich nicht öffentlich an ihn als einen gerechten Richter appelliret?
Ueber dieses hab ich dreymal Abgeordnete an ihn geschicket, die mich bey ihm
verantworten sollen, da ich wegen höchstwichtiger Ursachen selbst zu erscheinen
nicht im Stande war. Es ist aber offenbar und wohl bekandt, wie man mit
ihnen umgegangen ist, denn etliche sind in das Gefängniß geworfen, etliche
nicht gehöret, und etliche sonst geplaget worden. Derohalben hab ich mich
endlich entschlossen, bey Zeiten auf dieses Concilium zu kommen, ich habe ein
frey sicher Geleite des römischen Kaisers, welcher hier zugegen ist, erhalten, in
der gänzlichen Hoffnung, es würde mir keine Gewalt geschehen, sondern ich
würde meine Unschuld vertheidigen können. Wie er das sagte, sahe er den
Kaiser starr an, welcher darüber blutroth wurde.
Nach diesem stunde der päbstliche Richter, ein Jtaliäner und alter Mann,
mit einer Glatze auf, und verlaß das Urtheil über Hnßen. Huß wollte diese
Punkte widerlegen, aber die Schergen ließen es nicht zu. Als man aber laß,
wie er halsstarrig und verstockt viele Jahre in diesem Irrthume verblieben
wäre, sprach er: Dieses gestehe ich nicht, weil ich allezeit und noch heute be¬
gehre, man solle mich aus der heiligen Schrift eines besseren unterweisen,
wollte Gott man fände nur einen einzigen Buchstaben in der Schrift, dem
meine Lehre zuwider wäre, so wollte ich sie augenblicklich selbst verdammen.
Wie man ferner in dem Urtheile laß: daß man seine Bücher, welche er von
der christlichen Kirche, und alle anderen, so er lateinisch und böhmisch geschrieben,
oder die er zu Kosemitz und anderer Orten mehr, in andere Sprachen übersetzet,
zu verbrennen gebothen, rief Huß: wie könnt ihr nieine Schriften mit Recht
verdammen, da ich allezeit einen bessern Unterricht begehret habe, dieser aber
ist noch nicht erfolget, und ihr habt mir nicht einen falschen Buchstaben aus
selbigen erwiesen, über das, wie könnt ihr befehlen, daß meine Bücher sollen
vertilgt werden, die ihr niemals gesehen habt, oder wenn ihr sie gesehen, sie
doch nicht verstehet, weil ihr der böhmischen Sprache unwissend seyd? Darnach
zog er aus Befehl der sieben Bischöfe, die ihn entweyhen sollten, das Meßge¬
wand an, gleich als solte er Messe halten, da er aber das weisse Chorhemde
anzog, sprach er: Christus, mein HERR, als er von Herode zu Pilato ge¬
schicket wurde, ist, auch in einem weißen Kleide verspottet worden. Nachdem
er nun alles angeleget hatte, vermahnten ihn die Bischöfe nochmals: Noch
wäre es Zeit, noch sollte er seinen Irrthum erkennen, verwerfen und ver¬
schwören. Er aber kehrete sich gegen das Volk, und sprach mit Weinen: Sehet,
die Bischöfe vermahnen mich, ich soll die Irrthümer verschwören. Aber wie
kann ich solches thun, ohne ein Lügner vor dem göttlichen Angesicht erfunden
zu werden, ohne mich selber eines Irrthums schuldig zu geben, den ich niemals
gehabt, ja ohne mein Gewissen und die göttliche Wahrheit selbst zu verletzen.
Denn diejenigen Artikel, die mir falsche Zeugen fälschlich Schuld geben, hab
ich niemals gelehret, über dieses würde ich nicht die frommen Herzen meiner
ehemaligen Zuhörer ärgern, und andere getreue Diener des göttlichen Worts,
von dem Wege der Wahrheit abführen, wo ich dieses thäte? Die Bischöfe
aber, und die ganze Klerisey schrie: Sehet, so halsstarrig ist er in seiner Boß-
heit, und so verstockt in der Ketzerei, steige herab, riefen sie ihm zu, steige
herab. Da dieses geschehen war, fing man an ihn zu entweyhen auf folgende
Weise: Zuerst nahmen sie ihm den Kelch und sprachen: O! du verfluchter Judas,
welcher verlassen den Rath des Friedens, und Rath gehalten mit den Juden,
siehe, wir nehmen von dir diesen Kelch, darinnen das Blut Jesu Christi aufgeopfert
wird, zur Vergebung der Sünden. Auf diese Weise nahmen sie ihm das
andere Gerüthe eines ums andere und sprachen zu einem jeden gemeldete Worte
des Fluches. Da sie ihn nun aller Meßkleider beraubet hatten, wollten sie
ihm auch die Platte auf seinem Kopf schänden. Es enstund hierüber ein
Streit unter den Bischöfen und Pfaffen, einige wollten es mit dem Scheer-
messer thun, andere aber sagten: es sei genug, wenn es mit der Scheere ge¬
schehe. Endlich verglichen sie sich, und machten mit der Scheere ein Krenz in
die Platte, setzten ihm eine papierne Krone, ans und sprachen: Wir befehlen
deine Seele den Teufeln. Die Krone war ohngefähr eine halbe Elle hoch,
in Form einer Pyramide, daran drey grosse abscheuliche Teufel gemahlet waren,
mit der Unterschrift: dieser ist ein Erzieher. Hierauf befahl der Kaiser Herzog Lud¬
wiger: Er sollte ihn dem Henker übergeben. Zu dem Ende legte der Herzog
seinen fürstlichen Ornat ab, in welchen er den Kaiser bedienete, überantwortete
Hussen, und führte ihn bis zu dem Richtplatz.
Es war aber Caspar Graf von Schlick kaiserlicher Kanzler, ein sehr ge¬
lehrter, kluger und verständiger Herr der bey drey Königen die hohe Würde als
Kanzler ohne einigen Wechsel des Glücks, begleitet hatte, und deswegen von
ihnen viele Städte und Güter, als Passau, Weisseukirche (wovon sich die
Grafen Schlick noch heutzutage schreiben) Ellnbogen, Gram in Steuermark !e.
geschenkt bekommen, gegenwärtig. Von diesem sagt man, als er das Urtheil
gehöret, sey er aus der Kirche gegangen, und habe öffentlich betheuret, wie er
bey einem so übereilten Urtheil mit guten Gewissen nicht gegenwärtig
sein könne.
Nachdem nun Huß auf diese Art verdammt war, führeten die Henker ihn
mit der Krone ans dem Handle zu dem Scheiterhanffen. Da er auf dem
Kirchhofe seine Bücher verbrennen sahe, stand er stille, und lachte. Darauf
gieng er fröhlich, ohne ein einziges Zeichen von Furcht vou sich zu geben, an
den in die Erde geschlagenen Pfahl; an diesen bunten ihn die Henker rücklings
mit 6. Stricken. Um den Halß legten sie ihn eine alte verrostete Kette, gleich¬
sam als ob er keiner neuen werth wäre. Unter seinen Füssen, an welchen
noch die Stiefeln und Fußeisen waren, legten sie 2 Büschel Reißholz , und
um ihn rum viel Holz, Stroh und Reißig. Ehe es aber der Henker an¬
zündete, ritte Herzog Ludwig von Bayern und der Marschall einer Reichsstadt
zu ihm, und befragte ihn noch einmal: Ob er von seinem Irrthum abstehen,
und seine Lehre und Predigten verschwören wolle? Huß aber rief mit Heller
Stimme aus dem Holzhauffen: Ich rufe Gott zum Zeugen an, daß ich das-
jenige, was sie mir durch falsche Zeugen auf den Halß geladen, nicht gelehret
noch geschrieben habe, sondern ich habe alle meine Predigten, Lehren und
Schriften dahin gerichtet, daß ich die Leute möge von Sünden abwenden, und
GOtt in sein Reich führen. Diese Wahrheit, die ich gelehret, geprediget, ge¬
schrieben, und ausgebreitet habe, als welche mir GOttes Worte übereinstimmt,
will ich behalten, und mit meinem Tode versiegeln. — Wie sie dieses höreten,
schlugen sie die Hände zusammen, und ritten davon. Darauf zündeten
die Henker das Feuer an, welches geschwind aufgieng, da viel Stroh zwischen
das Holz geleget war. Als Johann Huß den Rauch sahe, fang er ganz ver¬
nehmlich: Christe, du Sohn GOttes, erbarme dich mein. Als er aber zum
dritten mal sang: Christ dn Sohn GOttes, von einer Jungfrau gebohren, schlug
ihm die Lohe unter das Gesicht und benahm ihm die Sprache; er bewegte
aber betende den Mund bey nahe ein Vater Unser lang, darnach starb er. Als
nun das Holz verbrämte war, und der über halbverbrcmdte Leichnam noch
am Pfahle hieng, stiessen ihn die Henker mit Stangen übern Hauffer, zer¬
schlugen die Gebeine, damit sie desto eher verbrennen sollten, und legten noch
mehr Holz an. Besonders zerschmissen sie seinen Kopf, und das Herz, das sie
unter dein Eingeweide gefunden, steckten sie an eine spitzige Stangen und liessen
es braten. Da man Herzog Ludwiger anzeigte, daß die Henkersknechte Hussens
Mantel, Gürtel und einige Kleider hätten: befahl er das alles zu verbrennen,
weil es die Böhmen sonst für ein Heiligthum halten möchten, welches auch
wohl hätte geschehen können. Die Henker weigerten sich erstlich es zu thun,
da er ihnen aber eine gewisse Summe Geldes versprach, warfen sie alles
in's Feuer.
Nachdem nun alles verbrämte war, luden sie die Asche, nebst der Erde,
die sie etliche Schuhe tief ausgruben, auf Karren und warfen sie in den Rhein.
Der Ort, wo dieses geschahe, war zwischen den Gärten der Vorstadt an dem
Wege, wo man nach Gottleben gehen will. Einige, die an den Ort gewesen,
wollen versichern, daß ans der Stelle, wo Huß verbrämte worden, bis auf den
heutigen Tag kein Gras wachse. Ob es wahr sey, weiß ich nicht. Johannes
Posinus hat das Jahr, in welchen Huß den Märtyrertod erlitten, in folgendes
schönes Dystichon gebracht:
Vitam lou eolistallti oonstÄnti-i ne abstulit Husso,
KsIiHiiiis usti Rbsims ubiciuo ulxot.Das heißt:
An allen Ufern blüht der segensvolle Rhein:
Warum? Man warff dereinst des Hussens Asche drein."
Unter den Völkerschaften, welche bei den bevorstehenden Ereignissen auf
der Balknnhalbinsel zunächst in Betracht kommen, nehmen die Bulgaren durch
ihre Zahl die erste Stelle ein. Gerade von ihnen aber hat man unsrer Er¬
fahrung nach in Deutschland nur dürftige Kenntniß und eine wenig klare Vor¬
stellung, und so scheint ein Bericht über sie an der Zeit. Die Bulgaren, alt¬
slawisch Blugaru, serbisch Bngar, griechisch Bulgaroi, albanesisch Skjau und
rumänisch Skjeji genannt, sind ihrem Ursprünge nach keine Slawen. Sie sind
vielmehr ein Volk finnischen Stammes, welches einst eine Sprache redete, die
mit der madjarischen verwandt war, zugleich aber türkische Elemente in sich
aufgenommen hatte, so daß die Bulgaren, als sie zuerst in die Geschichte ein¬
traten, wahrscheinlich ein Mischvolk, zusammengesetzt ans finnischen und türkischen
Bestandtheilen waren. Gegen das Ende der Völkerwanderung brachen sie von
der Wolga, wo sie neben den Chazaren gewohnt, nach Bithynien und Moslem
auf und drangen selbst bis nach Italien vor. Sie mischten sich auf diesem Zuge
mit deu slawischen Anten und nahmen in Bithynien schon im achten, in Moslem
im neunten Jahrhundert n. Chr. slawische Sitte und Sprache an. Hier sind
sie gegenwärtig kaum noch von ihren nächsten nördlichen Nachbarn, den Serben,
zu unterscheiden. Die neubnlgarische Sprache ist nach Schafarik am nächsten
mit der großrussischen verwandt. Sie hat ihren alten Rhinismus, d. h. das
Aussprechen bestimmter In- und Auslande durch Nasentöue, welches sonst nur
den Polen und den Rumänen und Magyaren (bei slawischen Lehnwörtern)
geblieben ist, in manchen Ausdrücken und Rainen behalten und unterscheidet
sich außerdem von den Schwestersprachen hauptsächlich dadurch, daß sie wie die
skandinavischen Sprachen und das Albanesische den Artikel dem Substantiv nicht
vorangehen, sondern folgen läßt.
Gegenwärtig ist das Gebiet, wo dieser Volksstamm am dichtesten sitzt,
nahezu umschrieben durch die Donau, den Tinot und eine Linie, welche durch
die Städte Alexincch, Barja, Tirgowitza, Prisrend, Ochrida, Kastoria, Niausta,
Salonik, Adrianopel, Siseboli und — nach starker Einbiegung gegen Westen
hin — auf das fünf Meilen donauabwärts von Rustschuk gelegene Baba zuläuft.
Innerhalb dieser Grenzen, die, wie man sieht, weit über das eigentliche Bul¬
garien Hinausgehen — u. A. ist fast ganz Macedonien von Bulgaren bewohnt
— liegen zwar viele, zum Theil ziemlich große türkische Ansiedelungen, auch
sind seit dem Krimkriege in demselben mehrere Tscherkessen - Colonien angelegt
worden; aber außerhalb unsrer Linie giebt es dafür wieder eine bedeutende
Anzahl von Vorposten oder Trümmern der bulgarischen Race unter Albanesen,
Türken, Griechen, in Siebenbürgen, der Walachei, der Dobrntscha und Bessarabien.
Im letztgenannten wohnt sie in starken Massen an den drei großen Seen östlich
von der Mündung des Pruth in die Donau, und die 1856 beim pariser
Friedensschlüsse oft genannte hübsche Stadt Bolgrad gehört zu ihren Nieder¬
lassungen. In der Dobrntscha nehmen sie einen bedeutenden Theil der öst¬
lichen Hülste, weiter im Süden das Küstenland zwischeu Jrlendschik und Kalije
Koi ein, und noch weiter unten begegnet man bulgarischen Niederlassungen bei
Varna und am oberen Kamtschik. Auch zur Bevölkerung der Hauptstadt
des osmanischen Reiches haben die Bulgaren ein nicht unbedeutendes Contingent
gestellt.
Nach Lejeans Beobachtungen sind die Bulgaren selten dunkelhaarig, von
mittelgroßem, kräftigem Wuchse, offnem und verständigen Gesichtsausdrucke, die
Frauen klein und auf dem Lande meist nicht schön. Quin dagegen will schöne
Bulgarinnen mit dunkeln Haaren und Augen gesehen haben. Was ihr son¬
stiges Volksthum betrifft, so wird ihnen Fleiß und Ehrlichkeit nachgerühmt.
Der großen Mehrzahl nach sind sie Ackerbauer, doch giebt es auch viele Hand¬
werker und Kaufleute unter ihnen, desgleichen geschickte Gärtner, die vortreff¬
liche Aepfel und Birnen auf die Märkte bringen. Dein Glauben nach gehören
sie mit geringen Ausnahmen der morgenländischen orthodoxen Kirche an. In
Siebenbürgen wohnen einige Tausend römisch-katholische, in der Türkei muha-
medanische Bulgaren (Pomaken). Ihre Gesammtzahl wird von den Einen auf
vier, von Andern auf sechs Millionen angegeben.
Die Bulgaren gehörten in der Zeit, wo sie ein eignes Reich und eine
eigne Geschichte hatten, zu den angesehensten und mächtigsten Völkern der
illyrischen Halbinsel. Ihr Czar Simeon machte sich im zehnten Jahrhundert
durch seine Siege nicht nur die meisten kleinen Nachbarvölkerschaften zins¬
pflichtig, sondern drang dreimal mit Heeresmacht bis Konstantinopel vor, sah
hier den Nachfolger der Cäsaren zu seinen Füßen und dictirte ihm unter den
Mauern seiner eignen Hauptstadt demüthigende Friedensbedingungen. Die
späteren Beherrscher der Bulgaren vermochten diese Höhe der Macht nicht zu
behaupten. Allerdings war Byzanz nicht im Stande, gegen sie mit den Waffen
in die Schranken zu treten, aber was sein Schwert nicht erzwang, erheblich
seine Politik. Man verstand es, die Bulgaren in Kriege mit Russen, Serben,
Walachen und Magyaren zu verwickeln, man säete Zwietracht im Innern, und
so geschah es, daß das geschwächte Reich, als unter der Regierung Czar Sus-
mans die Türken über Gallipoli gegen dasselbe anstürmten, nach kurzem tapfern
Widerstande erlag und das Volk 1392 seine Unabhängigkeit mit dem Joche
der Knechtschaft vertauschte, das es noch heute trägt.
Jahrhunderte lang waren die Bulgaren die ruhigsten und geduldigsten
Unterthanen der Pforte, obwohl sie hart bedrückt und von den Paschas und
Wesiren und nicht minder von ihrer aus Grieche» bestehenden höheren Geist¬
lichkeit arg gemißhandelt und ausgesogen wurden. Der Druck und die Ausbeutung
blieben sich immer gleich, und so kam die Mehrzahl zu dem Glauben, daß es
nicht anders sein könne, und ertrug, was nicht zu ändern war. Gelegentlich
erhob sich wohl hier und da eine zu arg gequälte und ausgepreßte Gegend
gegen die Paschas oder Bischöfe, ihre Gebieter und Dränger, aber bald wurde
der Aufstand erstickt, und blutend verstummte das Volk, um seine Last weiter
zu tragen. Doch lebten in alten Sagen und Liedern Reste von besseren Tagen
fort und mit ihnen der Haß gegen die Unterdrücker, bis endlich im Laufe der
letzten vierzig Jahre in weiten Kreisen das scheinbar erstorbene Nationalbe¬
wußtsein allmählich wieder auflebte und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt kräftiger
sich kundgab.
Der Befreiungskampf der Serben unter dem schwarzen Georg machte ans
Bulgarien nur geringen Eindruck. Erst später, als Milosch in Serbien regierte,
stellten Einzelne Betrachtungen an, mit denen sie zu dem Schlüsse kamen,
daß es ihnen schlechter als billig gehe, und daß es besser wäre, wenn mau es
auch so machte wie die Serben. Die große Masse aber meinte, es sei klüger,
das bekannte Uebel zu tragen, als ein unbekanntes Gute zu suchen und dabei
möglicherweise sich ein noch größeres Uebel auf den Hals zu ziehen. Intelli¬
gente Leute sahen, woran es zunächst fehlte: sie begannen Schulen zu grün¬
den, dieselben fanden Schüler, und mehr und mehr verbreitete sich einige Bild¬
ung über das Land.
Als die Russen 1828 in Bulgarien einrückten, war hier ein gewisses po¬
litisches Interesse wenigstens in so weit rege geworden, daß das Volk ins¬
geheim gegen die Türken Partei nahm und viele Bulgaren sich erboten, als
Freiwillige mit Diebitschs Armee gegen dieselben zu fechten. Man wies sie
zurück, und ebenso wenig wurde auf den Plan eingegangen, im Rücken des
osmanischen Heeres einen Aufstand hervorzurufen.
So blieb Alles ruhig bis zu der serbischen Bewegung zu Ende der
dreißiger Jahre, wo eine eigenthümliche Gährung durch das Land ging, von
der die Türken nichts bemerkten, und über die man auch in Belgrad nicht ins
Klare kam. Sie legte sich indeß wieder, bis die Scheinreformen Abd ni Med-
fchids statt Erleichterung der Raja nur stärkeren Druck im Gefolge hatten.
Da kam es 1850 seit langer Zeit zum ersten Male wieder zu Gewaltschritten.
Die bisher so friedliche,: Bulgaren der Nahm von Widdin griffen zu den
Waffen, und man befürchtete eine allgemeine Erhebung des bulgarischen Volkes,
die um so bedenklicher werden konnte, als die muhamedanischen Bosnier da-
mals die Fahne der Empörung gegen die Pforte aufgepflanzt hatten. Die
letztere war in großer Verlegenheit, da Bulgaren bis vor die Thore der Haupt¬
stadt hin wohnten. In Serbien dagegen befürchtete mau, daß ein Aufstand
wie der in Bulgarien, wo niemand in den Waffen geübt war, ein schlimmes
Ende nehmen werde. So wurde von beiden Seiten auf friedliche Beilegung
der Sache hingewirkt. Der Diwan schickte den Rumili Seraskier Omer
Pascha mit Truppen nach Bulgarien, ging aber zugleich die serbische Regierung
um ihre Vermittelung bei den Bulgaren an. Omer Pascha rückte bis Risch
vor, und eben dahin begab sich der serbische Justizminister Simitsch. Man
sprach damals von großen Zugeständnissen, welche die Pforte zu machen ge¬
willt sei, und es ist wohl sicher/ daß die Türken in einem Momente, wo es
in Bosnien Macht zu entfalten galt, und wo sich zu gleicher Zeit in Albanien
Aufstandsgelüste zeigten, gewisse weitgehende Versprechungen ertheilt haben, die
geeignet waren, die Gemüther in Bulgarien zu beschwichtigen. Sie werden wie
immer eine zweideutige Sprache geführt und stille Vorbehalte gemacht haben.
Aber die Bulgaren waren erfrent. Nach ihrer Deutung hatte der Diwan zu¬
gesagt, Bulgarien solle einen eignen Fürsten etwa wie Serbien, nationale Ju¬
stiz und Verwaltung mit vollständiger Autonomie in allen innern Angelegen¬
heiten u. d. in. erhalten. Unter den gesammten Südslawen war allgemeiner
Jubel über ein so glückliches Ende der Erhebung.
Aber man hatte sich zu früh gefreut, und bald hörte man nichts mehr
von einer Aenderung der bestehenden Verhältnisse. Die Pforte hatte uicht
direct mit den Aufständischen unterhandelt; und so war es ihr leicht, ihre Con¬
cessionen für mißverstanden zu erklären und zu widerrufen, und als eine bul¬
garische Deputation nach Stambul kam, um die Bestätigung jener Zusagen zu
erwirken, wurde sie „wegen irrthümlicher Auslegung des Vertrags" ins Ge¬
fängniß geworfen. Dann ging es täglich weiter zurück. Ali Riza Pascha, der
den schlimmen Zia Pascha in Widdin ersetzt hatte und eine Zeit lang mild und rück¬
sichtsvoll verfahren war, fing an, andere Saiten aufzuziehen und das Volk in
der altherkömmlichen Weise zu tyrannisiren. Die serbische Regierung, welche
sich wegen Nichtausführung des Nischer Vertrags bei der Pforte beschwert und
nicht einmal eine Antwort darauf bekommen hatte, zog sich beleidigt von der
Sache zurück, und die Bulgaren standen auf dem alten Flecke. Ganz erfolg¬
los war die Jnsurrection indeß doch nicht: das Volk hatte durch sie in weiteren
Kreisen begreifen gelernt, daß schon eine partielle Erhebung der Pforte Ver¬
legenheit bereiten und ihr wenigstens günstige Zusagen abnöthigen könne. Eine
allgemeine mußte Besseres leisten. Dazu bedürfte es aber weiterer Vorberei¬
tung und namentlich der Schwächung der Bundesgenossen, welche die türkische
Regierung in der griechischen Geistlichkeit des Landes besaß.
Einen großen Theil der Schuld trugen, wenn die Bulgaren ihr schweres
Joch nicht abzuschütteln vermochten, die Griechen von Konstantinopel, das
Patriarchat und die Bischöfe, die sich seit Jahrhunderten von den Türken gegen
gute Pfründen gebrauchen ließen, alle nationalen Regungen und jedes Aufstreben
zur Bildung und Gesittung unter den Bulgaren im Keime zu ersticken. Vom
Fanar kam wie den Rumänen so auch den Bulgaren mindestens ebenso viel
Unheil als von den Türken, und so erklärt sich's, wenn das Volk und namentlich
die, welche in den letzten zwanzig Jahren an einer patriotischen Erhebung
arbeiten, gegen diese vornehmen griechischen Glaubensbrüder einen nicht weniger
brennenden Haß hegen, als gegen die Bedrücker im Turban. „Die Fauarioten",
so sagte uns vor einigen Jahren ein in Deutschland studirender Bulgar, „wollen
wissen, daß der Name Feuer (türkisch: Laterne) eine Leuchte bedeute, die
Türken dagegen behaupten, daß er von Fenajer (Bordell) abzuleiten sei, und
in Anbetracht des nichtswürdigen feilen Charakters eines großen Theils der
Einwohner des so benannten Stadtviertels von Konstantinopel darf man letztere
Ansicht für die richtigere halten."
Der Patriarch von Konstantinopel, dem die Bulgaren als dem Oberhaupte
der morgenländischen orthodoxen Kirche untergeben waren, sandte ihnen als
Bischöfe nur geborne Griechen, die weder die Sprache noch die Sitten des
Volkes kannten, dem sie hätten Lehrer und Tröster sein sollen, und die zum
großen Theil nicht einmal in ihrer eignen Sprache Bildung genossen hatten.
Diese hohen Geistlichen waren bis vor wenigen Jahrzehnten fast ohne Aus¬
nahme rohe Gesellen, nur in Ränken und Schlichen wohl erfahren, ohne Herz
für die ihrer Fürsorge Empfohlenen, ohne ein wesentlich anderes Interesse als
das ihres unersättlichen Geldbeutels, den sie mit den niedrigsten Mitteln und
oft mit noch größerer Rücksichtslosigkeit als die türkischen Blutsauger auf Kosten
des Volkes zu füllen bemüht waren. Von Schulen war unter ihrem Regiment
lange Zeit kaum die Rede gewesen; ja sie hatten geflissentlich und eifrig jede
bemerkbar werdende Regung nach dem Erwerb von Kenntnissen zu ersticken
versucht. Vor Allein aber bestrebten sie sich, die Reste einer bulgarischen
Nationalität und alles, was ein Wiederaufleben derselben hoffen — in ihrem
Sinne fürchten — ließ, alles, was an die einstige Macht und Bedeutung des
Bulgarenvolkes erinnerte, zu vernichten und das Land zu gräcistren, wobei sie
sich Einsprüchen gegenüber darauf beriefen, daß gewisse Städte des Landes,
Adrianopel, Philippopel und Nikopel z. B., griechische Namen haben, und daß
ein Bruchtheil der Bevölkerung Bulgariens aus Hellenen besteht. Sie arbeiteten
damit ganz zum Vortheile des Sultaus, dem die höhere griechische Geistlichkeit
in der Türkei mit Ausnahme einer kurzen Periode immer ergeben war, und
dem Bildung und Selbstgefühl der Bulgaren in diesen ebenso gefährliche Feinde
schaffen mußten als in den Serben. Und sie wirkten damit nicht weniger zu
ihrem eiguen Nutzen, da jene Eigenschaften nicht zugelassen haben würden,
daß man im Fanar fortfuhr, dem Volke Bulgariens Fremde zu Bischöfen auf-
zunöthigen, die noch überdies; gewöhnlich unwissend, habgierig und lasterhaft
waren.
In welcher Weise diese christlichen Satrapen des Padischah noch vor nicht
sehr langer Zeit gegen die bulgarischen Alterthümer verfuhren, mögen zwei
Beispiele von vielen erkennen lassen. In einer Kirche zu Tirnowo, der ehe¬
maligen Residenz der bulgarischen Herrscher, entdeckte ein Geistlicher ein bis
dahin unbekannt gewesenes Gewölbe. Er zeigte seinen Fund dein Metropoliten
an, und die Untersuchung des Gemaches ergab, daß es mit einer großen Menge
alter Handschriften auf Pergament angefüllt war. Man sollte nun glauben,
daß diese Manuscripte sorgfältig aufgehoben und einer Prüfung unterworfen
worden wären. Ganz anders der Metropolit. Unter dem Vorgeben, es seien
heidnische Bücher, ließ er den gestimmten Inhalt des Gewölbes ohne Verzug
ins Feuer werfen — zur großen Betrübniß der gebildeten Bulgaren, welche
an Bruchstücken der Pergamente erkannt hatten, daß mit dieser Maßregel ein
werthvoller Theil der alten Literatur des Landes der Vernichtung preis¬
gegeben wurde.
Aehnlich verfuhr man in einer andern Kirche Tirnowos. Hier befinden
sich zwei Säulen, die bei genauer Betrachtung noch deutlich erkennen lassen,
daß sie früher Inschriften getragen haben. Aber nicht die Osmanli, sondern
die Diener hier als Bischöfe eingesetzter Fanarioten haben die Inschriften weg¬
gemeißelt, um ein aus der Borzeit stammendes Erinnerungszeichen zu beseitigen,
welches Kennern des Alterthums hätte sagen können, daß die Bulgaren einst
ein mächtiges Volk unter eignen Königen gewesen seien.
Trotz dieser Bemühungen der Griechen, die Bulgaren von aller Bildung
und der Wiedergewinnung eines nationalen Bewußtseins abzusperren und so
im Zustande einer missra, eontriKusuZ xlebs zu erhalten, wurden, wie schon
angedeutet, Fortschritte in diesen Richtungen gemacht, indem von Serbien und,
wie nicht verschwiegen werden soll, von Rußland die Anregung dazu ausging.
Bis vor vierzig Jahren etwa gab es im Lande nur sehr wenig Leute, welche
bulgarisch zu schreiben verstanden, da in den hier und da existirenden Schulen
nur griechisch gelehrt und in den Kirchen, wenn überhaupt, nur griechisch ge¬
predigt wurde. Seitdem ist es fast allenthalben und namentlich in den Städten
Bulgariens anders geworden. Ungeachtet großer Hindernisse, die im Wege
standen, erhoben sich tüchtige Charaktere, die sich eine gute Bildung und
Kenntniß der Welt zu erwerben verstanden. Allerdings war von einem öffent¬
lichen und unmittelbaren Wirken derselben nach dein erstrebten Ziele hin nicht
die Rede; denn alle irgend einflußreichen Aemter waren und blieben mit Mus¬
limen oder Griechen aus der Fanariotenelique besetzt. Aber im Stillen wurde
nach Kräften für die Erziehung des Volkes zu einer bessern Zukunft gearbeitet,
und dieses Bemühen blieb nicht ohne Erfolg. Viele Stumpfe wurden lebendig,
Entmuthigte faßten von Neuem Hoffnung, und kaum merklich für den Fern¬
stehenden, aber um so deutlicher für den Eingeweihten erhob sich die Saat der
Volksbildner aus dem Boden.
An mehreren Orten fand man jetzt die Willkür der griechischen Bischöfe
unerträglich. Man entfernte die griechischen Bücher und setzte bulgarische an
ihre Stelle, man erhob die Volkssprache, die von der besseren Klasse bis dahin
als nicht vornehm genug gegen die griechische zurückgesetzt worden war, wieder
allenthalben zur Umgangssprache, man trat, aus einer bloßen Race sich immer
mehr zur Nation entwickelnd, endlich auch gegen die Bischöfe auf. Deputationen
gingen an die Regierung nach Stcunbul ab, um zu bitten, daß man den Ge¬
meinden in Zukunft nur geborne Bulgaren als Leiter ihrer kirchlichen Ange¬
legenheiten sende. Es gab unter den Eingebornen Männer genug, die hierzu
genügende Befähigung besaßen. Man hoffte, diese Bitte werde bei den in
Konstantinopel residirenden Gesandten der christlichen Mächte Unterstützung
finden. Diese Hoffnung aber wurde bitter getäuscht, das durch Bildung er¬
worbene Recht nicht anerkannt. Die Pforte verweigerte auch das kleinste Zu¬
geständnis; in der Angelegenheit und erklärte kurz, daß es beim Alten zu ver¬
bleiben habe.
Bald erfuhren die Führer der Bulgaren, was der Abweisung zu Grunde
gelegen hatte. Die den erwähnten Deputationen ertheilte Antwort war von
einer Macht eingegeben, auf deren guten Willen man am meisten gebaut hatte.
In Rom und Paris glaubte man Grund zu haben, sich über den Zwiespalt
zwischen Volk und Kirche in Bulgarien zu freuen. Dauerte er fort, steigerte
er sich — so rechnete man im Vatican — zum Bruche, dann war Hoffnung,
daß das Land sich für den Papst und die römische Kirche gewinnen ließ, wie
einst die Maroniten des Libanon. Wurde das Volk in Bulgarien — so lautete das
Ergebniß des Studiums der bulgarischen Frage in den Tuilerien — katholisch,
dann gewann Frankreich die Sympathien desselben doppelt: einmal als Gönner
der unterdrückten Nationalitäten, sodann als oberste und thätigste Schutzmacht
aller Römisch-Katholischen in der Levante. Man hatte indeß die Rechnung
ohne den Wirth gemacht. Nur wenige Bulgaren ließen sich durch die Emissäre,
die für den Plan werbend in Konstantinopel und in mehreren Landbezirken um¬
herzogen, gewinnen, aber auch diese nur deshalb, weil sie dadurch zu Schütz¬
lingen des Gesandten und der Consulate Frankreichs zu werden hofften. Die
große Mehrzahl des Volkes wies, dem angestammten Glauben treu, alle An-
erbietungen der katholischen Propaganda von sich, und wenn damals gewisse
Zeitungen von bedeutenden Erfolgen jener Seelenfischer Roms erzählten, so
tischten sie ihrem Publikum arge Uebertreibungen auf.
Wir wollen ebenso wenig Römische als Griechische werden, erklärten die
Bulgaren, und als die Negierung ihre Forderung nach einheimischen Bischöfen
abgeschlagen, beschlossen sie, sich, soweit möglich, selbst zu helfen. Sobald jetzt
der griechische Bischof in der Kirche erschien, entfernte sich die Gemeinde.
Niemand that ihm etwas zu Leide, aber er lebte in der Stadt ohne Einfluß.
Nur ein paar Panduren, die in den Dörfern herumzogen, um dem Volke un¬
gerechte Steuern für seinen Säckel abzunöthigen, hielten zu ihm als ihrem Brod¬
herrn und Gesinnungsverwaudten. Der Versuch, mit den Bischöfen dahin zu
unterhandeln, daß man ihnen gegen Erlaß dieser Steuern ein bestimmtes Ein¬
kommen aus Gemeindemitteln auswerfen wollte, wurde abgelehnt, da ihre Kasse
sich durch die herkömmlichen willkürlichen Erpressungen weit besser füllte.
Wollten wir die nicht selten von blutigen Gewaltthaten begleiteten Räubereien
dieser fanariotischen Bischöfe hier aufzählen, so könnten wir Bogen allein mit
dem füllen, was in den Jahren kurz vor und nach dem Krimkriege ge¬
schehen ist.
Denkt man sich dazu noch die Mißhandlung und Aussaugung des Volkes
durch die türkischen Beamten, die nach jenem Kriege, in welchem sie den
„Muskof" allein besiegt zu haben wähnten, da ihnen die Hülfe der Westmächte
nur als die Leistung von Vasallen ihres Padischah erschien, noch übermüthiger
und rücksichtsloser auftraten als seither, so hat man eine Vorstellung von der
Last von Leiden, unter denen das unglückliche bulgarische Volk seufzen
mußte und noch heute seufzt. Die Hals der Sultaue sind, wie wir schon oft
gesagt haben, reine Gaukelei und Spiegelfechterei, Stücke mit Unwahrheiten
beschriebenen Papiers, schätzbares Material für eine zukünftige Geschichte des
Untergangs der Türkei. In Konstantinopel und ein paar großen Städten der
Provinzen mögen sie für die Christen einige Bedeutung haben, da man vor
den Augen der Gesandten und Consuln nicht wohl Skandale dulden kann.
Für die kleinen Städte und das platte Land haben sie nicht den geringsten
Werth als den, daß sie Zeichen der Schwäche des Pfortenregiments sind,
welches nicht ungestraft mehr wagen darf, die Forderungen der fremden Mächte
trotzig zurückzuweisen, sondern ihnen wenigstens dnrch Versprechungen und
papierne Reformen gerecht werden muß. Wären diese Erlasse aber auch auf¬
richtig gemeint, so haben sie doch außerhalb der gedachten Orte keine Kraft, da
das türkische Volk ihnen als koranwidrig seine Anerkennung versagt und die
Beamten sie nicht vollziehen, ja in vielen Gegenden sie nicht einmal zu publi-
ciren wagen.
Es war kein Wunder, wenn unter solchen Umständen bei dem erwachten
Selbstgefühle der Bulgaren in den letzten fünfzehn Jahren wiederholt Versuche
zu Erhebungen gegen die Türkenherrschaft gemacht wurden, wenn sich in Bel¬
grad eine bulgarische Emigrautencolonie bildete, die im Verein mit Serben
bestrebt war, das Land zu insurgiren, und wenn namentlich in den ersten
Jahren des letztverflossenen Decenniums wiederholt Banden von Aufständischen
das Laud und vorzüglich den Balkan durchstreiften. Aber von einem Gelingen
dieser Versuche, sich selbst zu helfen, konnte bei der Unbekanntschaft der Be¬
völkerung mit dem Kriegshandwerke selbstverständlich nicht die Rede sein, und
zwar um so weniger, als die Pforte in dieser Zeit begonnen hatte, an ver¬
schiedenen Orten, die unsicher schienen, Tscherkessen anzusiedeln, welche nach dem
Erlöschen der Kämpfe mit den Russen und der Unterwerfung des gesammten
Kaukasus unter die Herrschaft des Czaren in Massen in die europäische Türkei
einströmten. Die scheußlichen Metzeleien, welche diese Wilden im vergangnen
Jahre, als sich in Bulgarien Sympathien mit den Serben zeigten, unter den
Augen türkischer Officiere in verschiedenen Orten Bulgariens anrichteten, sind
bekannt. Von einer Bestrafung der Uebelthäter aber ist unseres Wissens bis
jetzt nichts zu hören gewesen. Nur eine fremde Macht scheint hier Gerechtig¬
keit walten lassen, wirksame Maßregeln gegen die Wiederkehr solcher Greuel
treffen und dem Lande überhaupt eine seinen Interessen entsprechende Ver¬
waltung geben zu können. Die neue türkische Verfassung wird das nicht ver¬
mögen; denn sie wird ganz ebenso wenig eine Wahrheit werden, wie die ihr
vorher gegcmgnen Reformverheißungen.
Besser als jene partiellen Aufstände reussirte das Bestreben der Bulgaren,
sich ihrer griechischen Bedrücker zu entledigen, nationale Bischöfe zu gewinnen
und eine Art Nationalkirche zu errichten. Auch hier hielt es hart, da das
Patriarchat alle Mittel aufbot, um seine Stellung und die Gelegenheit zu guter
Versorgung der Seinen zu behaupten, und da die Bestrebungen der Bulgaren
sich lange Zeit keiner Gönner in den Kreisen der fremden Diplomaten erfreuten.
Wiederholt kam es, da die Opposition gegen die fanariotischen Bischöfe fort¬
dauerte, zu ärgerlichen, ein oder zwei Mal sogar zu blutigen Auftritten zwischen
den Parteien. Indeß die Bulgaren ließen nicht nach, sie fanden endlich auch
Unterstützung durch Rußland, während Frankreichs Einfluß infolge der deutschen
Siege bei Metz und Sedan erheblich abnahm, und schließlich gab die Pforte
nach, und im Jahre 1872 erfolgte die Trennung der Bulgaren von den Griechen
und die Constituirung einer bulgarischen Kirche. Daß der Patriarch die Schis¬
matiker feierlich in den Bann that, soll dieselben nicht geschmerzt haben, und
wir möchten das glauben, da auch sie im neunzehnten Jahrhundert leben.
Wir schließen unsere Skizze mit einigen nebensächlichen Bemerkungen über
Bulgarien und seine Bewohner. Daß die Bulgaren eine ziemlich reichhaltige
alte Literatur haben, ist bereits angedeutet. Die neubulgarische ist erst im Ent¬
stehen, doch giebt es schon seit geraumer Zeit Zeitschriften in bulgarischer Sprache.
Das erste Druckwerk, welches in dieser abgefaßt wurde, war das 1806 erschienene
„Kyriakodromion", eine Sammlung der Predigten des Bischofs Stojko Sofronij,
dessen Leben ein großentheils tragischer Roman war. Ein Bulgar, Namens
Beron aus Kadet am Balkan, hat mehrere Werke in bulgarischer, französischer,
griechischer und deutscher Sprache veröffentlicht, und zwar in letzterer zu Prag
eine philosophische Schrift 'und in Berlin Ansichten über den Planeten Saturn.
Der bedeutendste bulgarische Schriftsteller war während der fünfziger und
sechziger Jahre Rakowsky, der in Belgrad lebt und sich als Sammler von
Volksliedern, Sagen, Sitten und Gebräuchen seiner Nation, dann durch Ver¬
besserung der Sprache vermittelst Rückkehr zu den älteren und reineren Formen
und schließlich durch Herausgabe nützlicher Schulbücher große Verdienste um
die Hebung seiner Nation erwarb, und den man in dieser Beziehung dem Serben
Wuk Karadschitsch an die Seite stellen kann. Er wirkte auch als Journalist
im patriotischen Sinne, indem er die Zeitschrift „Dunavski Lebet" herausgab,
welche die Nachrichten ans Bulgarien auch in französischer Sprache mittheilte.
Andere Zeitschriften waren in den letztverflossenen beiden Jahrzehnten: „Caro-
gradski Westnik", „Bulgarin" und „Bulgarski Knieizi" (eine Literaturzeitung)
in Konstantinopel, „Bradski Trüb", von den in Moskau studirenden Bulgaren
herausgegeben, „Sewernazwesda" in Odessa und „Philologia" in Smyrna.
Die beiden letzteren haben aufgehört zu erscheinen. Wenn in Bulgarien selbst
kein Blatt in der Landessprache existirt, so liegt der Grund einfach darin,
daß die Regierung hier keine Druckerei duldet. Als im Jahre 1852 ein Herr
Zankoff aus Wien in Sistowa eine solche anlegen wollte, wurde ihm die Er¬
laubniß dazu abgeschlagen, und er mußte das Geschäft uach Konstantinopel
verlegen. So müssen denn bulgarische Schriftsteller wohl oder übel ins Aus¬
land gehen, wenn sie ihre Werke veröffentlichen wollen.
Ueberall an den größeren Hochschulen trifft man seit Jahren schon junge
Leute aus Bulgarien, die sich mit Eifer den Studien widmen. Die Mehrzahl
geht allerdings nach Rußland, aber nur, weil man sie dort reichlich unterstützt.
Aber auch in Paris und Pesth, in Wien und Prag, sowie in Berlin und Leipzig
studiren gewöhnlich einige von ihnen, und man hört in der Regel von ihrem
Fleiß und ihrer Befähigung nur Lobenswerthes.
Die Straßen sind in Bulgarien so schlecht, wie allenthalben in der Türkei,
im Gebirge bloße Ziegenpfade, in der Ebne bei feuchtem Wetter Kothlachen,
in welche die hier üblichen von Ochsen gezognen Arabas bis an die Achsen
einsinken. Die Städte tragen den Charakter der türkischen, sie sind meist eng
gebaut, die Gassen krumm, schmutzig und, wo sie am schmalsten sind, mit dünnen
Bretern überdeckt oder von Weinreben überrankt. Gereist wird nnr zu Pferde,
eine Fahrpost existirt nicht, ebenso wenig giebt es Gasthöfe im europäischen
Sinne. Oft kommt man auf der Strecke zwischen Risch an der serbischen Grenze
und Konstantinopel, welche der Courier in etwa fünf Tagen zurücklegt, bei
Dörfern mit eingefriedigten Obstgärten vorüber, welche außer guten Aepfeln
und Birnen auch die berühmten türkischen Pflaumen liefern, die wir meist von
Salonik beziehen.
Alle Reisende stimmen überein, daß man in'diesen Gegenden ungemein
wenig Ansprüche an das Leben macht, und daß man ans diesem Grunde und
weil die meisten Producte der traurigen Beschaffenheit der Verkehrsanstalten
wegen sich nicht nach auswärts verwerthen lassen, nicht nur der Menge, sondern
auch den Gattungen nach bei Weitem weniger als in Oesterreich und Deutsch¬
land baut, obwohl der Boden an vielen Stellen vortrefflich ist und das Klima
ebenfalls wenig zu wünschen übrig läßt. Von Wohlstand würde daher auch
dann auf dem Lande nicht die Rede sein können, wenn er nicht die ungeheuren
türkischen Steuern zu tragen hätte und nicht überdieß die Habsucht der tür¬
kischen Beamten zur Abzapfung anlockte. Wenn hier Jemand für reich gilt, so
bedeutet das höchstens, daß er tausend Stück Dukaten irgendwo vergraben hat.
Man scheint kaum hier und da so weit gelangt zu sein, daß man sein Geld
durch Ausleihen auf Zinsen oder durch sonstiges fruchtbringendes Anlegen pro-
duetiv zu machen versteht.
In den Handelsstädten an der Donau sowie in Adrianopel, Sofia, Philip¬
popel u. A. ist es allerdings schon ganz anders. Allein auch hier ist es, wenn
mehr finanzieller Verstand bemerkt wird, mehr das Vorhandensein einer für
den Geldverkehr besonders inclinirenden Race, der „Gaudi", wie man hier die
Juden nennt, als ein in dieser Beziehung größeres Aufgewecktsein der eigent¬
lichen Bevölkerung. Nur die Griechen machen hiervon eine Ausnahme. Ja
sie besitzen für alle das Güterleben betreffenden Dinge eine schärfere Auf¬
fassungsgabe, einen feineren Spürsinn und eine regere und vielseitigere Fähigkeit
zum Speculiren als die Kinder Israel, die infolge dessen neben ihnen nicht
aufkommen und gedeihen können und nur da gute Geschäfte machen, wo unter,
den Bulgaren und Arnauten entweder gar keine Griechen oder doch nur wenige
sich angesiedelt haben.
Der Verfasser, der elf Jahre als preußischer, dann als deutscher Consul
in Serajewo gelebt hat, giebt hier in kurzen, fast nur Topographisches, Bo¬
tanisches und Geologisches berücksichtigenden Beschreibungen seiner Reisen in
den vom Titel genannten Landstrichen der Türkei eine werthvolle Bereicherung
der Kunde von denselben. Gelegentlich sind auch culturgeschichtliche Bemer¬
kungen eingestreut, desgleichen archäologische Beobachtungen. Alles ist knapp
und sachlich gehalten. Vielfach werden wir noch unbetretene Wege geführt,
und hänfig wird Gelegenheit genommen, zuverlässigere Mittheilungen über die
Einwohnerzahl, die Vertheilung der Völkerstämme und Religionen in den be¬
treffenden Gegenden und Orten zu machen. Von allgemeinerem Interesse wer¬
den von den achtzehn hier beschriebenen Touren die von Serajewo nach Mostar,
die von dort nach der Sutorina und dem Hafen von Kiel, die auf der großen
Straße von der dalmatinischen Grenze durch die Herzegowina nach Bosnien,
der Ausflug von Serajewo über Gazko nach dem Durmitor, der von Serajewo
über Trawnik nach Banjaluka und der durch das nördliche Bosnien sein,
welcher unter Anderm das vielbesprochene Zwornik beschreibt. Dasselbe ist
ein Städtchen von etwa 600 Häusern, unmittelbar am linken Ufer der Drina
unter dem Berge Toptschagino Brdo und südlich vom Mladjawatz gelegen, auf
dessen östlichem AbHange sich die noch leidlich erhaltene Festung mit zwei
Ringmauern befindet. In der obern Abtheilung befinden sich noch viele alte tür¬
kische und deutsche Kanonen, die indeß ohne Lafetten haufenweise herumliegen.
Die Stadt, in der es gegen hundert christliche Häuser giebt, während die an¬
dern von muhamedanischen Spahis, Bauern und Krämern, sowie von sechs
Judenfamilien bewohnt werden, ist der Sitz eines Kaimakams, eines Kadis
und Muftis. Ihre Lage auf einem Hügel und der Blick von hier auf die
Drina, die sich wie ein Silberband durch das enge Thal schlängelt, sind äußerst
anmuthig, die Gassen aber sind unregelmäßig gebaut und die Häuser armselig.
Von Handel und Verkehr ist, seit man die Straße von hier nach Ratscha ver¬
legt hat, kaum noch die Rede. — Die Kiepertschen Beiträge, Karto¬
graphisches und statistisches betreffend, haben nur für Geographen von Fach
Interesse.
Der österreichische Politiker, welcher diese Briefe verfaßt hat, ist der Frei¬
herr v. Wessenberg-Anbringen, welcher, 1773 geboren, 1814 Bevollmächtigter
beim Wiener Congreß und 1848 Ministerpräsident und Minister des Aeußern
war, und der in beiden Stellungen nach der Ueberzeugung wirkte, daß dem
Verlangen der Völker nach freiheitlichen Entrichtungen durch zeitgemäße Zu¬
gestündnisse Genüge geleistet werdeu müsse. Beim Wiener Congreß gelang es
ihm, den Artikel 13 der Bundesacte durchzusetzen, in welchem allen Bundes¬
staaten eine landständische Verfassung gewährt wurde. 1848 ging sein Be¬
streben dahin, Oesterreich auf constitutioneller Grundlage neu zu gestalten, ein
Bemühen, welches an den eintretenden anarchischen Zuständen und der Noth¬
wendigkeit der Bekämpfung der Revolution durch die Militairherrschaft scheiterte.
Seine Briefe, in der ungezwungenen Form intimen Verkehrs geschrieben und
vielfache Hinweisungen auf seine früheren diplomatischen Missionen und die in
deren Zeit fallenden Ereignisse enthaltend, geben ein deutliches Bild seines
Charakters, seiner politischen Ansichten und seiner Auffassung der allgemeinen
Verhältnisse und der Zeitfragen. Die Sammlung derselben ist vorwiegend
politischen Inhaltes. Sie beschäftigt sich mit der allgemeinen politischen Lage
während der nächsten zehn Jahre nach der Revolution von 1848, besonders
mit den deutschen Verfassungsverhältnissen im Zusammenhange mit den öster¬
reichischen, am eingehendsten und ausführlichsten aber mit den politischen und
finanziellen Zuständen Oesterreichs. Europa hat in den letzten fünfzehn Jahren
sich wesentlich anders gestaltet, sodaß die vorliegende Briefsammlung an vielen
Stellen nur noch ein retrospectives Interesse bietet. Anders aber verhält sich die¬
selbe zu Oesterreich, wo die von Wessenberg empfohlenen Reformen großenteils erst
nach seinem Tode durchgeführt wurden, und wo noch jetzt die finanzielle Lage einer
endlichen Lösung entgegensieht, sodaß die hier niedergelegten Gedanken auch
heute noch als zeitgemäß und der Beachtung werth erscheinen können. Wir
behalten uns vor, auf diese Briefe bei passender Gelegenheit zurückzukommen
und das eine oder das andere besonders Interessante daraus mitzutheilen.
Wir entsprechen gern dem Wunsche zu erklären, daß .die aus S. 1S9, 160 d. Bl. befindliche
Veröffentlichung nicht auf einer Mittheilung des Herrn Dr Stephani an uns beruht und ohne
Die Redaction der Grenzboten.
Im Anfang des verflossenen Jahres kehrte der Prinz von Wales von
einer Reise durch das britisch-indische Reich zurück. Wenn seine Reise selbst
einem mit orientalischer Pracht ausgestatteten Triumphzuge glich, so konnte
man zweifelhaft sein, in wieweit die Thätigkeit der Behörden dazu beigetragen
hatte, den Gefühlen der eingebornen Bevölkerung und der indischem Fürsten für
den Erben des britischen Thrones einen so glänzenden Ausdruck zu verleihen.
Wenn aber die Rückkehr des Prinzen in die Heimath in demselben Maße
und unzweifelhaft aus der Initiative des Volks heraus sich zu einem Triumph
gestaltete, so ist daraus die hohe politische Bedeutung erkennbar, welche
dieser Reise beigemessen wurde. Gleichzeitig fast wurde im Parlament die so¬
genannte Eitles Lili" eingebracht und unter harten Kämpfen
durchgesetzt. Die Königin von England nahm dadurch den Titel einer
Kaiserin vou Indien an, einen Titel, der jedoch in Ackerstücken, welche
lediglich auf europäische Verhältnisse Bezug haben, nicht gebraucht werden soll.
Der Besuch des Prinzen, der neue Titel und dessen zur Zeit im Lager von
Delhi mit dem größten Pomp erfolgte Proclamation sollte den Jndiern und
namentlich den halbsonveräuen indischen Fürsten gegenüber das Ansehen der
britischen Oberherrschaft erhöhen. Das große Gewicht, das hierauf gelegt
wurde, und der Zusammenhang, in dem man diese Maßnahmen mit dem
drohenden Fortschreiten Rußlands in Asien brachte, legen es nahe, die bri¬
tische Machtstellung in Indien einer näheren Untersuchung zu unter¬
ziehen. Ich bemerke vorweg, daß hier lediglich das vom indischen Amt und
dem Vice-König ressortirende Indien in Betracht gezogen werden soll, nicht
aber die benachbarten Colonien, wie Ceylon und die sogenannten ktraits setUs-
msnt8 der malayischen Halbinsel. Zum vollen Verständniß der indischen Ver¬
hältnisse ist es erforderlich, zunächst einen kurzen geschichtlichen Ueberblick
zu geben.
Die Ureinwohner Indiens sind jetzt noch in einigen Stämmen im
Centrum des Landes sowie in den Gurkas des Himalaya erhalten. Sie
unterlagen einem von Nordwesten einwandernden Volksstamm von besonders
edler und schöner Körperbildung, den Ariern, den Stammvätern der heutigen
Hindus. Allmählig nur schritt dieser Volksstamm in der Halbinsel vorwärts,
über 2000 Jahre dauerte es, bis er nach Maisur vordrang. Unter den
Ariern gelangte nach langen Kämpfen die Priester-Kaste— die Brahmanen
— zur Herrschaft. Bedroht wurde der Bestand derselben durch das Auftreten
des Reformators Buddha (615 v. Chr.), dessen Lehre sich von Indien ans
über einen großen Theil Asiens verbreitete, später aber in Indien selbst die er¬
rungene Stellung einbüßte.
Um das Jahr 1000 nach Chr. drang eine neue Eroberer-Schar in In¬
dien ein; das in Ostpersien gegründete Reich der Ghasneviden wurde
unter Mahmud bis an den Ganges ausgedehnt, und auf den Trümmern der
zerstörten indischen Tempel entfaltete der Islam seine Herrschaft. Am Schluß des
vierzehnten Jahrhunderts drang der Mongolen-Herrscher Tamerlan von Afgha¬
nistan her in Indien ein, stürzte die durch innere Kämpfe in Verfall gerathene
Ghasneviden-Herrschaft und ließ sich zum Kaiser vo n Jndien ausrufen (1526
n. Chr.). Beinahe 125 Jahre nach seinem Tode, nach einer Periode gewalt¬
samer Thronwechsel, gelangte einer seiner Nachkommen, genannt Baber, zur
Regierung und wurde der Stifter des Reichs der Großmognle. Nach
300-jähriger Dauer fiel auch diese Herrschaft — innere Auflösung des Reichs,
Thronstreitigkeiten, Religionsverfolgungen und die Einfülle des kriegerischen
Stammes der Mahratten ans dem Dekan führten den Untergang herbei. In
die Periode dieser Dynastie fällt auch der Anfang und der Abschluß der
Besitzergreifung Indiens von Seiten europäischer Mächte.
Der Seeweg nach Ostindien, das bisher nur Händler mühsam auf
dem Landwege erreicht hatten, wurde 1498 durch den Portugiesen Vasco de
Gama entdeckt. Er segelte in den Hafen von Calicut ein und legte mit
Bewilligung des indischen Fürsten Samorin dort eine Factorei an. Die
Freundschaft des Jndiers bewährte sich nicht, im Kampf mußte eine Nieder¬
lassung gegründet und behauptet werden, deren Hauptort Goa war (1510),
uoch heute portugiesischer Besitz. Die Zahl der Niederlassungen vermehrte sich,
doch bald sank die portugiesische Macht in Folge schlechter Verwaltung und
Verweichlichung der Colonisten.
Nach Holland waren eingehende Berichte über Indien gelangt, welche
die Gründung einer hollündisch-ostindischen Compagnie (1594)
zur Folge hatten. Ihre erste Flotte landete 1600; ihr erstes Werk war An¬
knüpfung von Handelsverbindungen, verbunden mit Intriguen gegen die Por-
ergiesen. Allmählich gewannen die Holländer mehr und mehr Besitzungen im
Süden. Die Augen aller seefahrenden Völker richteten sich damals auf In¬
dien, auch Franzosen und Dänen ließen sich dort nieder.
Im Jahre 1600, also gleichzeitig mit dem Landen der holländischen Flotte
in Indien, gründeten Londoner Kaufleute die ostindisch e Compagnie,
der durch eine „Charter" der Königin Elisabeth aller Handel nach Ost¬
indien, Asien und Afrika frei und ungehindert überlassen wurde. Die Com¬
pagnie hatte das Recht, Gesetze zu machen, Strafen zu verfügen, vorausgesetzt,
daß dadurch nicht englische Gesetze verletzt wurden, Waaren steuerfrei auszu¬
führen und von versteuerten Waaren, wenn sie aus irgend einem Grunde zu¬
rückgebracht wurden, die Rückzahlung der Steuer zu verlangen. Die Krone
ernannte einen Gouverneur und 24 Directoren, dagegen sollte für die Zukunft
der Gouverneur von der Compagnie gewählt werden. Die Dauer der Charter
war beschränkt.
Die ersten Reisen der Compagnie gingen jedoch nach Java und den be¬
nachbarten Inseln, und erst 1609 ging eine kriegsgerüstcte Flotte nach Indien
ab, die den Portugiesen gegenüber zwei Seesiege erfocht. Gleichzeitig wurde
ein Gesandter der englischen Krone nach Delhi an den Hos der Groß-Mogule
geschickt, und bereits am Anfang des Jahres 1612 wurde Anlegung von
mehreren Factoreien an der Nordwestküste gestattet und zwei Jahre später der
Handel im ganzen Reiche erlaubt. Die Compagnie hatte jedoch uicht nur mit
den größten Schwierigkeiten in Indien, sondern auch mit Vielfachen Intriguen
im Mutterlande, namentlich aber mit einer Concurrenzges ellschaft zu
kämpfen, mit der später eine Verbindung geschlossen wurde. Cromwell löste
die Compagnie auf, um freien Handel einzuführen, erneuerte sie jedoch wieder.
1666 erhielt die Compagnie von Carl II. unter andern das Recht, nicht¬
christlichen Staaten den Krieg zu erklären und mit ihnen Frieden zu schließen.
Seit 1684 durfte sie eine Flotte und regelmäßige Truppen halten.
Trotz innerer Zerwürfnisse erweiterten sich die Besitzungen und Handels-Ver-
bindungen der Compagnie fortwährend; so ging Bombay 1668 definitiv ans
portugiesischem Besitze in den der Compagnie über und wurde später Regie-
rungs-Sitz. Nachdem die Compagnie dann aus verschiedenen kriegerischen Ver¬
wickelungen in Indien glücklich hervorgegangen war, wurde ihre Existenz im
Vaterlande durch das Parlament ans Anstiften neidischer Londoner Kaufleute
in Frage gestellt. Der Handel wurde für frei erklärt und 1689 einer Eon-
currenz-Gesellschaft „Mneral soeiöt,^" die Erlai:dniß zur Bildung einer neuen
ostindischen Compagnie ertheilt; doch schon 1702 vereinigte sich diese mit
der alten unter dem Namen „nunca eompagn^ o k mereüant.8
ok LnZIa-na, er^äinF to elle Last Inäios". Durch eine neue
Charter vom Jahre 1726 wurde der Compagnie gestattet, einen Gerichts¬
hof in jeder der drei unterdessen geschaffenen Präsidentschaften Calcutta,
Bombay und Madras zu errichten.
Das Reich der Groß-Mogule begann nun zu sinken; Nadir-
Schah von Persien überzog das Land mit Krieg und verwüstete Delhi; die
Mahratten machten Einfälle, und die indischen Statthalter schwangen sich
allmählich zu selbständigen Herrschern auf. Die Compagnie suchte ihrerseits,
die Statthalter zum Kampfe gegen einander zu treiben und sich die Einzelnen
dnrch Verträge zu verbinden. Einige der Statthalter, vor Allen der Nabob
von Bengalen, traten feindlich gegen die Engländer ans. Der Gouverneur
Clive schlug jedoch deu Nabob, und nach neunjährigen Kampfe erlangte die
Compagnie durch Vertrag mit dem Großmogul (1765) gegen eine
jährliche Rente von 1 Million L. die Hoheitsrechte über Ben¬
galen.
Die Herrschaft der nur auf Gewinn ausgehenden Kaufleute war für das
Land drückender noch, als die seiner früheren Herren. Das Erbpachts-Ver-
hältniß der ackerbauenden Bevölkerung wurde in eine jährliche Pacht verwan¬
delt und der Handel mit Opium, Salz und anderen nöthigen Lebensbedürf¬
nissen monopolisirt. Dies führte eine Erbitterung herbei, die nur mit Gewalt
niedergehalten werden konnte, und da es an hinreichenden europäischen Truppen
fehlte, schritt mau zur Organisation einer Streitmacht aus Einge¬
borenen. 1773 wurde die Verwaltung r cor g amis ire; es wurde nämlich
der Gouverneur von Bengalen General-Gouverneur der gesammten
Besitzungen unter Beiordnung eines höchsten Raths,
Der erste General-Gouverneur Warren Hastings, ein energischer
und harter Mann, begann einen Eroberungskrieg gegen die Mahratten.
Diese wurden durch Hyder-Ali, den Sultan vonMaysur, und nach dessen
Tode durch seinen Sohn Tippo Sahib unterstützt. Obwohl gleichzeitig durch
Aufruhr in fast allen ihren Besitzungen bedrängt, gelang es den Eng¬
ländern, Zwietracht unter ihren Feinden zu stifte». 1784 wurden ihnen
alle Verluste an Land wieder zugestellt und von Seiten Tippo
Sahibs freier Handel gewährt.
Gleichzeitig änderten sich aber die Machtbefugnisse der Compagnie der
englischen Krone gegenüber in sehr einschneidender Weise: In Folge der von
Pitt veranlaßten sogenannten ostindischen Bill wurde die Diree-
lion der oft indischen Compagnie in Bezug auf die Territorial-Verwal-
tung, Politik, Militair- und Finanz-Wesen einer Regierungs - Commissi o n
untergeordnet.
Tippo Sahib ergriff noch zweimal das Schwert. Erst 1799 endeten
diese Kämpfe, indem der indische Fürst Reich und Leben verlor.
Nachdem die Engländer während der napoleonischen Kriege die französi¬
schen und holländischen Besitzungen an sich gebracht hatten, blieben die
Mahratten als einzige Feinde übrig. Von 1803 an dauerten die Kämpfe
mit diesem Volksstamm bis zu seiner völligen Unterwerfung im Jahre 1817.
England, oder vielmehr die Compagnie, übte nun theils unmittelbar theils
mittelbar Herrschaft über das ganze Ostindien vom Indus bis zum
Ganges und vom Himalaya bis zur Südspitze der Halbinsel ans. Auch der
letzte eingeborene nominelle Herrscher von Indien, der Groß-
Mogul Schah Almen, war 1806 gestorben, nachdem er die letzten drei
Jahre als Pensionär der Engländer gelebt, die ihn aus schmachvoller Gefan¬
genschaft befreit hatten. Sein Sohn Schah Akbar führte noch bis 1827,
obwohl lediglich Privatmann, den Titel seines glorreichen Geschlechts, doch auch
dieser wurde ihm dann als mit der englischen Autorität unverträglich ge¬
nommen.
Mit dieser Macht-Ausdehnung noch nicht zufrieden, suchte England sein
Gebiet auch über den Indus hinaus nach Westen zu erweitern. Im
Streben nach dieser Richtung 'zeigen sich auch bald die ersten Spuren
einer Concurrenz Englands und Rußlands in Asien. Als Ru߬
land im Anfange dieses Jahrhunderts in Persien eindrang, fand es dort durch
britische Offiziere ausgebildete und geführte Bataillone vor. Rußland siegte
und trug Landgewinn davon. England brachte einen Vertrag zu Teheran
zu Stande, „demzufolge Persien sich verpflichtete, keiner europäischen Armee
den Eintritt ins persische Gebiet zu gestatten, keine weder nach Indien noch
nach irgend einem der persischen Häfen vordringen zu lassen und Offiziere
keiner'europäischen Macht anzustellen, welche mit der Absicht umginge, einen
Einfall nach Indien vorzubereiten, oder feindselig gegen England auf¬
treten wollte.
Sollte jedoch irgend eine europäische Macht mit einem solchen Borhaben
umgehen und über Khorassan, Tartaristan, Bokhara, 'Samarkand oder auf
anderen Wegen nach Indien vordringen, so verpflichtete sich der Schah von
Persien, die Könige und Gouverneure jener Länder zu vermögen, sich deren
Vorgehen nach allen Kräften zu widersetzen. Im dritten Artikel hieß es, daß
die Grenzen zwischen Rußland und Persien in Uebereinstimmung mit Groß-
britannien geordnet werden sollen".*) Weiter handelte es sich um gegenseitige
Unterstützung im Falle eines Krieges Englands mit Afghanistan resp, eines
Angriffs Rußlands auf Persien. Englische Offiziere bildeten nun die persischen
Truppen weiter aus, aber, als Rußland im Jahre 1826 Persien angriff, wurde
letzteres von England im Stich gelassen; damit machte aber anch der englische
Einfluß demjenigen der Russen Platz.
Dafür bahnten sich jetzt intimere Beziehungen mit den Afghanen
an. Der Afghanen-Herrscher Dose Mohamed bewillkommnete 1836 den
neuen General-Gouverneur von Indien, Lord An ki and, in einem Schreiben,
in dem er gleichzeitig indirekt um Hülfe gegen die Sikhs bittet. Auf den be¬
züglichen Passus erwiderte der General-Gouverneur: „Mein Freund, es ist
Euch bekannt, daß es nicht Gewohnheit der britischen Regierung ist, sich in
die Angelegenheiten anderer unabhängiger Staaten einzumischen."
Schon drei Jahre nach dieser Erklärung sehen wir eine englische Armee
gegen des Amirs Hauptstadt vorrücken. Erfolge nämlich, welche die Perser in
Verbindung mit Rußland Afghanistan gegenüber errungen hatten, machten das
Vertrauen des General-Gouverneurs auf das letztere Land als Bollwerk gegen
einen Einfall von Westen wankend und führten ihn zu dem Entschluß, einen
vertriebenen früheren Herrscher Afghanistans, Schah Sujah, ans den Thron
zu setzen und sich so einen unmittelbaren Einfluß auf das Land zu sichern.
Englands Absicht gelang, doch auss Neue begann der Krieg, um bis 1843
fortzudauern und mit Wiederherstellung der alten Verhältnisse und Wieder¬
einsetzung Dose Mohameds zu enden. Als das englische Heer noch auf dem
Rückmarsch begriffen war, brach ein neuer Krieg mit dem Fürsten des Sind
aus, der zur Einverleibung dieses Landes führte. Im nächsten Jahre (1844)
mußte ein Aufstand der Bengal-Sepoy-Regimenter unterdrückt werden,
und Ende 1845 kam es zu einem bisher sorgfältig vermiedenen Kriege mit
den kriegerischen Stämmen der Sikhs. Er endete glücklich, brachte
aber nur geringe Vergrößerungen. Erst ein zweiter Krieg führte zur gänzlichen
Unterjochung der Sikhs und Einverleibung des ganzen Pandschab.
Die nächste Vergrößerung war die kriegerische Erwerbung eines Theils von
Barma 1854 und die Besitznahme des Mahratten-Königreichs Berar und
des Königreichs Audh 1853 und 1856. Das Jahr 1855 brachte noch einen
blutigen Aufstand der Tantals, eines der Urstämme Jndiens, der jedoch
in nicht zu langer Zeit gedämpft wurde.
Im Jahre 1857 brach der merkwürdige Aufstand einiger Sepoy-
R e gimenter aus, der, ohne das Existiren einer weit verzweigten Verschwörung,
ohne einen allgemeinen Plan, ohne die Tendenz, die entthronten einheimischen
Fürsten zu installiren, doch rasch durch den größeren Theil der eingebornen
Armee und des Landes sich verbreitete. Der noch lebende Sohn des letzten
Groß-Moguls wurde zwar von den Aufständischen in die alte Würde eingesetzt,
doch das war ohne Bedeutung, die ganze Bewegung war ohne Zusammenhang.
Die Ursachen der Empörung lagen zum Theil in einer langen Mißregierung
des Landes; starker Steuerdruck, Barbareien einzelner Beamten und politische
Mißgriffe hatten die Einzelnen aufgereizt. Dazu kam ein durch britische
Neuerungen angefachter Geist religiöser Erregung und Unzufriedenheit, der
namentlich in der ganz aus Hindus bestehenden Bengal-Armee Fortschritte
machte. Die Abschaffung der Wittwen-Verbrennung, das Verbot des Kinder¬
mordes, die Einführung der Impfung, die Gestattung der Wiederverheirathung
der Wittwen, die Errichtung von Schulen für das weibliche Geschlecht hatten
Ansehen und Einfluß der Priesterkaste — der Brachmanen — erschüttert. Gleich¬
zeitig liefen Prophezeiungen durch das Laud, daß die Herrschaft der Brahmanen
ihrem Ende nahe; das einzige Mittel der Rettung sei der Kampf gegen den
gemeinsamen Feind. Der Ausbruch der Empörung traf die Europäer ganz
unvorbereitet, fast Niemand erkannte die Bedeutung derselben und trat ihr
energisch entgegen. An vielen Orten schworen ans die Nachricht von in anderen
Garnisonen ausgebrochenen Empörungen die Eingebornen - Regimenter ihren
vertrauenden Offizieren feierlich Treue, um sie am nächsten Tage schon nebst
Frauen und Kindern zu ermorden. Ein Theil der Armee blieb treu, darunter
die mit großem Mißtraue» betrachteten Gurka - Regimenter und die durch
stramme Disciplin ausgezeichnete Armee von Bombay, bei deren Rekrutirung
nieder auf Religion noch auf Kaste Rücksicht genommen war. Dem Vordringen
des Aufstandes «ach dem Süden der Halbinsel setzten nicht Engländer, sondern
die treue Haltung eiues wesentlich mohamedanischen Eingebornen-Staates einen
Damm entgegen. Es war Sir Salar Jung, der Premier-Minister und
Regent von Haidarabad, der mit großer Energie jeden Versuch zum Aufstände
unterdrückte. Es kam zu deu erbittertsten Kämpfen, die entsetzlichsten Greuel-
thaten wurden verübt, und an zwei Jahre dauerte das fortwährende Ringen,
bis es endlich den Neuangekommenen englischen Truppen gelang, den Aufstand
niederzuwerfen. Durchaus treu auch war die Haltung der zuletzt unter¬
worfenen Sikhs geblieben.
Mit dem Aufstande war auch die souveräne Macht der ostindischen Com¬
pagnie zu Grabe gegangen. Zufolge der „Akte für eine bessere Regierung
Indiens"*) vom2. August 1858 gingen alle Rechte und Befugnisse
der indischen Compagnie auf die Krone über, und alle Steuern,
Tribute und sonstigen Einkünfte werden von nun an im Namen Ihrer Majestät
in Empfang genommen und lediglich für Indien verwandt, das eine ganz
selbständige Finanzwirthschaft führt.
Speziell betraut mit der Ausübung der Machtbefugnisse der ehemaligen
Compagnie sowie des ehemaligen aufsichtführcudeu Regierungs - Organs, des
doarä c>5 control, ist der Staats - Secretair für Indien, zur Zeit der
Marquis of Salisbury. Er steht dem indischen Amt (Inäia, okkioe) vor,
das aus zwei Unter-Staats-Seeretairen und verschiedenen die Rolle von Fach-
Ministerien versehenden Departements besteht; dazu kommen noch verschiedene
Collegien. Der Director für den Truppen-Transport ist, soweit
dieser Dienst Indien betrifft, dem indischen Amte unterstellt. Transport-
Offiziere sind in Suez und Bombay stationirt. Ein Rath von fünfzehn
Gliedern, sämmtlich frühere indische Staatsmänner, ist den: Staats-Seeretair
zur Seite gestellt und hat legislatorische Befugnisse.
Die höchste Executiv-Gewalt in Indien ist einem General-
Gouverneur, der deu parlamentarisch nicht berechtigten Titel
eines Vicekönigs führt, übertragen. Gegenwärtig nimmt diese Stelle
Lord Lytton ein. Dem Vicekönig ist ein Rath, aus sechs ordentlichen Mit¬
gliedern bestehend, beigegeben, dem als außerordentliches Mitglied der Ober¬
befehlshaber der Truppen in Indien (zur Zeit General Sir Hahnes) und,
wenn der Rath sich im Territorium der Präsidentschaften Madras und Bombay
versammelt, auch der betreffende Gouverneur angehören. Für Zwecke der
Gesetzgebung treten noch zehn Mitglieder, darunter drei einheimische Große
hinzu. Ein kleines Ministerium bilden die verschiedenen dem Vicekönig direct
unterstellten Departements, in denen die Mitglieder des Raths als Chefs
fungiren. Uebrigens haben die drei alten Präsidentschaften Bengal,
Madras und Bombay eigene Räthe gleichfalls mit einheimischen Mit¬
gliedern mit gesetzgebender Befugniß und genießen somit einer größeren Selbst-
ständigkeit als die übrigen Provinzen. Die beiden letzten stehen unter einem
Gouverneur, Bombay unter einem lücmtcnmnt dovernor, die übrigen Provinzen
gleichfalls unter einem solchen oder unter einem ekivk eominissioner. Die Zahl der
Provinzen ist neun: Nieder-Bengalen, die Nord-West-Provinzen,
das Pandschab, Audh, die Central-Provinzen, Madras, Bombay,
Ass am und Britisch B arma. Jede derselben zerfällt noch in Divisionen
und Districte. Außerdem bestehen die selbständigen Districte Kürg,Berar
und Adschmer. Ueber die Eintheilung und spezielle Verwaltung vollkommen
klar zu werden, ist schwer, da fortwährend Veränderungen in dieser Beziehung
stattgefunden haben und fast alle Quellen in ihren Angaben etwas variiren.
Von dem 14^2 Millionen") engl. Meilen mit fast 238 Mill.b)
Einwohnern umfassenden Indien stehen nur 904,000°) mMeilen mit
1'.)0^ Millionen^) Einwohnern direct unter indischer Herrschaft, der
Rehes) dtMaM gehört mehr oder weniger unter der Controlle der englischen
Regierung stehendem Fe udal-Staaten an, die von eingebornen Fürsten
regiert werden. Die Dichtigkeit der Bevölkerung in dem unmittel¬
bar unter britischer Regierung stehenden Theile Indiens beträgt somit 210
Einwohner auf die englische Meile, während Deutschland nur 193' hat.
Uebertroffen wird Indien in dieser Beziehung nur von Belgien, Großbritannien
und Irland, Italien und Japan. Es darf dabei jedoch nicht außer Acht ge¬
lassen werden, daß große Landstrecken wüst liegen oder bewaldet sind, so daß
an andern Stellen die Bevölkerung sehr viel dichter ist, namentlich in Bengalen,
den Nord-West-Provinzen und Audh.
Nach den Religions-Be k e nutuissen gliedert sich die Bevölkerung so,
daßl etwa 73«/« Hindus siud, 21 ^«/o Mohcunedcmer, 2«/„ Buddhisten, V2 °/o
Sikhs, Christen, 2^2«/g andern Bekenntnissen angehören. Nur im Pand-
schab prävaliren die Mohamedaner den Hindus gegenüber, in Britisch Burma
die Buddhisten, in allen übrigen Provinzen die Hindus.
Größer uoch als das Gemisch der Religionen und Seelen ist dasjenige
der Sprachen. 23' ist die Zahl der im eigentlichen Indien gesprochenen,
ungerechnet die vielen Dialekte der Hügelstämme und Ureinwohner, weit größer
aber noch die Zahl der Kast en-Abstufungen, deren Zahl im Nordwesten
auf 337 steigt, in Britisch Barma aber, wo' auch das Sprachgewirr am größten
ist, auf 1000 geschätzt wird.
Die Zahl der britisch g ebornen Bevölkerung excl. der Armee betrug
1871 nur 64,061'. Sie ist eine stark wechselnde, da ein dauerndes Verbleiben
und namentlich die Fortpflanzung europäischer Ansiedler im indischen' Klima
unmöglich scheint
Einen Gegenstand verschiedener Projecte bildet augenblicklich die aus der
Vermischung der Engländer und Hindus hervorgegangen«! Bevölkerung, die so¬
genannten Eurasier. Wie Weit sie befähigt sind, eine Stütze der europäischen
KültUr Und Herrschaft zu bilden, ist' noch zweifelhaft. Die europäische Gesell¬
schaft' von Caleutta verhält sich diesen Mischungen gegenüber fast' ebenso ex-
clusiv, wie'die Weißen der nordamerikanischen Südstaaten den Mulatten gegen¬
über. Man hat vorgeschlagen, aus diesen Ungko-Jndiern neu zu schaffende
Regimenter zu rekrntiren und durch sie die alten englischen Regimenter zu
ersetzend)
Der Beschäftigung nach sind die Jndier wesentlich ein acker¬
bauendes Volk. Der Ackerbau wird fast nur von Eingebornen betrieben
— es sind deren 37^ Millionen, dagegen nnr 614 Engländer. Die Ackerbauer
befinden sich zumeist in einer Art Erbpachts- oder Lehnsverhältuiß verschiedenen
Systems zur Regierung. Die sogenannten Zemindars, die event, wieder
kleinere Pächter unter sich haben, zahlen jährlich eine bestimmte Summe an
die Regierung; bei dem sogenannten Dorf-Renten-System liegt die Last
dem ganzen Dorfe ob, und bei dem sehr verbreiteten sogenannten rxotvar-
System ist das Land veräußbarer Besitz, von dem der Besitzer nur vertrieben
werden kann, wenn er seine Steuer uicht bezahlt, während er andrerseits in schlechten
Jahren von der Regierung Unterstützung erhält. Der Ackerbau liefert der Regierung
bei weitem den größten Steuerertrag, 21 Millionen L. von 49 Millionen
Gesamteinnahme im Jahre 1874. Es ist daher natürlich, daß die Regierung
der angemessenen Regelung dieser Einkünfte und der Hebung des Ackerbaues
die größte Aufmerksamkeit zuwendet. Das Land wird vermessen, die Bonnae
der Aecker geschätzt und die Grundsteuer regulirt. Zahlreiche Bewüsse--
rungs-Systeme werden angelegt und heben die Kultur des Landes; ein
weitverzweigtes Eisenbahnnetz, das im Jahre 1875 eine Ausdehnung von
6192 englischen Meilen hatte und in Bezug auf seine Dichtigkeit zwischen
Schweden und Rußland steht, sichert den Absatz. Diese Kulturhebungsmittel
werden bei Festsetzung der Grundsteuer in Rechnung gezogen und tragen so
unmittelbar Zinsen. Trotzdem sind die Verhältnisse noch nicht so geordnet,
daß nicht noch kürzlich in Folge ungünstiger Ernte eine große Hungersnoth
in Bengalen entstehen konnte und zur Zeit aufs Neue eine solche im südlichen
Indien signalisirt ist. Die häufig erforderlichen gerichtlichen Exemtionen, um
die Grundsteuer einzutreiben, veranlassen die Regierung, im Blanbuche dieses
Jahres das Sachverhältniß näher zu beleuchten.
Nächst dem Ackerbau gewährt der monopolisirte Handel mit Opium
und Salz") die größte Einnahme. Der Saft alles in britischen Territorium
gebauten Modus muß der Regierung zu gewissen Preisen verkauft werden, die
daraus in ihren Factoreien Opium gewinnen läßt, welcher wieder an Kaufleute
behufs Exports nach China versteigert wird. Von dem in den Eingebornen-
Stciaten gewonnenen Opium") wird in den englischen Häfen ein hoher Aus¬
gangszoll erhoben.
Dennoch steht der Opium-Export nicht an der Spitze des Exporthandels
überhaupt. Die Haupt aus fuhr geht nämlich nach Großbritannien und be¬
steht in erster Linie aus Baumwolle, demnächst ostindischem Hanf, Reis, Indigo,
Thee und Häuten.
Sie wird nur von dein Export aus den Vereinigten Staaten Nordamerikas
nach England übertroffen. Demnach kommt auch der Haupt-Import aus
Großbritannien, und zwar besteht derselbe vornehmlich aus Baumwollen-Waaren
und Eisen. Dein Handel mit Großbritannien folgt derjenige mit China und
Japan.^) — Einen wichtigen Factor des Handels, das Eisenbahnnetz,
das sich strahlenförmig von den Häfen in das Land verbreitet, haben wir
schon erwähnt. Auch das Telegraphennetz besitzt eine verhältnißmäßige
Dichtigkeit. Dazu kommen gute Land- und Wasser-Straß en.
Was die Industrie betrifft, so ist darin durch die Einführung englischer
Fabrikate und Maschinen eine große Umwälzung eingetreten, die noch kaum
ihren Abschluß erreicht haben dürfte. Die alte einheimische Industrie ist an
vielen Orten im Aussterben. Dafür finden die Jndier zahlreich Beschäftigung
in den Fabriken, eine Thätigkeit, zu der sie sich sehr geeignet erweisen.
Sowohl die Dampf-Industrie, wie die Communication per Eisenbahn ver-
thenernd und die Ausrüstung der Schisse erschwerend war der Umstand, daß
man bisher nur Kohlen schlechter Qualität in Indien gewann. Neuerdings
sind jedoch bedeutende Kohlenlager besserer Qualität aufgefunden worden.
Für das Erziehungswesen geschieht sehr viel von Seiten der Re¬
gierung. Die Zahl der Erziehungs-Jnstitute beträgt 10,000, in denen 1,300,000
Zöglinge auf Staatskosten unterrichtet werden. Die Regierung urtheilt selbst
günstig über die Fortschritte der Schulbildung im Volk, dennoch enthält sich noch
ein sehr großer Theil des Schulbesuchs, z. B. im Pandschab 70°/g der Kinder
schulfähigen Alters. In einigen Landestheilen thut das frühzeitige Heirathen
dem Schulbesuch erheblichen Abbruch. In den unteren und mittleren Schulen
wird durchweg in der Landessprache unterrichtet, in den höheren sind außer
der englischen Sprache anch die arabische und persische, das Hindostani und
Sanskrit Lehrspracheu. Außerdem existiren Privat- und Gemeindeschulen, und
die Errichtung technischer und industrieller Lehranstalten ist augenblicklich ein
Hauptaugenmerk der Regierung. Es kommt derselben nämlich darauf an, den
Jndiern womöglich alle Berufszweige zu eröffnen, sie so zu nützlichen Gliedern der
Gesellschaft zu machen und gleichzeitig jeden Grund zur Unzufriedenheit zu
entfernen, wie solcher augenblicklich z. B. durch Stellen-Maugel im juristischen
und Staatsdienst geboten wird, während gerade um diese Carriere die jungen
Leute sich stark bemühen. Der Besuch des Prinzen von Wales hat vornehme
Eingeborne veranlaßt, Snbseriptivnen zur Gründung nationaler Erziehungs-
Institute zu veranstalten.
Die militärisch en Streit träfte des Landes bestehen zum Theil aus
englischen Truppentheilen, die der Regel nach alle 10 Jahre abgelöst werden^
und von denen die Kavallerie und Artillerie ihre Pferde im Mutterlande zu¬
rückläßt, um in Indien diejenigen des abzulösenden Trnppentheils zu über¬
nehmen, zum Theil aus der eigentlichen indischen Armee oder Eingebvrnen-
Armee. An englischen Truppentheilen sind in Indien vorhanden:
Die Infanterie-Bataillone haben somit eine Stärke von ungefähr 900
Mann auf 8 Compagnien. Sie wechseln wie alle auswärts stationirten Ba¬
taillone mit dem in der Heimath stehenden Bataillon desselben Brigade-Districts
im auswärtigen Dienst. Das gemeinsame Brigade-Depot in der Heimath be¬
wirkt den etwa erforderlichen Nachschub.")
Die Cavallerie-Reginienter (Husaren, Dragoner und Lanciers) haben
eine Stärke von 480 Mann auf 3 Escadronen zu 2 Trupps. Die Depots der
Regimenter sind in England.
Die Artillerie besteht aus. 3 reitenden, 6 Feld- und 4 Garnison-Bri¬
gaden. Die reitenden Brigaden haben 5, die Feld-Brigqden 7, eine jedoch 8
Batterien zu 6 Geschützen, die Garnison-Brigaden 7 Batterien. Die Feld-Ge¬
schütze sollen zur Hälfte 6-pfündige, zur Hälfte 9-pfüudige Woolwich-Geschütze
sein. Doch existirt auch noch em speziell für Indien construirter 9-Pfnnder,
der aber auf dem Aussterbe-Etat steht, und (187h) für eine ganze Brigade noch
9-vfündige Armstrongs.^)
Es ist noch zu bemerken, daß die Garde-Truppen niemals nach Indien
oder überhaupt ins Ausland geschickt werden.
Die Offizier-Corps aller Waffen find sehr stark, namentlich mit
einer unverlMnißmäßig großen Zahl von höheren Chargen dotirt. Bekannt¬
lich ist der Stellenkauf abgeschafft. Gleichzeitig mit dem Stellenkauf wurde
auch dem bisherigen Mißbrauch des Stelle »danses es gegen oft sehr hohe
Summen ein Ende gemacht. Der Stelleutausch ist durch ein neues Gesetz
zwar wieder gestattet worden, doch nimmt das Kriegsministerium jetzt die
Regelung dieser Angelegenheit in die Hand, und lediglich die wirklichen
Auslagen und Kosten dürfen vergütet werden. Man hat diese Maßregel
mit Rücksicht auf die Colonien und namentlich Indien für erforderlich ge¬
halten. Man wollte es den Offizieren nicht durchaus unmöglich machen, in ihren
Familien-Verbindungen zu bleiben und sich dem für gewisse Constitutionen
entschieden mörderischen Klima Indiens zu entziehen. Ob damit wirklich eine
Begünstigung der Reichen ausgeschlossen ist, ob der frühere Handel nicht dabei
unter der Hand betrieben werden kann, und ob die Offizier-Corps der nach
Indien gehenden Regimenter in Bezug ans ihren innern Gehalt durch diese
Maßregel nicht beeinträchtigt werden, darüber dürfte mindestens einiger Zweifel
zulässig sein.
Die Reerntirnn g der Mannschaften erfolgt nur durch Werbung auf zwölf
Jahre. Während im Mutterlands der größere Theil der Jnfanteristen nur
ans sechs Jahre active und sechs Jahre Reservedienstzeit engagirt wird, wird für den
Colonial-Dienst das Engagement immer auf die ganze Zeit abgeschlossen.
Die englischen Truppen Indiens stehen ebenso wie die einheimischen
Truppen unter dem Ober-Commandeur der indischen Streitkräfte,
resp, auch den Commandeuren der Madras- und Bombay-Armee und sind den
Territorial-Behörden gemeinschaftlich mit diesen unterstellt. An einer organi¬
schen Gliederung für beide Kategorien der in Indien vorhandenen Truppen
fehlt es durchaus, die Eintheilung der Armee ist lediglich territorial.^)
Die Ein geb ornen-Armee zerfällt der alten Eintheilung der ostindi¬
schen Compagnie entsprechend in die Bengal-, Madras- und Bombay-
Armee, von denen die erste die bei weitem größte ist. Außerdem bestehen noch
einige Formationen, welche uicht von dem Ober-Commandeur ressortiren,
sondern zur ausschließlichen Disposition ihrer Territorial-Behörde stehen.
Die Gesammtstärke der Eingebornen-Nrmee beträgt circa 128,000 Mann;
davon sind 102,000 Jnfanteristen'«) und 22,000 Cavalleristen.
Die drei Armeen haben zusammen 120 Regimenter oder Bataillone In¬
fanterie, 30Regimenter Cavallerie, 2 Artillerie-Compagnien mit Gebirgs-Train und
25 Compagnien Sappeurs und Mineurs, davon 2 als Pvntoniers bezeichnet.
Eingerechnet in diese Stärke ist das Sind-Grenz-Corps mit 1 Infan¬
terie-Bataillon, 3 Cavallerie-Regimentern und 2 Artillerie-Compagnien mit Ge¬
birgs-Train.^) Außerdem ist noch vorhanden und in vorstehenden Zahlen
nicht einbegriffen das den Befehlen des Höchst-Commandirenden nicht unter¬
stellte Pandschab-Grenz-Corps mit 10 Bataillonen Infanterie, einem
attachirten schon vorher ungezählten Bataillon, 5 Cavallerie-Regimentern, 1
Corps Gulden (ans Infanterie und Cavallerie bestehend), 2 reitenden Batterien,
2 Gebirgs-Batterien und einer Garnison-Artillerie-Compagnie. ^^) Dazu kom¬
men noch die Leib wachen des Vice-Königs und der Gouverneure von Madras
und Bombay und die Conting ente der Eingeb ornen - Staaten und
zwar das Corps in Central-Jndien "), das Corps in Rath es put an a 2«),
das Haidarabad-Contingent^), die Maisnr-Sillidar-Reiterei^)
und die Nair-Brigade 22), zum Theil irreguläre Truppen verschiedener
Stärke und Formation.
Die Eingebornen-Jnfanterie-Regimenter zu 8 Compagnien haben
im Allgemeinen eine Stärke von 700 Mann, das Heergefolge eines solchen
Regiments wächst aber durch Frauen und Kiuder auf 2000 Köpfe
Die Cavallerie-Regimenter scheinen zwischen 4 und 500 Pferde zu zählen und be¬
stehen aus 3 Eskadrons zu 2 Trupps. Die Zahl der englischen Offiziere ist
nur eine sehr geringe und zwar bei einem Infanterie-Regiment: 1 Comman¬
dant, 2 Halb-Bataillons-Commandanten 2 subaltern-Offiziere, 1 Adjutant,
1 Quartiermeister, 1 Arzt; bei einem Cavallerie-Regiment: 1 Commandant, 3
Eskadronsführer, 2 subaltern-Offiziere, 1 Adjutant, l Arzt; bei eiuer Batterie
1 bis 2 Offiziere. Die Contingeme der Eingebornen-Staaten sind noch schwächer
mit englischen Offizieren dotirt. Die englischen Offiziere der Eingebornen-Re-
gimenter gehören größtentheils dem Staff-Corps an, theils aber auch den
noch in den Listen geführten Cadres der ehemaligen Regimenter der ostin¬
dischen Compagnien. Das indische Staff-Corps, in ein Bengal-, Madras- und
Bombay-Staff-Corps gegliedert, wurde aus den Offizieren der ehemaligen
Präsidentschafts-Armeen gebildet, sobald jene es nicht vorzogen, in den Cadres
ihrer alten Regimenter zu verbleiben. Es erhält seinen Ersatz aus Offizieren,
welche von der Armee nach abgelegtem Examen im Hindostani dorthin über¬
treten und aus den 20 für Indien erzogenen Cadetten des Collegs zu Sand¬
hurst. Die Avancements-, Gehalts- und Pensionirungsverhältnisse dieser Offiziere
sind sehr complicirt und in letzter Zeit viel geändert worden, ohne daß es bisher
gelang, die vielen vorhandenen Unzuträglichkeiten abzuschaffen. Die Offiziere
werden oft nicht ihrem Grade entsprechend verwandt; so sind bei einigen Re¬
gimentern alle Capitainsstetten durch Oberst-Lieutenants und Majors besetzt,
während andererseits Capitains als Regiments-Commandeure fungiren. Ein
Theil der Offiziere des Staff-Corps, sowie auch der Offiziere der königlichen
Artillerie und Ingenieure befindet sich in Local-Stellungen, viele in Civil-
Stellungm, und ein ganz beträchtlicher Theil wird beurlaubt geführt. Jeden¬
falls herrscht viel Unzufriedenheit in diesem Offizier-Corps, und es reicht in
keiner Weise ans, um den Eingebornen-Regimentern einen festen Halt zu ge¬
währen.^) Als indische Regimenter nach Abyssinien gesandt wurden, wurden
dieselben mit 11 anstatt mit 7 Offizieren besetzt. In Folge dessen fühlte sich
der damalige General-Gouverneur veranlaßt, zu melden, „daß drei Präsidentschaften
hätten ausgefegt werden müssen, um Lord Napiers Bedürfnissen zu genügen.
Einige britische Regimenter seien sogar in einer für den Dienst höchst bedenk-
lichen Weise ihrer Offiziere beraubt worden, aller künftig nothwendige Offizier-
Ersatz müßte unbedingt ans England gesendet werden; denn die indischen
Hilfsquellen seien in dieser Beziehung zu Ende, dergestalt, daß er nicht wüßte,
wie er etwaige Ausfülle, die im Lande selbst durch Krankheit!e. entstehen
konnten, decken sollte, und Gefahr vorhanden sei, daß die Eingebornen-Regi-
menter von guten Offizieren gänzlich entblößt würden." — Der Rest der Offi¬
zierstellen wird von Eingebornen-Offizieren ausgefüllt, die aus den
Mannschaften nach einem bestandenen Examen hervorgehen. Jede der 8 Infanterie-
Compagnien hat 2 Eingebornen-Offiziere, 1 Snbardar (Hauptmann) und 1
Jemmerdar (Lieutenant). Der Dienst ist so eingetheilt, daß die englischen
Offiziere die ganze Ausbildung leite», während den Eingeborenen der innere
Dienst zufällt. Die Unteroffiziere und Mannschaften sind sämmtlich Einge¬
borene, welche sich durch freiwillige!! Eintritt ergänzen^) Die B co äffn'ung
der eingeborenen Infanterie besteht zum größer» Theil aus Einfield-Vorder-
Ladern, zum Theil ans Snidergewehren. Nach einer Notiz der ^rmzs ana
Aavz?- (Z^etes vom 26. August 1876 waren nur 14 Regimenter mit dem letz¬
tern Gewehr bewaffnet. Angeblich sind nenerdings aber Martini- Und Henry-
Gewehre (die Waffe der englischen Infanterie) in großer Zahl auch für Indien
angefertigt worden.
Nicht zum ersten Male wählt Heinrich Kruse einen Stoff zu seinem dra¬
matischen Schaffen, der schow hervorragende Dichter vor ihm beschäftigt hat.
Wir haben eingehend seinen „Brutus" besprochen^) und nachgewiesen, wie
selbständig er die Tragödie der Ermordung Caesars und des Unterganges der
römischen Republik nicht dem großen Briten, sondern der Geschichte nachzu-
schaffen versucht hat.
Eine weniger erdrückende Concurrenz war hier zu überwinden. Byrons
„Marino Faliero" ist unter den gleichnamigen Stücken von Lindner und
Cnsiinir Delavigne das hervorragendste. Aber wenn es auch hundertmal der
lieben Jugend, die englisch treibt und auch etwas von Byron kennen lernen
soll, in die Hände gegeben wird, weil es leidlich frei ist von starken Stellen,
so ist doch auch Byrons „Marino Faliero" noch lange kein mustergültiges Drama,
noch lange kein „Marino Faliero", wie er sein soll. Es ist im Gegentheil
vielleicht dasjenige Werk Byrons, welches die sprüchwörtliche Unfähigkeit der
Briten, sich in die historischen Eigenthümlichkeiten des Continents einzuleben,
am klarsten darlegt. Und in einem geradezu überraschenden Maße fehlt Byrons
„Marino Faliero", trotz der genauen Kenntniß und der schwermüthigen Bewun¬
derung Venedigs, die ihm innewohnte, die Loealfarbe, die er sonst so meister¬
haft zur Geltung zu bringen weiß; die Loealfarbe im landschaftlichen, wie im
historischen Sinne. Daß wir in Venedig weilen, erfahren wir fast nnr aus
dem sacrarium: „Scene: Der Raum zwischen dem Canal und der Kirche S.
Giovanni; eine Reiterstatue davor." „Der Rath der Zehn sitzt bei San Sal-
vator" — das erinnert den Leser des Stückes stellenweise an Venedig. Die
Puppen dagegen, welche die Nobili spielen, oder als Verschworene von Frei¬
heit und Gleichheit, oder mit dein Dogen von der menschlichen Niedertracht
im Allgemeinen und der faulen Zukunft für die liebe Vaterstadt im Besondern
reden, kauu man sich mit demselben Recht an jedem andern Ort und um jeden
andern tragischen Stoff versammelt denken. Ja, nicht einmal ein tragischer
Stoff ist absolute Voraussetzung. Wenn der Doge seinen Schwanengesang
anhebt:
„I sps^K to Ums ana to Mörlin^",
so läßt sich dasselbe von Jedem behaupten, der vor tauben Ohren predigt. Auch
Herr Liebknecht pflegt im Reichstag, wenn sich Murren erhebt, zu sagen: „Ich
rede nicht zu Ihnen, ich rede zu denen da draußen." Zur Ewigkeit frei¬
lich nicht.
Ein Dichter, der sich vornahm, bei der dramatischen Gestaltung dieses
Stoffes genauer als dies irgend einer der Vorgänger gethan, die natürliche,
Tragik der geschichtlich überlieferten Handlung und die eigenthümliche An¬
ziehungskraft der Zeit und des Schauplatzes dieser Handlung auf den Zuschauer
und Hörer wirken zu lassen, mußte in wichtigen Stücken seinen Vorgängern
schon überlegen sein.
Die „Grenzboten" haben wiederholt, bei Besprechung des Krnseschen „Moritz
von Sachsen", wie seines „Brutus" zu zeigen versucht, wie Kruse gerade ganz
besonders bestrebt ist, in geschichtlichen Dramen dem Faden der Geschichte zu
folgen und der poetischen Intuition nur insoweit Raum zu geben, als die Ge¬
schichte Lücken oder Räthsel bietet. Daß er vor der dramatischen Gestaltung seines
„Marino Faliero" alle Quellen fleißig nachgelesen, daß er selbst einige Monate
in der Lagunenstadt verbracht hat, um seine Arbeit ganz von dem Colorit der
Zeit und des Schauplatzes durchdringen zu lassen, bedarf bei Kruse kaum der
Erwähnung.
Aber wir haben es mit einem Drama, mit einer freigeschaffenen Nach¬
bildung der geschichtlichen Thatsachen, nicht mit der Geschichte selbst zu thun.
Aus diesem Grunde schon übergehen wir den Nachweis, den Lindau an der
Hand einer einzigen französischen Quelle unternommen hat, zu zeigen, inwie¬
weit Kruse der Geschichte treu geblieben ist. Diese Untersuchung muß nach
den strengen Grundsätzen Kruses, die er „über historische Dramen" selbst vor
wenigen Jahren in der „Gegenwart" veröffentlicht hat, selbstverständlich zu dem
Resultate führen, daß er der Geschichte anch bei dieser tragischen Begebenheit
so weit als nur möglich gefolgt ist. Der Charakter des Dogen, seiner Gattin,
der hervorragendsten Nobili, die den Dogen verderben, sogar der einzelnen Ver¬
schworenen steht historisch fest. Sie so wiederzugeben, wie die Geschichte sie
individuell beglaubigt, war ein großer Fortschritt, den Krnse vor allen seinen
Vorgängern machte. Der Doge ist nicht „eisgrau" wie bei Byron, sondern
ein noch leidlich strammer Degen von einigen sechzig Jahren. Die Signoria
ist nicht die vielköpfige „Hydra" von Coulissentyrannen wie bei Byron, sondern
fein nuancirt in der kaltblütigen Staatsklugheit Barbaros, in dem fröhlichen
Lebemann Contarini u. s. w. Die Dogaressa ist nicht ein intriguanter Blau¬
strumpf wie bei Lindner, und nicht die Nonne, die vor dem „eisgrauen Haupte"
ihres Eheherrn am Altar das Gelübde ewiger Jungfräulichkeit abgelegt hat,
wie bei Byron. Man begreift, daß sie diesen warmblütigen Helden liebt, daß
in ihm noch ein später Frühling eingekehrt ist. Auch der Vorzug, den Krnse
durch die geschichtlich treue Charakterisirung der Verschworenen vor seinen Vor¬
gängern gewinnt, ist bemerkenswerth. Wie mächtig wirkt die Erscheinung des
Baumeisters Calendaro, des Bildhauers Campagna unter den Verschworenen,
da ihnen der Adel für ihre unvergänglichen Schöpfungen kaum das liebe Brot
gewährt und ihnen aus Geiz oder Staudesstolz einer freien Künstlerseele kaum er¬
trägliche Demüthigungen auferlegt. Wie bedenklich stimmt uns von vorne
herein gegen die kriegerische Leistungsfähigkeit dieser Unzufriedenen die Gesell¬
schaft der Krämerseele Spinellis und des feigen Schwätzers Bertram.
Aber ein Räthsel bietet die Tragödie „Marino Faliero".
Der Anlaß zur Verschwörung des Dogen gegen die eigeuen Standesgenossen,
zu seinem Versuche, die Adelsherrschaft in Venedig zu stürzen, um an ihre
Stelle — ja wer weiß was? — vielleicht eine Republik mit monarchischer
Spitze zu setzen, war ja bekanntlich das Pasquill eines jungen Nobile Michel
Steno, das in giftigen Worten die Tugend der Dogaressa anzweifelte, über
Nacht an dem Ehrensitz des Dogen angeheftet wurde und für einige Tage im
damaligen Venedig die Rolle der „Reichsglocke" spielte. Sitzredacteure gab es
damals noch nicht; daher mußte Michel Steno, der die Verfasserschaft der
namenlosen Schmähverse*) nicht leugnen konnte, allerdings daran glauben.
Aber statt der Todesstrafe, die der Doge, im Glauben an seine monarchische
Würde, erwartete, erkannte der weise Rath der Vierzig auf zwei Monate Ge¬
fängniß und nachher auf ein Jahr Verbannung für den jugendlichen Uebel¬
thäter. Das war Alles. Der Doge gerieth außer sich. Und da ein anderer
Spruch von andern Staatsbehörden nicht gefällt wurde, fühlte er sich rechtlos,
geflissentlich gekränkt, und er verbündete sich mit den Unzufriedenen des Arsenals
und der Bürgerkreise, um seine Rache zu kühlen. Das Verhängniß der un¬
natürlichen Fiction jeder aristokratischen Staatsverfassung, welche das Staats¬
oberhaupt nur als den Ersten unter Gleichen und noch dazu mit absoluter
Willensuufreiheit leben läßt und am peinlichsten von einem Liebling der Flotte
und des Heeres, einem tapferen Kriegshelden wie Falierv, empfunden werden
muß, hat den alten Dogen sicherlich zu seinem unheilvollen Entschlüsse mit be¬
stimmt. Auch das kommt bei Krnse zu voller Geltung. Nur oberflächliche
Leser seines Dramas können das leugnen.
Darin liegt aber das Räthsel nicht, das die historische Tragödie „Marino
Faliero" dem Leser und Forscher aufgiebt.
Wer dagegen ein einziges Mal in Se. Giovanni e Paolo in Venedig das
herrliche Grabbild Michel Stenos geschaut hat, diesen geistvollen, bedeutenden,
staatsmännischen, durch und durch edeln Kopf, dem drängt sich das Räthsel
dieser Tragödie mit Macht auf; jetzt, nach mehr als fünfhundert Jahren, wie
in einem Jahrtausend denen, die dann leben werden. War der Mann, der
dieses Antlitz trug, der mit den höchsten Ehren seines Staates bekleidet, als
achtzigjähriger Doge von Venedig gestorben ist, in seiner Jugend, d. h. in den
Tagen seines lebhaftesten und frohmüthigsten Empfindens, wirklich nur das
giftige Reptil, als das Byron ihn schildert? Das ist kaum denkbar.
Wir denken von den gewaltsamen Ehrenrettungen unserer Tage, wie sie
z. B. der selige Adolf Stahr seinen geliebten römischen Kaisern und Prin-
„II Dose I^Iivr äsll» dslla inuwr)
I Ältri I» goäs 6 lui w mavtivu."
Kruse übersetzt etwas milder, als das Original lautet (Zoäk. genießen, mit küssen):
„Des Dogen schöne Frau lebt herrlich mit dem Alten,
Ein Andrer küsset sie, er muß sie unterhalten."
Hessinnen der Familie Claudius hat angedeihen lassen, ebenso gering wie von
der Klatsch- und Verlemudnngssucht unserer theuren Zeitgenossen. Und eine
Ehrenrettung dieses Schlages würde am allerwenigsten ein historisches Drama
zieren. Aber Kruse hat ernstlich danach gestrebt, das Räthsel, das die Tra¬
gödie „Marino Faliero" in der Gestalt des Verleumders Michel Steno bietet,
zu lösen. Er hat in ihm den Typus des herrschenden, aber auch in eminenten
Sinne regierungsfähigen Adels hingestellt. In dem gewaltigen Wachsen Stenos
mit den höheren Zwecken, die dem jungen Manne anvertraut werden, hat der
Dichter auch deutlich gezeigt, daß die Empörung des Dogen gegen Standes¬
genossen, die solche Männer wie Steno in ihren Reihen zählten, doch ein sehr
thörichtes und sträfliches Unternehmen gewesen sei. Und so kommt auch die
historische Gerechtigkeit bei Kruse nicht ganz so zu kurz, wie bei seinen Vorgängern,
die denselben Stoss behandelten. Wir verlassen die Richtstätte des Dogen
keineswegs mit dem Bewußtsein, daß der tagende Morgen die Sonne über
einem herrscherlosen Staate heraufführen werde.
Michel Steno ist die größte Originalschöpfung des Kruseschen Dramas.
Das unvergängliche Grabbild der venetianischen Kirche tritt lebendig vor uus
hiu und wirkt von Scene zu Scene, von Act zu Act packender ans Leser,
Hörer, Zuschauer. Wir besitzen allerdings über die Geschichte Venedigs kein
solches Meisterwerk, wie Machiavell es über die Geschichte seiner Vaterstadt
Florenz hinterlassen hat, und das historische Dunkel, das auf dem Charakter
Stenos lastet, wird vielleicht niemals erhellt werden. So aber, wie Kruse es
darstellt, könnte sich dieser große Staatsmann entwickelt haben. Aus dem
übermüthigen Fant, der keinen Dogen und keine Weibertngend scheut, wächst
ein Krieger, ein Feldherr, ein Staatsmann von seltener Größe empor, der schon
am Ende des Stückes im Rathe, in dem das Todesurtheil über Faliero ge¬
sprochen wird, neben dem alten Juristen Tiepolo als der Einzige es wagt,
gegen das Todesurtheil zu sprechen und zu stimmen. Mag sich diese Wandlung
in Wirklichkeit auch nicht so rasch vollzogen haben, als hier, so hat doch der
Dichter verstanden, sie bis zu einem gewissen Grade uns glaubhaft zu entwickeln
und in Michel Steno eine seiner größten Bühnengestalten geschaffen.
Es war natürlich und durch die Rolle, die der geschichtliche Michel Steno
spielt, anch durchaus motivirt, daß der Dichter auch die einzigen Liebesscenen,
die sein Drama enthält, an diese kraft- und lebensvollste Gestalt seines Stückes
anlehnte.
An einer vollkommenen Freude hindert aber das Folgende. Asta, das
Hoffräulein der Dogaressa, ist Stenos Braut. Einer zweiten, Nerina, hat er
höflich schön gethan. Um Asta freit er, ohne Aussicht auf sichere Existenz. Er
besitzt nur Schulden und einen beerbungswnrdigen Onkel, der an die Erbschaft
freilich die lästige Bedingung knüpft, daß seine Barbara von Michel Steno
heimgeführt werde. Seiner Braut zu Liebe klimmt Steno an Strickleitern zum
Dogenpalast empor; ihr bringt er Ständchen anf dem Wasser; ihr sucht er am
Carnevalsfest des Dogen zu nahen. Der eifersüchtige bejahrte Seeheld meint,
die Werbung gelte der Dogaressa. Er läßt den jungen Adligen, seinen Gast,
von seinen Dienern Hinauswerfen. Im vollen Sturm seines verletzten Ehr¬
gefühls schreibt Steno die schändlichen Verse an den Dogenstuhl. Soweit ist
Alles natürlich, psychologisch gerechtfertigt. Aber vor der gewaltsamen Ent¬
fernung des jungen Mannes ist etwas geschehen, das wir erst später erfahren.
Steno hat seiner Braut ins Ohr geflüstert, daß er sie im dunkeln Gang vor
dem Saal erwarte. Statt ihrer eilt zufällig die Herzogin dorthin, an Gestalt
und Größe seiner Braut ähnlich. Steno küßt und umarmt sie feurig. An
ihrem Schrei erkennt er den Irrthum. Er gelobt ihr Stillschweigen und bittet
auch sie zu schweige», zur Vermeidung aufregender, wahrscheinlich blutiger Be¬
gegnung zwischen ihm und dem Dogen. Auch das ist an sich gut erfunden.
Aber wenn diese Begegnung mit der Dogaressa der zwangsweisen Entfernung
Stenos aus dem Festsaal vorausgegangen wäre, so ist es unsres Trachtens
undenkbar, daß Steno, so veranlagt, wie ihn Kruse schildert, die historischen
Verse an den Dogenstuhl schrieb. Dadurch wurde die ohnehin unschöne That
zu einer ruchlosen Gemeinheit. In welchem Lichte mußte er der Dogaressa
erscheinen, wenn sie von den Schmähversen erfuhr, nachdem er ihr den Grund
ihres zufälligen Zusammentreffens offenbart, ihr fein Wort gegeben hatte, daß
er schweigen werde! Steno handelt demnach bei Kruse zu Anfang des Stückes
als ein vollendeter Lump. Er steht viel schlimmer da, als der Steno Byrons,
der das vlasirte Bedürfniß fühlt, seinen allgemeinen Zweifel an Frauentugeud
auch einmal der Herzogin zuzuwenden.
Es erscheint uns als eine zu starke Zumuthung an die Phantasie der
Zuschauer oder Leser, daß sich ans diesem gemeinen Verleumder in fünf kurzen
Acten ein bewunderungswürdiger Staatsmann entwickeln soll. Und die Freude
an der stetig wachsenden Vollendung seines Charakters wird uns dadurch noch
mehr getrübt, daß wir eben erst später erfahren, wie er der Herzogin begegnete,
ehe er seine Schmähverse schrieb, und dadurch auf die psychologische UnWahr¬
scheinlichkeit dieses Charaktersbildes noch ganz besonders nachdrücklich aufmerksam
gemacht werden.
Es soll in keiner Weise behauptet werden, daß der Dichter diesem Ein¬
wand gegenüber ungewaffnet dastehe. Er kann uns antworten: „Schon ehe
Michel Steno auftritt, sagt von ihm der strenge Antonio Barbaro, jene Hand¬
lung sehe ihm gar nicht ähnlich. Es ist das Eigenthümliche aller Leiden¬
schaften, daß sie im Augenblicke der höchsten Erregung den Menschen blind
gegen alles Andere und so zu sagen bewußtlos machen. Als ihm das Un¬
würdige seiner Handlung vorgerückt wird, sagt er naiv, aber vollkommen wahr
und aufrichtig, er habe an die Herzogin gar nicht gedacht. Er hat überhaupt
nicht gedacht. In seiner Rachsucht (und italienische Rachsucht ist noch etwas
Anderes, als deutsche) dachte er an die Herzogin so wenig als an Hekuba und
schrieb mit zitternder Hand an den Dogenstuhl, was ihm gerade durch den
Kopf schoß. Wie im Traum erinnerte er sich daran, daß er die Herzogin
geküßt, und durch eine Ideenassociation brachte er die Küsse in dem
Reime an."
Diese Rechtfertigung würde uns ungenügend erscheinen. Denn im Drama
soll der Charakter sich auch im höchsten Affect treu bleiben. Nur das Ueber¬
maß der Charaktereigeuthümlichkeit soll dann zu Tage treten. Die Eigen¬
thümlichkeit Stenos ist aber mit Nichten die Gemeinheit. Daß diese strengen
Anforderungen der Theorie nicht selten ignorirt werden mögen, im Interesse
einer Steigerung der Verwickelung, einer Verlängerung der dramatischen Span¬
nung, das mag sein. Aber die unglückselige Begegnung der Dogaressa mit
Steno, welche in uusern Augen die sonst so reine und erfreuliche Zeichnung
des Charakters Stenos verdirbt, hat noch andere Mängel für die Entwickelung
der dramatischen Handlung im Gefolge. Der Herzog erfährt über jene Begeg¬
nung nnr halbe Worte, die seinen Verdacht gegen das treue Weib aufregen.
Noch nachdem er zum Tode verurtheilt ist und hingerichtet werden soll, denkt
er daran, seiner Gattin — bei der letzten Begegnung, die ihm mit ihr beschie-
den ist! — mit seinem blanken Schwert zu drohen, um die volle Wahrheit
von ihr zu erpressen. Da erklärt ihm zuerst das Hoffräulein Nerina das Mi߬
verständniß. Und dann ist die letzte Unterredung zwischen den Gatten aber¬
mals allein den in solcher Situation dem Zuhörer, der längst Alles weiß,
völlig nichtigen Details des Zusammentreffens der Herzogin mit Steno in
der Hauptsache gewidmet. Wie groß hätte die Seine ohne diese leidige Ge¬
schichte gestaltet werden können! —
Auch der gesunde Realismus, der Kruses Schöpfungen inne wohnt und
Leben verleiht, schießt nach unsrer Ansicht in seinem „Marino Faliero"
manchmal über die Grenzen des Schönen hinaus. So wäre das Gezänke
zwischen dem Dogen und Steno in den ersten Scenen schon vor jedem deut¬
schen Bagatellrichter undenkbar. Vor dem hohen Rathe der Vierzig zu Venedig
und bei dem Range der Streitenden wirkt es dagegen sicherlich im entgegenge¬
setzten Sinne des Dichters, wenn Michel Steno ruft:
„Der Doge macht's wie ein Kastammwcib",
oder der Doge fragt:
„Wer hat das größte Maul in ganz Venedig?"
Doch bei alledem bleibt „Marino Faliero" eines der besten Stücke,
die Krnse geschrieben, und das btthnenfähigste sicherlich. Die Aufführung des¬
selben im Königlichen Schauspielhause zu Berlin errang mehr als einen
Achtungserfolg. Wer das Stück blos gelesen, wird sich des Wunsches nicht
erwehren können, es aufgeführt zu sehen, um die Wirkung so vieler Scenen
von dramatischem Effect voll zu genießen und die lebensvollen Gestalten,
die es vorführt, in Fleisch und Blut handeln zu sehen.
Das beste Lob aber, das den Kruseschen Dramen überhaupt zu spenden
ist, die Anerkennung ihres Strebens, das geistige Leben der Gegenwart auch
auf diesem verödeten Gebiete — wo sonst vielleicht mehr noch als auf dem
industriellen die Losung „schlecht aber billig" vorherrscht — zu fördern in
einem edeln Sinne, dieses Lob muß auch seinein „Marino Faliero" in ver¬
dientem Maße gezollt werden.
Angesichts des sich vorbereiteten Krieges zwischen Rußland und der Pforte
scheint uns ein Rückblick auf den letzten Zusammenstoß dieser beiden Mächte,
wo dieselben sich allein gegenüberstanden, an der Zeit zu sein, zumal die Dinge
gegenwärtig ähnlich liegen wie damals. So betrachten wir denn in den fol¬
genden Abschnitten die beiden Feldzüge von 1828 und 1829, von denen der
erste für die Russen ungünstig ablief (was jetzt auch nicht unmöglich ist), der
zweite von entscheidenden Erfolge gekrönt war.
Schon im October 1827 standen die russischen Truppen in Bessarabien
zum Einmarsch in das türkische Gebiet bereit, schon im December war der
Gesandte des Czaren von Konstantinopel abgereist, und wenn Kaiser Nikolaus
noch nach der Mitte des April loszuschlagen zögerte, so war der Grund ein¬
fach der, daß man die Widerstandskraft der Türken unterschätzt hatte und sich
genöthigt sah, mehr Truppen, als ursprünglich beabsichtigt worden, marschiren
zu lassen. Endlich erfolgte am 14./26. April von Seiten Rußlands das
Kriegsmanifest, und die Armee erhielt Befehl zum Vorrücken. Dieselbe bestand
aus 8 Divisionen Infanterie und 4 Cavallerie-Divisionen, die zusammen etwa
105,000 Mann stark warm und unter dem Oberbefehl des Feldmarschalls
Fürsten Wittgenstein standen, welchem der General Diebitsch als Chef des Ge¬
neralstabs beigegeben war. Die Truppen zerfielen in drei Armeecorps: das
dritte unter General Radzewitsch mit 50,500 Mann und 228 Geschützen, das
sechste unter General Roth mit 25,500 Mann und 90 Geschützen und das
siebente unter General Vvinoff mit 29,300 Mann und 144 Geschützen. Die
türkische Armee hatte sich noch nicht vereinigt, als die Russen am 7. Mai den
Pruth überschritten und sich dem linken Dvnauufer näherten. Sie sollte aus
etwa 80,000 europäisch organisirten und geschulten Soldaten, unter denen sich 40,000
Mann Infanterie, 30,000 Mann Artillerie, Genie n. d. und gegen 10,000
Reiter befanden, bestehen, wozu noch 30,000 Arnauten und Bosniaken und
35,000 andere Irreguläre kamen, die in den übrigen Provinzen Europas und
in Kleinasien aufgehoben worden waren. Das türkische Heer zählte somit im
Ganzen 145,000 Mann, doch mußten circa 75,000 davon zur Besetzung der
Donanfestungen, Konstantinopels und der griechischen Grenze verwendet werden,
so daß nicht mehr als 70,000 als mobiles Corps gegen die Russen Front
machen konnten. Den Oberbefehl über dasselbe führte der Seraskier von Ru-
melien Hussein Pascha. Auf dem kleinasiatischen Kriegsschauplatze hatte der
Seraskier vou Anatolien Galib Pascha ungefähr 30,000 Reguläre nebst den
Milizen der Paschaliks Wan, Kars und Achalzich zu seiner Verfügung.
Nach dem russischen Feldzugsplane war das sechste Armeecorps zunächst
bestimmt, Silistria einzunehmen. Es überschritt den Pruth, besetzte Jassy und
traf am 13. Mai in Bukarest ein, stieß aber dann ans verschiedene Hindernisse,
welche den Uebergang über die Donan mehrere Wochen verzögerten, und über
die wir später berichten werden.
Das siebente Corps, bei dem sich der Großfürst Michael befand, hatte die
Aufgabe, zuerst die auf dem linken Ufer der Donau gelegene Festung Jbrail
zu nehmen und dann sich mit dem dritten zu verewigen. Dieses letztere, die
eigentliche Angriffseolvnue, sollte die Donau bei Jsaktschi zwischen Jbrail und
Ismail überschreiten, nach dem Schwarzen Meere vorrücken und an dessen
Küste einige Hafenplätze besetzen, welche den Russen die Zufuhr von Lebens¬
mitteln und Truppenverstärkungen zur See sicherten. Die russische Flotte,
von Admiral Greigh befehligt, beherrschte damals das Schwarze Meer, weil
die Seemacht der Türken kurz vorher bei Navarino fast ganz vernichtet worden
war. Da also die Russen hier nichts zu fürchten hatten, gedachten sie, statt
wie früher durch das Innere des Landes vorzudringen, ihre Operationslinien
an der Meeresküste einzunehmen. Von hier aus sollte das dritte Corps, wenn
das siebente Jbrail genommen, mit jenem vereint die festen Positionen von
Schumla und Warna angreifen, welche der Schlüssel zum Herzen der Türkei
waren. Nach deren Eroberung sollten die russischen Truppen gegen den'Balkan
vordringen und die Hauptdefileeu des östlichen Theils dieser Bergkette
in Besitz nehmen, und war dies vor Ende der guten Jahreszeit gelungen, so
sollte Wittgenstein vom Gebirge in die Ebenen Thraciens hinabsteigen.
Das dritte Corps hatte zunächst in der Dobrudscha zu operiren, einem
Landstrich, der zwischen Silistria, Schumla, der Donau und dem Schwarzen
Meere liegt und größtenteils eine Einöde ist, welche auf der Quadratmeile
höchstens 300 Einwohner hat. In ihrem nördlichen Theile erheben sich die
schroffen Gebirge von Matschin, die zum Theil schönbewaldeten Besch Tepe
(Fünf Berge) und die Höhen von Baba Dagh. Weiter südlich dagegen bildet
das Land ein niedriges wellenförmiges Hügelterrain, welches nur einige hundert
Fuß über der Meeresfläche liegt. Der Boden besteht aus einer feinen grauen
Snndmasse mit Kalkunterlage, in welcher alle Niederschläge einsinken und ver¬
schwinden, so daß man hier vergebens nach Quellen und Bächen sucht. Das
spärliche Trinkwasser wird in den weit auseinander liegenden Dörfern mit
Bastseilen von 80 bis 100 Fuß Länge aus den wenigen Brunnen gezogen.
Ackerbau ist uuter diesen Umständen nicht viel zu finden, und man begegnet in
den Ortschaften der Gegend nur sehr geringen Vorräthen von Getreide
und Rauhfntter. Das Gras verdorrt schon zu Anfang des Sommers und
bildet denn unabsehbare Flächen mit hohen gelben Halmen, die wie Kornfelder
im Winde wogen. Kaum besser von der Natur bedacht ist der Theil der Bul¬
garei vom Trajauswnll bis uach Basardjik; auf einer Strecke von fünfund¬
zwanzig Meilen findet ein Heer hier durchaus keine Lebensmittel und fast
nirgends Wasser.
Wir begeben uns jetzt zuerst zum siebenten Corps der russischen Armee,
welches Jbrail zu nehmen bestimmt war. Man erfuhr hier sofort, daß der
Sieg über die Türken kein leichter sein werde, obwohl mau hoffen gekonnt,
dieselben würden nach den Unglücksfällen in Griechenland entmuthigt sein, und
obwohl die Pforte kurz zuvor die volksthümliche alte Miliz der Janitscharen
vernichtet hatte, um an ihre Stelle eine junge, von keinem Selbstvertrauen und
keinen glorreichen Erinnerungen getragne Truppe zu setzen. Die Belagerung
Jbrails zeigte, daß, wenn man auf die Zaghaftigkeit der Soldaten des Gro߬
herrn gebant hatte, man im Irrthum gewesen war. Am 15. Mai wurde die
Festung eingeschlossen, aber die eigentliche Belagerung machte sehr lang¬
same Fortschritte. Die Türken wehrten sich ebenso rührig als unerschrocken.
Rasch besserten sie die Schäden aus, welche die feindlichen Geschosse anrich¬
teten. Häufige Ausfälle unterbrachen die Arbeiten der Belagerer und tödteten
ehren viele Leute. Erst am 15. Juni war man so weit, daß ein Sturm ge¬
sagt werden konnte. Die Russen verrichteten dabei unter der persönlichen
Führung des Großfürsten Michael Wunder der Tapferkeit. Aber sie stießen
auf ebenso tapfern Widerstand. Dreimal wurden sie geworfen, und bei ihrem
endlichen Rückzüge erfolgte ein allgemeiner Ausfall der Türken. Die Russen
zählten bei diesem Sturme nach ihren eignen amtlichen Berichten 700 Todte und
1500 Verwundete, zwei Generale blieben auf der Bresche. Aber auch die Tür¬
ken hatten große Verluste erlitten, und sie hatten auf keine Verstärkung zu
hoffen, während siebzehn russische Schiffe sich auf der Donau den Be¬
lagerern zugesellten. So verlangte der Befehlshaber der Festung am 17. Juni
einen Waffenstillstand von zehn Tagen und versprach, wenn nach Ablauf des¬
selben keine Verstärkung angelangt sei, den Platz zu übergeben. Man bewil¬
ligte ihm nur eine Waffenruhe von vierundzwanzig Stunden, und nach Ver-
fluß dieser Frist wurde Jbrail übergeben. Die Russen fanden in der Festung gute
Vorräthe an allerlei Kriegsmunition. Aber sie hatten mit ihrer Belagerung
eine kostbare Zeit und 4000 Mann verloren. Der Platz, welcher keine Außen¬
werke besaß, hatte sich 27 Tage nach Eröffnung der Laufgräben und noch
zwei Tage gehalten, nachdem eine gangbare Bresche in deu Hauptwall gelegt
war. Ihren Gesammtverlnst gaben die Russen selbst auf 4 Generale, 18
Stabsoffiziere und 2251 Gemeine an; allein hierbei können die Kranken und
Verwundeten nicht inbegriffen sein, da allein der Sturm am 15. Juni 2200
Mann kampfunfähig gemacht hatte.
Die kleine, Jbrail gegenüber auf dem rechten Donauufer gelegene Festung
Matschin ergab sich nach schwachem Widerstande, und man konnte jetzt ohne
Gefahr die Donau überschreiten. Dies geschah, nachdem mau in Jbrail eine
Garnison zurückgelassen, und in starken Märschen rückte Voinoff nun durch die
Bulgarei weiter, um sich mit dem dritten Corps zu vereinigen, das im Osten
bereits das ganze Gebiet von den Donaumünduugen bis zum Trajanswalle
unterworfen, in Küstendje den ersten Seehafen gewonnen und bei Karassu
Stellung genommen hatte.
Dieses Corps hatte die Donau bei Satunowo überschritten, ungeachtet
hier das Herankommen auf dem linken und das Debouchiren auf dem rechten
Ufer große Schwierigkeiten hat. Satunowo liegt zwischen dem Kagel- und dein
Kartalsee auf einer Landzunge, die dem linken Ufer der Donau sich nähert,
nicht fern von der Festung Jsaktschi. Obwohl das Gerücht verbreitet war,
der Uebergang der Russen werde bei Ismail erfolgen, hatten die Türken sich
bei Satunowo verschanzt, und ihre Kanonen bestrichen deu Spiegel des Stromes
und das jenseitige Ufer. Sie hatten in ihren Schanzen 12 Kanonen, 2 Haubitzen
und 1 Mörser, lauter Geschütze von schwerem Kaliber, und waren 10 bis
12,000 Manu stark. Die Russen bauten zunächst durch die Sümpfe aus der
linken Seite der Donan einen 7000 Schritt langen Damm, dann näherte sich
ihre Flotille, von Ismail die Donau heraufstenernd, mit dem Brückengeräthe
und einer Trnppenverstärkung durch eine Jägerbrigade und die Zaporoger
Kosaken, die unter der Kaiserin Katharina ans Rußland nach der Dobrutscha
ausgewandert waren, aber die griechische Religion und die russische Sprache
bewahrt und sich am 27. Mai zu Ismail für Rußland erklärt hatten. Ihre
Mitwirkung bei der Überschreitung der Donau war von Wichtigkeit. Mit
ihren leichten Booten setzten sie hinter der Flotille und von dieser dem Auge
der Feinde entzogen, am 8. Juni jene Jägerbrigade auf dem rechten Ufer ans
Land, worauf sie mit dieser sofort die nächste Türkenschanze erstürmten. Hier¬
durch erschreckt, räumte der Feind ohne Widerstand auch die andern Werke
und floh theils nach Basardjik, theils nach Jsaktschi, und nun bewerkstelligte
das gesammte dritte Corps den Uebergang, um bald daraus zuerst die Festungen
Jsaktschi, Hirsowa und Tultscha, welches letztere von Ibrahim Pascha einige
Tage tapfer vertheidigt wurde, und dann Küstendje einzunehmen. Bis zum 5.
Juli waren alle -türkischen Donaufestnngen von Silistria abwärts in den
Händen der Russen und diese Herren des angrenzenden Landes bis zum Tra-
jauswalle, und in Küstendje lief eine Transportflotte von 26 Segeln mit Le¬
bensmitteln und Kriegsbedarf ein.
Die im Allgemeinen schlechte Vertheidigung der zuletzt erwähnten vier
Plätze darf nicht befremden. Es waren kleine Orte ohne starke Werke, und die
Pforte war nicht in der Lage gewesen, einen beträchtlichen Theil ihres Heeres
zu ihrer Besetzung zu verwenden, so daß die Vertheidigung zum größten Theile
den Einwohnern selbst überlassen blieb, die ungenügend bewaffnet und wenig
geübt waren.
Das dritte Corps, bei dem inzwischen Kaiser Nikolaus in Person einge¬
troffen war, rückte nach seiner Vereinigung mit dem Voinoffschen von Karassn
nach Basardjik vor. Hier verblieb der Kaiser bis zum 15. Juli, um alsdann
mit der Hauptmasse seiner Truppen über Kozlndja und Imi Bazar gegen
Schumla vorzurücken, dessen Einnahme als das erste Erforderniß der weiteren
Kriegsoperationen erkannt worden war, während General Suchtelen mit einer
Division zur Belagerung Warnas abmarschirte.
Somit verließ man die Dobrndscha und betrat die Bulgarei. Die bul¬
garische Ebene, die von der Donau sich bis zum Balkan erstreckt, ist weniger
öde als die Dobrndscha. Die Wände der Bodensenkungen sind mit Linden
und wilden Birnbäumen besetzt, breite Wiesen fassen die zahlreichen Bäche ein,
wo der Boden urbar gemacht ist, wogen Getreidefelder, und felbst die weiten
unangebauten Strecken zeigen an vielen Stellen einen üppigen Graswuchs.
Die Dörfer liegen nur selten weit auseinander und enthalten, da sie groß sind,
meist nicht unbedeutende Vorräthe. Doch auch hier fehlte es nicht an Schwierig-
leiten. Der fette Lehmboden macht die Wege bei Regen grundlos, und das
Hinabsteigen in die tiefen Thäler, über deren Gewässer nur bisweilen Brücken
führen, ist dann äußerst beschwerlich. Im Winter fällt der Schnee in solcher
Menge, daß die Straßen oft nicht zu erkennen sind. Im Spätsommer verdorrt
die Vegetation, und es stellt sich Wassermangel ein, sodaß man genöthigt ist,
sehr lange Märsche zu machen. Da endlich die meisten Gefechtsstellungen sich
am Rande von Thälern mit dem Wasserlauf vor der Front befinden, Wasser
aber ein dringendes Bedürfniß ist, so ist man, um die Truppen nicht übermäßig
zu ermüden, fast immer gezwungen, das Nachtlager am Wasser selbst vor der
eigentlichen Gefechtsstelluug einzunehmen.
Schumla, eine amphitheatralisch in einem Thalkessel erbaute, auf dein
Knotenpunkte der Hauptstraßen Ostbulgariens gelegene Stadt von 50,000 Ein¬
wohnern, ist rings von befestigten Höhen umgeben und weniger eine Festung
als ein verschanztes Lager. Seine von Thürmen und Bastionen vertheidigte
Ringmauer hat etwa eine Meile im Umfange. Es hatte damals eine Besatzung
von 45,000 Mann, die von dem Seraskicr Hussein Pascha befehligt waren,
welcher zwar kein besonderer Feldherr, aber ein Mann von großem persönlichem
Muthe war. Unter ihm commandirte der junge, muthige und talentvolle Chain
Pascha, der bei Basardjik ein russisches Jägerregiment mit seiner Reiterei in
die Flucht getrieben hatte, was von den Türken allgemein als gnie Vorbe¬
deutung betrachtet wurde.
Ein am 23. Juli geliefertes Vorpostengesecht bezeichnete die Ankunft der
Russen vor Schumla. Sie bemächtigten sich einiger Außenwerke, welche die
Türken auf den Höhen inne hatten, und zwei russische Divisionen besetzten die
Straße nach Konstantinopel und die nach Silistria, um der Armee Husseins
ihre wichtigsten Verbindungen abzuschneiden. Aber die Türken verloren den
Muth nicht. Täglich machten sie Ausfälle gegen die Russen und wiederholt
mit Erfolg. Sie zerstörten einen Theil der feindlichen Werke, ihre zahlreicheren
Reiter schwärmten auf weite Entfernung in die Umgegend hinaus und nahmen
den Russen ihre Zuführen aus den Depots von Imi Basar ab, und bald
zeigte sich's, daß die Belagerung sich in die Länge ziehen werde.
Von Tage zu Tage verschlimmerte sich die Lage der russischen Armee vor
Schumla. Sie lagerte auf einer schattenlosen Fläche bei einer Sommerhitze,
die sich Mittags in der Sonne bis zu 40 Grad Reaumur steigerte. Die Ent¬
behrungen in der erschöpften Gegend und die Anstrengungen beim Schanzen¬
ban und Vorpostendienst erschütterten den physischen, die Erfolglosigkeit des
langen Harrens und der üble Ausgang der kleinen Gefechte den moralischen
Zustand des Heeres. Dasselbe lebte nur vou Zwieback und Fleisch, und das
letztere war schlecht, da der weite Transport die mitgebrachten Ochsen ab-
gemagert hatte. Schwieriger noch war die Beschaffung von Pferdefutter. Die
Fouragirungen mußten, nachdem man die nächste Umgebung ausgesogen, anf
Entfernungen von drei bis vier Meilen ausgedehnt werden. Fast täglich löste
sich die ganze russische Reiterei in Fvnragenrs anf, und doch konnte sie nicht
die genügende Menge von Futter auftreiben. So verlor mau von der jetzt
überhaupt nur noch 3000 Mann starken Cavallerie täglich gegen 100 und später
an 150 Pferde, und so konnte man anf die Reiterei bald weder in der Schlacht
noch beim Vorpostendienst mehr viel rechnen. Nicht weniger bedenklich war,
daß die Hitze der Tage, die Kälte der Nächte, die mangelhafte Ernährung bei
schwerster Anstrengung und das schlechte Wasser zahlreiche Krankheiten, namentlich
Ruhr, Fieber und Scorbut, erzeugten und die Lazarethe allmählich füllten.
Dennoch behauptete Fürst Wittgenstein seine Positionen mit Festigkeit.
Aber am 28. August unternahmen die Türken einen allgemeinen Ausfall, er¬
stürmten eine große Redoute, deren Besatzung sie über die Klinge springen
ließen, und zwangen dadurch den General Rüdiger die Stellung von Eski
Stambul zu verlassen, wo er die Verbindung zwischen Schumla und Adria¬
nopel abgeschnitten hatte. Die Türken konnten jetzt wieder Verstärkungen und
Vorräthe aus dem wohlhabenden Thracien bekommen, und die Einschließung
der Festung war fortan nur noch eine Beobachtung. Ferner regte sich jetzt
auch der Großwesir, indem er von Adrianopel gegen Altos vorrückte, und
14,000 Mann brachen von Schnmla auf, um sich mit ihm zu vereinigen. Um
dieselbe Zeit drohten die türkischen Garnisonen von Widdin, Nikopolis und
Rustschuk mit einem Einbruch in die Walachei. Aus der Gegend von Silistria
berichtete der General Roth über die Unzulänglichkeit seiner Mittel zur Ein¬
nahme des Platzes, zu dessen Besatzung türkische Reiterei aus Schumla ge¬
stoßen war. Die Belagerung von Warna endlich mußte aufgehoben werden,
weil das hier aufgestellte russische Corps kaum halb so stark als die Garnison
der Festung war. >
So befand sich die russische Armee während der zweiten Hälfte des August
und deu September hindurch in einer äußerst kritischen Lage, und bei größerer
Thätigkeit der türkischen Feldherrn und namentlich des Großwesirs Selnn
würde der Feldzug für die Russen den verderblichsten Ausgang genommen haben.
Das von Roth befehligte sechste Corps stand Anfang Juli noch auf dem
linken Ufer der Donau. Der bei Oltenitza beabsichtigte Uebergang über den
Strom mißlang, weil die Türken sich gegenüber in Purtukai stark verschanzt
hatten. Er war aber außerdem nutzlos und sogar bedenklich, so lange das
dritte Corps nicht in gleicher Höhe vorrücken konnte und die starke Besatzung
Silistrias uicht durch ein Einschließungseorps auf dessen Mauern beschränkt
war. Erst als alle Dvnanfestuugen vou Silistria abwärts in der Gewalt der
Russen waren, setzten 10,000 Mann vom sechsten Corps auf einem Umwege
bei Hirsowa über den Fluß und marschirten gegen Silistria, vor dem am 21.
Juli General Roth selbst erschien.
Silistria ist eine der besseren Festungen der Türkei, und es hatte 1828
gegen zwanzigtausend Eüuvvhuer, während es jetzt wohl nicht über sechstausend
zählt. Die Stadt bildet ziemlich genau die Hälfte eiues Kreises, dessen Durch¬
messer, etwa zweitausend Schritt lang, der Donau zugekehrt ist. Sie wird von
10 Fortificationsfronten, jede 550 Schritt lang, umschlossen und hat zwei
Schanzen, welche den Anschluß an den Fluß bilden und dessen Fläche bestreichen.
Die Besatzung war zahlreich, die bewaffneten Einwohner mochten sechstausend
Muter zählen, und außerdem hatte sich der größere Theil der Garnisonen von
Jbrail, Tnltscha, Matschin und Hirsowa hierhergezogen. Infolge dessen besaß
General Roth nicht Truppen genug, um die Festung von allen Seiten ein¬
zuschließen und ihr die Verbindung mit Rustschnk abzuschneiden, von wo sie
ihre Lebensmittel bezog. Er mußte sich begnügen, die Ausfälle der tapfern
Besatzung zurückzuweisen, und bald befand er sich in derselben elenden Lage
wie die Belagerer von Schumla. Mangel an Lebensmitteln stellte sich ein, und
Fieber und Ruhr forderten zahlreiche Opfer.
Inzwischen hatte man auch die Belagerung Warnas begonnen. Diese
Festung liegt am Ausfluß der Devua und ihrer Seen in dos Schwarze Meer
in einer breiten Thalebene, deren faustgewellter Boden mit Obst- und Reben¬
gärten bedeckt ist. Der nördliche Thalrand jenes Flüßchens erhebt sich über
tausend Fuß, die bulgarische Ebene stürzt hier plötzlich als schroffe Felswand
hinab und verflacht sich dann mit stets abnehmender Steilheit. Der Abstand
dieser Höhen von Warna beträgt ziemlich eine deutsche Meile. Der südliche
Thalrand rückt dem Platze näher, steigt sogleich stetig auf und zeigt die
Kuppenbildung und die schönen Waldungen des eigentlichen Balkan. Indeß
bleiben auch hier die nächsten, die Festung einsehenden Höhen noch über 3000
Schritt von deren Wällen entfernt. Aus der näheren Umgebung war der
Platz daher bei der Tragweite der damaligen Geschütze nirgends dominirt, be¬
herrschte aber auch selbst nicht überall vollständig das Terrain im Bereich der
Schußweite.
Die ersten Unternehmungen der Russen gegen diese Festung waren nicht
glücklich gewesen. Infolge eines Ausfalls der türkischen Garnison hatte der
General Suchtelen sich mit seiner Division nach Derbend zurückziehen müssen,
wo er sich verschanzte und die Ankunft der Schiffe Greighs erwartete, welche
bei der Belagerung Warnas mitwirken sollten. Dieser Umstand erlaubte eine
neue Verprovicmtirung der Festung und eine bedeutende Verstärkung ihrer
Garnison. Jzzet Mehemed Pascha, der Großadmiral, ein höchst energischer
Offizier, bat den Sultan, ihm die Vertheidigung Warnas zu übertragen. Die
Bitte wurde gewährt, nud er ging an der Spitze von 3000 Mann regulärer
Infanterie, denen dann noch 2000 Artilleristen folgten, dahin und gelangte
Angesichts der Russen glücklich in die Stadt, wo er sofort den Oberbefehl
übernahm. Mittlerweile hatte auch das russische Corps vor Warna von Schumla
her einige Verstärkungen erhalten. Aber der Kaiser, der sie in Person dahin
geführt, überzeugte sich bald, daß dieselben nicht genügten, und so begab er
sich ohne Verweilen nach Odessa, um eine bedeutende Abtheilung der Garde¬
truppen nachrücken zu lassen. Ehe dieselben eintreffen konnten, erschien die von
Araya kommende Flotte Greighs mit Verstärkungen vor Warna, und der Vice-
admiral Fürst Menschikoff, der nunmehr den Oberbefehl über die Belagerungs-
armee übernahm, rückte wieder von Derbend vor, schloß die Festung eng ein
und schnitt ihr alle Verbindungen ab. Bald jedoch wurde er schwer verwundet,
sodaß er das Commando niederlegen mußte. Sein Nachfolger, Graf Woronzoff,
traf eben ein, als die Türken am 31. August einen wüthenden Ausfall machten,
mehrere Redouten erstürmten und einen großen Theil der Belagerungswerke
zerstörten. Erst am andern Tage nach einem furchtbaren Kampfe gelang es
den Russen, sich der ihnen entrissenen Schanzen wieder zu bemächtigen.
Am 8. September erschien der Kaiser wieder im Lager, die Verstärkung
durch die Garde folgte ihm auf dein Fuße. Am 14. war die von den Russen
gelegte Bresche gangbar und das Heer zum Sturme bereit. Der Kaiser ließ
Jzzet Pascha auffordern, sich zu ergeben, bekam aber eine abschlügige Antwort,
und allerdings war die Lage der Türken noch keine aussichtslose, da der Sultan
von Konstantinopel ans den Großwesir Mehemed Selim mit 12,000 und
Hussein Pascha in Schumla den Omer Vriones, einen von den griechischen
Kriegen her bekannten Arnauteuführer, mit 10,000 Mann zur Entsetzung der
Festung ausgeschickt hatten. Dem Omer war es sogar geglückt, ein russisches
Regiment, welches eine Reevguoseiruugstour zu weit weggeführt hatte, voll¬
ständig aufzureiben, und hätte der Großwesir seinen Marsch mehr beschleunigt
und nicht acht volle Tage gebraucht, um von Konstantinopel bis in die Nähe
von Warna zu kommen, so würde er rechtzeitig und ohne besondere Schwierig¬
keit in die auf der Südseite uoch nicht cernirte Stadt eingezogen sein. So
aber stellte sich ihm und den Arnauten Omers zwischen Warna und dein
Dewna-See der General Gollowkin in einem verschanzten Lager entgegen, und
als er dieses angriff, wurde er mit großem Verluste zurückgeschlagen und hielt
sich seitdem, am Erfolge verzweifelnd, in theilnahinloser Erwartung ruhig im
Kamtschikthale.
Das beständige Feuer der russischen Batterien und das Auffliegen von
Minen zerstörte allmählich die Wälle von Warna. Aber die Vertheidiger ver-
zagten nicht. Fortwährende Kämpfe hatten ihre Zahl beträchtlich zusammen¬
schmelzen lassen, aber ihr Widerstand blieb nngeschwücht. Am 6. October hatte
eine Mine eine breite Bresche in den Wall gerissen, am 7. erfolgte der Sturm,
und einige russische Tirailleurs drangen in die Stadt ein, wurden indeß theils
niedergemacht, theils wieder Hinansgetrieben, und der Verlust der Russen war
an diesem Tage weit größer als derjenige der Türken. Noch einmal wurde
Jzzet Pascha zur Uebergabe aufgefordert, und wieder wies er die Aufforderung
energisch zurück. Am 10. October indeß kam Jussuf Pascha, der zweite Com¬
mandant der Festung, der in Unfrieden mit Jzzet lebte, weil dieser ihn im
Oberbefehl ersetzt hatte, von einem Peroten im russischen Lager zum Verrath
gewonnen, zum General der Russen, um ihm zu sagen, daß er den ihm über¬
tragnen Theil der Festung räumen werde, und sich unter seinen Schutz zu
stellen. Als dies der Garnison in Warna mitgetheilt wurde, zogen die Truppen
Jussufs in Masse nach dem Lager der Russen, um sich mit ihrem Geueral zu
vereinigen. Nur etwa 300 Maun blieben bei Jzzet und ihrer Pflicht, und mit
diesen zog sich der Kapndan Pascha in die Citadelle zurück, von wo ihm die sofort
in die Stadt eingerückten Belagerer nach zwei Tagen einen ehrenvollen Abzug
gewährten.
Sultan Mahmud war über den Verlust von Warna sehr unzufrieden.
Er nahm dem Grvßwesir die Siegel des Reiches wegen seiner Unthätigkeit
während der letzten Wochen der Belagerung ab, verbannte ihn nach Gallipoli
und gab ihm Jzzet zum Nachfolger. Jussufs großer Landbesitz in Rumelien
wurde eingezogen. Er selbst begab sich nach Rußland, wo er zwei Jahre in
schimpflicher Opulenz lebte, nach deren Verlauf es der russischen Diplomatie
gelang, ihm die Erlaubniß zur Heimkehr zu verschaffen.
Die Türken hatten bei der Vertheidigung Warnas gezeigt, daß es ihnen
an Kenntniß vom regelmäßigen Gange einer Belagerung gebrach. Sie ver-
süumteu, ihr Geschütz auf der angegriffenen Front zu verstärken, bevor die
feindlichen Batterien erbaut waren. Sie zersplitterten ihr Feuer. Sie wußten
von den Contreminen nicht den richtigen Gebrauch zu macheu. Aber sie legten
die unerschütterlichste Tapferkeit hinter den schwachen Vertheidignngswerken an
den Tag, welche, ohne System und regellos angelegt, bis zum letzten Augen-
blick von ihnen behauptet wurden. Ihr heldenmütiger Widerstand in dem
von Breschen ausgefüllten Graben und ihr Aushalten noch drei Wochen, nach¬
dem der Feind zwei gangbare Sturmlücken in den Hanptwall gelegt, ist ein
seltner und über alles Lob erhabner Fall.
Mit der Einnahme von Warna war der Feldzug von 1828, soweit es
sich um die europäische Türkei handelte, zu Ende. Die vor Schumla stehende
russische Armee verließ ihre Stellungen und concentrirte sich vor Warna. Aber
unablässig vom Heere des Seraskiers Hussein bedroht und von dessen zahl¬
reicher Reiterei an genügender Verprovicmtirung gehindert, zog man zuletzt,
nachdem man in Warna eine Garnison von 10,000 Mann zurückgelassen,
wieder der Donau zu und nach dem linken Ufer derselben hinüber.
Wie Schumla, so widerstand auch Silistria. Alle Anstrengungen Noths,
die Festung zu nehmen, scheiterten. Ebensowenig vermochte dessen Nachfolger
Scherbatoff etwas auszurichten, nud dessen Nachfolger Längerem hatte denselben
Mißerfolg. Als beschlossen war, daß die Hauptarmee die Bulgarei, wo sie im
Winter nicht existiren konnte, verlassen sollte, und die Regengüsse des October
die Umgegend in einen Sumpf verwandelten, machte er einen letzten Versuch,
indem er die' Stadt zwei Tage und zwei. Nächte laug bombardirte. Aber
Garnison und Einwohnerschaft ließen sich nicht einschüchtern und wiesen jede
Aufforderung zur Uebergabe zurück. Das sechste Corps mußte schließlich gleich
den beiden andern die Bulgarei wieder verlassen und ging am 20. November
über die Donau, nachdem es auf dem Rückzüge wegen der schlechten Wege
einen großen Theil seiner Pferde und seines Gepäcks verloren hatte.
Der Winter trat frühzeitig ein und war sehr streng, er steigerte die Ent¬
behrungen und Krankheiten im russischen Heere und war für dasselbe außer¬
ordentlich nachtheilig, und erwägt man die ungeheuren Opfer, die dieser Umstand
im Gefolge hatte, sowie die schweren Verluste, welche der vorhergehende Sommer
und der Herbst gefordert hatten, so ist kaum zweifelhaft, daß der Feldzug im
Ganzen von den Türken und nicht von den Russen gewonnen worden war.
Anders freilich fiel der Feldzug von 1823 in Asien aus, wo der unter¬
nehmende und kühne Paskewitsch allenthalben den Sieg an seine Fahnen ge¬
fesselt, die Festungen Kars und Achalzich nach Niederwerfung der zu ihrer
Unterstützung bereiten türkischen Streitkräfte genommen und die Gegenden, auf
die es ihm zunächst ankam, sämmtlich in seine Gewalt gebracht hatte, während
ein russisches Corps unter dein Fürsten Tschawdzewadze bis Bajasid vorge¬
drungen war, diese Stadt und verschiedene weniger bedeutende Orte eingenommen
und den Kurden am Murad Tschai, einem der Qnellbäche des Euphrat, eine
schwere Niederlage beigebracht hatte.
Das warm glänzende Erfolge, aber die Entscheidung lag nicht im Besitze
dieser schwachbevölkerten asiatischen Provinzen. Mehr als eine derselben konnte
verloren gehen, ohne daß der Bestand des Reiches des Nachfolgers Osmans
ernstlich gefährdet wurde. Der Mittelpunkt dieses Reiches war Konstantinopel
mit dem Bosporus und dem Hellespont, und die Frage war, ob es den Russen
gelungen, sich dorthin den Weg zu bahnen. Der Besitz Warnas sah nnr wie ein
Anfang dazu ans, seine Einnahme war sehr theuer zu stehen gekommen und
hatte deu russischen Massen sicher nicht mehr, eher weniger Glanz verliehen als
den türkischen. Der mächtige Wall des Balkan lag noch unbetreten von der
Armee der Angreifer da, sein großer Waffenplatz Schumla hatte sich derselben
mit bestem Erfolge erwehrt und triumphirend gesehen, wie sie ihm mehr als
decimirt den Rücken kehrte, selbst das verhältnißmäßig kleine Silistria war
nicht zu nehmen gewesen. Die Siege im fernen Asien wogen den Rückzug
in Bulgarien, nachdem nur ein mäßiger Theil der Hoffnungen, mit denen
man russischerseits ausgezogen war, sich erfüllt hatte, nicht auf.
Auch der moralische Eindruck, den alle diese Erwägungen auf die Gemüther
im Weste« machten, war den bisher gering geschätzten Türken, die sich in
Jbrail, in Warna und vor Schumla so wacker gehalten hatten, günstiger als
den Russen, die in der Uebermacht gewesen waren. Endlich hielt mit der
Anerkennung im Auslande die Steigerung der Zuversicht im Jnnern gleichen
Schritt. Man hatte gesehen, daß man mit einiger Umsicht und Energie dem
Gegner Stand zu halten vermochte, und man rüstete sich, ihm bei seinem
nächsten Versuche kräftiger zu begegnen. In einem zweiten Artikel werden wir
fehen, daß die hieran sich knüpfenden Hoffnungen vor allem an der Unfähigkeit
der türkischen Strategie scheiterten, welche, die Küstenvertheidigung vernach¬
lässigend, alle ihr zu Gebote stehenden Mittel bei Schumla und den Pässen
des Balkan anhäufte.
Der Landtag ist seit dem 12. d. M. versammelt. Während das
Herrenhaus, wie gewöhnlich, sofort nach seiner Constituirung wieder Ferien
machte, ist das Abgeordnetenhaus unmittelbar in die Arbeit eingetreten. Die
Wahlen vom letzten Oktober haben viel neue Gesichter in das Haus am
Dönhofsplatz gebracht; die Parteien aber und ihre Führer sind die alten ge¬
blieben. Die „große conservative Partei", welche im vorigen Sommer so ge¬
räuschvoll angekündigt wurde, sucht man vergebens. Nicht einmal die Neu-
und die Alteonservativen haben sich zu einer einzigen Fraction verschmölze»,
geschweige denn die gestimmte Rechte. Die wesentlichste Veränderung auf dieser
Seite besteht darin', daß das Häuflein der Alteonservativen sich verdoppelt hat,
d. h. auf ganze nenn Mann angeschwollen ist. In ungebrochener Stärke steht die
nativnalliberale Partei, mit ihren 174 Mitgliedern; auch die zweitgrößte Fraction,
das Centrum, um mehr als das doppelte überragend. Die Fortschrittspartei
hält numerisch der gesammten Rechten die Wage.
Am Beginn der Sessionen und ganz besonders der Legislaturperioden
Pflegt die erste Kraftprobe der Parteien die Präsidentenwahl zu sein. Dies¬
mal trug sie einen außergewöhnlich interessanten Charakter. In der abge¬
laufenen Legislaturperiode war der Präsident der nationalliberalen Partei, der
erste Vieepräsident der Fortschrittspartei, der zweite der freiconservativen Par¬
tei entnommen. Das Centrum, welches seiner Mitgliederzahl nach die An¬
wartschaft auf die erste Vieepräsideutenstelle gehabt hätte, blieb als nichtpo¬
litische und obendrein die Souveränetät des Staates leugnende Partei unbe¬
rücksichtigt. In dem Stärkeverhältuiß der Fraktionen des neuen Hauses lag
kein Grund, von der bisherigen Praxis abzugehen. Aber der eben beendete
Reichstagswahlkampf, insbesondere die unerhörten Angriffe der Fortschritts¬
partei gegen die Nationalliberalen, konnten auf die Stellung der Parteien im
Landtage nicht ohne Rückwirkung bleiben. Einen Augenblick hieß es. die
Natioualliberalen wollten an der bisher befreundeten Nachbarfraetion durch
vollständige Ausschließung derselben vom Präsidium Rache nehmen. Sehr bald
jedoch gewann die ruhige Ueberlegung die Oberhand. Nach der bisherigen
Uebung hätte die Ausschließung nur dann als berechtigt gelten können, wenn
der politische Charakter der Fortschrittspartei eine ähnliche grundsätzliche
Staatsfeindlichkeit aufwiese, wie derjenige des Centrums. Der gerecht Ur¬
theilende wird bei aller Antipathie gegen den verblendeten Doktrinarismus der
Fortschrittler zugeben, daß dies nicht der Fall ist. Alsdann aber wäre die
Ausschließung ein Act der Fractionsrancüne gewesen, und diese wird eine große
Partei verschmähen. Was die Nationalliberalen ihrer Ehre schuldeten, war, daß sie
der Fortschrittspartei zur Bedingung stellten, zum ersten Vicepräsidenten nicht einen
der Männer vorzuschlagen, welche die obenerwähnten Augriffe begonueuund während
des Kampfes geleitet hatten, also auch uicht deu bisherigen Inhaber des Postens,
Herrn Hänel. Die Heißsporne der Fortschrittspartei betrachteten die Ablehnung
dieser Bedingung als selbstverständlich; sie zeigten nicht übel Lust, ihrem Kieler
Genossen im Abgeordnetenhause dasselbe Schicksal zu bereiten, wie kurz zuvor
im Reichstage. Herr Hänel selbst scheint aber an einer Wiederholung dieser
Komödie kein Gefallen gefunden zu haben, und so entschloß man sich nach
einer heißen Debatte im Schoße der Fraction, den von nationalliberaler
Seite von vorneherein als genehm bezeichneten Herrn Klotz zu präsentiren.
Hinterher wurde dann der Versuch gemacht, diese« Rückzug zu beschönigen,
sogar zu leugnen; freilich ohne Erfolg.
Konservative und gouvernementale Preßvrgane haben den Vorgängen bei
der Präsidentenwahl eine Bedeutung beigelegt, die sie nicht verdienen. Ganz
unzutreffend ist die Behauptung, die nationalliberale Partei habe sich aufs
Neue um die Freundschaft der Fortschrittspartei beworben, sie habe die Er¬
innerung an die jüngste Vergangenheit auslöschen wollen, und was dergleichen
mehr ist. So wenig früher die erste Vieepräsidentenstelle der Fortschrittspartei
aus freunduachbarlicher Zuneigung eingeräumt ist, ebensowenig ist es jetzt ge¬
schehen; beide Male ist lediglich die Erwägung maßgebend gewesen, daß die
Fortschrittspartei — vom Centrum abgesehen — die zweitgrößte Partei des-
Hauses ist. Zu leugnen ist freilich uicht, daß, wenn dies überhaupt nöthig
gewesen wäre, auch ein gewichtiger Zweckmäßigkeitsgrund für die Belassung
der Fortschrittspartei in dem Posten hätte geltend gemacht werden können. Die
natioualliberale Partei hat keine Veranlassung, denjenigen Elementen der Fort¬
schrittspartei, welche dem Terrorismus der Heißsporne noch einigen Widerstand
leisten, die Position zu erschweren. Dies würde sie aber gethan haben, hätte
sie der Fortschrittspartei den ersten Vieeprüsidenteuposten versagt. —
Aufgabe der gegenwärtigen Session soll vorwiegend die Bndgetberathuug
sein. Das Expose, mit welchem der Finanzminister die Vorlegung des Etats
zu begleiten pflegt, durchklaug diesmal ein in Preußen seit langer Zeit un¬
gewohnter und wenig einschmeichelnder Ton. Sonst liebte Herr Camphausen,
mit freundlichem Lächeln das überquellende Füllhorn zu entleeren; hener flog
nnr selten ein kaum merkbarer Sonnenblick über das umwölkte Antlitz. Ueberall
steht es geschrieben: „die fetten Jahre sind vorüber." Aber noch ist kein Grund
zum Pessimismus. Wir kehre» zu normalen Zuständen zurück, sonst nichts.
Wenn die Stempelsteuer noch immer um ein Beträchtliches hinter dem Svll-
etat zurückbleibt, wenn der Ertrag der Eisenbahnen den Voranschlag nicht er¬
reicht, wenn die Bergwerke infolge der niedrigen Kohlenpreise weniger abwerfen,
so ist dagegen nicht zu übersehen, daß der Ertrag der directen Steuern den
Voranschlag überschreitet. Allerdings ist weise Sparsamkeit geboten; aber
nirgends liegt begründete Besorgniß vor, daß dieselbe das Maß des Ersprie߬
lichen überschreiten werde. Der im Verhältniß zu den Vorjahren sehr niedrige
Betrag des diesmaligen Extraordinarinms bedeutet uur scheinbar eine große
Reduction der Ausgaben sür neue Unternehmungen ; in Wahrheit erhöht sich
die in demselben vorgesehene Summe von ca. 20 Millionen durch «och vor-
handene Restbestände ans reichlich 70 Millionen. Wenn die Unsitte, dnrch
Hypertrophie des Extraordinarinms so kolossale Restbestände aufzuhäufen, bei
dieser Gelegenheit beseitigt wird, so ist das nur als ein Glück für unsere
Finanzwirthschaft zu betrachten.
Die erste Lesung des Etats, sonst ein Glanzpunkt der Sessionen, war
nüchtern und zum Theil herzlich unbedeutend. Mit gediegener Sachlichkeit be¬
leuchtete der nationalliberale Redner, Rickert, die Finanzlage. Schwarzsehe^
warfen ihm vor, er habe zu rosenfarben geschildert. Wir glauben, mit Unrecht.
Das Facit seiner Ausführungen war: Unsere Finanzlage ist frei von organischen
Abnormitäten, die zu ernsten Befürchtungen Anlaß geben könnten; die noch
immer andauernde volkswirtschaftliche Krise kann natürlich ans die Staats¬
wirthschaft nicht ohne Rückwirkung bleiben, aber so sicher jene Krise überwunden
werden wird, so sicher wird auch diese Wirkung verschwinden. Die diesjährige
Paraderede der „Finanzantoritcit der Fortschrittspartei", wie Blätter seiner
Richtung Herrn Engen Richter so gern bezeichnen, litt stark unter den bitteren
Erfahrungen des Wahlkampfs. Die Wortführer des Centrums, die ja das
Privileg besitzen, jede sachliche Behandlung politischer und wirthschaftlicher
Fragen zu perhorreseiren, erfreuten mit den altbekannten Platitüden und
Querelen. Gespannt dürfte man auf den Agrarier v. Rauchhaupt sein. Nach
dem gewaltigen Lärm, welchen die Partei der „Steuer- und Wirthschaftsrefvrmer"
während der Wahlbewegnng vollführte, schien von ihm die Entwickelung eines
umfassenden Stenerreformplanes in Aussicht zu stehen. Was er vorbrachte,
ging indeß nicht über die Aphorismen hinaus, welche Fürst Bismark gelegentlich
im Reichstage hingeworfen hat. Auch auf liberaler Seite leugnet wohl kaum
Jemand die Reformbedürftigkeit unseres Steuersystems. Aber daß sich die un¬
geheure Aufgabe nicht im Handumdrehen losen läßt, wie die Agrarier dem Volke
einzureden versuchten, dafür liefert das von Herrn v. Rauchhaupt entwickelte
Programm selbst den Beweis.
Dem Budget verwandt ist die Vorlage wegen anderweitiger Einrichtung
des Zeughauses in Berlin. Dieselbe hat bekanntlich bereits eine Geschichte.
Es handelt sich darum, den herrlichen Schlüterschen Bau in ein Waffenmusenm
umzuwandeln, welches die Entwickelung der preußischen Armee veranschaulichen
soll. Nicht lange vor dem Schluß der letzten Session wurde dieser Entwurf
eingebracht. Damals sprach man von Umwandlung des Zeughauses in eine
„Rnhmeshalle" und verlangte s> Millionen, die aus der französischen Kriegs-
kostcneutschädigung entnommen werden sollten. Die Budgetcommission vermißte
vor Allem eine Verzichtleistung des Reichs auf seinen Mitbesitz am Zeughause,
sodann auch die Gewähr, daß das monumentale Bauwerk in der von seinem
Erbauer ihm gegebenen architektonischen Gestalt durch die Umwandlung nicht
beeinträchtigt werden würde. Darüber blieb die Vorlage unerledigt, oder viel¬
mehr die Regierung zog sie stillschweigend zurück. Vorher aber hatte das
übereifrige Heer der Offieiöseu versucht, die Stellung namentlich der national-
liberalen Partei zu dein Plane in der niedrigsten Weise zu verdächtigen nud
daraus Kapital zu schlagen. Lediglich diese Erinnerung war es, was dem
diesmaligen Gesetzentwurfe gleich bei seinem Erscheinen einen pikanten Bei¬
geschmack gab. Im Uebrigen werden jetzt nur 4,330,000 Mark verlangt, wo-
von 400,000 Mark Abfindung an das Reich, und der Titel „Ruhmeshalle"
ist fallen gelassen. Prineipielle Opposition erfahrt das Project nur von der
Centrumspartei; Windthorst und Gerlach Arm in Arm ernährten zur Buße
für 1866, statt zum „Rühmen." Die Fortschrittspartei ist gespalten; ein Theil
acceptirt die Vorlage, ein anderer will weitgehende Beschränkungen. Die über¬
wiegende Mehrheit des Hauses wird deu Regierungsentwurf mit einigen von
der Budgeteommission hinzugefügten Cautelen annehmen.
Die schlechte Gepflogenheit des preußischen Landtags, bei der Etatsbe-
rathuug über alles Mögliche und noch einiges Andere zu reden, wird auch
diesmal von den Ultramontanen zur Herbeiführung aufregender Kulturkampf-
seenen, deren sie zur Aufstachelung der Massen nicht entrathen können, redlich
ausgebeutet. So benutzte der Cyniker des Centrums, Herr Schröder-Lippstadt,
den Justizetat zu einer bisher unerhörten Verhöhnung der Staatseinrichtungen
— im Augenblicke des offenen Wahlbündnisses zwischen Ultramontanismus
und Socialdemokratie freilich kein Wunder. Auch in selbständigen Anträgen
nimmt die Centrnmspartei den Kampf gegen die Staatsgewalt auf. Herr
Reichensperger veranlaßte eine erregte Debatte über die Frage des Religions¬
unterrichts in den Volksschulen. Der Kultusminister aber fertigte die bekannte
mißbräuchliche Auslegung des Artikels 24 der Verfassung glänzend ab, und
di
Der bekannte Ethnolog giebt hier für das größere Publikum einen Ueber¬
blick über die vom Titel genannten Völkerschaften nach ihren Hauptmerkmalen,
dem Namen des betreffenden Stammes, dessen Sprache und Körperbeschaffen¬
heit, dessen geistigen Anlagen, dessen Wanderungen in der Vorzeit und dessen
Verwandtschaft mit anderen Stämmen. Wir bemerken, daß Vieles hiervon,
wie der Verfasser nicht verkennt, zweifelhafter Natur ist. Dies gilt namentlich
von der Bestimmung der Zugehörigkeit einzelner Stämme zu der oder jener
Gesammtnationalität und von der Genauigkeit der Zahlen bei den Angaben
über deren Stärke. Nach den neuesten und besten Quellen setzte sich die Be¬
völkerung der europäischen Türkei aus folgenden Bestandtheilen zusammen:
Albanesen 1,600,00, Griechen etwa eine Million, Rumänen 200,000 (Variante
eine halbe Million), Slawen nach Bradaschka 8'/z Millionen, Türken cirea
eine Million, Tataren 45,000 (in der Dobrudscha und Bulgarien), Armenier
400,000, Juden, in Sephardim und Aschkenasim (deutsch- und spanischredende)
zerfallend, 95,000, Tscherkessen etwa 500,000, Zigeuner 240,000, wozu noch
einige Tausend Deutsche (1200 in der Dobrndscha in drei Dörfern ange¬
siedelt) und einige bei Basnrdjik in Bulgarien wohnende Araber kommen.
Konstantinopel hatte 1864 circa 1,075,000 Einwohner, unter denen 480,000
Muhamedaner, 250,000 orthodoxe und 30,000 unirte Armenier, 220,000
Griechen, 55,000 Juden und 40,000 andere Glaubensgenossen waren. Die
Zahl der Schützlinge fremder Mächte betrug ungefähr 60,000.
Ein Vergleich zwischen Berlin, Wien, Paris und London in Schilderungen,
welche hauptsächlich die äußere Kultur dieser Städte ins Auge fassen, wie sich
dieselbe in der Einrichtung ihrer Theater- und Concertvorstellungen, Hotels,
Restaurants, Kaffee- und Bierhäuser, Verkehrs- und Beförderungsmittel, in
ihren Privatwohnungen und Gesellschaften, in der Art, wie man zu bauen
pflegt, ausgeprägt hat. Der Verfasser, der sich Kohls Schriften zum Muster
genommen zu habe» scheint, spricht als guter Kenner der Verhältnisse und Zu¬
stände, was namentlich von seinen Mittheilungen über Berlin und London
gilt. Jenes wird, wie uns dünkt, ungünstiger beurtheilt als billig. Gewiß hat
Herr Faucher in den meisten Fällen, wo er Ausstellungen zu machen hat, ganz
recht; aber man sollte von einer jungen Großstadt, die sich überdies bei ihrer
Entwickelung durch die Umstände eher gehemmt als gefördert sah, nicht zu viel
verlangen. Sonst enthält das sehr ungleich, bald zu knapp, bald zu breit und
weitschweifig geschriebene, in diesem Kapitel feuilletonistisch plaudernde, in jenem
trocken berichtende Buch neben verschiedenem selbstverständlichen und Bekannten
auch vieles Neue und manches Treffende und Beherzigenswerthe. Bedenkliche
sittliche Grundsätze spricht Herr F. in dem Abschnitte über die Unwahrheit der
französischen Ehebruchs-Komödien und Demimonde-Tragödien ans, wenn er
die wilden Ehen der Studenten und Cvcvtten harmlos findet, und für die
Mittheilung der hier angefügten Unterhaltung von Cameliendamen mögen sich
Andere bei ihm bedanken. Recht lehrreich und interessant dagegen sind das
27. Kapitel, welches vom pariser Kunsthandwerk und vorzüglich von der dor¬
tigen Kunsttischlern handelt, und die Abschnitte über das Leben, in London.
Wir erfahren hier u. A. neben manchem Wichtigerem, daß der englische Nativ-
ualhymnns «(Zoci savs srest AsorM our KinZ» von dem londoner Volks-
saliger Carey gedichtet worden ist, und daß dieser auch die prächtige Melodie
dazu componirt hat. „Händel" — den wir bisher für den Urheber der letz¬
teren hielten — „hat zu derselben nichts weiter hinzugefügt, als, auf Befehl
des Königs selbst, den vierstimmigen jetzt gebräuchlichen Text." Wir bemerken
noch, daß es uns an einigen Stellen vorkommen wollte, als ob Herr F.,
keine besonders starke und volle patriotische Ader besäße und dies den Leser
wissen zu lassen beflissen sei.
Die vielbesprochnen zehn Briefe über den Charakter der Beiträge der
deutschen Industrie auf der Weltausstellung in Philadelphia, von denen nament¬
lich der erste, hier unverändert, wie er ursprünglich in der National-Zeitung
stand, wieder abgedruckt, mit Unrecht so viel Anstoß erregte. Unsere Industrie
war in der That in vielen ihrer Zweige ans eine falsche Bahn gerathen. Statt
der Verbesserungen, die wir öffentlich preisen hörten, machte sie in verschiedenen
Fächern nur gewaltsame Anstrengungen, um neue augenblicklich einträgliche
Gewerbsleistnngen hervorzubringen, während der Hinblick ans eine künftige
höhere Entwickelung fehlte. Bestrebungen nach besseren Zuständen wurden die
Ausnahme statt der Regel, unser Handwerkerstand verlor mehr und mehr an
Geschick und Tüchtigkeit, unser Waarenaustausch mit fremden Völkern verlor
infolge des zur Herrschaft gelangten verwerflichen Grundsatzes: „Nur billig,
wenn auch gering" seine Einträglichkeit, indem viele unsrer Erzeugnisse ans den
auswärtigen Märkten durch fremde verdrängt wurden. Sachkenner, die sich
nicht selbst verblendeten, wußten das längst. Daß Professor Renleaux es offen
und ungescheut aussprach, ist ihm hoch anzurechnen, und sehr zu wünsche«
wäre, daß unsere Fabrikanten diese Briefe sich anschafften, sie recht überlegsam
durchlasen, und wenn sie sich getroffen fühlten, ohne Verzug von den bisherigen
Wegen umkehrten. Mögen sie namentlich den dritten Brief zweimal lesen,
welcher die im ersten erhobene Anklage weiter begründet und sich ausführlich
über deu Grundsatz: „Billig und deshalb schlecht" ausspricht, mit welchem man
bisher der Concurrenz zu begegnen versuchte. Bei Weltausstellungen hat man
sich gefallen zu lasten, daß der Maßstab des Fortschritts an seine'Werke gelegt
wird! Dabei hat man uns über einer Richtung betroffen, welche unsere
Industrie einzuschlagen genöthigt war, als sie sich für Vertheidigung gegen die
Concurrenz durch wohlfeile Preise entschieden hatte. War der Abstand ihrer
Waaren gegen die von Nationen, welche sich durch bessere Qualität vertheidigten,
anfänglich kaum zu merken, in Philadelphia faud ihn auch das unbewaffnete
Auge heraus, und man hätte wohl gethan, wenn man sich, statt sich über den
zu "entrüsten, der dies aussprach, lieber über sich selbst entrüstet und den Ent¬
schluß gefaßt hätte, die falsche Methode zu verlassen und es mit der zu halten,
nach welcher das Anstand in der letzten Zeit gearbeitet hatte. Die Wahrheit
ist oft unbequem, bisweilen bitter, aber zu allen Zeiten nützlich.
Was die Vertheilung der Truppen im Lande betrifft, fo ist dabei
sowohl ans die Aufrechterhaltung der Ruhe im Innern, als auf die Beobach¬
tung der eingebornen Fürsten, als endlich ans den Schutz der Grenzen Rück¬
sicht genommen, für die Vertheilnng der britischen Truppen sind außerdem
auch klimatische Rücksichten maßgebend. In Bezug auf die Aufrechterhaltung
der Ordnung ist auch die Mitwirkung starker Eingebornen-Polizei-Corps mit
in Betracht zu ziehen. Von der Bengal-Armee sind in den östlichen, einem
feindlichen Ausfall nicht ausgesetzten Grenz-Districten nur eingeborene Truppen
in verhältnißmäßig geringer Stärke, ohne Cavallerie und Artillerie stationirt.
Die Hauptmasse der Infanterie (britische und eingeborne) steht in den Haupt¬
orten des Ganges-Thales und des Pandschab; gleichfalls im Pandschab und
im oberen Ganges-Thale die Cavallerie. Die Artillerie ist gleichmäßig ver¬
theilt. Zum unmittelbaren Grenzschutz gegen Afghanistan im Nordwesten, von
woher seit undenklichen Zeiten alle feindlichen Einfälle das Land überzogen
haben, dient das Pandschab-Grenz-Corps, das unmittelbar zur Dispo¬
sition des Lieutenant-Governor vou Pandschab steht. Es befindet sich in einer
gewissen Kriegsbereitschaft und hat an den Ausmündungen der Gebirgs-Pässe
nach der Indus-Ebene Posten stationirt. Den Grenzschutz gegen Balud-
schistcm im Westen übt das zur Bombay-Armee gehörige Sind-Grenz-
Corps ans.
In den Staaten der eingebornen Fürsten sind sowohl englische
als eingeborne Truppen stationirt und zwar von letzteren vornehmlich die vor¬
her aufgeführten besonderen Corps.
Es ist noch zu bemerken, daß die britischen Truppen durchweg in der
Nähe der Eisenbahnen stationirt sind, und daß sämmtliche Bahnen
im Zusammenhange stehen; nur der sehr wichtigen längs dem Indus fortlaufen¬
den Bahn fehlt noch ein Stück zur Herstellung des vollendeten Zusammen¬
hanges. Der Haupt-Knotenpunkt ist Bombay, der Hafen für die
von England kommenden Transporte. Die britischen Truppen sind in Kaserne-
ments untergebracht, die eingebornen haben kleine, lagerartig geordnete Bar¬
racken inne. Verschiedene Uebungslager sind für beide Kategorien der Truppen
errichtet. Für die britischen Truppen sind mit Rücksicht auf das unerträgliche
Klima verschiedene Gesnndheits-Stationen (IM sa,r>iturig,) an den Berghängen
in gesunder Luft angelegt, welche eine beträchtliche Zahl Reconvalescenten auf¬
zunehmen vermögen.
Für die Befestigung des Hafens von Bombay und die Einfahrt
nach Calcutta ist in letzter Zeit Verschiedenes geschehen, in Bombay sind
außerdem speziell sür den Zweck der Hafen-Vertheidigung 2 Monitors stationirt.
Ziehen wir nun zunächst einResum6, wie sich die englischen Macht¬
verhältnisse den indischen Unterthanen gegenüber gestalten.
Die Regierung ist sichtlich bemüht, die materielle und geistige Kultur des
Landes zu fördern und sieht ihre Bestrebungen mit Erfolg gekrönt. Der
Wohlstand des Landes ist im Steigen begriffen, gleichzeitig anch
die Einnahmen der Regierung, so daß das letzte Finanz-Jahr nur ein Deficit
von 3,794,000 L. aufweist, während dasselbe im Vorjahre 5,346,044 L. betrug.
Zu den Ausgaben trat noch ein ganz unvorhergesehener Posten, nämlich die auf
8,860,000 L. berechneten Kosten der Hungers noth. Den besten Beweis für
den guten Stand der indischen Finanzen giebt nach der Meinung des Unter-
Staats-Secretairs des indischen Amtes der Umstand, daß der Credit der in¬
dischen Regierung ein besserer sei, als derjenige des Mutterlandes. Eine Er¬
höhung des Budgets hat nicht stattgefunden, der Mehrbedarf wird theils durch
eine zum großen Theil in Indien selbst zu eontrahirende Anleihe, theils durch
die Contribution zweier Fürsten für die in ihrem Lande anzulegende Eisen¬
bahn gedeckt.
In gleicher Weise sucht die Regierung die Bildung des Volkes
wie die der indischen Vornehmen zu fordern und ihnen den
Weg zu allen Lebenszweigen und Aemtern zu eröffnen. So
werden die Jndier, lange geknechtet durch fremde und einheimische Herrscher,
allmählich zu einem Bewußtsein eignen Könnens geführt und zu einer gedeih¬
lichen Theilnahme an der Verwaltung des Landes herangebildet. Doch dies
Resultat kann ebenso gut eine Stütze, wie eine Gefahr für die englische Herr¬
schaft werden. Es fragt sich, ob es möglich sein wird, sich die Jndier so zu
assimiliren, daß sie sich nur noch als Mitglieder des großen britischen Reiches
fühlen, oder ob vielleicht anstatt dessen gerade mit der Bildung ihnen ein bis-
her fehlendes Gefühl nationaler Znsanuneiigchörigkeit erwächst und damit das
Bewußtsein der Kraft, die Fremdherrschaft abschütteln zu können. Bemerkens¬
werth ist es in dieser Beziehung, zu constatiren, daß unter den Eingebornen
in hohem Grade schon das bekannt ist, was wir als öffentliche Meinung
zu bezeichnen pflegen. Ihren Ausdruck findet dieselbe zumal in der ein¬
heimischen Presse, die eine recht beträchtliche Ausdehnung angenommen
hat. Ju dieser Presse herrscht das Urdu vor, ein Mischsprache, welche sich
mehr und mehr in Indien als Verkehrssprache verbreitet. In dieser Sprache
geschriebene feindselige Aeußerungen gehen wie ein Lauffeuer durch das Land
— dazu kommt die besondere Schnelligkeit, mit der sich im Orient heimlich
und öffentlich Gerüchte verbreiten. Ein Beispiel, wie die Verhältnisse in dieser
Beziehung modern und den europäischen entsprechend sind, ist, daß die Hindu-
Bevölkerung am Madras die Bewilligung von Geldmitteln für den Empfang
des Prinzen von Wales ablehnte, „weil sie für die großen Auslagen zur Be-
willkommnung des Herzogs von Edinburg keine entsprechenden Wohlthaten ge¬
nossen habe."
Ein Aufstand erscheint nach dem vorher Gesagten nicht wahrs cheinlich,
solange nicht von Außen her eine Einwirkung auf die Bevölkerung geübt
wird, eine Eventualität, mit der aber jedenfalls gerechnet werden muß.
Den allein durchaus zuverlässigen und leistungsfähigen 62,000 Mann
englischen Truppen stehen 128,000 eingeborne Soldaten, allerdings fast ohne
Artillerie, in diesem Falle vielleicht nicht als Stütze zur Seite, soudern als
Feind gegenüber. Dennoch würde mit Rücksicht auf die Qualität der ein¬
gebornen Truppen dies Verhältniß noch gar nicht so ungünstig sein, wenn
nicht bei einem etwaigen Aufstände, wie wir bald sehen werden, wahrscheinlich
noch mit anderen Factoren zu rechnen sein wird.
Es sind dies Alles Umstünde, die in England seit geraumer Zeit reiflich
erwogen werden, zur Zeit jedoch aus dem Stadium der Berathungen noch
nicht herausgetreten find. Die schwebenden Projecte dürften sein: Ausgleich
und Verschmelzung der Raren-, Kasten- und Religions-Unterschiede, um die
Gefahr des aufkeimenden spezial-nationalen Bewußtseins zu Paralysiren und
Alles dem eiuen Zweck, dem Wohl des Landes dienstbar zu machen, ferner
allmähliche Erlösung der englischen Regimenter aus einem Klima, das sie in
wahrhaft entsetzlicher Weise durch Krankheit und Tod decimirt, und Ersatz der¬
selben dnrch verläßliche und gut geschulte heimische Elemente; zu diesem Zweck
völlige Umformung der gegenwärtigen indischen Armee zunächst durch Zu-
theilung ständiger, vollzähliger und besserer europäischer Offizier-Corps, dem¬
nächst vielleicht, wie schon gesagt, Heranziehung der Mischbevölkerung und
Heranbildung eines leistungsfähigen und zuverlässigen einheimischen Offizier-
Corps. Es sei hier bemerkt, daß der englische Soldat in Indien Z'/z Mal
soviel kostet, als der einheimische.
Zu einer richtigen Beurtheilung des englischen Machtverhältnisses ist es
nöthig, außer dem direct unterworfenen Territorium auch die darin einge¬
schlossenen Staaten unter eingebornen Fürsten in Betracht zu ziehen.
Diese, 148 an der Zahl mit 59 Millionen Einwohnern, nehmen etwa 2/5 d er
Gesammtfläche Indiens ein.
Eingebornen-Staaten^) sind innerhalb sämmtlicher britischer Ver-
waltungsbezirke vorhanden, theils verstreut, theils in großen Komplexen. Ein
solcher Staat ist im Nord-Westen Kaschmir, dann der Staaten-Complex
Radschpntana und daran unmittelbar südlich anschließend Central-In¬
dien.^) Die größten Staaten sind in der Mitte Indiens des Nisams
Reich oder Haidarabad, in der Größe Italiens, und im Süden Maisur,
von der Größe Bayerns. In allen Eingebornen-Staaten befinden sich eng¬
lische politische Agenten, die mehr oder weniger Einfluß auf die Verwal¬
tung ausüben. Ans Grund ihrer Berichte werden in den jährlichen Blau-
büchern den Fürsten geradezu Censuren über ihr Verhalten gegen die Regie¬
rung und ihre Kulturbestrebnngen ertheilt. Das 1876 erschienene Blaubuch
spricht sich in dieser Beziehung sehr günstig aus und constatirt überall Hebung
der geistigen und materiellen Kultur. Einige der Eingebornen-Staaten zahlen
Tribut, andere stellen, wie schon erwähnt, Truppen-Contingente, welche der Re¬
quisition der englischen Regierung Folge leisten müssen, noch andere haben
Land abgetreten. Als Gegenleistung hat England den Schutz dieser
Staaten uach Innen und Außen übernommen. Die englische Regierung
ergreift jede Gelegenheit, selbst die Verwaltung in die Hand zu nehmen.
Ueberall aber sucht sie die Staaten dadurch in ihr Interesse zu ziehen, daß sie
die eingebornen Fürsten zur Betheiligung an Eisenbahn-, Bewässerungs- und
anderen gemeinschaftlichen Anlagen veranlaßt. Der Staat Maisur wird
während der Minderjährigkeit des Fürsten, der unter englischer Aufsicht er¬
zogen wird, von einem otiiot Commission^ regiert und zur Zeit ganz als eng¬
lische Provinz betrachtet. Berar,früherznHaidarabadgehörig, kam wegen Schulden
unter englische Verwaltung. Haidarabad oder des Nisams Reich wird
während der Minderjährigkeit des Nisams allerdings von dem einheimischen
Premier-Minister Sir Salar Jung verwaltet; doch ist Sir Salar Jung,
wie schon bemerkt, ein ganz der englischen Krone ergebener Mann. England
weiß seine Verdienste sehr wohl anzuerkennen — ein äußerst sympathischer Em-
Pfang mit fast fürstlichen Ehrenbezeugungen wurde ihm zu Theil, als er im
letzten Frühjahr England zum ersten Mal besuchte. Der Guikwar von
Baroda wurde im Januar 1875 wegen eines Versuchs, den englischen Re¬
sidenten, Oberst Phayre, zu vergiften, verhaftet und vor Gericht gestellt.
Seine Schuld war juristisch nicht völlig erwiesen, namentlich die eingebornen
Mitglieder des Gerichtshofes sprachen für den Gmkwar, dennoch proclamirte
schon am 23. April desselben Jahres der Vice-König von Indien seine Ab¬
setzung unter folgender Motivirung: „da die Commissäre, welche dem Baroda-
Untersuchnngs-Gericht präsidirten, verschiedener Meinung waren, hat die Re¬
gierung Ihrer Majestät ihre Entscheidung nicht auf den Bericht der Commission
basirt, sondern auf Mulhar Raos notorisch schlechte Führung, seine großartige
Mißregierung und seine Unfähigkeit, die nothwendigen Reformen auszuführen."
Gleich darauf wurde sein Nachfolger ernannt.' Die öffentliche Meinung in
Indien war sehr aufgeregt und schien geneigt, für den Gnikwar Partei zu
nehmen. Dennoch entstand nicht einmal ein localer Aufstand, ein Zeichen,
wie wenigstens zur Zeit auch in den Eingebornen-Staaten weit mehr
die Engländer Herren sind als die eingebornen Fürsten. Die größten der
eingebornen Staaten resp, großen Staaten-Complexe haben, wie bereits er¬
wähnt, besondere Truppen-Contingente unter englischem Commando und
mit einem geringen Cadre englischer Offiziere. Außerdem haben die ein¬
heimischen Fürsten von England ganz unabhängige Truppen, die auf
315,000 Mann aller Waffen mit fast 5300 Geschützen (namentlich Positions-
Geschütze) geschätzt werden, fast das doppelte der Eingebornen-Armee unter
britischen Commando. Organisation und Bewaffnung dieser Truppen ist sehr
mannigfach und von sehr verschiedenem Werth. Zum Theil aber sind sie mit
Hinterladern ausgerüstet; es existiren Gewehr-, Geschütz- und Pulverfabriken
und zahlreiche kleine Forts.^°) Dazu kommt, daß die einheimischen Fürsten
über bedeutende finanzielle Mittel verfügen und angeblich ihnen williger
Steuern gezahlt werden, als der Regierung.
Ist also auch augenblicklich das Verhältniß zu den Eingebornen - Staaten
ein durchaus gutes, so kann dnrch sie doch einem Feinde, der es versteht, sie
in sein Interesse zu verwickeln, ein formidabler Machtzuwachs entstehen. Die
Stärke Englands diesen einheimischen Fürsten und Staaten gegenüber liegt in
der Gemeinsamkeit der Interessen, indem im innigsten Anschluß an England
die größte materielle Wohlfahrt für Fürsten und Land zu finden ist, mehr
aber noch in der Leichtigkeit, diese Staaten im Falle der Noth gegen einander
zu gebrauchen, und in dein Umstände, daß die Einwirkung eines äußeren Fein¬
des wohl einzelne, schwerlich aber alle dieser Staaten zum Aufstande bringen
wird. Der große Geschichtsschreiber Macaulay präeisirt sein Urtheil über die
Machtstellung Englands in Jndien dahin, daß er sagt, als er seinen Fuß auf
indischen Boden gesetzt habe, habe er die Ueberzeugung empfangen, daß die
Herrschaft der Engländer lediglich auf dem Prestige beruhe, ein Volk von
Kriegern zu fein.
Ebensowenig wie England gegen die in sein Territorium eingeschlossenen
Staaten erobernd vorgeht, ebensowenig geschieht dies nach anßen hin.
In der Betrachtung der Beziehungen der indischen Regierung
zu den benachbarten Staaten von Osten anfangend, spricht sich das
letzte Blaubuch günstig über die freundschaftlichen Beziehungen zu Siam und
Burma aus. England gewinnt hier, wie überall, auf friedlichem Wege mehr
und mehr Einfluß und eröffnet sich Handels-Verbindungen.
Im Anfang des Jahres -1875 gelang es dem englischen Minister in
Siam, die entzweiten beiden Könige zu versöhnen, und in den Jahren 1871
— 1872 war es der politische Agent Englands, der es dnrch Vorstellungen
vermochte, den Herrscher von Barma zur Aufgabe thörichter Finanz-Ma߬
regeln zu bewegen, welche sein Land bereits an den Rand des Verderbens
gebracht hatten. Allerdings hat dieser Herrscher jetzt den Kaiser von China
zu seinem Protektor erklärt. Auch das Verhältniß zu den rKuberis chenBergstäm-
menimNordostenundNorden besserte sich, indem England theils Repressalien
übte, theils andere Stämme dazwischen zum Schutz ansiedelte, theils Besatzungen
in befestigte wichtige Punkte legte. Jetzt geht das Streben dahin, von Assum,
der nordöstlichsten englischen Provinz, eiuen Handels weg nach China zu
eröffnen. Im letzten Herbst haben sich durch den Vertrag von Tschifu^)
die Handelsbeziehungen zu China wesentlich günstiger gestaltet, als bisher.
Der Grenz - Verkehr und der Zoll für den Handel zwischen Britisch-Barma
und der chinesischem Provinz Jünnan sind fest geregelt, und neue Häfen wurden
England erschlossen. Von großer Wirkung ans den Abschluß der Verhandlungen our
wohl die Bereitschaft eines Geschwaders und eines Landungs-Corps von angeblich
20,900 Mann in Indien. Mit den benachbarten Bergvölkern desHima-
laya und tibetanischen Stämmen wurden zunächst durch Etablirung
von Märkten in der Nähe der Grenze Handelsbeziehungen angebahnt. Der
Rajcch von BHut an, ein sehr unruhiger Nachbar, gab die freundschaftlichsten
Versicherungen ab. Mit dem nördlich des Himalaya gelegenen Tibet Ver¬
bindungen anzuknüpfen, glückte bis jetzt noch nicht — die eifersüchtige Politik
des oberherrlicher China machte alle Versuche der Annäherung an den Hof
der Lamas vergeblich. Ein im Jahre 1871 dorthin gesandter Brief der eng¬
lischen Regierung kam uneröffnet zurück. Das Blaubuch vom Jahre 1873 be¬
merkt zu dieser schnöden Abweisung ohne jede Empfindlichkeit: „man wird
später eine günstige Gelegenheit ergreifen müssen." Auch mit dem Staate
Nepaul gelang es, obwohl dort ein Resident stationirt ist, noch nicht, Han-
delsv erbindungen anzuknüpfen")
Anders ist das Verhältniß zu dein durch den westlichen Himalaya getrenn¬
ten Nachbarstaat Ost-Turkestan und dessen Herrscher JakubKhan. Dieser
Nachbarschaft wird besondere Aufmerksamkeit zugewandt, da man in England
gewohnt ist, dieses Land als Schutzmauer gegen Rußland anzusehen.
Effeetiv hat jedoch Ost-Turkestan diese Bedeutung für England nicht, wie
auch eine entschiedene Autorität, Mr. Forsyth, im Unterhause entwickelte. Der
Himalaya und die nördlich desselben gelegenen Wüsten bilden eine unüber-
steigliche Grenze zwischen Indien und Ost-Turkestan, nur über den Karako-
rum-Paß und noch zwei andere Pässe führen Straßen, welche jedoch solche
Schwierigkeiten darbieten, daß weder die Russen noch die Mongolen Ost-Tur-
kestans es voraussichtlich je versuchen werden, auf diesem Wege in Indien
einzudringen. Schon 1860 wurden mit Ost-Turkestan Beziehungen angeknüpft,
und England sandte Waffen und Jnstrueteure. 1872 schien sich Jakub Khan
mehr den Russen zu nähern und erlangte auch von thuen die Anerkennung
seiner Unabhängigkeit von China und seiner Herrschaft in ganz Ost-Turkestan.
Dennoch hörten feine Beziehungen zu den Engländern, die ihre Waaren anf
seinen Märkten absetzten und einen fleißigen diplomatischen Verkehr mit dem
Hofe von Kaschgar unterhielten, nicht auf. Vor ewigen Wochen aber ging die
Nachricht durch die Presse, daß Jakub Khan in einem Schreiben feierlich den
türkischen Sultan seiner Ergebenheit versichert habe. Seine Armee, die auf 10
bis 15,000 Mann geschätzt wird, nach europäischer Weise organisirt und nach
englischem Reglement ausgebildet ist, dürfte in Alliance mit England resp, der
Türkei eine nicht zu unterschätzende Macht sein, sowohl wenn es gilt, einer
gegen Afghanistan vordringenden russischen Armee in die Flanke zu fallen, als
wenn es sich um ein Eindringen in russisches Gebiet unter gleichzeitiger Jnsur-
girung Kokaus handelt.^) — Doch bald folgte die Nachricht von einer aus
Kaschgar nach russischem Gebiete abgegangenen Gesandtschaft. Der Begriff einer
ehrlichen Politik ist in Asien eben ein Unding, und fast nie ist der Versicherung
eines asiatischen Fürsten Glauben beizumessen.
Wichtiger noch sind die Nachbaren im Nord Westen und Westen, denn
hier sind die Eingangsthore nach Indien, die Bergpässe, durch die sich,
wie schon bemerkt, alle Einfälle fremder Völker zunächst in die Ebene des
Indus ergossen haben. Die hier benachbarten Länder sind Afghanistan
mit dem tributpflichtigen Badakschan und südlich davon Baludschistan
oder Kelat.
Für die Sicherung dieser Grenze wurde stets besondere Sorge getragen
und zwar direct durch permanente Aufstellung einer beträchtlichen Truppen¬
macht im Jndusthale und in den Paßmündungen, dnrch Anlage strategisch
wichtiger Bahnen und durch continuirliche Ausübung eines politischen Einflusses
auf die Grenzländer. Wie England in früheren Jahre,: hier vorging, ist in
dem geschichtlichen Theile dieser Arbeit gezeigt worden. Der Unterschied der
Situation besteht darin, daß zur Zeit der ostindischen Compagnie Rußlands
Vorgehen vom kaspischen Meere aus gefürchtet und daher eine Einwirkung
auf Persien versucht wurde, daß jetzt aber die russische Grenze in sehr viel
größere Nähe gerückt ist. Doch um der nächsten Stelle von 52 geographischen
Meilen Luftentfernung liegen unübersteigliche Bergrücken des Himalaya zwischen
beiden Ländern. Auch die Entfernung auf der großen Handelsstraße von
Pischawar über Kabul und Chuten nach Samarkand, mit allen durch die Pässe
bedingten Umwegen u. s. w. gemessen, giebt nur ungefähr 140 geographische
Meilen, doch ist auch die über diese Pässe in einer Höhe von 9—12,000 eng¬
lischen Fuß über dem Meeresspiegel führende Straße wohl nicht für eine Armee
geeignet.
Die beiden Straßen, auf denen ein feindlicher Angriff zu
besorgen ist, sind vielmehr die Straße von Taschkend durch Buchara
und die Steppen der Turkmenen über Merw auf Herai und die
Straße vom Kaspischen Meere durch Persien auf Herat. Von
He rat aus ist wieder ein doppeltes Vorgehen möglich, und zwar über
Kabul und den Kahibar-Paß aufPischawar oder über denBholan-
Paß und durch Baludschistan nach dem untern Indus. Es kommt
also den Engländern darauf an, sich die Freundschaft von Afghanistan und
Baludschistan, womöglich auch der andern von diesen Straßen berührten Staaten
zu sichern, resp, dort ihre Herrschaft zu etabliren. 1857 wurde der Emir
vou Kabul, Herrscher von Afghanistan, durch einen Vertrag ver¬
pflichtet, gegen eine jährliche Subvention von 120,000 L. mindestens 18,000
Mann Truppen zum Widerstand gegen die Russen zu halten. Dieser Schutz
schien jedoch nicht zuverlässig, und man beschäftigte sich nun viel mit einem
Project von einem im EinVerständniß mit Rußland zu schaffenden neutralen
Staat, dem sogenannten „Uppsr Oxus 8es,w", der ans Kabul und dem Ge¬
biet des oberen Ann-Daria gebildet werden sollte. In Rußland fand jedoch
dies Project kein Entgegenkommen. Das unaufhaltsame Vorgehen Rußlands,
die Eroberungen in Chiwa, obwohl es England vorher feierlichst versprochen
war, daß man hier Ländererwerb nicht wolle, und schließlich die Annexion
Kvkans im letzten Frühjahr erregten die öffentliche Meinung in England ge¬
waltig und erzeugten eine Art von Panik.
In Kelat gelang es Englaud bereits in deu letzten Jahren, erheblichen
Einfluß zu gewinnen dadurch, daß es Streit schlichtend zwischen dem Herrscher
und seinen Großen auftrat. Auch den Herrscher von Afghanistan, den
Emir von Kabul, bezeichnet das Blaubuch des Jahres 1873 als einen
herzlichen Verbündeten und Freund Englands, wenn ihn auch Rußland in
sein Interesse zu ziehen suche durch Anerkennung seiner Rechte auf Badakschan
und Waldau. — Doch England ist es um größere Sicherheit zu thun, als
asiatische Freundschaft bietet. Streitigkeiten in den Nachbarländern und das
üble Verhalten von Grenzstämmen scheinen Gelegenheit zur Vorschiebung eng¬
lischer Streitkräfte bieten zu wollen. Schon seit dem letzten Frühjahr befindet
sich ein Detachement im Bholan-Paß, um denselben den Karavanen offen zu
halten, ein anderes zum Schutze gegen die Afridis im Kahibar-Paß. Als ein
Schutz für den Handel sind die Sicherheitsmaßregeln ganz unverfänglich, viel¬
leicht aber war es Englaud durchaus uicht unlieb, daß das Benehmen der
Nachbaren Gelegenheit bot, jene wichtigen Pässe mit einer wenn auch vorläufig
nur geringen Streitmacht zu besetzen. Das gute Verhältniß zu dem Emir von
Kelat besteht dabei ungetrübt weiter^). Unklar sind dagegen die Nachrichten
über die Stellung Kabuls'"").
Es fragt sich nun, was für Streitkräfte England auf dem
indisch-central-asiatischen Kr legs-T heater verwenden kann.
Was von den in Indiell stationirten englisch en und eing eb om en
Truppen und denjenigen der einheimischen Fürsten für eine active
Armee disponibel gemacht werden kann, läßt sich nicht feststellen, da die Stim¬
mung im Lande und das Verhalten der eingebornen Fürsten für die Stärke
der Local-Besatzungen maßgebend sein wird. Jedenfalls werden die Engländer
sich alle Mühe geben, die Nachbarstaaten in ihr Interesse zu ziehen und durch
die irregulären Reiterschaaren der Afghanen und Turkmenen den Anmarsch des
Feindes zu erschweren. Aus dem Mutter lande werden nur unter der
Voraussetzung, daß England nicht gleichzeitig auf einem europäischen Kriegs-
schauplatze engagirt ist, Truppen für Indien disponibel zu machen fein. Streng
genommen ist nnr eins der im Falle einer Mobilmachung zu formirenden Corps
in der Stärke von 30,000 Mann, (das I., das in und um Colchester garui-
svnirt), zur Verwendung im Auslande überhaupt befähigt, da es das einzige
ist, das nur aus Linien-Infanterie besteht. Dennoch fehlt auch hier ein Ba¬
taillon; die ganze Divisions-Cavallerie und ein Theil der Cavallerie - Brigade
würden, als aus deu sogenannten Jeomcmry (einer Miliz - Truppe) bestehend,
in Fortfall kommen, und die Munitions - Reserven sind noch garnicht vor¬
handen^). Dazu könnten noch ^ des II. Armee-Corps treten und so eine
Macht von höchstens 50,000 Mann zum auswärtigen Kriege zusammengebracht
werden^). Indessen wird man eine so große Macht schwerlich soweit vom
Mutterlande entfernen. Die Mobilmachung dieser Truppen würde eine
geraume Zeit in Anspruch nehmen, wie der bezüglich der Schnelligkeit mi߬
glückte Versuch der Mobilmachung zweier Corps im letzten Jahre gezeigt hat^°).
Günstiger als die Mobilisirung würde sich der Transport der Truppen ge¬
stalten, dank der großen Kriegs- und Handels - Marine Englands, die mit
Leichtigkeit genügende Transport- und Kriegsschiffe zum Schutz liefern wird,
und Dank den vier Etappen auf dem Wege nach Indien: Gibraltar,
Malta, Suez-Kanal und Aden. Die beiden ersteren sind stark befestigt
und haben starke Besatzungen: Gibraltar von 5 Bataillonen, 7 Batterien
und 3 Genie-Compagnien, Malta vou 5 Liiüeu-Vatailloueu, 7 Batterien, der
maltesischen Miliz und 1 Genie-Compagnie, also in jeder der beiden Besatzungen
etwas über 5000 Mann. Die Armirung Maltas ist neuerdings verstärkt
worden, und die Verprvvicmtirung beider Plätze soll sür ein Jahr ausreichen.
Der Suez-Kanal kann seit dem Ankauf der dem Khedive gehörigen Actien
durch England fast als englisches Eigenthum betrachtet werden. Der Khedive
ist finanziell fo in englischen Händen, daß wohl darauf gerechnet werden kann,
daß seine Truppen diese Etappe für England festhalten werden. Aden ist
englischer Besitz, steht unter dein General-Gouvernement von Indien und hat
eine Besatzung von 1300 Mann aller Waffen, darunter etwa 500 Eingeborne^).
Der Ausschiffung sHafen Bombay, von dem ein zusammenhängendes
Schienennetz sich über ganz Jndien verbreitet, ist befestigt, und zu seinem be¬
sonderen Schutz sind zwei Monitors dauernd stationirt. Wieviel die eng¬
lische Flotte speziell für Indien disponibel machen kann, wird noch mehr
als die Stärke der Landmacht von der Constellation der politischen Verhältnisse
abhängen. Uebrigens wird eine Flotte nach der Lage des Kriegsschauplatzes
schwerlich direct eingreifen können, wohl aber zur Sicherstellung der Transporte
aus dem Mutterlande und zum Schutze der indischen Küsten unentbehrlich sein.
Gewöhnlich befinden sich elf Schiffe in Indien und an der ostafrikanischen
Küste auf Station.
Kommt es andrerseits nicht zu einem Kriege ans dem indischen Kriegs¬
schauplatze, so fragt es sich, was für Streitkräfte Judien für ein
europäisches Kriegstheater zu stellen vermag. Von den auf ein Mi¬
nimum bemessenen europäischen Truppen wird schwerlich mehr als ein ganz
geringer Theil fortgezogen werden, die eingeborenen Truppen wird man dagegen
großer Zahl auswärts verwenden können. Ihre Leistungsfähigkeit wird
noch fraglicher sein, als im eingebornen Lände, und immerhin wäre es zu be¬
rücksichtigen, daß Regimenter mit überwiegend mohamedanischen Ersatz ans
ewein Orient-Kriege leicht Ideen von einer Zusammengehörigkeit der Moha-
Nedaner, gepaart mit größerem Selbstvertrauen heimbringen könnten, welche
weiterer Verbreitung für die englische Herrschaft vielleicht nicht ohne Gefahr
wären. So ist die augenblickliche Machtstellung Englands in Indien. Blicken
wir zurück, wie England diese Stellung erwarb, so ergiebt sich ein merkwürdiger
Gegensatz gegenüber dem Vorschreiten Rußlands in Asien. Es
gesagt worden, daß gleichsam ein Verhängniß Rußland von Eroberung
Eroberung vorwärts getrieben habe, daß ihm kein Stillstand im Vor¬
wärtsschreiten vergönnt gewesen sei, wenn es seine Grenzen sichern wollte.
Kein zwingendes Motiv, kein Bedürfniß, die eigenen Grenzen zu schützen war
es, wenn England im fernen Indien Besitzungen erwarb und sie erweiterte.
Lediglich der Handel war es vielmehr, der England seine Bahnen vorzcichnete;
so war es auch zuerst nicht die Krone, sondern eine kaufmännische Ge¬
sellschaft, welche von Indien Besitz ergriff. Auch als Indien später Kron-
land wurde, waren es hauptsächlich merkantile Beziehungen, welche
zu einer Vergrößerung der Macht führten. Wenn die ersten Boten des
weißen Czaren die Kasaken sind, welche die Laudesgrenzeu weit in ein
benachbartes unruhiges Gebiet vorschieben, wenn diesen dann zunächst ein Corps
von Topographen, Verwaltungsbeamten und Besatzungstruppen folgt, welche
das neue Land vermessen, in geregelte Verwaltung nehmen und militärisch
besetzen, ohne daß zunächst irgend welche directen oder indirecten Einkünfte dein
Reich erwachsen — so sind es in England Kaufleute, welche günstige
Handelsverbindungen mit den Nachbarländern erspähen. Bald folgt ein po¬
litischer Agent, der Handelsverträge abschließt und allmählich Einfluß auf
alle Regierungsmaßregeln zu gewinnen sucht. Bald findet sich dann auch ein
willkommener Vorwand, die Zügel der Regierung straffer in die Hand zu
nehmen, indem/ angeblich, ohne die Souveränität des Fürsten anzutasten, der
diplomatische Agent in einen Verwaltnngs -B cantem verwandelt
wird und als etres ecimmiKsionsr das Land im englischen Interesse regiert.
So waren es ganz verschiedene Interessen, welche die beiden
Mächte zur Vergrößerung ihres Gebiets in Asien führten, aber
beide brachten den unterworfene n Ländern größere .Kultur, und
durchaus nicht undenkbar ist ein friedliches Bestehen beider Mächte
neben ein and er. Ein Krieg zwischen Rußland und England auf europäischem
Schauplatze wird aber schwerlich von einem Zusammenstoß auf asiatischem
Boden trennbar sein und umgekehrt.
Der in Heft 43, 1876, dieser Zeitschrift veröffentlichte Aufsatz über den Mi-
nisterwechsel in Baden wurde von der Tagespresse mehrfach besprochen.
Wir haben durchaus nicht die Absicht, mit den betreffenden Erörterungen uns
eingehend anseinnnderzusetzen. Soweit dieselben unsere Darlegung bezüglich der
tieferen Ursachen des Ministerwechsels und die aus solcher Darlegung hin¬
sichtlich des ferneren Ganges der badischen Politik sich ergebenden Schlüsse
mit Gründen bekämpften, die z. B. dein Hinweis auf die auch für die Zukunft
unbedingte Gewähr bietende Vergangenheit des Großherzogs Friedrich ent¬
stammen, so fallen diese Gründe für uns nicht sehr schwer in die Wagschale.
Wir verwahren uns gegen die von der „Allg. Ztg." beliebte Deutung unserer
betreffenden Ausführung, als hätten wir den Fürsten des „Wankelmuths" be¬
schuldigt. Habe« wir doch ausdrücklich erklärt, daß wir an dem aufrichtigen
Willen des Großherzogs, die bisherige Regieruugspolitik sowohl in Betreff der
inneren Angelegenheiten, als in Bezug auf den nationalen Gedanken anch
fernerhin maßgebend sein zu lassen, nicht im mindesten zweifeln. Für uns
hätte es der feierlichen Versicherung nicht bedurft, die der Großherzog am 31.
Oktober v. I. beim Schlußempfang der Abgeordneten zur evangelischen General¬
synode vor den Vertretern der evangelischen Landeskirche aussprach, „daß keine
Aenderung eintreten werde in der Richtung, die wir — auf dem staatlichen
Gebiet — seit langen Jahren eingehalten haben." „Ich versichere hier das
umso lieber" — so führte der fürstliche Redner aus — „als ich weiß, daß keine
Sehnsucht bestand, eine andere Richtung zu verfolgen weder in den Angelegen¬
heiten unseres Landes, noch in denen, die sich ans das Reich beziehen." Auch
dieses Wort ist aufrichtig gesprochn:, und es wird von uns nicht gedeutet und
nicht gebeutelt. Der Wille steht fest. Aber ist mit dein Wollen auch in jedem
einzelnen Falle schou das Vollbringen gegeben? Wir haben in unserem vorigen
Aufsatz davon geredet, daß die vordem bewiesene opferfreudige Hingebung an
den nationalen Gedanken eiuer gewissen Zurückhaltung gewichen sei, daß der
„Kulturkampf" mit der unter Jolly energisch durchgeführten Verwirklichung
freisinnigster Principien nicht mehr genehm sei, und das Alles in erster Linie
bei dem „Hof" im weiteren Sinne des Wortes, sodann aber anch mehr oder
minder bei dem Fürsten selbst, der sich den betreffenden Einflüssen nicht ganz
entziehen konnte. Die „Allg. Ztg." setzt uns die Pistole ans die Brust und
verlangt Beweise sür solche Behauptung. Nun gibt es aber bekanntlich viele
Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich mathematisch nicht beweisen lassen,
aber dennoch faktisch vorhanden sind. Solch ein Ding etwa mochte hier vor¬
liegen, obwohl, wenn es absolut sein müßte, eine oder die andere Beweisführung
angetreten werden konnte — u. A. nöthigenfalls anch über Berlin — die nicht
zu durchkreuzen wäre. Jedoch genug hiervon. Der Wille des Fürsten steht
fest. Aber jene Stimmung bei ,',Hof" ist damit nicht aus der Welt geschafft,
aus hohen und höchstem, wie aus niedern und niedersten Kreisen der Bevölke¬
rung heraus wird ihr stete Nahrung zugeführt. Nun denn! Ein klein wenig
von dem, was man psychologischen Scharfblick nennt, und sodann ein „Collegium
Lvgieum" — und siehe da, unsere Aufstellung bezüglich der tiefsten Ursache
des Miuisterwechsels, als auch bezüglich der politischen Signatur der nächsten
Zukunft unseres badischen Staatslebens ist uns nicht im mindesten wankend
gemacht! Man hat uns ans die Mannheimer Banketreden verwiesen. Dieselben
wurden am 14. Oktober v. I. gelegentlich der Eröffnungsfeier des dortigen
neuen Personenbahnhofs von dein Herrn Staatsminister Turban und dem
Präsidenten des Ministernms d. I.*), Herrn Stoss er, gehalten, als eben unser
erster Aufsatz bereits in der Druckerei lag. Der Herr Staatsminister hat dort
constatirt, daß die Stellung des vorigen Ministeriums schon im Verlaufe des
letzten Landtags erschüttert war, und daß die neue Regierung einstehen werde
„für eine feste Ordnung, ohne welche die höchsten Gitter des menschlichen Da¬
seins ihres Schutzes und Schirmes entbehren; wir werden einstehen für be¬
sonnenen Fortschritt und weiter arbeiten an der Forderung der geistigen, sittlich-
religiösen und wirthschaftlichen Wohlfahrt unseres Landes; wir werden aber
auch eingedenk sein, daß diese Wohlfahrt des Landes unzertrennlich ist von
der Wohlfahrt des Reiches und werden an Kaiser und Reich festhalten in
aufrichtiger Anhänglichkeit und Treue." Herr Miuisterpräsident Stösser
führte u. A. aus, daß er auf dem Gebiet des inneren Staatslebens nicht den
Frieden um jeden Preis wolle, „namentlich nicht einen faulen Frieden, der
nur erkauft werden könne auf Kosten der Autorität des Staates und des Ge¬
setzes." Er scheue den Krieg nicht, wenn er nothwendig sei, aber er führe
denselben nicht aus Neigung und nicht etwa als „Blitzableiter." Abgesehen
von der letzteren Aeußerung, die als ein Hieb gegen den eben zurückgetretenen
Minister wohl besser nicht gefallen wäre, sind all diese Reden ganz recht und
gut. Ungefähr dasselbe sagte Jolly auch, uur mit ein bischen anderen Worten.
Uns hat es nicht etwa gewundert, daß Me Reden gesprochen wurden, als
vielmehr, daß die Herren von der Mannheimer Demokratie für gut befanden,
sie mit einem wahren Hagel von Beifalls'Salven zu überschütten. National
und freisinnig wird die Richtung unserer Staatsregierung bleiben. Daß aber
die entschiedene Färbung, welche dieselbe in beiden Beziehungen bisher getragen
hat, beibehalten werde, können wir aus den im vorigen Aufsatz dargelegten
Gründen Alast annehmen'. Wird die Zukunft lehren, daß wir falsch geschlossen
haben, so werden wir hierüber durchaus nicht ungehalten sein. Wir wcirteü
ab, was die Zeit bringt. Und weil wir abwarten, so wollen wir anch weitere
Betrachtungen unterlassen über einige von den Deutsch-Conservativen bereits
lebhaft begrüßte Aeußerungen, die der Herr Staatsminister in einer Rede bei
dem zu Ehren des neugewnhlten Karlsruher Reichstagsabgeordneten veran¬
stalteten Banket kürzlich gethan hat. „Die Regierung kaun nicht Partei sein",
hat der Redner erklärt, und den versammelten natioualliberalen Wählern hat
er zugerufen: „möge es uns vergönnt sein, stets mit Ihnen zu gehen, und
mögen Sie uns anch ferner treu zur Seite stehen, denn wir stimmen in
den meisten Grundsätzen mit Ihrer Partei überein."
Was wir im vorigen Aufsatz als unsere Ansicht bezüglich der politischen
Signatur der nächsten Zukunft unseres Staatslebens und bezüglich eiues be¬
reits im Hintergrund auftauchenden neuesten Ministeriums gesagt haben, war
nicht eine „Prophezeiung im Bibelton", sondern eine aus bestimmt formulirten
Vordersätzen gezogene Schlußfolgerung, der es wohl keinen Eintrag thun dürfte,
daß wir mit Anlehnung an ein Bibelcitat (zu lesen: Apostelgesch. 5, 9.) ge¬
sprochen haben. In Folge verschiedener Vorgänge bei Heu eben stattgehabten
Reichstagswahleu, worüber wir unten Näheres mittheilen werden, dürfte der
vorausgewvrfene Schatten des neuesten Ministeriums wieder etwas verblaßt
sein. Ms wir schrieben, war er es nicht. Aber die „politische Discussion"
des Correspo.übenden der „Mg. Ztg." wollte an diesem Punkt „abprallen" und
— ist abgeprallt.
Schließlich noch ein Zweifaches. Die „Allg. Zeitung" und ein vielleicht
aus derselben Feder, offenbar aus gleicher Quelle stammender Aufsatz der
„Köln. Ztg." widersprechen der „Vermuthung", als bestehe zwischen dem Mi¬
nisterwechsel und der spät erfolgten Publication der Schulgesetznovelle ein
innerer Zusammenhang. Der Umstand, daß wir einleitend ausdrücklich erklärt
hatten, wie wir aus Einfälle, die etwa zur Erklärung jenes Ereignisses in An¬
spruch genommen werden wollen, wenig Gewicht legen; die Thatsache sodann,
daß wir die in Rede stehende Aufstellung selbst als „Vermuthung" bezeichneten,
lassen uus diese nachdrücklich abgegebene Erklärung beider Blätter mit großem
Gleichmuth registriren. Auch die Berichtigung, daß nicht Jolly und v. Frey¬
dorf für, Turban und Ellstätter gegen das Reichseisenbahnsystem ge-
Wesen seien, daß vielmehr gerade Ellstätter sich in dem vorigen Ministerium
am wenigsten gegen dasselbe abgeneigt gezeigt habe, sei hiermit verzeichnet.
Und damit wollen wir den Ministerwechsel ruhen lassen. —
Die nach langen Verhandlungen mit der Curie kürzlich erfolgte Besetzung
der Präsidentenstelle des katholischen Oberstiftungsraths und im Zu¬
sammenhang damit einige Ernennungen, beziehungsweise Charakterisirungen in
dieser Behörde haben zu manchen Erörterungen Veranlassung gegeben. Unseres
Trachtens war mit der im Jahr 1861 erfolgten Creirung des Oberstiftungs¬
raths kein glücklicher Griff gethan. Der Oberstiftnngsrath ist eine staatlich¬
kirchliche Behörde, eingesetzt zur Verwaltung des Jntercalarfvnds und der
übrigen allgemeinen kirchlichen Fonds, sowie zur Führung der Aufsicht über
die Verwaltung der kirchlichen Orts- und Distrietsstiftnngen, der besetzten und
erledigten Pfründen. Er hat aus Katholiken zu bestehen, die zur Hälfte von
der Grvßherzoglichen Regierung, zur Hülste von dem Erzbischof gewählt und
ernannt werden und sämmtlich beiden Theilen genehm sein müssen. Zum
Vorsteher des Kollegiums ist einerseits die Regierung, anderseits das erzbischöf¬
liche Ordinariat solche Männer vorzuschlagen befugt, welche von dem einen
oder andern Theil zur Führung dieses Amtes für geeignet erachtet worden.
Derjenige führt das Amt, der sowohl von dem Erzbischof als von der
Staatsregierung in gegenseitigem EinVerständniß gewählt und ernannt ist.
„Wenn ein mit Staatsdienereigenschaft angestelltes Mitglied oder ein Beamter
des Oberstiftungsraths dem erzbischöflichen Ordinariat oder wenn ein geistliches
Mitglied dieser Stelle der Großherzoglichen Regierung gegründeten Anlaß zur
Unzufriedenheit geben sollte, so wird der betreffende Staatsdiener durch die
Groß herzogliche Regierung, der betreffende Geistliche durch das erzbischöfliche
Ordinariat aus dem Oberstiftungsrath entfernt werden." Daß solche Bestim¬
mungen in den meisten Fällen die weitläufigsten Verhandlungen nöthig machen
und bei dem gegenwärtig zwischen Staat und Kirche bestehenden Verhältniß
oft für Besetzung der Stellen die größten Schwierigkeiten bereiten, ist klar.
Man will in den kürzlich stattgehabten Ernennungen die Spuren eines „Aus¬
gleiches" finden. Wir glauben nicht, daß hier auf Seiten des Staats ein
„Ausgleich" vorliegt in dem Sinn, daß der staatlichen Autorität irgend etwas
vergeben worden wäre. Insbesondere dürfte der neu ernannte Präsident volle
Gewähr bieten, daß er in seinem Amte die Rechte des Staates achtet und
wahrt. Ob die betreffs der gedachten Besetzung mit der Freiburger Curie ge¬
führten Verhandlungen sich auch auf andere Punkte erstreckt haben bezw. er¬
strecken, wie mehrfach behauptet wird, ist nicht klar gestellt. Man spricht von
Verhandlungen, die im Gange seien über die Besetzung des erzbischöflichen
Stuhles, und man will Nüssen, daß insbesondere die deutsche Kaiserin sich leb¬
haft bemühe, bezüglich dieser Frage einen „Ausgleich" herbeizuführen. Man
redet ferner davon, daß eine Vereinbarung bevorstehe über das staatliche
Examen der jungen Theologen, jenes Examen — über die allgemeine wissen¬
schaftliche Vorbildung —, das der Staat bekanntlich fordert, während die Curie
die Ablegung desselben verbietet, sodaß in Folge dieser Auflehnung gegen das Ge¬
setz die jungen Theologen die Priesterweihe nicht erlangen können und die
seelsorgerlichem Kräfte der Kirche von Tag zu Tag schwinden. Abgesehen da-
von, daß die betreffs dieses Punktes geltende gesetzliche Bestimmung so klar
und bestimmt gefaßt ist, daß eine Vereinbarung in dem Sinne, daß der Staat
seine Forderung reducire, kaum möglich ist, so ist bis jetzt durchaus kein that¬
sächlicher Anhaltspunkt gegeben, welcher zu der Annahme berechtigte, daß die
Regierung nachgebend entgegenkommen wolle. In der That wäre auch ein
Nachgeben gerade in diesem Punkt das Zeichen einer absolut verhängnißvollen
Schwäche und müßte sich in einer consequent weitergehenden Schädigung der
Staatsautorität empfindlichst rächen.*)
Bei den Reichs tags Wahlen am 10. Januar wurden für die national¬
liberalen Candidaten 121,942 Stimmen abgegeben, für die Ultramontanen
K7,385 Stimmen, für die Deutscheouservativen 18,618 Stimmen, für fort¬
schrittliche und demokratische Candidaten 4037 Stimmen, für Sozialdemokraten
3593 Stimmen, endlich noch 126 zersplitterte Stimmen. Die zwei nachgefolg-
ter Stichwahlen haben das Zahlenverhältniß auf Kosten der Sozialdemokraten
zu Gunsten der Nationalliberalm, Ultramontanen und Deutscheonservativen
unbedentend verändert. Gewählt sind 11 Nationalliberale, 1 Deutscheonser-
vativer, 2 Ultramontane. Der Besitzstand der Nationalliberaleu und Ultra¬
montanen ist der gleiche geblieben, wie auf dem vorigen Reichstag, Prinz
Wilhelm, der deutschen Reichspartei angehörig, hatte ans eine Kandidatur ver¬
zichtet, an seine Stelle, aber in einem andern Wahlkreis, ist ein Deutschcon-
servativer getreten. Der Wahlkampf war heftig. Alle reichsfeindlichen, reak¬
tionären und irgendwie unzufriedenen Elemente hatten sich geeint, um den Na¬
tionalliberalen den Krieg bis aufs Messer zu erklären. Der Compromiß im
Reichsjustizgesetz wurde fast zu Tode gehetzt, die ultramontane und demokratische
Presse versicherte Tag sür Tag, daß die Nationalliberalen sich um allen Credit
gebracht Hütten. Dazu kam, daß die Deutscheonservativen dem Volk vorde-
mvnstrirten, wie einzig der Liberalismus an allem Unheil der Zeit schuld sei,
insbesondere auch an der wirthschaftlichen Kalamität. Die bekannten geistlichen
Agitationsmittel wurden reichlichst zur Anwendung gebracht. Und siehe da!
das Endergebniß der Wahlschlacht: der Besitzstand der nativnalliberalen Partei
ist unverändert. Wir gestehen, daß wir in Anbetracht der großen Anstrengungen,
welche gegnerischerseits gemacht wurden, und im Hinblick auf einen gewissen
conservativen Zug, der unter dem Druck der mißlichen wirthschaftlichen Ver¬
hältnisse, wie nicht geleugnet werden kann, sich da und dort geltend macht,
dieses Resultat nicht erwartet hatten. Der gesunde Sinn des Volkes hat
seinen Willen wieder einmal klar dokumentirt. In zwei Wahlkreisen waren
Stichwahlen nöthig geworden. Die eine derselben (Freiburg) fiel zu unseren
Gunsten aus, indem der nationalliberale Candidat mit 9 Stimmen über den
ultramontanen siegte, in der anderen (Pforzheim) ist Jolly mit 8714 Stim¬
men gegen den deutschconservativen Candidaten (10,560 Stimmen) unterlegen.
Wenn etwas unsere Freude an dem Gesammtergebniß trüben mag, so ist es
der Umstand, daß Jolly kein Mandat erlangt hat. Der siegreiche Gegen¬
kandidat, Holzhündler Katz von Gernsbcich, ist ein braver Bürger, Pietist vom
reinsten Wasser, im übrigen ein dunkler Ehrenmann, der insbesondere politische
Fähigkeit noch nirgend dokumentirt hat. Gleich für den ersten Wahlgang
hatten die Ultramontanen auf eine eigene Kandidatur verzichtet und den Herrn
Katz acceptirt auf dessen Versprechen hin, daß er für Revision der Maigesetze
eintreten werde. Nachdem in Folge der Haltung der Sozialdemokraten und
einer querköpfigen sogenannten Fortschrittspartei Stichwahl nöthig geworden, ergab
sich das interessante Factum, daß Pietisten, Ultramontane, Fortschrittler und
— Sozialdemokraten, deren Bekämpfung bekanntlich zu einem der Hauptpunkte
des deutschconservativen Programms gehört, sich für Katz gegen Jolly einem.
Da konnte der Sieg nicht ausbleiben. Lächerlich ist's, wenn die demokratische
Presse in diesem Unterliegen Jollys eine Verurtheilung der von ihm befolgten
Politik durch das „Volk" erkennen will. Das „Volk" hat hier nicht gesprochen,
sondern alle reaktionären und reichsfeindlichen Elemente im Wahlkreis hatten
sich verbündet, um den von ihnen wegen seiner hohen Verdienste um die deutsche
und liberale Sache bestgehaßten Mann zu verdrängen. Ha.veant sibi! Herr
Katz wird in Berlin nicht gefährlich werden. Eigenthümlich aber muß es ihm
zu Muthe sein, wenn er sich dort als Vertreter der Deutschconservativen betrach¬
ten soll, während er doch nicht der Handvoll Pietisten, die sich für ihn begeister¬
ten, sondern den Ultramontanen und Sozialdemokraten den Neichstagssitz zu
verdanken hat. Nächst dieser Wahl hat noch die im 10. Wahlkreis (Karls-
ruhe-Bruchsal) dadurch ein besonderes Interesse erlangt, daß die Ultramon¬
tanen sich mit den Deutschconservativen für den Candidaten dieser letzteren
gegen den nationalliberalen Candidaten engagirten, wiewohl erfolglos (8252
Stimmen gegen 7452).
Gelegentlich der Reichstagswahl ist die am 15. November v. I. gegründete
deutschconfervative Partei zum erstenmal an die größere Öffentlichkeit
getreten. Das Programm der Partei ist bekannt. Es hat sich auf dem Boden
desselben in unserem Baden eine eigenthümlich gemischte, aber durch innige
Solidarität der Interessen geeinte Gesellschaft zusammengefunden. Die Cadres
der Partei — wir wollen, da die Herren sofort als Kriegführende auftraten,
militärische Bezeichnungen anwenden — werden gebildet durch die orthodoxen
und pietistischen Geistlichen der evangelischen Kirche, die Füllung geschieht durch
den dem geistlichen Heerruf Folge leistenden strenggläubigen Theil der evan-
gelischen Bevölkerung, zumeist der Landbevölkerung, insbesondere durch die
vorwiegend ans der Haardt und in der Gegend von Pforzheim zahlreichst ver¬
breiteten pietistischen Conventikel, an denen man das bisher Ungewohnte schauen
konnte, daß sie aus der dumpfen Stille ihrer Gebetstüblein heraustraten auf
die Arena des politischen Wahlkampfes. Flcmkirt wird die Truppe von mi߬
vergnügten, sich verkannt wähnenden Herren der hohen Bureaukratie, von Par-
tikularisten, mißstimmten und unzufriedenen Leuten jeglichen Standes, die, durch
mancherlei Rücksichten und Bedenken abgehalten, sich nicht unter die Ultramon¬
tanen einreihen mögen, nicht einmal als Hospitanten, nun aber gerne die Ge¬
legenheit ergreifen, unter dem Banner der Deutscheonservativen ein bischen
allergetreuste Opposition machen zu können. In huldvoller Herablassung,
hoffend, daß vielleicht ein kleiner Rest alter Feudalherrlichkeit wieder aufleben
könne, sind mehrere Herren des hohen Adels s, Is, suiw des Regiments ge¬
treten, während die persönliche Führung der Cohorte dem klugen, vielgewandten
Pfarrer von Wilferdingen, Oberkirchenrath Dr. Mühlh außer, zufiel. Die
Partei läßt in vollen Tönen in das Land hinausschmettern, daß sie dem Volk
das währe Heil bringe. Und sie weiß so schön zu reden, diese Partei, von
ihrer Reichsfreundlichkeit, in welcher sie „die für unser Vaterland gewonnene
Einheit auf dem Boden der Reichsverfassung in nationalem Sinn stärken und
ausbauen" will, ohne daß „die berechtigte Selbständigkeit und Eigenart der
deutschen Staaten, Provinzen und Stämme" alterirt wird. Auch sind die
Deutscheonservativen ja nicht reaktionär, denn sie wollen eine „Weiterbildung
unseres öffentlichen und privaten Rechtes". Und wie regierungsfreundlich sind
die Herren, indem sie ganz besonderes Gewicht legen „auf die monarchischen
Grundlagen unseres Staatslebens und eine kräftige obrigkeitliche Gewalt"!
Auch „bürgerliche Freiheit für Alle" wollen sie, Selbstverwaltung sogar. Aber
die confessionelle Volksschule muß erhalten werden, und der Kulturkampf, der
ein Unglück ist „für Reich und Volk", soll durch eine Revision der betreffenden
Gesetze zu Ende kommen. Dem Landmann wird vertraulich die Hand gedrückt,
und dem Gewerbetreibenden wird Beseitigung der wirthschaftlichen Krisis zu¬
gesagt. Der Sozialismus endlich wird absolut unschädlich gemacht (M. nach¬
dem man noch ein und das anderem«! sich seiner Unterstützung bei den Wahlen
erfreut hat!). Ist's nicht ein gar lieblich Lied, das hier dem Volk in die Ohren
summt? Aber wie harthörig unser Volk ist! Das Lied wollte ihm gar nicht
gefallen. Und es hat sich sogar die Freiheit genommen, zu behaupten, unsere
Deutscheonservativen seien nur der nach Süddeutschland verpflanzte Ableger
der im Norden schon längst aus der Reihe der politischen Faktoren gestrichenen
feudalen Kreuzzeitungspartei. Wahrlich! Die fünfziger Jahre sind noch zu
gut im Andenken der jetzt lebenden Generation, als daß es einer hochkirchlichen
Clique gelingen könnte, die Sehnsucht nach jener Zeit in weiteren Kreisen, als
etwa in denen des engherzigsten Conventikel-Christenthums zu wecken. Und
was die plötzlich so wunderbar volksfreundlich auftretenden Herren des hohen
Adels betrifft, so wissen unsere Bauern, daß die Freiheit von Frohnden und
Zehnten ihnen nicht dnrch die Väter dieser Herren errungen wurde, sondern
durch den „Liberalisinus." Und neu aufgetaucht ist in Volkes Mund der
alte Spruch:
Wo der Junker ist mit dem Pfaffen im Bund
Da müssen die Bauern gehen zu Grund!
In 5 Wahlkreisen hatte die deutscheonservative Partei eigene Candidaten
aufgestellt. Die Erkorenen waren: ein Fabrikant, ein Holzhändler, drei Frei¬
herren. Wirklich politisch leistungsfähig ist unter diesen 5 nur einer, Staats¬
anwalt v. Marsch all in Mannheim, Mitglied der ersten Kammer. Im
Ganzen mögen — die Stichwahlen hinzugerechuet — etwa 20,000 Stimmen
für die 5 Kandidaten abgegeben worden sein. Der Sieg ist, wie bereits oben
erwähnt, nur einem zugefallen. Trotz der eifrigstell Agitation eines Theils
unserer orthodox pietistischen Geistlichkeit — dieselben haben ganz nach der
gleich widerwärtigen Methode ihre religiösen Kampfesmittel zur Anwendung
gebracht, wie dies feit Jahren die Priester der römischen Kirche thun — war
ein größerer Erfolg nicht zu erzielen. Und rechnet man von jenen 20,00t)
Stimmen noch die darin steckenden Stimmen der Ultramontanen und der So¬
zialdemokraten ab, so zeigt sich ein Erfolg von so minimer Natur, daß man
über die deutscheonservative Partei füglich mit rcifchen Schritten zur Tages¬
ordnung schreiten kann.
Der Kandidat, auf welchen die Partei ihre höchsten Hoffnungen fetzte,
Freiherr von Marschall, ist im Wahlkcunpf unterlegen. Es war vergeblich
Mühen, daß er, der Junker ovinus it taut, einige Abende der Mannheimer
Ressource opferte, um in den Dorfschenken der Haardt und in der „Herberge
zur Heimath" in Karlsruhe dem gläubigen Publikum vorzudemonstriren, wie
der Liberalismus das Volk ins Unglück gestürzt habe, und wie uur in dem
deutscheonservativen Programm das rettende Lebenselixir enthalten sei. Es
hat nichts gefruchtet, daß, als in die von ihm zu Graben auf der Haardt ab¬
gehaltene Wahlversammlung hinein die Abendglocke tönte, der innerlich nichts
weniger als pietistisch gerichtete Reichstagseandidat mit den anwesenden pie¬
tistischen Pfarrern und Landleuten, denen es Ernst sein mochte, die Hände zum
Gebet faltete — laßt unseren Herrgott aus dem Spiel! Es war umsonst, daß
der jugendlich strebsame Freiherr und Candidat der Zukunft für den Posten
des badischen Ministerpräsidenten sich in seinen Wahlreden so geschickt aufzu-
drücken wußte, daß die Ultramontanen mit wahrer Begeisterung geschlossen für
ihn stimmten. Der Reichstagssitz wurde nicht erlangt, und — die Chancen
für den Ministerpräsidentenposten haben sich in Folge all des Vorgefallenen
wohl auch nicht günstiger gestaltet.
Von beiden Seiten wurde während des Winters von 1828 zu 1829 eifrig
gerüstet. Der Kaiser Nikolaus brachte das gegen die Türken bestimmte Heer
auf 160,000 Mann, vermehrte die Cavallerie und Artillerie beträchtlich, stellte
an die Spitze der Truppen den geschickten General Diebitsch und verzichtete,
um dessen Dispositionen nicht zu stören, auf persönliche Betheiligung am Feld¬
zuge. Von großer Bedeutung war endlich, daß die Operationen der Russen
diesmal gleich Anfangs durch ihre flotte unterstützt werden konnten. Daß Jzzet
Pascha, der als nunmehriger Großwesir an der Spitze der türkischen Krieg¬
führung stand und sein Hauptquartier zu Altos hatte, die hierdurch bewirkte
Veränderung der Lage nicht erkannte, war verhängnißvoll. Ueberzeugt, daß der
Angriff sich wieder aus die Balkanpüsse richten werde, nahm Jzzet seine Stellung
so, daß der Balkan mit Altos zur Rechten und Schumla zur Linken seine
Hauptvertheidigungslinie war und die Donaufestungen Widdin, Rustschnk und
Silistria seine Vorhut bildeten, während er in der Hauptstadt des Reiches seiue
Reserve hatte. Die Küste blieb unvertheidigt, und so geschah es, daß in den
ersten Tagen des Februar schon eine russische Flotte in den südlich vom Bal¬
kan gelegenen Meerbusen von Burgas einlaufen und sich der den Eingang in
diesen schützenden Festungen Sisebolu und Achjolu bemächtigen konnte, womit
den Russen die Möglichkeit gegeben war, im Rücken der türkischen Armee auf¬
zutreten und sie in der Flanke zu fassen. Daraufhin erfolgte die Absetzung
Jzzets, an dessen Stelle Reschid Pascha trat, der sich im Kriege mit den
Griechen ausgezeichnet hatte. Ein Versuch Hussein Paschas, Sisebolu wieder
zu erobern, wurde von den Russen blutig zurückgewiesen.
Um die Mitte des April verließ die russische Armee ihre Winterquartiere,
ging bei Hirsowa über die Donau und sammelte sich im Laufe des Monats
in einem bei Tschernawoda aufgeschlagenen Lager, wo man dann die Belage¬
rung Silistrias vorbereitete. Am 13. Mai brach Diebitsch mit einem Theile
des Heeres nach dieser Festung auf, und am 17. langte er nach einem be¬
schwerlichen Marsche über die überschwemmte Uferebene eine halbe Meile östlich
von derselben an. Am nächsten Morgen erfolgte nach Vertreibung der Türken
aus einer Position, die sie vor der Stadt eingenommen hatten, die Einschließung
der letzteren.
Mittlerweile hatte der neue türkische Großwesir Reschid Pascha in Schumla
ein Heer von 45,000 regulären Soldaten gesammelt, und so war es ihm möglich,
einen Versuch zur Unterbrechung der Verbindung zu machen, welche die Russen
zwischen Warna und dem Lager von Tschernawoda hergestellt hatten, um sich
die in jenem Seehafen anlangenden Zufuhren zu sichern. Diese Verbindungs¬
linie ging über die Orte Eski Arnautlar und Prawadi, und das erstgenannte
Städtchen war von 3000 Russen unter dem General Roth besetzt. Am 25.
Mai wurden diese von Reschid mit 12,000 Mann angegriffen und nach hart¬
näckiger Gegenwehr, obwohl sie inzwischen von Prawadi Verstärkung erhalten
hatten, bis eine Strecke über diesen Ort hinaus zurückgedrängt, worauf letzterer
von den Türken eingeschlossen wurde. Unter diesen Umständen war die Be¬
lagerung Silistrias nicht mehr fortzusetzen; denn mit jener Operation hatte das
mobile Corps der Türken eine Stellung im Rücken der russischen Hauptarmee
eingenommen. Diebitsch vertagte somit den Angriff auf Silistria und wendete
sich mit dem größten Theile seiner Streitkräfte gegen die bei Prawadi stehenden
Truppen Reschids, dem er sich bald überlegen zeigte. Durch verschiedene Ma¬
növer brachte er dem Großwesir die Meinung bei, daß er eine Überrumpe¬
lung Schnmlas im Auge habe. Dann, als Reschid eine Bewegung zur Siche¬
rung dieser Balkansestnng gemacht, vereinigte sich Diebitsch mit dem nach Süd¬
osten zurückgegangenen Rothfeder Corps. Endlich suchte er nun auf dem Wege
von Prawadi nach Schumla in den Rücken Reschids zu gelangen, damit er
ihn ohne gesicherte Rückzugslinie zu einer Schlacht nöthigen könne. Reschid
hielt, über die Bewegungen seiner Gegner schlecht unterrichtet, die von Diebitsch
geführten Truppen nicht für die Hauptarmee, sondern nur für die Division des
Generals Roth und wendete sich von Prawadi rückwärts den Pässen von
Kulektsche zu, wo er diesen vernichten zu können hoffte. Hier aber sah er den
Feind feine gesammten Streitkräfte entwickeln und erkannte, daß er selbst in
größter Gefahr sei, vernichtet zu werden. Er ließ sich indeß hierdurch nicht
verblüffen, sondern bildete ruhig seine Schlachtordnung, worauf die Türken in
dichten Quarks, unterstützt von Reiterei und zahlreichen Geschützen, zum An¬
griffe vorgingen. Es entspann sich eine blutige Schlacht, die geraume Zeit
unentschieden blieb. Endlich erkannte der Führer der Türken, daß er bei der
Uebermacht der Russen zuletzt unterliegen müsse, und um dein rechtzeitig vor¬
zubeugen, gab er Befehl zum Rückzug nach einen: Walde in der Nähe des
Dorfes Marasch, wo er seine gelichteten Colonnen wieder ordnen konnte.
Indeß die Russen folgten ihm auf dem Fuße, und infolge ihres raschen Nach-
drüngens und des Umstandes, daß inmitten der Türken ein Munitionskarren
Feuer fing und aufflog, artete der Rückzug in regellose Flucht aus, bei der
5)6 Geschütze und ein großer Theil des Gepäcks der türkischen Armee eine
Beute der Sieger wurden. Zu der von Diebitsch beabsichtigte!! völligen Ver¬
nichtung des Gegners jedoch kam es nicht, da die Versperrnng der Pässe durch
stehen gebliebene Fuhrwerke nur eine langsame Verfolgung erlaubte; vielmehr
gelang es der Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart Reschids, sein Heer ohne
großen Verlust an Leuten und in leidlicher Verfassung nach Schumla zurück¬
zubringen. Dagegen war die moralische Kraft der Türken durch den bei Ku-
lektsche empfangenen Schlag wesentlich geschwächt worden, und mit ihren Hoff¬
nungen auf Sieg über den übermächtigen Feind war es zu Ende.
Unmittelbar nach der Niederlage des türkischen Heeres knüpfte Diebitsch
durch Entsendung des Staatsraths Fonton mit dem Großwesir Friedens-
unterhandlungen an, und dieser ging darauf ein. Es war dein russischen Ober¬
feldherrn jedoch mit seinen Vorschlägen nicht Ernst, dieselben sollten die Gegner
lediglich in falsche Sicherheit einlullen und zur Unthütigkeit veranlassen, während
Diebitsch seine Operationon energisch fortsetzte. Er rückte vor Schumla und
nahm vor der Festung eine Stellung ein, in welcher er deren südliche und
östliche Umgebung beobachten und zugleich das Corps unterstütze,: konnte,
welches unter dem General Krassowski zur Belagerung Silistrias zurückgeblieben
war. Nachdem dieses Verstärkungen erhalten hatte, nahmen die Belagerungs¬
arbeiten raschen Fortgang. Schon um die Mitte des Juni war die dritte
Parallele vollendet, und bald hatten die russischen Geschütze die türkischen Ka¬
nonen zum Schweigen gebracht und die Vertheidiger der Feste auf bloßes Ge¬
wehrfeuer beschränkt. Zu Ende des Monats aber warf eine russische Mine
eine so große Strecke des Hauptwalls nieder, daß der Commandant, der auf
keine Unterstützung von Schumla her zu hoffen hatte, sich gegen freien Abzug
zur Capitulation erbot. Krassowski ging darauf nicht ein, sondern traf An¬
stalten zum Sturm, und daraufhin ergaben sich die Türken, noch etwa 7000
Mann stark, zu Kriegsgefangenen und lieferten den Siegern auch ihre bei Si-
listria aukernde Donanflotille aus.
Bis auf einige unbedeutende Plätze höher stromaufwärts und das starke
Schumla befand sich jetzt ganz Ostbulgarien in den Händen der Russen, und
Diebitsch hatte jetzt zu wählen, ob er an eine Belagerung der letztgenannten
Festung gehen oder dieselbe von einem Theil seiner Truppen beobachtet rechts
liegen lassen und mit der inzwischen durch Krassowskis Corps verstärkten Haupt¬
armee durch die Pässe des Balkan in die Ebene Rumeliens vordringen sollte.
Er zog das Letztere der jedenfalls langwierigen Belagerung vor, und er ver¬
stand bei der Ansfiihrnng jenes Planes den Großwesir abermals zu täuschen
und zu unrichtige:! Maßregeln zu veranlassen.
Der Balkan mit dem südlich von Warna ins Schwarze Meer mündenden
Kmntschik bildete eine leicht zu vertheidigende Linie. Das Gebirge, mit Aus¬
nahme der Küstengegend bis zur Alpenhöhe emporsteigend, ist nur durch wenige
Engpässe zu Passiren, und der genannte Fluß hat zwar im Sommer nicht
viel Wasser, aber ein sehr tiefes Bett, dessen südliches Ufer, steil aufragend,
das nördliche allenthalben beherrscht, sodaß der Versuch, den dort aufgestellten
türkischen Truppen gegenüber den Uebergang zu erzwingen, wenn jene die
nöthige Stärke hatten, ein gefährliches Wagniß war. Diebitsch aber verstand
es, dem Großwesir den Glauben beizubringen, daß nach der Ankunft Krassowskis
die gesummte russische Armee vor Schumla verbleiben und dessen Belagerung
beginnen werde, und in Folge dessen zog Reschid Pascha den größeren Theil
der den Uebergang über den Kamtschik vertheidigenden türkischen Corps an
sich. Diebitsch aber entsandte in den Nächten vom 14. bis zum 17. Juli zu¬
nächst 32 Bataillone Infanterie mit der erforderlichen Artillerie und Kavallerie
unter den Generalen Roth und Rüdiger gegen die Niederung jenes Flusses,
ließ dann unter General Pachter eine Reserve von 22 Bataillonen nachrücken
und folgte diesen Truppenmassen in Person, um ihre Operationen beobachten
und, wo es nöthig, in dieselben eingreifen zu können — ein Manöver, welches
von den Türken in Schumla erst bemerkt wurde, als es längst zu spät war.
Mehrere Tage war der Großwesir in dem Wahne, noch die gesammte rus¬
sische Armee vor den Wällen zu haben, während doch nur 23 Bataillone, 10
Schwadronen und eine starke Artillerie unter Krassowski zurückgeblieben
waren.
Als die Russen am Kamtschik eintrafen, sahen sie, daß die Gegner auf
dem andern Ufer vor den Furten Befestigungswerke angelegt hatten, deren
Mittelpunkt das Dorf Kjöprikjöi bildete. Diesen Ort, der eine außerordentlich
starke Lage hatte und von 3000 Türken besetzt war, konnte man russischerseits
nur mit großen Verlusten von der Front her nehmen, und so machte man
auf ihn nur einen Scheinangriff, überschritt eine halbe Meile weiter unten den
Fluß, wo die zur Vertheidigung getroffenen Anstalten schwächer waren, und ge¬
langte so in die Flanke von Kjöprikjöi, worauf dessen Besatzung sich eiligst
zurückzog. General Roth forcirte eine Uebergangsstelle weiter stromaufwärts,
und am 20. Juli standen beide Colonnen der Russen am nördlichen Fuße des
Balkan, der jetzt fast ohne Widerstand von Seiten der Türken überschritten
wurde, da die Nachrichten vom Uebergang über den Kamtschik im höchsten
Grade entmuthigend gewirkt hatten. Am 22. bemächtigte sich Diebitsch des
Küstenplatzes Mesembria im Süden des Gebirges, und kurz nachher rückte der
General Roth in die Stadt Burgas an dem nach ihr benannten Golf ein, wo
die Russen, wie oben erwähnt, im Februar schon Sisebolu besetzt hatten, und
wo ihre Schiffe jetzt einen völlig ungeführdeteu Sammelplatz besaßen.
Der russische Oberfeldherr war schon auf dem Kamme des Balkan ange¬
langt, als man in Schumla zu bemerken begann, daß der größere Theil seines
Heeres das Lager vor der Festung verlassen und deu Weitermarsch nach dem
Gebirge angetreten hatte. Sofort schickte Reschid eine starke Abtheilung seiner
besten Truppen zur Verstärkung der Positionen am Kamtschik ab. Auf dem
Wege dahin aber erfuhren die Führer dieses Hülfscorps, die Paschas Ibrahim
und Mehemed, daß sie zu spät kamen, und daß die siegreichen Gegner bereits
in den Pässen des Balkans waren. Sie entschlossen sich daher, über den mehr
östlich liegenden Paß von Nadir Derbend zu gehen, die Stadt Altos zu be¬
setzen und von da aus den Rücken und die eine Flanke der Russen zu beun¬
ruhigen. Allein Diebitsch vereitelte diesen Plan sofort mit energischer Macht¬
entfaltung, indem er alle drei Corps seiner Armee eine Schwenkung nach Altos
hin machen und in Gewaltmärschen auf diesen Ort losrücken ließ. Die Türken
glaubten, als die ersten russischen Regimenter erschienen, es nur mit einem
mäßigen Theile des feindlichen Heeres zu thun zu haben. Sie nahmen in
Folge dessen den Kampf an und trieben Anfangs die Angreifer muthig zurück.
Bald aber erhielten diese Verstärkungen, und zuletzt entwickelte sich vor den
erstaunten türkischen Generalen eine so ungeheuere Uebermacht, daß ihre Leute
mit großem Verlust an Menschen und Heergeräthen in die Stadt zurückge¬
worfen wurden, von wo sie sich in ungeordnet flüchtenden Haufen eilig
über den Kleinen Balkan zu retten suchten.
Diebitsch verfolgte von seinem nunmehrigen Hauptquartier Altos aus
den hier errungenen Erfolg mit Umsicht und Raschheit. Eine Abtheilung seiner
Armee unter dem General Schermetjeff eilte den fliehenden Türken über den
Kleinen Balkan nach der Stadt Karnabad nach, nahm dieselbe ein und unterbrach
dadurch die Verbindung zwischen Schumla und Adrianopel. Andere Truppen
besetzten im Süden die Orte Karabunar und Falls. Endlich wurde, um dem
Großwesir jede Störung der Operationen in Rumelien unmöglich zu machen,
eine zweifache Verteidigungslinie gegen ihn hergestellt: nördlich vom Balkan
rückte Krassowski gegen Eski Stambul vor, um sich quer über die von Schumla
nach Thracien hinabführende Straße aufzustellen, im Süden besetzte Schermet¬
jeff den Landstrich von Karnabad bis Jambolu. Jener hatte bei dieser Ope¬
ration 12,000 Türken unter Chain Pascha gegen sich, den Reschid mit der
Sammlung der bei Altos zersprengten türkischen Corps beauftragt, und der
bei Jamboln Stellung genommen hatte. Krassowski wurde vom Großwesir
selbst angegriffen. Beide russische Generale behaupteten aber das Feld, bei
Jambvlu liefen die Türken beim ersten Anprall der feindlichen Cavallerie aus¬
einander, und Reschid war, trotzdem seine Leute mehr Muth zeigten, die russische
Linie nicht zu durchbrechen im Stande, er mußte vorerst nach Schnmla zurück¬
weichen. Da aber diese Festung durch die von Krassowski behauptete Position
kaum noch von Einfluß auf den ferneren Verlauf des Krieges war, sah Re¬
schid ein, daß er, wofern nicht Adrianopel verloren gehen sollte, welches als
die zweitwichtigste Stadt nach Konstantinopel mit allen verfügbaren Mitteln
vertheidigt werden mußte, Schumla räumen und, da ihm der nächste Weg nach
der rumelischen Tiefebene von den Russen versperrt war, auf einer anderen
Straße dahin zu gelangen versuchen mußte. Die Gegner aber waren ans ihrer
Hut. Kaum hatte er seinen Uebergang über den Balkan auf Wegen, die bis
dahin kein Heer eingeschlagen, bewerkstelligt und am 8. August die Stadt Se-
limieh erreicht, wo er ein verschanztes Lager zu beziehen gedachte, als Diebitsch
ihn mit Uebermacht aufsuchte und sein durch Desertion geschwächtes Heer am
12. mit solcher Energie angriff, daß es nach schwachem Widerstand auseinander¬
lief, so weit es nicht auf dem Platze blieb oder in Gefangenschaft gerieth.
Damit war die türkische Armee fast völlig vernichtet, und nichts konnte
die Russen mehr am Marsche auf Adrianopel und von dort nach der Haupt¬
stadt hindern. Hätten die Türken jetzt nicht alle Hoffnung und allen
Halt verloren gehabt, was bei ihren steten Niederlagen in diesem Feldzuge
nicht unerklärlich ist, so würden sie wenigstens Adrianopel eine Zeit lang zu
vertheidigen im Stande gewesen sein. Die Stadt war mit einer starken, von
Thürmen vertheidigten Mauer umgeben. Ihre Garnison zählte 15,000 Mann,
die größtentheils der regulären Armee angehörten, und zu denen die muha-
medanische Bevölkerung mindestens eben so viele Vertheidiger stellen konnte.
An Kanonen, Munition und Lebensmitteln scheint auch kein Mangel gewesen
zu sein. Die Regierung endlich hatte mit dem Versprechen, binnen Kurzem
sollte Hülfe von Anatolien kommen, zu hartnäckigster Vertheidigung aufge¬
fordert. Aber, wie schon angedeutet, Niedergeschlagenheit und Verzagtheit hatten
sich der Einwohner bemächtigt, die Soldaten waren entmuthigt, und so geschah
es, daß, als Diebitsch am 10. August vor den Thoren der großen Stadt an¬
langte, die Behörden derselben nicht einmal die Aufforderung zur Uebergabe
abwarteten, sondern die Kapitulation von freien Stücken anboten. Der Feld¬
herr der Russen nahm diesen Antrag an, stellte aber die härtesten Bedingungen.
Dieselben bestanden in der Auslieferung alles beweglichen Staatseigentums,
aller Waffen und aller Lebensmittel, sowie der Feldzeichen des Heeres, im Ab¬
zug der regulären Soldaten nach jeder beliebigen Richtung, die nach Konstanti¬
nopel ausgenommen, in der Entwaffnung der in der Stadt befindlichen irre-
gulären Milizen und der Bürger und der Stellung aller Gerichts- und Ver¬
waltungsbehörden unter die russische Dictatur. Diese Bedingungen sollten bis
fünf Uhr früh am 20. August angenommen werden, widrigenfalls ein allge¬
meiner Sturm auf die Stadt erfolgen werde. Die Muthlosigkeit der Türken
war eine so tiefgehende, daß sie diese Zumuthungen annahmen, und am 20.
August nahm Diebitsch mit seinem Heere von Adrianopel Besitz.
Diese Besitznahme war kaum erfolgt, als der Oberbefehlshaber der Russen Schlag
auf Schlag weiter operirte. Eine nach Osten dirigirte Abtheilung seiner
Truppen besetzte die wichtige Stadt Kirk Kilissa auf dem direkten Wege zwischen
Schnmla und Konstantinopel, die nur noch 20 deutsche Meilen von letzterem
entfernt war, sowie Luke Burgasi, einen am Vereinigungspunkte dieses Weges
mit der Straße von Konstantinopel nach Adrianopel gelegenen Ort. Eine
andere russische Colonne wandte sich nach Süden und nahm von Demotika und
Jpsala an der Maritza, dem Hauptstrome Rumeliens, sowie von dem Hafen-
Platze Eros am Ausflusse desselben in das Aegäische Meer Besitz, wo sie mit
der Flottendivision im Verbindung trat, welche Rußland aus der Ostsee hierher
gesandt hatte.
Damit war der Feldzug des Jahres 1829 in Europa entschieden. Er
hatte mit einer vollständigen Niederlage der Türken und mit einem ebenfalls
vollständigen Siege der Russen geendigt. Jene hatten kein Heer mehr, welches
das Feld halten oder die Hauptstadt vertheidigen konnte, diese hatten ihre Er¬
folge mit verhältnißmäßig geringen Verlusten erreicht. Ihre Armee stand in
den letzten Tagen des August, also zwanzig Wochen etwa nach dem Wiederbe¬
ginn des Krieges, im Herzen der europäischen Türkei, sie hatte das reiche
Adrianopel inne, ihre Vorhut war bis Luke Burgasi, kaum drei Tagemarsche
von der ohnmächtig und zitternd den Einmarsch des Feindes erwartenden
Hauptstadt, vorgeschoben, sie stützte sich endlich mit ihrem rechten Flügel auf
die Flotte im Aegäischen und mit ihrem linken ans diejenige im Schwarzen
Meere, deren Admiral an allen Küstenplätzen bis zum Kap Juiada Truppen
gelandet hatte. In wenigen Tagen konnte Diebitsch Konstantinopel erreichen,
und es hätte sich ohne Schwertstreich ergeben müssen, wenn die russische Diplo¬
matie dem siegreichen Feldherrn nicht Halt zugerufen und ihm den Degen in die
Scheide zu stecken geboten hätte.
Ebenso glänzend, wenn auch weniger von Bedeutung für den Ausgang
des Krieges pvaren die Siege der Russen in Asien, wo es sich für die Pforte
vor Allem um Wiedergewinnung der im vorhergehenden Jahre verlorenen drei
Festungen Achalzich, Kars und Bajasid handelte. Der neue Seraskier Sakieh
Pascha warmem energischer Mann, der sich aber nur auf die orientalische Art
Krieg zu führen wohl verstand, und der nur wenige reguläre Truppen zur
Verfügung hatte. Nachdem er eine bedeutende Zahl von Milizen gesammelt,
ließ er Achmed Pascha auf seinem linken Flügel gegen Achalzich und den
Pascha von Wein zu seiner Rechten gegen Bajasid vorgehen, während er selbst
sich von Erzerum aus gegen Kars in Bewegung setzte. Achmed Pascha er¬
schien schon in den ersten Tagen des März vor Achalzich, aber nachdem es
seinen Leuten auf einen Augenblick gelungen war, in die Stadt einzudringen,
wurden sie von der Garnison wieder hinausgetrieben, und der Versuch, die
Festung durch Einschließung auszuhungern, mißlang, da die türkischen Milizen
die Strapatzen des hier noch herrschenden Winters nicht ertrugen, und als einige
russische Regimenter im Kurthale zum Entsatz heranzogen, verließ die ganze
Belagerungsarmee am 15. März ihre Stellungen und stob auseinander. Nicht
besser erging es einem anderen Haufen von Milizen, welcher von Trapezunt
aus in die Provinzen Guriel und Mingrelien einbrechen sollte, und welchem
der General Hesse noch ans türkischem Gebiet eine schwere Schlappe beibrachte.
Dagegen gelang es dem Kjaja (ersten Adjutanten) Sakieh Paschas, einen Theil
der zerstreuten Banden wieder zu sammeln und sich im Rücken der Russen mit
den Bergvölkern des Kaukasus in Verbindung zu setzen.
Paskewitsch, der Oberbefehlshaber der Russen, verhielt sich in dieser Zeit
in der Defensive, die er auch den unter ihm stehenden Generalen anbefahl, und
sammelte für die Offensive auf der Hochflüche von Tschildir soviel Truppen,
als er zusammenbringen konnte, zu einer beweglichen Colonne.
Ende Mai erhielt dann General Burtzoff den Befehl, gegen den Kjaja
vorzugehen und ihn zurückzuwerfen. Nachdem dies gelungen und Burtzoff sich
mit Paskewitsch vereinigt hatte, rückte dieser mit 14 Jnfanteriebataillonen,
einiger Reiterei und Artillerie und etlichen tausend asiatischen Milizen gegen
das Soghanlik-Gebirge vor, um hier den gegen Kars vordringenden Türken,
die in zwei Colonnen, einer 20,000 Mann starken unter Hakki Pascha und
einer 30,000 Mann zählenden unter dem Seraskier selbst, heranzogen, den
Weg zu verlegen. Am 12. Juni standen Hakki Pascha und Paskewitsch sich
gegenüber, und letzterer wußte jenen durch Scheinmanöver zu täuschen und in
dessen Rücken zu gelangen, wo er sich auf Salichs Colonne werfen wollte.
Wäre Hakki nicht so unfähig und nachlässig gewesen, so hätten die Russen bei
der Ausführung dieses Planes durch Zusammenwirken der beiden türkischen Corps,
die ihnen an Zahl weit überlegen waren, unfehlbar erdrückt werden müssen.
Statt den Russen nachzurücken, entfernte sich Hakki in entgegengesetzter Richtung,
und als uun Paskewitsch das Heer des Seraskiers energisch angriff, erfocht
er bei dem Dorfe Kinli gegen dessen undisciplinirte Kriegerhorden, die sehr bald
in die ärgste Verwirrung geriethen und massenhaft niedergemacht wurden, einen
glänzenden Sieg, der die ganze feindliche Artillerie in seine Hände brachte.
Am nächsten Morgen ereilte HcM dasselbe Schicksal, und so waren die zur
Vernichtung der Russen ausgezogenen beiden Heere beseitigt, und Paskewitsch
konnte nach Erzerum, der Hauptstadt Armeniens und dem wichtigsten Orte
der Türkei, aufbrechen, welches sich ihm am 25. Juni mit 150 Geschützen und
reichen Vorräthen an Kriegsbedarf nach kurzem Widerstande ergab.
Ans dem rechten Flügel der Türken hatte der Pascha von Wan mit 19,000
Mann das schwach besetzte Bajasid mehrere Monate vergebens zu nehmen ge¬
sucht. Nach dem Falle von Erzeruiu zog er sich, am Erfolge verzweifelnd,
hinter den Wan-See zurück. Zu Anfang des Juli stand somit den Russen
in Hocharmenien keine feindliche Armee mehr gegenüber, aber eine Anzahl
Gebirgshänptlinge, die hier von ihren Stammburgen der Bevölkerung geboten,
fuhren fort, in ihren schwer zugänglichen Bergen für den Islam gegen die
christlichen Eindringlinge zu kämpfen, und hier erlitten letztere die einzige
Niederlage dieses Feldzuges. General Burtzvff hatte im Westen von Erzerum
mehrere Burgen erobert und endlich auch das mächtige, auf steilem Felsen
über dem Tschorok gelegene Baiburt erstürmt. Um diese Festung wieder zu
gewinnen, zogen von Norden die Lazen heran, während im Süden die Kurden
den Russen zu schassen machten. Der Angriff wurde zurückgeschlagen, und
Paskewitsch brachte den Kurden eine blutige Schlappe bei, worauf er nach
Erzerum zurückkehrte. Nun aber rückte der Pascha von Trapezunt, Osman
Hasnadar Oglu, mit ansehnlicher Streitmacht gegen Burtzoff, der in Baiburt
mit eiuer kleinen Schaar zurückgeblieben war, heran. Der russische General
zog ihm entgegen und nahm in dem von Natur festen Dorfe Charz Stellung,
um die Türken hier zu erwarten und mit blutigen Köpfen nach Hause zu
schicken. Allein er hatte sich verrechnet: die dreimal stärkeren Türken verdrängten
die Russen aus ihrer Position, wobei der General Bnrtzoff ans dem Platze
blieb, Und zwangen sie zum Rückzüge nach Baiburt, worauf die Sieger sich
in der eroberten Stellung befestigten und behaupteten, bis Paskewitsch sie in
einer zwei Tage währenden blutigen Schlacht daraus vertrieb. Einige Tage
vorher hatte der General Hesse dem mächtigen Gebirgshäuptling Tuschig Oglu,
der mit 15,999 Bergmilizen gegen das russische Guriel vorzudringen ver¬
suchte, eine gründliche Niederlage beigebracht, und Paskewitsch wäre bei der
Niedergeschlagenheit und Verzagtheit, die infolge der russischen Siege sich aller
Stämme der Pontischen Gebirge bemächtigt hatte, keinen erheblichen Schwierig¬
keiten begegnet, wenn er gegen Trapezunt vorgerückt wäre. Aber auch
hier machte nun die Politik der weiteren Ausnutzung der errungenen Erfolge
ein Ende.
Sollte nun jetzt oder, was wahrscheinlicher ist, zu Anfang des Frühlings
der Krieg zwischen Rußland und der Türkei ausbrechen, so wird der Kampf
in Asien vermuthlich einen dem von 1828 und 1829 ähnlichen Verlauf nehmen,
ja möglicherweise, da die Unterstützung der Türken durch die Bergvölker weniger
reichlich und eifrig ausfallen wird, als damals, zu noch rascheren Erfolgen
für die Russen sichren.
Anders steht es in Europa. Zwar kann hier die russische Armee, wenn
sie gegen die Donau vorrückt, auf die Unterstützung der Serben, der Monte¬
negriner, wahrscheinlich auch der Griechen und möglicherweise der Rumänen
rechnen. Aber sie hat es dafür auch mit einer wohlbewaffneten, kriegsge¬
übten und durch den Erfolg gegen Tschernajeff moralisch gehobenen türkischen
Armee von mindestens 180,000 regulären Soldaten zu thun. Die Festungen
sind in besserem Stande als im Jahre 1828 und zu Anfang des Krimkrieges.
Die Artillerie ist allen Nachrichten zufolge uicht schlechter als die russische.
Von einem bedeutenden türkischen Strategen ist zwar bis jetzt noch nichts zu
sehen gewesen, aber auch von keinem russischen, und was den Türken hier
etwa fehlt, kann durch den Rath fränkischer Offiziere, an denen es nicht fehlen
wird, wohl ersetzt werden.
Was die Türkei aber vor Allein günstiger als 1828 stellt, ist der Umstand,
daß sie eine starke Flotte von Panzerschiffen besitzt, während Rußland gegen-
wärtig im Schwarzen Meere nur verhältnißmäßig wenig Kriegsfahrzenge zur
Verfügung hat. Mit großer Uebermacht werden die Türken also, da die Serben
sich im vorigen Jahre nicht mit Ruhm bedeckt haben, die übrigen etwaigen Hülfs-
truppen der Russen aber erst noch zeigen müssen, daß sie als Soldaten etwas
taugen, diesmal eben nicht zu ringen haben, und Alles wird daher darauf an¬
kommen, ob die eine oder die andere Partei einen Oberfeldherrn hat, welcher
dem der Gegner überlegen ist. Ein solcher ist doch aber eher auf Seiten der
Russen zu erwarten, und selbst wenn es denselben an einem sehr bedeutenden
militärischen Talente mangeln sollte, ist bei der Macht Rußlands, welches
hier alle seine Kräfte entfalten muß, da es um sein Ansehen bei den christlichen
Völkern der Türkei kämpft, kaum anzunehmen, daß die Pforte sich länger als
einen Feldzug hindurch zu behaupten im Stande sein wird.
Wie die Dinge liegen, haben wir das nicht zu bedauern, werden im Gegen¬
theil die Russen, wenn es selbst der Erkämpfung noch anderer Vortheile für die
Völker der illyrischen Halbinsel als die Conferenz in Konstantinopel zu An¬
fang verlangte, wenn es selbst einer erheblichen Vergrößerung Serbiens und
Montenegros und der Constituirung eines selbständigen Bulgariens gelten sollte,
mit unsern besten Wünschen begleiten und ihnen einen etwaigen rascheren
Siegeslauf, als er nach dem Gesagten zu erwarten steht, aufrichtig gönnen.
Die Budgetdebatten der abgelaufenen Woche erreichten ihren dramatischen
Höhepunkt in dem Wortgefechte über den Dispositionsfonds „für allgemeine
politische Zwecke". Diese 31,000 Thaler haben seit langen Jahren das Ver¬
dienst, den Sensationsbedürftigen der Tribünen einen genußreichen Tag zu
verschaffen. In dieser Beziehung haben sie ihren Ruf auch Heuer bewährt.
Aber niemals zuvor bewegte sich der Streit auf so plattem Niveau, wie dies¬
mal. Prinzipiell wurde der Fonds eigentlich nur von ultramvntauer Seite
angefochten. Herr Windthorst will weder eine vfsiciöse Presse, noch eine ge¬
heime Polizei. Beide gelten ihm als schlechtweg verwerflich. Sein Gesinnungs¬
genosse v. Schorlemer verstieg sich sogar so weit, die officiöse Publicistik als
„Pestbeule" zu charakterisiren, für welche drastische Bezeichnung natürlich eine
Isvis nvtg, von Seiten des Präsidenten nicht ausblieb. Das Seltsame dabei
ist nur, daß Alles, was man hier mit so gewaltiger sittlicher Entrüstung be¬
kämpft, nirgends sorgfältiger ausgebildet ist und nachdrücklicher ausgeübt wird,
als in der Staatskunst der Jesuiten. Auch dürfte es interessant sein, näher
zu untersuchen, ob die weiland hannoversche Staatsregierung zu Zeiten der
Windthorstschen Ministerschaft ihre Hände von diesen Greueln wirklich so rein
gehalten hat, wie mau nach dem calorischem Auftreten des Führers der
Centrumspartei vermuthen sollte. Allein, nicht diese Angriffe von ultramontaner
Seite gaben der Debatte die Signatur; das Charakteristische lag in dem Duell
zwischen der Fortschrittspartei und dem Minister des Innern. Aus dem Dis¬
positionsfonds wird u. A. die „Provinzialcorrespondenz" unterhalten. Man
kann der Fortschrittspartei nicht verargen, wenn sie dies Organ mit ihrem
Groll bedenkt; es hat sie, namentlich zur Zeit der Landtagswahlen, mit ent¬
schiedenster Unzweideutigkeit als die von der Regierung perhorrescirte Partei
gekennzeichnet. Nur nimmt es sich nach den jüngsten Erfahrungen in der
That recht komisch aus, wenn gerade die Führer der Fortschrittspartei sich zu
Lehrmeistern in der Loyalität und Sittlichkeit des politischen Parteikampfes
aufwerfen. Wir sind weit entfernt, die Art, wie die „Provinzialcorrespondenz"
die Fehde geführt hat, zu billigen; bedenken wir aber, wie der nationalliberalen
Partei dafür, daß sie in der Landtagswahlbewegung die Uebertreibungen der
Offieivsen über den angeblich staatsfeindlichen Charakter der Fortschrittspartei
zurückgewiesen hat, von der letzteren vergolten worden ist, so ist uns sehr er¬
klärlich, daß die Nationalliberalen durchaus nicht Lust zeigten, sich durch die
pathetische Philippika des Herrn Virchow mit fortreiße,, zu lassen. Für ihre
Abstimmung dürfte lediglich maßgebend sein, ob der in Rede stehende Dis¬
positionsfonds prinzipiell zu billigen ist oder nicht. In diesem Zusammenhange
konnte sich Laster auf die Constatirung der Thatsache beschränken, daß keine
Regierung ohne derartige Mittel auskommen kann. Auch was die „Provinzial-
correspondenz" und speziell ihre Stellung zu den Wahlen betrifft, so wird zwar
festzuhalten sein, daß die Regierung sich activ in deu Wahlkampf nicht ein¬
mischen soll, aber kein billig Denkender kann ihr verbieten wollen, generell vor
dem Lande zu erklären, welche der vorhandenen Parteirichtnngen ihr sür die
gemeinsame Arbeit an den Aufgaben des Staats förderlich scheinen, welche
nicht. So verlief denn die große Ministeranklage, welche die Fortschrittspartei
so emphatisch in Scene setzte, im Grnnde recht kläglich; mit 213 gegen 157
Stimmen wurde der Dispositionsfonds bewilligt. Den Eindruck aber, welchen
namentlich die Virchvwsche Rede mit ihren Seitenhieben auf nativnalliberale
Preßorgane hinterlassen, bezeichnet am besten ein nach der Sitzung gefallenes
Bonmot: „Quittung über empfangenen Aerger."
Abgesehen von diesem einzigen „heißen Tage" trugen die Discussionen das
Gepräge jener nüchternen Sachlichkeit, welche, wenn eine Etatsberathung über¬
haupt von Nutzen sein soll, durchaus die Regel bilden muß. Fragen von all¬
gemeiner Tragweite traten nur selten in die Debatte. Eine der wichtigsten
schien diesmal die Aufmerksamkeit des Hauses weniger zu reizen, als in
früheren Jahren, die Frage der Parzellirung von Domänengrnndstücken zum
Zwecke der Errichtung kleiner bäuerlicher Stellen. Es handelt sich dabei um
das Problem der Wiedererschaffung eines Bauernstandes in Pommern, der
daselbst bekanntlich uuter der schwedischen Herrschaft, gleichwie in Mecklenburg,
so gut wie verschwunden ist. Das Abgeordnetenhaus hat die Regierung
wiederholt ersucht, pachtfrei werdende Domänen in geeigneter Weise zur Her¬
stellung kleiner Bauerngüter zu verwenden. Es war damit anch der Anfang
gemacht worden, und der Finanzminister erklärte noch im vorigen Jahre, daß
auf dem betretenen Wege fortgefahren werden solle. Geringerer Gunst aber
erfreute sich das Unternehmen im Herrenhause. Von hochfeudaler Seite wurde
im vorigen Jahre eine Resolution beantragt, nach welcher in der gedachten
Weise nur denn vorgegangen werden solle, wenn der beabsichtigte Erfolg im
voraus gesichert sei. Das Plenum des Herrenhauses modificirte den Antrag
zwar etwas; sein Beschluß klang aber zum mindeste,: nicht wie eine Auf¬
munterung für die Regierung. Gegenwärtig erklärt nun die letztere, daß für
das Etatsjahr 1877/78 eine weitere Parzellirnng von Domänen nicht in Aus¬
sicht genommen sei. Es lag nahe, dahinter ein Aufgeben des ganzen Planes
zu vermuthen. Das will sie nun freilich nicht Wort haben; sie spricht nur
von einstweiliger Sistirung, begründet dieselbe durch gemachte ungünstige Er-
fahrungen und führt diese wiederum auf die allgemeine wirthschaftliche Be¬
drängnis; zurück. Allein, die Freunde jenes großen Gedankens werden sich
durch solche Vertröstung schwerlich befriedigt fühlen, um so weniger, als man
sich auf Grund der officiellen Nachweisungen über die Resultate der Dismem-
brativn von deu „ungünstigen Erfahrungen" nicht recht überzeugen kaun. Für
die bis jetzt parzellirten Grundstücke ist durchweg ein Kaufpreis erzielt worden,
welcher zu dem Pachtzins, der im Falle der Wiederverpachtung zu erlangen
gewesen sein würde, in angemessenen Verhältniß steht. Für die Erfüllung
der Bebauuugsbedinguugen ist die vertragsmäßige Frist noch nicht abgelaufen.
Die ungünstigen Erfahrungen werden also wohl in Bezug auf die Erfüllung
der Zahlungsbedingungen gemacht sein. Grade hier aber liegt die schwache
Seite des von der Regierung beobachteten Systems. Ganz ohne Zweifel ist
diese Veräußerung von Domänen viel zu sehr nach einseitig fiscalischen Ge¬
sichtspunkten betrieben worden. Es gilt, die Angelegenheit in erster Linie als
eine volkswirtschaftliche, als eine überaus wichtige Frage des Nationalwohls
anzufassen. Vou diesem Standpunkte aus werden auch die Erwerbnngsbe-
dingungen zu regeln sein. Der Abg. Sombart hat in einem vortrefflichen
Vortrage nachgewiesen, wie unter deu veränderten Verkehrs- und Produktions¬
verhältnissen in der deutschen Landwirthschaft das Latifundiensystem immer
unrentabler werdeu muß, und wie Alles auf die Vermehrung und Begünstigung
des Kleinbetriebes als das volkswirtschaftlich Richtige hinweist. Es ist nicht
möglich, daß dies Mahnwort eines sehr competenten Praktikers in den Wind
geschlagen werde. Wir denken, man wird bei der dritten Lesung des Etats
auf die Sache zurückkommen.
Der Etat der directen Steuern gab einigen Rednern Gelegenheit, ihre
Bemerkungen aus der Generaldebatte zu besserer Beherzigung nochmals
zu wiederholen; namentlich von ultramontaner Seite wurde das Thema
von der Steuerschraube, welche zur Chieanirung der der Verwaltung
mißliebigen Staatsbürger mißbraucht werden soll, mit den üblichen de¬
magogischen Seitenblicken behandelt. Daß die Regierung in Bezug auf
die Steuervemnlnguug den gewählten Einschätznngseommisstonen gegen¬
über so gut wie machtlos ist, braucht die Partei für „Wahrheit, Freiheit
und Recht" ihrer Gefolgschaft allerdings nicht zu verrathen. Ein umfassender
Steuerreformplan wurde übrigens jetzt in der zweiten Berathung ebenso wenig
vorgebracht wie in der Generaldebatte. Inzwischen hat die Fortschrittspartei
aus ihrer Mitte einen Ausschuß niedergesetzt, um einen solchen auszuarbeiten.
Wenn die Herren sich nicht dazu verleiten lassen, möglichst rasch eine blendende
Denkschrift abzufassen, sondern wenn sie den überaus verwickelten und schwie¬
rigen Fragen auf den Grund gehen, so kann ihre Arbeit eine recht verdienst-
volle werden. Die Budgetcommission beschäftigt sich inzwischen mit Vor¬
schlügen zu einer zweckmäßigeren Handhabung des bestehenden Systems,
namentlich mit einer Vereinfachung des Veranlagungs- und des Recursver-
fahrens. Die Regierung hat auch einen entsprechenden, freilich sich auf das
äußerste Minimum beschränkenden Gesetzentwurf vorgelegt. Ob es bei der
Kürze der Session gelingen wird, denselben im Sinne jener in der Budget-
cvmmission verhandelten Vorschläge zu vervollständigen, ist zweifelhaft. Der
Impuls zu einer umfassenden Steuerreform wird vielleicht vom Reiche zu er¬
warten sein. Die Übertragung der Stempelsteuern auf das Reich ist auf die
Dauer nicht zu vermeiden; sie kann aber nicht erfolgen, ohne eine Revision
der Steuergesetzgebung der Einzelstaaten nach sich zu ziehen.
Wichtige Fragen, welche der Abgeordnete Eberty bei dem Titel „Straf-
anstaltswescn" zur Sprache brachte, gingen unter der Unruhe eines durch be¬
reits fünfstündige Verhandlung ermüdeten Hauses fast zu Grunde. Allzusehr
ist dies nicht zu bedauern, da eine einheitliche Regelung des Gefängnißwesens
hoffentlich in nicht zu ferner Zukunft vom Reich zu erwarten steht, die be¬
treffenden Debatten also auch in den Reichstag gehören. Ueber die Contro-
verse, wie die Gefangenen unter dem disciplinarischen wie unter dem volks-
wirthschaftlichen Gesichtspunkte am zweckmäßigsten zu beschäftigen sind, hat die
Petitionscommission des Reichstags am Schlüsse der letzten Session einen vor¬
Während sich nach nunmehriger Feststellung der Wahlresultate im ganzen
Reich die Physiognomie des deutschen Reichstages im Wesentlichen nicht ver¬
ändert hat, sind doch bei den Wahlen selbst bezeichnende Verhältnisse hervor¬
getreten, die Anlaß zu Betrachtungen zu geben geeignet find.
Die Wahlen in der Provinz Schlesien aber grade geben ein interessantes
Bild sowohl des Wahlkampfes als des Wahlresultates. Es haben nämlich
nach dem definitiven Gesammtresultat bei der letzten Reichstagswahl in
Schlesien gewonnen: je einen Sitz die Nationalliberalen und die
Sozialdemokraten, drei Sitze die Ultramontanen; verloren: zwei Sitze die
Fortschrittspartei, drei Sitze die deutsche Reichspartei. Die eigenartigen Ver-
hältuisfe der Provinz empfehlen es, die Wahlen in erster Linie nach den drei
Regierungsbezirken zu betrachten.
Oberschlesien, repräsentirt durch den Regierungsbezirk Oppeln, wählte
vor dem Beginne des Kulturkampfes fast ausnahmslos gemäßigte Conservative,
Mitglieder der deutschen Reichspartei. Bei den Wahlen im Jahre 1871 zeigte
sich der staatsfeindliche Einfluß des Klerus dadurch, daß in den zwölf Wahl¬
bezirken bereits drei Mitglieder des Centrums gewählt werden, im Jahre
1874 wählte Oberschlesien a es t Centrumsmänner und vier Reichstreue (deutsche
Reichspartei), beider letzten Wahl wählte es elf Centrumsmänner und einen
Reichstreuen. Sehen wir nach den Erfolgen, so scheinen diese ein stetiges Fort¬
schreiten des Ultramontanismus zu constatiren, dennoch aber ist es unbestreit¬
bar, daß grade der Liberalismus in den letzten Jahren in Oberschlesien mehr
und mehr Boden gewonnen hat. Versuchen wir, diesen scheinbaren Widerspruch
zu lose«. Die weitaus größte Masse der oberschlesischen Bevölkerung steht
leider auf einer außerordentlich tiefen Bildungsstufe, und an eine politische Ueber¬
zeugung ist bei Menschen nicht zu denken, die selbst des vernünftigen klaren
Denkens unfähig sind, denen auch das wirklich Gute und Nützliche mit Ge¬
walt oktroyirt werden muß. Diese ungebildeten Massen befinden sich in der
Hand eines fanatischen Klerus, der kein Mittel scheut, seine Zwecke zu erreichen
und die verblendeten Massen nach seinen Ideen zu lenken. Nur zu leicht wird
dies aber bei einer Bevölkerung werden, die man dadurch herdenweise zur Urne
und zur klerikalen Abstimmung treiben kann, daß man ihr erklärt, anders
wählen sei Sünde, und wer einem Reichsfreunde seine Stimme gebe, verfalle
unrettbar der ewigen Verdammniß. Diese Ansichten hat der Klerus durch un¬
ablässige agitatorische Thätigkeit, besonders durch Beeinflussung der Frauen,
denen man vorlog, die Liberalen beabsichtigten die Abschaffung der Ehe, im
Volke verbreitet. Im Beichtstuhl, von der Kanzel, durch Besuche in den Fa¬
milien, in Wahlversammlungen wurden diese schamlosen Lügen verbreitet und
leider geglaubt. Dem gegenüber ist zu verwundern, daß es die liberale
Partei in einzelnen Wahlkreisen auf mehr als die Hälfte der ultramontanen
Stimmen gebracht hat, steht doch den Reichstreuen kein anderes Mittel gegen¬
über den Lügen des Klerus zu Gebote, als durch Belehrung und Ermahnung ans die
Massen einzuwirken; daß diese Thätigkeit aber nur sehr langsam eine Bresche in
den Wall des mit Absicht großgezogenen Aberglaubens und der geistigen
Finsterniß legen kann, ist leicht begreiflich. Die agitatorische Thätigkeit der
liberalen Partei aber ist gegenüber der Rastlosigkeit des Klerus keineswegs
die intensive, die sie eigentlich sein müßte. Während die Gegenpartei das
ganze Jahr wühlt und hetzt, bequemen sich die Liberalen gewöhnlich erst
Wenige Tage vor der Wahl zur Agitation. Es war demnach nicht unbegreif-
lich, daß drei Wahlkreise, in denen bei der Wahl im Jahre 1874 die reichs-
treue Partei mit nur sehr geringen Majoritäten gesiegt hatte, an das Centrum
verloren gingen. Daß trotzdem der Liberalismus an Terrain gewinnt, haben die
Abgeordnetenwahleu am Eude des vorigen Jahres bewiesen, bei denen dadurch,
daß die aufgeklärten Elemente durch das indirekte Wahlsystem mehr zur
Geltung kamen, nicht nur achtunggebietende liberale Majoritäten erzielt, sondern
auch zwei der ultramontansten östlichsten Wahlkreise dem Centrum entrissen
wurden.
Im Regierungsbezirk Breslau hat der Gesammtbesitzstand der Parteien
keine wesentliche Veränderung erlitten, nur die Fortschrittspartei verlor einen
Sitz und die Sozialdemokraten gewannen einen. Es wurden jedoch nnr in
acht von dreizehn Wahlkreisen die früheren Vertreter wieder gewählt. In
den anderen fünf Wahlkreisen änderte sich der Besitzstand dahin, daß die
nationalliberale Partei einen Wahlkreis an die Conservativen und einen
an die Sozialdemokraten verlor, dagegen je einen Wahlkreis der Fortschritts¬
partei und den Conservativen abnahm, mithin im allgemeinen im gleichen Be¬
sitzstande blieb, die Conservativen einen Wahlkreis mit den Nationallibe¬
ralen tauschten, die Fortschrittspartei einen Wahlkreis an die National¬
liberalen verlor, die Sozia iisdem einen von Letzteren gewannen. Verloren
hat also nur die Fortschrittspartei, gewonnen nnr die Sozialisten. Der
Wahlkampf war ein sehr heftiger, es waren allein sechs Stichwahlen nöthig.
Besonders in drei Wahlkreisen waren die Wahlen interessant, in den beiden
Wahlkreisen der Stadt Breslau und im Wahlkreise Reich end ach-neu-
r ode. Seit einer Reihe von Jahren waren in Breslau Natioualliberale und
Fortschrittspartei bei den Wahlen Hand in Hand gegangen, bei den Reichs¬
tagswahlen wurden stets zwei Fortschrittler gewählt.
Auch bei der letzten Abgeordnetenwahl wurden Comprvmißcandidaten
beider Parteien gewählt. Aber schon bei dieser Wahl bildete sich eine Spaltung
innerhalb der Fortschrittspartei, eine Minorität, die jeden Compromiß mit den
Nationalliberalen perhorrescirte, bildete einen neuen Wahlverein und versuchte,
den alten Wahlverein von der nativnalliberalen Partei abzuziehen. Dies, sowie
die durch die Justizgesetzannahme unmittelbar vor den Reichstagswahlen ein¬
getretene Spaltung der beiden liberalen Parteien, vollzog auch in Breslau
den Riß zwischen der Fortschrittspartei und den Nationalliberalen. Die Fort¬
schrittspartei besonders wies trotz der dnrch die Sozialdemokraten drohenden
Gefahr jedes vereinigte Vorgehen zurück, und so sah sich die nationalliberale
Partei, wenn anch mit geringen Hoffnungen auf Erfolg, veranlaßt, eigne
Candidaten aufzustellen. Das Resultat eines außerordentlich heftigen Wahl¬
kampfes war das, daß in einem Wahlbezirk der Candidat der Fortschrittspartei
mit einem Sozialisten, in dem anderen der Candidat der Nationalliberalen
mit einem Sozialisten in die engere Wahl kam. Außerdem ergab es sich, daß
die liberalen Parteien gleich stark seien und die Sozialisten es in beiden Wahl¬
kreiseil auf 8629 Stimmen (gegen 3703 im Jahre 1874) gebracht hatten. Bei
den Stichwahlen gingen die liberalen Parteien geeinigt vor und siegten, trotz¬
dem die Ultramontanen sich mit den Sozialdemokraten verbunden hatten. Im
Wahlkreise Reichenbach - Nenrvde hatten im Jahre 1874 erhalten: der
Candidat der nationalliberalen Partei 4645 Stimmen, der der ultra¬
montanen Partei 4685 Stimmen, der der Sozialdemokraten 4703
Stimmen. Es kam damals zur engeren Wahl zwischen Nationalliberalen und
Ultramontanen, die ersteren siegten. Bei der diesjährigen Wahl erhielten: der
liberale Candidat 4445, der ultramontane 4812, der sozialistische
5829, der conservative 1027 Stimmen. Es kam demnach zur engeren
Wahl zwischen Ultra mondänen und Sozialisten. Die liberale Partei
sah sich durch diese Thatsache veranlaßt, sich der Abstimmung bei der Stich¬
wahl zu enthalten, und der Candidat der Sozialdemokraten (Kapell-
Hamburg) trug den Sieg davon.
Im Regierungsbezirk Liegnitz veränderte sich der Besitzstand dadurch,
daß die Fortschrittspartei einen Sitz an die Nationalliberalen verlor, der
Wahlkreis wählte in Folge dessen 8 Nationalliberale, 1 Fortschrittsmann,
1 Conservativen. Der Wahlkreis Görlitz-Lauban war seit dem Jahre
1871 im Besitze der Fortschrittspartei, im Jahre 1874 hatte ihr Candidat mit
5017 Stimmen gegen 2656 nationalliberale Stimmen gesiegt, bei den dies¬
jährigen Wahlen erhielt der Fortschrittsmann nur noch 1899 Stimmen gegen
3768 nativnalliberale und 4971 freieonservative Stimmen. Zwischen den beiden
letzten Parteien kam es zur Stichwahl, vor welcher der freieonservative Candidat
sich ebenfalls als nationalliberal entpuppte, sodaß eine Stichwahl zwischen
zwei Nationalliberalen stattfand. Gewählt wurde Dr. Grvthe-Berlin (Schutz-
zöllner).
Die Betheiligung bei deu Wahlen war eine außergewöhnlich rege, be¬
sonders bei deu Stichwahleu. In einzelnen Wahlkreisen stimmten bis 85 "/<>,
in einzelnen Orten 100 <>/o der Wähler. Das Gesammtresnltat für Schlesien
ergiebt in 35 Wahlkreisen: 10 Nationalliberale, 2 Fortschrittler,
7 Mitglieder der deutschen Reichspartei, 13 Ultramontane, 2 Con¬
servative, 1 Sozialdemokrat.
Zu wenig noch ist in Deutschland gekannt und gewürdigt der schweizerische
Verfasser dieser ausgezeichneten historischen Novelle. Zwar sein Kranz muster¬
hafter Sonette, „Hnttens letzte Tage", fand schon des Stoffes, des Helden
wegen mehr Beachtung als unser deutsches Publikum Dichtungen zu schenken
pflegt, welche, statt von der Zeitnngsreclame, nur von innerem Werth getragen
werden. Aber das poetische kleine Epos „Engelberg", die geistreich concipirte
Novelle „das Amulet", welche in der Pariser Bluthochzeit ihren Abschluß
findet, sowie eine Sammlung vou „Balladen", dann von „Romanzen und Bil¬
dern" drangen nur wenig über die kleine Gemeinde derjenigen hinaus, welche
noch an sorgfältigster Heranbildung wohl gewählter Stoffe in vollendeter
Form durch eine finnige Künstlernatur sich erfreun. Wie wir zu hastig leben,
so lesen — und schreiben — wir viel zu hastig heutzutage, um uns in die
Feinheiten, die stillen, geschmackvollen Reize solcher kleiner Cabinetsstücke zu
vertiefen, wie sie dieser wählerisch und subtil arbeitende Dichter langsam bildend,
zögernd, reift. Doch hat sich über die vorliegende Erzühlnng in erfreulicher
Uebereinstimmung schon eine Reihe berufener Urtheiler auf das Günstigste
ausgesprochen: aus voller Ueberzeugung werfen auch wir dem Dichter den
Kranz zu für seine mit feinem Stylgefühl vollendete Arbeit.
Die Geschichte spielt in den Kämpfen, welche im siebzehnten Jahrhundert in „alt fry
Rhätien" für die Freiheit und Reformation gegen die spanisch-katholische Macht, fran¬
zösische Einflüsse und einheiunsche Adelsgeschlechter geführt wurden. Der Held Georg
Jenatsch ist ein reformirter Pfarrer, welcher aber viel mehr vom Kriegsmann
und Staatsmann als vom Geistlichen in sich trägt und, nachdem durch Fana¬
tismus der Gegner sein junges Weib ermordet, sein Pfarrhaus zerstört wird,
als Führer der Freiheits- und Glaubens-Kämpfer eine blutige Rolle spielt:
dabei tödtet er den Vater seiner Jugendgespielin und nnvergeßnen Jugend¬
geliebten Lucrezia, deu habsburgisch gesinnten Pompejus Planta in dessen
überfallnem Schloß. Wechselnde Geschicke führen den Helden in den Dienst
des edeln französischen Herzogs Rosen, — eine mit besonderer Vorliebe und
Feinheit gezeichnete Figur: die Semen, welche in deren Umgebung in Venedig
spielen, zählen zu den vorzüglichsten Bildern in dem Rahmen des Buches —
welchen er aber zuletzt verräth und verdrängt, weil er von dieser allzu zart-
fühligen und zaubernden Natur die Rettung seines Landes nicht mehr erwarten
kann. Dem: die leidenschaftlichste Vaterlandsliebe ist das letzte, das Grund-
Pathos des gefährlich schlauen und kühnen Mannes, welchem er sogar das Opfer
seines Bekenntnisses zu bringen vermag: er tritt zum Katholicismus über,
um das Vertrauen seiner letztgewählten Verbündeten, der Spanier, zu befestigen.
Ausgezeichnet ist nun aber der herannahende Untergang des schuldigen
Abenteurers vorbereitet und ausgeführt: eine überwältigende Menge von po¬
litischen und persönlichen Feinden und Rändern hat den Allzuverwegenen bei
Gelegenheit eines angeblich zu seinen Ehren veranstalteten Siegesfestes auf
dem Rathhause zu Chur dermaßen umgarnt, daß wir ihn mit Besorgniß, ja
mit Unwillen seinen durchaus unebenbürtiger Mördern erliegen zu sehen fürchten.
Er ist nicht mehr zu retten. Hier greift nun tödtlich und doch verschonend die Hand
der Heldin ein: Lucrezia Planta, die Geliebte und Liebende, welche die Werbung
des Mörders ihres Vater stolz abgewiesen und diesen Vater zu rächen als ihr
Lebensziel erkannt — sie selbst giebt dem heißgeliebten Mann, aus daß er nicht
in die Hände grausamer Feinde falle, dem rettungslos Verlornen, dcnTodesstoß. Das
ist sehr gewagt, da wir in dem Buch im siebzehnten Jahrhundert unter höfischen
Sitten leben, nicht etwa in Nibelungeuzeit und -Stil. Aber gerade hierin
hat die vollendete Kunst des Erzählers das Meisterstück gemacht: es ist ein
außergewöhnliches Maß von psychologischer Feinheit und Tiefe, mit welchem
die selten erscheinende, redekarge, herbe, verhaltene und doch heißherzige Lucrezia
so gezeichnet wird, daß sie nicht anders handeln und der Leser nichts anders
erwarten kann. — Wenn ein Wunsch gegenüber der Erzählung sich aufdrängt,
so geht er dahin, von gewissen Vorgängen, die nur augedeutet und in ihren
Ergebnissen festgestellt worden, mehr Detail zu vernehmen: so aus der Zeit
der kühnen Kriegsfahrten des Helden, aus den Verhandlungen Lucrezias zu
Mailand, besonders aber aus den Begebnissen und Erlebnissen, welche Georgs
Uebertritt zum Katholizismus motiviren sollen, der etwas unvermittelt be¬
richtet wird. Wir erhoffen von dem Verfasser, der uns zwei treffliche historische
Novellen geschenkt, nunmehr einen historischen Roman.
In einem einleitenden Gedichte feiert der Verfasser dieser Poesien die Frei¬
maurerei als eiuen Eichenbaum, der „am frischen grünen Holz nur immer
frischre Blätter treibt." Wir müssen auf Grund unsrer Erfahrung bestreiten,
daß das „nur" in diesem Bilde berechtigt ist. Im Gegentheil, es wollte uns
bisher immer bedünken, als ob dem Baume die Frische, die er zu Lessings
Zeiten hatte, merklich abhanden gekommen, als ob die Dryade ihn verlassen,
die Blätter welk und die Früchte taub geworden. Indeß kann es sein, daß
wir uns ihn, um im Gleichniß zu bleiben, nicht genau genug besehen haben,
und daß unsre Meinung nur von einem Theile der Aeste und Zweige gilt.
Jedenfalls enthält die vorliegende Sammlung von Gebeten, Ansprachen, Be¬
trachtungen, Trinksprüchen und Liedern eine Auzahl wirklich recht frischer
Blätter, Dichtungen voll Wärme und Schwung, die, wenn sie auch nicht ge¬
rade tief sind, doch an Form wie an Inhalt ganz erheblich über den gereimten
Phrasen stehen, denen wir nach dem, was die masonischen Dichter sonst in der
Regel vorbringen, zu begegnen fürchteten. Besonders erfreut hat uns der
warme patriotische Ton, der durch einen großen Theil der Sprüche und Lieder
geht, und der ein beredtes Zeugniß ablegt, daß anch in den Logen Kaiser und
Reich hoch gehalten werden. Verse freilich wie: „Haben's ja All' erlebt,
Kronen find nicht geklebt am Fürstenhanpt", und (es ist vom Kaiser Wilhelm
die Rede, und „Feuer" wird in der Sprache der königlichen Kunst das Trinken
bei einem Toast genannt): „Der aller Klerisei hinfort das größte Unge¬
heuer — ihm gilt das stärkste Feuer" sind besser gemeint als geformt.
Ein mit hübschen Silhonettenbildchen illustrirter Schwank in dramatischer
Form, der auf die Theilnehmer an dein Bankett der naturforschenden Gesell¬
schaft in Bern, bei dem er nach dem Vorwort znerst aufgeführt worden ist, ohne
Zweifel sehr erheiternd gewirkt hat, der sich aber für ein größeres Publikum
nicht recht eignet, da dieses mit den Verhältnissen und Persönlichkeiten, welche
der Dichter im Auge hat, selbstverständlich unbekannt ist. Allerdings folgen
zum Schlüsse erklärende Anmerkungen, aber sie werden nicht viel helfen. Steht
es schon mit ernsten Dichtungen, die durch einen Commentar verständlich ge¬
macht werden müssen, mißlich, so ist dies bei humoristischen noch schlimmer.
Ein Witz, welcher der Erklärung bedarf, in den man sich erst hineinarbeiten
muß, den wir, ohne das Lexikon hinten aufzuschlagen, nicht verstehen, ist ziem¬
lich ungenießbar. Das Wort sagt schon, daß er sofort, plötzlich, im Nu, daß
er wie der Blitz wirke» muß, wenn er sein soll, was er sein will. Dieses
Urtheil schließt nicht ans, daß einige ohne Glossar verständliche Stellen recht
drollige Einfälle und Wendungen enthalten, und daß der Verfasser dieses
Scherzes, wenn er sich einmal an ein anderes Thema machen wollte, mit dem
ihm eignen Humor weitere Kreise fesseln und vergnügen könnte.
Zu der Zeit, wo das Wünschen noch half, da war eine Frau, die war
frisch und uttlnter, gesund und stark, mochte gern essen und trinken und hatte
alles, was ihr Herz begehrte. Weil das nun so mit ihr stand, so wünschte
sie sich ewig zu leben. Bis zu hundert Jahren ging das auch ganz gut, als
sie aber die hundert erreicht hatte, da fing sie an zusammenzukriechen, und das
nahm mit der Zeit so zu, daß sie nicht mehr gehen und stehen, essen und
trinken konnte, und sterben konnte fie auch nicht. Die Menschen mußten sie
drehen und werden und ihr was zu essen geben, als wenn sie ein kleines Kind
wäre. Es kam zuletzt soweit, daß fie sich nur dann und wann noch bewegte.
Da dachten die Leute, es wäre an: besten, wenn man sie mit den Füßen voran
hinaustrüge, weil aber noch Leben in ihr war, so thaten sie sie in ein Glas
und hingen sie in der Kirche aus. Sie hängt jetzt in der Lübeker Marienkirche,
und sie ist jetzt so klein wie eine Maus und bewegt sich nur alle Jahre
einmal.
In dieser Sage prägt sich das Gefühl des Volkes aus, daß es kein Glück
ist, wenn der Mensch über eine gewisse Zeit hinaus das Leben behält, und
daß somit der Wunsch darnach thöricht ist. Ohne Zweifel ist aber das ent¬
gegengesetzte Gefühl und das Begehren, so lange wie möglich die Sonne zu
sehen, verbreiteter, und zwar, wie wir glauben, auch unter denen, welche über¬
zeugt sind, daß das Wort „Nors ^ura vieil-e" eine Wahrheit ist. Die Fabel
vom Bettler an Krücken, der den Tod rust, ihn zu holen, und der, als er kommt,
die Krücken wegwirft und eilig davonläuft, gründet sich auf eine Erfahrung,
die wir alle Tage machen können. Die Liebe zum Leben und die Furcht vor
dem Tode ist das natürlichste aller Gefühle. Ohne sie wäre die Tapferkeit,
die sie um höherer Zwecke willen überwindet, keine Tugend, der Held kein Held,
der Märtyrer kein Märtyrer. Gewiß ist das Leben der Güter höchstes nicht,
aber zu allen Zeiten und uuter allen Völkern hat gesunde Empfindung ein
langes Leben als ein hohes Gut aufgefaßt; und die griechischen Stimmen,
welche einen frühen Tod als ein Glück priesen, die himmelssüchtigen Pietisten,
der Buddhismus Schakjamunis und seine traurigen Nachtreter in der Gegen¬
wart sprachen eben nicht ans gesunder Empfindung, sondern aus krankhafter
Empfindsamkeit heraus..
Eine große Anzahl von Sagen und Mythen, Lehren und Vorschriften des
Alterthums bezeugt die Wahrheit unsrer Behauptung. Nach der Genesis war
das erste Menschenpaar bestimmt, unsterblich zu sein, und zu diesem Zwecke
der Baum des Lebeus in den Garten Eden gepflanzt, und das vierte Gebot
schließt mit der Verheißung: „auf daß du lange lebest auf Erden." Alle vou
Gott Begünstigten bringen es in den Schriften des Alten Testaments zu hohen
Jahren. Die Erzväter von Adam bis auf Nocch erreichen fast ohne Ausnahme
ein zehnfach höheres Alter, als der 90. Psalm für den Menschen annimmt.
Eine rabbinische Tradition erzählt von einer Stadt der Unsterblichkeit, Namens
Lus, die in einem Thale des Hethiterlandes liegt, und deren Bewohner, wenn
sie zu alt geworden sind und sterben wollen, sich vor das Thor hinaustragen
lassen müssen, da sie innerhalb der Mauern den Tod nicht finden können. In der
„Jm^M an, Noinie" (aus dem, 13. Jahrhundert) wird Aehnliches von einer
„weit draußen im Meere liegenden Insel" berichtet, „deren Bewohner, wenn
sie alt und gebrechlich geworden sind, so daß ihnen das Leben zur Last wird,
sich, weil sie daheim nicht sterben können, anf das Eiland Eile (Thule) bringen
lassen, wo das Jahr nur einen Tag und eine Nacht, jedes zu sechs Monaten
Länge hat." Aus der griechischen Sagenwelt erwähnen wir nur Epimenides,
den Vertrauten der Götter, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben und
157 Jahre alt geworden sein sollte. Nach Gervasius von Tilbury hatte Alex¬
ander der Große dem Aristoteles von „Bäumen der Sonne und des Mondes"
in Indien berichtet, welche Aepfel trugen, deren Genuß den sie bewachenden
Priestern ein Leben von vierhundert Jahren verlieh — eine Fabel, die viel¬
leicht Anlaß zu der scharfsinnigen Vermuthung gegeben hat, mit welcher später
ein bibelgläubiger englischer Gelehrter sich das hohe Alter Methusalcchs und
seiner Väter und Nachkommen damit erklärte, daß ihnen erlaubt gewesen sei,
bisweilen vom Baume des Lebens im Paradiese zu essen.
Verlassen wir das Gebiet der Mythe und begeben wir uns in die un¬
mittelbare Gegenwart, so hat Cornewall Lewis mit Entschiedenheit geleugnet,
daß jemals ein Mensch wirklich hundert Jahre alt geworden sei, während
Hufeland in der bekannten Schrift: „Die Kunst, das menschliche Leben zu
verlängern" der Meinung ist, der Mensch könne unter günstigen Umständen
ein Alter von fünfzehn Decennien erreichen. Wenn es uns schwer fällt, an diese
Möglichkeit zu glauben, so müssen wir auf Grund von Zeitungsberichten aus
der allerneuesten Zeit wenigstens die Lewissche Ansicht als dnrch wohlver¬
bürgte Thatsachen widerlegt bezeichnen.
Die Prager Blätter vom 13. Juli v. I. theilten Folgendes mit: Ein
unansehnlicher, vom Publikum kaum beachteter Leichenzug bewegte sich heute
um zehn Uhr Vormittags von der Kleinseite aus nach dein Wilschaner Fried¬
hofe. Voran schritt der Kreuzträger, und dem einfachen Leichenwagen folgten
blos zwei Kutschen mit Leidtragenden. Und doch war es aller Wahrscheinlich¬
keit nach die älteste Frau Böhmens, vielleicht ganz Oesterreichs, die hente zu
Grabe gebracht wurde. Frau Therese Fiedler von Httlsenstein hat das höchst
seltene Alter von 119 Jahren erreicht. Sie war 1757 zu Hamburg geboren
und verbrachte ihre Jugendjahre bei der Gräfin Palffy, einer Hofdame der
Kaiserin Maria Theresia. Später heirathete sie einen französischen Major und
nach dessen Tode einen österreichischen Postbeamten, den sie ebenfalls bald durch
eine Krankheit verlor. Seit 1830 war ihr der Tabaksverschleiß in der Bude
„Beim Montag" im Gnadenwege verliehen. Bis an ihr Lebensende erfreute
sie sich einer ziemlichen Rüstigkeit, ihre Stimme war wohlklingend, ihre Ge¬
sichtszüge zeigten noch deutlich die Spuren einstiger Schönheit. Sie starb, ohne
eigentlich krank gewesen zu sein. Nach dem Genusse eiues halben Eies und
einer Suppe legte sie sich vorgestern Abends nieder, um nicht wieder zu er¬
wachen.
Zu Eisleben in der Provinz Sachsen starb in der ersten Woche des Januar
d. I. die im Jahre 1767 geborne Jüdin Oppenheim. Die Verstorbene war
im Elsaß geboren und wurde nach dem vor dreißig Jahren erfolgten Tode
ihres Mannes von der Stadt ernährt.
In Chemnitz - starb am 15. Januar d. I. die am 27. September 1774
geborne Johanne Regime verwittwete Leichseuring, früher verwittwet gewesene
Morgenstern, geborne Pfeifer, in einem Alter von 102 Jahren und 3^/z Monaten.
Sie war von Chemnitz gebürtig und hinterließ 4 Enkel und 2 Urenkel, ihre
vier Kinder waren sämmtlich vor ihr gestorben. Bis zu ihrem Ende war sie
im vollen Besitz ihrer Sinne, und noch am Abend ihres Todes saß sie mit
ihren Verwandten am Tische und aß mit Appetit.
Am 2. Januar d. I. feierte in Claußnitz bei Sapta im sächsischen Erz¬
gebirge der dort lebende Arzt und Chirurg Dr. Lederer seinen hundertsten Ge¬
burtstag. Derselbe ist ein geborner Oesterreicher, diente zuerst im vaterländischen
Heere als Feldscherer und trat später in sächsische Dienste, in welchen er der
Schlacht bei Jena beiwohnte. Er ist noch so rüstig, daß er ganz vor Kurzem
noch ohne Beschwerde im Staude war, einem seiner Hülfe Bedürfenden Arm
und Beine ganz allein einzurichten.
Vielleicht der älteste aller jetzt lebenden Schullehrer heißt Joseph Mann¬
heimer. Er lebt zu Lackenbach bei Oedenbnrg, hört und sieht noch scharf, ißt
und trinkt mit Appetit, schläft gut und hat in diesen Tagen mit seiner 99
Jahre zählenden Frau Rebekka, mit der er sich 1801 verheirathete, die dia¬
mantene Hochzeit gefeiert, wobei er derselben eine witzige Jubelrede gehalten
haben soll. „Rebekka", sagte der alte Joseph, wenn es nicht Feuilletonisten-
erfindung ist, „wir sind Glückskinder, ich bin über Pari, du bist 'ne Neun¬
undneunzigerin, und obendrein 'ne Perle von einer Fran, wir feiern heute mit
Diamanten — sind wir nicht reiche Leute?"
Ein vollkommen beglaubigtes Beispiel hohen Alters haben wir in
dem am 29. April 1875 zu Paris verstorbenen Grafen Jean Frederic
de Waldeck vor uns. Derselbe wurde 109 Jahre, 1 Monat und 14 Tage alt.
In seiner Jugend war er Page der Königin Maria Antoinette, dann betheiligte
er sich an der Erforschnngsreise, die Levaillant dnrch das südliche Afrika unter¬
nahm, und von 1788 an arbeitete er als Maler unter David und Prnd'son
in Paris; von 1794 bis 1798 focht er unter Bonaparte in Italien und
Aegypten. 1819 nahm er an einer archäologischen Expedition nach Mexiko
theil. 1837 veröffentlichte er seine „VoznM g,red6ol0Fiyu<z et xitwrWyus äans
1<z ?ues«.!vn", und 1863 erschiene» Zeichnungen von den berühmten Ruinen
von Palenque, die er als fast Hundertjähriger auf den Stein übertragen hatte.
Im Salon von 1869 lenkte er dnrch Ausstellung von zweien seiner Gemälde, die
er „I^oisirs nu Oenwnkirö" nannte, die Aufmerksamkeit auf sich und wurde
mit der Mitgliedschaft bei gelehrten Gesellschaften in Paris und London beehrt.
Sehen wir die alte Geschichte nach Beispielen durch, wo Menschen das
hundertste Jahr überschritten, und lassen wir dabei mythische oder halb mythische
Persönlichkeiten wie die drei Stammväter der Juden, Joseph, Moses, den Pro¬
pheten Elisa, Pythagoras u. A. bei Seite, so soll der Philosoph und Natur¬
forscher Demokrit 109, der Arzt Hippokrates 104 und der Mädchenschullehrer
L. Clodius Hermippns nach einer im vorigen Jahrhundert zu Rom entdeckten
Inschrift »xuellg.ruln andeliw« (durch den Athem von jungen Mädchen) 115
Jahre und 5 Tage alt geworden sein. Beispiele sehr alter Römerinnen sind
Terentia, die Frau Ciceros, die es trotz vielen Unglücks und Kummers (sie
wurde von Cicero geschieden, überlebte dann ihren zweiten Gatten Sallust und
begrub noch einen dritten Gemahl) und trotzdem, daß sie von der Gicht geplagt
wurde, auf 103 Jahre brachte, die Schauspielerin Luceja, die ein volles Jahr¬
hundert auf der Bühne wirkte und noch in ihrem 112. Jahre in einem Stücke
auftrat, und die Tänzerin Galeria Copiala, die neun Decennien nach ihrem
ersten Erscheinen auf dem Theater uoch bei einer Begrüßung des Pompejus
thätig war und noch unter Augustus lebte. Mag hierbei Täuschung obgewaltet
haben, so wird an dein Beitrage, den Plinius in Betreff der Lebensdauer der
Bewohner Norditaliens unter Vespasian geliefert hat, nicht wohl zu zweifeln
sein, da derselbe aus deu Registern des Census geschöpft ist. Darnach aber
hätten im Jahre 76 n. Chr. in der Gegend zwischen dein Po und den Apen¬
ninen 124 Menschen gewohnt, die das hundertste Lebensjahr hinter sich gehabt,
und zwar 54 von 100, 57 von 110, 2 von 125, 4 von 130, ebenfalls 4
von 135 bis 137 und 3 von 140 Jahren. Außer diesen hätten sich in Parma
3 von 120 und 2 von 130, in Piacenza eine Fran von 130 und in Faventia
eine andere von 132 Jahre befunden, und in der kleinen Stadt Vellejacinm
hätten zehn Personen gelebt, von denen sechs den hnndertundzehnten und vier
den hundertundzwanzigsten Geburtstag gesehen.
Daß jene Gegend jetzt noch der Langlebigkeit dienlich sei, ist nicht zu be¬
haupten, aber vielleicht ist daran ihre gegenwärtige Entwaldung schuld. Da¬
gegen scheint sich in dem norwegischen Bezirke von Aggerhus eine Art zweites
Lus zu befinden; denn bei der Zählung der Einwohner desselben, die 1763
vorgenommen wurde, stellte sich die überraschende Thatsache heraus, daß uuter
den Verehelichteu 150 Paare sich erst im achtzigsten, 70 im neunzigsten, 12
zwischen dem hundertste:? und dem hundertundfünften Jahre des Mannes ge-
heirathet hatten, während ein Paar gar erst an den Altar getreten war, nach¬
dem der Bräutigam sein huudertundzehntes Jahr zurückgelegt hatte. Auch die
Gegend von Drontheim hat außerordentlich alte Leute erzeugt, unter denen
der in ganz Dänemark berühmte Drackenberg es auf 146 Jahre brachte. 1626,
also unter dem Könige Christian dem Vierten und zur Zeit des dreißigjährigen
Krieges geboren, lebte er unter sieben dänischen Herrschern bis zu Struensees
Sturz. Bis zu seinem neunundneunzigsten Jahre diente er mit Unterbrechung von
fünfzehn Jahren, wo er sich in türkischer Sklaverei befand, auf der Kriegs¬
flotte als Matrose, dann auf einem der in Jütland gelegenen Güter des Grafen
Dannenfkjold - Samsoe als Arbeitsmann. Als er 111 Jahre alt war, fiel es
dem alten Junggesellen ein, zu heirathen, und er nahm eine sechzigjährige
Wittwe zur Frau. Nachdem diese gestorben, verliebte er sich, obwohl er jetzt
volle dreizehn Jahrzehnte hinter sich hatte, in ein junges Bauernmädchen, und
als diese seinen Antrag ablehnte, versuchte er sein Heil bei mehreren anderen,
wo es ihm nicht besser erging. Da beruhigte er sich endlich, blieb ledig und
lebte noch sechzehn Jahre. Man begrub ihn in der Domkirche zu Aarhus, wo
man noch bis 1840 seine unverweste Leiche zeigte, und wo man auf dem Rath-
Hause uoch heute sein Bild sehen kann. Er war ein Mann von heftigem Tem¬
perament und legte noch in den letzten Jahren seines Lebens Proben seiner
Stärke ab. Man erzählt von ihm, daß er, als ihm bei seiner Verheirathung
ein Taufschein und andere Papiere abverlangt worden, sich entschlossen habe,
diese Beweise für sein Alter selbst aus seiner Heimath zu holen, und daß dieser
Entschluß zu einer Reise von Kopenhagen nach Drontheim, die damals noch
äußerst beschwerlich war, von ihm wirklich ausgeführt worden sei.
Endlich sah in Norwegen auch ein Dorf bei Bergen in Joseph Surrington
ein Wunder rüstiger Langlebigkeit. Im September 1797 starb derselbe im
hundertnndsechzigsten Jahre seines Lebens — d. h. vorausgesetzt, daß er sich
in seinem Alter nicht geirrt hatte, worüber wir später sprechen wollen. Er
behielt den ungeschwächten Gebrauch seiner Sinne und seines Verstandes bis
zur Stunde seines Todes. Tags vorher versammelte er seine Familie um
sich und vertheilte sein Vermögen unter sie. Er war mehrmals verheirathet
und hinterließ eine junge Wittwe und mehrere Kinder. Sein ältester Sohn
war 103, der jüngste erst 9 Jahre alt.
Nächst Norwegen scheint in neuer Zeit England viele Beispiele eines fast
unglaublich laugen Lebens gesehen zu haben. Wir nennen hier davon nur die
drei merkwürdigste», um später noch einiger in anderem Zusammenhange zu
gedenken. Im Jahre 1670 starb in Jorkshire H. Jenkins, der seiner Aussage
zufolge als zwölfjähriger Knabe der Schlacht bei Floddeufield beigewohnt
hatte, die 1513 stattfand. Man konnte ans den Registern der Kanzleien und
Gerichtshöfe ersehen, daß er nicht weniger als hundertundvierzig Jahre hin-
durch vor Richtern erschienen war und Eide abgelegt hatte. Seine letzte Beschäf¬
tigung war die Fischerei, und er soll, als er schon weit überfeinen hundertsten
Geburtstag hinaus war, noch im Staude gewesen sein, in starker Strömung zu
schwimmen. Ihm am nächsten kommt der Bauer Thomas Parr, der zu Alber-
bury in Shropshire lebte und 1635 im Alter von 152 Jahren 9 Monaten in
London starb. Als er 120 Jahre alt war, verheirathete er sich zum zweiten
Male mit einer Wittwe, mit der er zwölf Jahre lebte. Bis zu seinem
hundertnnddreißigsten Jahre verrichtete er noch alle Arbeiten im Hause und
half sogar beim Dreschen, und erst kurz vor seinem Tode fingen Augen und
Gedächtniß an, ihm schwach zu werden. Der König Jakob, der ihn als Selten¬
heit nach London hatte kommen lassen, ließ ihn nach seinem Ableben durch
Harrey seciren, und es zeigte sich die auffällige Thatsache, daß seine Eingeweide
in der besten Ordnung und daß selbst die Rippen noch nicht verknöchert waren.
Nicht viel jünger als dieser Urgreis segnete 1757 in Cornwallis I. Effingham
das Zeitliche, der, nnter Jakob dem Ersten geboren, lange Zeit als Soldat
gedient und sich zuletzt als Tagelöhner seinen Unterhalt erworben hatte. Er
sollte immer sehr mäßig gelebt und nur selten Fleisch gegessen haben. Bis in
sein hundertstes Jahr hinein wußte er nicht, was krank sein heißt, und noch
eine Woche vor seinem Ende machte er eine Reise von drei Meilen.
Der älteste Deutsche, von dem man weiß, war der am 23. April 1626
zu Wülcherstädt im Scilzbnrgischm geborne Georg Wunder. Er kam 1754
mit seiner Fran nach Greiz, wo man ihm, nachdem seine Zeugnisse richtig be¬
funden worden, eine Wohnung im Krankenhause anwies. Bald darauf starb
seine Frau im Alter von 110 Jahren, und er kam nun ins Waisenhaus, wo
man ihn verpflegte, bis am 12. December 1761 sein Tod erfolgte. Er war
somit fast 136 Jahre alt geworden. Nur in der letzten Zeit wurde er kindisch
und ging an zwei Stöcken, doch behielt er Gesicht und Gehör bis zu seinem
Ende. Mau zeigt in Greiz die Porträts dieser beiden alten Leute. Im Jahre
1792 starben zwei gleich alte Burschen, der eine ein gewisser H. Kauper zu Neuß
im Erzstift Köln, der andere ein abgedankter Soldat Namens Mittelstedt zu
Fissahn in Preußen. Der Erstgenannte, ein Mann von starkem Körperbau,
konnte bis an seinen Tod ohne Brille lesen und behielt auch den Gebrauch
seiner Vernunft bis zuletzt. Der Andere ist ein Beispiel dafür, daß sich das
Leben eines Menschen unter wechselreichen Schicksalen und den nachtheiligsten
Umständen unglaublich lauge erhalte» kauu. Derselbe war 16.81 als Leibeigener
geboren, wurde eines Abends von seinem Herrn mit dessen ganzer Equipage
und noch fünf Dienern verspielt, diente dann 67 Jahre als Soldat und machte
als solcher alle Feldzüge unter Friedrich dem Ersten, Friedrich Wilhelm dem
Ersten und Friedrich dem Großen mit. Er wohnte siebzehn Hauptschlachten
bei, war häufig in Todesgefahr und wurde mehrmals verwundet. Im sieben¬
jährigen Kriege tödtete ihm eine Kugel das Pferd unter dem Leibe, und er ge-
rieth in russische Gefangenschaft. Nach allen diesen Gefahren und Strapccheu
verheirathete er sich, und nachdem ihm zwei Weiber gestorben, nahm er sich
1790, also im hundertundzehnten Jahre seines Alters, die dritte Frau. Bis
kurz vor seinem Tode war er noch im Stande, alle Monate zwei Stunden
Wegs zu gehen, um sich seinen Gnadenthaler zu holen.
Diese Beispiele werden genügen, um zu zeigen, daß man auch heute noch
sehr alt werden kann. Kehren wir aber zu dem Wunsche darnach zurück, so
hat man die verschiedensten Mittel, ihn zu erreichen, vorgeschlagen und ange¬
wendet. Schon zu Davids Zeiten glaubte man an die Möglichkeit, einen alten
abgelebten Körper durch die Atmosphäre frischer Jugend kräftigen und erhalten
zu können, und noch Boerhave ließ einen achzigjährigen Bürgermeister zwischen
zwei jungen Leuten schlafen und versichert, derselbe habe dadurch neue Lebens¬
kraft gewonnen. Paracelsus besaß den Stein der Weisen, der misterblich
machte, konnte sich aber freilich selbst damit nicht helfen; denn er wurde nur
fünfzig Jahre alt. Aehnliche Phantastereien, unsterblich machende Amulete und
Elixire z. B., übergehen wir. Etwas besser war die Hungerkur, mit welcher
der Venezianer Cornarv sich das Leben verlängerte; denn er starb 1566 im
Alter von mehr als hundert Jahren, nachdem er die größere Hülste seines
Lebens hindurch täglich nicht mehr als 24 Loth Speise und 26 Loth Getränk
genossen hatte. Buffon war der Meinung, daß die Erde einst weniger dicht
als jetzt gewesen sei, und daß die Schwerkraft uicht so stark wie heutzutage ge¬
wirkt und dem Wachsthum des Menschen nicht so zeitig ein Ziel gesetzt habe;
derselbe sei infolge dessen später reif und somit auch spater welk und hinfällig
geworden, und könnte man es so einrichten, daß er jetzt wieder längere Zeit
wüchse, so würde auch die frühere lüugere Lebensdauer (die nach dem Obigen
nicht existirt hat) wiederkehren. Bacon denkt sich das Leben als Flamme, die
beständig von der sie umgebenden Luft verzehrt wird. Jeder, auch der härteste
Körper wird nach ihm durch diese Verdunstung aufgelöst. Er zieht daraus
den Schluß, daß durch Verhütung dieses Verzehrtwerdens und von Zeit zu
Zeit vorgenommene Erneuerung unserer Säfte das Leben verlängert werden
könne. In jener negativen Richtung empfiehlt er kalte Bäder und das Ein-
reiben mit Oel oder Salbe nach denselben, Gemüthsruhe, kühle Diät und den
Gebrauch von Opiatmitteln. Die Erneuerung der Säfte aber soll alle zwei
bis drei Jahre zunächst durch Wegschaffung der alten und verdorbenen ver¬
mittelst einer Hungerkur und ausleerender Mittel und dann durch ausgesucht
gute, frische, nahrhafte und stärkende Diät stattfinden. Hufeland hat zur
Verlängerung des Lebens ein Verfahren vorgeschlagen, welches in der Haupt¬
sache auf Maßhalten in allen Genüssen, Abhärtung und viel Bewegung in
freier Luft hinausläuft, und welches ohne Zweifel geeignet ist, die Langlebigkeit,
wo sie als angeborne innere Anlage vorhanden ist, zu unterstützen und andrer¬
seits ihr Gegentheil einzuschränken und zu hemmen.
Sehr alt gewordene Leute empfehlen, im Greisenalter zu den Speisen der
Kindheit, Milch, Suppen und andern flüssigen und leicht verdaulichen Speisen
zurückzukehren und Rind- und Schweinefleisch, Butter und Käse, sowie Thee
und Kaffee nur müßig zu genießen, wohl aber täglich ein paar Gläser Wein,
„die Milch der Greise", zu trinken. Nach Andern sollten betagte Leute, die
noch lange den Frühling wiedersehen wollen, in der Regel Hammelfleisch, Ge¬
flügel und Fische und so hüufig als nur möglich Spargel essen. John Wilson,
der ein Alter von 116 Jahren erreichte, lebte die letzten vierzig davon vor¬
wiegend von gebratenen Rüben. Fontenelle, der im Jahre 1757 fast hundert¬
jährig starb, Pflegte sich jeden Frühling durch reichliches Verspeisen von Erd¬
beeren zu verjüngen. Wieder Andere schrieben ihr hohes Alter anderen Genuß-
mitteln zu. Einer hatte täglich ein frisch gelegtes El, ein Zweiter dick mit
Zucker bestreutes Butterbrot, ein Dritter Citronenschale, ein Vierter Safran zu
sich genommen. Einer räucherte den Todesengel mit einer Tabakspfeife hin¬
weg, die er selten ausgehen ließ, wieder einer folgte Bacons Rath und gebrauchte
Opium. Für besonders zuträglich galt zu den verschiedensten Zeiten der Honig.
Pythcigoras und Demokrit sollen dadurch ein so hohes Alter erreicht haben,
daß sie sich täglich auswendig mit Oel und inwendig mit Honig halbem, und
in England Mrden in diesem Jahrhundert, wie behauptet wird, zwei bejahrte
Herren infolge der Gewohnheit, jeden Morgen eine Tasse Thee mit Honig zu
trinken, der' eine 108, der andere gar 116 Jahre alt. Wie viel davon Wahr¬
heit, wie viel Täuschung ist, bleibe dahingestellt. Haben die genannten Dinge
gute Dienste geleistet, so ist das noch kein Beweis, daß sie sie Allen leisten
werden. '
Daß es gewisse Länder und Gegenden giebt, die mehr Beispiele von Lang¬
lebigkeit darbieten als andere, scheint sicher zu sein. Obenan stehen Norwegen,
England und Irland. Im hohen Norden und im tiefen Süden Europas
kommt ein Alter über das volle zehnte Decennium hinaus kaum vor, doch
traf Tournefort in Athen einen Consul an, der 118 Jahre alt sein wollte, und
auch aus Spanien wird von Leuten berichtet, die ein Alter von 110 Jahren
erreicht hätten. Von Frankreich wissen wir, daß, von Fontenelle und dem
Grafen de Waldeck abgesehen, 1757 dort ein Mann von 121 Jahren und 1770
im Dorfe Puy bei Limoges der Bauer Antoine Seins gestorben ist, der es
auf 111 Jahre gebracht haben sollte. Seine gewöhnliche Kost waren Kastanien
und Mais. Nie hatte er Arzenei eingenommen oder zur Ader gelassen. Er
arbeitete noch vierzehn Tage vor seinem Ende, hatte gute Augen und besaß
seine Haare und Zähne noch — ob viele Haare und alle Zähne, wissen
wir nicht.
Der Amerikaner Eugene Thomson, dessen Aufsatze „Luriositiös ok I.onZ<z-
vity" wir in der nachstehenden Hülste unserer Betrachtung auszugsweise und
nur hier und da mit einigen längeren Zusätzen folgen, weist nach, daß die meisten
der Regeln, die man in Betreff der Langlebigkeit geltend gemacht hat, Ausnahmen
zulassen. Er sagt u. A.: „Man hat die Ansicht aufgestellt, daß man in weiter,
freier, stiller Gegend, wo das volle warme Sonnenlicht ungehindert scheint,
mehr Aussicht habe, ein sehr hohes Alter zu erreichen, als in engen, dumpfigen,
lürmerfüllten Städten. Aber man beachte die folgenden beiden Fülle. Im
Jahre 1789 starben Mary Burke, 109 Jahre alt, die in Drury Laue zu London,
und Anne Brestow, 102 Jahre alt, welche in dem nordenglischen Dorfe Culbek
ihr Leben verbracht hatte. Jene hatte in Schmutz und Armuth und umgeben
von der schlechtesten Luft, diese, eine Quälerin, in Wohlstand und der gesunden
Nachbarschaft der Seen in den Bergen von Cumberland gelebt."
Wir haben oben gesehen, daß eine sorgfältige Auswahl der Speisen,
Mäßigkeit im Genuß derselben sowie in Betreff der geistigen Getränke, die
Gewohnheit, sich fleißig Bewegung in freier Luft zu machen und die Be¬
herrschung seiner Leidenschaften der Erfüllung des Wunsches nach langem
Leben besonders förderlich sind. Thomson zeigt uns, daß auch diese Regel
mehrere auffallende Ausnahmen zugelassen hat. Mau wird in diesen Fällen
annehmen müssen, daß die betreffenden Sünder gegen jene Gebote zu einem
hohen Alter prädestinirt Ware», daß sie trotz alles Austürmeus dagegen und
trotz aller Vernachlässigung der allgemein anerkannten Vorsichtsmaßregeln zu
hohen Jahren gelangten. Sie fanden, wo sie nicht suchten, sie ernteten, wo sie
nicht gesäet hatten. Wenn schon ein Urgreis von hundert Jahren gewöhnlich
eine unschöne Curivsitüt und oft eine abstoßende Moustruvsität ist, die über
ihre Zeit hinaus jüngeren Leuten Platz zu machen zögert, so wird die Sache
doppelt widerwärtig, wenn ein solcher alter Zauberer im Leben hängen bleibt,
obwohl er den bewährtesten Gesetzen für die Gesundheitspflege täglich Hohn
spricht. Und solche thörichte Langlebige hat es gegeben. Thomson erzählt:
„John Weeks heirathete in seinem hundertuudsechsten Jahre seine zehnte Fran —
ein Mädchen von sechzehn Sommern. Er hatte einen Appetit, der Gefräßigkeit
zu nennen war und Alles durcheinander hinunterschlang. Noch einige Stunden
vor seinem Tode, der erst acht Jahre nach seiner letzten Heirath erfolgte, aß
er drei Pfund Schweinefleisch und zwei Pfund Brot, wozu er eine Pinke Wem
trank." Ist in diesem Falle die Möglichkeit gegeben, anzunehmen, daß hier
das obenerwähnte Recept zur Lebensverlängerung sich bewährt hat, welches
dem König David die junge Abisag von Sunem verordnete, nud welches später
Bverhcwe anwendete, so war bei dem zweiten Beispiele Thomsons davon nicht
die Rede. „Ein geistlicher Herr, der Vicar Davies in Staunton am Wye,
wurde 105 Jahre alt, obwohl er sich in den letzten dreißig Jahren seines
Lebens keine andere Bewegung machte, als daß er bisweilen, einen Fuß vor
dem andern herschiebend, von Zimmer zu Zimmer rutschte. Und doch aß er
wie ein Drescher und überdies die unverdaulichsten Dinge-Heiße Semmeln,
dick mit Butter bestrichen, zum Frühstück, zu Mittag eine Meuge verschiedeuer
Gerichte, zum Abendbrot warmen Braten, wozu er des Morgens tüchtig Thee
oder Kaffee und des Abends tapfer Portwein trank.
Auffallen muß, daß wir vorzüglich uuter Leuten niedern Standes ein
solches Patriarcheualter finden, und daß dieselben größtenteils auf dem Lande
wohnten. In ersterer Beziehung sollte mau denken, daß der Besitz von Reich¬
thum und Bildung die Mittel an die Hemd gebe, sich besser gegen die Dinge,
welche die Gesundheit bedrohen und das Leben abkürzen, zu schützen als Dürftigkeit
und Unwissenheit, und daß sodann der Gebildete sich nicht so leicht in der Zeit ver-
rechnen wird, als der Ungebildete. In letzterer Hinsicht aber ist es, wenn sich
über hundert Jahre alte Leute vorwiegend in obscurer Dörfern finden, wohl
weniger mit der dort herrschenden guten Luft und einfacher, ruhiger, gleich¬
mäßiger Lebensweise als damit zu erklären, daß außer dem ipse üixit, des
alten Herrn oder der alten Dame selbst meist kein anderer Beweis für das
Mirakel vorhanden ist. Sobald wir uns den Städten nähern, wo die Wissen¬
schaft die Sache beleuchten kann, hören die Wunder in der Regel anf. Häufig
kommt zu der Gedächtnißschwäche des betreffenden Urgroßvaters auch eine
Dosis Eitelkeit, die ihm sich ein Dutzend Jahre mehr andichten hilft. Endlich ge¬
schieht es vielleicht in Ortschaften, wo viele Leute desselben Geschlechts und
Namens beisammen wohnen, mitunter auch, daß ein Achzigjähriger in seiner
Unklarheit über die Vergangenheit seinem noch lebenden hundertjährigen Vater
auch noch die Jahre des Vaters, Oheims oder Bruders desselben miegt.
Treffen wir in England außerordentlich viele uralte Männer und Frauen an,
so erklärt fich das wohl vor Allem mit der durchschnittlich außerordentlich ge¬
ringen Bildung der Landbevölkerung, die erst vor Kurzem überall Schulen
bekommen hat. Begegnen wir jenen viel reichlicher in den beiden letztverflossenen
Jahrhunderten als heutzutage, so ist der Grund hiervon derselbe: man war
früher noch unwissender und noch weniger aufgeklärt und infolge dessen noch
mehr der Selbsttäuschung ausgesetzt und noch leichtgläubiger; endlich aber besaß
man keine Kirchenbücher, Civilstandsregister und Lebensversicherungstabellen.
Die Behauptung, die alte Race sei kräftiger und zäher gewesen, ist einfach
nicht währ, im Gegentheil, die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen und
damit die Möglichkeit für den Einzelnen, weit über dieselbe hinauszukommen,
hat in unserm Jahrhundert in allen civilisirten Ländern nicht unerheblich zu¬
genommen.
Als begründet ist wohl die Behauptung anzusehen, daß im Durchschnitt
mehr Frauen sehr alt werden als Männer, und dasselbe scheint von derjenigen
zu gelten, daß verheirathete Frauen im Verhältniß von zwei zu eins ein höheres
Alter erreichen als unverheirathete. Die ältesten Menschen aber, von denen
wir vernahmen, gehörten dem männlichen Geschlechte an, und wenn mehr Frauen
als Männer 110 Jahre alt geworden sind, so finden sich über dieses Alter
hinaus mehr Männer als Frauen. Als einziges Beispiel, wo eine alte Jungfer
zu sehr hohen Jahren gelangte, nennen wir die französische Putzmacherin
Marie Mallet, die, als sie in: hundertuudfnnfzehuten Lebensjahr gestorben war,
von fünfundvierzig Greisinnen, welche als junge Mädchen bei ihr in der Lehre
gewesen waren, zu Grabe begleitet wurde. Ein merkwürdiges Bild langer
Lebensdauer nach zahlreichen Geburten war Mary Prescott in der englischen
Grafschaft Sussex> die 1768 im hundertundfünften Jahre ihres Alters mit
Tode abging, nachdem sie Mutter von siebenunddreißig Kindern geworden war.
Agnes Milbourne brachte es im Punkte der Kinder fast ebensoweit und in
Betreff des Alters weiter. Sie hatte von einem Manne 29 Söhne und eine
Tochter, die sie allesammt überlebt hatte, als sie 106 Jahre alt im Armen¬
hause starb. Im Jahre 1805 schied in Westindien eine Fran Mills in ihrem
hundertundachtzehnten Jahre aus der Welt, und als man sie begrub, folgten
ihrem Sarge 295 Kinder, Enkel und Urenkel, von denen 60 zu einem dortigen
Milizregimente gehörten.
Die fernere Betrachtung unserer Urgreise läßt uns — immer vorausgesetzt,
daß wir es in den betreffenden Berichten mit der Wahrheit zu thun haben
— die Bemerkung machen, daß ganze Familien mit Langlebigkeit begabt ge¬
wesen sind, und daß diese Eigenschaft in einigen Fällen erblich aufgetreten ist.
Dies erscheint eben nicht wunderbar. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Die Vererbung und Uebertragung der Fähigkeit zu langem Leben wird Jedem
ungefähr so natürlich vorkommen als das Forterben von Gemüthsanlagen,
z. B. Jähzorn oder Schwermuth, von Charakterzügen, von körperlichen Schön¬
heiten oder Mängeln, von Gebrechen und Krankheiten vom Vater auf den
Sohn und vom Sohn auf den Enkel. Sehr oft sieht ein Mensch „seinem
Vater" oder „seiner Mutter wie aus den Augen geschnitten" ans, häufig hat
er genau die Nase oder die Mundbildung eines von seinen Eltern oder den
Gang seines Vaters oder Großvaters. Gewisse Manieren verpflanzen sich von
Glied zu Glied, das Temperament kommt wieder, die oder jene Liebhaberei,
der Trieb zum Sammeln, die Passion für Bücher, für die Jagd, für Blumen,
Geiz oder Freigebigkeit u. s. w. Die Nachbaren behaupten, die Familienüber-
lieferung oder die Bilder des Ahuensaales bezeugen es. Warum sollte der
Langlebige nicht auch seine starke und zähe Widerstandsfähigkeit gegen die
schädlichen Einflüsse fortpflanzen können, die das Leben bedrohen? In der That
giebt es einige Beispiele, welche dies bejahen lassen, und wenn es nicht die Regel
ist, so sind aller Wahrscheinlichkeit nach verhängnißvolle Unfälle daran schuld,
welche den Nachkommen langlebiger Väter den Lebensfaden vor der Zeit ab¬
schnitten, die sie die Nntnr erleben lassen wollte. 1722 starb in Gloueester-
shire eine Fran Kiethe, welche drei Töchter, eine von hundertelf, eine von
hundertzehn und eine von hundertneun Jahren hinterließ, während sie selbst
das hohe Alter von hundertunddreißig Jahren erreicht hatte — wenn wir
unserer Quelle Glauben beimessen dürfen. Ein ganz besonders merkwürdiger
Fall forterbender Langlebigkeit aber ist die Familie des bereits erwähnten
Thomas Parr, der beiläufig in der Westminster - Abtey begraben liegt. Als
der „alte Parr" zum zweiten Male Hochzeit machte, war er ein Bräutigam
von 120 Jahren. Wie alt seine Töchter geworden sind, wissen wir nicht. Im
Jahre 1757 aber starb in Shropshire ein gewisser Robert Parr, nachdem er
hundertundvieruudzwanzig Mal seinen Geburtstag erlebt. Er sollte der Urenkel
des berühmten „alten Parr" sein, und sein Vater sollte ein Alter von 109,
sein Großvater ein solches von 113 Jahren erreicht haben. Die Gesammt-
summe der Lebensjahre dieser vier Angehörigen der Familie Parr beläuft sich
auf 498, schreibe vierhundertundachtundueunzig, mit andern Worten aus mehr
als den vierten Theil der Zeit, die seit Beginn der christlichen Aera verflossen
ist. Aber noch nicht genug: John Nawell, der 1761 im Alter von 127 Jahren
zu seinen Vätern versammelt wurde, und John Michaelson, der 1763 ebenso
alt starb, waren beide Enkel von Töchtern oder Söhne von Enkelinnen des
„alten Parr."
Ob, oder sagen wir lieber, wie weit, die Erzählungen, nach denen hoch¬
betagten Menschen einzelne oder alle Sinne sich verjüngt haben, schwaches
Gesicht oder stumpf gewordenes Gehör wieder scharf geworden, neue Zähne
oder neue Haare gekommen, ob ihnen andere, z. B. geschlechtliche Fähigkeiten
überhaupt niemals verloren gegangen oder später wieder zu Theil geworden
sind, erscheint uns zweifelhaft. Gewiß dagegen ist, daß nicht selten alte Leute
bei einem sehr schwachen Gedächtniß für unmittelbar hinter ihnen liegende
Ereignisse eine außerordentlich lebhafte Erinnerung an Dinge besitzen, die sie
in ihrer Kindheit erlebt oder gesehen haben. Hufeland glaubte an jene Ver¬
jüngung. Er sagt: „Bei vielen Beispielen des höchsten Alters bemerkte man,
daß im sechzigsten oder siebzigsten Jahre, wo andere Menschen zu leben auf¬
hören, neue Zähne und neue Haare hervorkamen, und nun gleichsam eine neue
Periode des Lebens anfing, welche noch zwanzig oder dreißig Jahre dauern
konnte — eine Art von Reproduction seiner selbst, wie wir sie sonst nur bei
unvollkommneren Geschöpfen wahrnehmen. Von der Art ist das merkwürdigste
mir bekannte Beispiel ein Greis, der zu Rechingen im Oberamt Bamberg in
der Pfalz lebte und 1791 in seinem hundertundzwanzigsten Jahre starb. Diesem
wuchsen im Jahre 1787, nachdem er lange schon keine Zähne mehr gehabt
hatte, auf einmal acht neue. Nach sechs Monaten fielen sie aus, der Abgang
wurde aber durch neue Stockzähne unten und oben wieder ersetzt, und so
arbeitete die Natur vier Jahre lang unermüdet und noch bis vier Wochen
vor seinem Ende fort. Wenn er sich der neuen Zähne einige Zeit recht be¬
quem zum Zermalmen der Speisen bedient hatte, nahmen sie bald eher, bald
später wieder Abschied, sogleich aber schoben sich in diese oder andere Lücken
neue nach. Alle diese Zähne bekam und verlor er ohne Schmerzen, und ihre
Zahl belief sich zusammen wenigstens auf ein halbes Hundert."
„Ein Baron Baravieino de Capellis, der 1770 zu Meran in Tirol in
einem Alter von 104 Jahren starb, hatte vier Frauen nach einander genommen,
im vierzehnten Jahre schon die erste und im vierundachtzigsten die letzte. Aus
seiner vierten Ehe" — wir citiren Hufeland hier mit einigem Kopfschütteln
— „wurden ihm sieben Kinder geboren, und als er starb, war seine Frau
mit dem achten guter Hoffnung. Er verlor die Munterkeit seines Leibes und
seiner Seele erst in den letzten Monaten seines Lebens. Nie brauchte er eine
Brille, und oft machte er in seinem hohen Alter noch einen Weg von zwei
Stunden zu Fuße. Seine gewöhnliche Kost waren Eier, nie aß er gekochtes
Fleisch, nur dann und wann gebratenes, aber immer nnr wenig. Thee trank
er häufig, und zwar mit Rosoglio und Zuckerkand."
Mehrere unserer ehrwürdigen Freunde und Freundinnen durften sich also
getrauen, in hohem Alter wieder zu heirathen. Manche aber unternahmen
das Wagniß nicht blos wie de Capellis vier, sondern fünf, sechs, zehn Mal,
ja der Franzose Jaaues Gay in Bordeaux, der 1772 in: Alter von 101 Jahren
mit Tode abging, hatte nacheinander sechzehn Frauen glücklich gemacht und
begraben, und die 1768 verstorbene Schottin Margaret Maedowal that es
ihm in den hnndertnndsechs Sommern, die über ihr Haupt hinzogen, in der
Hartnäckigkeit des Verlangens nach immer neuen ehelichen Freuden beinahe
gleich; denn sie ging aus dieser Zeitlichkeit als bekümmerte Wittwe des drei¬
zehnten Mannes.
Wie viel schöner als diese flatterhaften Alten ist das Bild der treuen
und entsagungsvollen Britin Agnes Stümer, die 1499 in ihren: hnndertnnd-
zehnten Lebensjahre von hinnen schied, nachdem sie ihren seligen Stümer volle
zweinndnennzig Jahre beweint hatte, ohne je ein Ange ans einen zum Nach¬
folger geeigneten Andern zu werfen! Ein ganz besonders rührendes Beispiel
ehelicher Treue, welches in unsern Angen nur deu Maugel hat, etwas un¬
glaubwürdig zu sein, sind Johann Rovin und seine Fran Sarah, die nach
Thomson 1741, er 172, sie 164 Jahre alt, zu Temeswar starben. Sie hatten
nicht weniger als hnndertachtundvierzig Jahre als Eheleute mit einander ver¬
lebt, und ihr jüngster Sohn war zur Zeit ihres Hinganges ein Greis von
116 Jahren. Was wollen unsere diamantenem Hochzeiten dieser Wiederkehr
von Philemon und Baucis gegenüber bedeuten! Und nun vollends die goldenen,
von den silbernen gar nicht zu reden.
Wir haben uns, meinen wir, hinreichend gegen den Vorwurf der Leicht¬
gläubigkeit verwahrt, und so können wir ohne Gefahr und ohne erst zu sagen,
daß wir mit den: Folgenden theilweise Erfindungen oder mindestens Ueber¬
treibungen nacherzählen, unsrer Quelle noch ein paar hierher gehörende Wunder
entnehmen.
Im Jahre 1702 starb der Smyrneser Franz Hvngo, venetianischer Consul
in seiner Vaterstadt, in: huudertunddreizehnten Jahre. Er hatte niemals in
feinem Leben Wein oder andere gegohrene Flüssigkeiten getrunken und in der
letzten Zeit lediglich Fleischbrühe zu sich genommen. Er war nie krank, ging
in hohem Alter uoch täglich drei Meilen weit spazieren und behielt Gesicht,
Gehör und Gedächtniß ungeschwächt bis zum letzten Augenblicke. Er war
fünfmal verheirathet und hatte neunundvierzig Kinder. Als er etwa hundert
Jahre alt war, fiel ihm sein weißes Haar aus, und anderes von der früheren
Farbe trat an seine Stelle, und in seinem hundertundzwölften Jahre bekam er
zum dritte» Male Zähne.
1774 starb in seinein hnndertnndsechsundzwauzigsten Jahre John Tiee, nach¬
dem er noch in der letzten Hälfte feines Lebens mehrere gefährliche Unfälle mit
großer Zähigkeit überstanden hatte. Als Achziger brach er beim Fällen eines
Baumes beide Beine, und als Hundertjähriger fiel er in ein Kohlenfeuer,
welches ihn schrecklich verbrannte; aber beide Male erholte er sich in kurzer
Zeit, und bis zu seinem Ende, welches plötzlich eintrat, als er von: Ableben
eines Gönners benachrichtigt wurde, erfreute er sich des vollen Gebrauchs seiner
Glieder und Kräfte.
James Hatfield war Soldat und stand einmal des Nachts in Windsor
Schildwache. Da hörte er die Uhr der Se. Paulskirche in London, die drei¬
undzwanzig englische Meilen von ihm entfernt war, deutlich statt zwölf drei¬
zehn schlagen. Da die Ablösung, die er erwartete, ausblieb, schlief er ein.
Bald darauf erschien die zögernde Ablösung und sand ihn in diesem Zustande.
Er wurde in Haft genommen und vor ein Kriegsgericht gestellt, wo er die
Anschuldigung, vor Mitternacht auf seinem Posten geschlafen zu haben, in Ab¬
rede stellte und zu seiner Vertheidigung die Geschichte von den dreizehn Schlägen
der Uhr in London erzählte, eine Thatsache, die bis dahin in Windsor nie¬
mand anßer ihm kannte. Sein Leben wurde dadurch gerettet, und er starb
erst 1770 und zwar in seinem hundertundfünften Jahre.
Eines der jüngsten Beispiele sehr hohen Alters in England war Eliza-
beth Gray, die 1856 bald nach ihrem hnndertundachten Geburtstage aus der Welt
ging. Sie hatte ihren Vater um volle hundert Jahre überlebt und wurde
neben einem Halbbruder beerdigt, der huudertundachtundzwanzig Jahre vor ihr
gestorben war.
Im Verlaufe des vorigen Säculums wurde ein Franzose, der sich eines
schweren Verbrechens schuldig gemacht, in seinem einundzwanzigsten Jahre zu
lebenslänglicher Galeerenstrafe verurtheilt und ins Bagno von Toulon abge¬
führt. Nach den französischen Gesetzen hat der Ausdruck „lebenslänglich" in
solchen Fällen die Bedeutuug, daß die Strafe nach Verfluß von hundert Jahren
für abgebüßt gilt. Nachdem unser ehrwürdiger Sträfling diese Frist abgedient
hatte, entließ man ihn ans dem Bagno, und er kehrte nach seinem Heimathsdorf
zurück; aber gleich den Siebenschläfern von Ephesus fand er dort Alles ver¬
ändert, und keine Seele im Orte kannte ihn oder hatte je von ihm gehört.
Er hatte über die Gesetze, über die Zeit, über das dürftige und harte Leben
eines Galeerensklaven triumphirt, jetzt aber wandte er sich betrübten Herzens
nach Toulon zurück und schied bald darauf aus einer Welt, in die er nicht
mehr gehörte.
Im Jahre 1609 fiel die irische Gräfin von Desmond von einem Apfel¬
baum, von dem sie Früchte pflücken gewollt, brach den Schenkel und starb an
einigen Tagen an der Verletzung — hundertnndfüufundvierzig Jahre alt! Sie
hatte in ihrer Jugend bei Hofe mit dem Herzoge von Gloucester getanzt, der
später Richard der Dritte genannt wurde. Sie war von heiterem, lebenslustigen
Temperament und blieb so bis in ihr höchstes Alter. Noch nach ihrem
hundertsten Geburtstage sah man sie sich beim Tanze betheiligen. Sie bekam
dreimal neue Zähne. Als ihre Familie dnrch die Rebellion zu Grunde ge¬
richtet worden, unternahm sie, damals schon weit älter als hundert Jahre, die
weite und in jenen Zeiten beschwerliche Reise nach London, um bei Jakob dem
Ersten Hülfe zu suchen.
Gleichfalls eine sehr seltsame Erscheinung war ein polnisches Ehepaar,
von dem uns Thomson erzählt. Margaretha Krasiowna verheirathete sich in
ihrem viernndneunzigsten Jahre zum dritten Male und zwar mit Kaspar Ray-
kolt, der elf Jahr älter als sie gewesen sein soll. Trotzdem gebar sie ihm —
hier wankt und flackert unser Glaube — bis 1763, wo sie, hundertundacht
Jahre alt, das irdische Daheim mit dem himmlischen vertauschte, noch zwei
Knaben und ein Mädchen. Diese Kuider aber waren — hier geht uns die
Lampe des Glaubens ganz ans — greisenhaft wie ihre Eltern: sie hatten
graue Haare, bekamen keine Zähne, zeigten runzelige Gesichter und schlichen
langsam und gebückt einher. Die Sache sieht ganz wie eine Verspottung ge¬
wisser Behauptungen von der unerhörten Productionskraft alter Leute aus,
und wir theilen sie eigentlich nur als malerischen Unsinn mit.
Thomson bemerkt, daß unsere Urgreise meist von kleinem Wuchse sind.
Er sagt: „Hochgewachsene Männer und Frauen sind den Unfällen, die das
Leben bringt, mehr ausgesetzt als kleine, und ihr Organismus ist in der Re¬
gel nicht so eompact gebildet, als derjenige der Letzteren. Zwerge haben nicht
selten die Linie überschritten, welche das Ende des zehnten Decenniums be¬
zeichnet. Unter Andern möge die Engländerin Elsbeth Watson erwähnt wer¬
den, die in dem hohen Alter von 115 Jahren starb. Sie war zwei Fuß nenn
Zoll groß und ziemlich umfangreich, wofern bei einer solchen Pygmäengestalt
von Umfünglichkeit die Rede sein kann." Weit seltener gelangen Riesen über
jene Grenzlinie hinaus, doch weiß uns Thomson zwei Ausnahmen von dieser
Regel zu nennen. „James Macdonald, der 1760 im Alter von 117 Jahren
starb, war ein Gigant von sieben Fuß sechs Zoll Länge, und der Farmer
Charles Blizard, der dickste Mann in seiner Grafschaft, starb 1785, nachdem
er sein Alter auf 107 Jahre gebracht hatte."
Indem wir von diesen Ungeheuerlichkeiten sprechen, deren Bekanntschaft
man gewöhnlich auf Märkten und Schaubühnen macht, erinnern wir uns an
einen Schauspieler, dem wir in diesem Zusammenhange einen Platz anweisen
dürfen. Charles Macklin, der im vorigen Jahrhundert ein beliebter Clown auf
dem Coventgarden - Theater zu London war, starb 1797, nachdem er dasselbe
Alter wie jener wohlbeleibte Greis Blizard erreicht.
Reiselustige, unstete, ungewöhnlich bewegliche Geister scheinen es selten zu
hohen Jahren zu bringen. Dagegen ist eine conservative Gesinnung, eine gute
Dosis Phlegma und Geduld, ein Haften an der Scholle, am Amte oder Hause
dem Anschein nach dienlich zu langem Leben. Ein gewisser John Burnet, der
hundert und neun Mal Weihnachten feiern half, starb 1734 in demselben
Hanse, in dem er geboren worden war. Er heirathete sechs Frauen und zwar
drei davon, nachdem er das hundertste Jahr bereits hinter sich hatte. Ein ge¬
wisser Wrench, der 1785 aus der Welt schied, nachdem er seinen Geburtstag
hundertundeinmal erlebt, gab seinen Geist in demselben Zimmer auf, wo er zu¬
erst das Licht gesehen und seitdem immer gewohnt hatte. Seine zwei Frauen
hatten ihm nicht weniger als zweiunddreißig Kinder geschenkt. Der Geistliche
Braithwaite zu Carlile in England ging 1754 im Alter von 110 Jahren zu
seines Herrn Freude ein. Er hatte der Kirche, an welcher er angestellt war,
bei seinem Ableben über ein Jahrhundert gedient, da er damit angefangen
hatte, daß er 1652, im Alter von acht Jahren, in die Reihe der Chorknaben
derselben eingetreten war.
Wir werfen zuletzt mit Thomson die Frage auf, ob es im Ernst wün¬
schenswert!) sein kaun, ein Alter von mehr als hundert Jahren zu erreichen.
„Die persönliche Erscheinung der in weit vorgerückten Jahren stehenden Men¬
schen ist", wie Thomson sagt, „gewöhnlich weit davon entfernt, eine anmuthige
und gewinnende zu sein. Einige, die eine Gesichtsfarbe wie Mahagonyholz
haben, scheinen nur zusammenzutrocknen, aber Sehnen von Draht und eine so
zähe Natur zu besitzen, daß sie Dekade ans Dekade fortleben. Dann aber
giebt es Andere, vorzüglich unter den Angehörigen des weiblichen Geschlechts,
die nicht eindörren und zusammenschrumpfen, sondern fleischig bleiben und cor-
Pulent, bleich und quatschelig, ja zuweilen außerordentlich seit werden. Ihre
Haut furcht und runzelt sich nicht, sondern hängt in Wülsten herunter, und
ihre Stimme nimmt, statt fein und piepend zu werden, einen rauhen und heisern
Ton an. Denken wir uns dazu noch Zahnlosigkeit und Kahlköpfigkeit, er-
loschene oder tiefeingesunkene Augen, Gehörsschwäche, schlechte Beschaffenheit der
Organe des Athems und der Verdauung, Gehirnerweichung und was sonst
noch Häßliches und Verdrießliches ans dem Wege zwischen dem achtzigsten
und dem hundertsten Geburtstage^auch den meisten völlig normal Orgcmisirten
aufzulauern und sich aufzudrängen pflegt, so ist sehr alt werden näher betrachtet
trotz der Schrecken des Grabes kein rechtes Vergnügen. Diese eingetrockneten
Halbtodten, in deren Köpfen und Herzen die Persönlichkeit und das Bewußt¬
sein kann: noch erhalten sind, diese zu Fett gewordenen Reliquien längst ver¬
flossener Tage würden, wenn der Wunsch nach sehr langer Lebensdauer oft
erfüllt würde, wenn wir sie demzufolge häufiger zu Gesicht bekämen, oder
wenn wir sie sogar nicht als Ausnahmen, sondern als Regel zu betrachten
hätten, einen ^ bedrückenden Einfluß auf die uoch ganz lebende jüngere Welt
ausüben. Ein nützliches, sich selbst und seiner Umgebung erfreuliches, Segen
verbreitendes, das Vaterland förderndes Leben ist zu wünschen, nicht ein über
das gewöhnliche Maß hinausgehendes, unfruchtbares, schläfriges Fortflackern
der Lebensflamme. Leben heißt arbeiten, dann genießen können, und ein Vege-
tiren in halbversteiuertem Zustande, in Dusel und Traum, ein Zerbröckeln,
Verwittern und Erschlaffen, eine Existenz ohne die alten Freunde, ohne Ver¬
ständniß der neuen Zeit, ein Znsammenschwinden aller geistigen Fähigkeiten,
wie wir dies alles bei den hier besprochenen Urgreisen bemerken, erinnert doch
gar zu sehr an das ewige Leben der Frau im Glase, die in der lübeker
Marienkirche hängt, als daß man sich nicht geneigt finden könnte, einmal eine
Ausnahme von der Regel zu machen und sich lieber statt des Gewissen das Un¬
gewisse herbeizuwünschen.
Der Alarmruf, den die „Grenzboten" von der westlichen Grenze her im
December ausstießen, gegen die französische Anmaßung eines P. Merruau, der
unter der Haut eiues wissenschaftlichen Löwen die vollkommene Natur eines
französischen — Chauvins nur kümmerlich verbarg; dieser Alarmruf, die Re¬
daktion darf es sich sagen, hat seinen Zweck vollkommen erfüllt. Als im Fe-
brnarheft der Revue (los «Zeux moiulss unser verkleideter Löwe von Neuem seine
Stimme erschallen ließ, da haben ihn unabhängige, ofsieiöse und offizielle
deutsche Blätter tapfer an den Ohren gepackt und weidlich zerzaust. Daß sie
den nasenweisen Merruau so kräftig angefaßt haben und die verbissene und
verlogene Redaktion der Revue dazu, die nnr, um sich populär zu machen,
gegen Deutschland zetert, während sie uuter Badinguet I. ganz andere Töne
anschlug, das ist Recht und ein erfreuliches Zeichen. Und es ist natürlich, daß
sie dabei diesmal den „Grenzboten" voraus waren. Es ist nun einmal das
Loos einer periodischen Zeitschrift, daß sie von der Tagespresse überholt wird.
Einige bescheidene Blümchen indeß' sind den eiligen Händen entgangen, und da
einige davon zu den duftigsten und schönsten Geistesblüthen gehören, welche
der Phantasie Panlchens entsprossen sind, so finden sich vielleicht noch freund¬
liche Seelen, welche sich nicht undankbar von dieser Aehrenlese ans dem Felde
der internationalen Beschränktheit abwenden.
Gleich ans der ersten Seite dieses Aufsatzes „I^es numnes seeonäiurss par
Nerrus-u" (liovus d<Z8 Äoux moulees 'Jung XIX.) füllt dem Grimme unseres eben¬
so scharfsinnigen als kundigen Geguers ein harmloser Professor des Gymnasiums
zu Halle a/S. zum Opfer. Der hat in seinem Leitfaden der Geographie von
der physikalischen Zusammengehörigkeit der holländischen und jütischen Haiden
mit denen der norddeutschen Tiefebene gesprochen. Unser Franzose, von dem
Voltaires Ausspruch: seine Landsleute seien Tigeraffen, nur noch zur Hälste
gilt, da er die Tigernatur längst abgestreift, vielleicht nie besessen hat, sieht in
diesem Schulbuch der untern Klassen ein politisches Machwerk. Das ist dem
Menschen sehr übel gedeutet worden; meiner Ansicht nach mit Unrecht. Ein
Franzose hat keinen Begriff von der ehrenvollen Unabhängigkeit, in der sich
der deutsche Lehrer- und Gelehrtenstand mit geringen Ausnahmen stets bewegt
hat und Gott sei Dank noch bewegt. In seiner lieben Heimath kennt er's
nicht anders, als daß jeder, auch der namhafteste Gelehrte, nur nach monate¬
langem Antichambriren, Speichellecker ?e. bei dein Präfekten, Minister, je nach
dem Grade seiner Bedeutung, Lehrbücher der populären Wissenschaften veröffent¬
lichen darf. Es ist das nicht gesetzlich nothwendig, aber die liebe Geistlichkeit
hat ihre besonderen Gründe, gerade diesen Literatnrzweig zu überwachen, und
sorgt dafür, daß dem, welcher von solcher Ueberwachung sich emancipiren will,
einige Unannehmlichkeiten in seinem öffentlichen und privaten Leben Passiren,
die ihn für die Zukunft gefügig machen. Daher sieht ein Franzose gewöhnlichen
Schlages in jedem derartigen Lehrbuch auch in Deutschland ein officielles
Aktenstück. —
Sehr überraschend ist dagegen die Schilderung des norwegischen Fischer¬
volkes, von dem er erzählt, sie gehen zu den Lofodden auf die Wal¬
fischjagd und trotzen den Gefahren des Mälstroms, der „die Schiffe
in seinen Wirbel reißt und verschlingt"! Diese zwei interessanten
Notizen zeigen, daß unser Paulchen, wenn er auf dem oben bemeldeten Gym-
nahmen nach Halle sich zur Aufnahme meldete, von dein Verfasser des bitter¬
bösen Lehrbuchs kcuun in die Unterqnarta einrangirt werden dürfte, wenn er
eigensinnig bei der Behauptung stehen bleiben sollte: an den Lofodden wird
Walfang betrieben, und der Mälstrom verschluckt Schiffe zum täglichen Brote.
Mich wundert nur, daß er uns nicht ein Abenteuer von Kraken erzählt! Da¬
für aber entschädigt er uns dnrch die Schilderung, wie der norwegische Fischer,
wenn er genug Wale an den Lofodden gefangen hat und vom Mülstrom
Vormittags verschlungen worden ist, seine Nachmittage verbringt: da sitzt er
nämlich ans dem Fensterbrett seines Hanfes, das stets an einem bis 2000
Fuß hohen Abgrund steht, fischt mit der Angel und baumelt mit den Beinen
über dem Abgrund. So steht's ans Seite 401: „lies Hours Äo rexv8, on In,
darqus est dir6v sur lo «atte, ils xöektmt, assis M redorä alö leur fenötre,
Jos xiväs Luspklulus an-cleKZus ä<z 1'a.diuo." Was müssen die Leute für kalte
Füße bekommen!--
Als Merruau das Seetreffen bei Helgoland schildert, das am 9. Mai
1864 zwischen Dänen und Oesterreichern stattfand, da ist er nicht ganz im
Klaren, ob es Hinterlist oder Mangel an Muth von den preußischen Kanonen¬
booten war, daß sie nur aus der Ferne mit ihren häßlichen großen Kanonen
schössen, die immer so unangenehm sicher treffen. Sie hätten müssen die däni¬
schen Fregatten in den Grund bohren! Ja, das ist aber das Widerwärtige an
dieser race in-ussisimv — du hast es ja schou früher bemerkt — sie liebt
uicht „die Gefahr um ihrer selbst willen!"
Man glaube indessen nicht, daß solcher Unsinn auch in Frankreich von
allen gescheuten Leuten verlacht werden müsse. Es ist für uns Deutsche ganz
unglaublich, was für Albernheiten der gebildete Franzose anscheinend wider¬
standslos ertrüge, weil ihm der Sinn für historische Wahrheit absolut fehlt.
Das Sprüchwort: „Auf eine Lüge gehört eine Ohrfeige!" wird einem Franzosen
stets brutal erscheine», er würde ja einen großen Bruchtheil seiner Bekannten
mit geschwollenen Gesichtern erblicken müssen. Wie munter die Legendenbildnug
in Bezug auf die unangenehmen Thatsachen des letzten Krieges wuchert, dafür
können wir einen Beleg aus sehr guter Quelle bieten: Ein Schweizer ans dem
Waadtland, der im Jahre 1871 bei jenem schweizer Truppencorps, welches
Bourbakis fliehende Armee bei ihrem Uebertritt zu Pruntrut entwaffnete, als
Wehrmann eingezogen war, berührte auf der Reise im Sommer 1874 Lyon.
In einem dortigen Kaffeehause hörte er die Unterhaltung von zwei französi¬
schen Offizieren mit an. Der ältere, ein Kapitain, belehrte den jüngeren über
verschiedene Erlebnisse des großen Krieges. Der Lieutenant fragte unter
Anderem: Wie hängt das eigentlich zusammen, daß Bonrbakis Armee, nachdem
sie doch an der Lisaine siegreich die Armee der Preußen in ihrem Vordringen
aufgehalten, nicht dem General Manteuffel in die Flanke fiel, sondern diese
verunglückte Umgehung in den Jura unternahm? Der Kapitain meinte sehr
ruhig: so recht sei die Sache noch nicht aufgeklärt, Mangel an guten Karten
und die Erkrankung Bonrbakis seien wohl die Ursachen dieses ärgerlichen
Zwischenfalles gewesen, der ja auch nicht viel auf sich gehabt, sondern dnrch den
Waffenstillstand erledigt sei, „Da wallt dein Schweizer auch sein Blut!" Ob¬
wohl er als Kind der französischen Schweiz viel Sympathie für Frankreich
besaß, so ärgerte sich doch sein alemannisches Blut über solche Verdrehung der
Wahrheit. Er macht sich mit den Herren bekannt, und nachdem er will¬
kommen geheißen, erzählt er, in welchem Zustande vollkommener Zerrüttung
die französische Armee damals in athemloser Hast über die sichernde Grenze
geflüchtet sei, welches schauerliche Drama menschlichen Elends sich auf dem
eisigen Plateau von Pruntrut abgespielt, wie viele Tausende von Menschen und
Pferden auf der Stelle todt, wie viel mehr mit langem Siechthum behaftet die
schweizer Spitäler gefüllt, wie die wahrhaft heroischen Anstrengungen der
menschenfreundlichen Schweizer die Summe von Jammer und Leiden nicht
bewältigen konnten, wie hart hinter der französischen Arrieregarde die preußi¬
schen Verfolger erschienen seien, so scharf drängend, daß selbst einzelne
irrthümliche Schüsse zwischen ihnen und schweizer Patrouillen gewechselt seien.
— Mit unbeschreiblichem Erstaunen hören die beiden Franzosen diesen Bericht,
in dem jedes Wort den einfachen und doch so überwältigenden Zauber der Wahr¬
heit athmet. „0'the 6Mi Nonsisur, vous vous ütW trompö!" sagt aber
daun mit kurzer Verbeugung aufstehend der Kapitain, mit einem Seitenblick
den jüngern Offizier auffordernd ein Gleiches zu thun, und verläßt stramm
das Lokal.
So wird auch die Geschichte, die Paul Merruau vom Rolf Krake erzählt,
der siegreich dem Feuer von drei preußischen Batterien getrotzt habe, wider¬
spruchslos geglaubt werde«, während in Wirklichkeit dnrch zwei Granaten eines
gezogenen Zwölfpfünders der eine Thurm des Panzers in der Drehung ge¬
troffen wurde, und derselbe eiligst den Platz verließ, um nie wieder so „dichte
ran" zu gehen. Daß Paul Merruau später fortwährend von der dänischen
Insel „Fionie" spricht — er meint „Fühnen" — ist so rührend, daß man ihm zu
Weihnachten Klettes Kinderatlas, erste Stufe, für 60 Pfennige, „versprechen"
könnte. Es ist kein Druckfehler, denn auf Seite 417 steht es dreimal.
Aeußerst ergrimmt ist Merruan auch über die dänische Volksvertretung,
die sehr vernünftigerweise ihrer Regierung das Geld zu Flotte»- und Küsten-
banten verweigert, in der richtigen Erkenntniß, daß eine ruhige neutrale Politik
— eine freundschaftliche beansprucht kein Mensch — gegen Deutschland Däne¬
marks sicherste Schutzwaffe sei. — Den Schweden traut sich selbst Merruau
nicht zu erzählen, daß sie ebenfalls von Deutschland canellirt werden sollen;
dafür versucht er, sie durch Russenfurcht in ein höheres Marinebudget „hinein-
znjraulen", wie man in Berlin sagt.
Ganz besonders schön, ja ich möchte sagen, die Krone des ganzen Auf¬
satzes ist aber die Eroberung Hannovers durch Preußen im Jahre 1866. Es
weht darin etwas von: Hauche Ouro Klopps. Und nur Ehrfurcht vor dem
geistigen Auge des Dichters, das, in holdem Wahnsinn rollend, so neue und
interessante Thatsachen auf den breitgetretenen Pfaden der Weltgeschichte erblickt,
hindert mich, durch freche Einschaltungen diese wahrhaft erhabene Jliade des
Blödsinns zu unterbrechen. Wörtlich heißt es da. ... „Hannover hatte einen
blinden König, der von seinen Unterthanen geliebt, durch Verträge geschützt,
unter den Fittichen Albions lebte. Er konnte auf alle Rechte Anspruch machen,
znerst auf das, welches eine ehrwürdige Schwäche verleiht, es standen ihm so¬
wohl die europäischen Verträge, als die mit seinen lieben und getreuen Ständen
abgeschlossenen zur Seite. Aber trotz alledem verlangte der König von Preußen
am 13. Juni 1866 vom König von Hannover die Erlaubniß, ein aus Holstein
kommendes Armeecorps durch Hannover marschiren zu lassen. Diese Erlaubniß
wurde gegeben, und darauf erfuhr man, daß gleichzeitig an der Südgrenze
Hannovers ein Corps von 30,000 Mann zusammengezogen wurde und dem
König von Hannover die Aufforderung zugegangen sei, seine Truppen unter
preußischen Oberbefehl zu stellen. Da dies verweigert wurde, erklärte man
den Krieg, und — neun Tage später wurde die preußische Avantgarde von
den Hannoveranern über den Haufen geworfen. (Also am 22. Juni. Der Uebers.)
Doch war man noch nicht ganz fertig. (Das Wort g.relupr6t war damals
noch nicht erfunden.) Daher begann der preußische General über den Frieden
zu unterhandeln nnter der Bedingung, daß die Hannoveraner sich still verhielten
und ihren errungenen Sieg nicht verfolgten. Ein Agent des Königs von
Hannover wurde wohl unschuldigerweise in diesem Jntriguenspiel dupirt und
unterzeichnete den Frieden, ohne Wissen seines Monarchen. Ruhig vollendeten
die Preußen ihre Vorbereitungen, und zwei Tage später kündigten sie dem
König von Hannover an, daß sie ihn angreifen würden. Am andern Morgen,
den 27., rückten sie in der Hoffnung eines leichten Sieges aus, griffen an und
wurden vollständig geschlagen, aber von allen Seiten rückten Verstärkungen
heran, die funfzehntausend Hannoveraner wurden von funfzigtausend
Preußen umringt und mußten kapituliren!"
Welchen Grad von Unwissenheit muß der Verfasser seinem Publikum zu¬
trauen, um ihm dergleichen zu erzählen? Es wäre unverzeihlich, durch ein
Wort der Erläuterung den Zauber dieser Darstellung zu trüben.
Zwei Seiten weiter aber entblüht dieser entzückenden Franzosenseele eine
neue Knospe: „Frankreich, welches leider Gottes das Nationalitätsprincip ins
Leben gerufen hatte, zu allererst damit experimentirte, ach, heute ist es seiner
Illusionen darüber sicherlich beraubt!" —
Nachdem er dann noch versucht, den Beweis zu liefern, daß die Holländer,
aus Todesangst, nächstens vom Fürsten Bismarck gefrühstückt zu werden,
krampfhaft ihre Flotte vermehrtem, indem sie die horrende Summe von 24
Millionen Thalern für ihr Marinebudget jährlich auswerfen, obwohl hierin
die ganze coloniale Marine mit inbegriffen ist, eilt er zum Schluß, indem er
Preußen (Deutschland kennt er nnn mal nicht, darin ist er komisch) folgender¬
maßen apvstrophirt: „In dein neuen Europa fühlen alle Schwächeren ihre
Existenz bedroht durch die Grundsätze, welche Preußen entwickelt hat. Für
diese giebt es keine Sicherheit mehr. Dänemark, Schweden und Holland sichern
sich durch doppelte Riegel und Schlosser vor diesem Raubritterthum, Preuße»
mag diese tiefe Verwirrung aller Verhältnisse verantworten. Es hat seine
Waffen zu den niedrigsten Zwecken gemißbraucht, ohne Grund hat es seine
Nachbaren geplündert, nur um sich zu bereichern." (Franzosen thun dies nur
aus Humanität, mit an der Spitze der Civilisation voranhenleuden Nigger¬
bauden.) „Weder gesetzliche Interessen, noch Familienbande, noch geheiligte
Völkerrechte haben es in seiner Aunexionslaufbahu aufgehalten, unter den
elendesten Vorwänden hat es Kriege begonnen, indem es diejenigen niederschoß,
die ihre Heimath vertheidigten." Aber, Herr Merrnan, wen sollte es denn
sonst niederschießen? die Maul-und Federbetten reißen doch immer aus; thun
Sie doch nicht immer so, als ob Sie das nicht wüßten! „Ganz besonders
hat es in Europa die Vaterlandsliebe verringert und mit Gewalt den Scepticis-
mus und die machiavellistische Politik Friedrichs des Zweiten eingeführt." u. f. w.
So wollen wir denn auch Abschied nehmen von Merrnan mit den Worten
eines Freundes jenes Friedrich, „dessen Scepticismus wir jetzt mit Gewalt ein¬
führen", mit einer leichten Variante des Herrn von Voltaire wünschen wir
ihm: „weniger Vocale in seinen Namen und mehr Verstand in sein Gehirn."
Der jüngst zu Newyork im 83. Lebensjahre verstorbene Kommodore Cor¬
nelius Vauderbilt gehörte nebst William B. Astvr und Alexander Turney
Stewart zu den bekannten drei Nabobs der newyorker Millionäre. William
B. Astvr, der Sohn jenes armen Pfälzers Johann Jakob Astor, welcher im
November 1783 mit nur fünf Pfund Sterling und sieben Flöten, die er zur
Spekulation gekauft hatte, nach Amerika auswanderte, um dort als einer der
geachtetsten Bürger der Republik und im Besitze von circa dreißig Millionen Dollars
aus dem Leben zu scheiden, starb im Herbste des Jahres 1875; ihm folgte im
Tode am 10. April 1876 der einer schottisch-irischen Familie entsprossene reiche
Handelsfürst Alexander T. Stewart, und als der Dritte dieser „illustre Mu-
trörvs im Mammon" ist nun auch am 4. Januar d. I. Cornelius Vanderbilt,
in dessen Adern holländisches Blut rollte, dorthin gegangen, von wannen keine
Rückkehr ist.
Die Lebensgeschichte von Cornelius Vanderbilt bietet in hohem Grade
ein treues Bild von der Umsicht und Thätigkeit jener self-macle-men, die sich
jenseits des Atlantischen Ozeans aus eigener Kraft und mit bewundernswerther
Ausdauer und Energie ihren Lebensweg bahnen. Charakteristisch für Vanderbilt
ist der Ausspruch, den er einmal in den zwanziger Jahren that, und der ihm
für sein ganzes Leben eine Richtschnur blieb: „Es kommt weniger auf den
augenblicklichen Gelderwerb an, als darauf, daß man das einmal vorgesteckte
Ziel erreicht (w og.rr^ tue point)." Dieses unermüdliche Abwenden und Be¬
siegen der Hindernisse und Gefahren, welche sich ihm bei seinen Bestrebungen
in den Weg stellten, bildet das Geheimniß seiner Erfolge.
Cornelius Vanderbilt wurde am 27. Mai 1794 auf Skalen Island bei
Newyork geboren. Sein Vater, welcher daselbst eine kleine Farm besaß, brachte
seine Gartenprodukte auf einem ihm selbst gehörigen Boote nach Newyork auf
den Markt. Bei diesen Beschäftigungen pflegte ihm der junge Cornelius zu
helfen, der auf diese Weise uicht nur den Garten- und Ackerbau, sondern auch
die Führung eines Bootes kennen lernte. Rudern und Reiten gehörte zu den
Lieblingsbeschäftigungen des Knaben, dessen Schulkenntnisse über Lesen, Schreiben
und Rechnen nicht weit hinausgingen. Im Uebrigen aber wurde derselbe von
seinen Eltern zu einer geordneten Thätigkeit und zu einer strengen Pflichter¬
füllung angehalten. Sem frühester Ehrgeiz war darauf gerichtet, der selb¬
ständige Besitzer eines Bootes zu sein. Noch nicht siebzehn Jahre alt. übernahm
er es, für hundert Dollars, die ihm seine Mutter (sein Vater war bereits ge¬
storben) versprochen hatte, in verhültuißmäßig kurzer Zeit eine Landstände von
acht Acres gehörig zu beackern, zu besäen und zu bepflanzen. Er löste die
übernommene Aufgabe und kaufte sich nun mit dem erhaltenen Gelde ein
eigenes Boot. Dies war der Aufnng seiner selbständigen Carriere. Der junge
Vanderbilt führte ein äußerst thätiges und enthaltsames Leben und brachte
seiner Mutter, die er bis zu ihrem Tode mit der größten Zärtlichkeit liebte,
längere Zeit hindurch den größten Theil des Geldes, welches er mit seinem
Boote verdiente.
Als er achtzehn Jahre alt geworden war, brach (1812) der Krieg zwischen
England und den Vereinigten Staaten aus. Dies gab Vanderbilt Gelegenheit,
mit seinem Boote nach den verschiedenen Forts von Newyork, die theilweise
streng von den Engländern belagert wurden, Lebensmittel zubringen. Da er
"uf diese Weise einen ziemlich guten Verdienst hatte, heirathete er, obschon erst
neunzehn Jahre alt, im December 1813 Miß Sophia Johnson, mit der er
54 Jahre hindurch eine glückliche und zufriedene Ehe führte. In dem ersten
Kriegsjahre hatte er sich 500 Dollars erspart und äußerte gelegentlich seiner
Mutter gegenüber, daß er, wenn dies 20 Jahre hindurch so fort ginge, sein
angreifendes Geschäft aufgeben und ruhig von seinen Zinsen leben wolle.
Im Beginn des Jahres 1814 entrirte Vanderbilt mit den betreffenden
Militärbehörden einen Contrakt, dem gemäß er sechs militärische Posten im
Hafen von Newyork mit Lebensmitteln versehen mußte- Dies war ein ebenso
gefährliches, wie aufreibendes Unternehmen; Tag und Nacht mußte der junge
Mann auf dein Platze sein und anstrengend arbeiten. Aber seine Willensstärke
und seine eiserne Constitution halfen ihm über alle Schwierigkeiten hinweg.
Als das Jahr abgelaufen war, hatte er in ehrlicher Weise so viel verdient,
daß er sich ein kleines Schiff, den Schooner „llnz vrsaä", kaufen konnte, dem
er im dritten und letzten Kriegsjahre (1815) ein größeres Schiff, „?1le OKar-
lotts", hinzufügte. Im Jahre 1818 besaß er schon drei Schiffe und begann
nun einen Küstenhandel von Newyork und den Neuenglandsstaaten an bis
nach Charleston in Süd-Carolina und Savannah in Georgien. So einträglich
dieser Handel aber auch sein mochte, Vanderbilt gab ihn doch bald auf, in
der richtigen Erkenntniß, daß Segelschiffe die Concurrenz mit Dampfschiffen in
vieler Hinsicht nicht auszuhalten vermöchten. Er trat daher als oberster Leiter
des Geschäfts in die Dienste eines gewissen Thomas Gibbons, der eine Dampfer¬
name zwischen Newyork und Philadelphia ins Leben gerufen hatte. Diese
Stelle, welche gerade die geeignetste Schule für den künftigen „Dampferkönig"
^- Lwamboat KmZ, wie ihn seine Landsleute nannten — war, bekleidete er
zehn Jahre hindurch, obschon ihm wiederholt von den Concurrenten des Herrn
Gibbons verlockende Anerbietungen gemacht worden waren. Gibbons war
nämlich in einen bedrohlichen Prozeß verwickelt worden, und seine Gegner
boten Alles auf, Vanderbilt, der die Seele des Geschäfts war, von demselben
zu lösen. Allein Letzterer wies alle Verlockungen von sich und erklärte in seiner
ehrlichen und offenen Weise: „I hin>11 Stiel w Ur. Vibbons till is tKrouZK
mis troudls-," (ich werde bei Herrn Gibbons ausharren, bis er die obwaltenden
Schwierigkeiten überwunden hat). Und so geschah es.
Nach seiner Trennung von Thomas Gibbons baute Vanderbilt im Jahre
1829 sich selbst Dampfschiffe; das erste derselben, ,MtZ c^wline", spielte bei
der Insurrektion, welche 1837 in Canada stattfand, eine historische Rolle.
Wenige Jahre, nachdem die „Caroline" vom Stapel gelaufen war, besaß
Vanderbilt 38 Dampfschiffe und Dampfboote, die theils im North River, theils
im Hafen von Newyork und den Binnenwassern, theils endlich an der Küste
von Nordamerika beschäftigt waren, und von denen, so lauge sie in seinem
Besitze waren, kein einziges durch Feuer, Schiffbruch oder sonst ein Unglück
verloren gegangen sein soll. Der Commodore verwandte stets die größte
Sorgfalt auf die Ausrüstung und Beschaffenheit seiner Schiffe; Sachkenner
war er durch und durch. Man horte häufig von ihm den Ausspruch, daß
ein Mann, der ein öffentliches Geschäft treibe, seinen eigenen Vortheil am
meisten wahrnehme, wenn er mit Umsicht den Interessen des Publikums diene;
Niemand aber könne in großartigem Maßstabe ein Diener des Publikums
sein, der nicht seine Privatangelegenheiten mit kluger Sorgfalt zu führen
verstehe.
Als er 40 Jahre alt war, erinnerte ihn seine Mutter daran, daß er jetzt
wohl 20,000 Dollars besitze, und daß es um Zeit sei, wie er früher einmal
geäußert, sich von dem Geschäftsleben zurückzuziehen und in aller Ruhe von
den Zinsen seines Kapitals zu leben. Allein der Sohn, der damals vielleicht
400- bis 500,000 Dollars im Besitze haben mochte, wies auf seine zahlreiche
Familie hin und meinte, er könne es weder vor dieser, noch vor seinen
Mitbürgern verantworten, wenn er sich in der Vollkraft seines Alters schon
von jedem Geschäfte zurückziehen wolle. Und seine Mutter stimmte ihm bei.
Im Jahre 1851 eröffnete er, vou der Regierung von Nicaragua darin
unterstützt, in Opposition zu der schon bestehenden „?aeine Na,i1 LteÄM8d.ip
LoinMnzs" eine zweite Dampfer-Linie, welche über Panama den Verkehr zwischen
Newyork und Sau Francisco vermittelte. Die Goldminen Californiens machten
diesen Verkehr um jene Zeit zu einem äußerst lebhaftem Die ältere Linie
hatte das Passage-Geld von Newyork bis San Francisco auf 600 Dollars
festgesetzt; Vanderbilt ermöglichte es durch zweckmäßige Einrichtungen, daß
diese Reise für 300 Dollars gemacht werden konnte.
Im Jahre 1853 unternahm Vanderbilt, begleitet von einigen seiner näheren
Freunde und Familienmitglieder, eine längere Reise nach Europa, und zwar
auf dem neugebauten und prachtvoll eingerichteten Dampfschiffe „Mrtb. Star."
Er besuchte verschiedene europäische Hafenstädte und fand überall eine freundliche
und entgegenkommende Aufnahme. Nach seiner Rückkehr nach Amerika organisirte
er drei neue Dampfschiffsverbindungen, die eine zwischen New - Orleans und
Galvestou, die andere zwischen Newyork und Aspinwall, die dritte zwischen
Hcwre und Newyork.
Als der Secessionskrieg ausbrach und die Unionsregiernng größere Fahr¬
zeuge nöthig hatte, um schnell und sicher größere Truppenmassen von einem
Küstenorte nach dem andern zu verschiffen, machte Vanderbilt dem Marine¬
ministerium mit dem großen, geräumigen und äußerst solid gebauten Dampfer
.Vanderbilt" ein patriotisches Geschenk. Der Kostenpreis dieses Schiffes wurde
auf 800,000 Dollars angegeben. Während der Rebellion faßte aber der unter¬
nehmende Mann den Entschluß, das Dampfschifsswesen ganz aufzugeben und
seine Thatkraft Eisenbnhuunternehiuuugen zuzuwenden. Er hatte schon im
Jahre 1857 Wien der Newyork- und Harlem-Eisenbahn gekauft und zwar zu
einer Zeit, wo dies Unternehmen auf sehr schlechten Füßen stand. Da er
aber mit seiner gewohnten Energie die Sache angriff, nahm dieselbe bald einen
neuen Aufschwung, namentlich seit 1863, wo er zum Präsidenten der betreffen¬
den Gesellschaft gewählt worden war. Als er die ersten Aktien kaufte, zahlte
er für dieselben auf den Dollar nur drei Cents; allein schon nach fünf Jahren
standen dieselben 70 Procent. Bald darauf richtete er sein Augenmerk auf die
Hudson River-Eisenbahn; er kaufte dieselbe und hob sie in hohem Grade, in¬
dem ein doppeltes Geleise anlegte, Stahlschienen einführte und in Newyork
den großen Se. John's Park sür eine Million Dollars erwarb, auf welchem er
ein umfangreiches Frachtdepot errichtete. Im Jahre 1868 gewann er auch
die Leitung der „Newyork-Central-Eisenbahn", die er im folgenden Jahre mit
der Hudson-River-Bahn zu einem großen Ganzen vereinigte. Der Gewinn,
welchen diese ebenso klug wie umsichtig unternommenen Operationen gewährten,
war ein enormer; er verstand es eben, seinen individuellen Vortheil auf das
Zweckmäßigste und Beste mit den allgemeinen Interessen zu verbinden. Als
intelligenter Baumeister stand ihm ein gewisser Jsaac C. Buckhont zur Seite.
Cornelius Vanderbilt verheirathete sich im Jahre 1869 zum zweiten Male
"ut zwar mit Miß Frank Cmwford; er stand damals in seinem 75. Lebens¬
jahre, seine zweite Fran aber war 30 Jahre alt, beide waren von mütterlicher
Seite her mit einander verwandt. Auch diese Ehe war eine glückliche.
Die äußere Erscheinung Vanderbilts war eine imponirende; er war sechs
Fuß hoch und hatte ein ausdrucksvolles, scharf geschnittenes Gesicht. Da er
keine wissenschaftliche Bildung, wie z. B. Alexander T. Stewart, besaß, so gab
er für Bücher und Kunstwerke niemals viel Geld aus. Nur mit Pferden trieb
er einen gewissen Luxus; denn die Liebhaberei für Pferde hat er von seiner
frühesten Jugend an bis zu seinem Tode beibehalten. Er war stolz darauf,
die besten, schönsten und schnellsten Pferde zu besitzen, und als er nicht mehr
seine Wohnung verlassen und sich ins Freie begeben konnte, sah er wenigstens
voll seinem Fenster aus zu, wenn seine Lieblinge aus dem Stalle geführt
wurden. Im Essen und Trinken war er stets sehr enthaltsam, doch liebte er
eine gute Cigarre und machte gern eine Partie Whist.
Von seiner Wohlthätigkeit ist, wie dies sonst bei reichen Amerikanern wohl
zu geschehen Pflegt, nicht viel in die Öffentlichkeit gedrungen; auch sein Testa¬
ment enthält in dieser Beziehung nichts Erwähnenswerthes. Er kaufte und
verschenkte eine Kirche, „tke Ltiurcck «5 tre 8t,rg,nZ«r8", mit der ausdrücklichen
Bestimmung, daß darin kein religiöses Sektenwesen getrieben werde; er selbst
gehörte keiner bestimmten Glaubenssekte an. Auch gründete er zu Nashville
im Staate Tennessee eine höhere Schule, die sogenannte „Vg,nasi'bitt Uni-
versitz". In seinem Testamente hat er die Mitglieder seiner Familie (er hatte
vier Söhne und neun Töchter) und viele seiner treuen Diener reichlich bedacht;
sein ältester Sohn William H. Vanderbilt erbte das Meiste und wird wahr¬
scheinlich alles seinem Vater in der Präsidentschaft der „Newyork Central-Eisen-
bcchn" nachfolgen. Sein hinterlassenes Vermögen wird auf 70 bis 100 Mil¬
lionen Dollars geschätzt.
Die sterblichen Ueberreste des Commodore Cornelius Vauderbilt wurden
mit Vermeidung alles Pompes auf dem Morovian-Friedhofe bei Neu' Dorp
Rud. Doehn.
Wenn der große Wahlkampf des 10. Januar ganz Deutschland aufgeregt
und durchzuckt hat, so hat er besonders unser Bayern mächtig bewegt. Sind
wir doch so recht der Mikrokosmos des ganzen großen Reichs: nur die Polen
und Protest-Elsässer fehlen uns, sonst haben wir all die großen, aufs Aeußerste
gespannten Gegensätze des Reichstages aufs Schönste in und bei einander. Und
diese Gegensätze standen sich bei unsern Wahlen so schroff gegenüber, wie es
nur sein konnte. Auch wir haben der Überraschungen und Enttäuschungen,
wenn wir nämlich Namens der liberalen Partei reden, genng zu verzeichnen.
„So haben wir es uns doch nicht gedacht!" heißt's an dem und jenem Orte,
aber meist war der, der es nicht so, d. h. nicht an den Sieg der Sozialdemo¬
kraten oder der Conservativen da oder dort gedacht hatte, der ehrsame Philister,
der immer hinter dem Bierkrug zu kannegießern versteht, am Tag der Wahl
aber meint, daß es auf seine Stimme gerade nicht ankomme, und hübsch zu
Hause bleibt, während die rührigen Gegenparteien das Losungswort ausgebe:::
„all Mann auf Deck!" — und auch befolgt sehen.
Wir werden später darauf zurückkommen. Zuerst nur das kurze Resultat
der bayrischen Wahlen, soweit es jetzt feststeht; denn noch sind die Stichwahlen
nicht bethätigt, und diese sind es, die die treffenden Parteien, ja das ganze
Land noch in erregter Spannung halten. Definitiv gewählt sind 35 Abge¬
ordnete; 28 davou gehören dein Centrum, 2 der bayrisch-klerikalen Partei,
11 der nationalliberalen, 2 der freieouservativeu Fraction, 1 der Fortschritts¬
partei, 1 der Gruppe Löwe-Zinn an. Aus diesen Angaben erhellt schon die
wesentliche Verschiebung, in welcher die Abgeordneten des zweitgrößten deutschen
Staates ihre Plätze im Parlamente einnehmen werden. Zuerst trifft das das
Centrum; in ihm saßen bisher 32 tapfere schwarze Landsknechte nnter dem
Fähnlein des „Einsiedlers von der Trausnitz", Herrn Dr. Jörg. Jetzt gehen
dem ohnehin in der letzten Zeit nicht ganz glücklichen Partisanen der bayrischen
„Patrioten" ans einmal 4 Mann ab. Einen kann er möglicherweise noch
wieder gewinnen*), den würdigen Stadtpfarrer zu Se. Peter in München, jenen
Herrn Dr. Westermeyer, der anf seiner Kanzel den christlichen Wunsch ausge¬
sprochen, daß den Fortschritt der Teufel holen möge, und der in jener denk¬
würdigen Abendsitzung am 19. Juli 1870, als es sich um den Eintritt Bayerns
in den Kampf für Deutschlands Recht und Ehre handelte, für Neutralität
stimmte mit dem noch christlicheren Dictum: „Wenn mein Haus in Gefahr ist,
brauche ich nicht das brennende des Nächsten zu löschen." Den Mann könnte
allenfalls das Certum noch haben, denn er kommt im Wahlkreis München zur
Stichwahl. Aber eine andere, empfindlichere Einbuße hat die bisher im Reichs¬
tag wenigstens scheinbar so einträchtige bayrische klerikale Fraction erlitten.
In ihrer eignen Mitte ist ein zwar lange schon vorhandener, aber immer noch
etwas überkitteter, ziemlich tief gehender Riß aufgebrochen: die Extremen wollen
sich das Commando Jörgs nicht länger gefallen lassen. „Was Döllinger einst
in kirchlicher Beziehung war, das war bis jetzt Jörg in politischer; was jener
jetzt ist, das ist auch dieser jetzt", rief in den letzten Tagen ein bäuerliches
Mitglied der bayrischen Abgeordnetenkammer in einer Volksversammlung mit
Emphase aus, und einer seiner geistlichen College» donnerte von der Redner¬
bühne herab: „Wir müssen dahin trachten, den Großen und Gewaltigen wieder
eine Verlegenheit zu werden. Wie wollen wir jedoch etwas zu erreichen suchen?
Durch das Mittel der Revolution? Durch künstliche Erregung der Geister?
Nimmermehr! Wir wollen etwas zu erreichen suchen, indem wir fordern,
unaufhörlich fordern, und nicht aufhören zu fordern. Man soll nicht nur mit
uns als einen: Faktor rechnen, man soll uns und unsere Forderungen auch
respectiren. Wir wollen nichts als die Freiheit, katholisch zu sein. Wir wollen
die Selbständigkeit unserer Kirche, welche der Gottmensch selbst mit seinem
Blute erkauft hat/' Und wie so gegen die draußen, hieß es dann gegen die
drinnen: „der Katholizismus, der viele Feinde hat, hat gleichwohl keine größeren
als die halben Katholiken, diese „Söhne des Pilatus." Mit Beben und Zittern
unterhandelt diese Partei mit den Mächtigen der Erde. Sie rathen zum Frieden,
weil sie sich fürchten. So haben sie den Herrn um des Friedens mit dem
Cäsar Nullen ansgeantwortet. Die Katholiken Bayerns können auf diese
Leute nicht länger mehr reflektiren. Sie brauchen entschiedenere Charaktere.
Und solche gibt es" — d. h. vorderhand sind doch nur zwei Gründer und
zugleich Mitglieder der oben erwähnten neuen „bayrisch-klerikalen" oder besser
„katholischen" Partei nach Berlin entsandt: die Herren Dr. Ratzinger und
Lindner, beide Priester, denen sich möglicherweise — trss iÄeiunt eollöFiurn
noch der Vertreter Eichstädts, Dvmeapitulur Stöckl, anschließen könnte,
um diese interessante neue Fraktion des Reichstags zu vervollständige«. Daß
das Wort „bayrisch" in ihrem Programm uur noch eine Complimentirphrase
ist, daß sie vielmehr frank und frei die päpstliche Fahne aufhissen, darüber
werden sich die genannten Herren selbst keiner Täuschung mehr hingeben.
Ganz verloren gegangen ist für die Ultramontanen ein bei der letzten Wahl
von ihnen siegreich behaupteter Wahlkreis, Schweinfurt, in welchen: der Re¬
gierungspräsident von Unterfranken, Graf Luxbnrg, die Majorität davonge¬
tragen hat, der schon Mitglied des ersten Reichstages gewesen ist und wohl
wieder den „Freieonservativen" sich gesellen wird. Das Gleiche wird der Bot¬
schafter des deutschen Reichs in Paris thun, Fürst Hohenlohe, dem der Wahl¬
kreis Forchheim treu geblieben ist.
Kehren wir noch eine:? Augenblick zur Statistik der ultramontanen Stimmen
zurück, so finden wir von Bayern 11. adelige Grundbesitzer, 8 Beamte, 1 Künst¬
ler (Erzgießereiinspektor Miller, bei dem uns immer Gretchens Klage in den
Sinn kommt: „es thut nur in der Seele weh, daß ich dich in der Gesellschaft
seh'"), 7 Geistliche und nur 3 einfach „Bürgerliche", von jener Seite nach
Berlin entsandt. Von namhaften Nationalliberalen kommen Volk, Marquardsen,
v. Schauß, die meisten Pfälzer und vor allem der bewährte Vertreter der Haupt-
und Residenzstadt, Freiherr v. Stciuffenberg, wieder.
Die Fortschrittspartei hat bis jetzt nur Einen ihrer bisherigen Kämpfer
wiedergewonnen in dem Abgeordneten Herz. Dieser scheint seinen Berliner
Wahlkreis, in dem er gegen einen Sozialdemokraten zur engern Wahl zu
kommen hat, wieder mit einem heimathlichen vertauschen zu wollen. Wenigstens
hat er für den von Ansbcich angenommen. Ueber den beiden andern bisherigen
aus Bayern entsandten Mitgliedern der Fortschrittspartei, Frankenburger und
Erhard, schwebt noch das Damoklesschwert der Stichwahl. Indem ich dieses
schreibe, wird für den ersteren in Nürnberg der erneute Wahlkampf gekämpft.
Es ist ein erbitterter und hoffentlich siegreicher. Das war eine der bittern
Überraschungen, von denen wir vorhin sprachen: in Nürnberg, der bisherigen
Hauptstadt des Fortschritts, wo es an politischer Bildung und politischer Arbeit
nicht fehlt, erreichen die Sozialdemokraten die Majorität von 10,025 Stimmen,
und der Candidat der Liberalen erhält nur 9919, ein Frankenburger ist von
einen: Grillenberger, einem der kecksten sozialistischen Agitatoren geschlagen. Wir
sind hier an dem Punkte, auch bei uns in Bayern das riesige Anwachsen dieser
Partei, die bedeutende Steigerung des Prvzentverhnltuisses bei der Stimmen¬
abgabe seitens derselben constatiren zu müssen. Auch hier war die sozial¬
demokratische Organisation eine ganz vortreffliche; an fanatisirten Wühlern,
und — was eigentlich am schwersten erklärbar ist — an reichlicher, immer nen zu¬
fließender Geldunterstützung für diese hat es nie gefehlt. Noch in einem zweiten
Bezirk, Erlangen - Fürth, hat es der sozialistische Candidat gegenüber dem
nationalliberalen, Professor Marqnardsen, zu einer ansehnlichen Minorität
gebracht. >
Aber noch mit einer andern Gegnerschaft hatte der oben genannte bisherige
Abgeordnete zu kämpfen. Sein Wahlbezirk war einer der allerdings wenigen,
in welchen die Fortschrittspartei den anderswo freilich zähe festgehaltenen
Versuch machte, einen eignen Kandidaten aufzustellen und durchzubringen.
Wenn irgendwo, so war das bei uns in Bayern ein ganz ungerechtfertigter,
weil äußerst gefährlicher Vorgang. Einmal sind im größten Theil unsres
Volks die Begriffe von der Parteistellung im Reichstag uoch nicht so verkehrt,
daß die Leute streng über Freund und Feind des „Kompromisses" zu Ge¬
richt gesessen wären — und dann stand gerade in solchen Kreisen, wo man
den fortschrittlichen Candidaten gegen den nationalliberalen einzuschieben suchte,
eine dritte Partei auf der Lauer, die für sie abfallenden Früchte der Zer¬
splitterung aufzulesen und einzuheimsen. Das war die deuschconfervative.
Schon bei der letzten Reichs- und Landtagswahl hatte diese Partei sich
möglichst geltend zu machen gesucht. Sie war damals noch sehr jung und
fand im Ganzen nur in engeren, kleinen, vom Adel und der evangelisch-ortho¬
doxen Geistlichkeit bearbeiteten Kreisen Eingang und Anhänger. Auch das ist,
seit dem im Sommer vorigen Jahres ihre Fusion mit der allgemeinen deut¬
schen conservativen Partei vollzogen worden, anders geworden. Die oben
Genannten, unsre Junker und der Clerus, haben sich im Süden wie im Nor¬
den noch mehr gefunden und aneinander geschlossen: dort wie hier dieselben
Schlagworie: „Der Liberalismus an allem politischen und wirtschaftlichen Un¬
heil schuld, die Religion in Gefahr, die Schule entchristlicht" u, s. w.! Dabei
tritt hier und da mit den „reichspostlerischen" (man nennt so die Partei
nach ihrem Hauptorgan, der nun von Augsburg nach Frankfurt verlegten
„Reichspost") Pfarrern ein Agrarier, so namentlich ein Baron von Thüngen,
vor das Landvolk hin und wirft erhitzende Phrasen von der „Herrschaft des
Kapitals", von den „Gründern", welche er alle über einen Kamm schiert und
allesammt als „Betrüger" charakterisirt, dazwischen auch etwas Judenhetze
unter die Masse — und „Lempvr alle^mia naerLt", die Leute glauben's am
Ende doch, und die Deutscheonservativen gewinnen von Tag zu Tag mehr
Einfluß und Boden.
Der zweite der oben genannten bisherigen fortschrittlichen Abgeordneten, Er¬
hard, hat dasselbe von ihnen zu erfahren gehabt, was sein College Frankenburger von
den Sozialdemokraten: er ist in seinem Wahlbezirk Dinkelsbühl-Feuchtwangen
seinem conservativen Gegner, Regierungsrath Luthard von Augsburg, dem
eigentliche« Stifter und Leiter der „Reichspost", zwar nicht so unterlegen, daß
dieser mehr Stimmen erhalten hätte, aber die Majorität hat er eben nicht zu¬
sammengebracht: auch da muß es zur Stichwahl kommen. Sie wird eine
ernste Probe für die Herren Conservativen sein. Diese können in dem ge¬
nannten Wahlkreise siegen, wenn sie die Unterstützung der in demselben eine
bemerkenswerthe Minorität bildenden Ultramontanen annehmen, und diese Un¬
terstützung ist ihnen angeboten. Für ihre liberalen Gegner könnte es am
Ende erwünscht sein, daß, selbst auf die Gefahr hin, diesen Posten momentan
verloren zu sehen, jener Compromiß zu Stande käme — denn damit wäre
jene Partei, die bisher immer so emphatisch und hoch und theuer jede Gemein¬
schaft mit und jede Hinneigung zu den Römlingen abgeleugnet und von sich
gewiesen hat, so compromittirt, daß sie für die Folge lahm gelegt wäre und
vom politischen Schallplatz abtreten müßte. In Nürnberg hat ihr Führer Lut¬
hard die Parole ausgegeben, im Kampf der engeren Wahl für den fortschritt¬
lichen Candidaten gegen den sozialdemokratischen einzutreten. Das ist aner-
kennenswerth — aber die Consequenz dieser richtigen Anschauung der
Dinge wäre nun auch die Ablehnung jener ultramontanen Unterstützung.
Fragen wir nun noch, wie es möglich war, daß eine solche Gefährdung
der bisherigen Position der liberalen Parteien, wie sie doch offenbar in dem
Erstarken der Sozialdemokratie und der Conservativen vorliegt, eintreten konnte,
an wem die Schuld — und eine Schuld muß doch hier vorhanden sein —
liegt, so mögen sich Regierung, Volk und Führer des Volks in diese
theilen.
Unsre Herren Staatslenker mögen mit Recht vor dem Ausfall der Wahlen
erschrocken sein: sie müssen sich sagen, daß es an ihnen gelegen Hütte, Manches
zu verhüten, nicht jetzt — da war's zu spät — aber früher, viel früher. Die
reaktionären Saaten eines v. d. Pforten, Reigersberg u. A. sind jetzt aufgegangen.
Der Ultramontanismus hätte nie seine jetzige herausfordernde, übermächtige
Stellung einnehmen können, wenn sich der Staat von jeher seiner Kraft —
und seiner Würde bewußt gewesen wäre, wenn er den Clerus in seine Schranken
zurückgewiesen hätte. Kein Staat in der Welt hat in Verfassung und Con-
cordat solche Handhaben und Waffen gegen Uebergriffe der Curie wie Bayern,
aber man hat diese ruhig liegen und verrosten lassen, ja lieber mit jener ge¬
liebäugelt, um seiner reaktionären Gelüste und Ziele desto sicherer zu sein.
Hätte man damals, als unsere tapfern Soldaten auf den Schlachtfeldern
Frankreichs mit ihren deutschen Brüdern in Blutgemeinschaft getreten waren,
als die gewaltigen Ereignisse des Jahres 1870 die auf ganz anderen staats¬
rechtlichen Grundlagen gewählten Volksvertreter überholt hatten, sich zur Auf¬
lösung der Kammer entschließen können und an die Stimme des Landes appel-
lirt — ein anderer bayrischer Landtag wäre zusammengetreten, andere Wahlen
wären für das Parlament zu Stande gekommen, die reichsfeindlichen Gedanken
und Bestrebungen, die nun den Ton unter den bayrischen Abgeordneten hier
und dort angeben, hätten nimmermehr die Oberhand gewonnen. Aber seit
Jahren ist das bayrische Ministerium das der verfehlten Gelegenheiten — an¬
statt die liberale Gesinnung des Volks zu fördern und zu kräftigen, traut es
der liberalen Partei nicht und willfahrt sogar gerne den Anträgen der Ultra-
montanen und Conservativen, weil es bei dem Mangel eines vollkommen muster¬
gültigen Gewissens in politischen Dingen die Augriffe der Liberalen fürchtet.
Nächstdem mögen aber anch die Liberalen selbst und ihre Führer einen
guten Theil der Schuld an dem, was bei unsern Wahlen, und auch wohl
anderswo, an Fehlern und Gebrechen zu Tage getreten ist, auf sich nehmen.
Ans der einen Seite war zu wenig Fühlung mit den eignen Gesinnungsge¬
nossen, viel zu wenig Organisation, Disciplin und was man sonst noch braucht,
und worin die Gegner so ausgezeichnet geschult waren — auf der andern viel
zu viel Sicherheit, Voreingenommenheit, stolze Gewißheit eines sichern Erfolges
vorhanden. Kirchthurm-, Lokal-, Persvualinteressen, im Großen wie im Kleinen,
thaten das ihre, die Stimmen zu zersplittern, statt zu einen. Wo man die
Wähler am nöthigsten brauchte, waren sie vielleicht gerade am wenigsten am
Platze. Von den feindlichen Parteien haben gewiß über 90 Prozent der Wahl¬
berechtigen, von den Liberalen dagegen vielleicht nur 50 ihrer Pflicht genügt.
Lauheit und Passivität sind noch immer die gefährlichsten Feinde der guten
Sache. Das Bewußtsein, daß man nicht nur Politische Rechte, sondern auch
Pflichten hat, ist noch lange nicht w sueeum et, Kg.nMin«?.in unsres Volkes
gedrungen.
Nun, eine ernste Lehre ist uns gegeben. Noch ist es Zeit, daß wir sie
nützen. Drei Jahre zur Arbeit sind uns wieder als Frist gesteckt. Die Geg¬
ner werden, durch den unleugbaren, ihnen selbst unerwarteten Erfolg, den sie
errungen^ ermuthigt, diese wohl anwenden. Thun wir ihnen nicht gleich, dann
haben wir bei der nächsten Reichstagswahl keinen Grund zur Klage, wenn
wir Andere an dem Platze sehen, auf den wir Anrecht zu haben glaubten.
Fast eine ganze Woche noch hat das Abgeordnetenhaus auf den Etat
des Ministeriums des Innern verwandt. Schwerlich wird Jemand behaupten
wollen, daß das Land mit Befriedigung auf diese Verhandlungen blicken könne.
Der Ton, welchen das Centrum in die Debatte einzuführen bemüht ist, wird
immer bedenklicher. Die ultramontanen Herren benutzen die Privilegien der
parlamentarischen Tribüne, um das Werk der Vvlksbethörung, soweit sie es
in ihren Massenversammlungen ungestört nicht vermögen, zu vollenden. Herr
Windthorst wirst dem Minister Ausdrücke wie „Unwissenheit", „Kinderei"
u. s. w. an den Kopf, ermahnt die gesammte katholische Jugend, um keinen
Preis in den Staatsdienst einzutreten, nennt die Maigesetze „bloße Willkür¬
maßregeln." Was kümmert ihn der Ordnungsruf des Präsidenten! Ist die
Brandrede einmal ins Land hinausgeschleudert, so kann man solche Censur
getrost einstecken. Noch widerlicher treiben es die kleineren Geister der Partei,
die Schröder-Lippstadt, die Röckerath und wie sie sonst heißen. ,An der welfischen
Excellenz ist wenigstens noch ein Rest von staatsmännischem Anstand haften
geblieben; die Klevnnaturen, welche ihm sekundiren, schwelgen im schrankenlosen
Cynismus. Mau kann nicht verkennen: es ist Methode in diesem Verfahren.
Warum auch nicht? Wenn man es darauf angelegt hat, den Staat zu ruiniren,
warum sollte man nicht diejenige Institution des Staates, ans welche man
den größten Einfluß hat, die parlamentarischen Versammlungen, am ersten zu
Grunde richten wollen!
Die Herren vom Centrum berufen sich darauf, daß sie das Parlament
zur Kundgebung ihrer Beschwerden benutzen müssen, weil ihnen jede andere
Möglichkeit fehle, das Ohr der Regierung zu gewinnen. In der That, es
stünde schlecht mit unserm Constitutionalismus, wenn dieses Recht irgend einer
Minoritätspartei von der Majorität der Volksvertretung verkümmert würde-
Aber was die Majorität verlangen kann und verlangen muß, ist, daß die Be¬
schwerden basirt seien auf gesetzlicher Grundlage, und daß ihr Thatbestand un¬
anfechtbar klar sei. Die große Mehrzahl der nltramvntnnen Querelen ist
entweder direkt gegen zu Recht bestehende Gesetze gerichtet, oder sie bezieht
sich auf Vorgänge, welche noch nicht genügend aufgeklärt sind und jedenfalls
nicht vom Plenum des Abgeordnetenhauses in ihrem wahren Wesen und Zu¬
sammenhange sofort erklärt werden können. Was Wunder, wenn auch den
Nachsichtigsten über solch nutzlose Zeitvergeudung endlich die Geduld reißt!
Obendrein steht der Reichstag vor der Thür; die Zeit drängt, wenn man nicht
alle Unannehmlichkeiten eines Nebeneinandertagens der beiden Parlamente aufs
Neue kosten will. Da war denn Laster wahrlich vollauf berechtigt zu dem
Vorschlage, durch Zuhülfenahme von Abendfitzungen die Arbeiten zu beschleunigen.
Daß das Centrum aus Leibeskräften vpponirte, verstand sich von selbst; aber
schärfer womöglich noch, und unter Anrufung aller Grundsätze des Rechts¬
staats, eiferte Herr Eugen Richter gegen den Vorschlag. Natürlich, wenn man
den Ultramontanen seinen Reichstagssitz verdankt, so hat man gewisse Ver¬
pflichtungen! Wir hoffen indeß, die Majorität wird sich dnrch all dies Ge¬
zeter nicht abhalten lassen, zu thun, was das Wohl des Landes, das Interesse
der parlamentarischen Geschäfte und nicht zuletzt die Würde der Volksvertretung
erheischt.
Im Uebrigen hat Niemand mehr Grund, mit der Kampsweise des Centrums
zufrieden zu sein, als der Minister des Innern Graf Eulenburg; denn ganz von
selbst werden dadurch die Angriffe, denen er von Seiten der Liberalen ausgesetzt
ist, auf das Minimum beschränkt und treten in den Hintergrund. Er hat im
Grunde nur einen ernsthaften Strauß von dieser Seite zu bestehen gehabt,
in der leidigen Frage der Ausdehnung der Verwaltungsreform auf Rheinland
und Westphalen. Bekanntlich hat diese Angelegenheit schon im vorigen Jahre
viel Staub aufgewirbelt. Die Regierung hielt die Einführung der neuen
Selbstverwaltungsgesetze in diese Provinzen, solange der Conflikt zwischen
Staat und Kirche andauert, nicht für opportun; die Mehrheit des Hauses,
zusammengesetzt aus der großen Majorität der liberalen Parteien und dem
Centrum, war entgegengesetzter Ansicht. Ein kleiner Theil der liberalen Seite
aber, an der Spitze v. Sybel, stellte sich auf den Standpunkt der Regierung,
und es wurde sogar behauptet, daß die letztere erst durch die Vorstellungen
Sybels sich habe bestimmen lassen, den bereits fertiggestellten Entwurf einer
Kreisordnnng für Rheinland - Westphalen wieder bei Seite zu legen. Dieselbe
Constellation wiederholte sich, als die Frage jetzt gelegentlich des Etats zur
Sprache gebracht wurde. Niemand wird bestreiten, daß von beiden Seiten
gewichtige Gründe vorgebracht werden. Doch scheinen uns die Befürchtungen
des Herrn v. Sybel übertrieben. Wenn die große Mehrheit der rheinischen
Bevölkerung sich von dem Klerus an die Wahlurne treiben läßt, so ist damit
noch keineswegs gesagt, daß sie auch in der Verwaltung der Commuueange-
legenheiten uach seiner Pfeife tanzen werde. Die Ansicht Miqnels verdient
schwerlich den Vorwurf des Optimismus, daß das Zusammenarbeiten gerade
auf diesem Gebiete die Parteigegeusätze weit eher mildern, als verschärfen werde.
Auf alle Fülle aber dünkt uns, daß die Hetzerei, welche die ultramontane Partei
mit der Verweigerung der Kreisordnung treibt, viel gefährlicher ist, als
der Machtzuwachs, welcher ihr durch die Gewährung der Kreisordnnng
vielleicht verschafft werden könnte.
Der erregteste Kampf der Woche knüpfte sich an die Ausgaben für die
geheime Polizei. Graf Eulenburg geriet!) von Neuem ins Kreuzfeuer zwischen
Centrum und Fortschritt. Nach beiden Seiten blieb er nichts schuldig. Etwas
gar zu gewagt war freilich sein Versuch, den Ultramontanismus für das Em¬
porkommen der Sozialdemokratie in Deutschland verantwortlich zu machen;
unseres Trachtens thäte die Regierung überhaupt gut, bei der Erörterung der
Entstehung unserer heutigen Sozialdemokratie sich des Wortes vom Wohnen
im Glashause zu erinnern. Die fulminante Erwiderung, welche Herr Windt-
horst für den Minister in Mtv hatte, wurde aber arg durchkreuzt durch eine
Rede Wehrenpfennigs, welcher treffender als je die revolutionäre Tendenz des
Ultramontanismus darlegte und das frivole Coquettireu und Covperiren des¬
selben mit dem Sozialismus brandmarkte. Herr Windthorst bemühte sich nun,
der Welt die wahre Stellung seiner Partei zur Sozialdemokratie zu offenbaren.
Wer ihn hörte, mußte glauben, daß vor ihm kein Mensch weder das Wesen
der Sozial demokratie noch die richtigen Mittel zu ihrer Bekämpfung gekannt
habe. Eigene Aufschlüsse über dies Wesen und diese Mittel aber vermied er
wohlweislich. Und so war die ganze Rede mit ihrer erkünstelten Sentimen¬
talität, mit ihren demagogischen Phrasen und mit ihrem — ganz gewöhnlichen
Geschimpfe lediglich eine Bestätigung jenes Coqnettirens und Cooperirens.
Erledigt wurde neben dem Etat des Ministeriums des Innern der Ge¬
setzentwurf wegen Umwandlung des Berliner Zeughauses in eine Ruhmeshalle
für die preußische Armee. Natürlich spielte auch hier wieder der Kulturkampf,
diesmal mit specifisch welfischer Färbung, die Hauptrolle. Wie eine erquickende
Oase inmitten dieser wüsten Wnthausbrüche muthete eine echt patriotische Rede
Virchows an. Sie erinnerte an das Wort des alten Ziegler in den bangen
Tagen vor der Entscheidung von 1866: „Das Herz der preußischen Demokratie
ist da, wo die preußischen Fahnen wehen!" Die großen Geister Z. 1a Richter,
Parisins und Genossen sind über dergleichen Schwächen freilich erhaben; Arm
in Arm mit den Ultramontanen stimmten sie gegen den Gesetzentwurf, freilich
ohne demselben zu schaden.
^ Wie sehr übrigens die Majorität des Abgeordnetenhauses geneigt ist, selbst
Kulturkampsbeschwerden, wenn sie sachlich vorgetragen werden, auch sachlich zu
behandeln, bewies die Debatte über einen Antrag Reichenspergers, welcher die
Regierung aufforderte, die von dein Oberpräsidenten der Rheinprovinz ans
Grund des Gesetzes über die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln an
die römisch-katholischen Bisthümer u. s. w. angeordnete Beschlagnahme der links¬
rheinischen Pfarrdotalgüter einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen. Die
Frage ist, ob diese Güter Eigenthum des Staates oder der Kirche siud. Von
Seiten der letzteren ist der Rechtsweg beschritten worden; die Regierung ihrer¬
seits aber hat dagegen den Competenzevnflikt erhoben. Dies wurde jedoch auch
von deu uatioualliberalen Rednern mißbilligt, und auf Vorschlag Lasters wurde
der Reichenspergersche Antrag an die Justizcommission verwiesen, damit diese
Prüfe, ob die Anrufung des Competenzgerichtshofes in dieser Angelegenheit nicht
etwa einer Versperruug des Rechtsweges gleichkomme.
Am letzten Tage der Woche kam der Etat der Eisenbahnverwaltimg zur
Discussion. Ein Antrag, die Negierung aufzufordern, die aus Anlaß des Bundes
rathsbefchlusses vom 11. Juni 1874 eingeführten Gütertariferhvhungen im ganzen
Umfange aufzuheben und die desfallsige den Privatbahnen ertheilte Ermächtigung
zurückzuziehen, wurde nach lebhafter Debatte und unter dem Widerstreben des
Händelsministers der Budgetevmmission überwiesen. Man hofft, dadurch auf
die soeben hier zusammentretende Tarifconferenz einen Druck auszuüben. Ob
mit Erfolg, wird sich ja bald genug zeigen. schätzenswert!) ist die Erklä¬
rung des Haudelsministers, daß das Reichseiseubahnprvjekt keineswegs aufge¬
geben sei, sondern nur mit den Schwierigkeiten langwieriger Erhebungen zu
kämpfen habe. —
Auch das Herrenhaus ist am Beginn der Woche endlich in seine Thätig¬
keit eingetreten. An zwei Tagen hatten sensationelle Gegenstünde eine außer¬
gewöhnlich zahlreiche Zuschauerschaft auf die Tribünen gelockt. Das eine
Mal handelte es sich um eine Jnterpellation des Grafen Schulenburg-Beetzen-
dorf wegen des Welfenfonds, das andere Mal um eine Petition der Herren
von Diest und Genossen, den bekannten Eisenbahnuntersuchungsbericht zur
Verhandlung zu bringen. In beiden Fällen war es von den Urhebern auf
eine große Attaque gegen das bestehende Regierungssystem abgesehen, in beiden
Fällen endete der Ansturm überaus kläglich.
Gute Arbeit hat das Herrenhaus in dem Gesetzentwurf über die Befähig¬
ung zum höheren Verwaltungsdienst gemacht. Die einzige wesentliche Contro-
verse, welche zwischen der Regierung und dem Abgeordnetenhause über diese
(im vorigen Jahre gescheiterte) Vorlage noch vorhanden ist, besteht darin, ob
die Regierung bei der Auswahl der Landräthe aus gewissen Kategorien an die
Vorschläge der Kreistage gebunden sein soll oder nicht. Das Herrenhaus hat jetzt
ein Amendement Hasselbach angenommen, welches diese Frage bejaht. Leider
steht aber zu befürchten, daß dieser Beschluß bei der zweiten Berathung wieder
Die Verfasserin scheint selbst als Gouvernante thätig gewesen zu sein und
dabei schlimme Erfahrungen gemacht zu haben. Ihre Feder ist in Galle ge¬
taucht, ihre meist ganz hübschen Verse fließen über von Verbitterung, Ver¬
drießlichkeit und Klagen, die bisweilen durch ihre Naivetät komisch wirken.
Sonst bekundet sie ein recht artiges Talent, namentlich in der Schilderung
von Naturvorgängen, Landschaften u. dergl. Von dem, was sie in Welt- und
Menschenverachtung leistet, im Folgenden zwei Proben. Ein Gedicht „Wander¬
leben", S. 51, beginnt:
„Herzen kalt wie Hundenasen,
Ein verschrobener Verstand,
Hirne ganz gemacht zum Nasen,
Das war Alles, was ich fand.
Ueberall in jedem Land."
Weiterhin reimt sich darauf, daß das Herz ein „überflüssig Möbel" ist,
die Behauptung: „In der Welt ist Alles Pöbel", und später folgt als Schluß
einer „Reisebetrachtnng" die Moral:
„Viel Herrliches ist in Italien,
Viel Schönes im Deutschen Reich —
Die Menschen sind darum nicht besser.
Die Sorgen sind überall gleich.
Und wohnst Du auf Berg oder Auen,
Wald, Meer: 's ist Alles Wurst!
Allüberall hungernde Frauen
Und Männer mit zu viel Durst/'
Wir bedauern die Umstände, welche diese melancholische Weltanschauung
erzeugt haben, und wünschen der Inhaberin derselben die baldige Ankunft eines
Freiers, der nicht zu viel Durst hat. Ihr Herz wird dann vermuthlich kein
überflüssiges Möbel mehr sein, und Alles kann noch gut werden. Nicht wahr,
Fräulein?
Der Verfasser hat sich den Spaß gemacht, die Hauptgedanken des bekannten
jenenser Physiologen in Knittelverse zu bringen und in burlesken Wendungen
zu verspotten. Einiges ist ihm dabei recht wohl gelungen, in vielem Andern
dagegen ist zwar die Absicht ganz brav gewesen, die Leistung aber ist stumpf
und flach ausgefallen. Das Ganze ermüdet und würde vermuthlich durch
Wiederholungen auch daun »lehr oder minder ermüden, wenn alle Witze gelungen
wären. Dergleichen läßt sich unseres Erachtens überhaupt nicht in so breiter und
langgedehnter Weise behandeln. Ein paar Gedichte über den Gegenstand er¬
schöpfen den Humor, der darin liegt, daß der Betreffende mit Behauptungen,
die näher besehen nur krasse Hypothese» sind, als Apostel eines neuen Glaubens
vor die Welt zu treten gewagt, und daß er ihr — was noch lustiger — ziemlich
stark imponirt hat.
Der Verfasser erzählt zunächst, wie der Dichter mit Friederike Brion be-
annt wurde, wie er sie zu lieben begann, wie diese Liebe ihn beglückte, und
wie er sich endlich von ihr ernüchterte und das Verhältniß abbrach, und ver¬
sucht dabei den während dieser Zeit entstandenen Liedern ihre Stelle anzuweisen.
Das älteste, in den Herbstferien des Jahres 1770 an einem ihm von Friederike
oder deren Schwester bezeichneten schönen Punkte bei Sessenheim geschrieben,
wäre demnach das mit den Worten: „Nun sitzt der Ritter an den: Ort" be¬
ginnende. Im zweiten: „Ich komme bald, ihr goldnen Kinder" verspräche er
einen Besuch in den Weihnachtsferien. Bei diesem Besuche könnte er den
Mädchen seine Knabenphantasien in der Weise erzählt haben, wie er sie später
im „Neuen Amadis" poetisch gestaltet hat: „Als ich noch ein Knabe war,
sperrte man mich ein" n. s. w. Im Frühjahr kam er wieder. Der nächtliche
Ritt, der ihn zu der Geliebten trug, und das ihm nun voll aufgehende Liebes¬
glück versetzten ihn in die Stimmung, in der er, nachdem er zunächst den ersten
Kuß der Geliebten (beim Pfänderspiele vielleicht) im Gedichte: „Jetzt fühlt der
Engel, was ich fühle" gefeiert, das prachtvolle Lied: „Es schlug mein Herz;
geschwind zu Pferde" und zugleich die Umgestaltung eines alten Volksliedes schuf,
welche wir in dem Gedichte vom Haidenrvslein vor uns haben. In die Oster-
ferien oder den Anfang des Sommersemesters fiel das in Straßburg ent¬
standene Lied: „Kleine Blumen, kleine Blätter." Gemälde Bänder waren da¬
mals in die Mode gekommen, und der Dichter malte für Friederike ein paar
Stücke, die er jener mit den während dieser Arbeit an einem Frühlingsmorgen
gedichteten Versen übersandte. In dieselbe Zeit verlegt der Verfasser das schone
Maillet: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur!" und die Verse, die mit den
Worten: „Bälde seh ich Riekgen wieder." Bei einem Feste am Pfingstmon¬
tag, zu dem Friederike den Dichter eingeladen hatte, und welches im „Nachti-
gallwüldle" bei Sessenheim stattfand, schrieb er auf eine Tafel, die dort in
einer Bnchenlaube aufgehängt wurde, den Vers: „Dem Himmel wachs' ent¬
gegen."
Von jetzt an begann nach unsrer Schrift die Liebe bei Goethe zu
schwanke«, und mit dem Menschen schwankte der Dichter; schon in dem Ge¬
dichte: „Erwache Friederike" wird er matt und immer prosaischer und foreirter.
Die Empfindung hat sich bei ihm ausgelebt und „schwer" liegt „auf seinem Busen
des Reimes Joch." Ans einer Tour nach Lothringen dichtete er für Friede¬
riken noch: „Wo bist Du jetzt, mein unvergeßlich Mädchen", in der er ihr
„mit Sonne und Himmel zärtlich nachweint". Es ist aber nicht ernst mehr ge¬
meint, er muß sich zwingen, für sie noch zu empfinden. Auf der Rückkehr besuchte
er Sessenheim, aber Friederike war in Straßbnrg, und wenn er ihr das Gedicht
„Ach, bist Du fort" nachsandte, so wird niemand an dessen Schlüsse, wo er
ausruft: „Ich sterbe, Grausame, für Dich", befürchten, er habe sich „im
krummen Thal", „in: Wald", oder sonstwo ein Leid anthun können. Noch
einmal sah er Friederiken, und nach dem Abschied von ^ ihr übersandte er ihr
das volle Entsagung, tiefen Schmerz und wahres Gefühl athmende Gedicht:
„Ein grauer trüber Morgen". Die Begründung dieser Behauptungen im
zweiten Theile der Schrift wollen die Leser in dieser selbst aufsuchen. Wir
bemerken nur, daß sie klarer und geordneter sein könnte.
Wiederholt ist neuerdings von Einrichtungen an unseren Universitäten die
Rede gewesen, und da dieselben sich in ihrem Einflüsse nicht auf die unmittel¬
bare Wirkungssphäre beschränken, sondern jenen Theil edelsten nationalen
Lebens, welchen die Universitäten erzeugen, wesentlich mitbestimmen, so dürfte
es Allen, denen das Gesammtwohl nicht gleichgültig erscheint, nahe liegen, auch
ihnen ununterbrochene Aufmerksamkeit zuzuwenden. Indem es nun aber nicht
jedermanns Sache ist, selbständig in jener Richtung thätig zu sein, das große
Ganze des Universitätslebens sich aus vielen Einzelheiten zusammensetzt, die
sich gesondert bei einiger Ausdauer übersehen lassen, so mag es demjenigen,
welcher in solchem engeren Kreise Erfahrungen sammeln, Eigenthümlichkeiten
"der gar Schäden bemerken konnte, der Sache wegen gestattet sein, mit einigen hier
Anschlagenden Erörterungen hervorzutreten, selbst, wenn er sich weniger berufen
fühlt, als mancher Andere. Von so gestalteten Erwägungen ausgehend, werden
sich die Leser dieses Blattes gewiß nicht ungern mit dem Verfasser auf den
Boden eines Spezialfaches begeben, um so bereitwilliger vielleicht, als dieses
^ach ein universales und dominireudes ist: das der Geschichte.
Ehe wir jedoch die inneren Rünme der almg. mater aufsuchen, zeigt es
sich nöthig, die Vorhalle, welche dahin führt, zu betreten. Wenden wir uns
^so zunächst dem Gymnasium zu. Wir finden die Geschichte auf demselben
bald als eines der vorzüglichsten Mittel zur Anregung und Durchbildung
jugendlicher Geister gehandhabt, bald zu einer Gedächtnißsache traurigster Art
herabgewürdigt. Dort zielt man ans Verstand und Phantasie, macht den
Schüler mit hervorragenden Werken bekannt, läßt ihn Aufsätze historischen In¬
halts schreiben, zu deren Ausarbeitung bereits ein kleiner Stapel von Büchern
^förderlich ist, die ihn in ihren Abweichungen zum Selbstprüfen, Dnrchdenken
ut Beherrschen seines Stoffes zwingen; hier hat man vornehmlich die Exa-
mira im Auge und erreicht auch glücklich, daß der Abiturient die Reihe der
persischen Könige von vor- und rückwärts in Gegenwart des Schulrathes auf¬
sagen kann. An kleineren und abgelegeneren, zumal katholischen Gymnasien,
ist diese Art der Geschichtsbehandlung leider weit häufiger als für bloße Bei¬
spiele genügend wäre, doch scheint der Durchschnitt aus der Gesammtheit zu
ergeben, daß keines der Extreme überwiegt, daß vielmehr eine Mittelstraße inne¬
gehalten wird, indem der Schüler die Geschichte als eine Anzahl im Einzelnen
feststehender Thatsachen vorgeführt erhält, wobei das Interessante betont, das
Ganze meistens von der ästhetischen Seite gefaßt wird. Da erwärmt sich das
Gemüth des Knaben für den großen Perikles, Hannibal und Caesar, für Karl
und Otto den Großen, den großen Kurfürsten, Friedrich den Großen und wie
die „Großen" noch sonst alle heißen; er empfindet Mitleid mit dem heiteren,
aber unglücklichen Philipp von Staufen, Abneigung gegen seinen robusten
Geguer, er schwärmt für Blücher, Herzog Ernst, Harmodius und Aristogiton
in einem Athem. Sie alle sind ihm scharf umgrenzte Gestalten; aus welchem
Flickwerk sie zusammengestückt wurden, und wie verschiedene Bilder die Zn¬
sammensetzer oft dabei zu Tage förderten, das ahnt er nur in den seltensten
Fällen. Die Geschichte ist ihm eines der anziehendsten aller Wissensgebiete,
aus innerer Neigung erfaßt er sie als Beruf seines Lebens und glaubt —
wenn er sich überhaupt Gedanken in dieser Richtung macht — mit einem
klassischen Griechisch, eieeronischem Latein, etwas Französisch, glücklicher Phan¬
tasie und gebildetem Stil die Welt erobern zu können.
So ungefähr nimmt sich die eine Gruppe der jungen Leute aus, die sich
als „Historiker" oder <ma,si als „Philosophen" in das Universitätsalbum ein¬
zeichnen. Nach und nach gedeihen sie zu der Erkenntniß, daß so ein Historiker
viel Papier, vieles unsäglich Geisttodte und Breitspurige durchstöbern muß, um
am Ende doch nur Weizenkörner von zweifelhafter Brauchbarkeit zu finden.
Viele lassen sich dadurch nicht abschrecken, sie verharren unerschüttert und frohen
Angesichts auf der einmal betretenen Bahn, Andere verlieren den Muth, wissen
aber sonst nicht nnterznschlüpfen und schlendern deshalb weiter; hinter dem
Examen winkt ja das Brot! Etliche wenden sich einem anderen Fache zu.
Aus Studirenden, welche sich in umgekehrter Richtung bewegen, die ihr
bisheriges Studium aufgaben und zur Geschichte übertraten, besteht die zweite
Klasse derer, die dieser Wissenschaft obliegen. War es innerer Drang, der
sie zu jenem Schritte veranlaßte, so dürfen tüchtige Leistungen von ihnen er¬
wartet werden; leider liegen die Dinge aber meistens anders, da namentlich
Philologen im Laufe der Thätigkeit empfinden, daß es mit ihrer Kenntniß alter
Sprachen nur mangelhaft stehe, und uicht ohne Grund wähnen sie, der Boden
der Historie sei noch weniger durchackert, als derjenige, welchen sie bisher ge-
quält, die Kontrolle sei dort weniger streng, Unwissenheit lasse sich besser ver¬
tuschen, eine Dissertation leichter zusammenstellen, und später sei es für den Lehrer
anch ungleich bequemer, uach einem Handbuche Geschichte vorzutragen, als
griechische und lateinische Arbeiten zu corrigiren.
Ganz selten sind die Fälle, wo ein Gewerbetreibender oder Kaufmann die
Gcdankensphäre, welche sich um ihn gelagert hat, gewaltsam dnrchreißt und die
Geschichte als den Beruf seiner Bestimmung ergreift.
Der hierhin Gehörige sowohl, als auch der Exphilolvge bewegen sich in
einer durch ihre Subjektivität bestimmten Weise und können deshalb neben dem
Abiturienten nicht gesondert in Betracht kommen, der regelrecht das Gymnasium
verließ, um „Historiker zu werden". Mit gutem Willen, geringer Kenntniß
und unklarer Vorstellung von seinen: Berufe pflegt er zur Universität zu ziehen.
Es ist für ihn als eine entschieden günstige Fügung zu preisen, wenn ein be¬
reits eingebürgerter Studirender sich seiner annimmt und ihn in eine Gesell¬
schaft einführt, die unter anderen Cvmilitvnen anch ältere Fachgenossen ent¬
hält, deren höchste Wonne weder im Bierglase ruht, noch anch einzig über dem
aufgeschlagenen Folianten empfunden wird. Doch diese Fälle sind, zumal an
größeren Universitäten, seltener als man gemeiniglich glaubt, und selbst auf
kleinerm ist es nichts Unerhörtes, daß Fachgenossen ganze Semester lang die¬
selben Vorlesungen hören, ja sogar an denselben Uebungen theilnehmen, ohne
daß eine persönliche Annäherung einträte.
Den besten Punkt der. Vereinigung bildet die höhere Instanz des Pro¬
fessors, der entweder den jungen Ankömmling einem älteren Studirenden über¬
weist, um ihn weiter in die engere Zunft der Gleichstrebenden zu befördern,
wie sie sich an den meisten Universitäten herausgebildet und vielfach in einem
„Vereine" Ausdruck gefunden hat; oder auch ältere und jüngere Leute zu sich
ins Haus ladet und dort mit einander bekannt macht. Einmal das Eis der
modernen studentischen Exclusivität gebrochen, zeigt sich auch bald das deutsche
Gemüth.
Verkehr mit Fachgenossen vou höherer Semesterzahl wird sich durchgehends
als fruchtbringend erweisen, nicht immer jedoch in hohem Grade, da der ältere
Student sich meistens schon ein Arbeitsfeld abgesteckt hat, dem er Zeit und
Aufmerksamkeit fast ausschließlich widmet, während er das, was jenseits des¬
selben liegt, mehr als wünschenswert!) vernachlässigt. Das Gebiet der Thätig¬
keit jüngerer Jahre entscheidet gewöhnlich der Rath des akademischen Lehrers,
und ist es, bei der unendlichen Weite der Wissenschaft, selbstverständlich ein
seltener Fall, daß es sich mit dem des älteren Genossen berührt. Am günstig¬
sten für gegenseitige Förderung steht es an deu Universitäten, an welchen eine
verhältnißmüßig große Zahl von Fachleuten unter dem Einflüsse eines nam-
haften Docenten gewöhnt wurde, sich wesentlich in einer und derselben Richtung
zu bewegen, wenn auch hier die Gefahr nahe liegt, daß der Schatten der Ein¬
seitigkeit besonders tief falle.
Bald auf gut Glück, bald auf Rath hört der junge Studirende Vorlesungen,
in denen sich ihm zuerst der Begriff der Geschichte als Wissenschaft eröffnet;
er erfährt von den vielen Controversen, welche herrschen, von dem mangelhaften
Materiale, wie es auf uns gekommen ist, von der Art desselben u. s. w. Das
hübsche Bild, welches er sich von dem großen Otto, dem gewaltigen Barba¬
rossa und dem treuen Ernst zur Universität mitgebracht hatte, fängt an, ge¬
trübt zu werden; er lernt verstehen, daß es oft mehr auf Verfassungs- und
Kulturleben, als auf gewonnene Schlachten ankommt. Im Ganzen jedoch haben
die Vorlesungen mehr den Zweck, anzuregen und die Summe positiver Kennt¬
nisse zu erweitern, als zum Fachmanne auszubilden; dies ist vornehmlich Se¬
minaren und „Uebungen" zugewiesen.
Die dort entwickelte Thätigkeit ist fast so verschieden, wie die Persönlich¬
keiten, welche den Seminaren vorstehen, und da die meisten jungen Historiker
sich überwiegend lange an einem und demselben Orte auszuhalten Pflegen, so geht
die Einwirkung des Lehrers, dem sie sich vorzugsweise anschlössen, eben weil
sie individueller Natur ist, gewöhnlich sehr tief und prägt sich bisweilen in
ganz bestimmten Merkmalen aus, die sich mehr oder weniger an Allen beob¬
achten lassen, welche von derselben Seite beeinflußt werden. In solchem Sinne
kann man deshalb mit bestem Rechte von einer Göttinger und einer Bonner,
beziehungsweise von einer Sybelschen und Waitzischcn Schule reden.
Verschiedener äußerer Umstände wegen pflegt der Stoff für die Semi¬
nare aus dem Alterthume oder dem Mittelalter gewählt zu werden, vor¬
wiegend aus letzterem, worauf wir deshalb auch in erster Linie Rücksicht
nehmen. Die BeHandlungsweise des Materials ist eine dreifache, hauptsächlich
zu unterscheidende.
Entweder wird eine Quellenschrift historischen, rechtlichen oder kirchlichen
Inhaltes gelesen und ausgelegt, Exkurse werden eingestreut über Papst-, Kö¬
nigs- und Bischofswahlen, über germanische Principes, den römischen Prinzipal,
über Ministerialität, Translationen, Titel ?c., kurz, aus dem ganzen weiten
Gebiete des Alterthums und Mittelalters in Rechts- und Verfassungs-, politi¬
schem und sozialem Leben. Der Seminarist erhält von einer Menge Einzel¬
heiten ausreichende Vorstellung, er bedarf eines ganzen Semesters, um einen Theil
des Einhard oder Wipo kennen zu lernen, für sie gewinnt er Interesse, was
rechts und links von ihnen liegt, tritt dagegen zurück. Die Zahl der Semester
bedingt die Umsicht. Hierbei pflegt das urkundliche Material zu kurz zu kommen,
und werden deshalb an den meisten Universitäten diplomatische Uebungen ab¬
gehalten, die als unentbehrliche Ergänzung des Obigen erscheinen dürften.
Es werden aber auch Ver gleich ungen von Quellen angestellt, bald in
der Art, daß die Teilnehmer an den Uebungen sich sämmtlich vorher über
das Dnrchzunehmende unterrichten, bald in der, daß ein Einzelner dies über¬
nimmt, welcher alsdann interpretirt, bald auch, daß keiner davon weiß und
erst beim Beginn der Stunde die nöthigen Bücher vorliegen, sogleich in mscliAS
reg gegangen wird und nun sich Jeder für oder wider entscheiden muß. Die
zuerst genannte Methode bietet den Vortheil, daß die Schüler sich, neben der
Quellenbenntzung, anch noch über die betreffenden Quellen orientiren, birgt
aber das Uebel, daß dies mehr zum Scheine, als in Wirklichkeit geschieht, und
es ist deshalb die zweite eingeführt, welche den Seminaristen Erleichterung der
Arbeitslast gewährt, wobei dann allerdings viele derselben zu stummen Gästen
werden. Die zuletzt angeführte Manier endlich befördert am meisten, wir
dürfen wohl sagen, die Kunst des Arbeitens, das schnelle scharfe Treffen des
Richtigen; erfordert jedoch große Sicherheit im unmittelbaren Verständnisse frem¬
der Sprachen, wie sie meistens erst älteren Studirenden eigen ist, und es liegt
mithin die Gefahr nahe, daß ein Theil der Anwesenden gar nicht weiß, was
in dem zusammengetragenen Material enthalten ist, zumal dann, wenn wenige
Bücherexemplare vorhanden sind und die Mehrzahl sich mit Anhören von Vor¬
gelesenem begnügen muß.
Neben der Art, die sich vornehmlich mit einer Quelle beschäftigt und
derjenigen, welche mehrere neben einander stellt, wird auch noch versucht,
einen Zeitabschnitt oder ein Ereigniß auf Grund der gesammten ein¬
schlügigen Nachrichten klar zu legen. Wenn hier der Lehrer nicht die ganze
Thätigkeit auf sich nimmt und vortragend verfährt, wenn es gelingt, die Semi¬
naristen in die Arbeit hineinzuziehen, so dürfte der schließliche Gewinn dem
Umfange nach am größten sein. Die Betheiligten lernen ein mannigfaltiges
Material kennen und verwerthen, auch Urkunden und Akten, ^sie lernen Quel¬
lenvergleichung, Kritik und Berichtigung falsch aufgefaßter und dargestellter
Thatsachen, mithin Emanzipation vom Gedruckten und Ueberkommenen,> welche
selbstverständlich auch durch die beiden vorhin erwähnten Systeme befördert
wird. Alle drei werden bisweilen von einem und demselben Docenten in An¬
wendung gebracht.
Versuchen wir das Resultat der Seminarthätigkeit zu ziehen, so dürfte es
lauten: der Schüler lernt gegebenes Material kennen, lernt damit umgehen
und es ausbeuten.
Die Schwäche liegt in „dem gegebenen Material". Um ihr zu begegnen,
ist die Einrichtung getroffen, schriftliche Arbeiten anfertigen zu lassen, in denen
der Schüler nicht nur das, was er von Methode in sich aufnahm, nach eigenem
Denken anzuwenden und weiterzubilden hat, sondern sich auch in seinen
Stoff ohne Gängelband hineinfinden, selbständig prüfen und forschen muß, ob
nicht unrichtig verwertetes oder zu wenig beachtetes Material vorhanden ist.
Auch hier gibt' es eine zwiefache Richtung in der Handhabung, Ent¬
weder beschäftigt sich der Arbeitende uach Beliebe«, oft Jahre laug, mit einem
selbstgefnndenen oder ihm vom Lehrer überwiesenen Stoffe, oder es wird von
ihm verlangt, daß er in jedem Semester eine Abhandlung einreiche. Dort
wird Tiefe und Gründlichkeit angebahnt und die Gefahr der Zersplitterung
weniger nahe gelegt, doch ergeben sich als Schattenseiten, daß der Schreibende
viel zu früh einseitig, daß er schwerfällig und langsam im Schaffen, ja sogar
träge wird. Hier ist weniger Raum für Trägheit und Einseitigkeit, zumal
aber in Betreff jüngerer Leute, die in ihren wissenschaftlichen Bewegungen noch
ungelenk siud und mit ihrer Zeit noch uicht richtig hauszuhalten wissen, ein
desto fruchtbarerer Boden für Zersplitterung und Flüchtigkeit, welche letztere
durch die in wenigen Tagen zu liefernden Referate, worin der Referent über
Dinge urtheilen muß, die ihm meistens fremd, oft gleichgültig sind, reichen
Vorschub erhält. Gelegentliche Nachsicht des Docenten gegen denjenigen, welcher
seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen vermochte, ändert an der Sache
nichts.
Zumal bei der zuletzt besprochenen Methode lautet die fast stereotyp ge¬
wordene Klage der Seminarvorsteher über eingelieferte schriftliche Arbeiten:
die Verfertiger derselben sind unsicher im Latein und haben die nöthigen
Quellen und die einschlägige Literatur nicht ausreichend gekannt. Sie be¬
zeichneten damit die Gruudgebrechen unserer gesammten SeminartlMigkeit.
Es wird das Höhere getrieben, der Unterban als selbstverständlich voraus¬
gesetzt.
Und doch ist das mittelalterliche Latein bekanntlich sehr verschieden von
dein klassischen, und nnr dies wird auf Schulen gelehrt. Das verhältnißmäßig
Wenige, was in den Uebungen und Seminaren gelesen, und mehr noch der
Gesichtspunkt, von dein aus es meistens durchgenommen wird, ist ebenso un¬
genügend, der positiven Unkenntniß abzuhelfen, als die Monika des Docenten
bei schriftlichen Arbeiten, indem sich hier nnr ein verschwindend kleiner Bruch-
theil von dem niedergelegt findet, was der Studirende hat in sich aufnehmen
müssen. Woher soll der an ein klassisches Latein Gewöhnte wissen, daß U-alm
im Mittelalter vielfach technisch gebraucht wird, daß un<:tornus oft mit „Ur¬
kunde" zu übersetzen ist? Er merkt entweder solche Unterschiede gar nicht,
oder er übergeht sie; beides verwerflich und der vornehmlichste Grund, woher
bisweilen bei jüngeren Historikern, die sich mit dem Mittelalter beschäftigen,
ein bodenloser Leichtsinn im Herumrathen angetroffen wird. Das Glossar
von Du Cange befindet sich fast nie im Privatbesitz und wird deshalb bei
Weiten: nicht in dem Umfange und mit dem Nutzen zu Rathe gezogen, wie
man leicht glauben könnte. Erst ein langer saurer Fleiß, der sich durch Jahre
erstreckt, bringt eine ausreichende Sicherheit im Verständnisse mittelalterlicher
Schriftsteller hervor, und doch muß der Seminarist, seines Handwerkszeuges
mir theilweise mächtig, ununterbrochen seine Arbeiten liefern. — Das Mi߬
verhältniß liegt am Tage. — Nicht ganz so schlimm, aber doch zu vermerken
ist die Thatsache, daß die Geschichte Studirenden meistens nicht mit genügender
Kenntniß neuerer Sprachen ausgestattet sind, was zur Folge hat, daß Vieles
im Ausland Geschriebene nnr mangelhafte Berücksichtigung findet und
finden kann.
Hiermit wären wir auf den zweiten Uebelstand gekommen, der unseren
Seminaren anhaftet: die jüngeren Mitglieder derselben sind nicht allein ihres
Handwerkszeuges nicht Herr, sondern kennen es auch uur ungenügend. Oft
ist der Lehrer, wenn er ihnen ein Thema stellt, so gütig, auf einige Punkte be¬
sonders aufmerksam zu machen und einzelne dafür heranzuziehende Bücher zu
nennen; diese, die unter dem Texte stehenden Citate und vielleicht dann und
wann der Rath eines Freundes sind alles, was ihnen zu Gebote steht. Sie
gehen mit Lust und Liebe und großen Hoffnungen an die Arbeit, vertiefen sich
in den Stoff und sehen schon ein fernes Resultat verheißungsvoll dämmern;
da kommen die Schwierigkeiten und rathlos und fast ohne jegliches Mittel, sie
zu überwinden, stehen sie da.
Hierauf dürfte etwas näher einzugehen sein. Dein Verfasser sagte einst
ein Fachgenosse, der das sechste Semester erreicht hatte: „Ach Gott, wir „mit¬
telalterlichen Historiker" arbeiten und arbeiten, und wenn wir etwas fertig
brachten, kommt ein Anderer, der irgend eine verlegene Quellenstelle fand oder
eine benutzte anders auslegt, und stößt Alles um, was wir mühsam aufkanten;
wir spielen geradezu Lotterie, vielleicht machen wir einen glücklichen Griff, viel¬
leicht auch nicht. Dunkelheit ist unser Element!" — Aehnlich hat wohl schon
mancher Kollege in düsteren Augenblicken gedacht. Wie leicht stoßen bei selb¬
ständiger Arbeit nicht Fragen auf, die ungenügend erörtert scheinen, wie leicht
geräth man nicht aus dem Rahmen heraus, der in den benutzten Büchern inne
gehalten wurde; — was dann? — Der Verfasser erinnert sich noch sehr ge¬
nau, wie es ihm mit seiner ersten Abhandlung ergangen. Von deutschen Ver¬
hältnissen unter Friedrich I. war ich auf französische gekommen und wollte
schier verzweifeln, weil ich nicht ruck- und nicht vorwärts wußte. Endlich
faßte ich ein Herz, ging zu meinem Lehrer und fragte ihn, ob er mir nicht
einige einschlägige Schriften augeben könne. Der Lehrer munterte mich auf
und nannte mir einen Namen, den ich in der Freude meines Herzens nur halb
verstand; dort würde ich aber das Nöthige finden, meinte er. Kaum zur Thür
hinaus, zog ich mein Notizbuch hervor, schrieb ein Wort wie „Pute" hinein
und eilte flugs zur Bibliothek, um dessen Werke zu bestellen. Sie waren an¬
fangs natürlich nicht zu finden; als ich nach mündlichen Erörterungen zum
dritten Male kam, Herr Gott!, da lagen über zwanzig dicke Folianten auf dem
Tische, und brummend fuhr der Bibliotheksdiener vorüber. Ganz verstört
öffnete ich den ersten Band, blätterte darin herum, fand aber über Friedrich I.
und Ludwig VII. nichts, ich nahm den zweiten, dritten, vierten; es ging damit
ebenso. Nach langem Suchen und manchem Seufzer leuchtete mir endlich ein,
daß in der Folge der Bünde eine bestimmte Anordnung beobachtet sei; ich
machte mich mit den Indices vertraut und siehe, ich fand, was ich begehrte.
Ob nun aber im „Bouquet" alle, oder nur ein Theil der Quellen für Frank¬
reich enthalten seien, ob es keine besseren Drucke gäbe ?c., das wußte ich auch
jetzt noch nicht, meine Freunde konnten nur darüber keine genügende Auskunft
ertheilen, und den Lehrer durfte ich doch uicht schon wieder belästigen! — Hier
wird der kundige Leser einwenden: um eine Quellensammlung, wie die Bvu-
quets zu finden, hätte ich nur in Dahlmann-Waitz, Quellenkunde, der Fibel
des Historikers, nachzuschlagen brauchen; — sehr richtig! wenn sie mir bekannt
gewesen wäre, und daß sie mir damals noch fremd war, dürfte verzeihlich ge¬
nug sein, wenn es mir kürzlich begegnen konnte, daß mich ein bärtiger Student
fragte, wo er das Buch von . . . finden solle, welches über König Sigismund
handle; er habe vergeblich in den Bibliothekskatalogen und bei Potthast
(! LidliotlnzcÄ llistorica), der im Lesezimmer ausgestellt sei, darnach gesucht;
so zufällig warf ich hin, ob es nicht in obigem „Dahlmann-Waitz" angemerkt
stehe? worauf er mich verwundert ansah und meinte: ob das denn nicht
„Potthast" sei? Er legte damals gerade die letzte Feile an seine Dissertation;
— vier Wochen später war er Herr Doctor mit dem Grade „cum lauäs"!
Ein Fall wie dieser steht natürlich ganz vereinzelt da, aber es ist traurig
genug, daß er überhaupt vorkommen kann. Auch muß bemerkt werden, wie
mit der bloßen Kenntniß der „Quellenkunde" nicht immer Großes für den
Neuling erreicht ist, weil er dort nur lange Reihen von Citaten findet, die sür
ihn noch ohne inneren Gehalt erdrückend sind, und überdies das Buch auch
nicht berechnet wurde, Cicerone für Alles zu sein. Wie zum Beispiel, wenn
der Betreffende auf S. Martin von Tours, auf Cluny, Mailand oder Bene-
vent, Canterbury, Tarragona oder Lund kommt? was leicht der Fall sein
kann, wenn er sich mit der Papstgeschichte beschäftigt: wie hat er sich nun zu
verhalten? Die Kataloge der Bibliotheken sind nicht maßgebend: über S.
Martin würde er wahrscheinlich nichts dort finden. Gewöhnlich durchstöbert
er unter solchen Umstünden planlos die verschiedensten Bücher, um am Ende
nicht viel klüger zu sein, als er am Anfange gewesen. Und doch liegt die
Sache so einfach wie möglich: er braucht uur daran zu denken, daß S.Martin
zum Sprengel von Tours gehörte, brauchte zum Beispiel uur in Gans, Leris»
LMcozM'um, unter Tours nachzuschlagen und würde das Nothwendigste für
seine Frage finden. Oder, wir nehmen an, er begegne in einer lateinischen
Quelle einem ihm fremden Ortsnamen, gleichviel welchem, setzen wir Lemoviea;
— was ist darunter zu verstehen? Kennt der Betreffende Spruners Atlas
und kaun er ihn bekommen, fo ist er vielleicht nach einigem Suchen so glück¬
lich, den Ort zu finden, und vermag er alsdann, durch Herzuziehung einer
Karte des modernen Frankreich, herauszubringen, daß Limoges gemeint sei.
Weit schlimmer aber schon, wenn er auf Elena stieße, dessen Bischofssitz nach
Perpignan verlegt wurde, oder gar auf ein kleines Kloster, etwa Nelsrsvse eoeuo-
lüum (Mortier im Sprengel von Auxerre), von Fara (Faye la Vineuse) und Leto
(Lyon le Saumier) ganz zu geschweige»! Da wird es sehr fraglich, ob er sie
in Spruners Atlas findet, und wenn er so glücklich ist, ob es noch jetzt existirt,
um den Vergleich mit einer neueren Karte zu verlohnen, ob er überhaupt
einer solchen habhaft werdeu kann, auf der jedes Dorf verzeichnet steht. Hätte
er für Lemoviea Weidenbachs Calendarium, für alle Fragen das Orts¬
register Bvuquets zur Hand genommen, fo würde er sich die Mühe haben
ersparen können.
Dieses sind nur einzelne Schwierigkeiten, wie sie sich in unendlicher
Mannigfaltigkeit bald hier, bald dort, oft genug aufdrängen, jedesmal viel
Zeit zu ihrer Ueberwindung in Anspruch nehmen und noch öfter ungelöst
bleiben. Der Arbeitende ist dann gewöhnlich fo schlau, seine Unwissenheit zu
vertuschen, und der Lehrer merkt nicht, wo es mangelt. Ich lernte mehr als
einen Historiker kennen, der dem Schlusse seiner Studien nahe stand, einige,
die denselben bereits hinter sich hatten, denen Bücher, wie das vorhin genannte
von Gans, denen Koners Repertorium, auf einer andern Seite Stubbs
Lonsriwticmal Histor^ ok LuAitmä, Warnkönig und Stein, Französische
Staats- und Rechtsgeschichte, durchaus unbekannt waren, während sie im
Supplementbande von Potthast und in Waitzens deutscher Verfassungsgeschichte
ausgezeichnet Bescheid wußten.
Wohl Jeder wird zugeben, daß derartige Verhältnisse zu wünschen übrig
lassen. Es fragt sich nun, ob und wie etwa gebessert werden könne. Das „ob"
beantwortet sich von selber, es kommt nur auf das „wie" an.
In den kleineren und mittleren Universitäten pflegen bis zu zehn Studirende
an historischen Uebungen Theil zu nehmen, die meistens von sehr verschiedener
Semesterzahl sind. Leicht ließen sich die extremsten Elemente sondern, zumal
die akademischen Neulinge ausscheiden und einem Proseminar überweisen, Ihre
Zahl würde selteu sieben übersteigen, leicht also vom Docenten zu übersehen sein.
Auf größeren Universitäten konnten, wenn es noth Untre, bis an funfzehn zugelassen
werden. Diese, gewohnt an den Ton des Gymnasiums, würden sich noch
vollkommen als Schüler im prägnanten Sinne behandeln lassen; es brauchte
nur Ernst gemacht und ihnen bewiesen zu werden, daß sie nichts wissen.
Im Proseminar dürfte einerseits Lesen, andrerseits Materialknndc zu
lehren sein. Jenes in der Weise, daß nicht uur Schriftsteller, oder richtiger
aufgewühlte Stücke aus Schriftstellern, sondern anch Urkunden, Cvueilienakten
u. s. w. dem Wortlaute nach genau interpretirt würden, woran sich denn kürzere
sachliche Exkurse schließen könnten, z. B. was unter t'ouäum, was unter mi-
niZt.krmI<zö, eompuuetio ze. zu verstehen, wann Begriff und Wort aufkommen
und dergleichen mehr.
Die Materialknndc ließe sich am uutzbringeudsten lehren und lernen, wenn
der Docent die Bücher, die er besprechen will, mit sich in das Auditorium
brächte, dort Pertz' Monumente" und Jaffas „LidliotKsW" zeigte, auf die
Anlage derselben, auf den verschiedenen Druck, die Faesimiles, Anmerkungen,
Vorreden, Indices, auf den Werth der Sammlungen u'. aufmerksam machte.
In gleicher Weise, wenn auch kürzer, könnten die Quellensammlungen der
Nachbarreiche vorgenommen werden: Muratori, Bouquet, du Chesne, Lange-
beck, Rsruin Lrittanie-irum Leriptorss; auf Italia und Gallia sacra,
Espana Sagrada, das Monasticon Angliearnm, auf Mansi, Baronius-Theiner,
Harzheim, Hefele u. s. w. wäre hinzuweisen, und dürften gleichfalls nicht nur
Stumpfs und Böhmers Regelten nicht fehlen, sondern ebenso wenig die Jaffas
und Potthasts, Bröguigny und Nymer. Alls solche Art konnten die Pro¬
seminaristen leicht mit dem Gesammtarbeitsmaterial in seinen ^ Grundzügen
wirklich vertraut gemacht werden; ist es doch bekanntlich ein großer Unter¬
schied, ob man ein Buch in der Hand gehabt und darin geblättert, oder nur
vom Katheder es hat nennen hören. Einem Erdrücken durch die Menge wäre
von selber vorgebeugt, wenn eben nur die Hauptwerke vorgelegt würden, und
wenn das, was in einem Semester nicht abgethan, im zweiten seine Vollendung
fände, wo sich dann auch noch die vorzüglichsten Rechtsquellen, Cnnones-
sammlungen und das LorpuL M-is canonici besprechen ließen. Buche alsdann
noch Zeit zur Verfügung, so dürfte man andere Hülfsbücher heranziehen,
diplomatischen, geographischen und kulturhistorischen Inhalts; auf Münz- und
Siegelwerke wäre zu verweisen, wie auf Weiß' Kostümkunde und Schnases
Kunstgeschichte; dies natürlich mehr cursorisch.
Die Geschichte ist eben eine universelle Wissenschaft, und das muß dem
jüngeren Studirenden von vorn herein klar gemacht werden, sein Gesichtskreis
muß sich möglichst in Weite und Breite ausdehnen, vor Allem muß er sich
rühren lernen. — Was durch die Matcrialkunde im Umfange gewonnen, ver¬
möchten die Leseübnngen in der Tiefe zu leisten; beides könnte sich mithin
trefflich ergänzen, zumal wenn für letztere Partien aus Schriftwerken genommen
würden, die auch sachlich anzögen. Ganz von selbst bildete sich dann bei
Diesem und Jenem eine gewisse Vorliebe aus. Wohl aber mich der -Lehrer
Acht geben, das Interesse wach zu erhalten, welches gar leicht erlahmt, wenn
er ununterbrochen docirt; zu dem Zwecke hat er Fragen an die Betheiligten
zu stellen, hat sie suchen, finden und sich irren zu lassen.
Aelteren Docenten ist nicht zuzumuthen, sich der Handlangerarbeit der
Proseminare zu unterziehen; sie würde vielmehr den jüngeren zufallen, was
zugleich noch mit sich brächte, daß die studirenden Neulinge, denen es an innerer
Reife mangelt, sich nicht von vorne herein den berühmtesten Altmeistern zu¬
wendeten, bei denen sie anfangs meistens entschieden weniger profitiren, als bei
jüngeren Fachmännern, die noch keine große Vergangenheit hinter sich haben,
folglich den: Ankömmling menschlich näher stehen.
Etwa zwei Semester in obiger Weise vorgebildet, ausreichend fest in der
Sprache und eingeweiht in die Kunst des Findens, läge dem Jünger der Ge¬
schichte ob, in die höhere Abtheilung einzutreten, um sein angesammeltes Wissen
mit einem selbständigen Können zu verschwistern, um das wie? — Sichtung und
Verarbeitung des Materials — kennen zu lernen, da er das wo? und was? inne
hat. Nunmehr kann er ganz unbefangen den Gedanken aufkommen lassen,
daß, wenn er fleißig und umsichtig ist, Niemand ans der Welt auch nur ein
Titelchen mehr zu finden vermag, wie er, es müßte denn ein unberechenbarer Zu¬
fall walten; jetzt kann er sich getrost sagen: mein Element ist nicht das Dunkel,
ich wandle im Lichte, in demselben Lichte, wie die besten Männer meiner
Wissenschaft! Und mit der Freudigkeit dieses Gefühls ist Großes gewonnen.
Im eigentlichen Seminare dürften noch weit günstigere Verhältnisse angebahnt
werden, wenn mehrere Studirende, von nicht ganz gleicher Semesterzahl, über
Gegenstände arbeiteten, die sich gegenseitig berühren, oder gar, wenn die Se¬
minarthätigkeit auch dem Stoffe nach mit den schriftlichen Arbeiten im Zu¬
sammenhange steht; es würde dadurch eine gründlichere und allseitigere Kenntniß
der Objekte gedeihen, dort der Eine bemerken, was der Andere übersah; man
würde sich gegenseitig mittheilen, sich anregen und zu wetteifern beginnen; der
Jüngere möchte den Aelteren gern einholen, der Aeltere will den Jüngeren
nicht vorkommen lassen. — Mag sein, daß Manchem diese Methode unwürdig
erscheint; der Verfasser ist anderer Ansicht und überzeugt, daß sie auch der
Wissenschaft bessere Resultate brächte, als das planlose Belieben des Subjekts, in
Folge dessen A. bisweilen in der griechischen, B. in der römischen Geschichte, C. über
Otto I. und D. über König Wenzel arbeitet. Eben dadurch entsteht eine
gegenseitige Entfremdung der Interessen, ein bisweilen geradezu peinliches Ge¬
fühl der Vereinsamung, welches am beseelt beurtheilen kann, wer darunter ge¬
litten hat.
Bei der angegebenen Gruppirung der Kräfte zum Stoffe würde ferner
eines der größten Uebel unserer Seminare zum Wegfall kommen, jenes nämlich,
daß die Besprechungen eingelieferter Arbeiten für Alle mit Ausnahme des
direkt Betheiligten (bezw. der Betheiligten, wenn ein Referent vorhanden) ge¬
wöhnlich gänzlich unfruchtbar und offenkundig langweilig sind. Und nicht
minder wäre dem bösen Gebrechen vorgebeugt, daß der Docent oft über Gegell¬
stände urtheilen muß, die ihm gänzlich fern liegen, in die er sich nur mit
Mühe hineinversetzen kann, oft auch nur mangelhaft hineinversetzt. Ja, anch
ein Gewinn, der mehr abseits vom Wege liegt, ließe sich bei wohldurchdachten
Ineinandergreifen erzielen: wenn die Aufmerksamkeit in eine Bahn gelenkt würde,
zu deren sicherer Betretung sich die Kenntniß einer fremden Sprache wünschens-
werth erwiese. Leicht wird alsdann der Gedanke auftauchen, sie nebenher zu
lernen; diejenigen, welche sie schon mehr oder weniger kennen, kommen den
noch ganz Unwissenden zu Hülfe, und es ist eine alte Erfahrung, daß sich
zwei bis vier junge Leute leichter entschließen, englisch oder italienisch gemeinsam
zu treiben, es auch meistens weiter darin bringen, als wenn ein Einzelner
derartiges unternimmt.
Da ließe sich nun vielleicht der Einwand erheben: wenn Alles so syste¬
matisch in spanische Stiefel eingeschnürt würde, litte die studentische Freiheit
Gefahr! — Es läßt sich erwidern, daß dieses schöne Schlagwort wohl dazu an¬
gethan ist, die jugendliche» Gemüther akademischer Bürger zu elektrisiren, daß
es leider aber etwas von Phrase als Bodensatz enthält; — nicht auf Freiheit
kommt es an, sondern darauf, tüchtige Menschen heranzubilden. Von Hanse
ans haben junge Historiker selten eine kräftige Neigung für einen bestimmte»
Gegenstand innerhalb ihres Faches, dieselbe Pflegt erst durch Allregung von
Seiten eines Lehrers erweckt zu werden; würde nun diese auch sachlich in
einer bestimmten Richtung, in umgrenzten Raume gehalten, so glaubten die
Beeinflußten nach wie vor frei in ihren Entschließungen zu sein, ohne daß sie
es sind, ohne daß sie es bisher gewesen wären; womit jedoch durchaus nicht
ausgesprochen sein soll, daß nicht der Einzelne einer etwaigen entschiedenen
Vorliebe Genüge thun darf.
Auch noch ein anderer Einwurf liegt nicht ferne, der nämlich: das oben
Besprochene möge sich theoretisch ganz gut cinsnehmen, sei aber praktisch un¬
durchführbar. Der Verfasser hält ihn für nicht stichhaltig, da unsere Wissen¬
schaft noch an unendlich vielen Punkten überreichlicher Stoff gewährt, um
drei bis sieben Seminaristen in systematisch znsammeichängender Weise zu be¬
schäftigen, zumal da es bei Uebungsarbeiten gar nicht darauf ankommt, große
Entdeckungen zu machen, sondern zu lernen.
Vielleicht dürfte es sich empfehlen, die Arbeiten weder zeitlich unbeschränkt,
noch auch regelmäßig in jedem Semester anfertigen zu lassen, vielmehr den
offiziellen Liefernngstermin im zweiten Halbjahr anzusetzen, ohne damit die
Arbeiten innerhalb des laufenden auszuschließen. Ans diese Art wäre einer¬
seits dem Fleiße der nöthige Raum gelassen, andererseits der Trägheit und
Schwerfälligkeit eine Grenze gezogen, und anch — obige Methode voraus¬
gesetzt — eine durchgehende Theilnahme an den Erörterungen gesichert, die sich
an eingelieferte Arbeiten knüpfen, weil die meisten, wenn nicht gar alle Se-
minnrmitglieder ausreichend mit dem Gegenstände vertraut sind.
Fleiß und Schaffensdrang erhalten einen künstlichen Sporn durch aus¬
gesetzte Prämien, doch läßt sich gegen dieselben geltend machen, daß sie leicht
einen Ehrgeiz wecken, der nicht rein wissenschaftlicher Natur ist, daß Einzelne,
die leer ausgegangen sind, erbittert werden und Grund zu haben glauben,
die Unparteilichkeit der Lehrer in Frage ziehen zu müssen.
Wohl Niemand will anzweifeln, daß großartige Resultate in der deutschen
Geschichtsforschung erreicht sind, und muß, sobald auf sie der Blick sich richtet,
auch mit Stolz der historischen Seminare gedacht werden; — doch täuschen wir
uns nicht: weniger die Seminare an sich sind die Basis der Erfolge gewesen, als
vielmehr die Persönlichkeiten, welche darin lehrten, und die, welche darin zu
lernen verstanden. Nur wellige Gebiete der Wissenschaft zählen so viele Jünger,
die sich ihr ans reiner, kraftbewußter Liebe und Lust zugewendet haben. —
Nach unserem Systeme würde dein Docenten dem Neulinge gegenüber breiter
Einfluß gewährt, dafür dieser aber auch rascher, als es bisher der Fall ge¬
wesen, vom Exoteriker zum Esoteriker umgebildet, schneller zu größerer Freiheit,
Beweglichkeit, und Sicherheit in der Arbeit geführt, und ob dies durch mehr
schülerhafte Behandlung eines Erstlingsjahres zu theuer erkauft worden, dürfte
Wem, man in Jerusalem mit seinem Führer aus dem lateinischen Kloster
durch die Via Dolorvsa geht, so macht einen der gläubige Mönch auf eine
ganze Anzahl von Reliquien ans den letzten Tagen des Heilandes aufmerksam,
die sich hier oder in der unmittelbaren Nachbarschaft der Straße befinden.
Nicht weit vom Antoniusthurme zeigt er uns den Stein, auf dem Jesus saß,
bevor er das Kreuz auf die Schulter nahm. Beim Eeeehomo-Bogen sehen
wir das echte, leibhaftige Fenster, ans welchem das Weib des Pilatus ihrem
Manne die Warnung zurief: „Hüte Dich, diesen Gerechten zu verdammen!"
Man notirt sich, wie gut das heilige Fenster trotz seines hohen Alters sich
conservirt hat, geht weiter und kommt an die Stelle, wo der gemarterte Er¬
löser unter der Last seines Kreuzes ohnmächtig zu Boden sank. Zwei Stücke
einer Säule, welche von dem fallenden Kreuze getroffen und zerschlagen wurde,
bezeugen, daß der Franziskanerbruder, der unsern Cicerone macht, den Ort
richtig bezeichnete. Wieder ein Stück weiter zeigt unser Begleiter uns das
Haus der heiligen Veronica, die dein Herrn Christus, als er erschöpft stehen
blieb, theilnehmend ihr Taschentuch reichte, damit er sich den Schweiß und das
unter der Dornenkrone hervorquellende Blut abtrockne, wobei sich dessen Ant¬
litz auf dem Tuche abdruckte — ein großes Wunder, welches nur von dem
uoch überboten wurde, daß das Tuch mit dem Bilde in den vielen Jahr¬
hunderten, die seitdem verflossen sind, nicht nur nicht zu Grunde ging, sondern sich
sogar vervielfältigte, sodaß man es jetzt in der pariser Kathedrale, in einer spanischen
Kirche, im Dom zu Mailand und noch an zwei oder drei Orten in Italien
zu sehen bekommen kann. Noch eine kleine Strecke, und wir stehen vor dem
Eindruck in der Mauer eines Hauses,, den der Ellbogen oder das Schulterblatt
des Heilandes hinterließ, als er abermals unter der Last des schweren Kreuzes
strauchelte und an die Wand taumelte. „Ein eherner Ellbogen! Ein eisernes
Schulterblatt!" denkt der Spötter; wir aber schreiben uns das ebenfalls auf
und folgen dann unserm Führer, bis er wieder vor einem Wunder von tiefem
Interesse Halt macht. Es ist das „Haus des ewigen Juden", von dem
zwar die Bibel nichts, desto mehr aber die Legende zu erzählen weiß, und der
auch eine Rolle in der Welt der Volkssage spielt.
Als unser Heiland, so berichtet der Mönch, den Weg nach Golgatha ging,
kam er vor dieser Thür da vorüber. Der Hausbesitzer, ein jüdischer Schuster,
stand, die Hände in den Hosentaschen, auf der Schwelle. Der Herr gedachte
auf derselben ein wenig auszuruhen und bat den Schuster, ihm Platz zu
machen. Der aber antwortete grob: „Nur immer weiter gehen!" und drohte
mit seinem Leisten. Da sprach der Erlöser: „Wohlan denn, ich werde gehen,
um bald zu ruhen; dn aber sollst gehen, bis daß ich wiederkomme." Und
das Wort erfüllte sich und wirkte bis ans den heutigen Tag fort. Der böse
Schuster schloß sofort sein Haus zu, steckte deu Schlüssel in die Tasche nud
wanderte zum Thore hinaus in die weite Welt, in der er noch diesen Tag
heimzieht; denn obwohl er sich alle Mühe gab, er konnte nicht sterben, und
nirgendwo war seines Bleibens.
So weit unser Frater aus dein Salvatvrklvster. Andere fromme Leute in
Jerusalem können uns mehr erzählen. Die meisten sagen, der unbarmherzige
Mensch habe Ahnsverus geheißen, andere nennen ihn Kartaphilus und lassen
ihn die Stelle eines Thürstehers des Hohenpriesters bekleidet haben. Vergebens
suchte er bei der Erstürmung der heiligen Stadt unter den Wurfspießen und
Schwertern der eindringenden Legionen den Tod; er trug nicht einmal eine
Wunde davon. Umsonst trat er in mehreren arabischen Jndenstädten Muhamed
entgegen; was hier uicht im Kampfe siel, wurde hingerichtet, nnr er blieb ver¬
schont. Ebenso wenig erfüllte sich sein sehnlicher Wunsch zu sterben in den
Kriegen der Kreuzfahrer mit den Sarazenen. Er bot sich der Pest dar, und
sie mochte ihn nicht. Er sprang in tiefe Abgründe und verstauchte sich nicht
einmal ein Glied. Er verschluckte Gift in solcher Meuge, daß ein Stier davon
auf der Stelle den Tod gehabt hätte, und siehe da, es focht ihn nicht an. Als
die Eisenbahnen aufkamen, warf er sich unter den ersten Zug, der ihm be¬
gegnete, und der Zug rollte über ihn weg, ohne ihm auch nur einen Finger
zu beschädigen. Da gab er's endlich auf. An die Stelle der Beharrlichkeit
bei diesen Selbstmordversuchen traten Ergebung und Entsagung. Gleichgültig,
theilnahmlos gegen Alles, ohne Hoffnung wanderte er durch die Lande, vom
Aufgang bis zum Niedergang der Sonne, von den Quellen des Nil bis nach
Thule hinauf; nirgends länger als eine Nacht rastend, ist er häufig auch in
Deutschland gesehen worden. Nur eins kann er nicht umgehen: mag er reisen,
wohin es ihm beliebt, alle fünfzig Jahre muß er sich in Jerusalem einstellen,
und zwar immer an dem Tage, wo er sich so gröblich gegen den Sohn Gottes
vergangen hat. Erst vor etwa vierzig Jahren soll er zum sechsuuddreißigsten
Male als verwitterter, hohläugiger Weißbart dort erschienen sein. Er vergießt
dann vor der Schwelle seines Hauses ein paar Thränen, klopft an und läßt
sich, wie Mark Twain gehört haben will, von den jetzigen Bewohnern seines
Grundstücks — die Miethe bezahlen. In sternenhellen Nächten hat man ihn vor
der Kirche des heiligen Grabes stehen sehen; denn seit einiger Zeit ist er auf
die Idee gekommen, daß er Ruhe finden würde, wenn er dort hineingelangen
könnte. Aber auch mit dieser Hoffmmg hat er sich getäuscht; denn sobald er
sich nähert, schlagen die Thüren mit Krachen zu. Trotzdem macht er den
Versuch immer von Neuem; es ist ein aussichtsloses Beginnen, aber andrer¬
seits ist es schwer, sich einer Gewohnheit zu entschlagen, die man schon seit
Jahrhunderten an sich gehabt hat.
So erzählt man den Reisenden in der heiligen Stadt, wo die Wiege des
ewigen Juden stand oder — wo sie vielmehr nicht stand. Denn wir werden
im Folgenden finden, daß Ahasver oder Kartaphilus oder wie er sonst heißt,
kein Jude, sondern ein mythisches Mischlingsweseu ist, welches eine arabische
Mythe zur Mutter und den Sagenkreis von den Wanderungen germanischer
Götter zum Vater hat.
Wir sagten soeben, daß der ewige Jude oder, wie er hier und dn heißt,
der Wanderjude auch in Deutschland gesehen worden sei, nud es kann kurz
hinzugefügt werden, anch in französisch redenden Gegenden, wie er denn nach
der brüsseler Reimchronik im Mittelalter vor den Thoren der Hauptstadt Bra-
bants erschienen und von Bürgern derselben, die ihm begegneten, mit einem
Trunke kühlen Bieres gestärkt worden ist^). Beschränken wir uns auf die
deutsche Sagenwelt, so erzählt nach Vernaleken das Volk im untern Vorarl¬
berg, z. B. in Lustenau:
Von Zeit zu Zeit kommt der ewige Jude ins Land. Wenn die Alten
davon sprechen, fragen die Jungen: „Wann ist er denn das letzte Mal da¬
gewesen, und wann wird er wiederkommen?" Man merkt's dann, sie möchten
halt den Steinalten Mann, wie er mit seinem langen weißen Barte und in
seiner seltsamen Tracht am Wanderstabe daherläuft, auch einmal sehen. „Wann",
so erwidern darauf die alten Leute, die ihm begegnet sind, „der ewige Jude
wieder durch unser Dorf wandern wird, das läßt sich schwerlich sagen; denn
er muß in der ganzen Welt herumlaufen, soweit es Christenmenschen gibt,
zur Strafe dafür, daß er den Heiland von seiner Thür weggewiesen hat.
Denn als die Juden unsern Herrn auf den Kalvarienberg führten, wollte er
ermattet vom Tragen des schweren Kreuzes vor der Hausthür dieses Mannes
ein wenig niedersitzen und rasten. Wie ihn aber Christas um Erlaubniß dazu
bat, trieb ihn der Jude unbarmherzig von der Thüre weg. Darauf hat der
Herr zu ihm gesagt: „Weil du mir diese Rast nicht gegönnt hast, so sollst du
von Stund an wandern, so lange die Welt steht, bis an den jüngsten Tag!"
Und richtig, noch in der selbigen Stunde hat der Jude, welcher ein Schuh¬
macher war, sein Kind, das er auf dem Arme hatte, auf den Boden gestellt
und ist, ohne von seinem Weibe Abschied zu nehmen, alsogleich auf und hin-
aus in die Welt, wo er noch jetzt laufen und wandern muß und fortwandern
wird bis zum jüngsten Gericht. Damit er aber etwas zur Zehrung habe,
trägt er immer einen Groschen im Sack, und so oft er den ausgegeben hat,
länft er nnr dreimal um den Tisch herum, und wieder hat er eiuen Groschen
in der Tasche. Diesen Groschen wechselt er niemals, und überall, wo er ein¬
kehrt, verzehrt er nnr den, nicht mehr und uicht »veniger. Das letzte'Mal,
wo er in Lustenau N'ar, blieb er bei Gevatter Jokubs über Nacht. Da ist
ihm denn mich - und gewiß nicht zum ersten Mal — ein Kruzifix zu Ge¬
sicht get'ommeu, welches die Leute, wie gebräuchlich, im Hearawinkel (Herr-
gottesN'iukel) aufgehängt hatten. Wie das der Jude gesehen hat, ist er in
Entsetzen und Wuth gerathen. Ja wahrlich, die ganze große Sünde, die er
begangen hat, muß ihm centnerschwer aufs Gewissen gefallen sein, sonst hätte
er nicht in eine solche Wuth gerathen können. Endlich hat es den Juden
wieder fortgetrieben auf seine ewige Wanderung, und die Leute sind gewiß
froh gewesen, als er ihre Thüre hinter sich hatte, der bodenböse alte Mann."
Ferner erzählt Vernaleken:
An der südlichen Grenzscheide deutschen Landes ragt das Matterhorn empor,
der westliche Nachbar des Monte Rosa. Da, wo jetzt die Visp einem Gletscher
entströmt, soll nach Aussage der Umwohner vor Zeiten eine ansehnliche Stadt
gestanden haben. Durch diese kam einmal „der laufende Jude", wie berichtet
wird, und sprach: „Wenn ich zum zweiten Male hier durchwandere, so werden
da, wo jetzt Häuser und Gassen sind, Bäume wachsen und Steine liegen. Und
wenn mich zum dritten Male mein Weg hierherführt, wird nichts da sein
als Schnee und Eis." Er muß nun wirklich schon dreimal das Matterhorn
überschritten haben, denn an der Stelle, von der er prophezeit, ist jetzt eine
Schnee- und Eiswüste. Dann scheint er aber anch die entgegengesetzte Höhe
des Walliserthales mehrmals betreten zu haben; denn es geht dort die Sage,
der ewige Jude sei dreimal über die Grimsel gewandert, und er habe sie zu¬
erst als Weinberg, dann als Tannenwald und zuletzt als Schneeberg ange¬
troffen. Ein solcher ist aber die Grimsel gewiß, und durch Holzmangel, Felsen-
slürze und Vorrücken der Gletscher wird sie es von Jahr zu Jahr mehr.
Ein Führer aus dem Bernerlande erzählte dem wiederholt genannten
Sagensammler von einer andern Gegend der Schweiz Aehnliches:
Vor langen Jahren soll das G'steigthal ein See gewesen sein, welcher
das Klima so mild gemacht hätte, das an seinen Ufern Reben gediehen wären.
Ans der „Abesite" (Westseite) stehen hoch oben an der Thalwand noch alte
Mauern, die ein Rest des Wirthshauses sein sollen, welches damals sich hier
befunden hätte. „Uf der Morgensite, z' hinterst im G'steig", d. h. südöstlich
im Winkel des Thales, wo der Saanetschpaß hinaufführt, ragt ein hoher
Felsenstock empor, der unmittelbar mit dem Gebirge zusammenhängt und mit
Wald und Gras bewachsen ist. Dorthin sollen die Leute an den Sonntagen
zu Schiffe gefahren sein, um ihren Gottesdienst zu halten. Noch jetzt trägt
dieser Felsenstock den Namen „die Burg". Auch zeigt man dort an der Fiuh
(Bergwand) noch einen eisernen Ring, an dem man ehedem die Schiffe befestigt
haben soll. Nachdem sich der See durch einen Ausbruch verlaufen, ist die
'
Gegend verödet und zur Wildnis; geworden Es wachsen im Besteig, nicht
einmal mehr Aepfel, Der Saanetsch gibt dein Vieh im Sommer nnr noch
drei Wochen hindurch hinlängliche Nahrung. Nach der Sage soll aber einmal
der ewige Jude, als er hier durchgekommen, gesagt haben, wenn er das nächste
Mal wieder erscheine, so werde dieses Thal so wild sein, wie die Alpenhöhe
des Saanetschberges.
Das Kirchlein von Blumenstein ist ein gutes Stück von diesem Dorfe
entfernt, und in Bezug auf diesen Umstand wußte ein anderer Berner Folgen¬
des zu berichten:
Vor alten Zeiten waren unsere Berge bewohnt, und die tiefer liegenden
Gegenden der Gürbe (Kurve, Krümmung) uach bis Seelhofen waren ein See.
Besonders bevölkert war der Berg Langeneck. An der Sonnenseite desselben
hatte man Reben gepflanzt, und auf der Schattenseite im Buchschwcmd war
eine Stadt, und von dieser ist unter am See die kleine Kirche von Blumen¬
stein erbaut worden. Jeden zweiten Sonntag mußte ein Prediger aus der
Stadt hinunter ans Wasser, um den dort wohnenden Leuten das Evangelium
zu verkünden. Als der ewige Jude diese Gegend zum ersten Male bereiste,
wurde sie gesegnet. Das zweite Mal aber fand er, daß die Leute dort in
Sittenlosigkeit versunken waren, und da verwünschte er sie, sodaß sie zu eiuer
unfruchtbaren Einöde wurde. Kommt er aber das dritte Mal, so wird diese
Gegend zu einen: Gletscher werden.
Vom Pilatusberge am Vierwaldstädter See her kommt, wie Rochholz
mittheilt, alljährlich um Neujahr ein uicht unfreundlich aussehender Maun dnrch
das Aargatt an den Rhein gereist. In den Freienämtern wird er nach dein
Berge, auf dein er seit vielen Jahrhunderten wohnen soll, Pilatus genannt.
An einigen Orten heißt er auch der Pilger vou Rom, weil er wie ein Pilger
mit großem breitrandigen Hute, langem Stäbe, Klette mit Mantelkragen und
dick benagelten Schuhen versehen erscheint. Im Freienamte übernachtet, er ge¬
wohnlich in dem einen oder dem andern leerstehenden Häuschen der Weinberge.
In seiner'Pilgcrtasche führt er sogenannten „Bergzieger" oder, wie man das
weiche Gestein auch nennt, „Mondmilch" mit sich, die er aus dem Ziegerloch,
einer Höhle am Pilatus, geholt hat, und diesen Steinkäse nebst „Walsteinen",
einer Art Guhr, womit mau Gliederquetschungen heilt, läßt er beim Weggehen
als Schlafgeld für die Besitzer jener Hänschen zurück. In Lengnan und En¬
dingen, wo Judengemeinden sind, desgleichen im katholischen Frickthale ist er
unter dem Namen des einigen Juden bekannt. Wenn er diesen Strich bereist,
und ebenso wenn er die angrenzende Basellandschaft durchwandert, übernachtet
er immer in demselben Wirthshause. Doch geht er niemants zu Bett, sondern
läuft die ganze Nacht unaufhörlich in der Stube »aber, bis er am Morgen
wieder aufbricht. Dort hat er den Leuten auch erzählt, er habe, als er das
erste Mal an deu Nheiuwinkel gekonunen sei, wo jetzt Basel steht, uur einen
schwarzen Tannenwald, das zweite Mal, wo ihn sein Weg vorbeigeführt,
nichts als ein breites Dornengestrüpp und das dritte Mal eine von einem
Erdbeben zerrissene große Stadt vorgefunden. Wenn er das nächste Mal diese
Straße ziehe, werde man hier stundenweit gehen müssen, um Reiser zu einem
Besen zuscuumeuznfiuden.
In der Stadt Bern ließ er bei seinem Weggange seinen Wanderstab und
seine Reiseschuhe zurück, die man aufbewahrte. Der züricher Pfarrer Ulrich
hat sich beide Reliquien dort zeigen lassen und berichtet darüber in seiner 1768
erschienenen „Geschichte der Juden in der Schweiz" S. .154: „Auf der obrig¬
keitlichen Bibliothek zu Bern wird ein kostbares Stück aufbewahrt, ein stecken
und ein paar Schuhe von dem ewigen Juden. Man muß aus der Bibliothek
etliche Tritte hinunter in ein Souterrain steigen, allwo ein türkischer Habit zu
sehen, den ein Herr Heerport dahin verehret. Im gleichen Kabinet finden sich
auch des unsterblichen Juden Stecken und Schuhe; der Stecken ziemlich grob
und stark, die Schuhe ungemein groß und von hundert Bletzen zusammen¬
gesetzet, ein Meisterstück von einem Schuhmacher, weil sie mit großem
Fleiß, Mühe und Geschicklichkeit aus gar vielen ledernen Theilen zusammen¬
geflickt worden."
Im Münsterlande und im Paderbornischen erzählt man nach Kühn:
Der ewige Jude hat unser» Herrn Christus, als er auf dem Wege zur
Richtstütte sein Kreuz trug und vor seinem Hanse rasten wollte, von seiner
Schwelle getrieben, und darum ist er verwünscht worden, ewig zu wandern.
So sieht man ihn denn stets, reichlich mit Geld versehen, von einem Orte zum
andern ziehen, und er darf sich nirgend länger aufhalten, als so lange, daß er
un Staude ist, für einen Stüber Weißbrot („Hittewigge") zu verzehren; auch
ist ihm dabei nur erlaubt, sich niederzusetzen, wenn er zwei Eichen findet, deren
Stämme unten so in einander gewachsen siud, daß sie eine natürliche Bank
bilden. Bei Wiuterberg müssen die Eichen ins Kreuz gewachsen sein.
In Heiner und Büren heißt es, der ewige Jude habe eine Nacht Ruhe, wenn
ihm ein mitleidiger Mensch auf dem Felde zwei Eggen dachförmig zu¬
sammenstelle.
Aus Lanken im Lauenburgischen berichtete man Müllenhoff:
Seit vielen, vielen Jahren kommt der Wanderjude in die Städte. Er
wird nicht hungrig, er wird nicht durstig, er wird auch nicht alt. Er soll
seine Ruhe immer draußen suchen und darf unter keinem Dache schlafen. Noch
vor nicht sehr lauger Zeit soll er in Lüneburg gewesen sein; da hat er die
Nacht auf einem Stein zugebracht, der vor der Stadt liegt. In Hamburg ist
er nach souri Chrvuvlvgia um Jahre 1606 erschienen. Im Sundewitt haben
ihn die Leute vor wenigen Jahren noch gesehen und zwar nicht weit vom
Dorfe Beuschan. Er trug einen Korb, aus welchen: Moos herauswuchs. Er
ruht uach dortigem Volksglaube» uur am Weihnachtsabend aus, wenn er
baun ans dem Felde noch einen Pflug findet; deun uur darauf darf er sich
setzen.
Ebenfalls hierher zu beziehen ist folgende, von Mnllenhoff mitgetheilte
Sage ans Ditmarschen, obwohl der ewige Jude darin uicht genannt ist.
Von Hamburg aus wurde Klaus Raume aus Lunden, als er uach Jeru¬
salem reiste, mit Geld und Wechseln versehen. In Jerusalem aber traf sein
Wechsel zur bestimmten Zeit nicht ein. Da gerieth der Ritter in Verlegenheit;
denn er wußte in der fremden Stadt nicht, an wen er sich um Hülfe wenden
sollte. Traurig ging er umher. Da redete ihn ein Bettler an, der fragte,
warum er ein so betrübtes Gesicht mache. „Du kannst mir doch nicht helfen",
antwortete Raume. — „Das kannst Du nicht wissen", sagte der Bettelmann'
„erzähle mir nur, was Dich betrübt." Da gestand ihm der Ritter, daß sein
Wechsel ausgeblieben sei, und darauf langte Jener in die Tasche und gab
ihm einen großen Beutel mit Goldstücken, indem er hinzufügte: „Brauchst Du
mehr, so habe ich mehr." Voll Erstaunen fragte Raume, wie er dazu käme,
ihm das Geld zu geben, ohne ihn zu kennen. Der Bettler erwiderte: „Ich
kenne Dich recht wohl; denn ich bin in Deinem Hause gewesen. Du heißest
Klaus Raume und wohnst in Kleinlehe nahe bei Lunden in Ditmarschen. In
ein paar Jahren aber komme ich wieder zu Dir in Dein Haus, um das Geld
selber abzuholen." Mehrere Jahre vergingen nun, und Klaus Raume war
längst schon wieder daheim. Da trat endlich der Bettler bei ihm ein, als der
Ritter gerade mit vornehmen Gästen bei Tische saß. Raume erkannte ihn,
schon in der Thür wieder, ging auf ihn zu, führte ihn auf deu besten Platz,
legte ihm reichlich vor und erzählte dann seinen andern Gästen die ganze
wunderbare Geschichte. Bleibens aber hatte der Bettler nicht bei ihm, soviel
er auch gebeten wurde. Er nahm: sein Geld wieder und ließ sich von dem
dankbaren Ritter nicht mehr als das Geliehene aufdringen. Die Gäste fragten
ihn, wie er doch bei solchen Reichthum eine solche Lebensweise führen könne.
„Die soll nun auch aufhören", antwortete er. Darauf ging er fort, und nie¬
mand hat erfahren, wohin er gewandert und was aus ihm geworden ist.
Goethe, der nach „Wahrheit und Dichtung" (.15. Buch) die Legende von:
ewigen Juden episch zu behandeln vor hatte, findet in ihr das Schicksal des
nüchternen Weltmenschen, des gemeinen Verstandes, der außer Staude ist, das
Himmlische mit dem Gemüth zu erfassen und zu behalten, und der in Folge
dessen fortwährend zweifelnd und suchend durch die Welt geht. Besser läßt sich nach
unsrer Meinung die Deutung hören, die in dein ewigen Juden den Typus
des gesammten jüdischen Volkes in seiner Zerstreutheit über die ganze Erde
und in der Unwandelbarkeit seines Wesens und Charakters erblickt. Aber
auch dies erklärt uns eine Anzahl von Zügen nicht, die mehr oder minder
deutlich in der Legende wiederkehren, welche wir mitgetheilt haben. Wir wer¬
den durch diese Züge vielmehr darauf hingewiesen, daß die mythische Persönlich¬
keit des ewigen Juden aus der Sage vom ewig jungeu Chidr und andrerseits
aus den altgermanischen Mythen von den Wanderungen Wuotans oder Odins
zusammengeflossen ist. Der Orient und der Occident begegneten sich in den
Kreuzzügen. Die Verschmelzung des übermenschlichen alten Wanderers aus
dem Norden mit dem arabischen Unsterblichen hatte sich bereits in weiten
Kreisen vollzogen, als der Mönch Matthäus Parisiensis im dreizehnten Jahr¬
hundert die Legende, welche dem bisher weltlichen Mythengebilde, vielleicht auf
Grund eines Mißverständnisses der Stelle Johannes 21, 22 und 23*),
ein kirchliches Gewand umgehängt hatte, durch Niederschreiben fixirte.
Chidr war nach arabischer Sage der Wesir des ersten Zuk Karnejn, eines
Welteroberers zu Ibrahims (Abrahams) Zeit. Er hat von der Quelle des
Lebens und der ewigen Jugend getrunken und wird infolge dessen bis zum
Tage des jüngsten Gerichtes leben. Man stellt sich ihn als stets auf der
Wanderung begriffen vor, auf welcher er zu bestimmten Zeiten dieselben Orte
wieder besucht. Zugleich ist er aber der große Nothhelfer der Muslime, wes¬
halb er von denselben angerufen wird, wenn sie in Bedrängniß sind. In der
Regel erscheint er dann in grüner Kleidung, was vielleicht darauf hindeutet,
daß sich in ihm das als Gottheit gedachte ewig junge Naturleben verbirgt.
Er scheint mit dem geheimnißvollen Wesen verwandt zu sein, welches man in
den Kreisen der arabischen Mystiker El Külb (den Pol, seil, der Welt) nennt,
und welches als das Oberhaupt aller Welis (Heiligen) gilt. Der Külb hat
ebenfalls ein unvergängliches Leben, er wird oft gesehen, aber erst nachher
erfährt man, daß er es gewesen, dem man begegnet ist. Er geht stets bescheiden
und dürftig gekleidet einher, und sein Bestreben ist, gottlos Handelnde durch
sanfte Ermahnung auf den rechten Weg zurückzuführen. Lieblingsstationen des
Külb sind das Bab Zuwejleh, ein Thor Kairos, und das Dach der Kaaba in
Mekka. Dort heilt er Zahnschmerzen, wenn man einen Nagel in das Thor
schlägt, hier hört man ihn in der Mitternachtsstunde zweimal den Beterruf:
„O Du Barmherzigster der Barmherzigen!" wiederholen. Er wandert aber
zugleich durch die ganze Welt unter den Bekennen: aller Religionen, deren Ge¬
stalt, Tracht und Sprache er annimmt, und theilt den Menschen die vom
Schicksal ihnen bestimmten Uebel oder Segnungen zu. Endlich aber fällt Chidr
auch mit Elijah oder Elias zusammen, der ebenfalls aus dem Brunnen des
Lebens getrunken hat und deshalb nicht sterben kann. Bekannt ist die arabische
Sage von Chidr, die Rückert in Verse gebracht hat, welche mit den Worten
beginnen: „Chidr, der ewig junge, sprach." Er zieht an einer Stadt vorbei,
wo ein Mann in einem Garten Früchte bricht, und fragt, wie lange die Stadt
hier sei. Die Antwort lautet, sie stehe seit ewigen Zeiten da und werde da
ewig stehen. Nach fünfhundert Jahren zieht Chidr desselben Weges und trifft
an der Stelle einen einsamen Schäfer mit feiner Heerde, der nichts von der
Stadt weiß. Wieder nach einem halben Jahrtausend sieht der unsterbliche
Wanderer an der Stätte des Weideplatzes, der einst eine Stadt gewesen, einen
See, in dem ein Fischer sein Netz auswirft. Abermals nach fünf Jahrhunderten
ist aus dem See ein Wald, und nochmals nach Verlauf einer solchen Periode
ans dem Walde wieder eine volkreiche Stadt geworden.
Man vergleiche hiermit die Alpensagen vom Matterhorn und der Grimsel,
vom G'steigthal und von der Kirche bei Blumenstein, namentlich aber die von
Basel, und man wird eine unleugbare Aehnlichkeit, erkennen und nicht in Ab¬
rede stellen, daß der Wanderjude, der hier wie in deu Volkssagen überhaupt
namenlos ist, sehr deutliche Züge von Chidr hat. Dieselbe Wiederkehr des
Wanderers, derselbe Wechsel in dem Aussehen der Orte, die er nach langer
Abwesenheit wieder betritt; uur an einer Stelle die Andeutung, daß die
Veränderung auf moralischen Ursachen beruht.
Daß andrerseits in dem ewigen Juden eine Erinnerung an den unter den
Menschen nmherwcmdernden, namentlich in den Zwölften immer wiederkehren¬
den Wuotan oder Odin liegt, zeigen andere deutsche Sagen. In der Edda
heißt Odin Wegtam, Gangradr, Gangleri, der wegmüde Wanderer. In der
Sage von Ragnar Lodbrokr erscheint er als graubärtiger Wallfahrer mit breitem
Hut und benageltem Schuh, um den Weg nach Rom zu weisen. Von diesem
Schuh ist der Schuster der Legende ein Nachklang. Der in Bern gezeigte,
aus hundert Flecken zusammengenähte Schuh aber erinnert ganz deutlich an
die Stelle in der jüngern Edda, wo es (in der Gylfaginning) bei der Schil¬
derung des letzten Kampfes der Götter mit Surtur, dem Fenriswolf und der
Midgardsschlange, unmittelbar nachdem Odin vom Wolfe verschlungen ist, von
Widar, der mit Wali allein die große Schlacht und den Untergang der alten
Welt überlebt und somit unsterblich wie Chidr und der ewige Jude ist, folgen¬
dermaßen heißt:
„Alsbald kehrt sich Widar gegen den Wolf und setzt ihm den Fuß in den
Unterkiefer. An diesem Fuße hat er den Schuh, zu dem man alle Zeiten hin¬
durch sammelt, die Lederstreifen nämlich, welche die Menschen von ihren Schuhen
schneiden, wo die Zehen und Fersen sitzen. Darum soll jeder, der darauf be¬
dacht ist, den Asen zu Hülfe zu kommen, diese Streifen wegwerfen. Mit der
Hand greift Widar dem Wolf nach dem Oberkiefer und reißt ihm den Rachen
entzwei, und das wird des Wolfes Tod."
Bei Saxo Grammaticus heißt Wuotan „via-lor inäefss-mK". Die latei¬
nische Legende vom ewigen Juden nennt, wie Rochholz hervorhebt, des Ahns-
verns verschiedene Namen und fügt hinzu: „^los ipsum g.ppella.t Luttsälmm,
g-iins alitkr", womit gewiß nicht an den allerdings gleichfalls viel wandernden
indischen Buddha, sondern an Wuotan gedacht ist. Daß der ewige Jude nur
unter einer Egge oder auf einem Pfluge rasten kann, wird in verschiedenen
Gegenden auch vom wilden Jäger, der im Hildesheimischen der Ewigjäger
heißt, behauptet, und dieser ist nichts anderes als der Himmel- und Todtengott
Wuotan. Der Ewigjäger muß alle sieben Jahre die Welt unreifen, und Dns¬
selbe oder Aehnliches ist dem westphälischen Hakelbernd oder Hackelberg auf¬
erlegt, der bei feiner wilden Jagd so gewaltig mit den Schuhen klappert, daß
man ihn Stunden weit Hort. Der ewige Jude erscheint an einigen Orten um
Neujahr, er kann an andern nur am Weihnachtsabend rasten, eine deutliche
Erneuerung an die Umzüge Wuotans mit andern Göttern, welche in der Zeit
des Incl, des großen Festes der winterlichen Sonnenwende, der jetzigen Zwölften,
stattfanden und in mancherlei abergläubischen Meinungen, Bräuchen, Geboten
und Verboten als bald schauerliche, bald possenhafte Nachklänge des Heidenthums
der deutschen Urzeit bis auf die Gegenwart fortlebten.
Wir meinen, daß dies genügen wird, die oben aufgestellte Ansicht in Be¬
treff der Entstehung unsrer Sage als bewiesen hinzustellen. Der ewige Jude
hat nur wenig christliches und gar kein jüdisches Blut in seinen Adern. Er
ist ein alter deutscher Heidengott, der mit den Kreuzfahrern nach Syrien aus¬
zog und von dort, wie unseres Wissens hier zum ersten Male dargethan wurde,
halb arabisirt und mit einem jüdischen Anstrich wieder heimkehrte.
Als im vorigen Winter der plötzlich unter Regengüssen begonnene Eisgang
der Elbe die Ufer derselben weithin verheerend überfluthete und nnter lautem
Getöse Bäume, Zäune und Menschenwohnungen mit sich fortriß, da versuchte
der Eisgang, wie schon oft in früheren Jahren geschehen war, auch an eine»:
Denkmal seiue Kraft, das oberhalb Dresdens in dem Dorfe Laubegast steht.
Es hielt Stand, trotzdem der Anprall der unaufhaltsam darauf los¬
stürmenden Eisschollen Arges mit ihm im Sinn zu haben schien, und als die
Fluth wieder in ihr altes Bett zurückgetreten war und die Sonne wieder
fröhlich am blauen Himmel lachte, sagte sich wohl Mancher, der dies steinerne
Wahrzeichen einer untergegangenen Berühmtheit ans seinein alten Posten stehen
sah, daß es in seiner vielgeführdeten Lage und von Wind und Wetter jetzt
umschmeichelt, jetzt umtost, an das wechselvolle Schicksal derjenigen, deren An¬
denken es vor hundert Jahren geweiht wurde, in beredter Weise gemahnt. In
der That sind, seit Freunde der Kunst dies Denkmal dem Gedächtniß der
Neuberin errichteten, jetzt gerade hundert Jahre verstrichen, wennschon die
während der Anfertigung des Werkes im vorausgegangenen Jahre dem Steine
eingegrabene Inschrift die Jahreszahl 1776 nennt; errichtet wurde es anno 1777.
Man sollte denken, daß den tüchtigen Männern, welche damals der in¬
mitten der Schrecken des siebenjährigen Krieges trübselig zu Ende gegangenen
Reformatorin der deutschen Bühne den Zoll der Dankbarkeit in der Gestalt
eines öffentlichen Monuments darbrachten, andere gefolgt wären, welche die
Erlebnisse und die guten wie die schlimmen Tage der seltenen Frau aufzu¬
zeichnen beflissen gewesen.
Aber als ich im vorigen Frühjahr, von Empfindungen wie den oben an¬
gedeuteten erfüllt, das meinem Sommerhitze benachbarte Denkmal wieder einmal
betrachtet hatte und mich dann in den Bibliotheken nach einer Biographie der
Neuberin umschaute, fand ich zu meiner nicht geringen Enttäuschung diese
Arbeit uoch umgethan. Nicht einmal die über Caroline Nenberin ab und zu
durch vereinzelte Forschungen zu Tage geförderte» Notizen sind bis jetzt in
übersichtlicher Weise zusammengestellt worden. Daß es deren eine beträcht¬
liche Anzahl gibt, davon konnte ich mich bald überzeugen, als ich, um
wenigstens uach dieser Seite mein Interesse für den Gegenstand einigermaßen
zu befriedigen, mir die Mühe gab, das zerstreute Material, soweit eine kurze
Abmüßiguug von andern Arbeiten gestattete, zusammenzutragen und zu ver¬
gleichen. „Eine Quelle" sagt aber mit Recht David Strauß in verwandter
Bezüglichkeit, „muß rasch gefaßt werden, soll sie nicht im Sande verlaufen."
Auf das Leben der Neuberin findet dies gerade so gut seine Anwendung
wie auf dasjenige irgend einer anderen, nicht durch Selbstbekenntnisse für die
Nachlebenden deutlich abgeschilderten Existenz. Auch ist es fraglich, ob das Ver¬
säumte heute uoch nachzuholen ist, in solchem Umfange nachzuholen ist, wie die
Bedeutung der Neuberin dies als wünschenswert!) erscheinen läßt.
Das bereits über sie Ermittelte zusammenzufassen, wäre jedoch schon eine
verdienstvolle Aufgabe, da eine solche Arbeit die beste Anregung zu allseitiger
Mitarbeiterschaft ist. Und da es, nach dein Ueberblick, den ich gewonnen zu
haben glaube, nicht so gar schwer sein kann, jene unfertige und mangelhafte
Vorstellung, welche wir im Allgemeinen mit der Nenberin verbinden, in ein
farbenfrisches und glaubhaftes Bild zu verwandeln, so sei durch die hier flüchtig
hingeworfene Skizze die Anregung zu einer erschöpfenderen Darstellung
wenigstens versucht.
Was ich aber auf den folgeirden Blättern als einen bloßen Umriß ihrer
eigenthümlichen Erscheinung biete, wird an Verständlichkeit gewinnen, wenn
ich über das Jahrhundert, dem sie angehört und dessen Ungeschmack sie zu
reinigen versuchte, — wie sie selbst sich dieses Ungeschmacks erst zu entschlagen
bemüht war, — einiges Allgemeine vorausschicke. Es ist dies um so weniger
ein Umweg, als die Nenberin ein Wanderleben führte und so im Norden wie
im Süden des römischen Reichs deutscher Zunge mit den Zuständen, die sie
vorfand, zu rechnen hatte. Dabei können selbstverständlich nicht bloß die
Kunst- und speziell die Theater-Zustände in Betracht kommen. Die allgemeine
Unsicherheit der Verhältnisse, die Rechtlosigkeit der großen Menge, die Unge¬
straftheit der oben in Gunst Stehenden, der Mangel jeder Kontrolle durch
die Tngespresse, der Wirrwarr in Angelegenheiten der Kunst und des guten
Geschmacks, alles Das mußte nothwendig in den damaligen deutschen Bühnen¬
zuständen seinen Widerschein finden, und diese Dinge sich lebhaft zu vergegen¬
wärtigen, ist das beste Mittel, um auch eine einzelne Persönlichkeit aus der
Zeit jener Bühnenzustände uicht nur in Bezug auf diese, sondern in Bezug
auf ihre ganze Zeitumgebung sich anschaulich vor Augen zu stellen.
Vor Allem wird festzuhalten sein, daß die Geburt der Nenberin in das
siebzehnte Jahrhundert fällt, das Jahrhundert des 30jährigen Krieges. Seit
dem westfälischen Friedensschlüsse war noch nicht die Lebenszeit zweier Gene-
rationen verstrichen. Wenn aber eine große Menge glaubhafter Augenzeugen
jener Zeit aus fast allen Theilen des Reiches Greuel berichtet, welche in dem
30jährigen Krieg einen durchaus so wüsten und unmenschlichen Charakter er¬
kennen lassen, wie er ohnlängst dem Kriege in Bulgarien aufgeprägt gewesen
ist, so hat die Phantasie geringe Mühe, an der Hand jener Chronisten sich die
Wirkung klar zu machen, welche eine 30jährige Dauer solch entarteter Zu¬
stände schließlich hervorbringen mußte. In der That hatte Deutschland nicht
nur zwei Drittheile seiner Bevölkerung eingebüßt. Die Ueberlebenden waren
auch zum größern Theile bis zur Bettelhaftigkeit verarmt, und was sie bei
Beginn des Krieges an Bürgerstolz, nationaler Sitte, kräftigem Selbstbewußt¬
sein und muthigem Trotze ihr eigen genannt hatten, war unter der Kriegsgeißel
im Laufe der blutigen Jahrzehnte in Abspannung, Stumpfheit, Unlust und
Zagheit verkehrt worden; nicht minder in Rohheit, ja in Berthiertheit. Mit
wenigen Ausnahmen nehmen denu auch die deutschen Höfe in der letzten Hälfte
des siebzehnten Jahrhunderts jene üppige und schwelgerische Physiognomie
an, welche allemal in der Geschichte wieder erscheint, so oft das Volk in seiner
Verarmung und Versunkenheit sich mit dem nackten Leben begnügen zu müssen
meint und jeglicher Handhabe zum Geltendmachen seiner Rechte auf einen
maßgebenden Einspruch gegen seine Ausbeutung verlustig gegangen ist. Je
verführerischer aber das nach Verwüstung der Schlösser an die Höfe verpflanzte
Treiben des deutschen Adels den unteren Ständen erscheinen mußte, desto be¬
gieriger suchten diese für das mit ihrem ehemaligen Wohlstand dahinge¬
schwundene bäurische oder bürgerliche Behagen einen wenigstens scheinbaren
Ersatz im Nachäffer jener begünstigten Klassen. Was der deutsche Bauer und
Bürger vor dem 30jährigen Kriege, also in seiner vollblütigen Behäbigkeit
sich an Luxus gestattet hatte, war auch schon in vielen Gegenden dem fürst¬
lichen Luxus nah verwandt gewesen. Jetzt jedoch prunkte er in Pumphosen und
geschlitzten Aermeln, ohne etwas daheim zu beißen zu haben. Alle, selbst die
Studenten, mochten der sogenannten alamvoischen Kleidertrncht nicht entbehren,
und daß spanische und französische Narren ihnen dafür als Vorbilder dienten,
störte sie nicht im Mindesten. Die Franzosen haben, wie man weiß, bis tief
ins achtzehnte Jahrhundert hinein den während der Wirren des 30jährigen
Krieges auf Deutschland gewonnenen Einfluß zu behaupten gesucht; vor Allem
geltend machte er sich jedoch, als das Beispiel Ludwigs des Vierzehnten die
Maitressenmode an die deutschen Höfe verpflanzte. Die ersten fürstlichen Ge¬
liebten jener Periode bewarf das Volk noch mit Koth. Aber dieser altdeutsche
Ehrbarkeitsprotest war im Grunde nicht mehr zeitgemäß. Bald bequemten
sich in Württemberg die Beamtenfrauen, der allmächtigen und sogar im Staats¬
rath präsidirenden Grävenitz den Hof zu machen. In Baiern, in Sachsen
drängte fich's von Glücksjägerinnen mit oder ohne Stammbaum, und die in
Versailles ausgetheilte Parole: Is sang Ach liois ne sonnt« wurde un¬
bedenklich ins Deutsche übersetzt, ja ging so sehr in die Moral selbst der nicht-
höfischen Kreise über, daß beispielsweise die hallische Juristen-Fakultät — in
ihrer Mitte ein Chr. Thomasius — freilich zum Theil aus Haß gegen die
orthodoxen Theologen, ein Gutachten solchen Inhalts abgab: große Herren
und Fürsten seien allein Gott verantwortlich, deshalb ein oäium in ooneubinii.8
bei ihnen aufhören müsse, „hiernächst eine Ooneuvins, Etwas von dem Splendeur
ihres Unarten zu überkommen scheint."
Es mag an diesen Vorbemerkungen zur ungefähren Kennzeichnung der
unerquicklichen Zeitverhältnisse, welche die Neubersche Periode begleiteten,
genug sein.
Genaues über die Jugend der Neuberin ist erst im Jahre 1870 zu Tage
gekommen und zwar durch die verdienstvolle Forschung des Dr. E. Herzog in
Zwicken. Darnach bestätigt sich zunächst, daß Friederike Caroline Weißenbornin
am 9. März 1697 in Reichenbach (sächsisches Voigtland) geboren und getauft
worden. Ihre Mutter Anna Rosina ist die Tochter eines Hochgräfl. Reuß-
Plauischen Hosverwaltcrs, ihr Vater Daniel Weißenborn ist Reichenbacher
Gerichts-Inspektor, ihre Taufzeugen sind zwei Juristenfrauen und der Erb-,
Lehn- und Gerichtsherr auf Reichenbach und Friesen.
Ein im Zwickauer Rathsarchiv aufbewahrtes Akten-Fascikel, ans welchem
diese Einzelheiten hervorgehen, und welches „die Entführung der Friederike
Caroline durch Gottfried Zornen als anno 1712" betrifft, bringt auch über
den Vater der Entführten Näheres. Er war darin als jähzornig, atheistisch
und als Hanstyrann geschildert. Seine Gattin sei im Jahre 1705 den Tem¬
peramentsfehlern des heftigen Mannes erlegen. Seitdem habe die Tochter
zwar guten Schulunterricht genossen, um ihre Erziehung habe sich der Vater
aber nicht weiter gekümmert, dagegen in rohen Schimpfreden und körperlichen
Mißhandlungen öfter sein Müthchen an ihr gekühlt. Diese Ausschreitungen
werden zum Theil auf ein langjähriges gichtisches Leiden zurückgeführt, das
ihn schon im Jahre 1702 zur Niederlegung seines Amtes und zur Uebersiede-
lung nach Zwickau veranlaßt hatte, woselbst er mit Hülfe seines Amanuensis,
eben jenes Gottfried Zorn, der Advokatur oblag.
Dieser junge Mensch, 24 Jahre alt und der Sohn eines armen zwickauer
Schusters, hatte fünf Jahre in Jena die Rechte studirt und schien dem alten
Weißenborn ein nicht unerwünschter Nachfolger und Schwiegersohn. Caroline,
obschon erst 15 Jahre alt, war kein Kind mehr — die Akten schildern sie
als schlanke, hübsche Blondine — und mochte ihrerseits einer baldigen Ver-
heirathung um so geneigter sein, je mehr sie unter der väterlichen Zuchtruthe
zu leiden gehabt hatte. Und wenn die Akten den Amanuensis nicht gerade als
Adonis erscheinen lassen — er sei pockennarbig, blaß, lang und trage eine
lichte Perrücke, heißt es in seinem Signalement — so mag das junge Mädchen
wie deu Augen der Liebe ihn wohl in einem verschönernden Licht gesehen haben.
Drei Vierteljahre hatten die jungeu Leute sich solcherart in mehr oder
weniger von dem Alten gebilligter Weise mit ihren Zukunftsplänen beschäftigt,
als eines Tages dem alten Advokaten bei Gelegenheit einer Zwiesprache mit
der Mutter des Amanuensis die leicht erregbare Galle überlief und er sich so
energisch an dieser Frau vergriff, daß Zorn Junior ihr beisprang, welche Jnsnbordi-
wtion zur Folge hatte, daß ihn sein Prinzipal aus dem Hause jagte. Dies
scheint im Frühjahr 1712 stattgefunden zu haben und war natürlich für Frie¬
derike von dein Verbot begleitet, den Exmittirten ferner zu sprechen oder zu
sehen. Da der gichtische Vater aber nicht sonderlich zum Wachestehen taugte,
so war die Versuchung, sein Verbot zu übertreten, groß, und die jungen Leute
fanden denn auch bald Mittel und Wege, ihr düsteres Loos gemeinsam zu be¬
klagen. Davon benachrichtigt brauste der Alte in solcher Wildheit auf, daß
er seine Tochter mit Erschießen bedrohte, weshalb sie am 12. April im abend¬
lichen Dunkel davonlief. — Ein solcher Schritt war ihr nicht mehr neu.
Schon am Neujahrstage des nämlichen Jahres hatte Caroline sich den Mi߬
handlungen des tobenden Vaters durch die Flucht entzogen. Damals war sie
zu einer Schwester ihres Vaters geeilt, und da sie diese nicht zu Hause fand,
zu einer ehemaligen Magd ihres Vaters, die einen ehrbaren Beutler zum
Manne hatte. Bei diesem Paar war sie geblieben, bis der Beichtvater Caro-
linens, Magister Thym, um das Osterfest sie bestimmte, sich mit ihrem Vater
auszusöhnen und in dessen Haus zurückzukehren. Da jene zuerst erwähnte zweite
Flucht bereits im April stattfand, war die Aussöhnung jedenfalls nur eine
oberflächliche gewesen, wohl hauptsächlich beeinflußt durch den Wunsch Carolinens,
ihrem Zukünftigen wieder nahe zu sein. Aber, wie wir gesehen haben, kam es
fast um die nämliche Zeit zum Bruch zwischen Carolinen's Vater und ihrem Freunde.
Nun dieser letztere mit dem alten Weißenborn zerfallen war und nicht mehr in
dessen Hause weilte, hatten Beide keinen Grund, in Zwickau zu bleiben, viel¬
mehr mußten sie den voraussichtlichen Verfolgungen des Alten aus dem Wege
zu kommen suchen. Wir finden das heimathlose Pärchen daher die Vettern¬
straße einschlagen und in Greiz, Reichenbach und Zwönitz auch wirklich eine
Weile bei Freunden und Verwandten sich glücklich durchbringen, wohl in leid¬
lich schicklicher Weise, da uuter denen, die sich ihrer annahmen, auch ein Geist¬
licher ist, der Bruder vou Carolinens Mutter, in Greiz. Aber die Mittel
waren von vorne herein knapp gewesen. Im weitern Verlauf dieser Irrfahrten
mußten die entbehrlichen Kleidungsstücke verkauft werden, und als nichts mehr
zu verkaufen übrig blieb, ließ sich Caroline gar ihr schönes blondes Haar ab¬
schneiden und bestriit mit dem Erlös aus demselben eine kurze Weile den
Lebensunterhalt. So ging es bis tief in den blüthenreichen Mai hinein, in:
Ganzen sechs Wochen lang, — da fielen die ziellos Umherschweifenden in dem
kleinen Oertchen Affalter einem Beamten des schönburgischeu Justizamtes in die
Hände, der sie auf Grund der väterlicherseits in Bewegung gesetzten Steckbriefe
unter Eskorte in die zwickauer Rathsfrohuveste ablieferte. Es begann nun
auf Antrag Weißenborns der Jnquisitivnsprozeß, über dessen Verlauf die
Akten Näheres besagen. Sie lassen Caroline, uach Dr. Herzogs Ausdruck, als
„ein frühreifes, listiges, energisches, der französische,: und lateinischen Sprache
mächtiges Mädchen erscheinen", dessen gute Schulbildung auch durch Briefe
von ihrer Hand bewiesen wird. Dieselben können als auch geistig von ihr
ausgegangen gelten, da Caroline, von Zorn getrennt, in der Wohnstube des
Gerichtsdieners saß, und der Kauzleistyl einem Advokatenkinde wohl geläufig
sein mochte. Uebrigens hat ja ihr weiteres Leben genugsam bewiesen, daß sie
auf eigenen Füßen stand. Einer dieser Briefe, nach bereits sechsmonatlicher
Haft geschrieben, lautet wie folgt:
Es soll sich dem sichern Verlaut nach mein Herr Vater itzo meistens da¬
hin bemühen, wie er mich wieder in seine Gewalt kriegen möge, hat mir auch
allbereit zum öfftern durch seine Magd hinterbringen lassen, daß, wofern ich
nicht von Herrn Zornen abstehen, das ist, nach dessen Belieben diesem meinem
Gewissen und Gerechtigkeit zuwider seben (würde), er die Sache so lauge ver¬
zögern wolle, bis wir im Arrest darüber crepiren müssen. Nachdem aber ver-
hoffentlich denen Wohllöblichen Herren Stadtgerichten aus der abgehörten
Zeugen Aussage einermaßen wissend, wie grausam obgedachter mein Herr Vater
auch aus der allergeringsten Ursache mir in meiner zartesten Jugend mitge-
svielet, und mich gleichsam, als wäre ich keine von Gott erschaffene und erlöste
Seele, verfluchet und verwünschet, mir die allerschändlichste Nativität gestellet
und mit solchem unchristlichen Beginnen mich unverantwortlich geärgert, zudem
anch das durch seine an meiner seligen Fran Mutter verübte Tyrannei.) dar¬
gestellte Exempel noch Männiglich vor Augen; und über dieses leichtlich zu
erachten, daß ich ins künftige gegenwärtiges meines Arrestes halber, worein
mich die Tyrannei.) und Affecten meines Herrn Vaters gestürzet, bei ihm noch
weit heftigeren Sävitien als zuvor würde unterworfen und in steter Lebens¬
gefahr sein müssen, indem er ja sein hitziges Naturell nimmermehr ändern,
vielmehr aber seinen einmal gegen mich gefaßten Zorn, anch wenn ich das
Geringste versehe, stärken wird; als lebe ich in der gewissen Hoffnung, es
werden die Wohllöblichen Herren Stadtgerichten, wofern mein Herr Vater, um
mich wieder in seiue Tyranney zu zwingen, sich bei Denenselben schriftlich oder
durch seinen Gevollmächtigen bearbeiten möchte, dieses sein Bitten nicht statt¬
finden lassen, auch dessen Jntentiren der Verzögerung der Sache krafft ihrer
obrigkeitlichen Macht und Gewalt unterbrechen. Die ich wie sonst unausgesetzt
verharre deren Wohllöblichen Herren Stadtgerichten untertänigst gehorsamste
Dieser Brief ist vor Allem deshalb charakteristisch, weil die Schreiberin,
nachdem sie schon sechs Monate lang „bei schlechtester Kost" ihrer Freiheit be¬
raubt ist, doch offenbar den Verlust der letzteren noch weniger drückend findet,
als den Gedanken an die Rückkehr in die brutale Gewalt ihres unberechenbar
gewaltthätigen Vaters, Welch eine beklagenswerthe Jugend! Und wie wenig
kommt man solchem Schicksal gegenüber mit dem herkömmlichen Sittlichkeits¬
maße aus, wenn man nach demselben ihr wiederholtes Entrinnen aus der väter¬
lichen Hut und was sich daran knüpft, abschätzen will.
Ueber den Ausgang des Prozesses hat bisher nichts Genaues ermittelt
werden können. Nach sieben Monaten Haft scheinen sowohl Zorn wie Caro-
line wieder auf freien Fuß gesetzt worden zu sein, und wir hören, daß der
Bruder von Caroliuens Mutter, Archidicckouus Wilhelm in Greiz, Cciroline
zuletzt doch noch bewogen habe, sich mit ihrem Vater auszusöhnen und in „das
alte Joch" zurückzukehren.
Diese Erlebnisse der noch nicht sechzehnjähriger schließen eine, dank
jenen zwickcmer Akten, fast in völliger Deutlichkeit übersichtliche Lebensperiode
des jungen Mädchens ab.
Bis zu ihrem zwanzigsten Jahre fehlt uns dann eine- sichere Unterlage
für die Beurtheilung ihrer weitern Entwickelung. Ihr oben mitgetheilter Brief
scheint anzudeuten, daß sie ihre Verbindung mit dem Leidensgenossen als eine
sie wie ihn bindende Gewissensehe angesehen hat, damals etwas nicht so
ganz Seltenes und vou Zeit zu Zeit Gegenstand juristisch-theologischer Fehden.*)
Denn sie schreibt, wie erwähnt: von Herrn Zornen abzustehen sei „ihrem Ge¬
wissen und der Gerechtigkeit zuwider."
Warum der verdienstvolle Anffinder und Ausleger der zwickcmer Akten
die Ansicht ausspricht, Carolina möge sich über den Verlust ihres Geliebten
wohl bald getröstet haben, ist mir hiernach nicht verständlich. Anhaltpunkte
für eine solche Wankelmüthigkeit Carolinens werden nicht beigebracht, und wenn
Herr I)r. Herzog an einer andern Stelle sagt: „In obiger Weise endigte sich
also der erste Liebeshandel der nur erst fünfzehnjährigen Karoline, welche bald mit
dem zwickaner Primaner Johann Reuber, dessen Vater ein werdcmer Advokat
war, eine neue Liebschaft anknüpfte", so vermisseich auch in Betreff dieses „bald"
jeden Nachweis. Deun die bekannte Katastrophe ihrer Flucht mit dem Pri¬
maner Reuber fällt in das Jahr 1718, also in das 21. Lebensjahr Caro¬
linens, und zwischen jeuer Gewissensehe und diesem neuen Bunde liegeu
volle sechs Jahre. >
Vielleicht ist es richtiger und stimmt besser mit ihrem spätern, so viel sich
ermitteln läßt, in ihrer Glanzperiode durch keine Ausschweifungen anstößig
gewordenen Lebenswandel, wenn man annimmt, daß die bittre Lehre, welche
die sieben Monate Haft in der Frohnveste ihr predigten, an der wieder in das
Baterhans Zurückgekehrten nicht verloren waren.
Da Gottfried Zorn ohne Mittel und Stellung war, mußte er wohl dein
Gedanken entsagen, sich ihr für's Leben zu verbinden, und es scheint sogar, daß
er, nach Entlassung aus seiner Haft, den damals für Schiffbrüchige dieser Art
üblichsten Weg einschlug, um wieder einigermaßen aufs Trockene zu kommen,
daß er nämlich den Soldatenrock anzog. In der That geht aus einem ihn
betreffenden Aktenstück des zwickauer Rathsarchivs hervor, daß er im Jahre
1717 in Dresden als Quartiermacher bei der königlichen Garde dn Corps an¬
gestellt war. Und zwar bezieht sich jenes Aktenstück auf eine gegen ihn beim
zwickauer Amtsgericht erhobene Anklage auf Bigamie. Was auf diese Anklage
erfolgt ist, hat sich bis jetzt nicht ermitteln lassen, obschon beim dresdner könig¬
liche!: Kriegsgericht ohnlängst auf meine Anregungen desfallsige Nachforschungen
angestellt worden sind. Erhoben war die Anklage seitens einer im Jahre
1709 mit dem damaligen Studenten Zorn kirchlich verbundenen Schustertochter
aus Leutenberg, und in dem Bericht, welchen der zwickauer Stadtrath darüber
an den Landesherrn gelangen läßt, wird der Verdacht der Bigamie damit be¬
gründet, daß Herr Zorn „jetzt eine zweite Frau genommen habe", auch sei an
das Consistorium verwiesen, daß besagter Zorn sich mit der Caroline Weißen¬
born in ein Eheversprechen eingelassen habe.
Wie erwähnt, datirt diese Anklage von Anno 1717 und zwar vom 26.
Juli, und ein Schreiben des Regiments-Schultheiß Müller aus Dresden, be¬
sagend, daß soeben das Urtheil über Zorn gesprochen, datirt vom 23. De¬
zember 1717.
Ob nur zufällig gerade um diese Zeit — im Jahre 1718 — Caroline
abermals dem väterlichen Hanse entfloh? Prozesse, die nicht militärisch
waren, pflegten in jener Zeit ein zähes Leben zu haben. Noch ein Menschen¬
alter später bedürfte es ja selbst in Preußen eines Machtwortes des großen
Königs, um den Karren der Justiz in Bewegung zu bringen. In Pommern
allein waren 2400 alte Prozesse rückständig; und volle zwei Menschenalter
später — 1772 — harrten beim Reichskammergericht noch 61,233 rückständige
Sachen ihres Abschlusses! .
Kein Wunder also, wenn fünf Jahre nach Carolinens Freilassung aus der
Frohnfeste das Eheversprecheu Zorns noch den zwickauer Stadtrath, respect. das
Consistorium, beschäftigte — im Archiv dieser Behörde wäre möglicher Weise noch
der weitere Verlauf der Angelegenheit klar zu stellen — und noch weniger ein Wunder,
daß Caroline lieber im väterlichen Hause alle Stürme und Unwetter über sich
ergehen ließ, als daß sie sich abermals der Gefahr aussetzte, in den Mund
der Leute zu kommen oder gar die Büttel der Frohnveste sich auf die Fersen
zu ziehen. Denn so ungestraft die Großen auch ihren Neigungen Zügelfreiheit
gönnen durften, für die Kleinen hatte damals Frau Justitia das Schwert immer
bei der Hand. Und was gerade im Sächsischen in Bezug auf Conflicte mit
dem Konsistorium in dieser Zeit zu gewärtigen war, dafür hat es nicht an
Belegen gefehlt. War doch herkömmlicher Weise ein junges Paar, dem nicht
gar lange nach der Hochzeit ein Kind geboren wurde, der grausamen Strafe
verfallen, an drei Sonntagen im Halseisen vor der Kirche ausgestellt zu werdeu,
worauf dann noch die Kirchenbuße des Kniens vor dem Altar folgte; und als
im Jahre 1719 im füchsischer Dorfe Barthelsdorf ein nachsichtiger Pfarrer
diese Strafen abschaffen wollte, hatte er große Mühe, seine Neuerung durch¬
zusetzen.
Und wie verfuhr denn jene Zeit überhaupt mit Straffälligen, oft auch nur
Verdächtigen oder gar offenkundig Unschuldigen, aber aus Privatrache den
Gerichten Ueberantworteten, unter den Letzteren vor Allem den der Hexerei An¬
geklagten? Denn zur Zeit der Neuberin standen die Hexenprozesse, wenn auch
uicht mehr in voller Blüthe, so doch immer noch in Ansehen, wie denn noch
ans Grund der Hexerei im Jahre 1749 zu Würzburg eine Nonne hingerichtet
wurde, und vereinzelte Strafvollstreckungen dieser Art selbst bis ins Jahr 1793
vorkommen. Daneben war, wenn man allein die in Sachsen noch üblichen
Strafarten ins Auge faßt, im Jahre 1726 (nach Jsländers dresdner Ker-
Chronik) noch im Schwunge: für Deserteure Ohrabschneiden, für Diebe Ständen,
Brandmarken, unter Umständen auch Hängen, für Mörder Rädern, für Mein¬
eidige Fingerabschneiden und Hinrichten u. f. w., und in dein benachbarten
Prag wurden sogar mehreren Mördern, ehe sie gezwickt und gerädert wurden,
ums Jahr 1732 Riemen aus dem Rücken geschnitten und abgestreift.
Und was die elterlichen Strafweisen betrifft — denen gemäß der alte
Weißenborn nicht einmal als Unicum gelten darf — so charakterisirt es jene
Zeit, daß Gottsched in seiner Wochenschrift „die vernünftigen Tadlerinnen" noch
gegen die Unsitte eifern mußte, welche damals ganz gebräuchlich gewesen zu
sein scheint, daß nämlich für Säumniß im Strnmvfstricken einem Kinde
(damals strickten auch die Knaben) die Hände mit Strickwolle umwickelt und
diese dann angezündet wurde, eine Grausamkeit, welche übrigens zu Anfang
dieses Jcchrhuuderts auch in Hamburg noch vorgekommen ist.
Was nun jene dritte Flucht Carolinens betrifft, so fehlt darüber alles
Nähere. Obschon der heftige Charakter des alten Advokaten zu dem Schluß
berechtigt, daß er Alles aufgeboten haben wird, um auch diesmal seiner Tochter
wieder habhaft zu werden, scheinen die desfallsigen gerichtlichen Akten doch nicht
aufzufinden zu sein. Herr Dr. Herzog hat, wie er mir mittheilt, die Zwickauer
Archiv» vergebens darnach durchsuchen lassen. Ebenso wenig findet sich bis
jetzt in den über die Nenberin hier und da veröffentlichten kürzeren Bemerkungen
und Daten etwas Zuverlässiges über ihre Verheirathung. Im Jahre 1718 war
Caroline mündig, und so hatte sie diesmal wohl allerdings die Möglichkeit
die Trauung vornehmen zu lassen, aber wo und wann, das bleibt noch
nachzuweisen. Da sich das flüchtige Paar, wie vermuthet wird, nach Weißen¬
fels wandte, um dort, wie es denn auch geschah, bei der Spiegelbergschen
Truppe einzutreten, so möchten die Weißenfelser Kirchenbücher wohl zunächst
Auskunft geben können. Weiter unter kommt in Betreff dieses auch Braun¬
schweig in Betracht. Uebrigens hat es auch nicht an Leuten gefehlt, welche
den Mangel eines Nachweises darüber für verdächtig hielten und das Zu¬
sammenleben des Neuberschen Paares als der gesetzlichen Sanktion entbehrend
ansahen. Dies würde mit dem sonst zumeist umsichtigen Verhalten der Neu-
berm aber schlecht Harmoniren.*)
Die vergangene Woche des Abgeordnetenhauses war beherrscht von der
Vorlage wegen Uebernahme des Betriebes der Berlin-Dresdener Eisenbahn
durch die preußische Regierung. Die Angelegenheit ist aus dem vorigen Jahre
in Erinnerung. Der preußische Staat garantirt die Zinsen für eine Anleihe
der betreffenden Gesellschaft bis zur Höhe von p. ?. 23 Millionen Mark und
nimmt dagegen die Bahn in seine Verwaltung. Im vorigen Jahre wurde der
Gesetzentwurf in der Budgetcommission begraben; diesmal wird es nicht so
"°) Während der Druck-Verzögerung des obigen Aufsatzes ist es mir gelungen, indem
ich mich an das Braunschweig-Lüneburgische Consistorium wandte, feststellen zu lassen, daß die
Neubcriu in Braunschweig zur kirchlichen Einsegnung gelangte. Ich lasse die mir gütigst
mitgetheilte Abschrift des Trauzeugnisses folgen:
„Den S, Febr. sind auf Hochsürstl. Concession von denen königl. Großbrittauischen'und
Chursürstl. Brv Lunch, Hoff. Commedianten in S, Blasn Kirche copulirct Johann Reuber
Peinsdvrff: Mihr. Slud. weiland Johann Reuber Peinsdorff: Mihr. nachgelassener Sohn
Und Jgfr. Friderika Carolina Weissenbornin: H. Daniel Weisscnborn Jur. ultr. Cand. und
Advocat: iuunatr. Cygr. Mihr. (Niu-M^öl^ Wsnensis?) Ehelcibliche Tochter.
(Auszug aus dem Verzeichnisse der Proclamirten und Copulirten der hiesigen Hof- und
Domkirche, Jahrgang 1718).
Grenzboten I. 1877. 45
sein. Bis jetzt freilich hat im Plenum nur der allgemeine Gedankenaustausch
der ersten Lesung über ihn stattgefunden. Die Commission wird aber ihre
Berichterstattung ohne Zweifel so rasch bewerkstelligen, daß die beiden andere«
Lesungen womöglich noch in der neuen Woche vorgenommen werden können.
Die Commission selbst ist zu einem ablehnenden Beschlusse gekommen; es be¬
weist das jedoch uoch nichts für das Schicksal der Vorlage im Plenum. Im
Grunde dreht sich der Streit um die Frage, ob Staatsbahnen oder nicht. Wer
die Staatsbahnen im Prinzip bekämpft, wird auch den hier in Rede stehenden
Gesetzentwurf nicht annehmen können. Alle anderen Richtungen, nicht allein
die Freunde der Staatsbahnen schlechtweg, sondern auch die Anhänger des
sogenannten gemischten Systems, können wenigstens keine grundsätzlichen Ein¬
wände gegen die Erwerbung der Bahn erheben; nur die Form, in welcher
die Erwerbung sich vollziehen soll, können sie bemängeln und verwerfen. In
dieser Beziehung hat man die Rentabilitätsberechnung, wie sie in dem mit der
Gesellschaft abgeschlossenen Vertrage für den Fall des nach 15 Jahren er¬
folgenden vollständigen Ankaufs stipulirt ist, angegriffen; man hat andererseits
den sofortigen Ankauf vorgeschlagen. Es darf erwartet werden, daß der Com¬
missionsbericht diese Fragen vollkommen klarstellen wird. Die Erwerbung
selbst liegt jedenfalls durchaus im Wesen unserer heutigen Eisenbahupolitik, ja
die Minister hatten, trotz alles Widerspruchs, nicht Unrecht, wenn sie die An¬
nahme der Vorlage als eine logische Consequenz des vorjährigen Beschlusses
betreffs des Reichseisenbahnprojekts bezeichneten; denn dieser Beschluß ist gleich¬
bedeutend mit der Proklamirung wenn nicht des reinen Staatsbahnsystems
so doch eines gemischten Systems, in welchem die Staatsbahnen eine ganz
überragende und schlechthin maßgebende Stellung einnehmen. Der Sinn dieses
Systems geht dahin, daß der Staat die Hauptrichtungen des Verkehrs der¬
artig beherrsche, um den concurrirenden Privatbahnen die Tarife auferlegen
und so das Publikum vor Ausbeutung schützen zu können. In diesem Zu-
sammenhange betrachtet, springt die Wichtigkeit, welche die Linie Berlin-Dresden
für den Staat haben muß, sofort in die Augen. Daß der Handelsminister
die Fusion dieser Bahn mit der Berlin-AnHalter, welche nach dem Scheitern
der Garantievorlage im Abgeordnetenhause mit großem Eifer betrieben wurde,
inhibirt, begreift sich hiernach ebenso sehr, wie es zeigt, was eigentlich die
preußische Regierung mit der Betriebsübernahme bezweckt.
Leider hat sich dem Projekte diesmal eine neue Schwierigkeit entgegen¬
gestellt, welche seinen Gegnern eine willkommene Handhabe bietet: der Wider¬
spruch der sächsischen Regierung. Man beansprucht von Dresden aus, die auf
sächsischem Gebiet gelegene Strecke der Bahn selbst in Verwaltung zu nehmen;
eventuell erbietet man sich zum sofortigen Ankauf dieses Theiles. Daß eine
Theilung der Verwaltung, noch dazu auf einer so kurzen Linie, für das Publi¬
kum nur Nachtheile, jedenfalls keine Vortheile haben könnte, wird trotz der in
der betreffenden fächsischen Note versuchten Gegenargumentation kein Unbe¬
fangener bestreiten; auf die Idee, welche dem Reichseisenbahnprojekt zu Grunde
liegt, wäre ein solcher Allsgang der Krise der Berlin-Dresdener Bahn der
offene Hohn. Zudem würde die Hauptabsicht des vorliegenden speziellen Plans,
gegen die übrigen von Berlin nach Süden gehenden Linien ein Zwangsmittel
in der Hand zu haben, so gut wie vereitelt werden. Man erkennt leicht: es
sind zwei prinzipiell verschiedene Systeme, die hier einander gegenübertreten.
Nimmt man dazu die sonstigen kleinen und großen Gravamina, die Sachsen
gegen Preußen zu habe» glaubt, in erster Linie den Sitz des Reichsgerichts,
so muß man gestehen, es bedürfte nur noch des Herrn v. Beust und der
seligen Bundesverfassung, und wir hätten mitten in Deutschland eine „Frage",
die der russisch - türkischen an bedrohlichem Charakter kaum etwas nachgeben
würde. Glücklicherweise haben wir andere Zeiten! Preußen hat auf Grund
des Artikel 77 der Reichsverfassung die Entscheidung des Buudesraths ange¬
rufen, und bei derselben, wie immer sie ausfalle, werden sich beide Theile beruhigen.
Für den preußischen Landtag aber liegt kein Grund vor, die Berathung des
ihm vorliegenden Gesetzentwurfes hinauszuschieben, bis das Urtheil gefällt ist.
Lautet der Spruch zu Preußens Ungunsten, so wird dadurch der mit der
Eisenbahngesellschaft abgeschlossene Vertrag co ipso ungültig.
Abermals stand in dieser Woche die Steuerfrage zur Verhandlung. Ein
von der Regierung vorgelegter Gesetzentwurf, welcher die gesetzlichen Vor¬
schriften über die Veranlagung der Grund-, der Klassen- und der Einkommen¬
steuer in etwas modificirt, ist ohne prinzipielle Bedeutung. Weitgreifender war
eine von der Budgetcommission beantragte Resolution, welche die Regierung
auffordert, auf die thunlichste Vereinfachung der Instruktionen für die Ver¬
anlagung und Erhebung der Klassensteuer bedacht zu sein, und vor Allem den
Bezirksregierungen zu verbieten, daß sie die Einschätzungsformulare willkürlich
abändern. Die Berechtigung dieser Forderungen liegt so klar auf der Hand,
daß die Regierung sich ihnen nur anschließen konnte. Daher wurden denn
auch nicht viel Worte über sie gemacht. Nur der ultramontane Röckerath er¬
hob wiederum eine stereotype Klage über parteiische Anwendung der Steuer¬
schraube und provocirte damit verschiedene derbe Zurechtweisungen. Daß ihm
vorgehalten wurde, er habe in der Budgetcommission zur Specifikation und
Begründung seiner Beschuldigung rein gar nichts Triftiges vorzubringen ge¬
wußt, wird ihn indeß wenig belästigen. Die ultramontanen Blätter drucken
die Reden ihrer Gesinnungsgenossen im stenographischen Wortlaut, die übrigen
lassen sie weg. Das ganze Truggewebe aufreizender Behauptungen wird ins
Land hinausgeschleudert, die Widerlegung bekommt der Gläubige nicht zu hören.
Ein wenig erquickliches Schauspiel bietet der Ehescheidnngsprozeß, den
Ost- und Westpreußen .vor dem Abgeordnetenhause führen. Die Provinz
Preußen soll in zwei selbständige Provinzialverbände getrennt werden, eine
Operation, welche die Westpreußen, mit Ausnahme der Stadt Elbing, ebenso
eifrig befürworten, wie die Ostpreußen ihr widerstreben. Es ist ein bedauer¬
liches Maß von Bitterkeit und Gehässigkeit in den Streit hineingetragen
worden. Bei der Sucht, überall die Nationalliberalen ihre Hand im Spiele
haben zu scheu, scheut sich ein Theil der fortschrittlichen. Presse nicht, die Tren¬
nung zu einer nationalliberalen Parteiintrigue zu stempeln; der Haß gegen
Ostpreußen als die „feste Burg der Fortschrittspartei" soll die Nationallibe-
ralen antreiben, dasselbe von dem reicheren und deshalb des Provinzialdotations-
fonds weniger bedürftigen Westpreußen loszutrennen. Dieser Vorwurf hat in¬
deß seit den jüngsten Reichstagswahlen seine Plausibilität stark eingebüßt;
infolge der von der Fortschrittspartei beliebten genialen Spaltung der Liberalen
ist Ostpreußen ans dem besten Wege, zur festen Burg der Conservativen, und
zwar von der reaktionären Nüance zu werden. Die Behauptung ferner, die
ganze Trennungsbewegung sei in Seene gesetzt von einigen ehrgeizigen Dan-
ziger Agitatoren, widerlegt sich dnrch die einfache Thatsache, daß mit Ausnahme
der Vertreter Elbings sämmtliche westpreußische Provinzialtandtagsmitglteder
ohne Unterschied der Partei- und Berufsstellung die Trennung verlangen.
Diese Thatsache in Verbindung mit der Erwägung, daß die beiden Landsstheile
in Bezug auf die Angelegenheiten der allgemeinen Landesverwaltung zwar
einen einheitlichen Verband bilden, ihre communalen Institutionen aber bis
auf den heutigen Tag gesondert bewahrt haben, sollte von durchschlagenden
Gewicht sein. Die Vorgänge auf dem uach der neuen Provinzialvrdnung ge¬
wählten Landtage, wo stets eine geschlossene westpreußische Minorität einer eben¬
so geschlossenen ostpreußischen Majorität gegenüber stand, haben zur Genüge
erkennen lassen, daß hier die ersten Vorbedingungen eines ersprießlichen Funk-
tionirens der neuen Selbstverwaltung fehlen. Da nun die beiden Provinzen
nach der Trennung noch immer die durchschnittliche Große der übrigen preußi¬
schen Provinzen haben werden, da ferner erst dann jede derselben eine natür¬
liche Hauptstadt, welche jetzt in der einheitlichen Provinz fehlt, erhalten wird,
so ist nicht zu bezweifeln, daß das Abgeordnetenhaus diejenige Konsequenz
ziehen wird, welche der gesunde Menschenverstand fordert.
Einen dankenswerthen Antrag hatte der Abgeordnete Wehreupfeunig an das
Hans gebracht, eine Aufforderung an die Regierung, einen Gesetzentwurf über
die Organisation des technischen Unterrichtswesens nach seinen verschiedenen
Stufen — Hochschulen, gewerbliche Mittelschulen, Fachschulen für Handwerker
— vorzulegen. Ganz besonders ans die Fachschulen für Handwerker wurde
vou dem Antragsteller selbst und auch von anderen Rednern der Nachdruck ge¬
legt. Und in der That, der bedauerliche Rückgang unserer gewerblichen Leist¬
ungen hängt ganz ohne Zweifel aufs engste zusammen mit dem Mangel an
eigentlicher Fachbildung. Von Seiten des Staates ist dies Gebiet bisher
gänzlich vernachlässigt worden. Wir haben technische Hochschulen, auch leid¬
liche Mittelschulen, für die unterste Stufe aber mangelt es, von einigen pri¬
vaten Organisationen abgesehen, an Allein. Ans dem Gebiete der Landwirth¬
schaft ist durch die Pflege der specifisch landwirtschaftlichen Fortbildungsschule
in den letzten Jahren Tüchtiges geleistet, für eine Fachbildung der Handwerker
aber ist nnr höchst mangelhaft gesorgt. Hier muß vor allem eingesetzt werden,
wenn die große Aufgabe der Wiederhebung unseres Gewerbewesens gelingen
soll. Wie die Organisation anzufassen sei, wird freilich noch gründlicher Er¬
wägung bedürfen. Einstweilen gingen die Ansichten weit auseinander. Die
Centrumspartei null überhaupt keine gesetzliche Regelung der Angelegenheit,
sondern nur eine „lebhaftere Forderung" seitens der Regierung. Von anderer
Seite meinte man, daß der Staat sich ans Normativbestimmungen zu beschränken
habe. Mit großer Majorität wurde schließlich der Antrag Wehrenpfeunig mit
der Maßgabe angenommen, daß die Regelung im Zusammenhange mit dem
allgemeinen Unterrichtsgesetz erfolgen soll. Jedenfalls ist die Angelegenheit
nun in Fluß gebracht. Die Regierung hat in den württembergischen Fach¬
schulen ein höchst beachtenswerthes Beispiel vor Angen. Unter Berücksichtigung
der dort gemachten Erfahrungen, beziehungsweise der dort hervorgetretenen
Mängel, wird sie das Richtige zu schaffen im Stande fein.
Ein Gesetzentwurf, welcher den Provinzialverbänden gestattet, die ihnen
überwiesenen Dotationen auch zur Anlage von sogenannten Seknndäreisenbahnen
zu verwenden, hat die beiden ersten Lesungen passirt. Es handelt sich ledig¬
lich um eine sehr zweckmäßige Erweiterung der Dispositionsbefngniß der
Provinziellen Selbstverwaltungskörper über die Dvtationsfonds, durchaus
aber uicht um die Uebernahme neuer Verpflichtungen durch die Provinzen.
Die Hartnäckigkeit, mit welcher Herr Windthorst eine derartige Perspektive er¬
öffnete und die wunderlichsten Schreckbilder an die Wand malte, wäre schier
unbegreiflich, wenn man nicht längst wüßte, daß das Centrum auch vor dem
Widersinnigsten nicht zurücksehend, um einen Vor wand für seine Opposition
zu finden.
Die Budgetdebatten der abgelaufenen Woche drehten sich vorwiegend um
den Etat für Handel, Gewerbe und Bauwesen. Im Punkte der öffentlichen
Bunten mußte der Handelsminister Achenbnch scharfen Tadel über sich ergehen
lassen. Seit Jahren schon wurde über eine wahrhaft erstaunliche Langsamkeit
dieses Verwaltnngszweiges geklagt. Diesmal machte sich die Mißstimmung in
einer energischen Aufforderung Luft, dein bureaukratischen Schlendrian dnrch
eine gründliche Reorganisation endlich ein Ziel zu setzen. Ein anderer Vor¬
wurf traf zugleich, und in fast noch höherem Grade, den Finanzminister, der
Vorwurf nämlich der wenig rationellen, ziemlich planlosen Art, wie im Wege
der Extraordinarien die Mittel für die Bunten beschafft werden.
Schließlich wurde noch die Berathung des Etats des Kultusministeriums
begonnen. Damit gelaugte der „Kulturkampf" auf sein eigenstes Feld. Ist
es nöthig, dies widerwärtige Bild des klerikalen Ansturms gegen den Haupt¬
vertreter der Rechte des Staats zum hundertsten Male zu zeichnen? Es ge¬
nügt, zu constatiren, daß es neue Züge durchaus nicht aufzuweisen hatte, es
sei denu, daß sich die Ueberzeugungskraft der ultramontanen Angriffe schwächer,
die Haltung des Ministers entschlossener als je erwies. Von liberaler Seite
wurde Herr Falk dnrch eine scharfe Kritik der vom hannoverschen Landescon-
sistorium mit Hülfe der dortigen Landessynode erlassenen Trauordnnng ins
Gedränge gebracht. Trotz der ausweichenden Interpretation des Kultusministers
bleibt wahr, daß namentlich die hannoversche Traunngsformel die Borstellung
erwecken muß, als ob die Ehe erst durch die kirchliche Trauung begründet
Wir stellen uns den Verfasser als einen alten Herrn von Stande vor,
der in den verschiedensten Kreisen der Gesellschaft gelebt hat, und der mit guter
Beobachtungsgabe auch für das Kleine und Alltägliche viel Belesenheit ver¬
bindet. Es muß ein alter Herr sein, einmal weil sein mit Citaten überreichlich
geschmückter Stil und Manches in seiner Anschauungsweise einen gewissen alt¬
modischen Zug hat, dann weil er nicht selten behäbig weitschweifig wird, eine
Eigenschaft, welche häufiger bei bejahrten als bei jungen Leuten anzutreffen
ist. Im Uebrigen charakterisiren ihn eine satirische Ader, die aber keine Bosheit
enthält, und ein gewisses Maß von Humor, dem mancher hübsche Scherz
gelingt. Das Ganze besteht aus lose aneinandergereihten Skizzen, Bildern,
Satiren und Kritiken, die sich vorwiegend auf das gesellschaftliche Leben der
Gegenwart und seine Erscheinungen beziehen und zwar nicht gerade viele neue
Beobachtungen und Urtheile, aber auch nicht wenige Darstellungen und Be¬
merkungen enthalten, die man sich, ohne gelangweilt zu werden, zweimal sagen
lassen kann, da die Empfindung, die ihnen zu Grunde liegt, gesund ist, und
das Urtheil, welches sie fällen, im Wesentlichen das Rechte trifft. Bisweilen
echauffirt sich der Verfasser über Dinge, die uns als selbstverständlich kalt
lassen würden, wie z. B. Seite 136 bis 138 über einen geputzten Lümmel, der
die Rafaelsche Madonna für „oller Schund" erklärte, und der beiläufig auch
anderswoher sein konnte als aus Berlin, welches gewissen Satirikern mehr
herhalten muß, als es verdient. Sich drei Seiten lang über einen anmaßenden
Dummkopf zu ereifern, ist kein guter Geschmack und noch weniger eine Noth¬
wendigkeit, wenn man für Gebildete schreibt. Allerliebst erzählt ist das 27.
Stück: „Ein Friedensengel." Recht hübsch sind auch die Bemerkungen, die
das Kapitel 37, „Die Herrschaft der Schablone", bilden, und auch sonst ist
uns noch Manches aus der Seele geschrieben; nur wolle man darunter nicht
alles verstehen, was der Verfasser über die Judenfrage sagt. Hier ließe sich
denn doch nicht Weniges bestreiten, wenn auch zuzugeben ist, daß manche An¬
sichten, die der Verfasser mit Pathos als Vorurtheile tadelt, wirklich Vorurtheile
und nichts als das sind.
Der Verfasser ist nach seiner Schreibweise, die gelegentlich schwungvoller
als billig ist, ein strebsamer Dilettant, nach der Schule, der er folgt, ein An¬
hänger Darwins und Häckels. Was er in Betreff der von diesen vertretenen
Theorien vorbringt, ist nicht von Erheblichkeit. Dagegen hat er das Vogel¬
leben gut beobachtet und weiß so in der zweiten Abhandlung des Buches (die
erste beschäftigt sich mit dem Nachweis, daß die Vogel von den Reptilien ab¬
stammen) allerlei Interessantes von ihm zu erzählen.
Fünfundzwanzig Märchen, unter denen sich nach dem Vorwort des Ueber¬
setzers „viele befinden, welche bisher noch nicht ins Deutsche übertragen worden
sind", und bei deren Uebersetzung derselbe sich ganz besonders bemüht hat, „um
die tiefinnigen, stets edlen Gedanken und Ideen des Dichters endlich ganz zur
Geltung gelaugen zu lassen." Wir bedauern, von diesen tiefinnigen, stets edlen
Gedanken in Andersens Sachen niemals Viel haben finden zu könne». Märchen
wachsen übrigens, werden also nicht gemacht. Gemachte Märchen sind künst¬
liche Blumen, die vielleicht Parfum, aber keinen Duft haben. Die Andersenschen
sind, obwohl wir ihnen Erfindungsgabe nicht absprechen wollen, von dieser
Regel nicht ausgenommen. Sie sind nichts weniger als naiv wie das echte
Märchen, und häufig herrscht in ihnen eine kränkliche, weinerliche Sentimen¬
talität — man vergleiche z. B. „Die kleine Meerjungfrau" —, bei der einem
richtig empfindenden Gemüthe förmlich elend zu Muthe wird. Natürlich wird
dieses literarische Corsete dennoch nach wie vor seine Liebhaber und Käufer
finden; das gehört aber nur unter die Zeichen, daß der Geschmack der großen
Menge in Deutschland kein gesunder und lobenswerther ist.
Das Buch giebt in einfacher, urkundlicher Darstellung ein Bild von dem
mächtig bewegten, ereignisreichen Lebenslauf unseres Kaisers. Ans Grund von
Thatsachen, amtlichen Documenten und beglaubigten persönlichen Aeußerungen
des Fürsten liefert der Verfasser in genetischer Gruppirung einerseits eine
Charakterzeichnung desselben, bei der kaum etwas vermißt werden wird, andrer¬
seits zugleich eine Uebersicht über den Gang der nationalen Entwickelung in
den letzten acht Jahrzehnten und namentlich in der wunderbaren Zeit, wo diese
Entwickelung sich um Preußen und seineu König gruppirte und von hier ans
zu Erfolgen geleitet wurde, welche erlebt zu haben, wir nus glücklich preisen.
Von dem Augenblicke an, wo der Prinz von Preußen als Regent die selb¬
ständige Leitung der Geschicke des Landes übernahm, fehlt unseres Wissens
hier keine Aeußerung desselben und kein Schriftstück, woraus Licht auf sein
Wollen und Bestreben fällt, und überhaupt nichts, wodurch er selbst die be¬
deutenderen Phasen seiner Regierung bezeichnet hat. Wir haben somit in der
Schrift gewissermaßen eine Selbstbiographie des Kaisers vor uns, die, wie
schließlich bemerkt sei, in der neuen Auflage bis zum 7V. Militairjubiläum
desselben (1. Januar d. I.) fortgeführt ist.
Bilder aus der Geschichte der deutschen Landwirthschaft von Theodor Batate,
2 Bde. Berlin und Leipzig, Verlag von H. Voigt, 1876.
Das oben angeführte Buch bespricht in gefälliger Form und allgemein
verständlicher Weise mit reichlichen Auszügen aus den vom Verfasser benutzten
Schriften die Entwickelung der deutschen Landwirthschaft von der frühesten
bis auf die jetzige Zeit, enthält aber zugleich zahlreiche und ausführliche Be¬
trachtungen und Darstellungen andrer Seiten des deutschen Kulturlebens. Nach
einem Blick auf den Betrieb der Landwirthschaft in der Urzeit und während
der Völkerwanderung führt uns der Verfasser Karl den Großen als Staats¬
und Landwirth vor. Dann versetzt er uns auf die norddeutsche Tiefebene, um
uns die Wurzelkeime preußischen Lebens im slawischen Boden zu zeigen und
die allmähliche Germanisirung des Wendenlandes zu erzählen, dessen einstige
Natur und Bevölkerung uns dabei lebendig geschildert werden. Ein ferneres
Bild wendet sich den politisch-sozialen Verhältnissen des Mittelalters in ihrer
Einwirkung ans den Grundbesitz zu. Ein anderes beschreibt in recht anschau¬
licher Weise das wirthschaftliche Leben des vierzehnten und fünfzehnten Jahr¬
hunderts in den Klöstern und Klostcrgebieten, in den Dörfern, in den Burgen
des höheren Adels und in den Städten; wieder ein anderes gibt einen Ueber¬
blick über den großen Bauernkrieg von 1525. In die neue Zeit von der
kirchlichen bis zur wirthschaftlichen Reformation eingetreten, betrachten wir
dann im zweiten Bande zunächst das Emporblühen der Landwirthschaft im
sechzehnten Jahrhundert, darauf den dreißigjährigen Krieg und feine Folgen für
das Leben der Nation, die durch Episoden aus der Geschichte der Stadt Belzig
und des mecklenburgischen Dorfes Perun in ihrer ganzen Entsetzlichkeit klar
gemacht werden. Hierauf sehen wir die Könige Friedrich Wilhelm I. und
Friedrich II. ihre segensreiche Thätigkeit zur Hebung der Industrie auf deu
verschiedensten Gebieten und namentlich auf dem des Ackerbaues und der Vieh-
zucht entfalten, wobei interessante Gespräche Friedrichs während seiner Be¬
sichtigungsreisen eingeflochten sind. Das letzte Bild endlich beschäftigt sich mit
Preußens wirthschaftlicher Reformation durch Stein und Thaer und mit den
wirthschaftlichen Erscheinungen während der Zeit der dreißiger Jahre.
Um von der Art und Weise, wie der Verfasser, mit dessen politischen und
geschichtlichen Ansichten wir beiläufig nicht allenthalben übereinstimmen, seinen
Gegenstand behandelt, eine Vorstellung zu geben, ziehen wir einige von den
letzten Partien seiner Schrift in abgekürzten Kapiteln zu einem Bilde von der
Entstehung der heutigen landwirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands zu¬
sammen.
Trotzdem, daß von Friedrich Wilhelm I. und anderen besseren Fürsten
nach dein großen Kriege mancherlei zur Hebung der Landwirthschaft geschehen
war, lag dieselbe doch noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vielfach
im Argen. Der Grundbesitz war zerstückelt. Man hatte Felder von wenigen
Hufen Breite, und dieselbe« lagen oft weit von einander, was die Bestellung
und die Ernte erschwerte. Dazu kam die gemeinschaftliche Hut, durch welche
der Landmann schlechte Weide erhielt und seine Felder nicht nach besserer
Ueberzeugung bestellen konnte, sondern bei der Einsaat die Schläge beachten
mußte. Dadurch wurde ihm unmöglich gemacht, das rechte Verhältniß zwischen
Kornfrucht und Viehfutter herzustellen, und infolge dessen konnte er den Vieh¬
stand nicht heben, die Düngermaffe nicht steigern und die Felder nicht ver¬
bessern. Ein weiteres Hinderniß zweckmäßigeren Betriebs der Landwirthschaft
lag darin, daß die herrschaftlichen Besitzungen oft zu groß waren, um mit
gehöriger Sorgfalt bewirthschaftet werden zu können. Noch weit nachtheiliger
aber wirkte der Umstand, daß die Bauern in vielen deutschen Strichen nicht
einmal Besitzer ihres Gutes waren und für den fremden Grund und Boden,
auf dem sie als Zeitpächter saßen, nur soviel thaten, als sie um ihrer felbst
willen thun mußten. Endlich aber kamen hierzu noch die leidigen Frohndienste,
durch welche der Bauer abgehalten wurde, sein eignes Gut wohl zu bearbeiten.
Verdrossen zog er auf das fremde und verrichtete seine Arbeit so schlecht als
möglich, was ihm nicht zu verdenken war, da ihm die Herrschaft für einen
mit vier Pferden geleisteten Frohntag, wenn überhaupt etwas, höchstens sechs
Groschen gab, während er ihm mindestens einen Thaler zu stehen kam. Der
gute Erfolg einer ländlichen Wirthschaft hängt von dem zweckmäßigen Ver¬
hältnisse des Viehstandes zu der Ackerzahl ab. Damals aber hielt man fast
allenthalben zu wenig Vieh, und so bekam man zu wenig Düngung, konnte
nichts sür die Aecker thun und mußte im System der reinen Bräche fort¬
wirthschaften wie sein Großvater und Urgroßvater. Der Futterbau wurde
schlecht oder gar nicht betrieben, und von einer Düngung oder Entwässerung
der Wiesen, die freilich auch nur von Walpurgis bis zur Heuernte gehegt
wurden, war nicht die Rede. Hatte ein Bauer sich Geld erübrigt, so legte er
es in den Kasten oder kaufte sich Land dafür, statt damit sein Land zu ver¬
bessern, während doch fünfzig Aecker gut bewirthschaftet mehr einbringen als
hundert Aecker bei schlechter Verwaltung.
Im östlichen Deutschland, Kursachsen, der Lausitz, Brandenburg, Pommern,
Thüringen und den Gegenden am Harz, sowie in Kurhessen, Böhmen und Mähren
bildeten die Schäfereien den Haupterwerbszweig der größeren Landwirthe. Man
hatte ihnen daher, wo Bergleder fehlten, Brachfelder und Wiesen zur Hütung
eingeräumt, und wo Bergweide genug vorhanden war, hatten sie die Zahl der
Schafe vermehrt, um auch die Brach- und Wiesenhütnng ausnutzen zu können.
Das Rindvieh ging entweder mit auf die Wiesen oder in die Waldungen, die
Schweine wühlten auf den Aeckern, und wo man Pferde zog, hatte man Riede
und Hutweiden. Der Gutsherr besaß nicht nur das Triftrecht auf seinen
eigenen Ländereien, sondern meist auch noch die Koppeltrift auf den Grund¬
stücken seiner Bauern, welche schon dadurch verhindert waren, die Wiesen zu
hegen und das Brachfeld mit Futtergewächsen zu bestellen. Infolge dessen
ging das Winterfutter gewöhnlich mit dem März zu Ende, und die Schafe
mußten, sobald der Schnee geschwunden war, auf den nassen Wiesen ihr spär¬
liches ungesundes Futter suchen und kamen erst nach dem elften Mai von den
Wiesen zur Trift. Den Kühen holten im Frühling die Mägde auf Bracher
und Saatfeldern junges Futter, welches mit Stroh vermengt geschnitten wurde
und knapp hinreichte, ihnen das Leben zu fristen. Erst wenn die Zeit der
Waldweide kam, erholten sie sich, aber mit dem Eintritt der Sonnenhitze ent¬
stand von Neuem Noth. Das Vieh, von Staub und Hitze, Hunger und In¬
sekten gepeinigt, stürzte sich gierig auf solche Stellen, wo stehende Nässe noch
grünen Pflanzenwuchs erhalten hatte, und holte sich dort Krankheiten und bis¬
weilen den Tod. So kam der Herbst heran, wo die Schafe auf Stoppelfeldern,
das Rindvieh auf Wiesen wieder reiches Futter fanden, bis das letztere im
Spätherbste die Ställe bezog, während die Schafe noch bis zum Eintritt des
Winters sich ihr ganzes Futter auf den Wiesen suchen mußten. Ans diese
Weise konnte es nicht fehlen, daß öfters Viehseuchen ausbrachen, und daß, wenn
das Frühjahr erst spät kam, die Schafheerden bisweilen bis zur Hälfte durch
Mangel an Nahrung vernichtet wurden.
Gegen einzelne dieser Mißstände traten in der ersten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts praktische Landwirthe wie Leopoldt in Sorau, v. Eckhart, Hage¬
dorn und Reichere auf, aber ohne durchschlagenden Erfolg; denn einestheils
gingen die Betreffenden nicht weit genug, andrerseits hatten sie nicht nur wohl
erworbene Berechtigungen, die man mit Entschädigung beseitigen konnte, sondern
auch das Vorurtheil des gemeinen Mannes gegen sich, der mit Mißtrauen
jedem Versuche begegnete, die durch tausendjähriges Bestehen geheiligte und
mit allen seinen Lebensgewohnheiten eng verwachsene Flurverfassung zu ändern.
Zuerst nun ging dem Grundübel der Landwirthschaft, der Triftgerechtigkeit
auf Bracher und Wiesen, welche die Einführung des Futterbaues und der
Stallfütterung verhinderte und damit der Gewinnung reichlichen Düngers zur
Verbesserung der Felder im Wege stand, die physikalisch-ökonomische
Societät zu Lautern in der Pfalz zu Leibe, indem sie die rheinischen
Fürsten um Aufhebung der lästigen servitute gegen billige Entschädigung er¬
suchte. Die Bitte wurde berücksichtigt, und in der Rheinpfalz, im Zwei-
brückenschen, Darmftädtischen, Badenschen und Hohenloheschen wurden Gesetze
zum Schutze des Klee- und Futterbaues erlassen, infolge deren sich diese
Gegenden rasch zu großer Blüthe erhoben. Auch in Preußen fand die neue
Lehre, welche Futter in Masse, reichlichen Dünger, gute Ernten und bei voller
Gesundheit der Thiere die besten Erträge an Milch und Wolle versprach, An¬
klang, aber doch mehr Gegner. Indeß strebte Friedrich der Große die Ein¬
führung der besseren Betriebsweise mit Nachdruck an, und so verstanden sich
allmählich neben den Domänenpächtern auch andere Landwirthe dazu, sie bei
sich einzuführen, was dann in mehreren Nachbarländern Nachahmung fand.
Noch besser als dem Klee erging es der Kartoffel, die bisher allenthalben mit
Vorurtheilen zu kämpfen gehabt, nach den nassen Jahren 1770 und 1771,
wo der Preis des Roggens sich fast verdoppelte. In Thüringen, Ober- und
Niedersachsen, Westphalen, der Mark, Schlesien, Franken und Hessen beeilte
man sich, das Versäumte nachzuholen. Man pflanzte die unschätzbare Knolle
überall an, wo die noch bestehenden Hütnngsservitnte es erlaubten, man riß
sogar die Reben von Weinbergen ans, um letztere in Kartoffelacker zu ver¬
wandeln, und an vielen Orten verschwanden die Rebenhügel ganz, und nur
ihre Namen erinnerten fortan noch daran, daß der Weinbau einst viel aus¬
gebreiteter betrieben worden war, als nach dieser Zeit.
In Kursachsen, welches durch den siebenjährigen Krieg und nicht minder
durch die Schandwirthschaft Augusts III. und seines elenden Ministers, des
Grafen Brühl, ausgesogen worden und vielfach zurückgeblieben war, trat
Schubart als Reformator auf, der zunächst dnrch sein Beispiel, dann auch
durch Schriften weit über die Grenzen seines Heimathlandes hinaus wirkte. Er
gestaltete sein Gut Würchwitz bei Zeitz nach der rheinischen Methode bis zum
Jahre 1777 dermaßen um, daß es in der ganzen Umgegend als Muster galt.
Dann, als die Bauern die reiche Kleeernte erblickten und sahen, wie im Januar,
wo ihr kümmerlich aussehendes Vieh sich mit knapper Strohfütternng begnügen
mußte, von Schubarts reichlich genährten Kühen vier Stück soviel Milch gaben
als vierzehn der ihrigen, mis sie bemerkten, wie er Korn und Raps in Fülle
anbaute, und wie seine früher moosigen Wiesen nach ihrer Entwässerung einen
üppigen Graswuchs zu treiben begannen, gingen ihnen die Augen auf, und
sie, die anfangs gespottet, beeilten sich, die neue Betriebsweise in ihren Wirth¬
schaften nachzuahmen. Die Folge aber war, daß sie in wenigen Jahren über
150,000 Thaler Schulden abtragen und überdies ihre Ställe erweitern, ihre
Scheunen vergrößern und ganz neue Gebäude herstellen konnten. Durch einen
Freund, den Leipziger Professor Leske, angeregt, schrieb Schubart von 1781
an in das Magazin für Naturkunde, Mathematik und Oekonomie auch Ab¬
handlungen über die Landwirthschaft im Allgemeinen, über den Anbau vou
Tabak, Krapp, Runkelrüben und Klee und über die Düngung mit Gyps, die
als auf praktische Erfahrung gegründet bei Tausenden von Landwirthen leb¬
haften Anklang fanden. Den Gipfel feiner reformatorischen Thätigkeit aber
erreichte er erst, als die Berliner Akademie der Wissenschaften 1783 die Fragen
aufstellte: „1. Welche Futterkräuter sind überhaupt zum trocknen oder frischen
Gebrauch die besten, sie mögen in Grasung, Blatt- oder Wurzelwerk und in
kleinen Kräutern bestehen? 2. Welche sind darunter ihrer gesunden und nahr¬
haften Eigenschaften halber am leichtesten und häufigsten, anch bald mit wirk¬
lichem Nutzen zu erziehen? 3. Welche Bestellnngsarten und Unterschiede müssen
dabei in Acht genommen werden?" Schubarts Beantwortung dieser Fragen
wurde mit dem Preise gekrönt und dies öffentlich bekannt gemacht, woraus
sein Ruf sich mit einem Schlage durch ganz Deutschland und Oesterreich ver¬
breitete. Aus allen Gegenden eilten Fürsten und Grafen, Gelehrte, Beamte
und einfache Landwirthe nach Würchwitz, um die neue landwirtschaftliche
Methode durch Augenschein kennen zu lernen. Der Fürst Egon von Fürsten¬
berg ließ die Schubartsche Preisschrift ins Czechische übersetzen und dnrch ganz
Böhmen unentgeltlich vertheilen. Anderwärts wurde sie nachgedruckt, und die
übrigen Abhandlungen des Reformators erlebten Auflage über Auflage. Die
Herzöge von Dessau, Köthen und Weimar beehrten ihn mit ihrem Vertrauen,
die Fürsten von Schwarzenberg und Fürstenberg, die Grafen von Schönburg,
Clam und Coloredo waren seine persönlichen Freunde. Der Herzog von Ko-
burg ernannte ihn 1785 zum Geheimen Rath, und Kaiser Joseph II. erhob ihn
in den Adelsstand. Aber um so heftiger traten daheim, jetzt noch vom Neid
gestachelt, seine Widersacher gegen ihn auf, indem sie ihre Verfolgungen vor¬
züglich an feine Schrift über Hut, Trift und Bräche knüpften. Schubart er¬
zählte darin, daß die Aufhebung des Hut- und Triftzwanges schon in Preußen,
Anhalt, Ansbach - Bayreuth, Baden, Baiern, Hessen - Darmstadt, Kurpfalz und
Zweibrücken theils begonnen, theils durchgeführt sei, und daß er in seiner
Correspondenz bereits Zusicherungen erhalten habe, daß sie demnächst anch in
Böhmen, Oesterreich, Bamberg, Koburg, Weimar und andern thüringischen
Ländern beginnen würde, während man in Sachsen die Sache zu umgehen
suche. Diese und andere freimüthige Aeußerungen über die traurigen Zustände
Sachsens und über die uneingeschränkte Benutzung des Grundeigenthums
deuteten seine Feinde aus, um Schubart den Herren in Dresden als einen
unruhigen Kopf darzustellen, der die Regierung zu ungesetzlicher Aushebung der
alten Privilegien drängen wolle. Schubart schrieb darüber an Leske: „Gott
kennt sie und mich, ihm sei's befohlen. Er richte mich, wenn ich Unrecht thue
und jemandes Nachtheil, nicht aber jedermanns Vortheil suche. Jenen aber
verzeihe er, die mich von Amts wegen fühlen lassen, was es heiße, ein Ver¬
besserer zu sein und anders zu handeln und zu denken wie sie." Thaer bemerkt
in dieser Beziehung: „Es war sür Schubart ein Glück, daß damals der
Name Jakobiner noch unbekannt war, man hätte ihn sonst für einen solchen
ausgegeben."
Aber trotz aller Anfeindung brachen die neuen Ideen sich mehr und mehr
Bahn. Karl August von Weimar faßte den Entschluß, unter Beschränkung
von Hut und Trift den Klee- und Futterban in seinem Lande einzuführen,
und Dasdorf hieß das erste Kammergut, auf dem man nach Schubarts Vor¬
schriften zu wirthschaften begann. Desgleichen wurde in Altenburg, Gotha,
Hildburghausen, im Erfurtischen, Reußischen, Schönburgischen und in einigen
Gegenden Kursachsens, z. B. im Voigtlande und der Lausitz, mit dem Klee¬
ban und der Stallfütterung ein Anfang gemacht. Ganz außerordentlich rasch
aber hatten Schubarts Reformen in Böhmen Verbreitung gefunden, und 1785
machte dieser auf Einladung des Fürsten von Fürstenberg zur Stärkung seiner
durch rastlose Arbeit und vielfache Kränkung angegriffenen Gesundheit eine Reise
nach Wien, die einem Triumphzuge glich. Der böhmische Adel wetteiferte
uuter sich, den Reformator der Landwirthschaft zu ehren, und die Bauern
drängten sich herbei, ihm ihren Dank auszusprechen. In Wien wurde er vom
Kaiser in längerer Audienz empfangen, und derselbe übermittelte ihm durch den
Grafen Colloredo einen bequemen Wagen. Aber seine Gesundheit erlangte
Schubart durch seine Reise nicht wieder, und im April 1787 verschied er nach
langem Leiden.
Wie viel Friedrich der Große zur Hebung der Landwirthschaft ge¬
than hat, wollen die Leser in der Balckeschen Schrift selbst nachsehen. Wir
heben daraus nur hervor, daß das Augenmerk des Königs unablässig auf die
Aufhebung der Leibeigenschaft und des in einigen Provinzen noch gestatteten
Auslaufens und Einziehens von bäuerlichen Höfen (das „Bauernlegen") ge¬
richtet blieb, daß er auch sonst nach allen Richtungen hin reformirte, anregte
und unterstützte, und daß in Folge des durch seine energische Sorge für den
Landmann hervorgerufenen Aufblühens aller preußischen Provinzen allein
nach der großen Theuerung von 1770 gegen 40,000 Personen aus dem ver¬
nachlässigten Kursachsen nach dem Brandenburgischen auswanderten.
Unter seinem Nachfolger geschah in jener Richtung nichts von Bedeutung.
Dagegen nahm Stein unter Friedrich Wilhelm III. die Gedanken Friedrichs
des Großen in einer den veränderten Zeitverhältnissen entsprechenden Form
wieder auf, und ein vollständiger Erfolg krönte seine Bemühungen. In einem
Verwaltungsberichte vom 10. März 1801 schon sprach er sich dahin ans, daß
die Landwirthschaft in einen blühenden Zustand nur dann gelangen könne,
wenn der Landmann im Besitz entsprechender Geschäftskenntniß, eines aus¬
reichenden Anlage- und Betriebskapitals, vor Allem aber der vollen Freiheit
seiner Kräfte und seines Grundeigenthums sich befinde. Um zu diesem Zwecke
zu gelangen, sei, wie er fortfuhr, die Aufhebung der Eigenbehörigkeit nothwendig,
die nur eine mildere Leibeigenschaft sei, indem sie dem Sandmann nicht nur
noch immer schwere Lasten auferlege, fondern jede Verfügung über sein Schick¬
sal und seinen Besitz von der Zustimmung des Grundherrn abhängig mache.
Er drang daher schon damals in die oberste Staatsregierung, dieses ungerechte
und verderbliche Verhältniß nicht blos auf den Domänen, sondern auch ans
Privatgütern gegen Entschädigung aufzuheben. Um aber dem Bauer die
volle Freiheit im Gebrauche seiner Zeit und Arbeitskraft zu verschaffen, sollten
auch alle persönlichen Frohnden abgelöst und zu diesem Zwecke ein allgemeines
Kreditsystem für die kleinen Grundbesitzer errichtet werden. Endlich hielt er
es im Interesse einer freien und ausgiebigen Landbewirthschaftung für dringend
erforderlich, die Gemeinheitstheilung aufs Kräftigste zu fördern, das heißt,
das Gesammteigenthum der Dorfgemeinden, dessen Nutzung nur unter vielen
Beschränkungen möglich war, in Eigenthum der Einzelnen zu verwandeln,
von dem diese den ihren besondern Verhältnissen entsprechenden Gebrauch
machen dürften.
Auf Steins Betrieb erschien unter dem 9. October 1807 das denkwürdige
Gesetz über die Aufhebung der Erbunterthänigkeit, dessen wesentlicher Inhalt
folgender war: Das Unterthänigkeitsverhältniß hörte für die Bauern, die ihre
Güter in Erbpacht hatten, mit der Publikation des Ediktes, für alle andern
aber mit Martini 1810 auf, von welchem Tage an es nur noch freie Leute
geben sollte. Doch wurden dadurch die-Verbindlichkeiten nicht aufgehoben,
die den Bauern vermöge ihres Besitzes oder eines besondern Vertrags oblagen.
Jeder Staatsangehörige wurde zu jeder Art von Grundbesitz ohne alle Ein¬
schränkung berechtigt. Jedes Grundstück konnte von seinem Besitzer verkauft
oder getheilt, also auch das Gemeindegut unter die Betheiligten parzellirt wer¬
den. Die Einziehung von Bauergütern zum Grundbesitz eines Hauptgutes
oder Vorwerkes sollte nur unter gewissen Bedingungen erlaubt sein. Für die
Domänen wurde diesem Gesetz entsprechend noch die besondere Kabinetsordre
vom 28. Oetober 1807 veröffentlicht, nach welcher für alle Einfassen derselben
im Umfange des ganzen Staates die Erbunterthätigkeit, Leibeigenschaft und
Eigenbehörigkeit am 1. Juli 1808 aufhören sollte. Das Mißverstehen dieser
Verordnungen führte zwar in Schlesien zu unruhigen Auftritten unter den
Bauern, dieselben wurden aber sofort energisch unterdrückt, und die Regierung
ließ sich dadurch nicht abhalten, auf dem von ihr eingeschlagenen Wege fortzu¬
schreiten.
Ein Edikt zur Regelung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse
vom 14. September 1811 verordnete für den damaligen Umfang der preußi¬
schen Monarchie die Verwandelung aller nicht eigenthümlichen Höfe auch auf
Privatgütern in volles und freies Eigenthum gegen Entschädigung der Guts¬
herren, theils durch Landabtretung, theils durch Rente, unter Befreiung der
beiden Parteien von den aus dem gutsherrlichen und bäuerlichen Verhält¬
niß entspringenden gegenseitigen Leistungen und unter Befreiung der Gutsherren
von verschiedenen Verpflichtungen, z. B. der zur Unterstützung und Steuerver-
tretung, und Lossprechung der Bauern von Diensten, Abgaben und servi-
tutem, und zwar ohne Unterschied, ob die Höfe bisher erblich oder nur auf
Lebenszeit oder für bestimmte Jahre zeitpachtweise besessen worden, desgleichen
ohne Berücksichtigung ihrer Größe oder provinziellen Bezeichnung. Sich
gründend auf die Natur der Bauerngüter als selbständiger, der Verfügung des
Grundherrn entzogener Besitzungen, stellte das Edikt, abgesehen von einigen
andern Unterschieden in der Ablösungsart zwischen erblichen und nichterblichen
Wirthen, in der Hauptsache den Grundsatz auf, daß erbliche Wirthe ein Drittel
ihrer Ländereien oder des Werthes derselben, nicht erbliche aber die Hälfte an
den Gutsherrn abtreten müßten, um ihn für seine bisherigen Anrechte voll¬
ständig zu entschädigen. Nach vollzogener Auseinandersetzung sollte der Guts¬
herr von der Pflicht zur Conservation der Höfe völlig entbunden, auch zu
deren Einziehung zum Rittergute ermächtigt sein. Nur sollten die Bauerngüter
nicht über ein Viertel ihres Werthes mit Hypothekenschulden belastet werden
dürfen, wogegen sie aber bei Erbtheilungen dem gemeinen Erbrechte unter¬
lagen. Uebrigens konnte eine gewisse Zahl von Diensten als sogenannte
Hülfsdienste vorbehalten werden.
Wie bedeutend das Areal war, welches infolge dieses Gesetzes nach und
nach in freies Eigenthum verwandelt wurde, mag uns die Provinz Pommern
zeigen. Hier zählte man etwa 1300 adelige Güter, die zusammen ungefähr
200 Quadratmeilen einnahmen, und hiervon fielen circa 100 Quadratmeilen
auf die Bauernhöfe. Nach der soeben erwähnten Abtretung eines Theiles der
Ländereien an die Gutsherrschaft wurden 60 bis 70 Quadratmeilen das
Eigenthum freier Leute, deren Vortheil nun natürlich forderte, daß sie diesen
erd- und eigenthümlichen Besitz nach Möglichkeit pflegten und verbesserten.
Da die älteren Gesetze wegen der Aufhebung der Gemeinheiten für das
Bedürfniß der erweiterten Landknltur nicht mehr ausreichten, so wurde nach
Anhörung der Provinzialkollegien und einzelner Sachverständigen aus der
Provinz sowie nach sorgfältiger Prüfung im Staatsrathe die in ihren Erfolgen
so segensreich gewordene Gemeinheittheilungs-Ordnung vom 7. Juni 1821 er¬
lassen, nach welcher die von mehreren Einwohnern einer Stadt oder eines
Dorfes, von Gemeinden und Grundbesitzern bisher gemeinschaftlich ausgeübte
Benutzung ländlicher Grundstücke zum Besten der allgemeinen Landeskultur
soviel als möglich aufgehoben oder so lange sie bestände möglichst unschäd¬
lich gemacht werden sollte. Die Aufhebung der Gemeinheiten fand darnach
statt bei Weideberechtigungen, auf Aeckern, Wiesen, Angern, in Forsten und
ans sonstigen Weideplätzen, bei Forstberechtigungen zur Mast, zum Mitgenusse
des Holzes und zum Streuholen und bei Berechtigungen zum Plaggen-, Haide-
und Bültenhieb, es mochten übrigens diese Gerechtsame auf einem gemeinschaft¬
lichen Eigenthum, einem Gesammteigenthum oder einem einseitigen oder wechsel¬
seitigen Dienstbarkeitsrechte beruhen.
Da nun mit der Aufhebung der gemeinschaftlichen Hütung gleichzeitig die
Auflösung des alten Dreifeldersystems, die Zusammenlegung der zerstreuten
Acker- und Wiesenstücke zu wirthschaftlich zweckmäßigen Plänen, die Ausweisung
von Saud, Lehm, Mergelgruben und anderen Plätzen für gemeinnützige An¬
lagen, die Abgrabung des Wassers, die Verbesserung der Wege u. dergl. ver¬
bunden war, so wurden nun erst die Grundbesitzer in den Stand gesetzt, ihre
von allen Einschränkungen befreiten Ländereien so zu bewirthschaften und zu
verbessern, wie sie es nach eignem Ermessen für sich am Zweckmäßigsten und
Einträglichsten erachteten.
Während durch die Steinsche Gesetzgebung der Landbau nach und nach
von allen Fesseln, die ihn bisher bedrückt hatten, befreit wurde, fand sich auch
rechtzeitig der Mann ein, welcher durch Lehre und Beispiel den Landwirthen
zeigen sollte, wie sie durch einen dem Klima, der Bodenbeschaffenheit und dem
Absätze der Produkte entsprechenden Fruchtwechsel nicht nur aus ihren Wirth¬
schaften den möglichsten Nutzen ziehen, sondern zugleich die Ertragsfähigkeit
des Gutes nach und nach erhöhen könnten.
Albrecht Thaer, der Begründer der rationellen Landwirthschaft in
Deutschland, wurde 1752 in Celle geboren, studirte in Göttingen Philosophie
und Medicin und wurde 1774 Doctor und bald darauf in seiner Vaterstadt
Hofmedicus. Indeß gab er diese Stellung wegen Kränklichkeit nach kurzer
Zeit auf, um sich der Bewirthschaftung eines kleinen Gutes und der Beschäf¬
tigung mit der landwirtschaftlichen Literatur seiner Zeit zu widmen. Der
unter den Landleuten um Celle herrschende alte Schlendrian befriedigte ihn
nicht, er zog daher einen begeisterten Verehrer Schubarts zu Rathe, um mit
ihm nach der neuesten Methode zu arbeiten. Er machte dabei üble Er¬
fahrungen, woran aber nicht Schubarts Lehre, sondern der Umstand schuld
war, daß jener Rathgeber sie falsch verstand und anwendete. Thaer sah dies
ein und beschloß, fortan seinen eignen Weg zu gehen. Nachdem er 1790 in
Celle eine landwirthschaftliche Lehranstalt gegründet, erwarben ihm seine
Schriften, von denen die „Einleitung zur englischen Landwirthschaft" 1798 bis
1804 und die „Annalen der niedersächsischen Landwirthschaft" 1799 bis 1804
erschienen, einen so bedeutenden Ruf, daß Friedrich Wilhelm III. ihn veran¬
laßte, nach Preußen überzusiedeln und auch hier eine Oekonomenschnle ins
Leben zu rufen. Thaer wurde dabei Mitglied der berliner Akademie
der Wissenschaften und geheimer Kriegsrath und erhielt folgende Zugeständ¬
nisse: 1) drei- bis vierhundert Morgen Land im Amte Wollnp in Erbpacht,
2) die Erlaubniß, diese Erbpacht zu veräußern und sich ein Rittergut
dafür zu kaufen, 3) Schutz und Begünstigung des landwirthschaftlichen
Instituts. Thaer nahm an, erwarb nach Verkauf der Erbpacht das Ritter¬
gut Möglin nebst dem Vorwerk Königshof und zog im Herbst 1804 nach
Preußen.
Das zwischen Wriezen und Küstrin nicht weit vom Westrande des Oder¬
bruchs gelegene Möglin hatte Thaer, wie er selbst sagt, deshalb gekauft, weil
er zeigen wollte, „wie ein Gut unter den Verhältnissen und mit dem Boden,
der in der Mark Brandenburg der häufigste ist, nämlich mit einem mehr oder
minder lehmigen Sandboden, der größtenteils sehr erschöpft und vertrautet ist,
von hoher, dem Winde stark ausgesetzter Lage, bei einem sehr geringen Wieseu-
verhältnisse, mit Hülfsmitteln, die einem Jeden zu Gebote stehen, selbst ohne
Branntweinbrennerei oder andere dungerzeugende Nebengewerbe, die, so vor¬
theilhaft sie Vielen find, doch um so weniger allgemein werden können, als sie
von Jenen so sehr im Großen betrieben werden, ohne erhebliche Opfer mit
einem fehr beschränkten Betriebskapitale zu eiuer Produktion und zu einem die
Zinsen des höchsten Kaufpreises weit übersteigenden Reinertrage erhoben werden
könne." Uebrigens hatte ihn weniger die Aussicht auf pecuniären Gewinn als
sein Wunsch, die Wissenschaft zu fördern und den Unterricht zu verbreiten,
zum Ankaufe bestimmt, da Möglin bei der Nähe Berlins und des von vielen
Landwirthen besuchten Freienwalder Brunnens und bei der Möglichkeit, das
wiesenlose Gut durch Mergeln und Futtererzeugung von dein zu späterem Aubau
von Handelsgewächsen gut geeigneten Vorwerke Königshof unabhängig zu
machen, seinen Zwecken in vorzüglicher Weise entsprach.
Thaer hatte znerst wenig Glück. Bald nach Uebernahme des Gutes verlor
er seine Schafe an den Pocken, worauf er den Fehler beging, den bereits ein¬
geleiteten Ankauf Hochedler Bocke aufzugeben und vorerst von der Unzucht
einer Merinoschäferei abzusehen, um an deren Stelle einen durch vorzügliche
Exemplare aus seiner alten Wirthschaft bei Celle vermehrten Rindviehstand im
Stalle durchzufüttern. Er hatte vierzig Kühe, zwanzig Ochsen starker Art und vier¬
hundert Schafe vorgefunden; allein die Kühe standen nur im Winter in Möglin, die
übrige Zeit in Königshof, die Ochsen wurden, wenn sie nicht zu arbeiten
hatten, ebenfalls dorthin gebracht, um sich wieder ordentlich auszufressen, und
die Schafe mußten oft Hunger leiden, da für sie wenig Weide auf der Bräche,
den Stoppeln und in einem kleinen Gehölze vorhanden war. Wiesen gab es
in Mögliu nicht, von Königshof wurde nur das für die Pferde nöthige Heu
heraufgebracht, das Rindvieh mußte sich im Winter mit Stroh und Kaff be¬
helfen. Im Sommer 1804 waren in der Bräche, zum Theil zu Erbsen, sechzig
Morgen vom Hofe aus gedüngt, und weitere zwanzig wurden mit dem noch vor¬
handenen Schafdünger befahren. Nur wenig Land stand in sechsjährigem,
etwas mehr in neun- und zwölfjährigem Dünger, das meiste hatte seit un¬
denklichen Zeiten gar keinen bekommen. Alles lag in Dreifeldern. Nach Jo-
hnnnis fing man an, die Bräche umzubrechen, aber ganz allmählich, da Schafe
und Ochsen bis zur Stoppel Weide behalten mußten. Winterung wurde durch
das ganze Feld gesäet, Sömmerung nur so weit, als seit neun Jahren Dünger
gekommen war, und wo man weder Gerste noch Hafer zu säen wagte, ver¬
suchte man es mit Buchweizen. Dabei war der Hederich so arg, daß er kaum
bewältigt werden zu können schien.
Die Ernte von 1804 war oben in Möglin schlecht, desto besser aber unten
in Königshof der Ertrag an Hen. Thaer kaufte deshalb Stroh an und ließ
das Vieh früher heraufbringen, wo es mit Heu aufs Kräftigste gefüttert werden
konnte, bis im Sommer die Wicken, die er, so weit der Dünger reichte, aus¬
säen ließ, zur grünen Fütterung herankamen. Unter alle gedüngte Winterung
wurde im Frühjahr Klee gesäet, Sommerung aber im Jahre 1805 auf der
Höhe gar nicht, dagegen ließ Thaer das ganze bisherige Weideland in Königs¬
hof aufbrechen und mit Hafer und Gerste bestellen. Die Ernte dieses Jahres
war trotz der nassen Witterung gut, sodaß die Stallfütterung ohne Klee durch¬
geführt und noch eine Menge Wickhen gemacht werden konnte.
Das Jahr 1806 ließ sich äußerst günstig an. Der unter der Winterung
gesäete Klee war sehr gut und mehr als genügend für die Stallfütterung, die
Winterung in den gedüngten Wicken vortrefflich. Man begann mit dem Ban
von Hackfrüchten, und zugleich wurde mit der Erbauung des Jnstitutsgebäudes
der Anfang gemacht. Aber der hereingebrochene Krieg griff störend in den
ruhigen Fortgang der Wirthschaft ein, und erst im folgenden Jahre konnte
Thaer zu einer regelmäßigen Schlageintheilung vorschreiten. Nach derselben
wurden zunächst sieben Hauptschläge von je achzig Morgen, die jedoch erst nach
und nach, wenn der Hackfruchtbau an sie kam, durch weitere Düngung oder
größere Schonung, wie es gerade die Beschaffenheit verlangte, in Kultur ge¬
bracht werden konnten, nach folgendem Fruchtwechsel bewirthschaftet:
1. Hackfrüchte, zu denen auch gedrillte Bohnen gehörten. Hierzu wurde
im Herbste neun bis zehn Zoll tief gepflügt, darauf bis in den Winter hinein, je
nach der Witterung, der Dünger hinausgefahren und ausgestreut, und im
Frühjahr derselbe flach untergepflügt. Darnach ließ Thaer nach sauberem
Abeggen mittelst des Marqueurs über den ganzen Schlag zwei Fuß von
einander entfernte Striche ziehen und diese im rechten Winkel von zwei auf
einander folgenden Pflügen in einer Furchenbreite von ebenfalls zwei Fuß
durchschneiden. Dann wurden an den Stellen, wo der zweite Pflug auf den
Strich des Marqueurs traf, Kartoffeln gelegt, sodaß die Pflanzen regelmäßig
im Quadrat zwei Fuß von einander zu stehen kamen. Nach dem ersten Auf¬
laufen des Hederichs wurde das Feld abgeeggt und dadurch ein guter Theil
dieses Unkrauts zerstört. Den später von Neuem aufschießenden Hederich be¬
seitigte der Exstirpator, ein nochmaliges Eggen und das Häufeln der Kartoffeln,
welches bei ihrem regelmäßigen Stande der Länge und der Breite nach mit
Leichtigkeit durch den Häufelpflug mit doppeltem Streichbret bewirkt werden
konnte. Was trotzdem von jenem Unkraut übrig blieb, wurde schließlich in
der Blüthezeit der Kartoffelstauden mit der Hand ausgerissen. Die Kartoffeln
wurden bei der Ernte mit der Winzerhacke ausgehoben und auf die zur Hand
stehenden Kastenwagen gebracht. Dann wurde das Feld zu mittlerer Tiefe
umgepflügt und dabei die etwa noch im Lande verbliebenen Knollen hervorge¬
holt, die darauf von Schafen und Schweinen verzehrt wurden. An sonstigen
Hackfrüchten baute Thaer auf diesem Schlage Wasserrüben, schwedische Rüben
oder Rotabaga, Runkeln, zuweilen etwas Kopfkohl und gedrillten, mit der
Pferdehacke bearbeiteten Mais.
2. Große zweizeilige Gerste, welche bei früher Einsaat von vierzehn Metzen
pro Morgen in guten Jahren etwa zwölf und in den schlechtesten noch sechs Scheffel
brachte. Der nach der Kartoffelernte umgepflügte Acker blieb rauh liegen und
wurde im Frühjahr, sobald es die Witterung irgend erlaubte, geeggt und hierauf
ohne Verzug mit der Gerste besäet. Diese brachte Thaer nur mit dem Exstir¬
pator unter, um gleich nachher auf die rauhe Furche Klee einzusäen, welcher
dann geeggt und gewälzt wurde.
3. Klee im ersten Jahre, welcher auf den schlechteren Stellen mit Gyps,
und zwar zu einem halben Scheffel pro Morgen, bestreut wurde.
4. Klee im zweiten Jahre, welcher in einem Zeitraum von acht Jahren
nur zweimal gemäht und sonst als Weide benutzt wurde.
5. Weizen. Roggen, zuweilen auch etwas Hafer. Der Klee mochte im
zweiten Jahre gemäht oder beweidet sein, immer wurde er, wenn Winterung
darauf kam, im August nur einfach aufgebrochen und gleich geeggt, damit die
Kleestoppel um so besser Stocke. Wo Weizen folgen sollte, wurde vorher ganz
schwacher Schafdünger gegeben und dann der Roggen mit dem Exstirpator,
der Weizen mit der Drillmaschine untergebracht. Der stockende und faulende
Klee lockerte diesen Boden zur Genüge, und Quecken enthielt letzterer nicht, da
der Klee in reines Land gesäet worden war und in demselben kein Unkraut
aufkommen ließ. Häufig traf sich's, daß ein Theil dieses Schlages noch spät
zur Weide benutzt werden mußte. Derselbe blieb dann liegen, um im Früh¬
jahr einführig umbrochen und mit Hafer besäet zu werden, welcher immer
ganz vorzüglich gerieth und einen den Roggen an Geldwerth weit überholenden
Ertrag lieferte.
6. Erbsen, Wicken, Bohnen, Wickengemenge, auf sehr sandigen Stellen
auch Buchweizen, je nachdem es kam, zum Reifen, zum Heumachen oder zum
Grünfüttern. Wo nicht schon zu Weizen gedüngt worden war, erhielt der
Schlag noch eine halbe Düngung von vier Fndern pro Morgen. Den größten
Theil nahmen immer die Erbsen ein, welche aber das Wiederaufkommen des
Hederichs begünstigten und überdies nur dreimal einen recht lohnenden Ertrag
lieferten.
7. Roggen. Der Acker wurde so schnell als möglich nach Abtragung
jener Früchte gepflügt, dann geeggt, worauf später die Einbringung des Roggens
mit dem Exstirpator erfolgte. Dieser Roggen gerieth jedesmal in ganz vor¬
trefflicher Weise, übertraf in Betreff seines Serosch den Kleeroggen und stand
ihm in Bezug auf das Korn nur wenig nach.
Das übrige nicht zu diesen Hauptschlägen gehörende Land des Gutes,
etwa Vierthalbhundert Morgen, wurde, wie bisher, als Außenland behandelt
und nur zuweilen aufgebrochen, fast nur, um den Ochsen im Sommer Be¬
schäftigung zu geben und die Narbe zu erfrischen; denn die Bestellung bezahlte
es eigentlich nicht. Ein Theil wurde 1808 und 1809 in Zeiten, wo es sonst
nichts zu thun gab, mit Mergellehm befahren oder mit etwas Moderschlamm,
und der Mergel äußerte hier seine Wirkung so kräftig, als es auf einem von
Natur schlechten und überdies vernachlässigten Boden irgend erwartet werden
konnte. Wenn man Spergel säete, den man dann erst durch Rindvieh, dann
durch Hammel abweiden ließ, so war das noch die Vortheilhasteste Benutzung.
Dieses Land wurde also gar nicht regelmäßig bestellt, bis es Thaer 1610
gelang, den Acker zweier wüster Bauernhöfe im Reichenow zu erwerben und
an seine Grenze legen zu lassen. Da dieser vom Dorfe weit abgelegne Boden,
der nie gedüngt worden und deshalb aufs Aeußerste erschöpft war, als sechs¬
jähriges Roggenland angesprochen werden mußte, so gab die Gemeinde mit
größter Bereitwilligkeit Thaer drei Morgen für einen von dem besseren, nahe
beim Dorfe gelegenen Lande. Thaer bekam auf diese Weise über sechshundert
Morgen, von denen 350 ihrer Grnndmischnng nach guter Mittelboden, das
andere aber größtentheils schlechter Sandboden war. Thaer theilte dieses Land
in Verbindung mit jenem bisher kaum bestellten Außenkante und einigen den
sieben Hauptschlägen abgenommenen Streifen in acht neue Schläge, von denen
jeder 90 Morgen der Kultur werthen Landes enthalten sollte. Die dazwischen
liegenden ganz dürren, blos aus Grant und Steingrus bestehenden Stellen
wurden je nach ihrer Größe mit Kiefern oder Ginster besäet. Die neuen
Schläge wurden nach und nach von Steinen gereinigt und durch Mergel, Moder
oder Düngung so in Kultur gebracht, daß der erschöpfte Boden sich voll¬
ständig wieder erholte und schließlich die folgende Fruchtfolge zu ertragen im
Stande war:
Der Mergel lag uicht sehr tief und wurde mit Hacken abgebrochen und
mit einspännigen Stnrzkarren weggefahren. Zu einer erfolgreichen Mergelnng
waren 180 Karren auf den Morgen erforderlich, die etwa vierthalb Thaler
Kosten verursachten. Auch Luzerne wurde eingeführt und zehn Pfund davon
ans den Morgen ausgesäet. Nachdem sie im folgenden Frühjahr scharf durch¬
geeggt worden, wurde sie schwach gegypst. Das scharfe Eggen wiederholte man
aber nur einmal im Jahre, dagegen erhielt die Luzerue abwechselnd den Haus¬
schlamm und die im Haushalt gemachte Seifenfiederasche zur Düngung. Die
ganze mit Luzerne bewachsene Flüche betrug schließlich 35 Morgen.
Nachdem Thaer sich bis dahin mit einer kleinen Hcnnmelheerde zur Be¬
nutzung der schlechteren Weide beholfen hatte, konnte er jetzt wieder ans die
schon zu Anfang beabsichtigte Einrichtung einer reinen Merinoschüferei zurück¬
kommen. Zu diesem Zwecke kaufte er in den Jahren 1811 und 1812 eine Heerde
von 150 Stück nebst zwei Böcken von edelster Qualität, und da sein nächstes Ziel
Zumahl und Vermehrung war, so wurde die Paarung mit sorgfältigster Aus-
Wahl der Individuen betrieben, und zwar vorzüglich in Betreff der Vocklämmer.
Im Jahre 1815 hatte Thaer die Schäferei, nachdem über hundert Stück aus¬
gemerzt und 110 junge Böcke verkauft worden waren, bereits auf 700 Stück
gebracht.
Die Kunst der Kreuzung, die Thaer sich einst in seinem Garten bei Celle
bei der Zucht von Nelken und Aurikeln erworben, wo er immer schönere
Sorten zu erzeugen gelernt hatte, kam ihm jetzt bei seiner Heerde zu Stätte«.
Ausgebreitete Kenntniß physiologischer Verhältnisse / ein feiner angeborner In¬
stinkt und wohl auch eine glückliche Hand vereinigten sich bei ihm und ließen
ihn zu den glänzendsten Ergebnissen gelangen. Schon 1815 und 1816 wurde
seine Wolle auf dem berliner Markte für die beste erklärt, und 1817 schrieb
er seiner Frau: „Für mich ist der diesjährige Wollmarkt zwar nicht der
Pekuniär beste, aber der gloriöseste, den ich erlebt habe. Meine Wolle ist um
Zwanzig Procent geringer verkauft wie im vorigen Jahre, aber um zwanzig
Procent höher, wie irgend eine Wolle hier und in ganz Deutschland verkauft
ist und werden wird. Unter allen Wollhändlern und Wollproducenten ist es
ganz entschieden angenommen, daß meiner Wolle keine in ganz Europa nahe
komme, viel weniger ihr eine an die Seite zu setzen sei. Dies ist so das
Tagesgespräch geworden und so über das Gemeine hinweggehoben, daß ich
auch keine Spur des Neides bemerke. Jeder erkennt es an, daß ich das Außer¬
ordentliche errungen habe, worauf kein Anderer Anspruch machen kann. Solche
Wolle, sagt man, kann man erzeugen; denn Möglin hat sie erzeugt. Wenn ich
auf den Markt komme, fo steht Alles mit dem Hute in der Hand. Ich heiße
bereits der Wollmarktskönig."
Wie einst Schubart von vielen Seiten angefeindet worden war, so hatte
auch Thaer seine Gegner und Widersacher, aber die Angriffe, die er erfuhr,
blieben vereinzelt, und namentlich auf dem Gebiete der Schafzucht wurde er
bon Jahr zu Jahr mehr eine europäische Autorität und selbst im Scherze von
seinen Zeitgenossen als der deutsche „Wollthaer" (Voltaire) gerühmt. Der
König Friedrich Wilhelm ernannte ihn zum Generalintendanten der beiden
großen Stammschäfereien, die im Jahre 1816 auf Kosten des Staates zu
Frankenfelde in der Mark und zu Panter in Schlesien errichtet wurden, und
als auf Thaers Anregung 1823 der erste Wollzüchter-Convent in Leipzig zu¬
sammentrat, wählte man ihn nicht nur selbstverständlich zum Vorsitzenden,
sondern huldigte ihm zugleich als oberstem Meister der ganzen Versammlung.
Schon in seiner kleinen Wirthschaft bei Celle, welche nur 110 Morgen
Ackerland und 18 Morgen Wiese umfaßte, hatte sich Thaer die Ausgabe ge¬
stellt, deu sandigen und der Kultur widerstrebenden Boden auf eine möglichst
hohe Kulturstufe zu bringen. Nach den bei diesem Bestreben gesammelten Er-
fahrimgen bekamen die ersten Gedanken zu einer rationellen Landwirthschaft
mehr und mehr Fleisch und Blut, Rundung und Gestalt, so daß er sich die
dann in Möglin gelösten Ziele stecken konnte, nämlich:
1. Die größte Menge zur Nahrung der Thiere geeigneter Pflanzen auf
einer bestimmten Fläche Landes zu gewinnen.
2. Die verschiedenen Fruchtkräfte des Bodens für die verschiedenen ihrer
bedürfenden Fruchtarten in einer der Wiedererzeugung des Verbrauchten günstigen
Wechselfolge zu benutzen, also die Bräche entbehrlich zu machen.
Sein hierauf bezügliches Meisterwerk: „Die Grundzüge der rationellen
Landwirthschaft" erschien in den Jahren 1810 bis 1812 in vier Bänden und
wurde sehr bald in verschiedene Sprachen übersetzt. Später dachte Thaer an
eine Umarbeitung desselben, doch fand er die Zeit dazu nicht. Koppe aber,
der nachher selbst so berühmte Schüler und Gehülfe Thaers, äußert sich über
das Wesen der von seinem Lehrer begründeten Fruchtwechselwirthschaft folgen¬
dermaßen:
„Die Abwechselung der angebauten Früchte ist eine von der Natur gebotene
Nothwendigkeit. Es gibt nur wenige Kulturpflanze», die eine Reihe von
Jahren auf derselben Stelle einen guten Ertrag liefern, und zwar sind dies
nur einige perennirende Pflanzen wie Esparsette, Luzerne, Hopfen und dergl.,
die mit ihren Wurzeln sehr tief in den Boden dringen. Von den einjährigen
flachwurzelnden Gewächsen gibt es zwar einige, welche mehrere Jahre hinter
einander angebaut werden können, z. B. Tabak, Hanf, Kartoffeln, selbst Roggen,
Hafer und Raps, es ist dies aber nur in besonderen Bodenarten möglich
oder nach sehr starker Düngung, und auch dann sind die Nachtheile bei ihrer
Wiederkehr augenscheinlich und überwiegend." Koppe ist der Meinung, daß
der Grund dieser Erscheinung in dem Umstände zu suchen sei, daß jede Art
der Gewächse eines gewissen Bestandtheiles der Ackerkrume zu ihrer vollständigen
Ausbildung bedürfe, und er glaubt daher, daß dieselbe dem Boden gegebene
Düngung weit mehr Früchte wachsen lasse, wenn Pflanzen aus verschiedenen
botanischen Klassen in Abwechselung gebaut würden, indem jede Art der Ge¬
wächse vorzugsweise den ihr besonders zusagenden Theil der Düngung sich
aneigne und einverleibe und den Acker oft fruchtbarer für eine andere Pflanzen¬
art mache, welche man ihr dann folgen lassen müsse.
Thaer hatte es für seine Pflicht gehalten, die landwirthschaftliche Lehr¬
anstalt in Möglin sobald als nur möglich ins Leben zu rufen und deshalb,
weil es ihm selbst an den nöthigen Mitteln zu der mit erheblichen Kosten
verbundenen Ausführung des Planes dazu mangelte, sich entschlossen, den Bau
und die Einrichtung des Instituts auf Aktien zu unternehmen. Dieser Ge¬
danke hatte den besten Erfolg, sodaß Thaer schon im Juli 1806 die Zeichnungen
schließen und dem Könige, der an der Sache lebhaften Antheil nahm, die Er¬
öffnung der Lehranstalt für den Oktober jenes Jahres in Aussicht stellen
konnte. Aber die Mitte des Oktober brachte die Franzosen ins Land, der bei
Jena und Auerstädt siegreich gewesene Feind überschwemmte die Marken, und
statt der angemeldeten 21 Zöglinge stellten sich nur 3 ein. Im Frühjahr 1807
waren erst 8 eingetroffen. Diese Zahl wuchs zwar später, da aber bei der
vollständigen Zerrüttung der Geldverhältnisse in Preußen und den Nachbar¬
ländern viele Söhne sonst wohlhabender Eltern mit der Zahlung ihrer Pen-
sionen in Rückstand blieben und Manche, welche Aktien genommen hatten, ihre
Einzahlungen nicht zu leisten vermochten, so entstanden schwere Verlegenheiten
für Thaer, welcher, dem guten Sterne Preußens vertrauend, in freilich schon
bedrohter Zeit' dieses Institut ins Leben gerufen hatte. Im Freiheitskriege
standen dann alle Zöglinge im Felde, anch die drei Söhne Thaers, und so
kam es, daß die Einrichtung ohne Verlust weder aufgegeben noch fortgeführt
werden konnte. In Noth und Sorge fchrieb er damals seiner abwesenden Frau:
„Wollte Gott, daß ich das Institut nicht angelegt hätte; denn es ist die
Quelle aller Verlegenheiten und Sorgen geworden. Aber es ist für unser
Laud zu wichtig, und so muß es bleiben."
Ein Glück, daß es blieb. Mit dem Frieden kamen auch für Thaer bessere
Tage, und wie er während des letzten Jahrzehnts, das ihm noch zu leben und
zu wirken vergönnt war, seinen Ruhm wachsen und die verschiedenen Zweige
seiner Wissenschaft blühen sah, so nahm auch seine Schule, seit 1819 „König¬
liche akademische Lehranstalt des Landbaues" genannt, von Jahr zu Jahr an
Ausdehnung und Ansehen zu.
Die zahlreichen Schüler Thaers trugen seine Lehren überall hin und
wurden, nachdem sie selbständige Landwirthe geworden waren, Vorbilder, nach
denen sich die Nachbarn bei der Einführung der verbesserten Betriebsweise des
Ackerbaues und der Viehzucht richten konnten.
Als Professor und Mitglied des Staatsrathes, später als Geheimer Oberregie¬
rungsrath wurde Thaer auch vielfach bei der Berathung und Ausarbeitung der
Agrargesetzgebung in Anspruch genommen. Im Jahre 1824 feierte er nnter
großer Theilnahme von Nah und Fern sein Doctorjubiläum. Später weckte
in ihm der Ankauf neuen Grundbesitzes noch einmal den alten Feuereifer, aber
ein rheumatisches Leiden lähmte bald darauf seine Kräfte und führte endlich
seinen Tod herbei. Er starb zu Möglin am 26. Oktober 1828 und ruht dort
in der Nähe eines stilles Teiches, nach welchem die Fenster der jetzt geschlossenen
Lehranstalt freundlich hinüberblicken. In Berlin und Leipzig sind ihm Bild¬
säuleu errichtet, das schönste Denkmal aber hat er sich selbst geschaffen — in
den blühenden Fluren unseres Vaterlandes, dessen Landwirthe ihn stets ver¬
ehren werden als den Vater der nicht mehr blos auf Erfahrung, sondern auf
Wissenschaft gegründeten und mit dieser stetig fortschreitenden Landwirth¬
schaftskunde.
Als wir unsern in Heft 7 zum Abdruck gebrachten Aufsatz niederschrieben,
konnten wir in demselben noch die Mittheilung machen, daß bis jetzt kein
thatsächlicher Anhaltspunkt gegeben sei, welcher zu der Annahme berechtige,
daß die Regierung der Freiburger Kurie nachgebend entgegenkommen werde.
Aber zwischen Lipp' und Kelchesrand, d. i. ans unsern Fall angewendet
zwischen Schreibtisch und Setzkasten, trat plötzlich ein Ereigniß zu Tage, welches,
wie die Redaktion bereits in einer Note zu dein vorigen Aufsatz bemerkte,, ein
Nachgeben der Regierung befürchten läßt. Der Einzelfall an und für sich hatte
zwar nicht eine derartige Bedeutung, daß ihm eine eingehende Erörterung in
diesem Blatte zu widmen wäre. Aber mit ihm steht und fällt ein Prinzip
unserer staatlich - kirchlichen Gesetzgebung, das wichtig genug ist, um auch die
Aufmerksamkeit größerer Kreise auf den Einzelfall zu lenken.
Das für die Regulirung und Beurtheilung der gescunmten staatskirchen-
rechtlichen Verhältnisse unseres Landes in grundlegender Weise maßgebende
Gesetz vom 9. Oktober 1860, die rechtliche Stellung der Kirchen und kirchlichen
Vereine im Staat betreffend, verfügt in einer Schlußbestimmung Z 17. Absatz
2: „Die landesherrlichen Patronate bleiben in ihrer bisherigen Wirksamkeit,
bis im Wege der Verordnung ihre Aufhebung in Vollzug gesetzt wird." Zum
Vollzug dieser Bestimmung bezüglich der landesherrlichen Patronate in der
katholischen Kirche erging unter dem 20. November 1861 eine landesherrliche
Verordnung, kraft deren auf Grund einer mit dem Erzbischof statt¬
gehabten Verständigung 304 namentlich aufgeführte Pfründen der landes¬
fürstlichen Präsentation zugeschieden werden, während weitere 163 Pfründen
der freien Verleihung des Erzbischofs unterliegen und die übrigen 132 Pfründen
durch ein genau definirtes gemeinsames Verfahren befetzt werden.
Die Zulassung zu einem Kirchenamte, also auch zum Besitz einer Pfründe
— für die feit 1874 mit ihren Studien zum Abschluß gekommenen Theologen
auch zur öffentlichen Ausübung kirchlicher Funktionen — ist zufolge staat¬
lichen Gesetzes u. A. durch den vor einer Staatsbehörde in öffentlicher
Prüfung zu erbringenden Nachweis einer allgemeinen wissenschaftlichen Vor¬
bildung bedingt. Die Kurie hat in offener Auflehnung gegen diese staatsge¬
setzliche Bestimmung den katholischen Theologen sowohl die Ablegung der
Prüfung untersagt, als auch das Ansuchen um den unter gewissen Voraus¬
setzungen den vor dem Jahre 1868 Examinirten von der Staatsregierung zu
gewährenden Dispens von der Prüfung. In Folge dessen und bei dem aus¬
nahmslosen Gehorsam, welchen die katholischen Theologen dieser Weisung der
Kurie leisteten, kann keiner der seit dem Jahr 1863 zu Priestern Geweihten
eine Pfründe erlangen, und keiner der seit Wirksamkeit des Gesetzes vom 19.
Februar 1874 mit seinen Studien zum Abschluß gekommenen Theologen kann
kirchliche Funktionen öffentlich ausüben, ja es darf der Bischof bei Vermeidung
hoher Geld-, beziehungsweise Gefängnißstrafen keinem derselben die Priesterweihe
ertheilen. Die in der Zeit von dem Jahre 1863 bis 1874 zu Priestern Ge¬
weihten sind als Kapläne und Pfarrverweser verwendet, seit dem Jahr 1874
konnte kein Zugang von Priestern mehr statthaben.
Vor ungefähr 1^ Jahren hat nun einer der vor dem Jahre 1868 Examinir¬
ten, Glattfelder, bei der Staatsregierung um Dispens von der Prüfung nachgesucht
und hat diesen Dispens erhalten. Damit war für den von der Kirche bisher
als Kaplan und Pfarrverweser verwendeten Priester Glattselder das einzig
rechtlich bestandene Hinderniß zur Erlangung einer Pfründe beseitigt. Der
Großherzog übertrug ihm denn auch kurz darauf die der landesfürstlichen
Präsentation unterstehende Pfarre Balg bei Baden. Die Kurie jedoch ver¬
weigerte die kirchliche Investitur. Zwar begründete sie in Anbetracht der für
solche und ähnliche Fälle aufgestellten ernsten Strafvestimmungen des Gesetzes
vom 19. Februar 1874 ihre Weigerung nicht damit, daß Glattfelder, indem
er Dispens vom staatlichen Examen nachsuchte, sich ihr, der Kurie, gegenüber
ungehorsam gezeigt habe, sondern sie schützte allerlei hohle, in sich nichtige
Gründe vor, und zwar also, daß das Maß dessen, was man im gewöhnlichen
Leben anständig zu nennen Pflegt, in höchst bedenklicher Weise überschritten
wurde. So z. B. machte man geltend, daß Glattfelder, unehelich geborenen
Folge des clLÜzews natalium ein Kirchenamt definitiv nur mit besonderem
päpstlichen Dispens erlangen könne, und man deutete an, daß dieser Dispens
uicht ertheilt werde. Ferner versuchte man die sittliche Haltung Glattfelders
zu verdächtigen, indem man ihm Wirthshaussitzen, geselligen Verkehr mit
kirchenfeindlichen Personen u. s. w. vorwarf.
Das Alles that man einem Manne gegenüber, der seit seiner Thätigkeit im
geistlichen Amte von seinen kirchlichen Behörden noch nie eine Mahnung oder
Rüge erhalten hatte, ja dem ganz kurze Zeit vorher, ehe man für gut befand,
ihn einer sittlich laxen Haltung zu beschuldigen, sein damals vorgesetzter Dekan,
ein streng ultramontaner Parteigänger, ein sowohl seine Amtsführung als sein
sittliches Verhalten in äußerst tobender Weise anerkennendes Zeugniß ausge¬
stellt hatte (das Zeugniß wurde in öffentlicher Sitzung der zweiten Kammer
verlesen). Man war schamlos genug, auf den clstsews imwliuin hinzuweisen
einem Manne gegenüber, dem man unbeanstandet die Priesterweihe ertheilt hatte,
indem man ihm einfach bemerkte, es lägen noch einige derartige Fälle vor,
man werde seiner Zeit für sie zusammen Dispens einholen. Aber mit seltener
cynischer Unverfrorenheit beharrte die Kurie auf Grund dieser in sich absolut
nichtigen, unwahren Gründe bei ihrer Weigerung, die nüssi» eanomes. zu
ertheilen. Der Regierung war natürlich der eigentliche Grund dieser Weige¬
rung, das Ansuchen Glattfelders um Dispens vom staatlichen Examen, nicht
verborgen. Und sie vollzog einfach einen Akt der Wahrung der Staatsautorität
gegenüber einer rebellischen Kirchenbehörde, indem sie trotz des Widerspruchs
der Kurie Glattfelder als Pfarrer in Balg einsetzte mit allen Rechten und
Pflichten des in durchaus gesetzlicher Weise ernannten Ortspfarrers. Oder
wohin müßte es mit der Staatsautorität kommen, wenn es einer Kirchenbe¬
hörde möglich wäre, das landesherrliche Präsentationsrecht in jedem einzelnen
Falle ganz nach Gutdünken wirksam oder illusorisch zu machen? Und würde
nicht die Regierung bis hinab zu dem geringsten Mann des Volkes ihr An¬
sehen in geradezu selbstmörderischer Weise schädigen, wenn sie einen Geistlichen,
der um seines Gehorsams gegen die Staatsgesetze willen von der Kurie als
unannehmbar bezeichnet wird, schutzlos ließe? Weder gegen die kirchliche
Dienstführung Glattfelders, noch gegen seine sittliche Haltung konnte im ganzen
langen Verlaufe der Verhandlungen von Seiten der Kurie irgend etwas Stich¬
haltiges vorgebracht werden. Einzig sein Gehorsam gegen das Staatsgesetz
hat ihn mißliebig gemacht. Eine Regierung, die bei so bewandten Umständen
Herrn Glattfelder nicht als Pfarrer eingesetzt hätte, wäre der Verachtung an¬
heimgefallen. Glattfelder wurde Pfarrer von Balg, der von der Kurie nicht
abberufene Pfarrverweser wurde aus dem Pfarrhaus verwiesen, Kirche und
kirchliche Gerätschaften wurden an Glattfelder übergeben, dieser trat in die
örtliche Schulaufsichtsbehörde ein, übernahm den Vorsitz in der Stiftungs¬
commission, ertheilte Religionsunterricht an der Volksschule, mit einem Worte
er trat in die Uebung sämmtlicher Rechte nud Pflichten des Ortspfarrers ein.
Die Regierung schützte ihn darin mit allem Nachdruck und vereitelte den Ver¬
such der Kurie, neben dem einzig rechtmäßigen Pfarrer noch besondere „erz¬
bischöfliche" Pfarrer einzuschmuggeln. Die Gemeinde, von Freiburg aus in-
struirt und von dem nominell als Privatmann, thatsächlich aber als Ucber-
wachungscommissär der Kurie im Orte verbleibenden früheren Pfarrverweser
fortwährend bearbeitet, setzte dem neuen Pfarrer passiven Widerstand entgegen.
Die von Glattfelder abgehaltenen Gottesdienste wurden nicht besucht — einige
wenige Personen, die sich ab und zu einfanden, sind nicht zu zählen —
Taufen, Spendung der Sterbesakramente, Beerdigungen wurden anfangs durch
den früheren Pfarrverweser vorgenommen. Als diesem unter Androhung
strengster Bestrafung solche gesetzwidrige Ausübung kirchlicher Funktionen
untersagt war, und als dasselbe Verbot der Reihe nach auch die in der Nähe
wohnenden Geistlichen traf, welche sich der Bälger Gemeinde in ihrer kirch¬
lichen Noth annehmen wollten, da brachten die Bälger Bauern ihre Kinder in
benachbarte Gemeinden zur Taufe, gingen dorthin zum Gottesdienst, zur
Beichte und Communion, man begnügte sich mit der Civiltrcnmug, die in
solchem Falle kirchlich gebilligt, ja geboten ist, oder ließ die Ehe aufwärts
kirchlich einsegnen, über den Richtempfang der Sterbesakramente tröstete man
sich mit dem von der Kirche dargereichten Trost, daß die Wirkung des Sakra¬
mentes, weil dieses in Folge eines Nothstandes nicht erlangt werden konnte,
dem Gläubigen doch nicht fehle, und die Gestorbenen wurden civiliter beerdigt.
So war Herrn Glattfelder die acht oder nenn Monate über, wahrend deren
er in Balg wohnte, aller Boden für die spezifische geistliche Wirksamkeit ent¬
zogen. Einzig den Religionsunterricht in der Schule konnte er ertheilen, aber
auch das nur in Folge des strengsten Strafverfahrens der staatlichen Behörden
gegen die betreffenden Eltern, welche — und wiederum ausnahmslos — ihre
Kinder nicht schicken wollten. Zu diesem kirchlichen Nothstand, in den Herr
Glattfelder versetzt war, hatte sich sofort ein sozialer Nothstand gesellt. Offene
^keesse, Insulten u. dergl. gegen Glattfelder kamen zwar dank der eifrigen
Thätigkeit der staatlichen Polizeibehörde nicht vor. Aber Herr Glattfelder
wurde in Balg ignorirt nud gemieden. Man suchte die Begegnung mit ihm
auf der Straße zu vermeide,?, hatte keinen Gruß für ihn, er konnte im Dorf
keine Dienstleistung irgend welcher Art erlangen, die unentbehrlichsten, zum täg¬
lichen Bedarf zählenden Lebensmittel mußte er sich von auswärts beschaffen,
«- f. w. u. f. w. Die Regierung blieb fest, und als, von ultramontaner Seite
angeregt, die Angelegenheit zu Beginn des letzten Sommers in der zweiten
Kammer zur Verhandlung gelangte, da billigte die Volksvertretung die Haltung
der Regierung. Man mochte die Zustände in Balg beklagen, aber das von
der Kurie in frivolster Weise provizirte Duell mußte ausgefochten werden.
Biegen oder brechen! So war von Regierung und Volksvertretung die Parole
ausgegeben.
Das neue Ministerium fand diese Sachlage vor. Die Mitglieder desselben
kannten die Angelegenheit genau, sie hatten zum Theil als Mitglieder des
früheren Ministeriums, zum Theil — so namentlich der jetzige Präsident des
Ministeriums des Innern — als Landtagsabgeordnete die bisherige Haltung
der Regierung gebilligt. Man hatte deshalb um so weniger Ursache zu der
Annahme, daß gerade in dieser Frage die „Methode" sich ändern werde. Aber
man hatte sich getäuscht. Ein offiziöser Aufsatz der „Karlsruher Zeitung" vom
1. d. Mes. brachte die Mittheilung, daß „in der Pastoration der Gemeinde
Balg in neuerer Zeit eine Aenderung stattgefunden habe." Pfarrer Glattfelder
— so berichtete das offiziöse Blatt — habe gegen Ende des Jahres bei der
Negierung um die Erlaubniß nachgesucht, seineu Wohnsitz ans dem Orte Balg nach
einem der dieser Gemeinde nahe gelegenen Orte verlegen zu dürfen. Zu diesem
Gesuch sei Glattfelder veranlaßt gewesen durch sein Verhältniß zu der großen
Mehrzahl der Einwohner seiner Pfarrgemeinde, welches sich so gestaltet hatte,
daß er nicht allein wegen mangelnder Theilnahme einen Pfarrgottesdienst nicht
mehr abhalten konnte, sondern auch in seinem Privatleben den widrigsten An¬
feindungen und Chikanen ausgesetzt war. Dies Alles ist nach Ansicht der
„Karlsruher Zeitung" so gekommen „wohl vorzugsweise durch äußere Ein¬
wirkungen, deren Zweck war, die Stellung Glattfelders in der Gemeinde unhalt¬
bar zu machen." „Für die Großherzvgliche Regierung lag kein Anlaß vor,
der von Glattfelder beabsichtigten Wvhnsitzverlegung entgegenzutreten, sofern
durch diese derjenige Theil der pfarramtlichen Funktionen, bei welchem das
staatliche Interesse vorwiegend war — der Religionsunterricht in der Volks¬
schule und die Mitwirkung bei der Verwaltung des örtlichen Kirchenvermögens
— eine Beeinträchtigung nicht erfuhr." Pfarrer Glattfelder nahm demgemäß
zu Anfang dieses Jahres seinen Aufenthalt in einem nahe gelegenen Dorfe und
besorgt von dort aus den Religionsunterricht und die mit dem Vorsitz in der
Stiftungscommission verbundenen Geschäfte, „wobei vorausgesetzt war, daß er
behufs Ausübung auch der übrigen in der Eigenschaft als Pfarrer ihm ob¬
liegenden Funktionen seinen Aufenthalt wieder nach Balg verlegen werde, so¬
bald dies von der vorgesetzten Kirchenbehörde verlangt würde."
Aber siehe da, wie nett sich Alles zum Ganzen rundet! Die Rückkehr wurde
nicht verlangt, sondern die Kurie berief sogar den bisherigen Ueberwachungs-
commissär der Gemeinde, den früheren Pfarrverweser, ab, um ihn anderweitig
zu verwenden und, damit doch die Gemeinde nach Glattfelders Wegzug nicht
ohne Pfarrer sei, sandte sie einen Pfarrverweser. „Nach diesem Vorgang", so
schließt die „Karlsruher Zeitung" ihre Darlegung, „erschien die von Glattfelder
selbst ins Werk gesetzte Aufenthaltsverlegung als eine von keiner Seite bean¬
standete Absenz des Genannten von seiner Pfarrei, und auf Seiten der Gro߬
herzoglichen Regierung war damit für die Dauer der Abwesenheit Glattfelders
jeder Grund weggefallen, die Ausübung der pfarrlichen Funktionen
Zu Balg durch den an die Stelle des freiwillig abwesenden
Pfarrers angewiesenen Dienstverweser irgendwie zu hindern.
Auf die Rechtsansprüche Glattfelders hinsichtlich des Pfründegenusses bleibt
dessen Abwesenheit vom Pfarrsitz selbstverständlich ohne Einfluß."
Der Eindruck, den diese Darlegung der „Karlsruher Zeitung" machte, war
in mehrfacher Hinsicht ein höchst peinlicher. Das zwar wollen wir dem offi¬
ziösen Blatte zu gute halten, daß die Sache so dargestellt wird, als ob Alles
sich ohne höhere Einwirkung so ganz von selbst gemacht hätte. Wer aber auch
nur das A B C der Sprache sich angesehen hat, deren sich die offiziösen Preß-"
organe bedienen, für den steht's mit Frakturschrift zwischen den Zeilen ge¬
schrieben, daß hier eine Vereinbarung vorliegt. Man wollte den Bälger Handel
aus der Welt schaffen. Und zwar will uns bedünken, als ob nicht etwa die
Kurie, sondern die Regierung dieses Bedürfniß empfunden hätte. Der Kurie
mußte unseres Erachtens der Fall Balg gar nicht so unlieb sein. Denn wie
Prächtig ließ sich derselbe stets gegen die Regierung ausbeuten! wie nachdrücklich
konnte man der Masse des Volkes an diesem Beispiel g.ä oculos demonstriren,
wie die Regierung Kirche und Religion schädige und zerstöre! Wahrhaftig,
die Sache liegt so, daß man zu dem Glauben verleitet sein könnte, die Re¬
gierung habe, um den Bälger Fall in der oben dargelegten Weise zu erledigen,
der Kurie noch einen speziellen Kaufpreis zahlen müssen. Die „Karlsruher
Zeitung" zwar sucht auch in einem zweiten, gegen die „Badische Korrespondenz"
gerichteten Aufsatz die Sache so darzustellen, als ob lediglich die Haltung der
Gemeinde Balg, welche nicht allein Glattfelders kirchliche Wirksamkeit brach
legte, sondern auch dessen Privatleben bis zur Unerträglichst erschwerte, Herrn
Glattfelder zum Gesuch um Wohnsitzverlegung bestimmt habe, und sie läßt
durchblicken, daß es unter solchen Umständen ein Akt der Grausamkeit gewesen
wäre, den Pfarrer Glattfelder in Balg festzuhalten. Die „Allgemeine Zeitung"
aber, welche in einem offenbar aus sehr wohl unterrichteter Feder stammenden Auf¬
satz die Regierung vertheidigt, spricht offener. Sie sagt uns, daß sich in Balg
"ach und nach ganz unerträgliche Zustände herausgebildet hätten, und die
logische Folge davon sei, „daß eine Regierung das Recht, ja die Pflicht habe,
solchen Zuständen ein Ende zu machen." Worin bestanden denn diese ganz
unerträglichen Zustände in der Gemeinde Balg? Auf Seiten der Gemeinde
bestanden sie darin, daß diese einer geordneten pfarrlichen und seelsorgerlicheu
Thätigkeit entbehrte. Ein mißlicher Zustand mag das gewesen sein, ganz un-
erträglich war er nicht. Allein selbst wenn er dies gewesen wäre, so war er
es einzig dnrch Schuld der Gemeinde, beziehungsweise der Kurie, und zwar
dnrch eine absolut strafbare, weil der Auflehnung gegen die Staatsautorität
entspringende Schuld. Man mag den Einzelnen bedauern, der unter solchen
Zuständen leidet, und es steht engherzigen Seelen ganz gut an, über jede in
Balg stattgehabte Civilbeerdigung Thränen zu vergießen, und Leute, deren
Blick nicht das ganze Gebiet beherrschen kann, mögen sich sogar durch die
rührende Schilderung eines Sterbelagers, an dem die letzte Segnung der Kirche
entbehrt werden muß, zu gefühlvollen Deklamationen über Eingriffe in die
Gewissensfreiheit hinreißen lassen. Der Staatsmann, der Politiker hat die
Sache unter anderem Gesichtspunkt zu betrachten. Mochten die Bälger Pfarr-
genvssen ihren kirchlichen Nothstand, ihre Gewissensnvth der Kurie klagen.
"»Mochte diese, von ihrer frivolen Auflehnung gegen die Staatsautorität ab¬
lassend, Herrn Glattfelder als Pfarrer anerkennen. Dann war dem uner¬
träglichen Zustande ein Ende gemacht. Wollte die Kurie das nicht, wollte sie
die Behauptung ihrer rebellischen Position hoher stellen, als die geordnete Be¬
friedigung der kirchlichen und religiösen Bedürfnisse einer Pfarrgemeinde, so
mochte sie fortfahren, wie sie bisher gethan! Die Regierung war nicht ver¬
pflichtet, von sich ans für Beseitigung solcher Zustande zu sorgen, sie hatte
nicht das Recht, diese Beseitigung, wie es hier geschehen ist, uns Kosten der
Staatsautorität zu bewirken.
Unerträglich waren die Zustände in Balg, so wird uns gesagt, auch für
Herrn Glattfelder. Man hatte sich dauernd seiner kirchlichen Wirksamkeit ent¬
zogen, man hatte ihm in sozialer Hinsicht die größten Widerwärtigkeiten be¬
reitet. Es ist nun gewiß unbestritten richtig, daß, wie die „Karlsruher Zeitung"
sagt, der Regierung keine Mittel zur Verfügung stehen, badische Staatsange¬
hörige zur Theilnahme an religiösen Handlungen oder zu wirtschaftlichen
Leistungen im Gebiete des Privatrechts zu zwingen. Aber es hat auch nie¬
mand gefordert, daß man die Bälger Pfarrgenossen mit Polizeigewalt hätte
zwingen sollen, sich von Glattfelder kirchlich bedienen zu lassen, oder daß man
auf dem Wege der Expropriation Milch und Eier in das Pfarrhaus geschafft
Hütte. War der fernere Aufenthalt Glattfelders in Balg unnöthig und un-
thunlich, so war es ganz in der Ordnung, daß die Regierung die Wohnsitz¬
verlegung gestattete. Aber, wie die „Badische Correspondenz" völlig zutreffend
ausführt, das Eintreten eines neuen, von der Kurie gesandten Pfarrverwesers
durfte die Regierung nicht gestatten. Denn was soll das heißen, neben dem
ordnungsmäßig und rechtskräftig ernannten Pfarrer einen auf gar keiner ge¬
setzlichen Basis stehenden Pfarrverweser zu haben? einen Pfarrer zu haben zur
Ertheilung des Religionsunterrichtes und zur Verwaltung des Ortskirchenver-
uiögens und einen Pfarrverweser zur Besorgung der kirchlichen Funktionen
und der Pastoration? Die Gemeinde Balg kann doch nicht ohne Pfarrer sein?
wird man vielleicht einwenden. Warum denn nicht? fragen wir. Sie hatte
bisher einen Pfarrer im Ort und hat ihn ignorirt. Nun wohnt er außerhalb
des Ortes. Möge die Gemeinde, wie sie bisher gethan, sich auch fernerhin
behelfen. Ist ihr das auf die Dauer unbequem, so gebe sie den Wunsch kund,
daß ihr Pfarrer Glattfelder zurückkehre, und er wird kommen. So etwa hätte
die Regierung die Sache ordnen sollen, dann wäre die Staatsautorität ge¬
wahrt gewesen.
Es kann sich jetzt nicht darum handeln, zu untersuchen, ob die Sache nicht
von vorn herein geschickter hätte angelegt und geplant werden können. Herr
Glattfelder mag nicht die geeignete Persönlichkeit gewesen sein und Balg nicht
der richtige Ort, um das Experiment zu versuchen. Aber nachdem die Sache
unter Billigung sämmtlicher zuständigen staatlichen Faktoren aufgegriffen und
wie geschehen behandelt war, mußte die Regierung bei ihrer Position beharren.
Sie hat nicht dabei beharrt, und damit ist sie faktisch unterlegen und die Kurie
hat gesiegt. Schon einmal, zu Anfang der fünfziger Jahre, haben römisch¬
katholische Geistliche in Baden die Erfahrung gemacht, wie unklug es sei, sich
der Kirchengewalt gegenüber auf den Schutz des Staates zu verlassen. Das
mit dem Fall Glattfelder gegebene Beispiel wird aufs neue gebucht werden,
zu Gunsten der Kirchengewalt.
Wir wollen nicht weitgehende Kombinationen an den Einzelfall knüpfen,
weder im Sinne des Organs der Deutsch-Conservativen, das bereits von einer
»neuen Aera" spricht, noch im Sinne der „Frankfurter Zeitung", die in dem
Ausgang des Bälger Handels den Anfang vom „Ende des Kulturkampfes in
Baden" erblickt. Das aalglatte Hinwegschlüpfen der ultramontanen Blätter
über Balg, das Nichterheben des sonst in ähnlichen Fällen üblichen Triumph¬
geschreis könnte zu der Vermuthung verleiten, als ob wir noch fernere Ueber-
raschungen auf gleicher Linie zu gewärtigen hätten. Es genügt uns für heute,
das Facit des Falles Balg und Glattfelder zu ziehen. Und wir hundelt: das
landesherrliche Präsentationsrecht gilt nur soviel, als die Kurie es gelten lassen
^ni, und sodann: der Rebell gegen die Staatsautorität kann, wenn er die
kirchliche Charaktermaske geschickt vorzunehmen weiß, uicht nur ungestraft re-
belliren, fondern auch die vou ihm berannte Burg öffnet, ohne daß die Be¬
satzung Pulver und Blei verbraucht hätte oder der Proviant ausgegangen
>pare, zur Stunde der Ruhebedürftigkeit des Kommandirenden ihre Thore, die
Standarte des Burgherrn sinkt, und wo sie gefestigt war, da flattert jetzt die
Rebellenfahne in den Lüften frei und keck.
Land, Leute und Verhältnisse Belgiens lassen sich nicht anschaulicher und unter¬
haltender schildern, als es von Dr. Fr. Oetker in seinen unlängst (in Stuttgart,
Verlag von Auerbach) erschienenen „Belgischen Studien" geschieht. Der Ver¬
fasser hat sich bekanntlich in den letzten Zeiten vorwiegend als Politiker her¬
vorgethan, in seinen Schilderungen und Erörterungen über Belgien erscheint
er aber nicht minder bedeutend als Erzähler.
Die Hassenpflugsche Revolution hatte Oetker 1850 zum politischen Flücht¬
ling gemacht. Als solcher lebte er erst auf Helgoland, von 1854 bis 1859
meist in Belgien, Seine Schrift über Helgoland gilt als das Beste, was über
die Insel geschrieben ist, und kaum unterläßt ein deutscher Badegast dort, sich
durch dieses Werkchen zu orientiren. Jakob Grimm rieth Oetker, eine ähnliche
Arbeit über Belgien zu liefern. Sie liegt jetzt vor und wird künftig den
Reifenden nach Belgien der beste Führer sein. Freilich sind die Notizen schon
in den fünfziger Jahren gemacht, sie haben dadurch jedoch in nichts verloren.
Sie beruhen, wie man bei der Lektüre sieht, auf den genauesten, gründlichsten
und feinsten Beobachtungen sowie den eingehendsten Studien. Das für uns
zum Theil stammverwandte Belgien erscheint uns durch diese anmuthigen
Schilderungen näher gerückt, und wer einmal durch die Straßen von Gent
und Brügge oder auf der Digue von Ostende gewandert ist, der fühlt sich
durch die Art der Schilderung aufs lebhafteste wieder an Ort und Stelle ver¬
setzt. Infolge der politischen Thätigkeit, zu welcher der Verfasser in Hessen
und Preußen berufen wurde, blieb das Manuskript liegen. Die meisten seiner
Darstellungen konnte der Verfasser nach so langer Unterbrechung nicht vollenden;
in einem Buche vou sechshundert Seiten gibt er uns den werthvollsten Theil der¬
selben. In Belgien wird mau diesem für die dortige Kulturgeschichte wichtigen
Werke alle Beachtung schenken, möge man auch in Deutschland es gebührend
würdigen!
Gerade gegenwärtig, wo das deutsche Vereinsleben in politischer Hinsicht
so viel zu wünschen übrig läßt, sühlt man sich gleichsam beschämt dnrch die
Darstellungen der hohen Stufe, welche das Vereinsleben in Belgien noch gegen¬
wärtig einnimmt. Es gibt eine Unzahl von Vereinen und Gesellschaften, die
in den mannigfaltigsten Formen und Richtungen die verschiedensten Ziele ver¬
folgen. Wir hören von Vereinigungen für Handel und Gewerbe, für Ackerbau
und Viehzucht, für Thier- und Pflanzengarten, für Obstbau und Blumenzucht,
sür Kunst und Wissenschaft, Wohlthätigkeit und Unterricht, Religion und Po¬
litik, Sicherheit und Hülfeleistung, Zeitungslesen und Spiel, Jagd und Fischerei,
für Reiten und Schlesien, Gesang und Tanz, für Scherz und Ernst, kurz, man
kann sagen, auf alles, und zwar in hundert verschiedenen Richtungen und
Eigenthümlichkeiten, hat sich das Vereinsrecht und der Hang zu genossenschaft¬
lichen Verbindungen erstreckt. In Gent bestanden z. B. 1858 über hundert
Vereine, in dem kleinen Se. Nicolas dreißig. Und diese Vereinslust beschränkt
sich nicht etwa ans das reifere Alter und die wohlhabenden Klassen. Es gibt
sehr jugendliche und sehr dürftige „Maatschappijen". Besonders bemerkens¬
werth sind in Gent die Verbindungen der jungen Fabrikarbeiter und Fabrik¬
mädchen. Diese hartgeplagten und doch so unendlich lebenslustigen Geschöpfe
haben nämlich „Kompagnien" gebildet, je aus zehn bis zwanzig Paaren be¬
stehend; denn jedes Mädchen hat seinen ständigen Cavalier; an der Spitze stehen
gewählte Hauptleute. Und der Zweck der Vereinigungen ist nicht etwa Zu-
sammenhalten oder gar auflehnendes Anfordern dem Fabrikherrn gegenüber,
sondern geselliges Vergnügen. Die Compagnie macht gemeinsame Spaziergänge,
besucht dasselbe Bierhaus, denselben Tanzboden und ist überhaupt in strenger
Ordnung, aber heiterer Ungezwungenheit zu Lust und Frende verbrüdert und
gegen jede Störung zu Schutz und Trutz verbündet. Ans Gemeinsamkeit und
Zucht wird mit Strenge geachtet. Monatelang wird gespart und gedarbt für
die Kirmeßfeste und Faschingtage. Es hat, sagt der Verfasser, etwas ungemein
Anziehendes, selbst Rührendes, dies jahrelange Abmühen und Zusammensparen,
um sich einmal mit eigener Kraft und ans eigenen Mitteln einen fröhlichen
Tag machen zu können, und uun erst wenn der Verein, auf neuen Schmuck
verzichtend, einem krank darniederliegenden Genossen eine Freude bereitet.
Es ist dies nur ein Bild aus dem tausendfältig schillernden Vereinsleben,
wie es der Verfasser ans langer Vergangenheit und aus der Gegenwart
schildert. Malt gewinnt die Ueberzeugung, daß dieser Zug nach Vereinigung
aufs tiefste mit dem Wesen des Volkes in Flandern lind Brabant verknüpft
und selbst durch die Schrecknisse, welche früher über das Land zogen, nicht
gemindert worden ist. Wir sehen dies in der Schilderung der Schützenfeste
"ut Preisschießen im funfzehnten Jahrhundert, der Feste und Ehrenbezeugungen
für Philipp den Guten, Karl den Fünften, Margarethe von Oesterreich u. s. w.,
sowie ni dem unverwüstlichen Behagen und der Frende des Volks an glänzendem
Aufputz und öffentlichen Schaustellungen. Bei allem kirchlichen Sinne der
Belgier und all ihrer Liebe zum Königshause würde man, wie Octker sagt,
sich irren, wenn man alle Umzüge und alle Millionen ans Rechnung der Liebe
zur Kirche und zum Könige setzen wollte, vielmehr muß die Neigung des ganzen
Volkes zu Aufzügen und Schaugepränge in Anschlag gebracht werden. Längere
Erzählungen aus Vergangenheit und Gegenwart geben uns einen Begriff, was
alles in diesen: Punkte geleistet wird. Sehr wesentlich wird unsere Kenntniß
des belgischen Volkslebens durch die ausführlichen Schilderungen der kirchlichen
Brüderschaften, der Waffengilden und Handwerksinnungen vervollständigt.
Aus dem Kapitel über die Carnevalsgesellschaften, Fastnachts- und sonstige
Gelage möge folgende Darstellung eines Fast nachts halt es im Spiegel-
hove vor dein Brügger Thore zu Gent Platz finden:
Man denke sich einen Saal, der an viertausend Menschen faßt; man denke sich
diesen Saal angefüllt mit Burschen und Mädchen, Männern und Weibern aus
den unteren und untersten Klassen, Kopf an Kopf, Arm an Arm in den
wunderlichsten, bizzaresten Anzügen und Vermummungen, mit Klappern, Rasseln,
Hörnern, Trompeten, Pfeifen und sonstigen Zuthaten in den Händen und vor
dem Munde, mit schwerem Schuhwerk, zum Theil Holzpantoffeln an den
Füßen, trinkend und rauchend, sich drängend und neckend, schäkernd und
lachend, unaufhörlich in Bewegung, ohne vom Fleck zu kommen, springend ohne
zu tanzen, schreiend und blasend in allen Tonarten, singend in allen Weisen,
alles im wildesten, tollsten Durcheinander, ohne Aufhören und Unterlaß; man
denke sich dies und füge einen entsprechenden Dunstkreis hinzu, und man hat
eine ungefähre Vorstellung von dem Bilde, das an der stets geöffneten und
stets einströmenden Eingangs- und Ausgangspforte sich aufdrängt. Man fasse
aber nur Muth und trete ein, wofür eine kleine Vergütung gezahlt wird. Es
wird dir zwar niemand Platz machen wollen, und selbst wenn einer wollte,
er könnte es kaum; aber es wird dir auch niemand hindern, stück- und sto߬
weise weiter zu dringen. Nur Muth und Beharrlichkeit. Am anderen Ende
des Saales ist eine kleine Erhöhung, dort zahlst du nochmals zehn Centimes
und findest auf diesem Luxusplatze schou einigen Raum und bei Glück oder
Ausharren auch wohl einen Sitz, um dich ein wenig auf dich selbst besinnen
zu können. Du mußt aber Augen und Ohren verschließen, wenn du den be¬
täubten Sinnen etwas Ruhe gönnen willst. Oeffne dann die einen oder die .
anderen, und du hast abermals einen Eindruck der unbeschreiblichsten Art.
Nach einigem Anschaun gewahrst du, daß an der Seite des Saales eine
Musikbühne angebracht, und daß diese wirklich mit einer Anzahl Tonkünstler
besetzt ist. Aber es dauert noch geraume Zeit, ehe du irgend einen Laut von
ihnen vernimmst. Endlich erschallt ein Trommelwirbel oder Hornstoß, und es
kommt dir vor, als hörtest du in dem brausenden Chaos ein paar taktmäßige
Töne. schmähliche Täuschung! Das Geheul der Elemente verschlingt allen
Einklang, der möglicher Weise da sein könnte, und der höllische Mischmasch hat
von Neuem die Oberhand.
Nach einiger Zeit wiederholt sich der Vorgang, und in der That, jetzt
werden einige Taktklünge vernehmlich; das wüste Durcheinander bekommt eine
Ahnung davon, es wird stiller; hier und da zeigt sich eine Erscheinung, als
drehe sich ein Kreisel oder ein Rad um seine Achse; die Kreise nehmen zu, er¬
weitern sich, vermischen sich; ohne daß ein Schritt weit leerer Raum da wäre,
entsteht eine Vorwärtsbewegung, erst an einer Seite, dann an der anderen,
dann ringsnm; wer nicht mit will, wird an die Seite gedrängt oder in der
Mitte zusammengepreßt; und so bildet sich allmählich ein länglicher, brausender
Wirbelstrom, ein fortwogender Kreislauf, wobei zuletzt niemand mehr tanzt,
kein Paar sich dreht, wobei Jedes nur vorwärts drängt und gedrängt wird,
immer schneller, immer rasender, unter Lachen, Jubeln, Schreien, Pfeifen,
Blasen, Trommeln, Klappern, Rasseln, unter den ruckweisen Stößen der
Musikanten, ohne daß man bemerkt, ob diese die Renner oder die Rennenden
die Musik fortreißen, immer wilder, wüster, wälzender, daß dem Zuschauer das
Hirn wirbelt und der Musik der Athem ausgeht. Sie schweigt. Aber wie
das Chaos ihr Beginnen nicht vernahm, so wird es sich auch des Aufhörens
der Tone nicht bewußt. Noch lange braust der rasende Strudel fort; nur
nach und nach legt sich die tobende Sturmfluth zu eurem wogenden Rauschen
oder rollenden Gemurmel zusammen. Der Anschein von Ruhe dauert aber
uicht zwei Minuten. Statt der sich ausruhenden Musik wird gepfiffen, ge¬
sungen und dazu wohl hundert Mal auf demselben Flecke, ohne Wechsel und
Unterlaß gesprungen. Als der Verfasser diesem Balle als Zuschauer beiwohnte,
wurden unausgesetzt die letzten Worte eines Liedes gesungen, welche lauteten:
Wer uicht drehn sich will, der steh' still. Bemerkeuswerth ist, daß nach Zeug¬
niß des Verfassers keine uuanstündige oder ungezogene Handlung und kein
Streit vorkommt, sowie daß nirgends eine Spur von Polizei zu fin¬
den war.
Einem solchen Volksleben, so derb es sich auch kundgibt, können wir
unsere Sympathie nicht versagen, denn dieser mächtige Drang nach Vereinigung
läßt auf ein für den Staat heilsames Gefühl der Selbständigkeit und Zusam¬
mengehörigkeit schließen.
Im Kapitel der „Städtebilder" macht uns der Verfasser mit der Geschichte,
der Oertlichkeit und den Bewohnern von Mecheln, Brügge und Gent bekannt.
Der glänzende Festzug zieht an uns vorüber, der 1849 zur Einweihung des
Denkmals Margarethens von Oesterreich in Mecheln stattfand, und wir ver¬
nehmen von dem wunderbaren Umzüge der hohen Gelenkpnppe Op. Signorken
daselbst. Brügge wird als eine Stadt mit vielen Reizen stiller Schönheit ge¬
schildert, und vornehmlich werden wir mit Gent, wo der Verfasser einen Winter
über lebte, und deu Beginenhöfen bekamt gemacht. Ein umfangreiches Kapitel
ist der Kunst und dem Kunstgewerbe gewidmet. Hier wird von dem Schnitz-
werk eines alten Kamins im Brügger Gerichtsgebüude, dem Maler Hans
Meinung und seinen Werken sowie vom Spitzenklöppeln gehandelt. Daran
reiht sich eine Darstellung der Rettnngshüuser zu Rnysselede und Beernem.
Das anziehendste Kapitel ist das über die Meeresküste. An dieser hat
der Verfasser umfassende Studien an einer Reihe von Meeresbewohnern ge¬
macht. Er hat, wie kaum ein Naturforscher, das Leben der Polypen, Balanen,
Entenmuscheln, der Seeanemonen, Seesterne und Seeigel beobachtet, er macht
uus aufmerksam auf die Erscheinungen des Strand- und Dünenlebens, schildert
den Garneelenfang, den Häringsfang, den Kabeljausang, eine Dünenwohnung,
das Leben und die Gebräuche der Fischer, das Leben verschiedener Arten See¬
würmer, die Muscheln, die Austern-Zucht- und Bewahranstalten, die Hummer
und Krabben, die Bildung, Veründeruug und Gewächse der Dünen. Den
Schluß macht ein Kapitel über den Nationalitäten- und Sprachenstreit, insbe¬
sondere die vlamische Bewegung.
Mit wenig Geräusch und großer Nüchternheit, wie es der herrschenden
gedrückten Stimmung entspricht, ist der neue Reichstag ans 22. zusammenge¬
treten. Auf den ersten Blick mag dem Beschauer die veränderte Physiognomie
des Hanfes nicht sonderlich auffallen. Diejenigen, welche das Ange zuerst
sucht, die Koryphäen der Parteien, sind fast vollzählig wieder ans dem Platze;
nur MiqM hat bedauerlicherweise für die gegenwärtige Legislaturperiode auf
einen Reichstngssitz verzichtet. Auch der allverehrte Präsident des ersten
deutschen und des norddeutschen Reichstages, Simson, ist, nachdem er in der
letzten Legislaturperiode die Wiederwahl zum Präsidenten abgelehnt und sich
in den Verhandlungen mit der Rolle des stummen Zuhörers begnügt hatte,
nunmehr ganz zurückgetreten. Ueberblicke man aber die Gesammtgrnppirnng
der Parteien, so tritt die Verschiedenheit von jener Versammlung, welche vor
zwei Monaten zur Rüste ging, doch sehr merklich hervor. Ganz verschwunden
ist die elsaß-lothringische Gruppe auf der äußersten Rechten. Die drei wieder¬
gewählten Geistlichen Gerber, Simonis und Winterer haben ihren naturge¬
mäßen Unterschlupf beim Centrum gefunden; die Antonoinisteu sitze» auf der
linken Seite. Diese letztere gewährt dermalen ein gar buntscheckiges Bild.
Nationalliberale, Fortschrittspartei, Gruppe Löwe, süddeutsche Volkspartei,
Elsässer, Sozialdemokraten und Wilde, also nicht weniger als sieben Species.
Dem gegenüber zeigen sich ans der Rechten, vom Centrum und seinem polni¬
schen Annex abgesehen, uur zwei Fraktion en, die „Deutsche Reichspartei" und
die „Deutschen Conservativen", und die letzteren scheinen sogar von der Mög¬
lichkeit zu träumen, die beiden Fraktionen zu einer einzigen conservativen Partei
zu verschmelzen.
Man hat angesichts dieser Zusammensetzung dem neuen Reichstage kein
langes Leben prophezeihen wollen. Die Thronrede ist anderer Meinung.
Gerade mit Bezug aus die Zusammensetzung spricht sie die Hoffnung aus, „daß
es auch in dieser Periode, wie in den beiden vorhergegangenen, gelingen wird,
die wichtigen Aufgaben, welche dem Reichstag gestellt sind, im Einverständniß
zwischen den verbündeten Regierungen und der Volksvertretung zum Wohl
der Nation in Erledigung zu bringen." Als der zweite deutsche Reichstag ge¬
wählt war, wurde die Zuversicht zu einem ersprießlichen Fortgang der Reichs¬
gesetzgebung hauptsächlich auf die Annahme begründet, daß die nationalliberale
Partei im Vereine mit der Fortschrittspartei und der freiconservativen Reichs¬
partei eine ziemlich sichere Majorität bilde. Diese Annahme hat sich gerade
in den wichtigsten Fragen nicht bewährt; namentlich bei dem Militärgesetz und
den Juskizgesetzen trennte sich das Gros der Fortschrittspartei unter Absonde¬
rung der Gruppe Löwe von der reichsfreundlichen Koalition, und nur die
Hülfe der Alteouservativen sicherte die erforderliche Majorität. Nach dein
jüngsten Gebahren der Fortschrittspartei ist nicht anzunehmen, daß sie in der
neuen Legislaturperiode eine positivere und praktischere Politik befolgen werde;
im Gegentheil! Nationalliberale, Gruppe Löwe und Reichspartei, welche zu-
sammengenonuneu bisher nahezu über die Majorität verfügte«, bleiben, infolge
der Schwächung der nativnalliberalen Partei, jetzt weit hinter der früheren
Gesammtstärke zurück. Die Thronrede kann also jene Hoffnung nur auf Grund
der Annahme ausgesprochen haben, daß die erhebliche Verstärkung der bisherigen
Altconservativen oder Conservativen schlechtweg diese Fraktion zu einer desto
festeren Stütze der Regiernugspvlitik gemacht habe. Ueber die Berechtigung
dieser Annahme ist ein abschließendes Urtheil im Angenblick noch nicht zu
fällen. Wer die sogenannte dentscheonservative Bewegung verfolgt hat, wird
sich bescheidener Zweifel nicht entschlagen können. Das Programm derselben
gewährt nicht allein dem Partikularismus eine bedenkliche Latitüde, es macht
auch Front gegen die herrschende Kirchenpolitik Preußens und des Reichs, in¬
dem es indirekt, die Maigesetze für einen unberechtigten Eingriff in das innere
kirchliche Gebiet erklärt. Deutlicher noch aber als das Programm reden ge-
wisse Namen der Partei. Viele von ihnen sind in jener Deklarautenliste der
„Kreuzzeitung" zu finden, welche dem Fürsten Bismarck für seine energische
Selbstvertheidigung gegen niederträchtige Verleumdung in der stärksten Weise
Hohn sprach; ja jener Herr v. Nathusius-Ludom selbst zählt zu ihnen, unter
dessen verantwortlicher Leitung das feudale Blatt die berüchtigten „Aera"-Ar-
tikel veröffentlichte. Nach den Aeußerungen der „Provinzialcorrespondenz" zu
schließen, muß man freilich annehmen, es habe der Reichskanzler den Schleier
der Vergessenheit über die ganze Affaire gedeckt, und zahlreiche Anzeichen be-
kunden, daß man auch auf altconservativer Seite frühere Beziehungen gern
wieder anknüpfen möchte. Aber ob diese gegenseitige Sehnsucht genügt, einen
festen Boden für eine wahrhafte Reichspolitik zu schaffen, ob nicht die harte
Realität der bisherigen Hindernisse sich auch ferner in den Weg stellt, bleibt
abzuwarten. Mit auffallender Geflissentlichkeit sucht man den Namen v. Kleist-
Netzow zu umgehen oder wenigstens in den Hintergrund zu drängen. Herr v.
Kleist-Retzow gehört mit zu den Ersten, welche im vorigen Sommer den
Gründern der deutscheonservativen Partei beitraten; man wird ihn also ans
der entsprechenden parlamentarischen Fraktion nicht ausschließen können. Ist
er aber Mitglied derselben, so weiß man auch, daß er eine führende Rolle
spielen wird; an energischer und schlagfertiger Beredsamkeit ist er seinen sämmt¬
lichen Parteigenossen bei weitem überlegen. Ob aber grade nnter seinem
Einflüsse die conservative Fraktion der Regierung gegenüber die erhoffte „Zu¬
verlässigkeit" beweisen würde? Bisher wenigstens haben die Offizivsen,die doch sonst
bekanntlich vor keiner Behauptung zurückschrecken, Herrn v. Kleist nicht nach¬
gesagt, daß er aus einem reichsseindlichen Saulus ein reichsfreundlicher Paulus ge¬
worden. Aber wollte man auch alles Persönliche und Thatsächliche aus der Vergan¬
genheit vergessen sein lassen; was bei Beurtheilung der Conservativen jedenfalls in
Rechnung gezogen sein will, ist die Einmischung der partikularistischen Elemente.
Schon bisher wurde der deutschen Reichspartei durch die ihr angehörigen
Sachsen und Württemberger ein eigenthümliches Gepräge verliehen. Es ist
kein Geheimniß, daß, sobald es sich einmal um eine Ausdehnung der Reichs¬
kompetenz handelte, gleichviel, ob deren Nützlichkeit noch so einleuchtend wäre,
dieselben im diametralen Gegensatz zu ihren preußischen Fraktionsgenossen stehen
würden. Durch die Neuwahlen ist dieser partikularistische Bestandtheil der
Reichspartei durch frischen Zuzug aus Württemberg verstärkt. Weit bedenklicher
aber noch steht es in diesem Punkte um die deutschconservative Partei. Hier
ist mit wenigen Ausnahmen Alles als partikularistisch zu bezeichnen, die
Preußen wie die NichtPreußen. Daß namentlich die Sachsen, welche der Frak¬
tion unter der Führung des bisher reichsparteilich gewesenen Hofrath Acker¬
mann beigetreten sind, zu der Richtung der grünweißen Ultras gehören, kann
angesichts der Persönlichkeiten, welche dort die deutscheonservative Propaganda
geleitet haben, keinem Zweifel unterliegen.
Nach alledem wird man gut thun, sich die Befriedigung über die gegen¬
wärtige Gestaltung der rechten Seite des Reichstages zum mindesten noch vor¬
zubehalten. Wir werden die Bildung einer conservativen Partei in: Deutschen
Reiche uuter alleu Umständen als Zeichen einer gesunden politischen Ent¬
wickelung begrüßen; aber Voraussetzung ist, daß sie conservativ sei im Sinne
des Reichs. Eine Partei, die ganz überwiegend aus Männern zusammen¬
gesetzt ist, welche die Gründung des Reichs theils direkt bekämpft, theils wenigstens
mit sehr unfreundlichen Augen angesehen haben, kommt nothwendig in den
Verdacht, daß sie nicht conservative, sondern reaktionäre Tendenzen verfolge.
Ob die deutscheonservative Partei des Reichstages sich von diesem Verdachte
reinigen wird, muß die Zukunft lehren. Thut sie es, um so besser!
Die bisherige Arbeit des Reichstages hat lediglich in seiner Constituirung
bestanden, welche, da das traditionelle Uebel der Beschlußimfähigkeit zu Beginn
der Sessionen diesmal vermieden ward, ungewöhnlich rasch von Statten ging.
Wenn übrigens die Präsidentenwahl als Besiegelung des Zusammengehens
der Nationalliberalen mit den conservativen Fraktionen dargestellt worden ist,
so heißt das die Bedeutung derselben übertreiben. In der vorigen Legislatur-
Periode waren der Präsidenten- und der erste Vieepräsidentenpvsten mit
Nationalliberalen, der zweite Vieepräsidentenpvsten mit einem Fortschrittler
besetzt; nur in der letzten Session zwangen bekannte ausnahmsweise Verhült-
uisse, auch den zweiten Vizepräsidenten aus der nationalliberalen Partei zu
nehmen. Da uach deu Neuwahlen unter den reichsfreundlichen Parteien nicht
mehr die Fortschrittspartei, sondern die deutsche Reichspartei der Zahl nach
die zweite Stelle einnimmt, so hatte selbstverständlich diese auch das größere
Anrecht auf Vertretung im Präsidium. Die Frage konnte nur sein, ob ihr,
da sie als Repräsentantin der beiden conservativen Fraktionen auftrat, und
andrerseits die nativnall^berale Partei nicht mehr die frühere Stärke besitzt,
nicht vielmehr die e r se e Vieepräsidentenstelle gebühre. Von conservativer Seite
selbst aber wurde der Gedanke angeregt, den Freiherrn v. Stauffenberg in
Anerkennung seiner bewährten Geschäftsführung und seiner hervorragenden
Stellung unter den reichstreueu süddeutschen Abgeordneten in der ersten Viee¬
präsidentenstelle zu belassen. So ist also das frühere Verhältniß wieder her¬
gestellt, nnr daß an die Stelle des fortschrittlichen zweiten Vicepräsidenten
ein Mitglied der deutschen Reichspartei, Fürst zu Hohenlohe-Langenburg, ge¬
treten ist. Die Frage, ob mau die Fortschrittspartei ihr unerhörtes Verhalten
in der Wahlbewegung durch Uebergehung bei der Präsidentenwahl entgelten
lassen solle, hat an die Nativualliberalen gar nicht herantreten können.
Im Abgeordnetenhause ist in der Mitternachtsstunde vom Sonnabend zum
Sonntag die zweite Berathung des Etats endlich zum Abschluß gebracht. Von
„Berathung des Etats" kann hier freilich kaum noch gesprochen werden; die
ganze Woche wurde in Anspruch genommen durch ein endloses Quereliren der
Ultramontanen, wozu der Kultusetat lediglich als Vorwand diente. — Die
Angriffsweise dieser Herren kennt nachgerade keine Schranken mehr. Herr
Windthorst benutzte das gerichtliche Einschreiten gegen einen Geistlichen wegen
Absolutionsverweigernng, um einen stellvertretenden Landrath indirekt als
„ruchlosen Gesellen" zu bezeichnen, und der Pfarrer Dauzenberg rief grade
heraus: „Die Behörden haben alle Scham verloren." Die wirklichen sachlichen
und nützlichen Momente der Etatsdebatte wurden auf diese Weise ganz bei
Seite gedrängt. Indeß sind doch einige wichtige Beschlüsse durchgesetzt worden;
so namentlich die Forderung gesetzlicher Regelung der Altersznlagen und des
Pensionswesens der Elementarlehrer. —Definitiv angenommen wurde der Ge¬
setzentwurf wegen Theilung der Provinz Preußen, außerdem eine Anleihe für
Wasser- und Eiseubahubauzwecke bewilligt. Durch eine Jnterpellation eines
Abgeordneten polnischer Nationalität wurde eine überaus unerquickliche Zeuguiß-
zwcmgsaffaire ans Licht gezogen, die im Reichstage ohne Zweifel aufs neue
zur Sprache gebracht werden wird.
Das Herrenhaus hat eine Borlage betreffend die Unterbringung ver¬
wahrloster Kinder in Erziehungs- und Bessernngshüusern unter Hinzufügung
mehrerer erheblicher Verbesserungen durchberatheu. Leider scheint es, als ob
die Regierung den Gesetzentwurf an der vom Herrenhause beschlossenen Her¬
anziehung des Staates zur Theilnahme an der Aufbringung der Kosten
Zu den werthvollsten Kupferstich-Sammlungen, welche in den letzten Jahr¬
zehnten in Leipzig, dem größten Kupferstichmarkte der Welt, zur Versteigerung
gekommen sind, gehört diejenige des Herrn K. E. v. Liphart in Florenz,
eines bekannten, sehr feinen Kunstkenners und eifrigen Sammlers. Derselbe
legte den Grund dieser Sammlung im Jahre 1836 in Leipziger Kunstanktionen
und vermehrte und verbesserte sie dann während seines längeren Aufenthaltes in
Bonn, Berlin, Paris, in den Niederlanden, in Rußland und Italien. Da ^
Liphart einen sehr sichern, durch gründliche Studien und vieles Sehen wohl¬
geübten Blick hat und die Fähigkeit besitzt, überall das Beste herauszufinden,
auch über hinreichende Mittel verfügt, das was ihm gefällt zu erwerben, so
brachte er schließlich, innerhalb vierzig Jahren, eine Sammlung zu Stande,
welche an älteren Kupferstichen aller Richtungen in den besten Exemplaren sehr
reich war und viele Seltenheiten enthielt.
Da Herr v. Liphart sehr alt ist, entschloß er sich zur Veräußerung seiner
Sammlung noch bei Lebzeiten und beauftragte damit Herrn C. G. Boerner in
Leipzig, Vorsteher eines seit vielen Jahrzehnten rühmlichst bekannten Kunst-
Auktions-Instituts. Herr Boerner arbeitete mit größter Sorgfalt einen Katalog
ans, in welchem jedes einzelne Blatt genau beschrieben ist, und ließ denselben
in einer in Deutschland bei Werken der Art bis dahin noch nicht üblichen
Eleganz und Opulenz ausstatten. Dieser Auktionskatalog ist elf Bogen stark,
auf bestem Velin-Papier vorzüglich gedruckt, mit dem Portrait des Herrn v.
Liphart in Photographie nach einem Gemälde von Lenbach und zehn Tafeln
versehen, welche sechzehn der seltensten zum Verkauf gestellten Kunstblätter in vor¬
trefflichen Holzschnitten, Lichtbrücken und farbigen Steindrucken reproduciren.
Der Katalog wies also schon durch seine äußere Ausstattung auf den hohen
Werth der zu versteigernden Sammlung hin. Er wurde um zwölf Mark verkauft.
Die Versteigerung wurde Anfang December v. I. abgehalten, und der
Erfolg derselben ging, was die erzielten Preise betrifft, weit über die kühnsten
Erwartungen der nicht sammelnden Kunstfreunde hinaus. Es sind, trotz der
schlechten Zeit, und zwar wie es heißt weniger von Museen, als von Privat¬
sammlern, die höchsten Preise bezahlt worden, welche in Deutschland für ähn¬
liche Blätter bisher im Allgemeinen erzielt worden sind. Blätter, welche 300
Mark und mehr kosteten, gehören zu den billigen. Preise von über 1000
Mark pro Blatt kommen oft genug vor. Es hat sich aber auch hier wieder
gezeigt, daß nicht das Künstlerisch-Werthvolle, sondern das Seltene am Höch¬
sten geschätzt wurde und unter den seltenen Blättern wieder solche, welche ge¬
rade in der Mode sind, zur Zeit besonders die Ornamentstiche und die Jn-
cunabeln des Kunstdrucks. Zu den theuersten Blättern gehörte eine um das
Jahr 1470 entstandene Allegorie auf Papst und Kaiser. Es ist ohne künst¬
lerischen Werth; der Meister (Italiener) desselben ist nicht bekannt; auch ist es
nicht so gar selten, wie im Katalog angegeben. Und doch bezahlte man dafür 2250
Mark! Für einen unvollendeten Kupferstich, die Madonna in der Grotte
(IZ. 9) von Andrea Montegna bezahlte man sogar 3950 Mark. Ornamentstiche
d. h. alte Vorlegeblätter für Kunsthandwerker, welche wegen ihrer Kompo¬
sition für die moderneKnnst-Industrie von Werth sind, welche als Kupfer¬
stiche jedoch meist nur ein untergeordnetes Interesse in Anspruch nehmen
können, kleine Blättchen von Aldegrever und Altdorfer N'urbem mit 91, 100, 105,
271 Mark bezahlt. Solche von Virgil Solis kosteten 81, 121 Mark; die
Spielkarten von Virgil Solis, 52 Blatt zusammen, 2100 Mark. Die Darstel¬
lung silberner Gefäße in gepnngter Manier eines unbekannten Meisters kosteten
im Durchschnitt 100 Mark pro Blatt, einzelne bis 300, alle 37 Blatt zu¬
sammen fast 5000 Mark. Aehnliche Arbeiten von Paul Flinte kosteten
60—265 Mark. Holzschnitte von Peter Flötner bis 130 Mark pro Blatt.
Einzelne Blätter von Barthel Beham wurden mit 270, 310, ja mit 500 Mark,
solche vou Hans Sebald Beham dagegen nur mit 150, 165, 181, 225 Mark
bezahlt. Die höchsten Ehren wurden dem Martin Schongauer und Albrecht
Dürer erwiesen. Der Tod der Maria von Schongauer (ö. 33) ist das am
theuersten unter allen bezahlte Blatt: es kostete 5050 Mark. Die andern
Blätter desselben Meisters 705, 900, 1000, 1250, 1290, 3500 Mark u. s. w.,
alle 32 Blätter zusammen 35,336 Mark, d. h. also durchschnittlich mehr als
1000 Mark pro Blatt. Von Dürer erreichten Adam und Eva 2000 Mark,
die Kupferstich-Passion 1800 Mark, die große Passion in Holzschnitt 2560
Mark, der sogenannte Degenkopf 2310 Mark, der Verlorne Sohn 305, einzelne
Madvnnenbilder 150-402 Mark, die Melancholie 458, „Ritter, Tod und Teufel"
1200 Mark. Das Portrait des Erasmus von Rotterdam erreichte 600 Mark,
das Wappen mit dem Todtenkopf 300 Mark, die große Säule in Holzschnitt,
deren Aechtheit sehr zweifelhaft ist, 420, das Schweißtuch Christi 1200 Mark,
der Teppich mit den Satyr-Familien ebenfalls 1200 Mark. Die Teppichborte
600 Mark u. f. w. Theuer waren auch die Blätter vou Lukas Cranach (100,
106, 200, 245, 251, ja 530 Mark) Israel v. Meter (150, 491, 561 Mark),
von Franz v. Bocholt (610, 625, ja die Verkündigung 1550 Mark). Blätter
von Burgkmair kosteten 195, 295, 350 und 1000 Mark. Daß die Arbeiten
von Marc Anton und Rembrandt, welche stets sehr gesucht waren, hohe Preise
erzielten, wird demnach nicht mehr auffallen. Blätter des Ersteren kosteten
100, 340, 380, 470, 600 bis 1625 Mark. Von den Blättern von Rembrandt
kosteten nur wenige unter 100 Mark, die meisten mehrere hundert Mark, das
sogenannte Hundertguldeublatt aber 1450 Mark, eine Landschaft (K. 212) so¬
gar 3050 Mark. Aehnliche Preise erreichten anch die Radirungen von Ruys-
dael, nämlich 5—700 Mark pro Blatt. Eigenhändige Radirungen von A. v.
Dyck kosteten 200, 250, .".20, 5)00, ja 563 Mark. Dagegen wurden die Ar¬
beiten von Callot und Hollar nicht hochgeschätzt. Von Callot kosteten 16
Blatt zusammen nur 26 Mark, einzelne Blätter von Hollar 10—50 Mark
und nur einige über 100 Mark. Zu alleu den genannten Preisen kamen
aber noch die üblichen fünf Prozent Aufgeld, was auch eine erhebliche Summe
Selbstbiographisches vom Himmel. Darstellung der jüngsten Resultate der
astronomischen Forschung in ihren Beziehungen zu Vergangenheit und Zukunft
des Weltgcba'udcs. Von Dr. M, Wilhelm Meyer.
Leipzig, Verlag von E, Schloemp, 1877.
Eine recht interessante kleine Schrift, welche von dem Gedanken ausgeht,
daß unser Sonnensystem, nachdem es sich zu der ihn: möglichen Vollkommen¬
heit ausgebildet, stufenweise wieder zum Chaos zurückkehren werde, damit die
ausgelebte Materie von Neuem zur Gestaltung von Welten verwendet werden
könne. Dieser Gedanke ist kein neuer, wohl aber wird hier zum ersten Male
der Versuch gemacht, die hauptsächlichsten Entwicklungsphasen der Zukunft
unsrer Sonnenwelt nach dem heutigen Stande unsrer Kunde von der Materie,
den Naturgesetzen und den Himmelserscheinungen, sowie nach Gründen der
Analogie vorauszusagen. Das Buch zerfällt in zwei ungleiche Hälften, von
denen die größere sich mit den neuesten Ergebnissen der Durchforschung des
Himmels beschäftigt, während die zweite kleinere auf Grund dieser Ergebnisse
eine Anzahl Vermuthungen über Gegenwart und Zukunft der Sonne und der
Planeten aufstellt, die sich, wenn ihnen auch selbstverständlich die Sicherheit
eines matheMatischen Beweises abgeht, recht wohl hören lassen. In Betreff
jeuer ersten Hälfte bitten wir die Leser, selbst nachzusehen, was der Verfasser
auf Grund der Beobachtungen und Schlüsse Seechis, Zöllners, Vogels, Spö-
rers und anderer Forscher der letzten Zeit über Sternhaufen, Nebelflecke, Ko¬
meten, die Natur der Sonue u. dergl. sagt. Aus der zweiten heben wir als
Probe für seine Behandlung dieser Dinge und zugleich als Ergänzung, resp.
Berichtigung des Aufsatzes, den d. Bl. vor einiger Zeit über die Bewohnbarkeit der
Planeten brachte, auszugsweise das ResumS wieder, welches Herr Meyer von einer
1874 erschienenen Preisschrift Vogels über das Wesen der zuletzt genannten
Himmelskörper und namentlich des Mars geliefert hat.
Das Licht der Planeten Merkur, Venus und Mars ist dem der Sonne
fast in allen Stücken gleich, alle Planeten haben eine Atmosphäre und die
meisten wahrscheinlich anch Wasser. Bei Mars ist dies sicher. Man hat ans
ihm eine regelmäßige Ab- und Zunahme der Temperatur beobachtet, die sich
jedes Marsjahr (etwa 21 unsrer Monate lang) genau wiederholt. Es gibt
dort, wie bei uus, ans der einen Hälfte des Planeten Sommer, während auf
der andern Winter herrscht. Wenn mau die Scheibe des Mars betrachtet, so
sieht man zuweilen auf der einen Seite derselben große, unregelmäßige, weiße
Flecke. Es ist die Seite, wo gerade Winter ist. Sie werden aber immer
kleiner, je höher die Sonne für diese Orte emporsteigt, d. h. je mehr sich der
Sommer meist, und während sie langsam verschwunden sind, haben sich ans der
entgegengesetzten Seite ähnliche gebildet. Es liegt nahe, diese Flecke für die mit Eis
und Schnee bedeckten Continente des Mars zu erklären, zumal die Winter auf
diesem Planeten länger und strenger,als die unseru sind, weil er der Sonne
ferner steht als wir und nur "/i,o der Wärme von ihr bekommt, die wir em¬
pfangen. Auch darin ist der Mars unsrer Erde ähnlich, daß sein Tag nur
,'>7Vz Minuten länger als der unsrige ist. Das Vorhandensein von Wasser,
welches im Winter gefriert, läßt ans gleiche meteorologische Verhältnisse
schließen, und daß dort dieselben physischen und chemischen Verhältnisse herr¬
schen, setzt das Spektroskop und die Bewegung des Mars um die Sonne außer
Zweifel. Sein Durchmesser ist ein wenig größer als der Halbmesser der Erde,
und daher seine Oberfläche drei bis viermal kleiner als die der Erdkugel.
Gewisse Flecke, welche dunkler als die übrige Scheibe des Planeten find, be¬
halten beständig ihre Gestalt, und man hat sie deshalb als Continente, die
übrigen Flächen aber als Meere zu betrachten. Eine Vergleichung des Flächen¬
inhalts jener Landfesten mit dem der Meere ergab, daß, ganz wie auf der
Erde, auf dem Mars mehr Wasser als Land vorhanden ist, und zwar nehmen
hier die Meere sieben Zwölftel seiner gesammten Oberfläche ein.
Man sieht, wie sehr unser Nachbarplanet der Erde gleicht, von der er sich
eigentlich nur dadurch unterscheidet, daß er kleiner als sie ist, daß er entfernter
als sie um die Sonne kreist, und daß diese ihm in Folge dessen noch nicht
die Hälfte des Lichtes und der Wärme zusendet, die wir von ihr erhalten.
Wenn diese Abweichungen von den irdischen Verhältnissen wohl eine Modifi-
cation in der äußern Entwickelung seiner Organismen hervorzubringen ver¬
mögen, so müssen wir aus den angeführten Aehnlichkeiten schließen, daß der
Hauptcharakter des Organischen auf dem Mars von dem der Geschöpfe auf
der Erde kein wesentlich verschiedener sein kann. Es wird dort Thiere geben,
und diese werden dnrch lungen- oder kiemenartige Vorrichtungen die vorhandene
Luft einathmen und Augen zum Genuß des Sonnenlichtes besitzen. Unzweifel¬
haft ist aber, daß die geringere Wärme der Sommer ans dem Mars das
Leben nicht so üppig aufkeimen lassen kann wie bei uns; denn es steht die
größere Länge des Sommers ans diesem Planeten, die der Einwirknng der
Wärme längere Zeit läßt, keineswegs im Verhältniß zu dem geringeren Wärme-
empfang von der Sonne her.
Sehr anders verhält es sich mit dem Jupiter, dem größten aller Planeten.
Derselbe ist von der Sonne fünfmal weiter entfernt als die Erde, und da die
Wirkung des Lichtes und der Wärme im Quadrat der Entfernung abnimmt,
so erhält Jupiter davon nnr den 27. Theil dessen, was wir bekommen. Er
hat ferner .1300 Mal mehr Volumen als die Erde, und er dreht sich so rasch
um sich selbst, daß sein Tag und seine Nacht zusammen mir zehn unsrer
Stunden ausmachen. Das Spektroskop zeigt, daß er eine Atmosphäre mit
Wasserdampf besitzt. Gewisse veränderliche Streifenbildungen durchziehen seine
Scheibe dem Aequator parallel. An der Stelle des letzteren ist stets ein
dunkler Streifen sichtbar, und daraus schließt man, daß fast die ganze Atmo¬
sphäre des Jupiter von Wolken erfüllt ist, die nur am Aequator, wo die Sonne
vereint mit heftigen Passatwinden gegen die Dünste ankämpft, den Durchblick
auf die Oberfläche des Planeten gewähren. Ob letzterer von lebenden Wesen
bewohnt ist, läßt sich nicht sagen. Seine Temperaturverhältnisse lassen ver¬
muthlich nur eine träge und unvollkommne Entwicklung des Lebens zu, wahr¬
scheinlich bleibt der größte Theil des auf dem Jupiter befindlichen Wassers ewig
Eis, und uur am Aequator mag sich noch ein merkliches Leben ausbreiten
können, da hier allein die Sonne den Segen ihres Lichtes und ihrer Wärme
direkt spendet.
Auf den noch ferneren drei Planeten ist ein organisches Leben nach unsern
Begriffen undenkbar. Wie aber steht es mit Venus und Merkur? Die Venus
ist der Sonne um so viel näher als die Erde, daß dort Wärme und Licht
fast doppelt so stark wirken als bei uns. Dieselben bestrahlen aber, kürzere
Zeit als bei uns eine und dieselbe Zone der Oberfläche der Venus, deren Lage
ebenfalls der Art ist, daß auf ihr ein Wechsel von Jahreszeiten herrscht. Das
Jahr der Venus ist aber uur 225 Tage lang, so daß jede Jahreszeit dort um
einen Monat kürzer ist als auf der Erde. Dagegen ist der Tag der Venus
nur 39 Minuten kürzer als der unsrige; ihr Durchmesser ferner ist uur 70
Meilen kürzer als derjenige der Erde, und das Spektroskop lehrt, daß sie eine
mit Wasserdampf erfüllte Atmosphäre besitzt. Sie gleicht daher der Erde noch
mehr als der Mars. Nur müssen wir annehmen, daß sich der herrschenden
Hitze wegen das organische Leben dort in tropischer Ueppigkeit ausbreiten und
in der heißen Zone kein Leben existiren wird, das den jetzigen Verhältnisse»
der Erde entspricht. Wohl aber mag dort eine Pflanzen- und Thierwelt exi¬
stiren, wie sie die Erde in der Periode aufwies, wo die Steinkohlen noch rie¬
sige Wälder bildeten und in den heißen Sümpfen zwischen denselben Ungeheuer,
halb Eidechse, halb Vogel, hausten. Vou der Entwicklung geistiger Wesen aber
ist bei der Hitze der Venus weniger die Rede als bei der Kälte des Jupiter.
Die Hitze auf dem Merkur endlich läßt sogar an ein organisches Leben nach
unsern Begriffen nicht mehr denken.
Außer der Erde kauu es also uur auf dem Mars und der Venus und
höchstens noch am Aequator des Jupiter lebende Wesen geben. Die übrige«
Planeten sind todte Massen. Wie stimmt das zu unsrer Idee von der größten
Zweckmäßigkeit in der Natur? Vollkommen, erwidert der Verfasser. Die
Planeten haben nicht von ewigen Zeiten her existirt, die Sonne hat sie ge¬
boren, und sie haben sich nach und mich in einer Reihenfolge entwickelt. Sie
sind lebende» Wesen vergleichbar, die allmählich bis zum blühenden Mannes¬
alter gelangen, dann aber altern und zuletzt sterben. Jene äußeren Planeten
Saturn, Venus und Neptun sind abgestorbene Weltwefen, Jupiter ist ein hin¬
siechender Greis, Venus dagegen noch ein üppig lebensvoller jugendlicher Körper,
Merkur ein ganz unmündiges Kind, noch unvermögend, das Geringste hervor¬
zubringen. Schon um der Idee der Zweckmäßigkeit willen muß angenommen
Werdens?), daß für alle jene ferneren Planeten das Verhältniß zum Lichte und
zur Wärme der Sonne einst ein günstigeres gewesen ist als jetzt, und das ist
in der That auch nachzuweisen. Wir wissen, daß die Sonne seit unermeßlichen
Zeiten schon ungeheure Quantitäten Wärme in den Weltraum hinansgestrahlt
hat. Sie muß also bedeutend heißer gewesen sein, als sie noch jünger war
und nicht so viel Wärme abgegeben hatte. Wir wissen ferner, daß sich die
Sonne unaufhörlich verdichten, also kleiner werden muß, also in jenen Zeiten
viel großer gewesen ist als jetzt. Ihre Oberfläche dehnte sich einst weit über
die Bahn der Erde und aller andern Planeten aus und hat allmählich alle
Durchmesser angenommen, welche zwischen dein der Neptunsbnhn und ihrem
gegenwärtigen liegeu. Man kann sich demnach Zeiten denken, in welchen das
Licht und die Wärme auf allen Planeten nach einander ebenso intensiv gewirkt
haben als auf unsrer Erde, so daß diesen alle Bedingungen gegeben waren, um
ein dem unsrigen vergleichbares organisches Leben auf ihrer Oberfläche zu be¬
herbergen. Dieses konnte sich eine lange Zeit hindurch entfalten, die ver¬
schiedensten Gestalten annehmen und sich bis zu einer gewissen Stufe der Voll¬
kommenheit entwickeln. Dann aber mußte es stufenweise wieder zurückgehen,
indem die schöpferische Kraft der Sonne sich von den betreffenden Planeten
dnrch Einschrumpfen nach dem Mittelpunkt dieses Licht und Wärme spendenden
Centralkörpers von ihnen mehr und mehr entfernte, um nun anderen Wesen,
die wie jetzt der Merkur und in gewissem Grade auch die Venus noch zu viel
Hitze empfangen, eine gleiche Entwickelung zu gewähren.'
So erkennen wirselbst in der Einrichtung unseres Weltgebcindes die Ab¬
spiegelung der großen Idee Darwins, nach welcher jedes einzelne Individuum
die ganze Reihe des Organischen durchlebt, welche unter ihm liegt, und welche die'
Welt um dasselbe nebeneinander aufweist. Das Leben der Venus mag jetzt dem
der Erde zur Zeit der Steinkohlenperiode gleichen. Die äußeren Planeten
haben alle in Entlvickelnugsphasen gelebt, in welchem sie, in der gemäßigten
Zone des Sonnensystems kreisend, Organismen trugen, welche deuen der Erde
ähnlich, wenn auch wahrscheinlich nicht gleich waren. Die Sonne aber wird
»veiter erkalten und einschrumpfen, und das Leben auf der Erde von seiner
.Hohe wieder herabsinken, bis zuletzt auch auf ihr die Kälte des Jupiter, denn
die des Saturn u. s. w. herrscht und sie mit ewigem Eise bedeckt ist, während
auf der Venus noch das dann von der Erde verschwundene Leben herrscht
und der Merkur in der Entwickeluugsphase des Organischen steht, welche jetzt
die Venus einnimmt. So sehen wir die Welle, welche den Höhepunkt der
möglichem Entwickelung in unserm Sonnensystem trägt, in ununterbrochener
langsamer Bewegung nach der Sonne zu begriffen. Ihr Scheitel befindet sich
jetzt ohne Zweifel innerhalb des Ringes, welcher durch die Bahnen von Mars
und Venus gebildet wird, und wir Erdbewohner sind die Glücklichen, welche
diesem Höhepunkte vor alle» andern Geschöpfen des Sonnensystems nahe
stehen. Die Sonne selbst aber wird von dieser Welle nicht erreicht werden;
denn in der Zeit, wo ihre Temperatur genügend gemäßigt sein wird, um Or¬
ganisationen die Existenz zu gestatten, wird ihr Licht ausgegeben und erloschen
sein und in ihren: ganzen Reiche Finsterniß herrschen, die allem Lebenden ver¬
derblich ist.
Mi. Wir bedauern, wegen Raummangel den Schluß des Artikels Zur Biographie der
Die Red. der Grenzboten.
Die Volkssage von Doktor Faust, der sich dem Teufel verschreibt, damit
er ihm diene, und der dafür schließlich von ihm geholt wird, gehört zu den
verbreiterten in Deutschland. Nur die schwanke Eulenspiegels und die Historien
von den Schildbürgern drangen vielleicht in weitere Kreise. Faust aber be¬
zeichnet, gegen Eulenspiegel gehalten, einen bemerkenswerthen Umschwung.
Eulenspiegel, der Nationalnarr, ist der Ausfluß und Typus der Zeitrichtung
in den letzten anderthalb Jahrhunderten des Mittelalters, in welcher das Streben
der unteren Stände nach oben, nach Geltung neben den Adligen und den Ge¬
lehrten in der Form des Humors, der das Große klein, das Ernste lächerlich
macht, die Weisheit in Thorheit verkehrt und so die Welt ans den Kopf
stellt,, in die Erscheinung trat. Er hätte selbst den Teufel genarrt und geprellt,
der in der alten Kirche allmählich zum dummen Teufel geworden war, und
der in der That in einer großen Anzahl von Schwänken aus dem Ausgang
des Mittelalters gleich anderen Größen der bisherigen Weltanschauung gründlich
gefoppt und weidlich übers Ohr gehauen wird. Faust dagegen, der nationale
Zauberer, gehört der späteren ernsteren Periode an, wo die Reformation die
Gewissen geweckt und mit dem Glauben an die von außen her wirkende
Zauberkraft der kirchlichen Heilsmittel auch den Glauben zerstört hatte, daß
der Teufel durch sie oder auf andere leichte und bequeme Weise um eine ihm
gehörende, von ihm verdiente Seele gebracht werden könne. Der alte Zauberer
Theophilus war deu Folgen seines Paktes mit dem Höllenfürsten zuletzt durch
das von ihm angerufene Dazwischentreten der Jungfrau Maria entgangen.
Andere hatten sich auf ähnliche Weise, wieder Andere sich durch irgend einen
Kniff zu retten gewußt. Jetzt ging das nicht mehr. Wer sich mit dem Bösen
einließ, blieb ihm verfallen und wurde, wenn ihn nicht etwa die Obrigkeit als
Hexenmeister verbrannte — was im Jahrhundert der Reformation häufiger
wie je vorher der Fall war, — nach Ablauf der ihm gewährten Frist prompt
in die Holle abgeholt. Dennoch haben Faust und Eulenspiegel eine gewisse
Verwandtschaft: beide gehören der Klasse der fahrenden Leute an, und neben
dem Ernst in Fausts Leben gehen Streiche her, die lebhaft an den Narren
erinnern. Ein großer Theil feiner Kunststücke und Zauberspiele lauft auf
Täuschung, Fopperei und lustigen Schabernack hinaus.
Fragen wir nun, wie die Faustsage entstände« ist, so ergibt sich zunächst,
daß sie einen historischen Kern hat, dann, daß sie in der Gestalt, in
welcher sie zuerst fixirt auftrat, kein Produkt der Mythenbildung, sondern ein
absichtliches Erzeugnis; ist, welches eiuen bestimmten moralischen Zweck ver¬
folgt. Mit andern Worten, es leidet keinen Zweifel, daß in der ersten Hälfte
des sechzehnten Jahrhunderts eine Persönlichkeit Namens Fairst gelebt hat,
und daß bald nach Ableben derselben deren abenteuerliches Thun und Treiben,
verschmolzen und noch wunderbarer gemacht mit Zügen, die vou früheren
Schwarzkünstlern und Teufelsbündnissen weniger im Volksmunde, als in den
Kreisen der gelehrten Welt lebten, in einem Buche beschriebe» wurde, welches
die Absicht verfolgte, vor dem Verkehr mit dem Teufel zu warnen, und dessen
Inhalt dann abgekürzt auch in die unteren Schichten des Volkes drang.
Faust wurde uach dieser Schrift, die in erster Auflage 1587 zu Frank¬
furt a. M. erschien, in Roda bei Jena, nach Widmanns ausführlicherer Bio¬
graphie von ihm, die 1599 in Hamburg herauskam, in dem anhaltischen Markt¬
flecken Sondwedel geboren. Richtiger aber scheint, daß er ein Schwabe war;
denn Wier, sein Zeitgenosse, sagt, sein Geburtsort sei ein würtembergisches Dorf,
und der mit ihm persönlich bekannt gewesene Martius nennt in seinen
Collectaneen als solchen Kundlingen, das heutige Knittlingen. Die Zeit, in
welcher Faust eine Rolle spielte, liegt zwischen den Jahren 1525 und 1549.
Nach Konrad Gesner wäre er 1561 in feiner Heimat gestorben. Er war
ein „fahrender Schüler", etwas von einem Gelehrten, viel von einem Gankler
und Taschenspieler, und vermuthlich ebenso viel von einem Jndustrieritter und
Prellkünstler, der sein Vorgeben, Geister bannen und citiren und mit deren
Hülfe sich und Andern Vortheile verschaffen zu können, mit physikalischen
Kenntnissen, großer Fingerfertigkeit und einem gewissen Scharfblick für die
Schwächen seiner Umgebung glaubhaft zu macheu verstand. Sonst scheint nur
festzustehen, daß er in Krakau studirt und sich später viel auf Reisen befunden
hat, und daß er ein lebenslustiger Gesell gewesen ist, der Freude an Gelagen
und Weibern hatte. Melanchthon, sein Landsmann, hat ihn uuter Johann
dem Beständiger in Wittenberg kennen gelernt. Er gibt ihm den Vornamen
Johannes, während die Humanisten Mutianus Rufus und Johannes Tritheim
ihn Georg nennen.
Das ist alles, was wir von dem historischen Faust wissen. Die Verfasser
der Bücher über sein Leben und Schicksal aber haben diesen Kern mit allerlei
Sagen und Mythen von Schwarzkünstlern, die vor ihm lebten oder gelebt
haben sollen, umkleidet und so ziemlich alles mit geringen Veränderungen auf
ihn übertragen, was von jenen verzeichnet war oder mündlich erzählt wurde.
Wir werden weiter unten einen Abriß seines auf diese Weise aufgeschmückten
Lebens mittheilen. Vorher aber thun wir einen Blick auf jene Vorgänger
Fausts, von denen Züge geborgt wurden, als man Faust zum Repräsentanten
der mit dem Teufel verbündeten schwarzen Magie überhaupt machte. Hier
begegnet uns zuerst nach dem bereits erwähnten Theophilus der große italienische
Zauberer Virgilius, der in Rom, Neapel und der Levante eine ungeheure
Menge wunderbarer Dinge verrichtete, und dessen schon Gervasius von Tilbnry
gedenkt. Später geriethen eine Anzahl Gelehrter, besonders solche, die sich mit
naturwissenschaftlichen Studien beschäftigten, u. A. Raimund Lullus, Albertus
Magnus, Cardanus, Johannes Tritheim, Cornelius Agrippa und Theophrastus
Paracelsus in den Verdacht, der schwarzen Kunst ergeben zu sein. Ebenso
erzählte man von mehreren Päpsten, daß sie im Bunde mit dem Teufel gelebt
und schließlich von ihm geholt worden. Endlich knüpfte sich an das Andenken
gewisser Fürsten, von denen wir nur Robert von der Normandie erwähnen,
dieselbe Sage.
Albertus Magnus empfing den Kaiser Wilhelm zu Köln um Weihnachten,
wo Alles draußen Eis und Schnee war, in einem grünen blühenden Garten,
in dessen Wipfeln Nachtigallen sangen. Als ein ander Mal ein Fürst von
ihm Austern verlangte, klopfte er nur ans Fenster, und sofort reichte jemand
eine Schüssel herein, die mit Austern gefüllt und, wie sich später ergab, aus
der Küche des Königs von Frankreich verschwunden war. Erlolfus, der zauber-
knndige Abt von Fulda, verstand, wie die Sage behauptete, Wein jeder Sorte
ans Holzpflöckchen zu zapfen, die er in den Tisch geschlagen. Johannes Teu-
tonicus, ein Domherr zu Halberstadt, der im dreizehnten Jahrhundert lebte,
schnitt einem seiner betrunkenen Kumpane auf seiner Stube den Kopf ab und
irng ihn anf einer Schüssel zu den Uebrigen hinunter. Diese liefen hinauf
und fanden die ganze Stube voll Blut, aber siehe da, als sie wieder hinunter¬
stiegen, saß der Getödtete munter und gesund am Tische. Teutonieus hatte
in Halberstadt, Mainz und Köln Pfründen und mußte in der Christnacht an
jedem der drei Orte eine Messe lesen. Zu diesem Zwecke hatte er in seiner
Schreibstube einen Zaum hängen, und wenn die Zeit zum Messelesen kam,
sagte er zu seinem Diener: „Jung', nimm den Zaum, geh in den Hof und
winke mit dem Zaume." Dann kam sogleich ein Zauberpferd, mit dem der
Pfaffe davonflog. Scotus in Frankfurt fuhr mit Hunden in der Luft herum
und machte ein Geschrei, als ob er auf der Jagd wäre. Roger Baco trieb
Schiffe gegen Wind und Strom. Robert von der Normandie citirte Karl
den Großen aus dem Todtenreiche. Als Kaiser Karl der Vierte sein Bei¬
lager mit der bairischen Prinzessin Sophie feierte, brachte der Vater der Braut
einen ganzen Wagen voll Schwarzkünstler mit nach Prag. Da es aber am
kaiserlichen Hofe an solchen Leuten auch nicht fehlte, so mußten die Zauberer
mit einander kämpfen, um zu zeige:?, wer seine Kunst am Besten gelernt habe.
Hierbei ergriff der böhmische Hexenmeister Zytho den bairischen, der Gonin
hieß, riß den Mund aus bis an die Ohren und fraß seinen Gegner, wie er
ging und stand, bis auf die Schuhe, die sehr kothig waren, und die er des¬
halb wieder von sich spie. Dann setzte er sich über ein Faß mit Wasser und
gab den Verschlungener wieder von sich.
Päpste, die im Bunde mit der Hölle gelebt haben sollten, gab es mehr
als ein halbes Dutzend. Der kriegerische Sylvester der Zweite hatte einen
Teufel zum Diener, der ihn in Gestalt eines schwarzen zottigen Hundes be¬
gleitete und ihn, als seine Frist verstrichen our, ans der Kirche fortschleppte.
Gregor der Siebente besaß einen Zauberspiegel, er hatte dem Teufel die Ehe¬
losigkeit versprochen und wurde schließlich von ihm in Gestalt eines Mohren
geholt. Vom dreizehnten, neunzehnten, zwanzigsten und einundzwanzigsten Jo¬
hann wußte man, daß sie sich dem Teufel verschrieben; desgleichen von Alex¬
ander dem Sechsten und Benedict dem Neunten, und von Paul dem Zweiten
hieß es, daß er seine Seele dem Satan durch einen Contrakt übergeben habe,
der mit Blut aus seinem Daumen unterzeichnet gewesen, und daß er von jenem
zuletzt von der Seite seiner Konkubine weggeholt worden sei.
Noch von mehreren gelehrten Zeitgenossen Fausts behauptete man, daß
sie sich auf die schwarze Kunst verständen. Von Parcieelsus versichern seine
Freunde Oporin und Wetter, daß er oft den Teufel seinen guten Freund ge¬
nannt, und daß er im Rausche zuweilen um Mitternacht ganze Schwärme
böser Geister citirt habe. Der berühmte Abt Johannes Tritheim, der Freund
Kurfürst Joachims von Brandenburg, welcher aus seinen Rath die Universität
Frankfurt stiftete, besaß nach der Volksmeinung einen ihm dienstbaren Hvllen-
geist und hatte unter andern nekromantischen Leistungen einst dein Kaiser
Maximilian die verstorbene Gemahlin, Maria von Burgund, citirt. Sein
Schüler Cornelius Agrippa von Nettesheim endlich hatte einen Teufel zum
Knechte, der ihn als schwarzer Hund zu begleiten Pflegte.
Fast allen diesen Zügen begegnen wir im Leben Fausts, wie es die
ältesten Schriften über ihn erzählen, mit geringen Veränderungen wieder, wie
wir nunmehr aus der 1587 erschienenen scheu werden, deren Inhalt in einem
Auszuge folgt. Nach dem unbekannten Verfasser dieser Schrift war Faust der
Sohn von Bauersleuten, wurde aber von einem wohlhabenden Vetter in
Wittenberg erzogen, der ihn Theologie studiren ließ. Er brachte es in dieser
Wissenschaft zum Doktor; denn er war ein feiner Kopf. Zugleich aber besaß
er einen leichtfertigen und hoffärtigen Sinn, auch gerieth er in böse Gesell¬
schaft, und so legte er die heilige Schrift eine Weile unter die Bank und ging
nach Krakau, wo er die schwarze Kunst erlernte, aber sich auch zum Arzt aus¬
bildete. Nachdem er nach Wittenberg zurückgekehrt war, begab er sich eines
Tages in den nicht weit von da gelegenen Spesserwald, machte mit einem
Stäbe einige Kreise um sich herum und begann den Teufel zu citiren.
Darauf erhob sich in dem Walde ein großer Lärm: es fuhr wie mit Wagen
um den Kreis-herum, Strahlen schössen wie Bolzen hin und her, ein starker
Büchsenknall ließ sich hören, dann Musik und Gesang; ein Tanz folgte, dann
ein Turnier mit Spießen und Schwertern. Darauf schwebte über dem Zirkel
ein Greif oder Drache, der jämmerlich schrie, wenn Faust ihn beschwor; bald
nachher fiel eine feurige Kugel hernieder, ans der zuerst ein Feuerstrahl, dann
ein leuchtender Manu und zuletzt ein grauer Mönch wurde, der Faust nach
seinem Begehr fragte. Faust verlangte von ihm, er solle in der nächsten Nacht
um zwölf Uhr auf seine Stube kommen, und der Geist versprach dies nach
einigem Weigern. Er erschien ihm wirklich zu der festgesetzten Zeit; als der
Doktor nun aber von ihm forderte, er solle sein Diener werden, ihm alles
bringen, was er wünsche, und ihm ans alle Fragen die Wahrheit sagen, schlug
der Geist dies ab, indem er bemerkte, er habe dazu von Lucifer keine Er-
laubniß. Faust hieß ihn darauf scheltend und fluchend gehen; als der Geist
aber entweichen wollte, beschwor er ihn, um die Vesper wieder zu kommen,
um seine weiteren Entschlüsse zu vernehmen.
Der Geist stellte sich wirklich ein und erklärte sogleich, er habe Erlaubniß,
ans Fausts Wünsche unter bestimmten Bedingungen einzugehen, und es wurde
ein Bertrag zwischen ihnen verabredet, der folgende Bedingungen enthielt.
Faust sollte „Geschicklichkeit, Gestalt und Weise eines Geistes" bekommen, der
Teufel sollte ihm dienen und allezeit seinem Rufe und Befehle gehorsam sein,
er sollte allen Andern unsichtbar bleiben und ihm stets in der Gestalt erscheinen,
in der er ihn haben wolle. Dafür versprach Faust, dem Teufel nach einer
Frist von vieruttdzwanzig Jahren zu eigen zu sein und ihm dies mit seinem
Blute zu bezeugen, den christlichen Glauben zu verleugnen, allen Christen-
menschen feind zu sein und sich nie bekehren zu lassen.
Bei einer dritten Zusammenkunft gab Faust dem Teufel, nachdem dieser
ihm seinen Namen, Mephostophiles, genannt, auch versprochen, ihm stets in
Gestalt eines Franziskanerinönchs zu erscheinen und sich jedesmal dnrch eine
Schelle zu melden, folgende mit Blut aus einer Ader seiner linken Hand ge¬
schriebene Urkunde:
„Ich, Johannes Faustus, Doctor, bekenne mit meiner eignen Hand öffent¬
lich zu einer Bestätigung und in Kraft dieses Briefs: Nachdem ich mir vor¬
genommen, die Element« zu speculiren, aber ans den Gaben, so mir von oben
herab bescheeret und gnädiglich mitgetheilt worden, solche Geschicklichkeit in
meinem Kopfe nicht befinde und Solches von den Menschen nicht erlernen
mag, so habe ich gegenwärtigem gesandten Geiste, der sich Mephvstophiles
nennet, ein Diener des höllischen Prinzen im Orient, mich übergeben, auch den-
selbigen, mich solches zu berichten und zu lehren, mir erwählet, der sich auch
gegen mir versprochen, in Allem unterthänig und gehorsam zu sein. Dagegen aber
ich hinwieder gegen ihm verspreche und periode, daß, so vierundzwanzig Jahre von
Dato dieses Briefs an herum und vorüber gelaufen, er mit mir nach seiner Art und
Weise, seines Gefallens, zu schalten, walte», regieren, führen gut Macht haben
solle, mit Allein, es sei Leib, Seel, Fleisch, Gut und Blut und das in sein
Ewigkeit. Hieraus absage ich alleu denen, so da leben, allem himmlischen Heer
und allen Menschen, und das muß sein. Zu festen: Urkund und mehrer Be¬
kräftigung habe ich diesen Reeeß eigner Hand geschrieben, unterschrieben und
mit meinem hier vorgedruckteu eigenen Blute, meines Sinns, Kopfs, Gedanken
und Willen verknüpft, versiegelt und bezeuget.
Vou jetzt an führte Faust in dem Hause, das ihm sein inzwischen ver¬
storbner Vetter hinterlassen, und welches außer ihm nur noch der Knabe
Christoph Wagner, sein Famulus, bewohnte, ein vergnügtes Leben. Sein dienst¬
barer Geist holte ihm aus dem Keller des Kurfürsten guten Wein, so viel er
wollte, desgleichen Speisen in Menge, die aus den Küchen der Fürsten und
Herren entwendet waren, und wünschte sich Faust einen seltenen Vogel oder
Fisch, so brauchte er nur das Fenster aufzumachen und das Begehrte zu nennen,
und augenblicklich flog es herein. Endlich stahl ihm Mephvstophiles bei den
Kaufleuten in Nürnberg, Augsburg und Frankfurt stattliche Kleider, und eben¬
so hatten die Schuhmacher von ihm zu Gunsten Fausts zu leiden. Außerdem
brachte letzterem sein Teufel wöchentlich fünfundzwanzig Kronen. Nur Eins
fehlte noch zu Fausts Glücke: eine Frau. Aber als er seinem Geiste die Ab¬
sicht, sich zu verheirathen, mittheilte, erinnerte dieser ihn zuerst an sein Ver¬
sprechen, allen Menschen feind sein zu wollen, und als Faust bei seinem Willen
beharrte, entstand ein ungeheurer Aufruhr im Hanse. Es stürmte, daß alle
Thüren ans den Angeln sprangen, überall fing es an zu brennen, und als
Faust die Treppe hinab entfliehen wollte, ergriff ihn eine gewaltige Hand und warf
ihn in die Stube zurück, wo er dem Teufel die Zusage gab, sich niemals verehe¬
lichen zu wollen. Mephostophiles entschädigte ihn dafür in der Folge damit,
daß er ihm jedes Weib, zu dem er Lust hatte, im Abbilde erscheinen und zu
Willen sein ließ.
Außer allerhand Genüssen verschaffte Mephostophiles seinem Herrn aber
auch gründliche Kenntniß von allerlei Zauberei, und wenn Faust nicht dem
Vergnügen nnchgiug, disputirte er über verschiedene theologische Gegenstünde
mit seinein Teufel. Er ließ sich von ihm u. A. über die Substanz, den Ort
und die Erschaffung der Hölle, über die Art, wie Lucifer zu Fall gekommen,
und vom Regiment und Prinzipat der Teufel unterrichten. Er suchte bei ihm
Belehrung über die Gestalt der verstoßenen Engel, über die Pein in der Hölle,
von welcher der Frager erfährt, daß sie nimmer ein Ende haben wird, und
ähnliche Dinge. Immer gab Mephostophiles ungern zwar, aber doch aus¬
führlich und wahrheitsgemäß Auskunft, und gewöhnlich wurde Faust hiervon
nachdenklich und schwermüthig. Endlich erklärte der Geist seinem Gebieter, jetzt
wäre es genug, und fortan werde er ihm keine Frage mehr beantworten.
Noch einmal aber rief ihn Faust, damit er ihm Auskunft ertheile. „Dem Geist
war solches gar zuwider, jedoch wollte er ihn: diesmal uoch gehorchen, es
wäre aber das letzte Mal. Nun, was begehrst Dn von mir, sprach er zu
Fausto. Ich will, sagte Faustus, Deine Antwort über eine Frage hören, näm¬
lich: Wenn Dii an meiner Statt ein Mensch von Gott erschaffen wärest, was
wolltest Du thun, daß Dn Gott und den Menschen gefällig würdest. Darüber
lächelte der Geist und sagte: Mein Herr Fauste, wenn ich ein Mensch er¬
schaffen wäre wie Dn, so wollte ich mich biegen gegen Gott, so lange ich einen
menschlichen Athem hätte, und mich befleißigen, daß ich Gott nicht wider mich
zum Zorn bewegte, seine Lehre, Gesetz und Gebot, so viel mir möglich, halten,
ihn allein anrufen, loben, ehren und preise», damit ich Gott gefällig und an¬
genehm wäre und wüßte, daß ich nach meinem Absterben die ewige Freude,
Glorie und Herrlichkeit erlangte. Doctor Faustus sagte: Solches habe ich
freilich uicht gethan. Ja wohl hast Du das nicht gethan, sagte der Geist,
sondern Deinen Schöpfer, der Dich erschaffen, Dir Sprache, Gesicht und Gehör
gegeben hat, daß Du seinen Willen verstehen und der ewigen Seligkeit nach¬
trachten solltest, den hast Du verleugnet, die herrliche Gabe Deines Verstandes
mißbraucht, Gott und allen Menschen abgesaget, darum Dn niemand die
Schuld zu geben hast, als Deinem stolzen und frechen Muthwillen, dadurch
Du also Dein bestes Kleinod und Zier der Zuflucht Gottes verloren. Ja,
das ist leider wahr, sagte Doctor Faustus. Wolltest Du aber, mein Mepho¬
stophiles, daß Du ein Mensch an meiner Statt wärest? Ja, sagte der Geist
seufzend, und wäre hierin nicht viel Disputirens mit Dir; denn ob ich schon
gegen Gott gesündiget, wollte ich mich doch wiederum in seinen Gnaden er¬
holen. Dem antwortete Doctor Faustus: So würe es mit mir auch noch
früh genug, wenn ich mich besserte. Ja, sagte der Geist, wenn Du auch vor
Deinen groben Sünden zur Gnade Gottes kommen konntest, aber es ist nun
zu spät, und ruhet Gottes Zorn über Dir. Laß mich zufrieden, sagte Doctor
Faustus zum Geiste. Antwortete der Geist: So laß mich fortan auch zufrieden
mit Deinen Fragen."
Darauf ließ Faust die Theologie bei seinem Verkehr mit Mephostophiles
aus dem Spiele. Dagegen fragte er ihn fleißig über Gegenstände der Astro¬
nomie und Astrologie aus, was ihn in den Stand setzte, Kalender zu macheu,
welche die Zukunft voraussagten, die kommende Witterung, Krieg, Theuerung
und Sterben vorher verkündigten und deshalb sehr gelobt wurden. Der Geist
erklärte ihm den Ursprung von Sommer und Winter, belehrte ihn über das
Himmelsgewölbe und die Planeten und gab ihm Ausschluß über die Er¬
schaffung der Welt, die er „unerboren und unsterblich" nannte, sowie von der
Entstehung der Menschheit. Dann erschien eines Tages Belial, der König der
Hölle, bei Faust und stellte ihm seine obersten Beamten und Räthe vor, die
sämmtlich in Gestalt von Thieren erschienen. Belial selbst kam als zottiger,
kohlschwarzer Bär mit brennend rothen Ohren, schneeweißen Zähnen, drei
Ellen langem Schwänze, Lucifer als röthlich behaarter Mann mit einem
Schwänze wie ein Eichhörnchen, Beelzebub mit einem Ochsenkopf und gelb und
grünen Flügeln, Asteroth in „Gestalt eines Wurms und ging auf dem Schwanz
aufrecht hinein, hatte keinen Fuß, der Schwanz hatte eine Farbe wie die
Blindschleichen, der Bauch war gar dick, oben hatte er zwei kurze Füße, gar
gelb, und der Bauch ein wenig weiß und gelblich, der Rücken ganz kastanien¬
braun, ein Fingers lang spitzige stachen und Borsten daran wie ein Igel"
u. s. w. Später ließ sich Faust von Beelzebub in einem bemerlten Sessel in die
Hölle tragen, damit er deren „Qualität, Fundament und Eigenschaft, auch Sub¬
stanz möchte sehen und abnehmen", eine Expedition, bei der ihm allerlei
wunderbare und grauenvolle Dinge, .fliegende Würmer, Hirsche und Bären,
dicker, finsterer und stinkender Nebel, Schwefel und Pech in Hellem Brande,
dunkle Schluchten voll Glut und Frost u. d. begegneten. Wieder ein anderes
Mal fuhr er in einem von zwei Drachen gezogenen Wagen mit Mephostophiles
gen Himmel und überschaute acht Tage lang die Erde und alle Gestirne.
Dann wieder ritt er auf Mephostophiles, der sich in ein Pferd verwandelt,
durch alle Länder Europas, wobei er sich u. A. drei Tage im Palaste des
Papstes aufhielt, dem türkischen Kaiser als Muhamed erschien und den ägypti¬
schen Sultan in Kairo besuchte. Daran schlössen sich weitere Ausflüge, z. B.
nach der „Insel Kaukasus zwischen Jndia und Scythia", wo ihm ein Heller
Glanz in der Ferne die Stelle zeigt, an welcher das Paradies liegt.
Wie es mit der durch seine Himmelsreise erlangten Kenntniß von den
Himmelskörpern und Himmelserscheinungen beschaffen war, erzählt uns das
Buch in mehreren Kapiteln, die von den Kometen, von Sternen und Stern¬
schnuppen und vom Donner handeln. Charakteristisch ist hier namentlich
Fausts Antwort auf die Frage von guten Freunden, was ein Komet sei. „Es
geschieht oft, daß sich der Mond am Himmel verwandelt und die Sonne
unterhalb der Erde ist. Wenn der Mond nahe hinzukommt, ist die Sonne
so kräftig und stark, daß sie dem Monde seinen Schein nimmt und er ganz
roth wird. Wenn nun der Mond wiederum in die Höhe steiget, verwandelt
er sich in mancherlei Farben und springt ein Prodigium vom höchsten draus,
wird alsdann ein Komet, und sind der Figuren und Bedeutungen, so Gott
verhängt, mancherlei. Einmal bringt es Aufruhr, Krieg oder Sterben im
Reich, als Pestilenz, jähen Tod und andere Seuchen. Item Wassergüsse,
Wolkenbrüche, Brunst, Theuerung und dergleichen."
Als Kaiser Karl der Fünfte in Innsbruck Hof hielt, citirte ihm Faust
den Geist Alexanders des Großen sowie den von dessen Gemahlin. Jener er¬
schien als ein „wohlgesetztes dickes Münnlein, rothen und dicken Bartes, mit
rothen Backen und strengem Angesicht, als ob er Basiliskenaugen hätte. Er
trat herein in einem ganzen vollkommnen Harnisch und neigte sich mit einer
tiefen Reverenz." Am Abend, als man bei Hofe zu Tisch geblasen, sah Faust
einen Ritter und Freiherrn, der zum Fenster herausschaueud von der Hitze
des Tages eingeschlafen war, und sofort zauberte er ihm ein Hirschgeweih auf
den Kopf, sodaß er nicht wieder zum Fenster hereinkonnte, bis ihn der Kaiser
gesehen und Faust den Zauber gelöst hatte. Als der Ritter ihm darauf bei
seiner Rückreise mit einigen Leuten anflauerte, um sich für den Schabernack zu
rächen, griff Faust ihn mit einem großen Haufen spukhafter geharnischter
Reiter an, umringte ihn und zauberte ihm und den Seinigen Ziegenhörner, den
Pferden aber Kuhhörner auf die Köpfe, die sie erst nach einem Monate los
wurden."
Drei Grafen, die zu Wittenberg studirten, wünschten bei der Hochzeit zu
sein, die der Baierfürst in München seinem Sohne ausrichtete, und wendeten
sich deshalb an Faust, indem sie ihm zugleich Geld schenkten und ein Bankett
gaben. Er lud sie darauf ein, in ihren besten Kleidern zu ihm in seinen
Garten zu kommen, breitete hier feinen Mantel aus, setzte sich mit ihnen auf
denselben und begann eine Beschwörung, worauf ein großer Wind den Mantel
emporhob und mit seinen Insassen gen München führte, wo sie unsichtbar der
Hochzeit beiwohnten.
Später war Faust eine Zeit lang am Hofe der Grafen von Anhalt. Er
verschaffte hier der Gräfin im Januar Obst und Trauben, indem er sich zwei
silberne Schüsseln geben ließ, sie vor das Fenster stellte und sie nach einer
halben Stunde, die eine mit weißen und rothen Trauben, die andere mit
Aepfeln und Birnen aus dem Morgenlande gefüllt, wieder herein holte. Kurz
vor seinem Abschied aber bat er den Grafen, in einem schönen Schlosse,
welches er sich ans den Rohmbühl, einen Berg nicht weit von der Stadt, ge¬
zaubert hatte, bei ihm zu frühstücke». Es gab bei diesem „königlichen Mahl"
allerlei Speisen und Getränke, jedes Mal wurden neue Trachten aufgesetzt, und
die feinsten Weine standen in hundert Kannen auf dem Tische. „Wie man
aber von der Mahlzeit aufgestanden war und das Frauenzimmer im Saal
Alles fürwitziglich beschaute, fragte Doctor Faustus den Fürsten, ob er unter
dem Frauenzimmer sollte eine Kurzweil machen. Als es ihm der Fürst er¬
laubte, streckte er die Faust in die Luft und ergriff einen ehernen Kopf, den
stellte er auf die Lehne der Stiege und verzauberte ihn dermaßen, daß als¬
bald ein großes Geräusch von Wasser sich erhob, also, daß in kurzer Zeit
durch den Saal ein Bach mit aller Gewalt lief. Da hätte man hören sollen,
wie das Frauenzimmer zu schreien anhub, und wie die Jungfrauen ihre köst¬
lichen Kleider ausschürzten, damit sie dieselben nicht netzten. Das andere Hof¬
gesinde aber, welches von dem Wasser nichts bemerkte, lachte sie aus, als sie
ihre weißpolirten Beine sehen ließen. Unterdeß, weil des Gelächters genug,
läuft ein großer Hirsch im Wasser daher, nach welchem von dem Hofgesinde
mit den Rapieren vergebens gestochen worden. Verschwand darauf Wasser,
Hirsch und Kopf mit einander, und war das Frauenzimmer wegen dieses Possens
nicht wenig schamroth geworden. Solches nahm der Graf in Gnaden an
und zog wieder zu Hofe. Da gingen aus Doctor Fausti Schloß grausame
Büchsenschüsse, und das Gebäude brannte mit Hellem Feuer in die Höhe, bis es
ganz verschwand. Da kam Faustus wieder zum Grafen, der ihn: hernach
etliche hundert Thaler verehrte und ihn wiederum fortziehen ließ."
Nachdem Faust nach Wittenberg zurückgekehrt war, kam die Fastnacht
heran, und der Doktor spielte den'Bacchus, als welcher er eine Anzahl von
Magistern und Studenten zu bewirthen unternahm. Am ersten Tage führte
er sie in seinen Garten, nahm eine Leiter, ließ jeden sich auf eine Sprosse der¬
selben setzen und fuhr darauf mit ihnen von dannen in den Keller des Bischofs
von Salzburg. Hier tranken sie von dessen bestem Wein, bis der Kellermeister
sie dabei störte, der sie für Diebe und Einbrecher ausschrie. „Das verdroß
Faustnm, mahnte seine Gesellen aufzusein, nahm den Kellermeister beim Haar,
fuhr mit ihm davon und setzte ihn, der in großen Aengsten und Schrecken
war, auf eiuer hohen Tanne ab, von der ihn die Bauern am andern Tage
mit vieler Mühe herunterholten. Faustus aber kam mit seiner Burse wohlbe¬
halten nach Hause, wo sie das Valete mit einander hielten mit dem Wein, so
er in des Bischofs Keller in große Flaschen gefüllet hatte." Am nächsten Tage
traktirte Faust seine Gaste abermals, indem er Flaschen und Schüsseln in
seinen Garten setzte, die ihm sein dienstbarer Geist aus den Küchen und Kellern
reicher Leute füllte. Am Aschermittwoch kamen sie wieder, und Faust ergötzte
sich durch allerhand Gaukelspiele, bei denen unsichtbare Orgeln, Lauten, Geigen,
Harfen und Posaunen spielten, Gläser, Becher und Töpfe auf dem Tisch tanzten
und ein Affe sie mit Possen unterhielt. Am Donnerstag wurde Faust vou
Studenten mit einem stattlichen Essen geehrt, wofür er wieder verschiedene
Wunder verrichtete, unter denen ein gebratner Kalbskopf, der unter dem Vor-
schneidemesser Mordio, Helfio schrie, das seltsamste war. Am weißen Sonntag
endlich, wo die Gesellschaft wieder bei Faust war und überm Wein die
Rede auf schöne Frauen kam, citirte ihnen der Schwarzkünstler Helena von
Graecia, die Hausfrau des Menelaus. „Diese Helena erschien in einem köst¬
lichen schwarzen Purpurkleide, ihr Haar hatte sie herabhängen, das schön, herr¬
lich wie Goldfarbe glänzte, anch so lang war, daß es ihr bis an die Knie¬
beugen hinabging, mit schönen kohlschwarzen Augen, ein lieblich Angesicht mit
einem runden Köpflein, ihre Lippen roth wie Kirschen, mit einem kleinen
Mündchen, einem Hals wie ein weißer Schwan, rothen Bäcklein wie Röschen,
eine lange gerade Person. In Summa: es war an ihr kein Unthätchen zu finden,
sie sah sich allenthalben in der Stube um mit gar frechem und bübischem Ge¬
sicht, daß die Studenten gegen ihr in Liebe entzündet waren."
Darauf folgen in unserm Buche eine Reihe komischer Streiche Fausts,
unter denen auffälliger Weise der Ritt auf dem Fasse aus Auerbachs Keller
nicht ist, wie denn nach dieser ältesten Schrift über Faust der Zauberer nie¬
mals in Leipzig gewesen wäre. Auf einer Fußreise nach Braunschweig, wo
er einem Marschalk von der Schwindsucht helfen soll, bittet er einen Bauern,
der einen leeren Wagen nach der Stadt fährt, ihn mitzunehmen, und als dieser
es ihm grob abschlägt, macht der Hexenmeister, daß ihm die vier Räder vom
Wagen abfliegen und jedes vor einem andern Thore liegen bleibt. Als er in
Gotha mit guten Freunden wohlbezecht spazieren geht und ihm ein Bauer
mit einem Fuder Heu entgegenkommt und nicht ausweichen will, frißt er ihm ohne
Weiteres den Wagen sammt dem Heu und den Pferden auf. Der Bauer läuft
zum Bürgermeister und klagt ihm sein Unglück. Als der aber lächelnd mit ihm
geht, um sich die Sache zu besehen, finden sie Rosse und Geschirr unversehrt an Ort
und Stelle. Faust hatte den Bauer nur verblendet. Aehnlich ergeht es einem
Bauer in Zwickau, mit dem Faust einig wird, er solle von der Ladung
Grummet, die jener heimfährt, für einen Löwenpfennig so viel essen dürfen,
als er möge, und dem er darauf die Hälfte seines Grases wegfrißt. Ein
anderes Mal kommt Faust mit seinen Gesellen in ein Wirthshaus voll lär¬
mende und singende Bauern, und als sie es zu arg machen, verzaubert er sie
so, daß jeder in der Stellung, die er gerade einnimmt, erstarrt. Als Fausts
Begleitung sich satt gelacht hat, läßt er die Bauern wieder aufthauen.
Bei seinem lüderlicher Leben war Faust häufig in Geldnoth, und dann
mußte ihm ein Schwindel aus der Verlegenheit helfen. Einmal mästete er
fünf Schweine, „die verkaufte er das Stück um sechs Gulden, doch mit dem
Pakt, daß der Sautreiber mit ihnen durch kein Wasser gehen sollte. Als die
Schweine sich dann aber im Kothe wälzten und besudelten, trieb jener sie in
eine Schwemme, da verschwanden sie und schwammen lauter Strohwische um¬
her." „Gleicherweise that er einem Roßtäuscher, dem er auf einem Jahrmarkt
ein schönes Pferd um vierzig Gulden verkaufte. Er sagte ihm, er sollte es
über keine Tränke reiten. Der Roßtäuscher aber wollte sehen, was er damit
meinte, und ritt in eine Schwemme. Da verschwand das Pferd, und er saß
auf einem Bündel Stroh, so daß er schier ertrunken wäre. Er wußte aber
noch, wo sein Verkäufer zur Herberge lag, ging zornig dahin und fand Doctor
Faustum auf einem Bette liegen, schlafend und schnarchend; der Roßtäuscher
nahm ihn beim Fuße und wollte ihn herabziehen, da ging ihm das Bein aus
dem Hintern, so daß der Roßtäuscher damit in die Stube fiel. Faustus sing
darüber an, Mordio zu schreien, und dem Roßtäuscher wurde Angst, er gab die
Flucht und machte sich aus dem Staube."
„Man spricht: ein Unhold und Zauberer werden im Jahr nicht um drei
Heller reicher. Das widerfuhr dem Doctori Fausto auch. Die Verheißung
war groß mit seinem Geist, aber viel erlogen Ding, wie denn der Teufel ein
Lügengeist ist." „Einmal ist er mit guten Gesellen bankettiren gegangen, da
er aber nicht bei Gelde war, ist er verursacht worden, bei den Juden Geld
aufzubringen, und fo nahm er bei einem von ihnen sechzig Thaler auf einen
Monat. Als nun die Zeit verlaufen, und der Jude seines Geldes sammt dem
Interesse gewärtig war, Faustus aber nicht im Sinn hatte, ihm etwas zu be¬
zahlen, kommt der Jude zu ihm ins Hans und thut seine Anforderung. Doctor
Faustus spricht zu ihm: Jud', ich habe kein Geld und weiß auch keins aufzu¬
bringen; damit du aber der Bezahlung versichert seist, so will ich mir ein Glied,
sei es ein Arm oder ein Schenkel, abschneiden und dir zum Unterpfand lassen,
doch mit dem ausdrücklichen Gebirg, sofern ich zu Gelde kommen und Dich
wiederum bezahlen würde, daß Du mir mein Glied wieder zustellen wollest.
Der Jude, so ohne das ein Christenfeind war, gedachte bei sich selbsten, das
müßte ein verwegener Mann sein, der seine Glieder für Geld zum Pfande
setzen wollte, war derohalben mit dem Pfande zufrieden. Faust nimmt nun
eine Säge und schneidet seinen Fuß damit ab, gibt ihn dem Juden (es war
aber lauter Verblendung) mit der Condition, sobald er zu Geld käme, ihn zu
bezahlen, daß er ihm seinen Schenkel wieder zustellen sollte; er wollte sich den¬
selben schon wieder ansetzen. Der Jude war mit diesem Kontrakt wohlzufrieden
und zog mit dem Schenkel davon. Als er nun darob verdrossen und müd
war, und daneben gedachte, was hilft mir ein Schelmenbein, trage ich es heim,
so wird es stinkend; dann ist es anch mißlich wieder anzubellen, und ist dieses
ein schwer Pfand, daß er sich nicht höher hätte verbinden können, denn mit
seinem eignen Gliede, es wird mir doch nichts mehr dafür. Mit solchen und
andern Gedanken gehet er über einen Steg und wirst den Fuß hinein. Dieses
wußte nun Faustus gar wohl, schickete derohalben über drei Tage nach dem
Juden, er wollte ihn bezahlen. Der Jude kommt, Faustus fragt, wo er das
Pfand habe, er solle es ihm wieder zustellen, so wollte er ihn bezahlen. Der
Jude sagte, dieweil es niemand nichts genützt, hätte er's weggeworfen. Doctor
Faustus aber wollte kurzum sein Pfand und Schenkel wieder haben, oder der
Jude sollte ihm seinen Willen darum machen, und wollte der seiner los werden,
mußte er ihm noch sechzig Thaler dazugeben, und hatte doch Doctor Faustus
seinen Schenkel noch."
Einmal ging Faust zu Köln mit einem guten Bekannten spazieren, und
wie sie so mit einander plauderten, „begegnete ihnen ein Pfaffe, der eilete der
Kirche zu und hatte sein Brevier, so fein mit silbernen Buckeln beschlagen, in
der Hand. Fausto gefiel das Büchlein wohl, dachte, du kannst bei einem
Andern ein Deogratias damit verdienen, und sagte zu seinem Gesellen: Schau,
schau den Pfaffen, was für ein geistlich Gebetbuch hat er in der Faust, da
Schellen die Responsoria geben. Dies hört der Pfaffe, sieht auf sein Buch
und wird gewahr, daß es ein Kartenspiel ist. Nun aber hatte er soeben zu
Hause gespielt und meinte, er habe in der Eile die Karten statt des Breviers
ergriffen, wirft es derowegen aus Zorn von sich weg und geht brummend
seines Weges. Faustus und sein Gesell lachten des Pfaffen, hoben das Buch
auf und ließen den Pfaffen laufen und sich ein anderes Brevier kaufen."
Einst kam Faust mit andern Reisenden in Thüringen in ein Wirthshaus,
wo ihnen die Wirthin nichts zu essen geben konnte. „Da sagten Etliche unter
dem Haufen: hätten wir ein Stück oder ein paar von dem Hechte, der uns
heute zu Mittag überblieben. Faustus fagte: Gelüstet euch nach Hechten, so
will ich sehen, was mein Koch vermag. Damit klopfte er mit dem Finger ans
Fenster und sagte: Adfer, bringe, was Du hast. Bald darauf griff er hinaus
und holte eine große Schüssel voll aufs beste abgesottner Hechte sammt einer
großen kupfernen Kanne mit gutem rheinischen Weine herein. Da waren sie
alle fröhlich, weil es so wohl ging."
Andere Zauberstücklein, wie er Studenten verblendet, die sich vor seinem
Hause raufen, wie er als Büchsenmeister in einer Festung, die von Kaiser
Karls spanischem Kriegsvolke belagert wird, einen Meisterschuß thut und die
feindlichen Kugeln wie Bälle beim Spiel auffängt, wie er zwei Bauern eiues
Pferdes wegen an einander hetzt, daß sie sich prügeln, wie er in einem Wirths-
haus, wo sie nach der Sitte der Zeit „auf gut Sächsisch und Pommerisch mit
Halben und Ganzen zufammensoffen", einen Hausknecht, der ihm trotz seines
Widerspruchs immer zu voll eingeschenkt hat, verschluckt und ihm einen Kübel
mit Kühlwasser in die Gurgel nachschickt, endlich wie er in einer alten
Kapelle bei Wittenberg einen Schatz hebt, erwähne ich nur der Vollständig¬
keit halber.
Einmal wurde Faust uach einer Mahlzeit im Gasthause vou seinen Tisch
genossen gebeten, ihnen zu zeigen, wie er Köpfe abhalten und wieder ansetzen
könne. Als niemand von ihnen seinen Kopf dazu Herleihen wollte, ließ sich
der Hausknecht gegen ein Geschenk dazu bewegen, verlangte jedoch, daß ihn:
der Kopf dann wieder recht fest angemacht würde; „denn sollte er ohne Kopf
darnach sein Amt versehen, was würden die Gäste dazu sagen?" So wurde
er denn auf gut Scharfrichterisch geköpft, „aber das Wiederanmachen wollte
nicht von Statten gehen, was auch Faustus anfing. Da sprach er zu deu
Gästen, es sei einer unter thuen, der ihn verhindere, den wollte er vermahnet
und gewarnet haben, daß er's nicht thue. Darauf versuchte er's abermals,
konnte aber nichts ausrichten. Er vermcchnete nud brauete dem zum andern
Mal, er solle ihn unverhindert lassen, oder es werde ihm nicht zum Besten
ausschlagen. Da aber auch das nichts half, und er den Kopf nicht wieder an¬
setzen konnte, läßt er auf dem Tische eine Lilie wachsen, der haut er das Haupt
und die Blume oben ab. Alsbald fiel einer von den Gästen hinter sich von
der Bank, und war ihm der Kopf ab. Der war der Zauberer, der ihn ver¬
hindert hatte. Da setzte Faustus dem Hausknechte seinen Kopf, wie er ihm
verheißen hatte, wiederum auf und packte sich von bannen. Eine ähnliche
Zauberei verrichtete Faust nach unsrer Schrift zu Frankfurt während der Messe
in einem Wirthshause bei der Judengasse.
Um Weihnachten hatte Faust einmal eine Anzahl seiner Kunden unter
deu Junkern und dein adeligen Frauenzimmer in der Nachbarschaft von Witten¬
berg zu Tische bei sich. Da begab sich, während draußen tiefer Schnee lag,
in Fausts Garten „ein herrlich und lustig Spektakel; denn es war in seinem
Garten kein Schnee zu sehen, sondern ein schöner Sommer mit allerlei Ge¬
wächs, daß auch das Gras grünete und allerhand schöne Blumen blühten.
Auch waren da Weinreben mit Trauben behängen, desgleichen rothe, weiße und
leibfarbeue Rosen mit audere bunte und >vohlriechende Blumen, welches eine
herrliche Lust zu sehen und zu riechen gab."
Daß Faust sich auch auf Liebeszauber verstand, zeigt eine Historie, wo
er einem wittenberger Studenten von Adel, der sich in eine Dame, die ihn
nicht mochte, verliebt hatte und aus Herzeleid über sein Mißgeschick krank ge¬
worden war, zum Ziele seiner Wünsche verhalf. Er gab ihm einen Ring,
führte ihn in einen Garten, wo die Geliebte mit andern Mädchen beim Tanze
war, und hieß ihn sie mit dem Finger berühren. Von Stund an war „die
gute Jungfrau mit Cupidinis Pfeilen durchschossen", und an: nächsten Morgen
schickte sie zu ihm und begehrte ihn zum Ehemann, worauf sie Hochzeit mit
einander machten, auch dem Doctor Fausto eine gute Verehrung gaben.
Als Faust sein Verhältniß zum Teufel eine Reihe von Jahren fortgesetzt
hatte, war es einmal nahe daran, daß sich dasselbe auflöste. Sem Nachbar,
ein gottesfürchtiger Arzt und Liebhaber der heiligen Schrift, lud ihn zu sich,
machte ihm Vorstellungen und drang in ihn, Buße zu thun und sich zu be¬
kehren. Faust hörte ihm fleißig zu, sagte, daß ihm die Lehre wohlgefiele, und
gelobte, womöglich zu thun, was er von ihm begehre. Zu Hause dachte er
weiter über die Ermahnung nach und beschloß, dem Teufel sein Versprechen
auszusagen. Da erschien ihm aber sein Geist und griff nach ihm, als ob er
ihm den Hals umdrehen wollte, worauf er ihm so lange mit Vorstellungen
und Drohungen zusetzte, bis er sich ihm von neuem verschrieb, auch dem
frommen Nachbar so feind wurde, daß er ihm nach dem Leben trachtete.
Desgleichen fand sich bei ihm auch die Lust zu allerlei Possen und Necke¬
reien wieder ein. Einmal hatte er in Augsburg Gäste bei sich, die er mit
Speisen, die Mephostophiles einem reichen Bürger, der Hochzeit hielt, aus der
Küche gestohlen, und mit Wein aus Fuggers Keller traktirte. Nachdem sie
gegessen, wollten seine Freunde ein Kunststück von ihm sehen. „Da ließ er
auf dem Tische einen Rebstock wachsen mit reifen Trauben, deren vor Jedem
eine hing. Hieß darauf einen Jeglichen die seine mit der einen Hand angreifen
und halten und mit der andern das Messer auf den Stengel setzen, als wenn
er sie abschneiden wollte; es sollte aber bei Leibe keiner schneiden. Darnach
gehet er aus der Stube, wartet nicht lange, kommt wieder, da sitzen sie Alle
und halten sich ein Jeglicher selbst bei der Nase und das Messer darauf.
Wenn ihr nun gerne wollt, sagte Faustus, so mögt ihr die Trauben ab¬
schneiden. Das war ihnen aber ungelegen, wollten sie lieber noch reifer werden
lassen."
Eine reine Eulenspiegelei trieb er mit dem Kapellan Dorstenius zu Batto-
burg an der Maas, der ihm viel Gutes und Liebes erzeiget und, „dieweil er
sahe, daß Faustus dem Trunk sehr geneigt war", ihm so lange guten Wein
schickte, bis das Fäßlein ganz leer wurde. Dem rieth er, als er sich
einst barbieren lassen wollte, sich lieber aus der Apotheke Arsenik holen zu
lassen und den Bart damit tüchtig einzureihen, er werde dann kein Scheer-
messer mehr nöthig haben. Die Folge war, daß dem Pfaffen nicht blos die
Haare im Gesichte ausfielen, sondern auch die Haut sammt dem Fleische
sich ablöste.
Besonders schlimm trieb es Faust in den letzten fünf Jahren seines Con-
trcckts mit dem Teufel in Betreff der Weiber. Zunächst suchte er, indem er
mit Mephostophiles in aller Herren Länder herumzog, sich sieben der schönsten,
zwei Niederländerinnen, eine Ungarin, eine Engländerin, zwei Schwäbinnen
und eine aus Franken aus. Dann bewog er seinen Geist, ihm die Helena
aus Graecia, die er ehedem den Studenten am weißen Sonntage erweckt
hatte, zu verschaffen, die er so lieb gewann, daß er schier keinen Augenblick
ohne sie sein könnte, und die ihm einen Sohn gebar, den er Justus Faustus
nannte, und der ihm schon als kleines Kind viel „zukünftige Dinge erzählete,
so in allen Ländern sollten geschehen.".
Als nun sein Vertrag mit der Hölle abgelaufen war, fetzte er seinen Fa¬
mulus Wagner, einen bösen Buben, der mit ihm geschlemmt hatte und ihm
in Allem zu Willen gewesen war, notariell zum Erben ein, wodurch diesem
Fausts Haus und Garten „neben des Gansers und Veit Rodingers Haus ge¬
legen, beim Eisernen Thor in der Schergasse an der Ringmauer", sechzehnhundert
Gulden an Zinsgeld, ein Bauerngut, sechshundert Gulden baar, eine goldene
Kette und Silbergeschirr an tausend Gulden werth, desgleichen die Bücher
seines Meisters zufielen. Auch verschaffte er ihm einem dienenden Geist, der
die Gestalt eines Assen hatte und Auerhcchu hieß, und der ihn künftig be¬
gleiten sollte, wofür Wagner sich verpflichten mußte, nach Fausts Tode dessen
Geschichte zu schreiben. Wenn Faust seines eben erwähnten Sohnes in seinem
Testamente nicht gedachte, so war der Grund der, daß er wußte, derselbe werde
sammt seiner Mutter demnächst verschwinden.
Die Zeit verlief nun rasch wie der Sand in einem Stundenglase, und
als Faust nur noch einen Monat zu leben hatte, hub er jämmerlich an zu klagen
und zu verzagen. Er weinte, redete mit sich selbst, phantasirte mit den Hän¬
den in der Luft, ächzte und seufzte und magerte zusehends ab. Er ging wenig
mehr aus und mochte auch den Geist nicht mehr sehen. „O Du betrübter
Fauste", rief er aus, „Dn bist nun in dem Haufen der Unseligen, wo Du den
übermüßigen Schmerz des Todes erwarten mußt! Ja, einen erbärmlicheren
denn jemals eine schmerzhafte Kreatur erduldet hat. Ach, ach, Vernunft, Ver¬
messenheit und freier Wille, o Du verfluchtes und unbeständiges Leben, o Du
Blinder und Unachtsamer, der Du Deine Glieder, Leib und Seele so blind
machtest! O zeitliche Wollust, in was für Noth hast Du mich geführt! Ach
mein schwaches Gemüth, wo ist Deine Erkenntniß? Ach Leid über Leid, Jammer
über Jammer! Ach und Wehe, wer wird mich erlösen? Wo soll ich mich
verbergen? Wohin soll ich mich verkriechen oder fliehen?"
Auf solche und ähnliche Klagen erschien ihm Mephostophiles und ver¬
spottete ihn mit allerlei Scherzreden. Unter Andern sagte er ihm:
„Ja, ja, mein Fauste, mit großen Herren und dem Teufel ist nicht gut
Kirschen essen, sie werfen einem die Stiele ins Angesicht, wie du nun siehst.
Derhalben wärest Du wohl weit von dannen gegangen, was gut für den
Schuß gewesen wäre. Aber Dein hoffcirtig Rößlein hatte Dich geschlagen,
Du hast die Kunst, die Dir Gott gegeben, verachtet und Dir nicht daran ge¬
nügen lassen, sondern den Teufel zu Gaste geladen und hast diese ganzen vier¬
undzwanzig Jahre daher gemeint, es sei alles Gold, was gleißet, was Dir der
Teufel berichte, dadurch Dir der Teufel wie einer Katze eine Schelle angehängt.
Siehe, Du warst eine schöne erschaffene Kreatur, aber die Rose, die man lange
in den Händen trägt und an der man viel riecht, die bleibt nicht, wessen Brot
Du gegessen hast, dessen Lied mußt Du singen, verziehe bis auf den Karfrei¬
tag, so wird's bald Ostern sein. Was Du verheißen hast, ist nicht ohne Ursache
geschehen, eine gebratene Wurst hat zwei Zipfel, und auf des Teufels Eis ist
nicht gut gehen. Du hast eine böse Art gehabt, darum läßt Art von Art
nicht, also läßt die Katze das Mausen nicht. Scharf vornehmen macht schartig.
So lange der Löffel neu ist, braucht ihn der Koch, darnach wenn er alt wird,
so sah— er drein, dann iß mit ihm aus. Ist es nicht auch mit Dir also, der
Du ein neuer Kochlöffel des Teufels wärest? Nun nützet er Dich nimmer;
denn der Markt hätte Dich sollen lehren kaufen. — Noch mehr, mein Fauste,
was hast Du sür einen großen Uebermuth gebrauchet, in allem Deinem Thun
und Wandel hast Du Dich einen Teufelsfrennd genannt; derohalber fchürze
Dich nun; denn Gott ist der Herr, der Teufel ist blos Abt oder Mönch.
Hoffart thut niemals gut; wolltest Hans in allen Gassen sein, so soll man
Narren mit Kolben lausen. Wer zu viel will haben, dem wird zu wenig, und
darnach Einer legete, darnach muß er aufsetzen. So laß Dir nun meine Lehre
und Erinnerung zu Herzen gehen, die gleichwohl schier verloren ist. Du solltest
dem Teufel nicht so wohl vertrauet haben, dieweil er Gottes Affe, auch ein
Lügner und Mörder ist; darum solltest Du klüger gewesen sein. Schimpf
bringt Schande; denn es ist bald um einen Menschen geschehen, und er kostet
so viel zu erziehen. Um den Teufel zu beherbergen, bedarf es eines klugen
Wirthes. Zum Tanze gehört mehr als ein Paar rothe Schuhe. Hättest Du
Gott vor Augen gehabt und Dir an den Gaben, so er Dir verliehen, genügen
lassen, dürftest Du diesen Reigen nicht tanzen. Du solltest dem Teufel nicht
so leichtlich zu Willen worden sein und geglaubt haben; denn wer leichtlich
glaubt, wird bald betrogen."
Solche Reden waren kein Trost, und so klagt Faust in unserm Buche
noch ein paar Seiten aufs erbärmlichste fort bis zum Vorabend des Tages,
wo sein Geschick sich erfüllen soll. Mephostophiles erscheint, zeigt ihm seine
Verschreibung vor und kündigt ihm an, daß der Teufel in der nächsten Nacht
kommen und seinen Leib holen werde. Faust fährt darauf die Nacht hindurch
mit Weinen und Jammern fort. Am Morgen aber geht er zu seinen Freunden,
den Studenten und Magistern, und bittet sie, ihm nach dem eine halbe Meile
von Wittenberg entfernten Dorfe Rimlich zu folgen und dort mit ihm zu
frühstücken und später zu Nacht zu essen. Sie schmansen und zechen dort
weidlich, und nach der Abendmahlzeit hält ihnen Faust eine Rede, in der er
sie bittet, den übrigen Freunden brüderliche und freundliche Grüße zu bestellen,
sich sein greulig Ende all ihr Lebtag ein Fürbitt und Erinnerung sein zu
lassen, sich vor Verführung zu hüten, fleißig die Kirche zu besuchen und alle
Zeit wider den Teufel zu streiten und zu siegen mit einem guten Glauben
an Christum und gottseligem Wandel. Dann ermahnt er sie, zu Bette zu
gehen und sich durch nichts, was geschehen werde, anfechten zu lassen. Die
Studenten versuchten ihn zu trösten und riethen ihm, Gottes Barmherzigkeit
anzurufen, daß er ihm um seines lieben Sohnes Jesu Christi willen verzeihe
und ihm, wenn er dem Teufel den Leib lassen müsse, doch die Seele erhalte.
„Da sagte er ihnen zu, er wolle beten, es wollte ihm aber nicht eingehen, wie
dem Kam, der auch sagte, seine Sünden wären größer, denn daß sie ihm
möchten verziehen werden." Darauf nahmen sie weinend Abschied von ihm
und gingen schlafen, während er in der Stube zurückblieb.
„Es geschah aber zwischen zwölf und ein Uhr in der Nacht, daß gegen
das Haus her ein großer ungestümer Wind ging, der es an allen Orten um¬
gab, als ob er es zu Boden reißen wollte, darob die Studenten verzagen zu
müssen meinten, sprangen aus dem Bette und huben an einander zu trösten,
wollten nicht aus der Kammer. Der Wirth lief aus seinein in ein ander
Haus. Die Studenten lagen nahe bei der Stube, da Doctor Faustus innen
war, sie hörten ein greuliges Pfeifen und Zischen, als ob das Haus voller
Schlangen, Nattern und andere schädliche Würmer wäre. Indem gehet Doctor
Fausti Thür auf in der Stuben, der hub an, um Hülfe und Mordio zu
schreien, aber kaum mit halber Stimme, bald nachher hörte man ihn nicht
mehr. Als es nun Tag ward, und die Studenten die ganze Nacht nicht ge¬
schlafen hatten, sind sie in die Stube gegangen, sie sahen aber keinen Faustum
mehr und nichts, denn die Stube voller Bluts gespritzet. Das Hirn klebte an
der Wand, es lagen auch seine Angen und etliche Zähne allda, ein greulig
und erschrecklich Spektakel. Da huben die Studenten an, ihn zu beklagen und
zu beweinen und suchten ihn allenthalben. Letztlich aber fanden sie seinen
Leib draußen auf dem Mist liegen, welcher greulich anzusehen war, da ihm
der Kopf und alle Glieder schlotterten."
Die Studenten gehen nun, nachdem sie ihren Freund begraben, nach
Fausts Hause zurück und finden hier nur noch dessen Famulus vor. Helena
und ihr Sohn sind verschwunden. In dem Hause wird es unheimlich, der
Geist des vom Teufel Geholten spukt dort, und die Vorübergehenden sehen ihn
zum Fenster herausgnken. Das Buch schließt hierauf als mit seiner Moral
mit dem Spruche 1. Petri 5: „Seid nüchtern und wachet; denn euer Wider¬
sacher, der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen
er verschlinge; dem widerstehet fest im Glauben."
Ich bemerke zum Schlüsse, daß Faust auch als magischer Schriftsteller
thätig gewesen sein soll, ob aber die berühmteste seiner Schriften, die unter
dem Titel „F austs Höllenzwang" vom Aberglauben bis in die Gegen¬
wart herein hoch gehalten und zu Beschwörungen benutzt wurde, von ihm her¬
rührt, ist kaum anzunehmen. Gewiß ist nur, daß sie schon 1660 existirte,
doch ist nicht zu beweisen, daß die Form, in der sie Scheible einer im prager
Jesuitenkollegium erschienenen Ausgabe im „Kloster" nachgedruckt hat, mit der
gleichlautet, die damals einem Schreiber zu Hildesheim beinahe die Folter ge¬
bracht hätte. Ein paar Worte über diese Anweisung, den Geist Uziel, „den
Schatzmeister über die verborgenen Güter der ganzen Welt", zu beschwören
und sich von ihm Geld bringen zu lassen, werden genügen, um die Leser von
der Natur dieses nekromantischen Hokuspokus in Kenntniß zu setzen.
Der Exorcist hatte zunächst drei Tage zu fasten, zu beten, Almosen zu
reichen, zu beichten und zu kommunieiren, auch drei Messen lesen zu lassen.
Dann mußte er zu bestimmter Stunde an einem der sechs Wochentage, Mon¬
tags z. B. von vier bis fünf Uhr Vormittags oder von fünf bis elf Uhr
Nachmittags, zwei Kreise auf den Boden zeichnen und mit gewissen aus Papier
zurechtgeschnitteuen Figuren belegen. Der eine Kreis war für den Geist, der
andere für den Exorcisten bestimmt, welcher in ihm mit dem linken Fuße auf
das in dem Buche abgebildete Siegel Aziels zu treten hatte. Vor der Be¬
schwörung war ein Gebet zu sprechen, welches folgendermaßen lautete:
„O allmächtiger Gott und himmlischer Vater, ich bitte Dich durch Jesum
Christum, Deinen allerliebsten Sohn dnrch diese Deine allerheiligsten Namen:
Agta, Noah, Soter, Emanuel, Du wollest die Worte meines Mundes gnädiglich
erhören und mir die Kraft und Macht verleihen, daß die bösen Geister, welche
Du wegen ihres Hochmuthes und ihrer Herrschsucht aus Deinem heiligen Himmel
in den Abgrund der Hölle verstoßen hast, daß sie, wenn ich sie mit Deiner
Macht, Kraft und Stärke rufe, allen meinen Willen und mein Begehren voll¬
bringen, daß ich sie binde und bezwinge, sichtbar, willig, in einer lieblichen
Menschengestalt zu erscheinen und meine Worte, welche mit Deinem aller-
heiligsten Namen vereinbart sind, nicht zu verachten, durch die Worte Deiner
Majestät: Adonai, Al, Nanni, Amar, Semello, Lei, Ursion, bei dem jüngsten
Gericht Jesu Christi und durch die Werke dieser heiligen Namen Deiner höchsten
Majestät: Ohel, Agra, Jod, bei welchen Namen Salomon die Geister ins
Wasser gezwungen hat. Solches alles geschehe durch Deine göttliche Macht
und Kraft, Tetragrammaton, Agta, Adonai, Amen."
Dann folgte die erste Citation:
„Ich, N. N., beschwöre Dich, Geist Uziel, bei dem Richter der Lebendigen
und der Todten, Jesu Christo, durch den Schöpfer des Himmels und der
Erden, bei dein Gehorsam, welchen Gott den Heiligen durch Jesum Christum
gegeben hat, und durch die Kraft und Wirkung des heiligen Geistes und der
heiligen Dreifaltigkeit, daß Du, Geist Uziel, eilends erscheinest und bald zu
meinem Kreise, meinen Willen zu erfüllen und zu vollbringen, kommest. Das
gebiete Dir Jesus Christus, der die Hölle zerstöret und den Teufel» alle Macht
genommen hat. Derowegen komm, Geist Uziel, bei der Kraft und Gewalt
Gottes im Namen Jesu. Amen.
Ich, N. N., beschwöre Dich, Uziel, mit diesen Machtworten: Margrad,
Gratiel, Lalelai, Emanuel, Magot, Vagod, Sabolos, Sadai, Al, Sadoch
Oseoth, Majin, Latte, daß Du mir eine Summe Geldes, soviel ich verlange,
an gültiger Münze und unveränderlichen Golde bringen müssest. Das gebiete
ich Dir, Geist Uziel, bei dieser Macht: Tetragrammaton, Agta, Ephebilicun,
sia, Epragus sensit Adonai heilende, Aaron, Sant sordida sita, Tetragrammaton
Osion, Zellianole, Eljon, Eljon Alba descendat ad nos. Erscheine mir ja
ganz freundlich vor meinem Kreise und bringe, was ich von Dir fordere. Das
gebiete ich Dir, Geist Uziel, im Namen Jesu. Amen.
Ich, N. N>, beschwöre Dich, Lucifer, Beelzebub und alle Obristen, wie
ihr heißen und Namen haben möget, bei der allerheiligsten Dreifaltigkeit, dem
Vater, Sohne und dem heiligen Geiste, Alpha und Omega, Michael, Raphael
l! " /x -I- N N -l- K -!- LII. Ja, ich beschwöre euch Teufel
alle mit einander in der Hölle, in der Luft und auf der Erde, in den Stein¬
klüften unter dem Himmel, im Feuer und an allen Orten und Ländern, wo
ihr nur seid und euren Aufenthalt habt, keinen Ort ausgenommen, daß ihr
diesen Geist Uziel augenblicklich bestellet, und er von Stund an, so viel ich be¬
gehre, bringe; oder ich, N. N., ein crschaffnes Ebenbild Gottes, ein Geschöpf
des wahren Lebens, will Dich, Lucifer und Beelzebub, mit allem Deinem
Anhange quälen, martern, peinigen und ängstigen; ja alle Qual und Pein soll
auf euch liegen, bis ihr mir diesen Geist Uziel gesandt habt, meinen Willen
zu vollbringen. Ich beschwöre euch, soviel Millionen euer sind, bei dem heiligen
Blute Jesu Christo, das für das ganze menschliche Geschlecht vergossen und
wir dadurch erlöset worden. Mit diesem Machtblnte sollt ihr, ihr Teufel, jetzt
aufs neue gezwungen, gequälet und gepeinigt werden bis in die äußerste
Finsterniß. Ja, in dein Abgrunde der Hölle sollt ihr vor dieser Beschwörung
nicht sicher sein, bis daß ihr den Geist Uziel vor meinen Kreis sendet und
zwinget, daß er mir leiblich erscheine, eine wahre Antwort gebe und mir
zweihundertundneunundneunzig tausend Dukaten bringe" u. s. w.
Dieser gotteslästerliche Galluncithias geht darauf noch über drei Seiten
der Schrift weiter. Dann folgt wieder ein Gebet, das knieend zu sprechen ist,
Hierauf wird Lucifer und sein Anhang ans das gründlichste verflacht (die
Formel nimmt fast volle sechs Druckseiten ein.) Dann abermals Citation
Aziels, die zuletzt zu einem reinen Lantgeklingel aus allerhand Sprachen wird,
welches, nachdem es circa zwanzig Zeilen gefüllt hat, mit „Emanuel, Mosiel
Adlissel höret eaut nitida crassa, adiolna da bona vlna" endigt. Jetzt erst er¬
folgt die Hauptcitation mit den stärksten Bedrohungen der Hölle, wo es zuletzt
heißt: „Komm derowegen im Namen Adonai Zebaoth, adonai amioram.
Komme, was säumest Du Dich? Eile herbei! das gebiete Dir Adoe Sadai,
der König aller Könige, el, al, val, va, eja, eja, eja, el, a, hi, hao, hao, va,
va, va, -i-. Titeib azira, hin, chen, amiosel, agathon, Amen." Kommt darauf
der Geist, wie er unfehlbar muß, und fragt er, was mau von ihm will, so
sagt man ihm, daß man von ihm durch Gottes Gnade, Huld und Barmherzig¬
keit und durch die Kraft der heiligen Namen die oder die Summe verlange.
Er wird sich dann weigern oder etwas zum Entgelt fordern. Das aber schlägt
man ihm ab und bedroht ihn mit ferneren Bannsprüchen. Gehorcht er nun,
so wird er mit folgender Formel „abgedankt":
„So weichet nun wieder von hinnen, sanftmüthig, ohne alles Rumoren
und Gestank, ohne Verletzung unseres Kreises und unsrer aller, die darinnen
sind, und lasset uns das Gut, welches uns der Geist Uziel gebracht hat, un¬
versehrt und unveränderlich in diesem unserm Kreise liegen. Das gebiete ich
und beschwöre euch, Geister alle, bei den allerheiligsten Namen: „Tetragrcim-
maton, Agta, Jesu Christi, so wahr als Amen."
Ueber den weiteren künstlerischen Lebenslang des Paares hat n. A. Fürstenau
im 2. Bande seines sehr gründlichen Werkes „Zur Geschichte der Musik und
des Theaters am Hofe der Kurfürsten von Sachsen und Könige von Polen"
das Wesentlichste zusammengestellt, soweit wenigstens bis jetzt unter Benutzung
der Dresdener und Leipziger Quellen und vor Allem der sorgfältig gearbeiteten
Hamburger Theater - Geschichte von I. F. Schütze an Material zu Tage ge¬
fördert ist. Auch enthält, soweit der Raum es zuläßt, Ed. Devrients „Ge¬
schichte der deutschen Schauspielkunst" bekanntlich ein übersichtliches Bild der
Wirksamkeit der Neüberin. Prutz verweist in seinen Vorlesungen über die
Geschichte des deutschen Theaters u. A. auf eine angeblich im Jahre 1744
erschienene und in zwei Theilen in Quart von D. W. Mayer in Zwickau ver¬
faßte Biographie der Neuberin, ein Pasquill, das in mehrfachen Bezugnahmen
anderweitig als ein ernst gemeintes Werk aufgefaßt wird, dessen aber nicht mehr
habhaft zu werden sei. Fürstenau kennt es und nennt es mit Recht ein ab¬
scheuliches Pamphlet. Ich gebe weiter unten über dasselbe Auskunft. Auf¬
fallend gering ist bis jetzt die Ausbeute aus den Aeußerungen von Zeitgenossen
der Neuberin gewesen. Lessing, dessen erstes Stück „Der junge Gelehrte" sie
im Jahre 1747 aufführte, muß insofern als ihr Zeitgenosse gelten, als er die
Neuberin noch sah und kannte, wie denn ihre reformatorischen Bestrebungen
ihm für die Bühne lebhaftes Interesse einflößten. Doch war er damals erst achtzehn
Jahre alt, während sie bereits das fünfzigste Jahr erreicht hatte und im raschen
Niedergang begriffen war. Dies muß man nicht übersehen, wenn man, was
er beiläufig über sie geäußert hat, zu ihrer Beurtheilung mit heranziehen zu
dürfen meint. Es gilt auch einigermaßen für Eckhof, dessen zwei sie betreffende
Briefe oft citirt worden sind. Er selbst datirt ihren Niedergang vom Jahre 1740.
Damals war sie dreiundvierzig, er aber erst zwanzig Jahre alt. Was sie in ihrer
besten Zeit geleistet hatte, kannte er daher nur vom Hörensagen. Lessing thut
der Neuberin an zwei Stellen Erwähnung, in dem 15. Literaturbriefe, wo er
nur erwähnt, daß sie zu eiuer Zeit geblüht habe, als es um die deutsche
dramatische Poesie noch sehr elend aussah: „Unsere Staats- und Helden-Aktionen
waren voller Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz. Unsere Lustspiele be¬
standen in Verkleidung und Zaubereien, und Prügel waren die witzigsten
Einfälle" — und ferner in der Vorrede zu den Schriften seines Freundes Milius:
„Kennen sie den Geschmack der Frau Neuberin? Man müßte sehr unbillig
sein, wenn man dieser berühmten Schauspielerin eine vollkommene Kenntniß
ihrer Kunst absprechen wollte. Sie hat männliche Einsichten; nur in einem
Artikel verräth sie ihr Geschlecht. Sie tändelt ungemein gern auf dem Theater.
Alle Schauspiele von ihrer Erfindung sind voll Putz, voller Verkleidung, voller
Festivitäten, wunderbar und schimmernd. Vielleicht zwar kannte sie ihre
Leipziger, und das war vielleicht eine List von ihr, was ich für Schwachheit
an ihr halte."
Gewiß war es eine „List", denn die Entwöhnung des Publikums vom
Gemeinen und Anstößigen konnte schon für eine so schwierige Aufgabe gelten,
daß dieselbe nicht füglich auch noch sich vermessen dürfte, dem allgemeinen
Begehren nach theatralischen Glanz und Schimmer den Krieg zu erklären.
Daß si^ von Kostümtreue, worauf Gottsched drang, nichts wissen wollte, weil
die Kosten dadurch zu sehr anwachsen würden, diesen Standpunkt muß man
gelten lassen, da nicht bewiese» werden kann, daß ein Wagniß auch nach dieser
Seite hin ihre ohnehin opfervolle Thätigkeit nicht einem raschen Untergang
entgegengeführt haben würde. Wie man weiß, hat Tieck sich ebenfalls dem Ver¬
langen nach weit gehender Kostümtreue entgegen gestemmt, und Lichtenberg
fchrieb mit Recht: Wo der Antiquar in den Köpfen eines Publikums noch
schlummert, da soll der Schauspieler nicht der Erste sein, der ihn wecken will.
Auch Gottsched hat nur in wenigen Worten hie und da der Neuberin ge¬
dacht, so z. B. in der Vorrede zum 2. Theile seiner „Deutschen Schaubühne",
wo er rühmend ihrer „Vorspiele in Versen" Erwähnung thut, und dann, als
die Neuberin einem Ruse der Kaiserin Elisabeth nach Se. Petersburg folgte,
wo er am 12. März 1740 an Manteuffel in Dresden fchrieb: So verlieren
wir in Deutschland wiederum ein Mittel, den guten Geschmack zu befördern,
nämlich die einzige Comödie, die eine gesunde und vernünftige Schaubühne
gehabt :e. Und in der ersten Ausgabe seiner „kritischen Dichtkunst" rühmt Gott¬
sched sowohl „Herrn Reuber, den jetzigen Direktor", wie auch dessen Ehegattin,
der es auf der Bühne „schwerlich ein Frauenzimmer zuvorthun wird", Lob¬
sprüche, welche auf Grund des bekannten Zerwürfnisses zwischen Gottsched und
den Neubers in den spätern Auflagen zu Gunsten Schönemanns unterdrückt
wurden. In seiner Vorrede zum „sterbenden Cato" sagt er: die Neuberin gebe
in der Vvrstellungskunst gewiß keiner Französin oder Engländerin etwas nach.
Was die oben berührten Vorspiele betrifft, so sagt Schütze darüber, sie
habe „aus sehr verzeihlichen Neide" nur eins drucken lassen. Auf der Dresdner
Königlichen Bibliothek ist dies Stück nicht vorhanden.
Ingleichen weiß Schütze von französischen Stücken, die sie in Hamburg
„in der Ursprache" gegeben hat, gleichsam „als Dessert-Schüsseln zu den
deutschen; z. B. ArMMmbis, IraA, en 1 ^." Hierüber fehlt meines Wissens
alles Nähere, und diese eigenthümliche Notiz hat bisher überhaupt kaum Be¬
achtung gefunden. Dennoch wirst dieselbe auf die Bildungsstufe, welche die
Neuberin einnahm, ein scharfes Licht, und im Zusammenhang mit der Angabe
der Zwickauer Inquisitions-Akten: Caroline sei der französischen und lateinischen
Sprache mächtig gewesen, tritt der Abstand, in welchem sich die Neuberin zu
dem Bildungsgrade der übrigen damaligen Prinzipale und Prinzipalinnen be¬
fand, besonders deutlich hervor.
Auf die Frage, wie weit Reuber bei den Reform-Bestrebungen seiner be¬
rühmten Fran betheiligt gewesen, hat Th. W. Danzel („Gottsched und seine
Zeit", Leipzig 1855) dankenswerthe Streiflichter fallen lassen, vornehmlich auf
Grund des auf der Leipziger Universitäts - Bibliothek aufbewahrten Brief¬
wechsels Gottscheds. Abweichend von der früher beliebten Annahme, Johann
Reuber sei eine Null gewesen, kommt er nicht nur zu dein Schlüsse, der
nicht anfechtbar ist: die Reform des Theaters sei auch ihm Herzenssache
gewesen — er bestreitet auch, daß es besonders die Neuberin gewesen sei, die
sich der Sache „mit Verständniß und Eifer" angenommen habe und meint:
„wenn sich Herr Reuber (in den Briefen) als ein ganz gebildeter Mann dar¬
stellt, so wird man bei dem berühmten „Friederikchen" das Gegentheil be¬
merken." Und er fügt hinzu, es gehe aus den von ihm mitgetheilten Briefen
hervor, daß Reuber und nicht feine Frau bei dem Unternehmen die erste Rolle
gespielt, ja daß sie geradezu „eine untergeordnete Stelle" eingenommen habe.
Einige gehässige Bemerkungen Grimms, des „Propheten von Böhmisch-
broda", mögen Danzel in dieser unterschätzenden Auffassung der Neuberin be¬
stärkt haben, wobei aber Eckhof erst zu widerlegen wäre, — der jeuer Zeit
noch nahe genug stand, um als Fachmann über das Ehepaar zu urtheilen —
denn es heißt in seiner bekannten Meinungsabgabe über die damals angestrebte
Reform: „Mitten in dieser Barbarei wagte eine liebenswürdige Frau den
Vorsatz zu fassen, das deutsche Theater zu reinigen und ihm eine vernünftige
Form zu geben."
Schon Fürstenau (a. a. O. S. 315) hat Danzels Meinung als zu weit
gehend bezeichnet, doch obschon er nach Originalen einige Schriftstücke des
Ehepaars mittheilt, stellt er nicht fest, ob die von den Neubers bisher bekannt
gewordenen Schriftstücke uicht etwa ausnahmslos von Johann Reuber verfaßt
sind, vermuthet es jedoch. Dies würde zu der Annahme führen, daß Reuber
die von Caroline zu unterzeichnenden Briefe schlechter stylisirt habe, als seine
eignen, denn woher sonst die von Danzel gerügte Mannhaftigkeit der letzteren?
Durch Vergleichung der Originale ans der Leipziger Universitäts-Bibliothek
ließe sich hierüber leicht jeder Zweifel heben. Danzel hat dieselben vor Augen
gehabt, und da er keine Vermuthung der gedachten Art äußert, vielmehr
„Friederikchen" auf Grund ihrer Briefe tiefer reagirt als ihren Gatten, so
wird sie dieselben auch wohl selbst verfaßt haben. Uebrigens heißt es in einen:
an Gottsched gerichteten Briefe Neubers vom 17. September 1730 mit Bezug
ans das falsche Gerücht des Ablebens der Neuberin: Einliegendes Briefchen
hat meine Frau selbst geschrieben, und weil Ihnen ohne Zweifel ihre Hand
bekannt seyn wird, können Sie deutlicher daraus ersehen, daß sie noch lebt.
Eine — freilich wenig benutzte — Abschrift des ganzen Gottschedschen
Briefwechsels findet sich auch auf der Königlichen Bibliothek zu Dresden. Im
Ganzen enthält dieser Briefwechsel 14 Briefe von Reuber und 2 von der
Nenberin.
Daß Abschreiber nicht immer völlig zuverlässige Leute sind, ist eine alte
Erfahrung. Irenäus, der in seinem Buche über die Achtzahl den Abschreibern
die oft wiederholte Beschwörungsformel OdLeero hos ete, widmete, hat an der
Sache nichts geändert. Auch die von Dcmzel mitgetheilten Briefe find jenem
Unstern nicht entgangen — für die von Danzel auf den Styl und die Gram¬
matik der Briefe basirten Schlußfolgerungen freilich ein störender Umstand.
So fand ich beim Vergleichen des von Danzel mitgetheilten Neuberschen Briefes
vom 8. Juli 1730, daß eine Periode desselben in der Danzelschen Wiedergabe
wie folgt anhebt:
Für die Uebersendung der II. und III. Handlung soll von meiner Frau
als mir besonders danken . . .
Die augenscheinlich korrektere Dresdner Abschrift lautet dagegen:
Vor die Ueberschickung der II. und III. Handlung soll von meiner
Frauen?c.
Ebenso ungenan sind andere Briefe copirt. So beginnt der Brief Caro-
llnens, welchen Danzel abdrückt, in der Dresdner Abschrift mit den Worten:
Wenn dero geneigtes Andenken gegen mich (bei Danzel: gutes Andenken
vor mich) noch so wie sonst beschaffen ist, so hoffe ich (bei Danzel fehlt „ich")
daß Sie mir vergeben werden, daß ich (bei Danzel weil ich) meine schrift¬
liche Schuldigkeit?c.
Auch die Daten stimmen nicht immer, und es bleibt auf alle Fälle mißlich,
die Bedeutung der Neuberin und Neubers nach diesen Schriften abschätzen
an wolle». Im Ganzen scheint nicht zu bezweifeln, daß Caroline die Seele
der Reform war und blieb, daß ihr Mann aber unverdrossen ihre Bestrebungen
unterstützte, daß sie auch in Glück und Unglück treu zusammen hielten. Da
bisher so wenige von den doch gewiß noch in manchen Antographen-
sammlungen aufbewahrten Briefen des Ehepaars veröffentlicht worden sind,
iheile ich hier nach den Dresdner Abschriften die wesentlicheren derjenigen an
Gottsched gerichteten Schreiben mit, welche Danzels Buch nicht enthält.
Zuvor sei aber noch das oben schon erwähnte Pamphlet abgethan, welches
sich ebenfalls auf der Dresdner Bibliothek befindet. Der Prospekt lautet:
Probe Eines Heldengedichts In acht Büchern, Welches künftig alle 14
Tage Gesangweise herausgegeben werden soll und welches den Titel führet
Leben und Thaten Der weltberüchtigten und besten Lomöcliaiitin unsrer Zeit,
nehmlich Der Hochedlen und Tugendbegabten Frauen ?R,^VL5s ?i-iöäeriea
Oaroling, Nsuberin, gebohrene ^eissendornm, Principalin :e. le. Auf ihr Be¬
gehren und Häufiges Nachfragen ihrer Freunde an das Licht gestellet von N-
I'rieärien LiöZmuncl nez^r AwiekAviensis der Gottes Gelahrtheit eifrigst be¬
flissenen. Zwickau 1743.
„Im 8. Buche", heißt es dann nach Erledigung der übrigen Theile des
Prospekts, „wird ihre Abfahrt von dieser Weltbühne beschrieben werden, und
sollte Frau Neuberin zwischen hier und 70 Wochen nicht sterben, wie sie denn
schwerlich von ihrer Krankheit, in der sie leider, wie mir ein Brief eben meldet,
itzo liget, wieder genesen kann, so muß sich der gütige Leser freilich mit dem
8. Buche so lange gedulden, bis ihr seliger Tod wirklich erfolget ist."
Einstweilen gebe der Verfasser eine Probe, im Styl der Frau Neuberin,
„alles schön seichte und unordentlich." Zum Schluß wird, für den Fall, daß der
Verfasser durch den Tod behindert sein sollte, seinen Pränumeranten alles
Verheißene zu liefern, versprochen, daß der Bruder des Magisters die Sache
fortsetzen werde. Der 2. Band enthält denn auch die Anzeige seines Todes
seitens des Bruders D. W. Meyer Registrator 1744; dieser begnügt sich
übrigens mit Abdruck eines quasi bei dem Herausgeber eingegangenen Briefs,
der die Neuberin zu verunglimpfen sucht, und des bekannten Briefs, worin die
Schweizer — Bodmer und Genossen — die Neuberin beglückwünschen, daß sie
mit Gottsched gebrochen habe.
Aus dem Gesammtinhalt der zwei Pamphlete sei noch Folgendes er¬
wähnt: An einer Stelle heißt es, die Neuberin sei in Braun schweig in Se.
Blasii-Kirchen kopuliret worden, an einer andern: Reuber solle gar nicht ihr
Mann sein, sie wolle einen Herrn Kahle heirathen, ihr Liebhaber Suppig
greife aber frei in ihre Kasse. Bestohlen werde dieselbe durch Reuber, der als
lang und gelblich geschildert wird, wie er auch den Kopf hängen lasse. Zur
Vervollständigung ihres beigefügten Bildes, das etwa der Kaiserin Katharina
gleicht, — ein guter Kupferstich von ihr ist noch im Kunsthandel — wird ge¬
sagt: sie habe nicht weit vom Munde eine Warze, schnüre ihre Brüste in die
Höhe und zähle dreiundfünfzig Jahre (sie war damals siebenundvierzig Jahre).
Den Schluß bildet ein Gedicht ans die Neuberin und Suppig.
Dieses ganze Machwerk, so kläglich es ist, hat doch in so fern Werth, als
es beweist, wie wenig selbst ihre Widersacher gegen die Nenberin etwas
Stichhaltiges aus ihrer langen Theaterlaufbahn vorzubringen wußten.
Uebrigens hat es offenbar geringe Verbreitung gefunden. Die vierzig Groschen
Prünumerativn mögen bei der Spekulation die Hauptsache gewesen sein.
Hier lasse ich zunächst die noch ungedruckten Neuberschen Briefe folgen:
Blankenburg, 19. Februar 1730.
Dero angenehmstes habe richtig erhalten und danke schönstens vor gehabte
gütige Vorsorge. Demselben soll auch zu völligem Antritt erhaltenen vor¬
nehmen Ehrenstelle von mir und meiner Frauen behöriger maßen Glück
wünsche», Iphigenia hoffe künftige Ostermesse im Stande zu haben, daß aber
auch der andere Theil vom Cid fertig werde, kommt anf dero Vorsorge an.
Wann das Stück so fortgesetzet wird, hoffe ich es soll unvergleichlich artig
werden; aber es siehet nur etwas langsam aus, doch kann mir leicht ein¬
bilden, daß nur bei aufgeräumten Stunden daran gearbeitet wird, doch bitte
so viel möglich den Herrn Uebersetzer dazu aufzumuntern. Hier hoffen wir
uoch ein paar Wochen zu verbleiben und unsere Stücke je länger je mehr
dadurch zu verbessern. Dero gütige Gewogenheit bitten wir uns ferner aus,
übrigens verharre nebst schönster Empfehlung von Herrn Koch und meiner
Frauen wie ich bin:c.
Den nächsten Brief hat Dcmzel mitgetheilt; er datirt ihn aus Blankenburg,
5. Februar 1730, während er in der Dresdner Abschrift als obigem Briefe folgend
vom 21. Februar 1730 datirt ist.
Folgt ein Merseburger Brief vom 20. Mai 1730.
Nach der üblichen Einleitung heißt es darin:
Da nunmehro der Tag erschienen, an welchem ich ohnfehlbar das Ende
der beiden Tragödien erhalten sollen, so wundre mich nicht unbillig warum
^ doch nicht gescheh mag. Mit meinen Augen habe gesehen, daß alles fertig
^se biß aufs Abschreiben. Bitte also die Güte vor mich zu haben und deshalb
6« beiden Orten eine Anfrage thun zu lassen. Es sollte mich doch dauern
und zwar billig wenn ich mit beyden Stücken bey der Nase herumgeführet
und alle angewandte Mühe umsonst wäre. Sauer wird nnr's nun ohnedem
schon gemacht. Die Feyertage gehen vollends hin daß man nicht schreiben
und austheilen kann, hernach wenn wir täglich agiren müssen so lasset es sich
nicht ohne Mühe doppelt arbeiten, nämlich was neues schreiben, lernen, ver¬
suchen und dergleichen und auch auf das Stücke denken, welches man den Tag
aufführen soll. Bitte also so sehr ich kann mir hierinnen behülflich zu seyn
und wie mich nebst meiner Frauen zu beharrlicher Gewogenheit bestens em¬
pfehle also verharre auch wie ich bin ?c.
Ein theilweise von Danzel mitgetheilter Hamburger Brief vom 8. Juli
1730 bestätigt endlich den Empfang der ersehnten Abschriften. Das nicht mit-
getheilte Stück des Briefes erwähnt des Herrn Hamuau, der „von unsern
Sachen kein Freund zu seyn" scheine. Nächstens sei Jubelfest wegen Krönung
der Kaiserin von Rußland. Des Residenten Haus solle illuminirt werden,
und Wein werde fließen, dazu bei der Oper Prolog von Herrn Hciamcm.
Folgt bei Danzel, mit der hiesigen Abschrift übereinstimmend, ein Brief
vom 17. September 1730 aus Hannover.
Der nächste, von ihm nicht abgedruckte, datirt vom 18. November 1730
aus Dresden. Es heißt darin:
Drey Wochen lang haben wir allhier Arbeit getrieben und noch so
ziemlichen Zuspruch dann und wann gehabt. Doch bleiben die hiesigen bey ihrer
Art und hören nur halb zu, daher gefällt ihnen auch Alles nur halb. Sonst
befinden wir uns Gottlob noch alle wohl und zählen alle Tage biß wir
unseren Auszug wieder antreten können. Mit Anfang aber der zweiten Advent-
Woche hoffen wir wieder in Leipzig zu seyn und guten Freunden daselbst
unsere Schuldigkeit zu bezeigen. Das Neueste dieser Zeit wovon man schon
in den Schiffbecker Zeitungen gelesen habe ich hierbey übersenden wollen :c.
Sonderlich solte ihnen von meiner Frauen viel schönes schreiben, allein
was soll ich schreiben? Sie haben ja alles was schön ist schon anderswo ge¬
lesen und darauff will ich mich dieses Mal berüffen und damit den gehabten
Vorsatz auch meiner Frauen Meinung ausdrücken, der ich mit der Bitte um
fernere Gewogenheit alle Zeit bin ?c.
Es folgt jetzt ein bereits von Danzel mitgetheilter Brief aus Nürnberg
vom 21. Juli 1731, worin bezüglich der Theater-Reform die Worte vorkommen:
da wir aber einmahl was Gutes angefangen haben, so will ich nicht davon
lassen, so lange ich noch 1 Groschen daran zu wenden habe.
Hieran schließt sich ein noch nicht gedruckter Brief Neubers aus Wolfen-
büttel vom 31. Oktober 1731.
„. . . Wir sind diesmal nicht zu Leipzig in der Michaelis-Messe gewesen.
Es war aber gleichwohl schon alles zu unserer Abreise dahin fertig . . folgt
eine Beschreibung der Geburtstagsfeier kaiserl. Majestät. Am 1. October
Abends Feuerwerk, davon der Kupferstich später. 2. October Huldigung.
Geheimrath v. München redet vom Rathhause herab, dabei der Herzog zu- .
gegen war. Schwur - Ceremonien. „War hübsch anzusehen." 3. October
Rathsherrn bei Hof zur Mittagstafel. Abends Braunschweig illuminirt. „Ein
sog. geiziger Patricius hat sein Haus nicht illuminirt. Sobald die Herrschaft
kam und das Haus war noch finster, so schrie der ganze Pöbel: dem Herzog
zu Ehren! und unter oftmaliger Wiederholung dieser Worte würfen sie alle
Fenster ein, die theils von gutem Glas und kostbar waren, würden auch das
ganze Haus gestürmet haben, wenn die durchlauchtige Herrschaft sie uicht be-
sänftiget. War schön anzusehen. Den 4. October war zu Mittag ein ge¬
bratener Ochse der mit Schöps-, Kälber-, Rinder- und Schweinebraten belegt
war, dem Volke preisgegeben. Abends kam die Reihe an uns. Da wir die
Glückwünsche auf der Bühne abzulegen hatten in Form eines Prologus, darauf
folgte Iphigenia. Die Zuschauer waren häufig, denn das war das erste Mal
daß man ein solches Stück in Braunschweig sah. Madame Müller mit ihrem
Bruder Friedrich Elensohu kamen von Hannover herüber und sahen uus zu.
Sie schienen böse zu seyn weil wir da waren und sind auch nicht zu uus
gekommen ungeachtet wir sie bitten lassen. — Dieser Tag war die einzige Ur-
sach daß wir die Leipziger Messe nicht besuchen kommen und Sr. Durchl.
meynten es wäre nur Einmal Huldigung. Den 5. October lief Wein ans dem
Schloßplatze und zwar von dem dort stehenden Löwen. Abends war ein
schöner Ball und damit der Schluß. Hernach sind folgende Wochen Soldaten
gemustert wordeu und täglich war Abends Komödie. Hierauf ging die Herr¬
schaft nach Blankenburg und wir sind hierher geschickt worden da wir täglich
die Herrschaften wieder erwarten, unterdessen aber das ziemlich wüste Komödieu-
haus wieder in guten Stand bringen lassen. Hierbei muß ich auch sagen daß
wir alle noch leben und gesund sind. Die Iphigenia ist wieder mit vier
Frauenspersonen besetzt . . . Daphnis und Chloe ist abgeschrieben und darf
nur noch einmahl durchgelesen werden, so kann ich es mit Dank zurück
geben?c."
Ein fernerer Neuberscher Brief vom 12. Juli 1732 folgt aus Hamburg:
E. H. nehmen nicht übel auf daß hiermit beschwerlich bin und kürzlich
sage oder schreibe daß wir alle hier noch leben, Komödien und Tragödien
spielen und noch so ziemlich Zuschauer haben. Die Mühe so zur Verbesserung
des Geschmacks angewendet scheint nicht gar vergebens zu seyn. Es finden
sich auch hier verschiedene bekehrte Herzen, Leute denen man es fast nicht zu¬
trauen können siud nunmehr Liebhaber der Poesie geworden und viele finden
an den ordentlich gesetzten Stücken ein gutes Belieben, davon der Sulla ein
Zeuge seyn kann. Die meisten Vornehmen sind nicht in Hamburg (hier ist
vornehm soviel als Naihsherr und dcsgl.) Etwas Adeliche sind hier und
die kommen fleißig . . . Herr Haamau befindet sich wohl, er ist bey uns
gewesen, hat aber niemals so viel Geduld ein Stück ganz anzusehen und an¬
zuhören :c.
Folgt wiederum von Reuber ein Brief aus Hamburg vom 6. Juli 1735:
Daß E. H. sich mit der Frau Professorin in vergnügten Wohlstande befinden
>mögen wünschen ich und meine Frau von Herzen, dabey wir denn auch unsern
wohlgemeynten Wunsch zum glücklich angetretenen Ehestande nicht weitläufig
doch aufrichtig abstatten. Es müsse ihnen lebenslang wohlgehen :c.
Diese sonderbare Verschiebung der Gratulation hinter die Wünsche für den
vergnügten Wohlstand des Herrn Professors und der Frau Professorin
scheint doch mit Danzels hoher Meinung von Nenbers Bildung nicht ganz
zu stimmen.
Am 23. März 1836 übersendet Reuber aus Hamburg im Auftrag seiner
Frau ein Buch, welches „rar und selten" sein soll.
Am 2. Mai 1836 überschickt er wieder im Auftrage der Fran „beygehende
Bogen Verse." Er klagt dann, daß die Fortsetzung des angefangenen Werks
dnrch „das niederträchtige Geld-Vermögen" aufgehalten werde. „Es kränkt
mich im Herzen wenn ich bedenke was E. H. sich unseretwegen für Mühe ge¬
geben und wenn ich dabey überlege, daß Sie nicht bald die Freude haben
sollen den Vorsatz aufgeführet zu scheu. Dies ist mein Ernst und keine
Schmeichelet), die man sonst in Briefen dieser Welt anwendet. E. H. sind viel
zu großmüthig wenn ich meine Herzens-Meynung nicht recht ausgedrückt habe;
ich aber bin glücklich wenn ich verstanden werde wie ich habe schreiben wollen.
Ich bitte mir Erlaubniß aus mich lebenslang zu nennen :c."
Der letzte Nenbersche Brief ist vom 24. December 1736 aus Straßbnrg
datirt und beginnt mit Dank für Gottscheds Glückwünsche zu dem der Neuber-
schen Truppe gewordenen Ruf an den Petersburger Hof. Es fehle aber noch
an Geld zur Reise. Jetzt befänden sie sich unter dem Schutz des Königs von
Frankreich. Es fehle ihnen nur an Tragödien. Vier Wochen agirten sie schon
mit gutem Beifall und zwar alle Tage, während die französischen Komödianten
nur dreimal die Woche spielten. „Straßburg hat zwei Komödien-Häuser, in
dem eiuen agiren wir, in dem andern auf dem Roßmarkt die Franzosen.
Beide können bei jetziger Jahreszeit warm gemacht werden. Wie oft wünsche
ich, daß ich dies Komödien-Hans in Leipzig haben möchte." Dann heißt es
über die Haltung des Publikums: „Es kamen viele Franzosen herein, die kein
Wort deutsch verstehen und sahen mit großer Aufmerksamkeit zu. Sowohl die
Husaren-Offiziers als auch andere französische Kriegsleute sind so höflich, daß
ich es nicht genug sagen kann und sehen unseren deutschen Offizieren hierin
gar nicht ähnlich. Der Lieutenant du Roy Herr Krolcms hat uns täglich vier
Maun Wache gegeben, die ungemein scharfe Ordre haben auf alle Betrunkene
oder Bediente oder andere die ein Geräusche machen wollen wohl Acht zu haben,
und selbige sogleich aus dem Komödien-Hause fortzuschaffen. Ingleichen darf
sich kein Mensch wer es sey, unterstehen bey dem Eingange sowohl wegen der
Bezahlung als auch wegen der Plätze Lärm oder geringste Unordnung zu
machen und wer sich einem Soldaten widersetzt der läuft Gefahr sogleich
niedergeschossen zu werden oder wenigstens in Arrest zu kommen. Das sieht
um anders aus als bei uns! und bey so guten Anstalten ist's nicht zu ver¬
kennen, daß die französischen Comödianten in gutem Stande sind."
Ich schließe mit dem zweiten der beiden Briefe der Nenberin, deren oben
schon Erwähnung gethan worden ist, von denen Danzel aber nur den kürzeren
mittheilte, den vom August 1734. Inzwischen hat Gottsched sich verlobt und
die Neubers davon benachrichtigt. Die Gratulation Johann Neubers bei Ge¬
legenheit der darauf im Sommer erfolgten Verheirathung wurde oben schou
wiedergegeben. Vorher schrieb aber schon die Nenberin selbst und zwar am
15. Februar 1735. Der Brief ist schon wegen seines Einganges interessant.
Wenn eine hübsche Komödiantin mit jeden: Gönner und Förderer in den Ver¬
dacht erotischer Beziehungen zu kommen pflegt, so ist dieser Verdacht anch der
Nenberin natürlich nicht erspart worden. Danzel gedenkt eines solchen, findet
aber die von Rost in Gang gebrachten Gerüchte durch den feierlichen und
unterthänigen Ton des von ihm — Danzel — mitgetheilten Briefes gründlich
widerlegt „wenigstens für diese frühere Zeit." Diese Einschränkung scheint
mir durch nichts motivirt. Die Neuberin hatte, als sie in solch respektvoller
Weise mit dem hochangesehenen Professor correspondirte, nahezu die Vierziger
erreicht, während er in der Mitte der Dreißiger stand, und da er um diese
Zeit sich mit der erst zweiundzwanzigjährigen, ebenso geistreichen wie anmuthi¬
gen Adelgunde Kulmus verband, so ist Danzels Vorbehalt ohne Zweifel
überflüssig.
Der Febraarbrief der Neuberin lautet wie folgt: E. H. lassen sich
mein langes Stillschweigen nicht befremden. Es hat von meiner Hochachtung
gegen Sie nicht das Geringste gemindert; im Gegentheil aber wohl das be¬
ständigste und verpflichtetste Andenken von Ihnen unverletzt beybehalten. Ich
ergetze mich vom Grunde der Seele an dero vollkommenen Vergnügen und
wünsche zu dero getroffenen schönen Wahl auch die längste Dauer von Allein,
was Ihnen werth ist. Es hat mir die Nachricht davon schon Herr May ge¬
schrieben; nun bin ich durch dero höchjtgeehrteste Zuschrift zum andern Male
damit erfreuet worden und versichre daß ich den geliebesten Theil von Ihnen
in dero vernünftigen und klugen Braut mit eben der Hochachtung verehre als
es die verbindlichste Schuldigkeit erfordert. Ich bewundre dero Wahl aus der
mir von Ihr gemachten Beschreibung und wünsche nichts mehr als daß ich
Gelegenheit haben möchte Ihr meine mündliche Verehrung an den Tag zu
legen —und derselben Bekanntschaft werthgeschützt zu sein. Ich bin nun ganz
außer Sorge um E. H. Ruhe und vollkommenes Vergnügen. Das verworrene
Schicksal muß sich doch einmal schämen und sich in seiner Vollkommenheit
zeigen. Es ist doch kaum geschickt, Ihnen so viel Gutes zu erweisen als Sie
würdigst verdienen. Gott gebe Ihnen Beiden das Gute was ich Ihnen aus
Grund des Herzens Mine und wünsche! Ich werde mir ein Theil Freude
davon zueignen, wenn alles Vergnügen seinen hohen Grad erreichen wird.
Nun sollte ich das weitläufigste Danksaguugs-Compliment abstatten für
dero an den Tag gelegte Ehre, die Sie meinem schlechten Fleiße angethan und
aus Müller's Comödien gänzlich weggeblieben sind; allein ich will nur kurz
sagen, daß ich mich dessen gegen alle vernünftigen Leute mit der größten Er¬
gebenheit gegen E. H. rühme. Ja ich habe sogar Gelegenheit gehabt an Jhro
hochfürstliche Durchlaucht dieses rnhmwürdigfte Verhalten zu entdecken, welche
es auch mit Ihrem gnädigsten Beifall beehrt und E. H. auch in andern Stücken
von derv Verdiensten in allen hohen Gnaden gedacht. Daß aber die andern
guten Freunde noch die Schauspiele von Müller's haben sehen wollen, das hat
wohl nicht anders seyn können. Sie wollten und mußten erst hören und
danach glauben. Zum Theil habe ich sie selbst um der Wahrheit willen ge¬
bethen, sie sollten Müllern doch sehen: denn ich mag von meinen Feinden auch
kein Vorurtheil haben oder die Unwahrheit zu seinem Schaden oder seiner
Schande von ihm wissen; und gleichwohl war mir Vieles zu wissen nöthig.
Also bitte ihnen dieses nicht so hoch anzurechnen. Ich hätte es mir selbst von
E. H. ausgebeten wenn mich nicht besondere Ursachen und dero Umstände
davon abgehalten hätten. Es ist aber besser, daß es nicht hat geschehen müssen;
sondern daß es so beyzulegen gewesen. Bleiben Sie nur immer aus den
schlechtem Comödien. Sie sollen dafür auch noch Ehre und Freude an mir
erleben! — Ey! es hat sich ein Haus gefunden, das ist vortrefflich! ich erfreue
mich der Mühe zu Ehren, die sich meine wahren Freunde damit gemacht haben
und arbeite Tag und Nacht an allem, was Sie wieder dafür ergehen foll.
Mein Mann der mehr vom Hänserbauen und Einreiben versteht, kennt das
Haus auch und es scheint doch daß er den Hang seines Herzens mehr nach
der Krone als dahin fallen ließ. Jedoch wird seine Ankunft wohl etwas
schließen, das ihm am Besten deucht. Ich bin nichts oder doch nicht viel nütze
bei solchen Sachen. Ich bin zu hup! und verderbe oft mit meiner Geschwin¬
digkeit mehr als man hernach gut machen kann. Mit einem Worte: zum Han¬
deln und Bauen habe ich weder Verstand noch Geduld genug. Noch zur Zeit
habe ich mir selbst noch wenig gut machen können; ich versichre aber, daß ich
bei dieser Gelegenheit, in allen Stücken, sie mögen Namen haben wie sie wollen
auf den rühmlichen und besten Nutzen der gestimmten d e utschen Gesellschaft
und ohne derselben etwas Gutes zu stiften, meinen eignen Vortheil nicht einmal
annehmen noch suchen werde, zumal da mir obgleich im schwachen Licht eine
Gelegenheit gezeiget wird, daß ich der Ehre werth geschätzt werden könnte,
etwas nützliches und rühmliches auszurichten. Leipzig und mein Vortheil
allein, soll nichts für mich seyn, wofern nicht auch eine feste Grundstufe für
die deutsche Gesellschaft mit kann gebauet werden. Vielleicht scheinet es jetzo
noch als eine Vermessenheit daß ich mich dazu verbinde und wer kann wissen
ob das Glück auch für mich aufbehalten ist es auszurichten, aber ich will doch
auch nichts haben wen« jenes nicht geschehen kann. Man muß zuweilen mit
einem kleinen Eigensinn geharnischt seyn. —
Ich mag wollen oder nicht ich muß noch einen Bogen ergreifen, denn ich
habe noch viel zu schreiben. Ich werde so oft von meinem Schreiben geruffen
daß ich auch die Wirkung davon an meiner unordentlichen Schrift bekennen
und erkennen muß. Jedoch ich will deßwegen ohne Sorgen bleiben, denn Sie
wissen meine Umstände und daß ich denselben zu viel nachgeben muß. Ich
muß mir zum Voraus bey Ihnen 24 Stunden bestellen, sobald ich die Ehre
wieder haben werde Sie zu sehen, denn die brauche ich richtig wenn ich fertig
werden soll mit dem was ich Ihnen Alles zu sagen habe. Ich möchte von
Verlangen sterben. Ich glaube es hat mich eine gewisse Art von Zauberei
umgeben, daß ich so anhaltend an Leipzig gedenke oder ich muß gar drein ver¬
liebt sein; ohngeachtet aller der bösen Stunden und alles Verlustes, denke ich
doch mit mehreren Vergnügen der guten und sonderlich derjenigen, die ich in
E. H. vernünftiger Gesellschaft und in dem Umgange mit den andern werthesten
Freunden zugebracht habe. Sie bleiben mir auch in meiner jetzigen schweren
Arbeit immer werth und erleichtern mir alle Mühe.
An den Herrn Mag. May habe ich geschrieben wie fleißig wir gearbeitet
haben; und an E. H. habe zu berichten, daß wir morgen mit großer Pracht
und Herrlichkeit auf dem großen Operntheater, Ihrem Fleiße zu Ehren, den
Cato vorstellen werden, unter lauter angezündeten Wachslichtern durch das ganze
Theater und der Musik von der ganzen herzoglichen Hofkapelle, welche sich
auch mit einer besondern Trauer- oder sanften Musik zwischen dem vierten und
fünften Aktus auf unser Ansuchen hören lassen, anch im übrigen, vor und
nach, die ganze Musik dem Stücke gemäß einrichten wird. Dieß ist also die
erste Ehre, die Dero Fleiße, auf solche Art hat geschehen können und ich habe
aus Hochachtung gegen deren gütiges Andenken dieses Stück dazu vorge¬
schlagen; damit meine herzliche Freude über die Früchte Dero Fleißes zuerst
Ihnen, hernach mir, gewidmet werden. Wir werden nichts ermangeln lassen
an allen mächtigen Zubehörungen und werden sowohl Herrn Calor's als Cä¬
sar's Gefolge in gehöriger Anzahl erscheinen lassen dazu durch den Herrn Ge-
nercil-Adjudanten die Soldaten schon bestellt und alle von ebner und gleicher
Länge nebst ihren Unteroffizieren ausgesucht werden. Ihre Köpfe und Füße
sollen so ordentlich und reyn geputzet seyn als ob sie an einem fremden Herrn
in ihrer größesten Reinlichkeit und Ordnung sollten verschenket werden. Ich
will recht groß thun! Es ist auch dem Fürsten von Bernburg zu Ehren dieses
große Comödien-Fest angestellet.
Ich werde schon wieder geruffen, daß die Post nicht länger warten wird.
E. H. werden gütigst verzeih» daß ich in der schlechtesten Schrift die jemals
gefunden worden Ihnen meine Ergebenheit bezeuget und mir erlauben daß
ich beständig seyn darf, was ich alle Zeit gewesen bin, nämlich !c. ?c.
Die erste Session des neuen Reichstages hat mit einem bedauernswerthen
Mißklang begonnen. Der anfänglichen Befriedigung über das ungewohnte
Schauspiel einer glänzenden Beschlußfähigkeit gleich in der ersten Sitzung ist
eine tiefe Verstimmung über den Mangel an Arbeitsstoff auf dem Fuße ge¬
folgt. Ein Gesetzentwurf über die Untersuchung von Seennfüllen, der während
der letzten Session in den Kommissionsberathungen gescheitert war, ein Patent¬
gesetzentwurf, der seiner Natur nach die Domäne einer kleinen Gemeinde von
Sachverständigen ist, endlich zwei Vorlagen betreffend die Verwaltung der
Einnahmen und Ausgaben des Reiches und betreffend die Einrichtung und die
Befugnisse des Rechnungshofes — das ist Alles, was im Laufe der ersten acht
Tage an Berathungsmaterial geboten wurde. Das, worauf es zunächst allein
ankommt, das Etatsgesetz, ruht bis jetzt im Schoße des Bundesrates, und
noch ist alle Welt im Unklaren darüber, welche Auskunftsmittel zur Deckung
des sogenannten Defizits von fünfundzwanzig Millionen derselbe ersinnen wird.
Unter diesen Umständen, hat der Reichstag vorgezogen, nachdem er seit seiner
Konstituirung zwei fast rein formelle Sitzungen gehalten, beinahe eine volle
Woche Ferien zu macheu. Mit welchen Exklamationen selbst die zahmsten
Parlamentarier diese seltsame Belohnung ihres Pflichteifers begrüßten, mag
diskreterweise verschwiegen werden. Aber nicht dieser unwillkommene Eindruck
auf die Volksvertreter und die daraus zu befürchtende Wirkung auf die Ent¬
wickelung unseres parlamentarischen Lebens allein ist das Bedauerliche an der
gegenwärtigen Geschäftslage; sie macht zugleich höchst zweifelhaft, ob es ge¬
lingen wird, die Berathung des Reichshaushaltsetats rechtzeitig, d. h. vor dem
1. April, zum Abschluß zu bringen. Man hat die Verlegung des Etatsjahrs-
anfangs vom 1. Januar auf den 1. April vorgenommen, um die Möglichkeit
der Einhaltung der verfassungsmäßigen Frist zur Vereinbarung des Etats
über allen Zweifel zu stellen. Jetzt hat es stark den Anschein, als sollte bei
der praktischen Durchführung dieser Neuerung zum ersten Male im Reich das
rechtzeitige Zustandekommen des Etats nicht gelingen.
Vergebens fragt man sich, wie die Reichsregierung einen solchen Fehler
begehen konnte. Die Entschuldigungen, welche der Präsident des Neichskanzler-
amts vorbrachte, waren überaus lahm und gar nicht stichhaltig. War es für
die betreffenden Kräfte infolge der durch die Aufstellung des Etats für das
erste Vierteljahr 1877 verursachten Mühe schlechterdings unmöglich, den neuen
Jahresetat früher, als es geschehen, zum Abschluß zu bringen, so mußte der
Reichstag später einberufen werden. Wenn Herr Hofmann dagegen einwendet,
der Reichstag selbst habe ja wiederholt den dringenden Wunsch ausgesprochen,
so frühzeitig wie möglich einberufen zu werden, so ist es schwer, solcher Argn-
mentationsweise gegenüber ernst zu bleiben. Allerdings wünscht der Reichstag
eine möglichst frühzeitige Berufung, aber um zu arbeiten, nicht um in Berlin
spazieren zu gehen. — Wie die Dinge jetzt liegen, wird man von großem
Glück sagen können, wenn die anfangs vermiedene Beschlußnnfähigkeit nicht
nunmehr bei der eigentlichen Aufnahme der Arbeiten sich einstellt.
Einen Anlauf zu einer sachlichen Debatte nahm der Reichstag bei der
ersten Berathung des Patentgesetzes. Der sächsische Hofrath Ackermann schien
nach seiner neulichen Metamorphose das Bedürfniß zu fühlen, sich als „Deutsch¬
konservativer" zu legitimiren; er feierte den vorliegenden Entwurf als den
Beginn einer grundsätzlichen Umkehr von der bisherigen Bahn der Wirthschafts¬
politik. Es war nicht schwer, ihm seine Illusion zu zerstören. Nicht minder
unglücklich war Herr v. Kardorf, der aufs neue fein Schutzzollsystem als
unfehlbares Mittel gegen alle sozialen Schmerzen anpries. Von dem Patent¬
wesen selbst, sowohl von der prinzipiellen Streitfrage seiner volkswirtschaftlichen
Nützlichkeit oder Schädlichkeit, wie von den zahlreichen Einzelkontroversen,
wurde möglichst wenig gesprochen; nur Richter (Hagen) trat als Gegner alles
Patentschutzes auf, steht aber darin fast ganz allein. Daß die starren Manchester¬
doktrinäre im Reichstage gewaltig zusammengeschmolzen sind, haben bereits
in der vorigen Legislaturperiode die Gesetze über den Marken- und den Muster¬
schutz gezeigt. Es ist kein Zweifel, daß das Patentgesetz in der gegenwärtigen
Session zu Stande kommt. Doch wird man gut thun, nicht allzu große
Hoffnungen darauf zu setzen. Seine wohlthätige Wirksamkeit kann naturgemäß
erst nach längerer Dauer empfunden werden; es ist nur ein Glied in der
Kette von Maßregeln, welche zur Hebung der Industrie in Anwendung ge-
bracht werden müssen; nur im Zusammenhange mit derselben wird es ganz
seine Schuldigkeit thun können.
Die Parteiformation des Reichstags hat in der letzten Woche an Klarheit
gewonnen. Der Versuch, in die geplante „große" Partei der „deutschen Kon¬
servativen" auch die deutsche Reichspartei hereinzuziehen, ist gescheitert; von
vorne herein konnte niemand annehmen, daß Männer wie Graf Bethusy-Huc,
Lucius u. s. w. in derselben Fraktion mit den Kleist-Retzow und Nathusius-
Ludom Platz nehmen würden. Hinterher wird denn auch von den Deutsch¬
konservativen in Abrede gestellt, daß mau an eine Verschmelzung beider
Fraktionen gedacht habe; man habe nur ein freundnachbarliches Verhältniß an¬
bahnen wollen. Es bleibt nun abzuwarten, wie die vierzig Mann starke
Partei der „deutschen Konservativen" sich zur Reichspolitik stellen wird. Wenn
die oben erwähnte Predigt von der prinzipiellen Umkehr nicht ein Privatver¬
vergnügen des Herrn Ackermann, sondern ein Ausfluß der Gesammtstimmung
der Fraktion war, so ist wenig Aussicht vorhanden, daß an ihr ein Bestandtheil
einer zuverlässigen Majorität gewonnen werde. Mit ehrlichen Konservativen
wird die größte Partei des Reichstags, die nationalliberale, in vielen Fragen
zusammengehen können, mit Reaktionären nimmermehr.
Mit dem letzten Tage der Woche hat die diesmalige Session des preußi¬
schen Landtages ihr Ende erreicht. Nach dem langweiligen Kulturkampflärm
hatte das Centrum der Welt zum Schluß eine kleine Ueberraschung zugedacht.
Im letzten Augenblicke der endlosen Etatsberathnng begann man plötzlich, von
Frieden und Versöhnung zu reden. Am Tag zuvor hatte Herr von Schorlemer
von den dunkeln Schatten gesprochen, welche der kirchenpolitische Kampf auf
das Verhältniß zwischen Volk und Dynastie geworfen haben soll. Man muß
gestehen, frappanter konnte der Kontrast nicht sein. Dennoch war die elegisch¬
patriotische Versöhnungsmahnnng nicht nen in der ultramontanen Rhetorik,
wenn sie much niemals mit solcher Prägnanz zur Anwendung gebracht wurde.
Der Zweck dieser Variation dünkt uns leicht zu errathen. Nach all deu
Maßlosigkeiten, mit welchen man die Masse der katholischen Bevölkerung auf¬
zureizen versucht hatte, wollte man jetzt dem Vorwurf begegnen, daß mau
immer nur Streit suche, niemals sich entgegenkommend zeige. „Seht da", so
wollte man vor dem Lande ausrufen, „trotz all deu Mißhandlungen, die wir
in deu letzten Wochen aufgedeckt haben , bieten wir doch die Hand zur Ver¬
söhnung. Auf die Gegner also alle Schuld, wenn der Friede nicht zurück¬
kehrt!" Daß im Abgeordnetenhause die angebliche Versöhnungshand,
statt in ihrer wahren Bedeutung gekennzeichnet zu werden, von einem hervor¬
ragenden Mitgliede der nationalliberalen Partei mit loyalster Wärme er¬
griffen wurde, wird das Centrum selbst uicht wenig überrascht haben. Virchow
hat für Lasters Handlungsweise den richtigen Ausdruck gefunden, indem er sie
als Sentimentalität bezeichnete. Die Kundgebung macht dem Herzen Lasters
alle Ehre, als Akt eines politischen Führers aber kann und darf sie nicht be¬
trachtet werden. Jeder Freund des Vaterlandes wünscht den kirchlichen Frieden,
aber unerläßliche Vorbedingung ist die Anerkennung der Souveränetät des
Staates durch die Kirche. Wenn die Koryphäen des Centrums diese Souve¬
ränetät wochenlang verhöhnen und schließlich eine Große zweiten Ranges in
beweglichen Worten von Versöhnung spricht, so ist das eine leere Redensart
und muß als solche behandelt werden.
Bon den Thaten des Landtages ist aus der letzte» Woche nicht viel mehr
Zu berichten. Die Berlin-Dresdener Bahn hat noch einmal die Situation be¬
herrscht. Mit schwacher Majorität ist die Vorlage im Abgeordnetenhause, mit
ziemlich beträchtlicher im Herrenhause angenommen werden. Es ist gesagt
worden, dies Resultat habe die Regierung lediglich dein Konflikte mit Sachsen
zu danken; viele prinzipielle Gegner des Gesetzes hätten sie hier nicht im Stich
lassen mögen. Wir wollen annehmen, daß dem nicht so ist. Seitdem jener
Streit vor dem Bundesrathe anhängig gemacht worden, durften für die Beur¬
theilung der Vorlage im Landtage lediglich die in der Sache selbst liegenden
Gesichtspunkte maßgebend sein. Unserer Ansicht nach spitzte sich die Frage, ob-
schon hervorragende Befürworter des Reichseisenbahnprojekts wie Laster und
Löwe gegen den Entwurf gestimmt haben, auf die Alternative zu, ob Reichs¬
bahnen oder nicht. Hauptsächlich aus diesen: Grnnde wäre es hoch bedauer¬
lich gewesen, wenn der Landtag diesmal einen den vorjährigen paralysirenden
Beschluß gefaßt hätte.
Mit gehobenem Herzen wird schwerlich Jemand auf die abgelaufene
Session zurückblicken. Das Beste, was sie hätte liefern können, die Gesetze
über die Unterbringung verwahrloster Kinder und über die Befähigung zum
höheren Verwaltungsdienst, ist unerledigt geblieben. Ju der die ganze Session
beherrschenden Etatsberathung sind die wirklich sachlichen und ersprießlichen
Anregungen durch den Alles überwuchernden Kulturkampf aufs traurigste ver¬
kümmert worden. Ueber das, was der neu gewählte Landtag in großen Dingen
zu leisten im Stande ist, hat sich keinerlei Urtheil gewinnen lassen. Er wird
also seine Probe erst im nächsten Herbst, wo die umfassendsten Organisations¬
fra
Die Lage Straßburgs zwischen Rhein und Ill, nicht fern vom Ausfluß
der Kinzig, ließ dessen Bewohner frühzeitig an die Benutzung dieser Wasserwege
denken, und es ist glaublich, daß Schiffer von hier zuerst den Rhein zu einer
Handelsstraße gemacht haben, indem sie ihn aus einem großartigen Wildwasser,
ähnlich deu Ströme» im fernen Westen Amerikas, in einen den Schiffen nicht
mehr gefährlichen Fluß verwandeltem Daß der Beginn der Schifffahrt auf
demselben auf die Straßburger zurückzuführen ist, entspricht den natürlichen
Verhältnissen; denn der Handelszug bewegte sich im Mittelalter rheinabwärts,
und der Fluß war erst von Straßburg ans für die aus Italien, Südfrank¬
reich und der Schweiz kommenden Waaren zu benutzen. Einen beträchtlichen
Aufschwung nahm die Schifffahrt, als sich der Welthandel nach den Nieder¬
landen zog und in Brügge und Antwerpen die Kaufleute aller Länder zu¬
sammentrafen. Aber schon unter Karl dem Großen dehnte sie sich bis an die
Mündungen des Rheins und der Scheide aus. Sehr alt ist auch die vom
Titel unsrer Schrift genannte Zunft, die zu den vornehmsten der alten Ge-
werbsgenossenschaften der Stadt gehörte. Sie war schon 1331 eine selbständige
Gesellschaft und faßte 1350 ihre Statuten ab, deren Originalexemplar bis 1870
vorhanden war, wo es mit dem Brande der Stadtbibliothek zu Grunde ging;
erst 1789 verschwand sie wie die andern Zünfte mit der Verfassung der Stadt,
obschon das Gewerbe der Rheiuschiffer in stets sich vermindernden Umfange bis
in die Zeit der Eisenbahnen und Dampfboote fortbestanden hat. Der Verfasser
schildert nun nach einem Blick anf die Rheinschifffahrt in den frühesten Zeiten
zunächst das Straßburger Zunftwesen im Allgemeinen und die Schifferzunft im
Besonderen. Wir bekommen ein Bild ihrer Organisation in den Jahren 1350,
1446, 1717 und 1752 und einen Ueberblick über ihre Spiele und Turniere
sowie über ihre äußeren Beziehungen, und schließlich folgen eine Anzahl alter
Dokumente, die sich auf die Geschichte derselben beziehen.
Zschokke gehört mit Wilibald Alexis und Spindler zu unsern besten No¬
vellisten und Romanschriftstellern, er wird noch eine gute Weile fortleben und
gelesen werden, wenn alles, was in dem letzten Vierteljahrhundert von dieser
Art Literatur auf den Markt kam und Mode wurde, der Literaturgeschichte
und — dem Makulaturlager anheimgefallen sein wird. Wir sagen: alles, und
wir nehmen nichts davon aus, auf die Gefahr hin, für Verächter von dichterischen
Kräften ersten Ranges angesehen zu werden. Insofern aber begrüßen wir dieses
Unternehmen als sachgemäß und dankenswerth, zumal es dem wohlfeilen Preise
entsprechend ausgestattet ist.
Die Schrift bildet den vierten Band der „Jugendbibliothek des griechischen
und deutschen Alterthums" und ist in derselben Weise gehalten wie die eben¬
falls in diesem Sammelwerke erschienenen Darstellungen des Zugs der zehn¬
tausend Griechen von Persien nach dem Schwarzen Meer und die Biographie
Alexanders des Großen. Die Hauptquelle ist selbstverständlich Herodot, doch
haben auch die bedeutenderen modernen Werke über die alte griechische Ge¬
schichte gebührende Berücksichtigung erfahren. Der Verfasser weiß lebhaft zu
schildern und zu beschreiben und fesselnd und wohlgeordnet zu erzählen, und
so können wir das kleine Buch nach allen Seiten hin bestens empfehlen.
Das Buch zerfällt in neun Abschnitte, von denen der erste sich mit dem
Witz im Allgemeinen beschäftigt, die nächsten sieben die verschiedenen Formen
desselben, das Wortspiel, den Klangwitz, das Sinnwortspiel, die Antithese,
die Allegorie, die Parodie und deu witzigen Unsinn behandeln und der letzte
den Humor bespricht. Die Behandlung dieser Themata, welche beiläufig das
Gebiet des Witzes nicht erschöpfen, da es zum Beispiel auch Räthsel und apo-
logische Sprichwörter gibt, die hierher gehören, zeigt, daß der Verfasser allerlei
über seinen Gegenstand gelesen und sich daneben selbst bemüht hat, das Wesen
des Witzes und Humors zu ergründen und treffend zu definiren, Ist dabei
manche gute Bemerkung herausgekommen, so können wir doch nicht sagen, daß
die Sache durch das Buch wesentlich gefördert worden wäre, und namentlich
ist es dem Verfasser mit dem Humor nicht besser ergangen als denen, die vor
ihm sich mit der Physiologie dieses rnthselhafteu und doch so gerne gesehenen
Gastes bemühten. Wir sind durch die Schrift nicht klüger über sein eigent¬
liches Wesen geworden. Unter den Beispielen, mit denen Herr Löwenstein seine
Betrachtungen belegt, befindet sich (vorzüglich unter den versificirten) eine gute
Anzahl uns bisher unbekannter Sachen, die wohl vom Verfasser selbst geleistet
sind. Wir hätten bessere gewußt.
Nach längerer Unterbrechung ist die Fortsetzung dieses Liefernngswerkes
wieder aufgenommen worden. Die Uebersetzung ist gut und fließend. Der
Lebenslauf des Kaisers, mit dein sich dieses Heft beschäftigt, wird durch eine
lange Reihe glorreicher Erfolge gegen auswärtige Feinde, vorzüglich Italien,
bezeichnet. Aber auch im Innern wurde seine Kraft durch aufständische Va¬
sallen, unter denen der Herzog Ernst von Schwaben hervorrragte, wiederholt
in Anspruch genommen. Indes siegte der Kaiser auch hier, und das Reich
stand unter ihm fast so mächtig da wie unter Karl dem Großen. Die Ver-
lagshandlung hat, wie wir hören, Schritte gethan, diesem neuen Hefte, mit
welchem das elfte Jahrhundert abschließt, bald weitere folgen zu lassen und
das große Werk in möglichst kurzer Zeit seiner Vollendung entgegenzuführen.
Die folgenden Lieferungen werden zunächst noch einige Lücken in den früheren
Jahrhunderten auszufüllen haben, dann aber findet mit den Geschichtschreibern
des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts das Ganze seinen Abschluß.
Die hier wieder abgedruckte kleine Schrift stammt aus der Zeit unmittelbar
nach Abschluß des für einen Theil der deutschen Fürsten so überaus schmach-
vollen Rheinbundes. Sie beleuchtete, von einigen Irrthümern und Ueber¬
treibungen abgesehen, mit gutem Verständniß der Dinge die damalige Lage
Deutschlands mit grellem Lichte, trat mit seltner Kühnheit gegen die Fremd¬
herrschaft auf und tadelte das Verhalten der französischen Truppen in Baiern
auf das Härteste. Namentlich aber gab sie die Fürsten, die sich zu Dienern
Napoleons erniedrigt, mit kräftigen Worten der Verachtung Preis. Als der
nürnberger Buchhändler Palm, angeklagt, sie verbreitet zu haben, in Braunau
erschossen worden war, wirkte sie geradezu wie ein europäisches Ereigniß.
Ihr Verfasser sollte Graf Julius v. Soden sein, doch steht das nicht fest. Wir
empfehlen das kleine Buch als ein Denkmal aus einer Zeit, an deren Wieder¬
kehr seit Errichtung des deutschen Reichs nicht mehr zu denken ist, und als eine
Mahnung, dasselbe nach Kräften stärken zu helfen.
Wir hatten den Aufsatz „Doktor Faust und Fausts Höllenzwang" bereits
in die Druckerei gesandt, als uns das oben bezeichnete interessante Buch
in die Hände kam, über das wir uns nun Bericht zu erstatten beeilen, indem
wir zunächst einen ausführlichen Auszug aus der Einleitung des verdienten
Herausgebers, dann eine Analyse des Stückes selbst mittheilen.
Gotthvld Ephraim Lessing — kein Geringerer nämlich als dieser ist es,
von dem die Rede ist — hatte auch die Faustsage dramatisch bearbeitet und
Zwar nach zwei verschiedenen Plänen, von denen der eine sich an die von uns
in voriger Nummer abgekürzt erzählte Lebensgeschichte halten, der andere, von
aller Teufelei absehend, sich mehr dem bürgerlichen Trauerspiel nähern sollte.
Die Anregung hierzu scheint der Dichter durch die Vorstellungen der Schuchschen
Schauspielergesellschaft erhalten zu haben, welche 1753 zu Berlin das alte
Volksdrama „Doktor Johann Faust" aufführte, und mit der Lessing Ver¬
bindungen unterhielt. Daß derselbe sich bereits zu Anfang des Jahres 1755
mit diesem Plane trug, geht aus einem Briefe Moses Mendelssohns an ihn her¬
vor. Drei Jahre später erwähnt Lessing seinen „Doktor Faust" in einem
Briefe an Gleim, nach welchem das Stück bereits fertig und der Aufführung
in Berlin nahe gewesen zu sein scheint. 1759 brachte der siebzehnte Literatur¬
brief eine Faustscene, die als Probe aus Lessings Drama angesehen wurde,
aber dem erwähnten alten Volksschauspiele entnommen und nachgebildet ist,
und durch die wohl nur die Aufmerksamkeit des Publikums auf jenes hinge¬
lenkt werden und ein Beispiel für die Behauptung geliefert werden sollte,
daß gewisse deutsche Volksdrnmeu Stellen aufzuweisen hätten, die „nur ein
Shakespearesches Genie zu denken vermögend gewesen."
Dafür, daß Lessing sein Projekt nicht fallen ließ, vielmehr an der Durch¬
führung beider Pläne fortarbeitete, führt Herr Engel eine Anzahl Beweise
aus Briefen und Aeußerungen von Bekannten des Dichters an. Einem Freunde
in Breslau zeigte er zwölf Bogen des Manuskriptes. In Danzels Biographie
Lessings findet sich ein Brief des Staatsraths v. Gehler in Wien an Nicolai
in Berlin, der vom 9. Dezember 1775 datirt ist, und in welchem jener sagt:
„Ich wünsche, daß Ew. Hochedelgeboren Hoffnung wegen der Erscheinung des
Lessingschen „Faust" zutreffen möge. Mir hat unser großer, aber gegen das
Publikum zu wenig freigebiger Freund auf mein Befragen mündlich vertraut,
daß er das Sujet zweimal bearbeitet habe, einmal nach der gemeinen Fabel,
dann wiederum ohne alle Teufelei, wo ein Erzbösewicht gegen einen Un¬
schuldigen die Rolle des schwarzen Verführers vertritt. Beide Ausarbeitungen
erwarten nur die letzte Hand." Nach seiner zweiten Ankunft in Hamburg
scheint der Dichter sich mit besonderem Eifer an die Feilung seines Stückes
gemacht zu habe», und wenn er mit der Herausgabe zögerte, so war wohl
nur das die Ursache, daß er das Erscheinen der übrigen damals angekündigten
Fauste (von Goethe, Lenz, Maler Müller und Schink) abwarten wollte.
Doch auch in Hamburg blieb der Faust Lessings wieder liegen, und
als letzterer die Stelle des Bibliothekars in Wolfenbüttel erhielt, nahm ihn
eine ausgebreitete gelehrte Thätigkeit fo vollständig in Anspruch, daß er an
das Theater nicht denken konnte. Nun aber machte er in Begleitung eines
Prinzen von Braunschweig im Jahre 1775 eine Reise nach Italien, und bei
dieser Gelegenheit ging ihm während der leipziger Ostermesse eine Kiste ver¬
loren, die er von Wolfenbüttel nach einer Mittheilung des Hauptmanns
v. Blankenburg aus dem Jahre 1784 bis Dresden, nach Lessings Bruder aber
bis Wien mitgenommen und von dort zurückgeschickt hatte, und in welcher sich
unter andern werthvollen Manuskripten, einer Anzahl neuer Fabeln und einer
fast vollendeten Abhandlung über die Herstellung eines deutsche» Wörterbuches,
auch die beiden Faustdramen befunden zu haben scheinen, v. Blankenburg be¬
hauptet dies mit Bestimmtheit und gibt dann einige Andeutungen über den
Gang des einen Stückes. Es begann nach ihm mit einer Zusammenkunft
höllischer Geister, bei welcher die Unterteufel ihrem Obersten Rechenschaft von
ihrem Thun aus Erden ablegten. Der letzte derselben berichtete, daß er wenigstens
einen Mann gefunden, dem gar nicht beizukommen sei, da er gar keine Leiden¬
schaft oder Schwäche, sondern nur einen unauslöschlichen Durst nach Kenntniß
und Wissen habe. Ha! ruft der Teufel aus, dann ist er mein und sicherer
mein als bei jeder andern Leidenschaft. Nun erhält Mephistopheles den Auf¬
trag, denselben zu fangen, und Anweisung, wie er dabei zu verfahren habe,
und in den folgenden Alten beginnt er sein Werk und vollendet es dem An-
schein nach anch. Wenigstens glauben die Teufel ihre Arbeit vollbracht zu
haben. Sie stimmen im fünften Akte Triumphlieder an. Da aber unterbricht
sie ein Engel und ruft ihnen zu: Triumphirt nicht, ihr habt nicht über
Menschheit und Wissenschaft gesiegt. Die Gottheit ha-t dem Menschen nicht
den edelsten der Triebe gegeben, um ihn ewig unglücklich zu machen. Was ihr
sahet und jetzt zu besitzen glaubt, war nichts als ein Phantom.
So weit v. Blankenburg nach seiner Erinnerung. Genaueres konnte der
Bruder des Dichters 1786 im zweiten Theile des „Theatralischen Nachlasses"
nach Mittheilungen des berliner Professors Engel veröffentlichen, der sogar
die erste Scene des Stückes aus dem Gedächtniß wiedergab, so gut er's ver¬
mochte. Der erste der Unterteufel, der hier über seine Leistungen berichtet,
hat einem frommen Armen die Hütte über dem Kopfe verbrannt, der zweite
eine Flotte mit Wucherern scheitern lassen, der dritte eine noch unberührte
Schönheit auf dem Weg der Verführung gebracht. Der Meister ist mit ihnen
allen bis auf den dritten unzufrieden. Aber dieser wird vom vierten, der auf
den wahrheitsdurstigen Faust hinweist und zeigt, wie vortheilhaft für die Hölle
es sein würde, wenn man Gott diesen Liebling rauben und verhindern könnte,
daß er ein Lehrer der Menschheit würde, weit überboten. Der Satan be¬
schließt, Faust bei seiner Wißbegierde zu fassen, er bricht zu diesem Zwecke
mit der ganzen Versammlung ans und ist bei den Hilfsmitteln, die ihm
seine Macht und Lift an die Hand geben, des Erfolges völlig sicher. Aber
der Engel der Vorsehung, der unsichtbar über der Kirchenruine geschwebt hat,
in der die Teufel ihren Konvent hielten, verkündet uns im voraus die Frucht¬
losigkeit des Unternehmens. Im weiteren Verlauf versenkt der Engel Faust
in einen tiefen Schlaf und erschafft an seiner Stelle ein Phantom, mit welchem
die Teufel dann ihr Spiel treiben, bis es in dem Augenblicke, wo sie sich seiner
versichern wollen, verschwindet. Alles, was mit diesem Scheinsaust vorgeht,
ist Traumgesicht für den wirklichen, dieser erwacht, als die bösen Geister sich
bereits voll Scham und Wuth entfernt haben, dankt der Vorsehung für die
ihm ertheilte Warnung und ist jetzt fester in der Wahrheit und Tugend als
je vorher.
Endlich befindet sich in der königlichen Bibliothek zu Berlin der Entwurf
zu diesem Faust von Lessings Hand selbst, der aus dem Nachlasse v. Meuse-
bachs stammt und in Betreff des Inhalts seines Vorspieles den Angaben
Engels ähnelt. Wir sind in der Mitternachtsstunde in einem alten Dom, auf
dessen Altären die versammelten Teufel sitzen. Beelzebub verhört mehrere von
ihm ausgesandte Untergebene über ihre Verrichtungen. Einer hat eine Stadt
in Brand gesteckt, ein anderer eine ganze Flotte im Sturm begraben, ein dritter
rühmt sich, einen Heiligen zum Trunke und in der Trunkenheit zu Ehebruch
und Mord verführt zu haben. Dies gibt Gelegenheit, von Faust zu sprechen,
der nicht so leicht zu verführen sein möchte. Aber jener dritte Teufel macht
sich anheischig, ihn binnen vierundzwanzig Stunden der Hölle zu überliefern.
Jetzt, sagt der eine der bösen Geister, sitzt er noch bei der nächtlichen Lampe
und forscht in den Tiefen der Wahrheit. Zuviel Wißbegierde ist ein Fehler,
und aus einem Fehler können alle Laster entspringen, wenn man ihm zu sehr
nachhängt. Nach diesem Satze entwirft der Teufel, der Faust verführen will,
seinen Plan. Im ersten Auftritt des ersten Akts schlägt Faust sich vor seiner
Studirlampe mit verschiedenen Zweifeln der Scholastik herum. Dabei erinnert
er sich, daß ein Gelehrter den Teufel citirt haben soll, um von ihm Aufschluß
über die Entelechie des Aristoteles zu erhalten. Auch er hat das schon oft,
aber stets vergeblich versucht. Er versucht es jetzt uoch einmal, und siehe da,
es gelingt diesmal. Ein Geist, der einen langen Bart trägt und in einen
Mantel gehüllt ist, steigt aus dem Boden. Derselbe stellt sich zuerst, als ob
er, eben aus tiefem Schlummer erwacht, sich besinnen müsse, wo er einst auf
Erden gewesen, und will schließlich Aristoteles selbst sein. In Wahrheit aber
ist er der Teufel, der Faust zu verführen unternommen hat. Er „antwortet
auf die spitzigsten Fragen. Doch, sagt er endlich, ich bin es müde, meinen
Verstand in die vorigen Schranken zurückzuzwingen. Von allem, was Du
mich fragst, mag ich nicht länger reden als ein Mensch und kann nicht mit
Dir reden als ein Geist. Entlaß mich, ich fühl' es, daß ich wieder ent¬
schlummere." Vom dritten und vierten Auftritt enthält dieser Entwurf nur
ein paar Zeilen, in denen Faust einen Dämon beschwört, welcher mit den
Worten erscheint: „Wer ist der Mächtige, dessen Ruf ich gehorchen muß? Du?
Ein Sterblicher? Wer lehrte Dich diese gewaltigen Worte?"
Das ist alles, was wir von dieser Bearbeitung der Faustsage durch Lessing
wissen. Von seinem zweiten Faust war bisher aber fast nichts bekannt, als
daß er existirt und daß er „ohne alle Teufelei" gewesen. Daß er gar keinen
Mephistopheles gehabt, ist daraus nicht wohl zu schließen; denn ohne den wäre
er eben kein Faust gewesen. Der Ausdruck in dem Briefe v. Geblers „ohne
alle Teufelei" hatte, wie der Herausgeber unsrer Schrift vermuthet, und wie
anch uns plausibel erscheint, nur die Bedeutung, daß diese zweite Bearbeitung
im Gegensatze zur ersten von allen Teufels - Spektakelscenen absehen, in der
Behandlung des Stoffes von der bisherigen Weise vollständig abweichen und
mehr das Ansehen eines bürgerlichen Trauerspiels erhalten sollte. Sonst blieb
es über diesen Lessingschen Faust ganz still und dunkel, und wenn ein un¬
bestimmtes Gerücht spukte, derselbe sei anonym erschienen, so war es eben nur
Gerücht, über welches nichts weiter an die Oeffentlichkeit kam.
Hundert Jahre waren seit dem Verluste der Lessingschen Bücherkiste ver¬
flösse«, als das „Wiener Jllustrirte Musik- und Theaterjonrnal" im Oktober
1875 einen Aufsatz von A. Roueourt brachte, welcher „Eine Spur von Lessings
Faust" überschrieben war, und in welchem es u. A. hieß:
„Vor Kurzem machte mir mein geehrter Freund, Herr Ernst Theodor
Kretschmar, die überraschende Mittheilung, daß er in einem alten Theater¬
kalender ans Lessings Faust gestoßen sei, der in einem Städtchen an der Donau
um das Jahr 1779 herum aufgeführt worden wäre. Nach beiderseitig an¬
gestellten Suchen in dem alten Werke fand ich in der That die berührte Stelle.
Der von Reichard herausgegebene „Theaterkalender auf das Jahr 1779"
(Gotha bei C. W. Etlinger) enthält in dem „Verzeichniß einiger in- und aus¬
ländischen Theatergesellschaften" mehrere Daten über die After- und Jlgnersche
Gesellschaft, deren Aufenthalt sich damals ans Neuburg an der Donau, Weißen¬
burg im Nordgau, Nördlingen und Oettingen im Rieß und Dinkelsbühl er¬
streckte. In dem angeführten Personalverzeichnisse nun erscheint als Debütant
Herr Waldherr mit Mephistophiles in Lessings Faust. Herr
Waldherr muß nicht gefallen haben; denn er verließ die Gesellschaft noch im
selben Jahre. Ueber letztere wird in demselben Buche auf Seite 108 Folgendes
angeführt: Die Ambergsche Gesellschaft, die in Pommern herumzog, wurde zu
Stralsund, als sie sich nicht mehr halten konnte, von einer Entreprise über¬
nommen, die aber 1776 zu Grunde ging, worauf die Gesellschaft sich trennte.
Reymann begab sich mit dem Reste nach Rostock und vereinigte sich dort mit
der Jlgnerschen Gesellschaft, die im Juli 1777 nach Stralsund kam, sich aber
daselbst durch den Abgang ihrer besten Mitglieder verschlimmerte und sich gegen¬
wärtig in den kleinen Städten Mecklenburgs herumtreibt. Auf Seite 160
endlich befindet sich unter dem „Verzeichniß der vom Jahre 1770 an im Druck
erschienenen deutschen Schauspiele und anderer theatralischer Arbeiten" ein alle¬
gorisches Drama „Johann Faust", München 1775, angeführt. Bei der an¬
erkannten Gründlichkeit des Reinhartschen Theaterkalenders glaubten wir unsere
Beobachtungen um so eher einem weiteren Kreise mittheilen zu sollen, als
unseres Wissens dieselben bisher in keinem andern Werke konstatirt wurden,
und weil sie vielleicht berufenere literarische Kräfte zu einer weitern Forschung
nach dem theuer» Schatze veranlassen können."
Herr Engel hat sich nun lange Zeit vergebens bemüht, diesen Johann Faust,
in welchem der zweite Lessingsche vermuthet wird, zu erlangen, endlich aber, als
er schon alle Hoffnung aufgegeben, ein Exemplar des seltenen Buches, wie er glaubt,
gefunden, und zwar bei einer Auktion in Leipzig, wo er es erwarb, als Dorer-
Egloffs Bibliothek versteigert wurde. Er sieht es für ein Unikum an, und
so übergibt er es hier der Oeffentlichkeit, „es für heilige Pflicht haltend, dnrch
die Herausgabe desselben der weiteren Forschung zu Hülfe zu kommen." Daß
nur in ihm die zweite Bearbeitung Lessings (aller Wahrscheinlichkeit zufolge von
andrer Hand stark verändert) suchen müssen, scheint nicht gut zu bezweifeln;
denn von den oben angeführten Fragmenten, die zu der andern Bearbeitung
gehören, findet sich hier nichts, das Drama hat ferner den Habitus eines
„bürgerlichen Trauerspiels", wie Mendelssohn dasselbe 1755 bezeichnete, endlich
ist es außer der Schlußscene „ohne alle Teufelei", wie v. Gehler sich ausdrückt.
Wir heben mit dein Herausgeber noch hervor, daß der Name des bösen Geistes,
der Faust verführen will, hier zum ersten Male Mephistopheles geschrieben ist,
während er, wie unser Artikel in voriger Nummer zeigte, im ältesten Volks¬
küche Mephostophiles und bei dem Engländer Marlowe Mephistophiles heißt.
Die zuerst erwähnte Schreibart wurde also nicht durch Goethe, sondern durch
Lessing eittgeführt.
Es fragt sich nun, wie es verborgen bleiben konnte, daß Lessings „Johann
Faust" anonym gedruckt worden war, ohne daß der Dichter Kenntniß davon
erhalten hatte. Hier ist Nun erstens, wie Herr Engel meint, möglich, daß nnr
sehr wenige Exemplare gedruckt worden sind, und dann ist zu berücksichtigen,
daß der dermalige PostVerkehr das Werk viel langsamer verbreitete, als heut¬
zutage Bücher vertrieben werden. Auch konnte Lessings baldiger Tod und
das Erscheine» von Goethes Faust Ursache sein, daß das anonyme Büchlein
rasch der Vergessenheit anheimfiel. Nicht wohl zu glauben ist die Vermuthung
des Herausgebers unseres Stückes, daß „Lessing vielleicht selbst seinen zweiten
Faust anonym herausgegeben und dessen Existenz strenge verschwiegen habe."
Dagegen leuchtet es wohl mehr ein, wenn wir meinen, das Buch sei anonym
erschienen, weil das Manuskript gestohlen und dankt theilweise verändert worden,
und die Anonymität sei Ursache gewesen, daß es wenig betrachtet worden und
schnell vom Markte verschwunden sei.
Daß hinter dem Anonymus kein gewöhnliches Talent sich verbirgt, leuchtet
bei der Lektüre dieses Faust sogleich ein, wenn man über die ziemlich trivialen
Scenen im erstell Akt hinaus ist, wo Wagner als Kammerdiener auftritt, und
wo wir auf keinen Fall Lessing, sondern einen Ueberarbeiter des Lesstngschen
Stückes vor Uns haben, und mehrere Stellen enthalten hohe Schönheiten, wenn
uns auch das Ganze etwas schleppend und kalt vorkommt.
Der Titel lautet: „Johann Faust, ein allegorisches Drama von
fünf Aufzügen. Mit Genehmhaltung des churfürstlichen Bücherccnsurcol-
leginms. MüncheU 1775. Verlegts Johann Nepomuk Fritz. Ehurfürstl.
akadem. und bürgerlicher Buchhändler."
Wir kommen nun zum Inhalte des Stückes. Die Handlung fängt mit
dem frühen Morgen an, schließt mit der Mitternacht und geht in allen fünf
Aufzügen im Paläste Fausts vor sich. Zuerst tritt dessen Kammerdiener
Wagner mit einer Jägerbaude auf, welche dem noch schlafenden Faust ein
Morgenständchen bringen. Wagner wundert sich, daß Faust noch nicht aufge¬
standen ist, da er auf die Jagd gewollt. Dann hört er drinnen reden, und als
er die Stimme Jthuriels, des jungen Freundes seines Herrn, in welchem sich
dessen guter Engel verbirgt, zu erkennen glaubt, ärgert er sich, tröstet sich aber
damit, daß die Sache bald ein Ende haben werde, da die Komödie ihrem
Schlüsse zueile. Im zweiten Auftritt erscheinen Theodor und Elisabeth, Fausts
alte Eltern, um ihren Sohn zu besuchen. Wagner aber sagt ihnen, der wohne
nicht hier, sondern ziehe als Taschenspieler im Lande herum, und sie entfernen
sich. Nach ihnen tritt Donnerschlag, ein polternder und fluchender Offizier auf,
der gelähmt ist, dies den Hexenkünsten einer rachsüchtigen Geliebten zuschreibt
und von Faust geheilt sein will. Wagner meint, ihm sei vielleicht noch zu
helfen, wenn er sich entschließe, in seinem Leben nicht mehr zu zürnen, dann
einen Monat kein Wort zu sprechen und endlich das Bad zu brauchen. Der
vierte Auftritt führt zunächst den gekrönten Poeten Spuraus auf die Bühne,
der auf seine Braut, eine alte Jungfer, eifersüchtig ist und unsichtbar gemacht
werden will, um seine Emilie täglich behorchen zu können. Wagner will sich
die Sache überlegen und sagt: „Wir haben jetzt einige Regimenter Soldaten
über dem Hals, die sich alle auf der Grenze unsichtbar machen wollen. So¬
bald dies geschehen sein wird, so wird man an Sie denken." Dann kommt
Emilie selbst und will wissen, ob die Prophezeiung, nach welcher sie ein ge¬
kröntes Haupt heirathen soll, eintreffen wird, und Wagner erklärt ihr, sie
brauche zu diesem Zwecke nur ihren Spurans zum Manne zu nehmen, der
ja gekrönter Dichter sei. Die Komik dieser Scenen ist schal und matt. Im
sechsten Auftritt erscheint dann Faust, sich schwermüthig ans den Arm Jthuriels
stützend. Er gesteht dem Freunde seine Unruhe und seinen Kummer und sagt ihm
zugleich, daß, seit er bei ihm sei, ein anderes Wesen sich in ihm rege. „Sieh
her, Jthuriel, der ermüdete Sklave der Lüste keucht uach Ruhe und findet sie
nicht. Ich habe alle Laster durchgeschwelgt. Von Schandthat zu Schandthat
bin ich getaumelt, aber seit Du bei mir bist, ändert sich meine Natur. Um¬
sonst winkt mir der purpurne Saft der Weintraube, umsonst die kostbarste
Tafel, mein Gaumen ist unfühlbar; umsonst lächelt mich die Schönheit an, ich
bleibe unempfindlich und trüge im Besitz aller Wollüste wie Cäsar; ist dies
alles? Sprich, Freund, warum seufzt der Mensch bei allem irdischen Glücke?"
Jthuriel erwidert, weil er zu größeren Wonnen eingeladen sei, weil er sich
nach unsterblichem Vergnügen sehne. Aber vielleicht ist er nicht unsterblich,
wirft Faust ein. Der Freund tadelt ihn wegen dieses Zweifels und meint,
er sttrchte sich, seinem Gewissen zu begegnen. Faust lehnt das ab und schließt
mit den Worten: „Unsterblich! Unsterblich doch zur Qual!" Jthuriel sagt
ihm, er sei auf dem Wege zur Wahrheit, und ermahnt ihn zu weiterem Nach¬
denken. Auf die weitere Frage, warum der Mensch bei so viel Schwäche die
Macht habe, sich selbst unglücklich zu machen, erfolgt die Antwort: Der Mensch
ist frei, er kann zwischen Glückseligkeit und Verderben wählen. „Aber wenn
die Wahl geschehen ist, darf ich nicht mehr ändern?" fragt Faust, und es wird
ihm der Trost: „So lang Du lebst. Verletzte Hauch kann erst Deinen Willen
bestimmen, und schon der Wille ist Deinem Gott genug." Im weiteren Fort-
gange des Gespräches erklärt Jthuriel seinem Freunde den Umstand, daß er
zwar gut sein möge, vom Bösen aber wieder abgezogen werde, dadurch, daß
das Laster das Gewissen einschläfere und, zur Gewohnheit geworden, ihn
fessele. Faust will darauf verzweifeln, und Jener mahnt ihm davon ab und
gesteht ihm, er besuche ihn, um ihn zu retten. Faust erklärt dies für unmög¬
lich, hält aber, als Jthuriel sich darauf entfernen will, denselben zurück und
ist, von ihm aufgefordert, mit ihm diesen Ort zu verlassen, wo er nur Ver¬
derben finde, im Begriffe, dem Freunde zu folgen, als Helena, seine Geliebte,
mit seinem Sohne Eduard erscheint. Er erklärt ihr, sie verlassen zu müssen.
Sie nennt ihn grausam, hält sich für verschmäht, ihn für untreu und fragt,
ob er ihre Liebe auf solche Weise lohnen wolle. Faust sagt ihr, sie irre, er
liebe sie zärtlich, müsse sie aber verlassen, um sie uicht mit sich unglücklich zu
machen. Sie glaubt ihm nicht, denkt an eine Nebenbuhlerin und droht ihm
zuletzt mit ihrer Rache. Er verweist ihr das, weigert sich aber zugleich, sein
Geheimniß ihr zu entdecken. Sie beschwört ihn, offen gegen sie zu sein. Da
sieht er Mephistopheles nahen und bittet sie, sich zu entfernen und ihn im
Garten zu erwarten. Im achten und letzten Auftritt des ersten Aktes unter¬
halten sich nun Fanöe und Mephistopheles. Dieser kündigt jenem an, daß er
nur noch einen Tag vor sich habe, und räth ihm, diesen zu benutzen, um noch
so viel zu genießen und so viel Böses zu thun als möglich. Faust erwidert,
der Tag lasse ihn erzittern. Der böse Geist sucht ihm seine Furcht auszureden:
Gott habe ihn arm und elend auf die Erde gesetzt, er dagegen habe ihn glück¬
lich gemacht und ihm alle Freuden erlaubt. Er schließt seinen Trost mit den
Worten: „Und am Ende führe ich Dich mit klingenden: Spiel in die Hölle,
in welche jener Despot Dich mit Blitz und Donner hinabschleudern wird."
„Wie kaun ich das wissen?" fragt Faust. Mephistopheles erwidert, er möge
von dem gegenwärtigen Leben auf das zukünftige schließen. Wenn Gott, wie
er sich rühme, den Menschen ein zärtlicher Vater sei, warum öffne er ihnen
nicht sein leeres Paradies, warum habe er sie auf die unfruchtbare, verfluchte
Erde verwiesen. Faust werde übrigens in der Holle gut wohnen; denn er
solle dort in die feierlichen Rechte erhabner Geister eintreten und frei denken
dürfen. „Noch wankt mein Herz", sagt Faust, aber Mephistopheles sagt ihm:
„Warum klügelst Du heute? Komm, reich mir die Hand. Wir sind
Freunde. Ich will die Traurigkeit aus Deinem Herzen verbannen. In Wollust
sollst Dn schwimmen, und ganze Ströme Freuden sollst Du hinabtrinken."
Der zweite Aufzug beginnt mit einem Gespräche, in welchem Jthuriel
und Mephistopheles sich gegenseitig Hohn sprechen und jener erklärt, er sei
hier, um dem Teufel eine kostbare Seele zu entreißen, wogegen er ihm den
Leib preisgeben wolle. Mephistopheles entgegnet, das werde sich zeigen, er
zittere noch nicht vor seinem Gegner. Nachdem der Engel gegangen, erscheint
Faust, dem Mephistopheles Vorwürfe wegen seines Umgangs mit jenem macht
und ihm gebietet, den jungen Lasten aus seinen Augen zu verbannen. Faust
fährt auf und erinnert Mephistopheles, daß er noch sein Knecht sei. Dieser
wird ebenfalls zornig und droht, worauf jeuer antwortet: „Du bist entlarvt,
Betrüger! Noch ist der Tag nicht zu Ende. Der Himmel heut mir Gnade an,
und ich ergreife sie mit beiden Händen. Wisse, verruchter Geist, ich habe Deine
Macht nur dazu verwandt, Wohlthaten auszuüben." Mephistopheles erwidert,
nur einen, dem er als seinem Feind Alles geraubt habe, habe er glücklich,
sonst aber lauter Unglückliche gemacht. Faust verlangt die Leute zu sprechen,
und Mephistopheles geht, um sie ihm zu bringen, während jener wieder in
Verzweiflung verfällt. „So hab' ich denn Keinen glücklich gemacht? — Welch
ein Ungeheuer bin ich! Ich zittere vor mir selbst. — Welch eine
schauernde Aussicht! — Nichts als Laster. Ich bebe. Die Hölle gähnt
schon nach mir. Es ist keine Rettung. Jthuriel, mein Freund, auch Du hast mich
getäuscht. Du versprichst mir Gnade; aber ach, süße Hoffnung, die mich in
Schlummer eingewiegt hat, meine Seele fühlt keine Ruhe mehr."
Die folgenden Auftritte führen Faust nun zunächst den einstigen Feind,
den er wider seinen Willen glücklich gemacht hat, dann die, welche durch seiue
Wohlthaten unglücklich geworden sind, vor Augen. Friedrich, einst ein reicher
Mann, jetzt ein Bettler, dankt ihm und ruft den Segen des Himmels auf ihn
herab, weil er durch Verlust seines Vermögens den wahren Reichthum, Be-
dürfnißlosigkeit und ein stilles Herz, gewonnen habe. Dann kommt Silbergeiz,
der aus einem verdorbnen Kaufmann mit Fausts Hülfe ein reicher Wucherer
geworden ist, aber vor Geiz verhungern will und fortwährend in Angst ist, er
könne um fein Geld kommen. Darauf erscheint die Gräfin Schönheitlieb, ehe¬
mals eine tugendhafte Dame, das Glück ihres Mannes und die Zierde des
Adels, aber unschön, jetzt dagegen, seit Faust ihr mit seiner Kunst seltene Reize
gegeben, eine unzufriedene Kokette voll rasender Eroberungssucht und ohne alle
Ruhe der Seele. Sie verflucht gegen Faust, welchen Mephistopheles, um sie offen-
herzig zu machen, in ihr Kammermädchen verwandelt hat, den, welcher sie da-
hin gebracht. Ihr folgt Raufgern, der einst ein unbekannter Mensch gewesen,
durch Faust aber tapfer gemacht und bei Hofe empfohlen worden ist. Er ist
gestiegen und hat im letzten Kriege die Rolle eines Freibeuters gespielt.
Er dürstet nach Blut, verflucht den Frieden. „Zum Blitz", ruft er, „wenn ich
die Schaubhütten der verfluchten Bauern anzünden, die Felder zertreten und
Beute machen kann, das erquickt mein Herz. Da zieht man durch lauter Brand¬
stätten, man würgt auf dem Schlachtfelde, man läuft Sturm, man erobert
Festungen. Es lebe der kriegerische Soldat!" u. s. w. Mephistopheles ver¬
langt seinen Beistand bei einem Zweikampf. Raufgern will ihn vor Freude
umarmen und schreit: „Wo ist der Wurm, der Euch beleidigt hat? Die
Seele im Leibe will ich ihn? zerfleischen. Ihr könnt Euch das Vergnügen
nicht vorstellen, das ich empfinde, wenn ich todte Körper um mich liegen sehe."
Faust ruft aus: „Welch ein Ungeheuer! Die Natur empört sich vor ihm.
Ich glaube, die Menschheit hat ihn vergessen. Geh, Wütherich, vertilge Deine
Brüder und mache Dich groß mit dem Unglück Deiner Nebenmenschen."
Mephistopheles aber sagt höhnisch: „Welch ein glücklicher Mensch!" Als der
Raufbold fort ist, nähert sich Graf Sorgenvoll, der einst ruhig auf seinen ver¬
schuldeten Gütern gesessen hat, während er jetzt, nachdem Faust seine Schulden
bezahlt und ihn bei Hofe eingeführt hat, dnrch Schmeichelei emporgestiegen und
der Günstling seines Königs geworden ist. Er ist von Angst und Sorge ge¬
peinigt, daß er diese Stellung einbüßen könne. Ueberall erblickt er Neider und
Widersacher, die ihn verdrängen wollen. „Verflucht sei der Wohlthäter", ruft
er aus, „der mich aus meiner Ruhe gezogen und mich in dies Elend gestürzt
hat. Wie zufrieden schlug diese Brust, ehe uoch dieses Band und dieser Orden
meine Last war. Ich durchwache die Nächte, auf Ränke zu sinnen, wie ich meine
Nebenbuhler untergraben und Alles an mich herum erniedern kann. Meine
Tage fließen in folternder Ungewißheit hin. Ich umarme oft jene, die mich
hassen, ich küsse jene, die mich verfluchen, und ich beneide Geschöpfe, die ich
im Herzen verachte." Als Letzter tritt Waisenplag ans, der früher ein armer
Bogenschreiber gewesen ist, jetzt aber, nachdem Mephistopheles ihm auf Fausts
Befehl „die tiefsten Einsichten der Rechte und eine glänzende Wohlredenheit"
gegeben hat, als berühmter Anwalt dasteht, der scharfsinnig beweisen, daß
schwarz weiß und weiß schwarz ist, und jeden an den Galgen reden und durch
seine Beredsamkeit gleich wieder herabsteigen heißen kann. Faust weist dem
Rabulisten die Thür und versinkt in Zweifel an der Menschheit, über denen er
ausruft: „Die Meuschen siud wie Spinnen; aus eben dem Safte, ans welchem die
Biene Honig macht, zeugen sie Gift. Mein Herz unterliegt jetzt ganz seinen
Sorgen." Mephistopheles erwidert: „Du verdienst es. Warum hörst Du
uicht meinen Rath? Verbnuue alle Sorgen. Sei munter und sei mein Freund.
Höre niemand als mich. Ich will Alles hervorsuchen, Dich zu ergötzen." Im
letzten Auftritt singt Wagner ein ziemlich plattes Lied, um seinen Herrn zu
erheitern. Noch einmal lockt diesen dann Mephistopheles, indem er verspricht,
sein Auge zu erquicken und ihm die angenehmsten Scenen des Vergnügens zu
zeige«. Faust folgt ihm darauf, obwohl er meint, ermüden könne er ihn, aber
nicht erquicken.
In der ersten Scene des dritten Aufzuges gibt Jthuriel den Eltern
Fausts Aufschluß darüber, wie es mit ihrem Sohne steht. Sie sind tief be¬
trübt, bekommen aber dann die Versicherung, ihn noch von der Gefahr, in der
er schwebt, retten zu können. Sie sollen Faust bereden, Alles zu verlassen
und ihnen zu folgen. In der tugendhaften Armuth solle er ihnen wieder ge¬
schenkt werden; denn sein Herz sei noch nicht ganz verderbt. Er solle mit
ihrer Ankunft überrascht werden. Sie gehen darauf in den Vorsaal, von wo
er sie rufen will, wenn es Zeit ist. Der zweite Auftritt zeigt uus wieder
Jthuriel und Mephistopheles im Streite um Fausts Seele sowie um verschiedene
Fragen in Betreff des Verhältnisses Gottes zu den Menschen, wobei Jthuriel
seinem Gegner nachweist, daß sein Verstand sich zum Begreifen der göttlichen
Geheimnisse und des schönen Zusammenhanges seiner ewigen Schöpfung nicht
aufzuschwingen vermöge. Die dritte Scene sowie die vierte lassen uns Mephi¬
stopheles bei der Arbeit sehen, Faust zu vergnügen. Er führt ihm eine Schar
schöner Mädchen zu und bittet ihn, nnter ihnen zu wählen. Ein Gastmahl
wird aufgetragen, an dem Helena mit ihrem Sohne theilnimmt. Man ißt
und trinkt, es wird ein Lied gesungen, Banken und Trompeten lassen eine
rauschende Musik hören. Da tritt Jthuriel mit Fausts Eltern in den Saal.
Jener springt erschrocken auf, die Gäste entfernen sich mit Mephistopheles, auch
Helena verläßt das Zimmer. Theodor und Elisabeth überhäufen nun ihren
Sohn mit Vorwürfen wegen seines Stolzes und seiner Undankbarkeit, dann
wegen seines ruchlosen Lebens überhaupt. Faust wirft sich ihnen zu Füßen
und bittet um ihr Mitleid. Die Mutter wird gerührt. Faust gesteht, wie er
allmählich so tief gesunken ist, und schließt verzweifelnd: „Die Wellen reißen
mich fort. Ich ringe umsonst wider den mächtigen Strom der Gewohnheit.
Geht, theure Eltern, seid glücklich, vergesset Euren unwürdigen Sohn, er kann
nicht mehr Anspruch auf die Glückseligkeit macheu." Die Mutter bittet ihn,
sich ihr mietet zu geben, und den Vater, ihm zu verzeihen. Theodor thut
dies unter der Bedingung, daß Fällst ihm sogleich folge und alles verlasse,
was ihn den Eltern wieder entreißen könne. Faust will eben mit ihnen fort,
als Mephistopheles mit Helena und Eduard kommt. Helena bittet ihren Ge¬
liebten flehentlich, zu bleiben, und als er erröthet, schweigt und zaudert, zieht
sie einen Dolch und droht ihren Sohn damit zu erstechen, wenn er ihr uicht
willfahre. Faust wankt vor diesem Anblick, fragt seinen Vater, was er thun
soll. Der antwortet, er solle ihm folgen und nicht auf die Verführerin hören.
Aber Faust ist dazu nicht im Stande, und als Helena ihn zum letzten Male
fragt, was er wähle, erwidert er: „Vater verzeih! Ich liebe Dich; aber die
Natur siegt über mich. Lebt wohl! — Helena, ich bin Dein." Jthuriel,
Theodor nud Elisabeth entfernen sich, Mephistopheles triumphirt, Helena
dankt Faust für seine Liebe und will jede Minute anwenden, ihn glücklich zu
machen. Der böse Geist aber verspricht, ihn durch ein neues Vergnügen auf¬
zuheitern.
Dieses Vergnügen beginnt den vierten Auszug und besteht in einem Ballet
mit Pantomimen, welches den Zauberpalast der Liebe vorstellt. Man sieht in
einen prächtig beleuchteten Saal hinein, in dessen Hintergrund ein Thron mit
Stufen errichtet ist. „Amor schläft auf dem Throne nachlässig ausgestreckt.
Er ist mit Blumenkränzen geziert. Am Fuße des Thrones sitzen ans beiden
Seiten in einer Reihe schlummernde Mädchen. Jedes hat eine andere Stellung.
Die Liebhaber knieen vor ihnen auf verschiedene Art. Der küßt die Hand, der
andere reicht ihr einen Blumenkranz, der küßt einen Liebesbrief, jener be¬
trachtet ihr Bildniß. Dieses bildet eine bewegliche Gruppe. Ein Mädchen
schleicht schüchtern herein, sie drückt ihr Erstaunen aus, sie wirft sich dem
Amor zu Füßen und legt ihm eine Bittschrift in die Hand; sie eilt fort. Ein
Jüngling kommt, gibt seine Verwirrung zu erkennen. Er kniet vor Amor
nieder und überreicht ihm ein Blatt. Der Jüngling entflieht. Amor erwacht,
er sieht die Papiere an und lächelt, sein Lächeln hat Einfluß auf alle Per¬
sonen, Alles fängt sich an zu regen, huldigt der Liebe und tanzt." Dann wird
dem Amor von dem wieder herznschleichenden Mädchen sein Pfeil und von
dem Jünglinge sein Bogen gestohlen, Amor entdeckt den Verlust und zürnt,
und sein Zorn hat Einfluß auf den ganzen Häuser. Jede Geliebte zankt mit
ihrem Liebhaber, und der Tanz drückt die Zerwürfnisse aus. Später erscheint
Venus, und nachdem der Tanz verschiedene andere Verhältnisse versinnbildet,
gibt es eine allgemeine Umarmung. Venus steigt ans den Thron, krönt
ihren Sohn, und auf den Stufen wird wieder der Liebe gehuldigt. „Auf ein-
mal verfinstert sich die Bühne. Ein Schatten erscheint an der Wand, schreibt
und verschwindet. Alles zittert, die Musik drückt Angst und Verwirrung aus,
Tänzer und Tänzerinnen entfliehen, Faust, Helena, Eduard, Wagner, Mephi-
stopheles irren ängstlich umher. An der Stelle des Schattens aber liest man
mit goldenen Buchstaben: „Faust, es wird Abend." >
Jthuriel erscheint und fragt Faust, wann er ihm folgen wolle. Jener
antwortet, morgen. Der Engel erwidert, morgen werde er nicht mehr sein.
Heute aber sei es noch Zeit, sich der Weisheit und Tugend zuzuwenden und
von der Gnade der Allmacht Gebrauch zu machen. Faust zögert, er kann sich
von dem, was er liebt, nicht losreißen, er will die Wohnung des Ueberflusses
nicht mit der Hütte des Elends vertauschen. Zuletzt will er dem Mahner zwar
solgen, aber nur, wenn Helena und Eduard ihn begleiten dürfen. „Wie sinn¬
reich", ruft Jthnriel aus. „Dein Feind hat Deine Angen ganz verblendet.
Rasender Thor, mit welchem prächtigen Gefolge willst Dn die schmalen Gleise
der Tugend antreten! Nimm deinen Zug mit Dir, vergiß Dein Gold nicht,
schleppe Dein ganzes Haus mit fort auf Deinem Rücken. Ich will Dich den
Verführungen entreißen, und Du eilst ihnen entgegen. Dn bist ganz Feuer
und schleppst Pechkränze mit fort. Ich frage Dich zum letzten Male, willst
Du folgen? Du waukst, Du hörst mich nicht —" In diesem Augenblicke er¬
scheinen Fausts Eltern wieder, um ihn noch einmal zu bitten, ihnen zu folgen.
Er kann ihrem Andringen endlich nicht mehr widerstehen und erklärt sich für
besiegt. Sie wollen sich entfernen, als Helena kommt und ihn unter allen
Umständen begleiten will. „Sieh mich zu Deinen Füßen; ich und mein Sohn
wollen Dir in die Hütte der Armuth folgen, da will ich Dir Speise bereiten,
ich will Dir dienen wie eine Magd, und o glücklich, wenn oft ein mitleidiger
Blick meine Zärtlichkeit belohnt! Ihr großmüthigen Leute, verschmäht nicht
Meine Bitte, seid gastfreundlich, nehmt mich auf, bewirthet eine Unglückselige."
Die Eltern gewähren diesen Wunsch, Helena soll ihre Tochter sein. Im Be¬
griffe zu gehen, tritt ihnen Mephistopheles in den Weg, der den Knaben Fausts
und Helenas an der Hand hält und ans ihn als seine Geißel für das Ver¬
bleiben Fausts bei ihm hinweist. Umsonst bitten Helena und Faust ihn fu߬
fällig, des unschuldige» Kindes zu schonen. Die Eltern Fausts sehen, daß
er ihnen wieder verloren ist und entfernen sich, er eilt ihnen nach, und die
Zeit bis zu seiner Rückkunft wird von Mephistopheles benutzt, Helena zu über¬
reden, den alten Theodor zu ermorden. Sie könne, sagt er, dadurch sich, ihren
Freund und ihren Sohn retten. Er schenke ihr für diese That alles, was sie
Uebe. Sie schrickt vor dem Dolche, den er ihr hinhält, zurück, sie will sich von
ihm nicht zur Mörderin brandmarken lassen. Er redet ihr dringend zu: „Ist
Dein Herz denn von Verbrechen rein? Thörin, ist ein Laster nicht wie das
andere? Was liegt daran, ob Dn mit einem oder mit tausend Verbrechen
die Erde verläßt?" Uebrigens begehe sie, wenn sie den Greis tödte, eine
Wohlthat; denn sie befreie ihn von siechen und elenden Tagen. Helena wider¬
steht noch immer, sie will kein unschuldiges Blut vergießen. Habe Theodor
aber Mephistopheles beleidigt, so möge er sich selbst rächen. Mephistopheles
entgegnet: „Dieser Feind ist nicht in meiner Macht, aber in Deiner. Menschen
können sich einander schaden, wir können die Menschen nnr durch sich selbst
stürzen. Wir führen unsere Rathschläge durch Euch aus, wir waffnen Einen
wider den Andern." „Geh, verbanne alle Zweifel; ich will Euch glücklich
machen, Du, Faust, Dein Sohn sollen meine Freunde sein. Ihr könnt Eure
Tage im Schoße des Vergnügens zubringen, kein Maugel, keine Krankheit,
keine Sorge soll Eure Liebe unterbrechen, ich will Euer Schutzgott, Euer
Vater sein, aber ich fordere Gehorsam. Eile, vollzieh meinen Befehl! Wo
nicht, so zittere für Dich, für Deinen Freund, für Deinen Sohn. Entschließ
Dich, nimm diesen Dolch, er ist mit Stärke und Tod bewaffnet. Sobald die
DSinmerung diesen Palast verfinstert, werde ich Dir die Beute überliefern.
Dein Sohn bleibt meine Geißel." Damit geht er. Helena aber hält nun
folgendes Selbstgespräch: „Ich trage dieses höllische Mordeiseu in meinen
Händen. — Wie zittert meine Hand! — Welche schwarze Wetter sind rings
um mich! — Mein schwacher Geist verliert sich. Was seh ich: die Blitze
leuchte», die Donner brüllen, die entfesselten Winde heulen, die Erdklöße er¬
heben sich, Himmel und Wasser sind vermischt, die Erde trauet mich zu ver¬
schlingen, der Sturmwind reißt mich fort. — Wo bin ich? — Ha, ich bin
allein, er ist fort, der Verführer. — Mein Sohn, mein Freund, wo seid Ihr?
Kommt mir zu Hülfe, unterstützt mich, ich falle. — Was seh ich? — Man
reißt sie fort! Ja, die Hölle speit hungrige Tiger aus — sie eilen auf uns
zu. Mein Geliebter, mein Sohn! Haltet ein! Es fließt schon ihr Blut. —
Ha, ich eile, ich rette Euch! —Er soll sterben! — Wo gehe ich hin? —Helena,
wo bist Dn? Deine Seele verliert sich — ich bin entkräftet — ich Elende,
was soll ich entschließen? — Mein Herz ist getheilt. Ich will, ich muß sie
retten. Stirb, stirb! — Grausame, sieh diesen armen Greisen, wie er Dich
segnet, wie er Dich anspricht: Tochter, warum tödtest Du mich? — Nein, lebe,
ich kann Dich nicht beleidigen. — So stirbt Dein Sohn, so ist Dein Freund
das Schlachtopfer der Hölle. Ihr Blut, ihr theures Blut ruht auf Dir. Meine
Seele schwimmt in einem Meere von Zweifeln. Wer kommt? Ich zittere."
Der Kommende ist Faust. Er erklärt ihr, daß es für ihn keine Rettung mehr
gebe, und bittet sie, ihn seinem Jammer zu überlassen und zu gehen. Sie
weigert sich und will mit ihn: sterben, mit ihm verloren sein. Er räth ihr
wiederholt zur Flucht und ruft ihr Lebewohl auf ewig zu. Sie erwidert,
daß sie ihn retten will. Er fragt, wie das möglich sei. Sie läßt ihn im
Ungewissen und entfernt sich, Faust bleibt in Verzweiflung zurück. In der
letzten Scene dieses Aktes nimmt er dann unter allerlei Ermahnungen von
seinem Diener Wagner Abschied.
Im fünften Aufzuge tritt zuerst Helena mit dem Dolche in einem Saale
vor der Kammer auf, in welcher Theodor schläft. Sie schwankt von Neuem.
„Es zittert meine Hand. — Das Herz pocht. — Ha, schwarze Schatten sind
rings um mich! Nacht, bedecke meine Schande, Mond, entflieh und sei kein
Zeuge meines Lasters. — Ich wandle fort im Schrecken. Ein Schauer be¬
fällt mich. Alles schläft, nur ich bin wach. Dort schläft der arme Greis in
den Armen der Sicherheit. Die Liebe für feinen Sohn hält ihn noch in diesen
lasterhafte» Mauern zurück. Armer Vater, schon ist der Dolch auf Deine
Brust gezückt. — Aber welches Recht habe ich auf fein Leben? foll ich mein
Glück mit feinem Blute erkaufen? Der schlaueste Geist fordert diese That.
Ich darf nicht klügeln. Ich eile, ich fliege. — Welche Angst lahmt meine
Schritte? Meine ganze Natur empört sich. Ich bin uoch ein Neuling in
dieser Mörderkunst. Mein Blut wallt, siedet. — Ha, wer begegnet mir? —
Er ist es. Zurück! Stirb! — Er streckt seine segnende Hand aus. Seine
Thränen fließen über mich. Seine grauen Haare breiten sich über meine Hände.
— Flieh, Vater, entreiß Dich meinem Stahle! Wer kommt? Ich bebe." Es
ist Mephistopheles, der sie nnter Drohungen antreibt, sich mit der That zu
beeilen. Die letzte Stunde des Bundes zwischen ihm und Faust sei erschienen,
sagt er, und noch könne sie ihren Geliebten retten, wenn sie Theodor durchbohre.
„Was zauderst Du, Helena?" fährt er fort. „Dein Schlachtopfer ist reif zum
Tode. Seine wankenden Knochen sind am Rande des Grabes. Stirbt der zu
früh, der nur im Elend herumkriecht? Geh, zaudere nicht länger, jede Minute
wiegt Gold." Helena stürzt mit den Worten: „Die Hölle siegt" fort, hält an
der Kammerthür noch einmal an und eilt dann hinein. Mephistopheles tri-
umphirt: „Ha, ha, ha! getäuschte Sterbliche! So fallt Ihr in unsere Fallstricke,
Ihr seid unser Spielwerk. Du Donnerer, sieh herab auf die Erde, nicht Du,
wir herrschen hier. Uns betet Dein Liebling, der Mensch an. Unsere Altäre
rauchen öfterer als die Deinigen. Die Hölle, die Du uns zum Exil geöffnet
hast, ist das Gefängniß Deiner Meuschen." Im dritten Austritt belauscht
Mephistopheles Faust bei seinem letzten Selbstgespräch. „Das Zeichen zum
schleunigen Aufbruch wird gegeben", sagt der Verzweifelnde. „Ich blicke mit
Zittern über die kleine Frist des Lebens hinüber. Wo eile ich hin? In eine
fürchterliche Ewigkeit. Die flüchtige Lebensuhr ist bereits abgelaufen. O un¬
widerruflicher Flug der kostbaren Zeit, kehre wieder! — Des Mondes düstrer
Schein ist rings um mich. Die Nacht breitet ihre schwarzen Flügel über diese
traurigen Gemächer. O letzte Stunde, sei Zeuge meiner Sorgen und meiner
Thränen. Letzte Quelle eines reuigen Herzens, Du bist mir der einzige Trost
geworden. Fließet, Thränen, vielleicht verlöschet ihr meine Thorheiten. Nein,
sie sind mit einem Eisengriffel in das Buch des Gedächtnisses gegraben. Das
Echo meiner Schande wird noch leben, wenn kein Stäubchen vou diesem Körper
mehr sein wird. Ich habe die himmlische Erstgeburt um irdische Freuden ver¬
kauft. O Gedanke, der mich niederdonnert! Mein Gewissen sitzt schon
fürchterlich zu Gerichte und kündigt mir deu ewigen Tod an. Die letzten Mi-
unter sind nahe. Lebe wohl, o WelV, lebt wohl, ihr Menschen! Lebt wohl,
Vater und Mutter, nimmermehr werde ich euch scheu. Helena, mein Sohn,
lebt ewig wohl. — O, mein Sohn, ich will hingehen und Dich segnen. — Ich
ihn segnen? Ich von Gott Verfluchter, ich Wurm ihn segnen? Ein Sturm¬
wind wird meinen Segen von meinen Lippen wehen. — Wie bin ich entkräftet!
— Meine Seele keucht nach Ruhe." Mephistopheles gibt sich Faust jetzt zu
erkennen, indem er einen Teppich von einem Tische hebt, auf welchem sich
allerlei Mordgewehre befinden. Er sagt ihm: „Diese verächtliche Hülle mußt
Du ablegen; mit Staub tritt man nicht in unsre Wohnungen. Wühle hier
das letzte Geschenk. Willst Du das Schwert, den Giftbecher, das tödtliche Blei,
den Strick? Sieh, das sind unsre Orden, womit wir am Ende unsere Lieb¬
linge beschenken." Faust fragt, so solle er sich wohl selbst todten. Mephisto¬
pheles antwortet mit der Gegenfrage, ob er denn lieber mit Geräusch sterben
wolle. Er soll baun Faust die Zukunft aufdecken, und er erwidert, wie er
gesäet, so werde er ernten. Zum Schlüsse aber heißt er ihn den auf dem
Tische stehenden Becher nehmen und austrinken, er werde damit zum ersten
Male den Nektar der Hölle kosten. — „Verfluchter Geist", ruft Faust ihm zu,
„entweich aus meinen Augen und laß mich die letzte Stunde noch vollends
genießen." — „Das sollst Du", entgegnet Mephistopheles, „aber dann bist
Du mein. Trink, oder ich reiße Dich durch die Gemächer fort, Stirb, ver¬
zweifele, fluche Deinem Gott, verwünsche Dich! Ich gehe." Allein gelassen
verfüllt Faust wieder in Klagen und Jammern. „Allmächtiger", stöhnt er,
„ich suche Schutz vor Deinem fürchterlichen Grimme; ich fliehe vom Aufgange
zum Niedergange, aber überall begegnen mir Deine rächenden Donner. Nur
die Hölle beut mir einen Zufluchtsort dar, Satan ladet mich ein. — Ich komme
schou! Trank der Hölle, todte mich und leite meine Seele in die Staaten des
Elends." Noch einmal dämmert die Hoffnung in ihm auf, und er fragt:
„Eine geheime Stimme flüstert mir zu — Gott, ist dies die leise Stimme
Deiner Gnade? Ist der Sünder noch Deiner Erinnerung würdig? Oder Du,
Freund Jthuriel, hast Du Trost in mein Herz geflößt?— Es sind Täuschungen.
Nichts übrige mir. Sieh, wie die Hölle ihr Flammenmeer und Schwefelwetter
auf mich ausspeit, ihren gefräßigen Rachen weit aufsperrt und nach ihrer
Beute brüllt. Ja, ich komme schon! — Ich trinke. — Es ist geschehen." —
„Ha, das Gift wirkt. Angst und Entsetzen ergreift mich wie eine Gebärerin,
das Verderbe» nähert sich mit geschäftigen Fittigen. O Zeit, die ich muth¬
willig erwürget, Du stehst vor meinen Augen! O Gnade, die ich hartnäckig
von mir gestoßen, Du verfolgst mich noch! — Ha, hörst Du die röchelnde
Todespvsaune? — Dort rasseln die Gebeinhäuser. Der immer wache Satan
schleicht wie ein Tiger herum. Welche Nacht sinkt dort herab? — O gewaltiger
Richter, blinde nicht meine Augen! — Siehe, er fährt, er hält die wüthenden
Wetter mit schlaffen Zügel, ungestüme Wirbelwinde wälzen ihn fort. — Sieh
dort jene grimmigen Löwen, ihnen folgen ihre gelben Jungen, sie schreiten über
Todtengebeine, bei schwarzer Nacht eilen sie über Menschenstaub. Dort schläft
der sichere Wanderer, sie eilen hin, sie zerreißen ihn, ihr Schlund trieft von
dem Blute. — Was seh ich! Halt ein! Mein Vater! Helena, wen durchbohrst
Du? Ich sinke. Dort ringt der sterbende Greis mit dem Tode." Man Hort
einen Schrei, Helena stürzt mit zerstreuten Haaren und einem blutigen Dolche
aus der Mittelpforte, hinter ihr sieht man den sterbenden Theodor in den
Armen von Fausts Mutter. Helena glaubt mit dein Blute des Greises das
ihres Geliebten erkauft zu haben, Sie erfährt von diesen:, daß sie sich hat
täuschen lassen, und daß Faust uoch in dieser Minute sterben muß. Sie be¬
reut ihre That, und um mit Faust in den Tod zu gehen, ersticht sie sich.
Theodor vergibt ihr und Faust, da sie nur Verführte sind, die Mitleid ver¬
dienen. Dann betet er: „O Vater der Menschen, Du hast uns nicht in Deinem
Zorne, sondern aus Liebe erschaffen; Du rüstest uns aus Nichts, damit wir
an Deiner Seligkeit theilnehmen sollen. Warum, Herr, willst Du solche
Würmer, wie wir sind, in Deinem Zorne zertreten? Es ist die schönste That
eines Gottes, zu verzeihen. Begnüge Dich mit unserm Blute und nimm unsere
Seelen mit väterlichen Händen auf. Gib zu, daß ich mit meinen Kindern
zugleich sterbe und einst mit ihnen lebe." Helena ist durch dieses Gebet ge¬
tröstet. Faust fühlt sich dadurch angeregt, sich ebenfalls betend an die göttliche
Liebe und Barmherzigkeit zu wenden und um Gnade zu flehen, und in dieser
Gemüthsverfassung sterben sie. Da dringt Mephistopheles mit einer Schar
Furien herein, sie umkreisen die Todten mit brennenden Fackeln, und jener
ruft mit stolzer Frende aus: „Hölle, blick herauf! Gefährten seht, welch ein
herrlicher Sieg! Ich habe die Geschöpfe unseres Feindes vernichtet. Schau
herab, Donnerschleuderer, bewundere meine Thaten! — Aber was seh ich! Die
Schale wankt. Verflucht sei ihr Schicksal!" Plötzlich erscheint Jthuriel in
strahlender Gestalt mit einer Schar von Engeln, während der Donner rollt
und Blitze leuchten. Mephistopheles und seine Furien zittern. Der Donner
schweigt, und Jthuriel verkündet:
„Der Allmächtige, der im Himmel seinen Thron hat, der mit einem Wink
tausend Welten aus nichts heraufruft, der Sonnen leuchten und Donner brüllen
heißt, der Gott hat die Sünder gerichtet. Die Wage der Gerechtigkeit hat sie
Zu leicht befunden, aber die unendliche Barmherzigkeit hat ihre Laster weit
überwogen. — Frevler, zittert und betet an seine gerechten Urtheile! — Er
nimmt die Reuigen in seinen väterlichen Schoß auf und stürzt Euch, ver¬
fluchte Verführer, in eine ewige Hölle!"
Wenn ich das Faschingstreiben der Römer ansehe, das eben wieder unter
meinen Fenstern vorbelwogt, so fühle ich mich stets von neuem zu einer Ver-
gleichung des gegenwärtigen Charakters dieser Festlichkeit mit dem in alten
Schilderungen uns entwickelten aufgefordert, die durchaus nicht immer dasselbe
Resultat ergibt. Der römische Karneval befindet sich in einem Uebergangs-,
vielleicht in einem Endstadium, welches seinen jetzigen Charakter vag und
wechselnd erscheinen läßt. Für immer vorüber ist die Stimmung der alten
Zeiten, welche dem Prinzen Karneval gestattete, von der ewigen Stadt ganz
und voll Besitz zu nehmen und welche allmächtig genug war, um alle Stunde,
alle Kreise, alle Persönlichkeiten fortzureißen und ihnen mit dem Machtwort:
„Der Karneval ist da" die mit Jubel begrüßte Pflicht eiuer allgemeinen
vierzehntägiger Ausgelassenheit aufzuerlegen. Mit dem Verschwinden der alten
Sitten, Neigungen und — gefüllteren Beutel hat auch die Allgemeinheit und
Ausdehnung der Faschingslustbarkeiteu eine bedeutende Einbuße erlitten, und
es ist kein Zweifel, daß anch der römische Karneval in nicht zu ferner Zeit zu
den verflossenen Größen gehören wird. Schon jetzt gibt es eine nicht geringe
Partei der „Fortgeschrittener", welche alle diese „Narreteien" als unserer
Zeit unwürdig verbannt wissen wollen und ans alle Weise gegen den Karneval
kämpfen. Die Bevölkerung selbst nimmt natürlich nicht mehr in dem Umfange
wie früher und noch weniger in der alten reflexionslosen und ausgelassenen
Weise Theil, scheint auch kaum mehr in: Stande zu sein, aus eigener Initia¬
tive, spontan und ohne offizielle Unterstützung die Festlichkeiten ins Werk zu
setzen. Es bedarf jetzt in Rom wie anderswo der offiziellen Programme, der
Theilnahme der städtischen Behörden und Svezialeomitvs, um den Belustigungen
Direktion, Halt und Charakter zu geben. Dennoch ist die Betheiligung der
Bevölkerung noch immer eine solche, daß sie den Fremden in Erstaunen setzt,
und es kommen Tage vor, an denen der alte römische Karnevalsgeist wieder
in einer Weise aus seiner Einschränkung hervorzubrechen scheint, welche kaum
etwas zu wünschen übrig läßt. An solchen Tagen, wenn der Corso von festlich
geschmückten Karrvssen und sich drängenden und belustigenden Fußgängern von
einem Ende bis zum andern gestillt ist, wenn die Coriandvli und Blumen
zwischen den wogenden Massen und den geschmückten Fenstern und Balkonen
unaufhörlich auf und ab fliegen, wenn in altherkömiulicher Weise die ledigen
Rosse mit flatterndem Bänderschmuck die Straße hinabjagen, wenn von Mittags
bis tief in die Nacht die Straßen von scherzenden Maskeraden bedeckt sind
und auf deu freien Plätzen unter freiem Himmel unermüdlich musizirt, getanzt
und phantasirt wird — dann fühlt man, daß doch der altberühmte Fasching
der Römer noch genug Leben besitzt, und daß es nicht ganz leicht sein wird,
ihm ein Ende zu bereiten.
Doch ich will heute nicht von dem gegenwärtigen, sondern von dein einstigen
Karneval reden, wie ihn das leichtlebige galante vorige Jahrhundert gesehen
hat. Manches ist seitdem anders geworden. Manches aber auch ist sich in
überraschender Weise gleich geblieben. Nicht nur Goethes meisterhafte Schil¬
derung, sondern auch das, was frühere Berichterstatter und Chronisten selbst
aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts erzählen, stimmt in so auffälliger
Weise mit deu gegenwärtigen Erscheinungen überein, daß man in der That zu¬
weilen sich verwundert fragt, ob ans dem römischen Corso die Zeit mit ihrem
Einfluß stillgestanden sei.
Die Glanzzeit des Karnevals in Italien war das fünfzehnte und sechzehnte
Jahrhundert. In Venedig strömten die Besucher aus ganz Europa zusammen;
über den florentinischen haben wir farbenreiche Schilderungen von Bottaro,
Berni, Salto, Vnrchi, Buonarotti. Kurze Zeit hindurch hatte auch Neapel
seinen Karneval, der jetzt mit Glanz wieder aufersteht. Einer der prächtigsten
war stets der von Mailand; doch die Palme trug immer Rom davon, das
von den Traditionen der Feste der antiken Welthanptstcidt erfüllt, von ihrem
Nimbus umgeben war. Von den alten einst die ganze Bevölkerung bis zur
Tollheit begeisternden Cirknsspielen war ein Rest übrig geblieben in dem
Pferderennen, das der römische Karneval sich bis heute bewahrt hat, und das
immer ein Festbestandtheil von hervorragender Wichtigkeit und Anziehungs¬
kraft gewesen ist. Was Goethe von der Betheiligung an diesem Rennen, von
dein Verfahren dabei, von der Spannung der Menge, die des momentanen
Genusses sich kaum bewußt werden kann und dennoch fast fieberhaft erregt zu-
schaut, vou der Unmöglichkeit eines wirklichen Wettkampfes in der engen Straße
n. f. w. sagt, stimmt gänzlich mit der Art, in der das Rennen noch heilte vor
sich geht, überein. Manches Andere hat sich seitdem geändert, manches fand
Goethe schon anders, als es vor ihm gewesen. Vor seiner Zeit waren es noch
die reichen und edeln Familien, welche die Pferde stellten und es als eine
große Ehre betrachteten, einen der Siegespreise davonzutragen. Die letzteren
bestanden in sammetnen und seidenen Paillen, welche man den Schutzheiligen
zu weihen oder ex vno in den Privatkapellen aufzuhängen Pflegte. — Im
Jahre 1727 trugen in sämmtlichen Nennen die Pferde der Colonna den Sieg
davon. 1749 gewann der Herzog von Mondragone ein Pnlliuin. In dem¬
selben Jahre konnte, was die Chronisten als etwas Außergewöhnliches hervor¬
zuheben nicht unterlassen, am ersten Dienstage das Rennen nicht stattfinden,
weil es geschneit hatte. Auch heute würde es nicht verfehlen können,
obwohl der 1. Februar der Anfang der Festtage war, den seltsamsten Eindruck
zu machen, wenn mit den Tausenden von Blumen ans dem Corso Schnee¬
flocken niederfielen.
Das Loslassen der Pferde - bei der Unbändigkeit der laufbegierigeu
Thiere für die „Barbereschi" keine ungefährliche Sache — fand früher zwischen
den beiden Kirchen am Nordansgang des Corso, seit 17l0 ans der Piazza del
Popolo selbst statt. Während jetzt die Karrvssen vor dein Beginn des Rennens
sich entfernen müssen, hielten sie früher in langer Reihe ans beiden Seiten der
Straße, und das Nennen fand in dein Mittelraume statt. Mit großer Strenge'
wurde darüber gewacht, daß den Rennpferden nicht in böser Absicht ein Schaden
zugefügt wurde. 1737 erhielt ein Pferd des Herzogs vou Carpineto eine Ver-
wundung. Der Thäter wurde entdeckt und zu zehnjähriger Galecrenstrafe
verurtheilt, auch zum Schimpf auf einem Esel den Corso entlang geführt. -
Um die Mittheilung einiger interessanter Einzelheiten, die zum großen
Theil einem unedirten Tagebuche des Franciscus Valerius entstammen, mit
dem Anfang des vorigen Jahrhunderts zu beginnen, so war der Karneval des
Jahres 1701 ausgezeichnet dnrch die Theilnahme der Königin Casimira von
Polen, welche sich auf dem Altan des Palazzo Chigi zwischen ihrem Vater,
dem Kardinal Arabien und dein Kardinal Delfini, und die der kaiserlichen und
der venetianischen Gesandtin, die sich ans dem Balkon des Palastes Manfroni
sehen ließen. Zahlreiche Masken belebten den Corso; dagegen werden von
größeren Auszügen nur ein Wagen in Schiffsform mit Matrosen, dargestellt
durch Kavaliere vou Bologna, und ein Mohr zu Pferde nebst „zwei Juden¬
wagen", ein Spott gegen die römischen Jsraeliten, erwähnt. — Von einem
Ballfest bei der neapolitanischen Gesandtin hielten die römischen Damen sich
fern, weil sie fürchteten, wie bei einem früheren Feste, den Prinzen Constantin
von Polen in Gesellschaft „einer gewissen Freundin" dort zu treffen. — 1702
fiel der Karneval wegen des Antrittsjnbilanms Clemens XI. ganz ans, und
zwar ward das Verbot der Faschingslustbarkeiten so streng befolgt, daß „auch
uicht Einer ans dein Volke, wie es Sitte ist, singend oder gar mnsizirend um¬
herging und auf Piazza Navona die Schenkbuden weder Marionettenspiele noch
Musik veranstalteten, noch anch die Possenreißer auftraten, wie sonst allzeit
geschieht."
In den nächsten Jahren hatte die ewige Stadt von Ueberschwemmungen,
Erdbeben und anderen Unglücksfällen so schwer zu leiden, daß die Lustbar¬
keiten sich von selbst verboten. Mit dein Jahre 1709 aber beginnt eine Reihe
von immer glänzenderen Karnevalsjahren. Die hohe Aristokratie nimmt Theil,
und es müssen, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, zahlreiche „Carabinieri,
Dragoner und Kürassiere ans der Piazza del Popolo u. s. w. aufgestellt, auch
Masken verhaftet werden." — Einen häßlichen Makel hat der „christliche"
Karneval dieser Zeit in den barbarischen Verhöhnungen der Juden, die in dem
genannten Jahre so arg wurden, daß endlich ein Verbot dagegen ergehen mußte.
Franciscus Valerius schreibt darüber in seinem Diario: „Sonntag, 9. Februar
1709. Unter den zahlreichen Wagen, die man in verschiedenen Stadtvierteln
für diesen Karneval ausgerüstet hatte, war eiuer, „die Cassaeeia" genannt, ans
dem die Fischhändler in lächerlicher Weise alle Ceremonien dargestellt hatten,
welche die Juden beim Begräbniß ihrer Todten anzuwenden pflegen. Da diese
sich an den Kardinalvikar und auch an das heilige Offizio gewendet, so war
jenen bei harter Strafe die Ausführung untersagt worden. Weil aber der
Prinz Alexander, Sohn der Königin von Polen (Casimira), den Wunsch hatte,
es zu sehen, so erhielt er die Erlaubniß, an demselben Abend die Vorstellung
im Garten des vou Ihrer Majestät bewohnten Palastes auf Trinitü, de Monti
veranstalten zu lassen, wozu eine große Menge von Personen sich einfand." -
Auch später hatten die Juden, die in früherer Zeit selbst um das Pallium
Wettlaufen mußten, noch oft unter ähnlichen Verhöhnungen zu leiden. Im
Jahre 1711 schou durften die Fischhändler, die sich immer hervorgethan zu
haben scheinen, eine neue Maskerade veranstalten „vou hundert Juden auf
Eseln nebst einem Rabbi, der rücklings zu Pferde saß, den Schwanz in der
eiuen, das Gesetzbuch in der andern Hand." — Das heilige Offizio hatte
nichts dagegen!
1710 war der Zudrang von Fremden außerordentlich groß und die Mas¬
keraden der vornehmen Welt fanden großen Beifall. Valerius schreibt darüber
u. a.: „Montag, 2. Februar 1710. Wegen des Regens ward die schöne Mas¬
kerade, betitelt „der Triumph der Schönheit", welche um einundzwanzig Uhr auf¬
treten sollte, erst um zweiundzwanzig und ein halb ans den Corso geführt. Voran
zogen sechs Trompeter zu Pferde und sechs Oboisten. Hinter ihnen folgten
die Theilnehmer auf höchst edeln Rossen mit werthvollen juwelenbeladeueu Ge¬
wändern, und zwar der Connetable Colonna, der Bruder des Fürsten von
Carbognano, Colonna, der Graf Bolognetti, die Marquis Bougiovanui, ein
Neffe des Botschafters von Portugal, Angelo Grauelli aus Genua und Don
Antonio Colonna, umgeben von Lakaien mit Adelsdcvisen. Ihnen folgte ein
Triumphwagen, ganz und gar bemalt und vergoldet, von vier weißen Pferden
gezogen. Auf ihm standen Flöten- und Oboenbläser u. a., und ganz oben saß
die Herzogin von segni-Cesarini als „die Schönheit", neben ihr „die Tapfer¬
keit", dargestellt dnrch den Prinzen Alexander Sobieski von Polen. Dahinter
kamen als Schluß des Zuges einige Figuren, welche die Fehler darstellten."
Diese Aufzüge fanden Anklang und Nachfolge. 17N haben wir „Masken
mit juwelenbesäten Kleidern und mit Hüten, an welchen Edelsteinagraffen.
Der Fürst Pamfili erscheint zu Pferde mit Husaren zu Fuß; der Sohn des
Marquis von Prie mit einem Kapuzengewande in einem Kabriolet, das einen
Triumphwagen vorstellt; die Maskerade des Prie wiederum maskirt von Ber-
nardino Albaui; der Fürst Ruspvli zu Pferde in türkischem Kostüm mit Ge¬
folge" u. s. w. — Am Abend wurden in Privathäusern, Seminarien und
Klöstern Komödie» aufgeführt. — l7l9 war alltäglich ein Auszug des Triumph¬
wagens vom Hause Colonna mit Wechselnden Masken; 1721 „Maskerade deut¬
scher Ritter, welche die Germania in ihrem Herkules triumphirend
darstellte."
Spott und Satire suchten unter dem Maskenschutze sich auszubreiten, wurden
aber ziemlich streug überwacht. Welche Besorgnis? die geistlichen Würden¬
träger vor Allem, was ihr Privatleben dem Spotte aussetzen konnte, besaßen,
zeigt eine Exekution, mit welcher der Karneval 1720 eröffnet wurde. Der
Abade Gaetano Volpini aus Piperno hatte in Briefen an den Grafen Sizzen-
dvrf in Wien sich einige Bemerkungen über das stadtkundige Verhältniß des
heiligen Vaters (Clemens XI.) zu Clementine Sobieska erlaubt. Es wurde
ihm deshalb der Prozeß gemacht, das Todesurtheil wegen Verleumdung des
heiligen Vaters ausgesprochen und dasselbe wirklich auf dem Campo Vaccino
in Gegenwart einer ungeheuren Menschenmenge, aus der aber mich Stimmen
des Mißfallens gehört wurden, vollzogen. Ceeconi berichtet das Ereignis? mit
den Worten: „Am ersten Samstag des Karneval wurde auf dem Campo
Vaccino der Gaetano Volpini von Piperno geköpft, überführt des Verbrechens
verleumderischer und aufrührerischer (!) Korrespondenz." — Ueber die Exekution
finden wir noch folgende interessante Nachricht: „Der Abade Volpini ward ans
dem Gange zum Richtplatz der Sitte gemäß von der Brüderschaft von S. Giovanni
d6 Fiorentini begleitet, und der gute Jesuitenpater Galluzzi leistete ihm tröstenden
Beistand. Während eine ungeheure Volksmenge das Ende des blutigen Schau¬
spiels erwartete, vernahm der päpstliche Resident (der Canonicus Niccolo
Verzoni), wie ein ihm unbekannter Abade zu einigen seiner Begleiter von dem
ans das Grab des Hingerichteten zu setzenden Grabsteine sprach und folgende
von ihm selbst verfaßte Grabschrift Verlautbarte: „Don Ccijetanus Vulpinius
ans Piperno, Freund der Wahrheit, unter der clementmischen Tyrannenherr¬
schaft hingerichtet, hat die Palme des Sieges erlangt. Beschluß des römischen
Volkes und Senats." Solchen Frevel hörend, erhob sich der Resident, welcher
merkte, daß hier die Luft nicht rein sei, und ging hinweg." — Die ungemein
strenge Bulle, auf Grund deren muthmaßlich die Verurtheilung erfolgte, war
die von Pius V. speziell gegen die „Nachrichtenschreiber und Verfasser satirischer
Blätter" gerichtete.
Die geistlichen Behörden waren immer sehr aufmerksam und argwöhnisch
gegenüber jedem Angriff auf ihre Dignitcit und verstanden darin selbst während
des Karnevals keinen Spaß. Im Jahre 1726 erging das Verbot, geistliche
Masken anzulegen und für den Domino rothe Stoffe zu verwenden, weil
dies die Kardinalsfarbe war! —
1735 erschien n. A. ein Wagen der französischen Akademiker mit Masken
im chinesischen Kostüm mit Sonnenschirmen und Fahnen, sowie „ein Wagen
des Fürsten Rospigliosi mit Dienern alls. polaoea,," 1738 sah man den
letzteren wieder in polnischer Tracht „nebst Masken mit Beilen und Säbeln".
Auch „englische Seeleute mit einem Schiffsmodell" waren da. Die Maskirnug
als Matrose, die man auch heutzutage von beiden Geschlechtern besonders
bevorzugt sieht, ist also sehr alt, jedenfalls wegen der Urform des bei
den Umzügen verwendeten Maskenkarrens, des eg.ri-u8 navalis*), dem
Karneval den Namen gegeben hat.
Eine neue Ausdehnung gewannen die Karnevalsfestlichkeiten gegen die
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts durch großartige Privatfeste in den
Palästen der Aristokratie. 1747 wurde im Hofe des Palazzo Barberiui, alt¬
berühmt durch seine Tourniere und Carroussels, ein von dem Marquis von
Cavalieri geleitetes Tournier veranstaltet. 1748 bildete den Glanzpunkt ein
Aufzug der französischen Akademiker, „die Wallfahrt des Sultans nach Mekka"
darstellend. Er machte solches Aufsehen, daß er gezeichnet, gestochen und zu
Paris in einunddreißig Blättern publizirt wurde. — Unter den großen Auf¬
zügen der nächsten Jahre seien erwähnt: ein „Triumphzug des Baecchns" 1755,
die „Rückkehr der Diana von der Jagd" 1763, von der Herzogin von
Grcwina dargestellt, und ein „heidnisches Opfer" mit Priestern und Prieste¬
rinnen 1779.
Hauptschauplatz der öffentlichen Aufzüge und des Volkstreibens war immer
und von jeher der Corso, die lange schmale Straße, welche in der Richtung
der alten Via Flaminia vom Fuße des Capitols nordwärts länft und auf der
Piazzo del Popolo endet. Interessant ist es zu sehen, wie eine Beschreibung
des Corsotreibens aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts uoch fast Wort
für Wort auf das heutige paßt. Der in geistlichen Angelegenheiten damals
anwesende französische Präsident De Brosses schreibt darüber: „Ich sehe, daß
wir den Aufenthalt hier bis zum Ende des Karnevals ausdehnen werden.
Man muß alle diese närrischen römischen Ergötzungen sehen, die noch glanz¬
voller sind, als die von Venedig, mögen sie auch erst in deu letzten acht Tagen
in voller Glorie sein. Man sagt, daß in der Corsostraße sehr schöne Masken-
aufzüge zu Pferde oder in großen Triumphwagen stattfinden, von denen herab
man Konfekt und trockene eingemachte Früchte auf das Volk regnen läßt.
Man verheißt uns auch, daß in derselben Straße Pferderennen stattfinden werden,
schöner, als anderswo. Die Rennbahn ist ziemlich lang, von Piazza del
Popolo bis zum S. Markuspalast. Die Pferde sind ganz frei und ungezüumt;
der Stallknecht, welcher sie an der Barriere festhält, läßt sie los auf ein
Zeichen, welches der Pvlizeihauptmcmn (jetzt der Bürgermeister) gibt. Sie
jagen dahin zwischen zwei Reihen Volks, welches sie mit lautem Geschrei an¬
feuert. Die, welche in diesen Rennen erprobt sind, beeilen sich anfangs nicht.
Sie laufen eine kurze Strecke ganz sachte, ohne sich zu ermüden, bis zu eiuer
gewissen Entfernung vom Ziel; dann setzen sie sich in einen rasenden Galopp
und schlagen mit Kopf und Hufen nach rechts und links,
„daß sie wie Wale rasend schnell sich wenden,"
um die andern Pferde zu verdrängen und sich Platz zu machen.
„II ron^iiw or vorie ors, droles,
?c>i sotto it petto si vavois, 1k lesen,,
(Zinoon al seinen», e inen» e^loi in trott»."
Der Preis für den Sieger ist in der Regel ein Brokat (das sogenannte
Pallium), mit dem man ihn bedeckt und mit dem er stolz schnaubend durch die
Straßen schreitet, um sich zu zeigen. — Basta. Man muß diese Karnevals¬
geschichte noch sehen."
Indes der Karneval kommt nicht. Der Papst ist bedenklich krank, aber
die Krisis schiebt sich hinaus, und De Brosses ist höchst unmuthig, weder das
Schauspiel des Karnevals noch das des Leichenbegängnisses haben zu können.
„Der Kardinalvikar", schreibt er, „hatte die Schauspiele aufhören und in allen
Kirchen das heilige Sakrament ausstellen lassen, so daß die armen Fremden,
die in Ermangelung der Oper nicht mehr wußten, on (Innner cle is. toto pour
um,- »oil-6<z, sich ganz in Verlegenheit befanden. Nach Verlauf einiger Tage,
als die Sache weder vorwärts noch rückwärts ging, fingen die Handwerker,
welche für die Theaterunternehmer arbeiteten, Geschrei an; denn die meisten
erhielten als Lohn nur die Anweisung auf die Einnahmen aus gewissen Logen
im oberen Rang. Der Gouverneur von Rom hat die Theater wieder eröffnen
lassen wollen. Er hat dem Kardinalvikar seine Vorstellung gemacht und die
Antwort erhalten, daß jenes nicht angehe, solange das heilige Sakrament aus¬
gestellt sei. Der Gouverneur hat darauf replizirt, daß es besser sei, dasselbe
wieder einzuschließen, als die Arbeiter Hungers sterben zu lassen. Doch hatte er
lange mit diesem guten Kardinal Gucidagni zu kämpfen, um ihm Raison
beizubringen.
Und keine mühelose Sache war's,
Dasz doch dem Teufel endlich blieb die Oberhand.
Die Schauspiele haben wieder begonnen, aber schon redet man von einer
neuen Unterbrechung. Bei dieser Wirthschaft geht meine Geduld
auf die Neige; der heilige Vater sollte sich wirklich uach der
einen oder der andern Seite entschließen. Glaubt er, daß ich
Zeit zum Warten habe und dreißig Jahre hier bleiben will?
Alle Morgen sende ich um Nachrichten uach Monte Cavallo......— End¬
lich hat der treue Perret, als er heute morgen in mein Zimmer trat, die
Nachricht gebracht, daß es zu Ende ist mit dxm Statthalter Christi. Er ist
zwischen sieben und acht Uhr gestorben. Ich will mich auf der Stelle ankleiden
und nach Monte Cavallo gehen. Schon höre ich die Glocke des Kapitols läuten
und in unserm Quartier die Trommel schlagen."
Auch Casanova, der berühmte und berüchtigte Abade und Abenteurer, der
mehrmals den römischen Karneval gewählt hat, um seinen Liebhabereien
nachzugehen, erzählt uns davon in seinen Memoiren. Vom Jahre 1761 be¬
richtet er:
„Ich miethete für eine Woche im Karneval einen viersitzigen Wagen, um
täglich drei Stunden auf dem Corso spazieren zu fahren. Dort schwärmen
mit unbeschreiblichem Lärm Scharen von Masken aller Art zu Fuß und zu
Wagen. Die Confetti, die satirischen Gedichte, die Pasquinaden regnen von
allen Seiten. Hier mischt sich die ganze vornehme und glänzende Welt von
Rom mit der Volksmenge. Die Rennpferde, zwischen zwei Wagenreihen hin-
stnrmend, jagen blitzschnell dem Ziele zu. Am Abend erdrückt sich das Volk in
der Oper, den Komödien, den Pantomimen und bei den Seiltänzern. In den
Wirthshäusern nud Weinstuben sind alle Räume und Tische besetzt; Alles ißt
und trinkt, als wäre es das letzte Mal im Leben."
1771 traf Casanova mit zwei hervorragenden Persönlichkeiten, dem Kar¬
dinal Bernis und der Prinzessin Santa-Croce, beim römischen Karneval zu¬
sammen. Er wohnte einem großen Gastmahle bei, über welches er erzählt:
„ . . . . Man unterhielt sich während des Essens vom Tanz. Er ist die
Leidenschaft der römischen Mädchen, und meine Begleiterinnen waren ganz
von ihr ergriffen: das versteht sich wohl. Der Papst Rezzonieo (Clemens
XIII.) wollte das Vergnügen des Tanzes während seiner Regierung untersagen.
Er gestattete Hazardspiele ohne Unterschied, verbot aber den Tanz. — Sein
Nachfolger Ganganelli that gerade das Entgegengesetzte, da er keinen Grund
sah, seine Unterthanen zu hindern, nach ihrem Gefallen zu tanzen. Ich ver¬
sprach meinen Festgenossinnen, sie auf einen Ball zu führen, sobald es ge¬
lungen sein würde, eine Festlichkeit dieser Art ausfindig zu machen, bei der
man nicht Gefahr laufe, erkannt zu werden/' — Wie das Beispiel des leicht¬
fertigen Abb6s und Memoirenschreibers zeigt und zahlreiche andere Beispiele
bestätigen, trug die Weltgeistlichkeit jener Zeit ihr redliches Theil zur Ausge¬
lassenheit des Festtreibens bei. Der oben angeführte Präsident De Brosses,
der in Privatbriefen meisterhafte Schilderungen des gleichzeitigen Lebens nieder¬
gelegt hat, führt uns auch die jungen Abb6s vor, „die bei einem öffentlichen
Schauspiel in Gegenwart von viertausend Menschen von berühmten Courtisanen
sich mit dem Fächer auf die Nase schlagen lassen", sowie die Nonnen in den
Klöstern, „welche ihre Schönheit ins rechte Licht setzen durch einen reizenden
kleinen Haarputz, ein weit ausgeschnittenes Kleid, das Schultern und Hals
nicht mehr noch minder als bei den Schauspielerinnen sehen läßt." —
Schon gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatten sowohl die
glänzenden Privatfeste wie überhaupt die hervorragende Betheiligung der
Aristokratie aufgehört und das Vergnügen, wie wir aus Goethes Beschreibung
sehen, mehr den Charakter eines Volks- und Straßenfestes angenommen.
Goethe, für dessen klaren Verstand und aristokratische Empfindung übrigens
etwas Peinliches in diesen Tollheiten lag, nennt es „ein Fest, welches das
Volk sich selbst gibt", in dein Jeder — und so ist es noch hente — von der
gegebenen Erlaubniß, sich auf eigene Faust nach Gefallen zu belustigen, Ge¬
brauch macht und niemand sich beklagt, wenn er unter den Licenzen ein wenig
leidet. — Das Privileg, welches zu seiner Zeit die hohen Würdenträger, die
fremden Gesandten, der Gouverneur und der Senat hatten, statt in der Reihe
der übrigen Wagen in der Mitte des Corso ihre Auffahrt zu halten, hat auf¬
gehört wie die übrigen Privilegien. Heute ist nur das der allgemeinen und
unterschiedslosen Belustignngsfreiheit übrig; außerdem, wenn man dies so
nennen will, das der z w eispännigen Wagen, denen allein die Theilnahme an
der Corsofahrt gestattet ist. Der Aufwand an Geist, Witz und ursprünglichem
Vvlkshumvr ist zu Goethes Zeit offenbar noch größer gewesen als er es jetzt ist:
immerhin nimmt man dessen in Rom noch weit mehr wahr, als man in unserer
vlasirten Zeit erwarten sollte.
Was im Jahre 1444 die theologische Fakultät von Paris erklärte: „daß
der Karneval der Christen in seinen Ausgelassenheiten die höchste Aehnlichkeit
mit dem heidnischen habe", wird ihm hente niemand mehr zum Borwurfe
machen. Wohl aber kann man noch mit Goethe sagen; daß „in den Extra¬
vaganzen des römischen Karnevals das deutlichste Bild unserer Existenz" zu
Der Schlußakt des lang ausgesponnenen Dramas der Präsidentenwahl in
den Vereinigten Staaten hat seine Endschaft erreicht. Der Kandidat der re¬
publikanischen Partei, Rutherford B. Hayes, bisher Gouverneur des
Staates Ohio, ist der Nachfolger von U. S. Grant; er tritt sein hohes, ver¬
antwortliches Amt unter Umständen an, die in politischer und nationalöko-
nomischer Beziehung die größten Schwierigkeiten mit sich bringen.
Die Art und Weise, wie Hayes den Präsidentenstuhl der Vereinigten
Staaten bestieg, steht einzig in der Geschichte dieser Republik da. Nach deu
Bestimmungen der Bundesverfassung und den ergänzenden Gesetzen mußte der
Präsident des Buudesseuats am zweiten Mittwoch im Februar des Jahres,
in welchem der neugewählte Präsident der Union sein Amt anzutreten hatte,
in gemeinsamer Sitzung der beiden Kongreßhäuser die aus den verschiedenen
Unionsstaaten an ihn eingesandten (Zertifikate und Abstimmungslisteu der Prä-
sidentenwahlmänner oder Elektoren eröffnen und zählen lassen und, nachdem
dies geschehen, diejenige Person, welche die höchste Zahl der Stimmen für das
Präsidentenamt erhalten, als erwählten Präsidenten proklamiren, wenn selbige
Zahl eine Mehrheit der ganzen Anzahl der Elektoren ausmachte. Es war
jedoch in diesem Jahre vorauszusehen, daß — bei dem geringen Unterschiede
der Zahl der Wahlmännerstimmen (184 zu 185) und bei den mangelhaften
Bestimmungen der Bundesverfassung in Bezug auf das Auszählen der Elektoral-
stimmen — während des offiziellen Zählnngsaktes zwischen dem in seiner
Mehrheit republikanisch gesinnten Senate und dem in seiner Mehrheit demo¬
kratisch gesinnten Repräsentantenhause die heftigsten, die ganze hochwichtige
Handlung vielleicht störenden Scenen stattgefunden haben würden. In Er¬
wägung dieses Umstandes faßte daher, nach längeren Diskussionen in der Presse
und in der Nativnalgesetzgebung, der Kongreß den Beschluß, ein gemeinsames
Könnt) (^vint, Lvmmitwe) aus den Mitgliedern des Senats und des Re-
Präseutauteuhauses zu erwählen und damit zu betrauen, einen Plan ausfindig
zu machen, wie die verwickelte Präsideuteustreitfrage in billiger, gerechter und
möglichst unparteiischer Weise gelöst werden könnte. Von Seiten des Senats
wurden in dieses aus vierzehn Mitgliedern bestehende Komik6 gewählt die Re¬
publikaner George F. Edmunds, Oliver P. Morton, Fr. I. Frelinghuysen und
Roseoe Conkling und die Demokraten A. G. Thürmen, T. F. Bayard und
M. W. Ransom; das Repräsentantenhaus bestimmte dazu die vier Demokraten
H. B. Payne, E. Hnnton, A. S. Hewit und Wen. M. Springer, sowie die
drei Republikaner G. M. Mac Crary, G. F. Hoar und G. Willard. Mithin
waren die beiden rivalisirenden Parteien in diesem gemeinsamen Konnte gleich
stark vertreten. Das Resultat der Berathungen des KomitM war die soge¬
nannte Kompro alß- oder Ausgleichungsbill, welche, mit Ausnahme
von Olivier P. Morton, von sämmtlichen Komik^angliedern unterzeichnet und
in den letzten Tagen des Januar d. I. den beiden Kongreßhünsern zur Be¬
schlußfassung vorgelegt wurde. Bei der Berathung derselben entbrannte ein
äußerst erbitterter Redekampf. Die Gegner der Bill machten vornehmlich drei
Punkte geltend: 1) Die angebliche Lückenhaftigkeit der Bundesverfassung in
Bezug auf die Aufzählung des Elektoralvotums habe niemals gehindert, daß
die Elektoralstimmen den Bestimmungen, der Konstitution gemäß von dem jedes¬
maligen Senatspräsidenten gezählt seien, und daß letzterer darnach das Resultat
selbständig festgestellt habe; 2) es sei nicht in der Ordnung, daß die beiden
Kongreßhäuser sich der in der fraglichen Angelegenheit ihnen gesetzlich zu¬
stehenden Gewalt so weit entäußerten, daß sie dieselbe einer Kommission über¬
trugen; 3) die Bill überweise den Richtern des Oberbundesgerichts etwas,
was nicht in den Bereich der richterlichen Funktionen, welche die Konstitution
dem Oberbnndesgerichte zugetheilt habe, gehöre. Dagegen wiesen die Freunde
des Ausgleichs mit Erfolg uach, daß der Senatspräsident sich vom Bestehen
der Republik an niemals angemaßt habe, bei der Zählung der Elektoralstimmeu
einen zweifelhaften Fall eigenmächtig- zu entscheiden, sondern daß dies stets
von beiden Häusern des Kongresses in gemeinsamer Sitzung geschehen sei; daß
in der Ueberweisung der Entscheidung zweifelhafter Fragen an eine speziell
dazu gewählte Kommission in erster Instanz mit Vorbehalt der schließlichen
Bestätigung dnrch die beiden Kougreßhäuser keine größere Entäußerung und
Uebertmgung von konstitutioneller Gewalt liege, als diejenige, welche von jeher
in ähnlichen Fällen gebräuchlich gewesen sei; und endlich, daß das Heranziehen
von Mitgliedern des Oberbundesgerichts zu Geschäften, welche nicht durch die
Verfassung ausdrücklich als innerhalb ihrer regelmäßigen richterlichen Funktionen
liegend bezeichnet seien, ebenfalls von den frühesten Zeiten der Unionsregiernng
an stattgefunden habe und mit dem Geiste der Bundesverfassung vollkommen
im Einklang stehe. Außerdem betonten die Vertheidiger der Ausgleichuugsbill,
daß unter den obwaltenden kritischen Verhältnissen eine möglichst unparteiische
Entscheidung der Präsideutschaftsfrage angestrebt werden müsse. Als es zur
Abstimmung ging, stimmten im Senate von den Demokraten sechsundzwanzig
für die Bill und nur einer dagegen, von den Republikanern waren einund¬
zwanzig dafür und sechzehn dagegen. Auch im Repräsentantenhause, welches
mit hnnderteinnndneunzig gegen sechsundachtzig Stimmen sich für den Aus¬
gleich entschied, traten die Demokraten zahlreich für denselben ein.
Die Hauptbestimmungen der Kompromiß- oder Ansgleichungsbill waren
nun aber folgende: Es sollte eine Kommission, bestehend aus fünf Senatoren,
fünf Repräsentanten und fünf Mitgliedern des höchsten Gerichtshofes der Ver¬
einigten Staaten als Schicdsgcrichtshvs gebildet werden. Diesem Tribunale
sollten die streitige:: Elektornlstimmen, über welche sich die beiden Kongre߬
häuser in gemeinsamer Sitzung beim Auszählen des Elektoralvotums nicht
sofort einigen konnten, zur nähern Prüfung und Entscheidung (clveision) vor¬
gelegt werde::. Die Mitglieder der schiedsrichterliche:: Kommission mußten
schwören, daß sie alle ihnen vorgelegte:: Fragen unparteiisch prüfen und „ein
gerechtes Urtheil true? MlAmoiit,) darüber in Gemäßheit der Verfassung
und der Gesetze" abgeben wollten. Der Kommission sollte dieselbe Gewalt zu¬
gestanden werden, welche die beiden Kongreßhänser, mochten sie getrennt oder
zusammen tagen, besitzen; sie sollte ihre Entscheidungen nach Stimmenmehrheit
treffen. Ihre Entscheidungen, die übrigens nnr ni llve, d. h. für die gerade
vorliegende Präsidentenwahl Kraft hatten, sollten nicht ohne Weiteres die Kraft
einer definitiven Entscheidung haben, sondern in letzter Instanz den beiden
Häusern des Kongresses zur Genehmigung oder Verwerfung vorgelegt werden;
um dieselben zu verwerfe::, sollte es aber eines übereinstimmenden Be¬
schlusses (convuii-vnd an-clor) beider Hänser bedürfen. Im Falle, daß ein
Kongreßhaus dafür und das andere dagegen stimmte, sollte die Entscheidung
der Funfzehner-KomMission als end giltige Entscheidung feststehen. Die
sechste Sektion der Kompromißbill sicherte übrigens dem unterliegenden Präsident¬
schaftskandidaten den Rechtsweg, d. h. er konnte vor den Gerichten der Ver¬
einigten Staaten, namentlich vor dem Oberbundesgerichte, sein vermeintliches
Recht weiter verfolge«.
Die Funfzehner - Kommission war aus folgenden Mitgliedern zusammen¬
gesetzt: der Senat delegirte die Republikaner Edmunds, Morton nud Freling-
huysen und die Demokraten Bayard und Thurnau, das Repräsentantenhaus
entsandte die Demokraten Payne, Hunton und Abbott und die Republikaner
Hoar und Garfield; vom Oberbundesgericht traten bei die Richter: Cliffvrd,
strong, Miller, Mett und, nachdem Davis, der Freund Abraham Lincolns,
abgelehnt, weil er zum Bnndcssenator für den Staat Illinois erwählt war
und deshalb aus dem Oberbnndesgericht ausscheiden mußte, Bradley.
Von entscheidender Wichtigkeit waren die Verhandlungen vor und in der
Funfzehner - Kommission (den beiden Parteien war erlaubt worden, sich durch
je zwei Mitglieder als Rechtsanwälte vertreten zu lassen) in Betreff der Fest¬
stellung der Grenzen der Rechte der einzelnen Uuionsstaciten und der Union
als solcher bei der Wahl der Präsidentenwähler oder der Elektoren. Die Kom¬
mission war hier in ihrer Mehrheit (mit acht gegen sieben Stimmen) der An-
ficht, daß die Autorität der Einzelstaaten mit dem Momente aufhört, wo die
Präsidentenwähler mich eigener freier Wahl ihre Stimmen für den einen oder
den anderen Präsidentschaftskandidaten abgegeben haben; erst nachdem dies
geschehen, tritt, so meinte jene Mehrheit, die Präsidentenwahl in das Rechts¬
gebiet der Union, und der Kongreß bringt durch Zählung der Elektoralstimmen
die Präsidentenwahl zu Ende. Da nun der Kongreß die ihm bei der Präsiden¬
tenwahl zustehende Gewalt der Fnnfzehner-Kommission durch das Ausgleichuugs-
gesetz übertragen hatte, so prüfte die Kommission die Legalität der einzelnen
Elektoralstimmen und traf darnach ihre Entscheidung; auf ein Zurückgreifen
auf die Art und Weise der Elektoren selbst ging die Mehrheit der Kommission
nicht ein, weil nach ihrer Ansicht dies in das Rechtsgebiet der Einzelstaaten
gehörte. Ans Grund dieser Rechtsanschauung stimmten die Kommissions-
mitglieder: Bradley, Edmunds, Frelinghnysen, Garfield, Hoar, Miller,
Morton und strong auch bei den am meisten bestrittenen Elektoralstimmen
der Staaten Florida, Louisiana, Oregon und Vermont dafür, daß diese
Stimmen in gesetzmäßiger Weise für Rutherford B. Hayes als Präsidenten
und für William A. Wheeler als Vicepräsidenten abgegeben worden seien und
diese beiden Kandidaten daher mit huudertfünfuudachtzig gegen hundertvier-
undachtzig Stimmen in der Präsidentenwahl über ihre beiden demokratischen
Gegner den Sieg davon getragen Hütten. Wohl protestirte die Mehrheit des
Repräsentantenhauses gegen diese Entscheidung, wohl versuchten einige extrem¬
gesinnte Demokraten, den Schiedsrichterspruch und die betreffenden Verhand-
lungen durch parlamentarische Kunstgriffe bis nach dem 4. März, dem Tage
der Endschaft des Präsidenten Grant, hinzuziehen und so noch eine Chance für
Tilden und Hendricks zu gewinnen; aber es war vergebens, in der am 2.
März d. I. stattgehabten gemeinschaftlichen Sitzung des Senats und des Re-
prüseutantenhauses wurden, im Einklang mit der Entscheidung der Majorität
der Fnnfzehner-Kommission, Hayes und Wheeler als mit hundertfünfnndachtzig
Stimmen zum Präsidenten, resp. Vicepräsidenten, der Union erwählt proklamirt.
Die Verkündigung dieses Beschlusses erfolgte, obschon demselben die lebhaftesten
Debatten vorangingen, ohne irgend welche Störung. Ob aber Tilden und
Hendricks von dem ihnen durch die sechste Sektion des Kompromißgesetzes frei¬
stehenden Rechtsmittel Gebrauch machen werden, muß abgewartet werden; die
Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß in diesem Falle das Oberbundesgericht zu
Gunsten von Hayes und Wheeler entscheiden wird.
Die Mehrzahl der Bürger der Verewigten Staaten sehnt sich jedenfalls
nach Beendigung der Präsidentschaftswirren, die den Interessen des Handels
und des Verkehrs äußerst schädlich waren. „Die Union braucht", wie Präsident
Grant in einer seiner letzten Kongreßbotschaften mit Recht sagte, „Frieden,
Ruhe und Harmonie unter allen Parteien und in allen Theilen." Möge es
Hayes vergönnt sein, die in dieser Hinsicht selbst im Süden der Vereinigten
Staaten vielfach ans ihn gesetzten Hoffnungen nicht zu täuschen!*)
Endlich hat der Reichstag seine Arbeit beginnen können. Daß der Reichs¬
haushaltsetat für das Jahr 1877/78 mit den bisherigen Mitteln uicht zu bestreikn
sein werde, war längst bekannt. Seit Kurzem kannte man auch die Summe, auf
welche das sogenannte Defizit sich belaufen würde, nämlich rund vierundzwanzig
Millionen. Nur das blieb bis zum Erscheinen des Etatsgesetzentwurfs im
Unklaren, welchen Weg der Bundesrath schließlich zur Deckung vorschlagen
werde, ob eine Vermehrung der eigenen Einnahmen des Reichs oder eine Er¬
höhung der Matrikularbeiträge. Nicht gering war das Erstaunen, als man
diese Kardinalfrage im Etat zwar durch die Beschreidung des letzteren Weges
entschieden sah, dem betreffenden Kapitel jedoch die Bemerkung hinzugefügt
fand: „Der volle zur Deckung der Ausgaben erforderliche Betrag an Matri-
kularbeitrügen ist hier nnr vorläufig in Ansatz gebracht, indem vorbehalten
wird, eine Vermehrung der eigenen Einnahmen des Reichs zum Zweck der
Herabminderung der Matrikularbeiträge in Erwägung zu ziehen" Das Problem,
die Matrikularbeiträge ganz oder theilweise durch eigene Einnahmen des Reichs
zu ersetzen, ist so alt wie der norddeutsche Bund. Der von Seiten der Re¬
gierung wiederholt gemachte Versuch, neue Steuern einzuführen, ist — mit der
einzigen Ausnahme der Wechselstempelsteuer — gescheitert. Ganz bestimmt
hat sich in der letzten Legislaturperiode die Situation dahin abgeklärt, daß an
eine Annahme neuer Stenerprojekte im Reichstage nicht zu denken ist, wenn
dieselben sich nicht als Bestandtheile eines umfassenden Refvrmplanes darstellen,
welcher das Steuerwesen des Reichs und der Einzelstaaten in ein rationelles
Verhältniß zu einander setzt. Ueber die außerordentlichen Schwierigkeiten, mit
denen die Ausarbeitung eines solchen Planes verknüpft ist, herrscht nur eine
Ausicht. Und nun behält sich die Reichsregierung vor, in Bezug auf einen
Etat, der dem Reichstage am 4 März übersandt wird und am I. April in
Kraft treten soll, eine Vermehrung der eigenen Einnahmen des Reichs „in
Erwüguug zu ziehen"! Das konnte nach Lage der Sache doch nur dahin
verstanden werden: „Wir (d. h. die verbündeten Regierungen) haben den er¬
forderlichen Reformplan all die Jahre her noch nicht zu Stande gebracht, wir
wollen aber sehen, ob das Werk nicht in den nächsten drei Wochen gelingt."
Der Eindruck, welchen diese kaum begreifliche „Erläuterung" auf die Reichs¬
boten gemacht, ist schwer zu beschreiben. Und der Präsident des Reichskanzler-
cnnts übertrumpfte ihn uoch, indem er erklärte, daß der Bundesrath von der
„Stimmung" des Reichstags abhängig machen werde, ob er zum Zweck der
Deckung jeuer vierundzwanzig Millionen mit neuen Steuervorschlägen hervor¬
treten solle oder nicht.
Traurig zu sagen: ein kläglicheres Geständniß der eignen Rathlosigkeit
hat kaum jemals eine Regierung vor einer Volksvertretung abgelegt. Mit
vollem Recht kennzeichnete der Abgeordnete Laster den ganzen Ernst dieser be¬
dauerlichen Erscheinung. Wo liegt der Grund, daß es nicht vorwärts gehen
will? daß es bis zu diesem Aeußersten kommen mußte? Nur eine Meinung
ist darüber, daß der Fehler in der Organisation der Reichsverwaltung, in dem
Mangel verantwortlicher Reichsministerien, besonders eines verantwortlichen
Reichsfinanzministers, zu suchen ist. An wen soll heute der Reichstag sich
halten, um die Initiative in der Steuerreform zu fordern? Er kennt nur
einen verantwortlichen Beamten, den Reichskanzler, und dieser hat erst vor
nicht langer Zeit den Reichstag mit der Erklärung überrascht, daß er nur für
die Exekutive, nicht auch für die Gesetzgebung verantwortlich sei. So stehen
wir vor dem Vacuum. In Preußen ist es die ganz bestimmte Person des
Finanzministers, von welcher die Volksvertretung die gesetzgeberische Initiative
in Steueraugelegenheiten erwartet, gegen welche sie ihren Tadel richtet, wenn
diese Initiative unterbleibt, gegen welche ihr zahlreiche Mittel zu Gebote stehen,
um sie zu dem gewünschten Vorgehen zu drängen. Im Reich steht an der Stelle
dieser bestimmten Person der unfaßbare Begriff der „verbündeten Regierungen".
Von diesem Konglomerat der widerstrebendsten Elemente eine schöpferische Ini¬
tiative erwarten, wäre thöricht. Also ist der sonnenklare Schluß: man ändere
die Organisation der Reichsverwaltung, mau schaffe selbständige, verantwort¬
liche Ressorts, wenn anders man nicht die Entwickelung des Reichs der be¬
denklichsten Stagnation, die Gesetzgebung der unseligsten Verfahrenheit verfallen
lassen will.
Die Abneigung des Fürsten Bismarck gegen selbständige Reichsministerien
ist bekannt, Um war die Art, wie er diesmal die Undurchführbarst des
Vorschlags zu beweisen suchte. Sonst war es der Kampf der Ressorts im
Preußischen Staatsministerium untereinander, die Machtlosigkeit des preußischen
Ministerpräsidenten, was als abschreckendes Beispiel dienen mußte; jetzt wurde
die unbezwingbare Opposition der Partikularregierungeu, bezw. der einzelnen
Ministerien dieser Regierungen als Hnuptargument ins Feld geführt. Statt
die Mängel des heutigen Zustandes zu beseitigen, werde man den Partikularis¬
mus nnr reizen und stärken. Beweis: das Schicksal des Neichseisenbahnamts.
Nach der Darstellung des Reichskanzlers ist die heutige Zeit durchaus nicht
geeignet zu irgendwie centralistischer Organisation, die Reichsidee hat Ebbe,
der Partikularismus Flut. Das darf aber nicht tragisch genommen werden;
es wird schon wieder umgekehrt kommen. Das ist der natürliche Lauf der
Dinge. Im Uebrigen: „Lassen wir unsern Kindern auch noch etwas zu thun,
es könnte ihnen sonst langweilig werden."
So der Reichskanzler. Die Wirkung gewisser Ereignisse der jüngsten
Vergangenheit, die sattsam bekannt, und vielleicht noch anderer, die hinter den
Coulissen vorgegangen sind, war in seinen Ausführungen unverkennbar. Haben
aber wirklich dermalen die centrifugalen Bestrebungen die Oberhand, dann
kann es mir einen unheimlichen Eindruck machen, den obersten Leiter, ja den
Schöpfer des Reichs über diese hochbedenkliche Situation im Tone halb scherzender
Plauderei reden zu hören.*) Das junge Reich ist noch bei weitem nicht genug
gefestigt, um eine ernstliche partikularistisch-reaktionüre Strömung ohne Gefahr
ertragen zu können. Ist es wirklich Fürst Bismarcks Meinung, daß man einer
solchen Strömung gegenüber die Hände in den Schoß legen, geduldig ab¬
warten müsse? — Der Reichskanzler hat ein wenig sehr die Sphinx gespielt.
Schwerlich wird Jemand aus seinen Aeußerungen ganz entnehmen wollen, wie
er über Deutschlands Gegenwart und Zukunft denkt. So viel aber bleibt
bestehen: die aufsteigende Flut des Partikularismus ist konstatirt. Damit ist
allen Nativnalgesinnten ihre Pflicht gewiesen.
Um auf den Ausgangspunkt, die Frage der Steuerreform, zurückzukommen,
so hat der Reichskanzler sein Möglichstes gethan, das Mißgeschick des Herrn
Hofmann wieder gut zu machen und der erwähnten Etatsbemerkung eine
möglichst harmlose Deutung zu geben. Darnach ist dies der Sachverhalt:
Die Reichsregierung, weit entfernt, sich zur Initiative in der Steuerreform für
impotent zu erklären, hat vielmehr bereits einen festen Plan für dieselbe und
hofft, ihn dem Reichstage in der nächsten Session vorlegen zu können. Jn-
zwischen würde sie nicht abgeneigt sein, wenn etwa von Reichstage der
Wunsch nach einer provisorischen Steuer zum Zweck der Herabminderung
der Matrikularbeiträge ausgesprochen werden sollte, aus eine solche einzugehen.
Der Reichskanzler „persönlich" ist aber der Meinung, daß eine derartige Vor¬
wegnahme einer einzelnen Steuer vor der Gesanimtreform nicht wohlgethan
sein würde — eine Meinung, die mit derjenigen des Reichstages vollkommen
übereinstimmt. Auffallend bleibt hier zweierlei, einmal, daß Herr Hofmann
des bereits in so naher Aussicht stehenden umfassenden Reformplanes gar keine
Erwähnung that; sodann, daß trotz der Ueberzeugung des einzigen verantwort¬
lichen Reichsbeamten von der Unzweckmäßigst, in den gegenwärtigen Etat
eine neue Steuer aufzunehmen, die Regierung sich in dem Etat die Aufnahme
neuer Steuern ausdrücklich vorbehält. Die Nothwendigkeit einer anderen Ein¬
richtung der Verwaltung des Reichsfinanzwefens wird durch diese Widersprüche
zum mindesten nicht widerlegt.
Angesichts der großen Organiiations- und Reformfragen trat der eigent¬
liche Gegenstand der Debatte, der Etat für das Finanzjahr 1877/78, ganz in
den Hintergrund. Die Kernfrage, die Deckung der vierundzwanzig Millionen,
wird ihre Lösung dahin finden, daß etwa die Hälfte durch Uebernahme der
Pensionen aus den Kriegen vor 1870 auf den Reichsinvalidenfonds, durch
Einstellung der ferneren Zinsen des Reichsgebändefonds in den Etat, durch
Uebertragung einer Anzahl von Kasernenbauten aus dem Etat auf die große
Kasernirungsanleihe und durch kleinere Ersparnisse, die andere Hälfte durch
entsprechende Erhöhung der Matrikularbeiträge gedeckt werden wird. Da den
Matrikularbeiträgen die ganze Ungerechtigkeit einer Kopfsteuer anhaftet und
die Kleinstaaten in unverhältnißmäßigen Grade durch sie belastet werden, so ist
dies Ergebniß immerhin zu beklagen. Zu einigem Trost kann indeß dienen,
daß die Matriknlarbeiträge auch uach dieser Erhöhung noch wesentlich hinter
dem Betrage, den sie bis zum Jahre 1872 hatten, zurückbleiben werden. Außer¬
dem ist jetzt über allen Zweifel klargestellt, daß von allen Seiten die
baldige Durchführung einer Steuerreform angestrebt wird, durch welche die
Matrikularbeiträge erheblich herabgemindert, womöglich ganz beseitigt werden.
Die Stimmen, welche die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Einrichtung
dieser Beiträge im Interesse der Machtstellung des Reichstags — weil derselbe
in Bezug auf sie in Wirklichkeit ein jährliches Seene'rbewilliguugsrecht übt —
geboten erklärten, sind größteutheils verstummt. Ueberwiegend geht die Ansicht
dahin, daß um dieses Grundes willen unmöglich eine allgemein sür ver¬
werflich geltende Steuer beibehalten werden dürfe. Auch ist nicht anzunehmen,
daß sich im Zusammenhange mit der großen Steuerreform nicht eine Einrich-
tung treffen lassen sollte, durch welche der Reichstag für das Aufgegebene voll¬
auf entschädigt würde.
Ju Summa: der Etat bringt uns deutlich zum Bewußtsein, daß die Aera
der fetten Jahre vorüber ist; doch bietet er keine Ursache, der Zukunft mit
Pessimismus entgegenzusehen. Bedenklicher ist, was im Zusammenhange mit
diesem Etat zur Sprache gekommen. Aber es soll uus ein Sporn, nicht eine
Läh
Die beiden Broschüren enthalten die stärksten Angriffe auf die Juden, die
uns seit langer Zeit vorgekommen sind. Mit salbungsvollen Pathos und
einem starken Aufwand von Sentimentalität, mit den ärgsten Uebertreibungen
und in der ersten Schrift mit offenbarer Entstellung des wahren Sachverhält¬
nisses wird der Welt verkündigt, daß die Deutschen auf dem besten Wege sind,
von den Juden nicht nur ausgesogen, sondern auch unterworfen und regiert
Zu werden. Wir fühlen uns nicht berufen, diese und andere Abgeschmackt¬
heiten, bei denen zuweilen der Parteihaß der Agrarier gegen die Natiouallibe-
rnlen und die Absicht, zu Gunsten jener auf die Wahlen zu wirren, nur zu
deutlich hervortritt, zu widerlegen, da die krassen Schlüsse, welche die
Pamphlete ans gewissen Thatsachen ziehen, sich vor dem Verständigen von
selbst richten. Dagegen wollen wir auch uicht verschweigen, daß dieselben einige
Grundgedanken enthalten, die in der Weise, wie Robert v. Mohl sie ausdrückt,
nicht wohl für unrichtig erklärt werden können, und daß gewisse statistische An¬
gaben, welche die erstgenannte Broschüre bringt, uns in der That zu denken
geben.
v. Mohl sagt in seiner „Politik", Bd. Ä, S. 673: „Es ist nicht richtig,
daß die Juden, mit einziger Ausnahme der Religion, der übrigen Bevölkerung
völlig gleichartig sind. Der eine Punkt, in welchem die Voraussetzung als
wesentlich unrichtig bezeichnet werden muß, ist der, daß man die doppelte Na¬
tionalität derselben übersehen hat. Der Jude ist nicht Deutscher allein, sondern
er ist auch Jude, ja er ist dies sogar vor allem und ehe er Deutscher ist und
sich als solcher fühlt. Die Juden halten an ihrer Stammeseigenthümlichkeit
mit unerschütterlicher Festigkeit, sind von ihr ganz durchdrungen und bleiben
nach Jahrhunderten vollkommen getrennt und verschiedenartig. Sie bilden
nirgends eine geschlossene, auf einem bestimmten Territorium zusammenbleibende
Gesammtheit, sondern sind in einzelnen Familien verstreut über das Land.
Und doch verbleiben sie in ihrer Eigenart, sind ihren in andern Ländern in
gleicher Weise lebenden Stammverwandten gleichartiger und zugethaner als
ihren zufälligen thatsächlichen Landsleuten." „Der zweite Punkt, in welchen:
jene Voraussetzung sich als unrichtig erweist, ist die entschiedene Schen der
Juden gerade vor denjenigen Arbeiten, auf welchen die Gesellschaft vorzugs¬
weise beruht, nämlich vor Ackerbau und jedem eine starke Körperkraft erfordern¬
den Handwerke. Auch da, wo sie seit Jahrzehnten Grund und Boden erwerben
und jedes Gewerbe betreiben dürfen, gehört es zu den seltensten Ausnahmen,
daß ein Jude das Feld selbst bebaut oder das Handwerk eines Schmiedes,
Zimmermeisters, Maurers u. dergl. betreibt, man findet sie nicht unter den Eisen¬
arbeitern, den Matrosen, den Bergleuten. Zur Noth ergreifen sie die feineren
Gewerbe, der größte Theil aber geht dem Handel in seinen verschiedenen
Zweigen und Dienstleistungen nach, ein anderer Theil widmet sich den Wissen¬
schaften oder Künsten oder treibt das gewerbsmäßige Literatenthnm." „Man
soll nicht behaupten, daß dies ein gesunder, den wahren Interessen der Ge¬
sellschaft zuträglicher Zustand sei, mau soll nicht übersehen, daß hier eine eigen¬
thümliche und fremdartige Natur des Stammes hervortritt."
Man nimmt nnn an, daß bei voller Gleichberechtigung der Juden mit
den Deutschen jene ihrer einseitigen Lebensrichtung entsagen und sich mehr der
Landwirtschaft und dem Handwerk zuwenden würden, Aber mau vergleiche
damit folgende Thatfache. Das Judenemaneipations-Gesetz in Preußen er¬
ging im Sommer 1847, und was es in Betreff der Stellung der Juden zu
den verschiedenen Thätigkeitsbranchen bewirkt hat, mag folgende Tabelle zeigen.
Von der jüdischen Bevölkerung Preußens waren selbstthätig:
Diese Liste konstatirt die stärkste Zunahme da, wo die geringste körperliche
Anstrengung und der größte Gewinn ist, nämlich im Bankgeschäft und im
Großhandel. In denjenigen Thätigkeiten, die körperliche Arbeit bei geringem
Gewinnst erfordern, finden wir durchweg Abnahme der Selbstihäligen. Wenn
die „Landwirthe" sich etwas vermehrten, so bedeutet das wohl nur, daß eine
Anzahl von Bankiers und Großhändlern sich, Grundbesitz als eine Art Luxus
erwarben. Die Eigenthümer sind hier höchst selten die Bewirthschafter. Im
preußischen Staate gab es 1861 642 Bankiers, und davon waren, wie wir
sahen, 550 Indem 1855 existirten in Berlin 519 Großhandlungen und
in Breslau 242, davon waren dort 441, hier 2>2 im Besitze von Juden.
Im Centrcilausschuß der Reichsbank sind nnter 15 Mitgliedern 11 Juden.
Während im Jahre 1867 von der Gesammtbevölkerung einschließlich der
Juden 1,80 Prozent in die höchste Einkommensteuerkasse fielen, gehörten dieser
Klasse bereits im Jahre 1871 von den Juden rund 6 Prozent allein an
Bankiers und Großkaufleuteu an.
Der Verfasser beantwortet hier die Frage, ob die militärischen Schriften des
großen Königs nur noch Bedeutung für die geschichtliche Forschung haben, oder
ob in ihnen anch jetzt noch vom Wechsel der Zeiten nnberührbare Wahrheit
enthalten sei, geeignet, anch uns für die Aufgaben unsrer jetzigen Kriege befähigter
zu machen? Er stellt zu dem Zwecke zunächst eine kritische Untersuchung über
Entstehung, Folge und Inhalt dieser theils in Prosa, theils in der Form des
Lehrgedichts abgefaßten Schriften an. Dann betrachtet die Schrift mit Hin-
zunahme eiuer Anzahl militärischer Erlasse des Königs, die allerlei werthvolle
Anweisungen enthalten, den taktischen und strategischen Inhalt jener Lehrschriften
Näher, und das Resultat ist: ein Theil des militärischen Nachlasses Friedrichs
ist veraltet, Vieles dagegen besteht noch heilte zu Recht. Das letztere liegt hier
in neuer Gruppirung und in seinem Zusammenhang mit der Gegenwart nach¬
gewiesen vor, und wir meinen mit unsrer Schrift, daß dasselbe einen vollen
Einblick in eine Anschauung vom Kriege gewährt, wie sie schwerlich irgendwo
Naturgemäßer und genialer zu finden sein wird. Wir führen einige von diesen
Grundsätzen an. „Statt den Kampf hinzunehmen, zwinge man ihn dem Gegner
auf. Ein weiser General schlägt, wenn es Zeit ist, aber nie gegen seineu
Willen", n. s. w., immer das große Grundgesetz der Initiative: „^twiiuc?? clonv
tonsnurs", dem wir auch im letzten Kriege selbst da folgten, wo anfänglich die
Defensive geboten war. Wie für die Schlacht, so hält der König auch für die
Operationen den Angriff für das Natürlichste und Vortheilhafteste. So sagt
er in den I^vn^^Sö: „Ich glaube, daß ein vernünftiger Mann, so lange er leiden¬
schaftslos bleibt, niemals einen Krieg anfangen wird, in welchem er gezwungen
ist, defensiv zu verfahren" — ein Ausspruch, dessen Wahrheit dnrch den letzten
Krieg wieder auf das schlagendste bestätigt worden ist. „Der erste Grundsatz
für einen Offensivkrieg ist, große Projekte zu entwerfen, damit man, wenn sie
gelingen, anch große Erfolge erzielt. Dill^neu t'cmmzmi clans 1e vif, und
begnügt auch nicht, den Feind an seinen Grenzen zu bekämpfen. Man führt
nur Krieg, um den Feind, so rasch als möglich zu zwingen, einen vortheilhaften
Frieden zu unterzeichnen." In dem Entwürfe zu einer Offensive nach Frank¬
reich hinein heißt es unter Anderm: „Ihr entgegnet nur vielleicht, daß ich zu
viel feste Plätze in meinem Rücken lasse", und dann wird darauf hingewiesen,
daß ein energisches Vorgehen mit überlegner Macht es überflüssig erscheinen
lasse, erhebliche Kräfte zur Deckung des Rückens stehen zu lassen. So zeigt
sich auch in diesem Punkte der König durchaus auf der Höhe moderner An¬
schauungen, und es ist ein großer Irrthum, anzunehmen, daß es erst Napoleon
vorbehalten gewesen sei, die gewaltsame und rücksichtslose Natur des Krieges
klar zu erkennen, während er diese Erkenntniß, nachdem sie abhanden gekommen
war, doch nur von neuem in ihr Recht einsetzte. „Seid langsam und zögernd
im Erwägen, aber wenn es zu handeln gilt, seid rasch und kühn." Auf die
Entschlossenheit nach beendigter Ueberlegung gibt der König ganz besonders
viel, und so verlangt er sie mit der größten Entschiedenheit von seinen
Generalen. In der Instruktion für die Generalmajors von der In¬
fanterie, in welcher die klassische Erklärung des Wortes General ge¬
geben wird, (daß es einen Offizier bedeute, „der in das Große vom Kriege
«ntrir<-t") sagt der König an einer andern Stelle: „In Summa, darum
heißen sie Generale, damit, wenn sie eine Sache gut überlegt haben, sie solche
ans ihre Hörner nehmen." So vermied er denn auch jederzeit auss sorg¬
fältigste, die selbständige Thätigkeit seiner Unterführer mehr als durchaus noth¬
wendig zu beschränken oder etwa gar ihr selbstthätiges Eingreifen durch Ver¬
weisung auf noch zu erwartende Befehle zu hemmen. Daher sehen wir denn
crins die von ihm erzogenen Generale, bei aller Besorgniß vor der Strenge
ihres Herrn, doch, wo es nöthig war, fast immer selbständige Entschlüsse fassen,
selbst wenn die Billigung derselben seitens des königlichen Oberfeldherrn mehr
als zweifelhaft ist. Fassen wir endlich zusammen, was über den Vertheidi¬
gungskrieg gesagt wird, so ist vielleicht hierzu nichts geeigneter als die Stelle
in der „ä.re as la Suerre», in welcher die Grundanschauung Friedrichs vom
Wesen der wahren Defensive am reinsten zum Ausdruck gekommen ist:
VN l?Al)MS,
Rai-ollei- eomme ^.imibal".
— also Vorsicht mit Thatkraft und Kühnheit gepaart, nicht Vorsicht und Ab¬
wehr allein. „Und wie sehr auch die Umstände zur Defensive einladen möchte»",
sagt der Verfasser unsrer Schrift, „so muß uns doch allezeit der Mahnruf des
Königs gegenwärtig sein, daß wir thöricht handeln würden, ohne zwingenden
Grund auf die Offensive zu verzichten."
Die Grundgedanken des Verfassers sind: der Rückgang des deutscheu
Schaffens auf gewerblichen Gebiete ist nicht so sehr von den letzten Jahr¬
zehnten her zu datiren, nicht so sehr vom Gründerschwindel oder von einer
Gesetzgebung, die in wohlmeinenden Eifer die deutsche Arbeit wehrlos der
Konkurrenz von Ländern überließ, die ihr durch den Reichthum ihrer Natur¬
schätze oder durch die Leichtigkeit des Verkehrs überlegen sind, als vielmehr
davou, daß der dreißigjährige Krieg uoch heute nachwirkt. Ein so altes Uebel
kaun nur durch wirthschaftliche Erziehung allmühlig gehoben werden. Die Ge¬
setzgebung muß, absehend von Manchesterthevrien, die wenigstens nicht völlig
für uns passen, unsern gewerblichen Bedürfnissen mehr Beachtung schenken.
Vor allem aber müssen die Fachschulen so gestaltet und geordnet werden, daß
sie hier fördernd einzugreifen und ein bessere Zukunft heraufführen zu helfen
im Staude sind. Der Versasser sucht dann festzustellen, was bisher in Preußen
zu diesem Zwecke geschehen ist, und wie viel noch zu wünschen übrig bleibt, und
kommt dabei zu folgenden Vorschlägen: 1) Einführung der obligatorischen ele¬
mentaren Fortbildungsschule für Arbeiter, Lehrlinge und Gesellen bis zum
vollendeten siebzehnten Lebensjahre, unter Erhebung eines vom Arbeitgeber zu
zahlenden Schulgeldes; 2) Einführung der gewerblichen Fortbildungsschule,
deren Besuch von dem der unter 1) genannten entbindet, und deren Verwal¬
tung zum Ressort des Handelsministeriums gehört; 3) Beibehaltung von nicht
nach dem Plane vom 21. März 1870 reorganisirten Gewerbeschulen unter
Verminderung des Ziels in der Mathematik und Aufnahme des Deutschen in
den Unterrichtsplan; 4) Berechtigung der nicht reorganisirten Gewerbe-, der
Berg- und der übrigen besser eingerichteten Spezialfachschuleu, uuter Aufsicht
staatlicher Behörden Entlassuugsprüfuugen einzuführen, deren Bestehen den
Geprüften die Berechtigung zu kürzerer Dienstzeit, wenn mich unter weniger be¬
vorzugenden Bestimmungen wie deu Einjährig-Freiwilligen, erwirbt; 5) Beauf¬
sichtigung der unter 4) angeführten Lehranstalten dnrch Beamte, die zu diesem
Zwecke angestellt sind. Wir finden diese Vorschläge in der Schrift wohlbegründet,
und wenn wir auch nicht allem, was der Verfasser vorträgt, beizustimmen ver¬
mögen, so stehen wir doch nicht an, jene als im hohen Grade der Beachtung
werth zu bezeichnen.
An Unterstützung des Gedächtnisses ist hierbei im Ernste wohl weniger
gedacht, und die Erheiterung wird mit ziemlich schalen Versen im Stile von
„Die Hussiten zogen vor Naumburg" versucht, die dadurch, daß derselbe Spaß
in wenig veränderter Form immer wiederkehrt, nicht wirksamer werden. Amü¬
santer wirkt, daß diese Verse nach bekannten Volks- und Studentenmelodien
gesungen werden sollen, die nur dem Takt und Metrum nach, nicht aber nach
dem Sinn und der Stimmung zu ihnen passen. Manches — z. B. die Verse
über das Zeitalter des Perikles uach der Melodie „Dentschland, Deutschland
über Alles" und die über deu peloponnesischen Krieg, die wie „Wohlauf noch
getrunken deu funkelnden Wein" zu singen sind — ist hier in der That recht
drollig. Auf die Dauer aber- wird derartige Komik durch steten Gebrauch er¬
schöpft und das Spiel langweilig, weshalb nur von einer Fortsetzung av-
rathen möchten.^___' _________^____________ ^
Wenn wir uns hier mit diesem Gegenstande beschäftigen, der in Deutsch¬
land oftmals besprochen worden ist, so geschieht dies nur in der Absicht, eine
so lange bestehende Streitfrage zum ersten Male nach unanfechtbare« Quellen
gelöst zu sehen. Zudem wird uus durch die Kunst der Darstellung des itali¬
enischen Erzählers Domenico Berti die Gestalt Galileis menschlich nahe gerückt.**)
Interessant und meines Wissens in Deutschland wenig bekannt ist der
Lebenslauf der Akten des Prozesses. Nachdem sie seit dem Jahre 1633 in
dem römischen Archiv geschlummert, wurden die Akten unter dem ersten Kaiser¬
reich nach Paris mit anderen zusammen übergeführt. Napoleon, dessen Blick
oftmals auch das scheinbar Geringfügigste beachtete, befahl die Publikation der
Prozeßakten, und zwar so, daß sie zweisprachig erfolgte, dem Urtexte wurde
die französische Uebersetzung gegenübergestellt. Zu jener Zeit stand der Kaiser
mit der Kurie uoch auf etwas gespanntem Fuße. Die Uebersetzung wurde
auch begonnen, ihre Veröffentlichung aber stockte sehr bald. Die Gründe ent¬
zogen sich der Öffentlichkeit. Man greift aber wohl nicht fehl, wenn man die
Urheber dieser Verzögerung der Sache im Hausstande der Frau Lcititia Bona-
Parte, der Mutter des Kaisers, sucht. Im Jahre 1814 wurden die vollständigen
Akten der Privatbibliothek des Königs Ludwig XVIII. einverleibt, wie Graf
Blacas, der dem königlichen Hause vorstand, bezeugt. Vergeblich bat die rö¬
mische Kurie um Herausgabe der Akten bei den verschiedenen Regierungen,
welche in Frankreich einander ablösten. Die französischen Minister aller
Farben mußten diese Papiere für wichtig genug ansehen, um sie eventuell als
Waffe zu benutzen. Erst im Jahre 1846 gelang es dem Grafen Rossi, das
Manuskript von Louis Philippe zu erhalten; was der Graf dafür gegeben, ist
nicht bekannt. Der Bürgerkönig ist ja als guter Haushalter berühmt. Rossi
brachte die Alten persönlich dem jetzigen Papste zurück. Pius IX. endlich be¬
hielt sie in seiner Privatbibliothek bis zum Jahre 1848, wo sie in das geheime
Archiv des Vatikans übersiedelten. Nachdem verschiedene Schriften unter der
Autorisation, aber auch unter der Censur der römischen Kurie erschienen waren*),
erhielt dann im Februar 1870 Domenico Berti die erwähnte Erlaubniß.
Galilei befand sich auf der Höhe seines Ruhmes. Kopernikus, Tycho de
Brahe, Kepler waren seine Zeitgenossen, ans deren Schultern er zum Theil
stand. Sie alle waren dem Arme der römischen Kurie unerreichbar. Gerade
unter der protestantischen Geistlichkeit gab es, wie uoch heute, eine Anzahl
hervorragender Männer, welche im Gegensatze zur festgeschlossenen Priesterschaft
in freier Forschung es verstanden, die unbestreitbaren Wahrheiten der Wissen¬
schaft erträglich zu macheu dem treuen Bibelglauben frommer Gemüther. So
gewaltig war dieser Zug, daß auch die römische Priesterschaft in ganz Deutsch¬
land in ihren edelsten Elementen ihm willig sich hingab. Wir finden Züge
reinster Humanität, edelster Duldung zwischen den verschiedenen Bekenntnissen
der christlichen Lehre etwa bis zum Tode Kaiser Rudolfs II., obwohl schou
unter diesem Herrscher fanatische Unduldsamkeit sich regte. Aber auch unter
ihm wäre ein direktes Vorgehen gegen den Dänen de Brahe, gegen den Deutsch-
Polen Kopernikus, gegen den Deutschen Kepler einfach unmöglich gewesen. Man
hatte versucht, den einen wie den andern zu verfolgen, und nnr neue Triumphe
ihnen bereitet. >
Anders lagen die Dinge in Italien. Die innerlich faulen Zustände der
Renaissance, so glitzernd und gleißend sie nach außen erschienen, boten einer
konsequenten und energischen Macht, wie sie der römische Klerus unter dem
Einfluß der ebenso geschickt als rücksichtslos geführten Leitung der Jesuiten
bildete, ein reiches Feld. Wenn auch der Herzog von Florenz sich gern als
den freisinnigen Beschützer der Wissenschaften feiern ließ, so war er doch keines-
Wegs gesonnen, wegen irgend eines Planetensystems der Welt es mit Leuten
zu verderben, die einmal immer Geld hatten, wenn er dessen bedürfte, andrer¬
seits aus seinem und seines Vaters Privatleben so mauche pikante Züge kannten
und mühelos die stumpfe und bigotte Masse des Volkes zur Empörung treiben
konnten. Alles was sie für Galilei thun konnten, war eine landesväterliche
Warnung vor Unheil, und vermuthlich kam auch aus diesen hohen Kreisen dem
gelehrten Astronomen die erste Warnung zu, gerade als er auf dem Zenith
seines Ruhmes sich befand. Galilei aber war nebenbei auch Hofmann und
Kavalier genug, um den gauzen Werth eiuer solchen immerhin sehr dankens-
werthen Warnung uicht gering anzuschlagen. Als Kavalier, der seinerzeit den
Fechtboden mit Erfolg frequentirt hatte, wußte er, daß die beste Vertheidigung
ein schneller Gegenangriff sei. Sein Gegner war das „eollsgio romg.no", ein
Institut, welches aus halbgebildeter und gänzlich ungebildeten Pfaffen bestand
und ins Leben gerufen war unter dem Eindruck, den hundert Jahre vorher
die Weltumsegelung Magelhaens hervorgerufen. Mit Galilei machte diese Ge¬
sellschaft den letzten mißglückter Versuch, „Gedanken zu morde»." Ihre
spätere Existenz war nur ein schattenhaftes Hernmspukeu nnter den Titeln ver¬
botener Bücher. Mit dein mclex libiorum machte sie Reklame für kluge Buch-
händler, die gelegentlich heute noch fortwirkt. Zur Stunde aber, im Jahre 1611,
war sie eine Macht, mit der jeder Italiener, der nicht Mannesmuth genug
besaß, um seiner Ueberzeugung willen ins Exil zu gehen, rechnen mußte.
Galilei hatte soeben erst die Jnpitermonde entdeckt und sie mit Namen
der großherzoglichen Familie bezeichnet, aber des Großherzogs Privatsekretär
machte damals schon darauf anfmevksam, daß hierzu die Genehmigung des
Collegii zu Rom unentbehrlich sei. Möglicherweise war dies der warnende
Ruf, den der feine weltgewandte Galilei zu beachten beschloß. Er sicherte sich,
so gut er konnte. Gewissermaßen im Auftrage und auf Kosten des Herzogs
reiste er nach Rom und nahm seinen Wohnsitz in der toskanischen Gesandt¬
schaft, um seine persönliche Freiheit zu wahren.
In Rom ward er bald Mode. Kardinäle. Prälaten, Fürsten luden ihn
ein, er war die Seele aller Feste. Wenn unser Autor sagt: „In der Villa
des Marchese Cesi, ans dein Gipfel des Monte Janieulo, entzückte er eine ge¬
wählte Gesellschaft, indem er sie während der frühliugsfrischen Aprilnächte
das Himmelsgewölbe betrachten ließ, durch das Fernrohr, welches er erfunden
und mit seinem Namen geschmückt hatte", so ist dies zwar sehr schön gesagt,
aber nicht ganz richtig, denn das Fernrohr war, wie auch Galilei sehr wohl
wußte, vom Glasschleifer Johnson in Middelburg erfunden und von Galilei
nur verbessert worden. Allgemeine Begeisterung erregte er aber, als er eine drei
Miglien entfernte Inschrift mit Hülfe des Fernrohres den erstaunten Herrschaften
lesbar machte. Weit weniger Begeisterung, als diese Jnhrmarktstückchen, erregte
indeß sein Versuch, seine Ansichten über das Planetensystem „populär" zu
machen, wie wir hente sagen würden. Es gab zwar helle Köpfe genug
unter seinen Zuhörern, aber auch genug Andere unter der römischen Klerisei,
die da meinten, so lauge diese Wahrheit mir unter den Gelehrten, gewisser¬
maßen als eine mathematische oder astronomische Schrulle eirkulirte, oder nur
drüben bei den Ketzern, die doch keine der dermaligen Petcrspfennige in Form
von Ablaßzetteln zahlten, könne mau ein Ange zudrücken. Nun aber, da die Sache
hier in Rom, am Herzen des heiligen Vaters nnter die Leute komme, da sei
es ganz was andres. So fragte denn zuerst der Kardinal Bellarmin, vor¬
läufig ohne deu nennen Galileis zu nennen, bei dem gedachten Collegio an,
was es von den und den Ansichten halte, die kürzlich ein bedeutender Gelehrter
geäußert habe. Mau kann sich die Antwort denken, von Köpfen, die in ihrer
Jugend den Verstand geschärft hatten an den Fragen der Scholastiker: Hatte
Adam schon einen Nabel? Was war die Weise Melchisedeks für eine Weise?
Wusch Pilatus die Hände mit Seife? n. dergl., deren Phantasie sich mit den
obseönsten Zoten gesättigt hatte, mit denen ein Sanchez soeben erst (1(!t)7) die
frommen Kirchenväter so sehr erbaut hatte, daß der päpstliche Censor unter
seinen Folianten as. s. in^trimonio 8i^ra,molto die schamlose Censur setzte:
Jogi et pvrlkgi maxima. can vowMt«. Die Sache war ihnen zu hoch, sie
fanden nichts Verdächtiges in den Aufsätzen über die Jnpitermonde, die Ober¬
fläche des Mondes, über die Veränderungen der Venus und des Saturn. Die
klügeren Ankläger im Hintergründe mußten erst für bessere Ankläger sorgen.
Während der Papst Galilei mit großer Aufmerksamkeit behandelte, alle
Höflinge vor ihm sich krümmten, zog über ihn schon die Wetterwolke heran.
Hinter seinem Rücken frug mau vou Rom aus bei Gelegenheit eines andern
Prozesses bei dem geistlichen Gerichtshof zu Padua an, ob man dort nichts
Verdächtiges an Galileis Schriften gefunden habe. Zwar konnte auch vou
hier aus nicht offen gegen ihn vorgegangen werden, aber man war nun einmal
auf ihn aufmerksam geworden.
Eine plumpe Attacke, von seinen Gegnern vielleicht als Fühler voraus¬
gesendet, traf ihn bei seiner Rückkehr in Florenz. Dort lebte er ans des
Herzogs schönem Landsitz Belriguardo, in reichem geistigen Verkehr unter zahl¬
reichen Anhängern und Verehrern sich eine Schule gründend, nach Art der
Meister seiner Zeit. Ein Dominikanermönch, der wohl von einem derartigen
Disput einige Sätze aufgeschnappt hatte, vielleicht auch gehetzt vou einem seiner
Herren, riß bei einer Predigt den an sich gar nicht Übeln Mönchswitz im
blühendsten Klosterlatein, als er die Sage erwähnte von der'Sonne Josuas:
„Viii Snlilaei, cMck Stalls «.Meieutes in coelum?" Des kreischenden
Sturmvogels aber bedürfte es nicht; schon vorher hatte Galilei einen Versuch
gemacht, das Unwetter zu beschwören. Er schrieb einen. Brief, der im
Ganzen nur die Quintessenz der Vortrage war, die eiuer seiner Schüler,
der Pater Castelli, vor den nächsten Verwandten des Herzogs, seiner Mutter
und der Herzogin von Oesterreich, sicherlich nicht ohne Wissen des Meisters,
wahrscheinlich in dessen Auftrage, gehalten hatte. Der Brief bildete die Grund¬
lage der ersten wirklichen Denunziation, die gegen Galilei erfolgte, deshalb lasse
ich ihn hier folgen:
„Die heilige Schrift kann weder lügen noch irren, aber sie bedarf der
Auslegung, denn wenn man dem buchstäblichen Sinn der Worte folgen wollte,
so würde man nicht nnr Widersprüche, sondern auch Ketzereien und Lästerungen
finden, da mau nothwendiger Weise annehmen müßte, Gott besitze Füße,
Hände, Ohren und menschliche Leidenschaften; menschliche Leidenschaften wie
den Zorn, die Reue, den Haß, ja man müßte mitunter sogar annehmen, daß
er weder ein gutes Gedächtniß besitze, noch die Zukunft vorherwisse ... Da
also solchergestalt die heilige Schrift der Auslegung bedarf, und der wahre
Sinn der Worte sehr verschieden von ihrer jemaligen Bedeutung erscheint, so
scheint mir, daß man in wissenschaftlichen Streitfragen ihre Entscheidung zu
allerletzt anrufe» sollte. In der That sind beide, die heilige Schrift, wie die
Natur, ein Ausfluß des Wesens Gottes, da die eine diktirt ist vom heiligen
Geist, die andere aber die Vvllstreckerin göttlicher Befehle ist; nun aber muß die
heilige Schrift, ans das Verständniß der Menschen berechnet, sich diesem anschließen,
und da differirt denn vielfach der Wortlaut mit der Wirklichkeit. Die Na¬
tur hingegen ist unerbittlich und unveränderlich, sie kümmert sich nicht darum,
ob die Gesetze, nach denen sie handelt, dem Menschengeist offenbar werden oder
nicht, obwohl sie stets nach ihnen wirkt. Wenn wir uns daher bemühen, diesen
Gesetzen ans dem Wege sinnlicher Wahrnehmung nachzuforschen, so ist es nicht
wohlgethan, gegen die Resultate dieser Nachforschungen mit Schriftsteller zu
Felde zu ziehen, die im Gegensatz zu den Naturgesetzen einer stets wechselnden
Auslegung unterworfen, oft derselben bedürftig sind . . . Ich würde es über¬
haupt für klüger halten, wenn man gänzlich verbieten würde, Stellen der
heiligen Schrift gegen Naturgesetze anzuführen, deren Evidenz uns der Augen¬
schein oder gar die Mathematik eines schönen Tages unwiderleglich beweisen
können!"
Während der französische wie der italienische Historiker den Inhalt dieses
Briefes für durchaus wohlgemeint und unverfänglich zu halten scheinen — ich
sage: scheinen — waren die ehrwürdigen Väter des heiligen Collegii keinen
Moment dieser Meinung. Ihr Geist war geschult durch die raffinirte Kasuistik
jener sogenannten Kirchenfchriftsteller, welche die schlüpfrigsten Dinge mit ur-
kräftigem Behagen in einem Tone behandelten, der nnr möglich ist bei voll¬
kommener Ungläubigreit. Von ihrem Standpunkt ans ist es auch kein Wunder
und nur eine sehr natürliche Maßregel, wenn sie mit allen Mitteln einen
Gegner angriffen, der ihnen und ihren Nachfolgern die reichliche und mühe¬
lose Ausbeutung der Gläubigen gewaltig zu verkürzen drohte. Schwerlich ver¬
machte noch ein Mensch, der über Galileis System und dessen Konsequenzen
reiflich nachgedacht hatte, seinen sauer verdienten Reichthum der todten Hand.
Was sollte da aus den Priestern werden? Am Ende hätten sie gar studiren
müssen, wie die Prediger der Protestanten, oder, schauderhafter Gedanke, zum
Besten der Gemeinde arbeiten und Aemter verwalten, wie die geistlichen Lehrer
des jüdischen Volkes! Nein, so weit sollte es nicht kommen, dank der
heiligen Inquisition, dieses erkorenen Rüstzeuges des wahren Glaubens! Noch
einmal wurden die Werke des Astronomen sorgsam durchstöbert, und in einer
seiner letzten Arbeiten über die Sonnenflecke fand man denn, was man suchte:
zwei Punkte, die klärlich Ketzereien enthielten.
Galilei, der wie es scheint sehr wohl unterrichtet war von dem, was im
Lager der Feinde vorging — hatte er doch alle wirklich klaren Köpfe zu seinen
Anhängern zu rechnen — beschloß noch einmal, sich in die Höhle der Löwen
zu wagen. Mochte der Ausgang der ersten Reise den etwas eiteln und spötti¬
schen Gelehrten über die wahre Sachlage getäuscht haben, mochte er dein großen
Zauber seines persönlichen Auftretens zutrauen, auch die starre Feindschaft er¬
bitterter Priester zu beschwören, oder endlich, was vielleicht am wahrscheinlichsten
ist, wurde er durch eiuen Verräther in eine Falle gelockt — kurz, er reiste im
Herbst 1615 zum zweiten Male freiwillig nach Rom. Wieder erschien er als
„Legatious-Attachu" des Großherzogs von Toskana und stieg in dessen Ge¬
sandtschaftshotel ab, wieder wurde er von einer Gesellschaft mit Ehren über¬
häuft, die allen Vorträgen, die er öffentlich hielt, allen Schriften, die er zum
Beweise seines rechtlichen Bewußtseins öffentlich vertheilte, einmüthigen Beifall
spendete.
Es war vergebens. Am 24. Februar 1616 erklärte das heilige Kolleg
mit Einstimmigkeit: Das Rotationsgesetz der Erde enthalte eine
Dummheit und eine Ketzerei! Zugleich wurde der Kardinal Bellarmin
durch eine Kabinetsordre angewiesen, von dem neu ernannten Ketzer einen Wider¬
ruf zu erpressen. „Wenn er sich weigert", sagt die Kabinetsordre wörtlich, „so
soll der mit der Führung des Prozesses betraute Priester ihn formaliter vor einem
Notar nebst Zeugen noch einmal in Güte auffordern. Er soll erklären, daß
er auf ewige Zeiten sich enthalten soll, von dieser Irrlehre je wieder zu reden
oder gar sie zu verbreiten. Beharrt er in seinem Ungehorsam, wird er so--
fort ins Gefängniß geführt."
Am 26. Februar 161V schon — man sieht, es wurde keine Zeit
verloren — ward die mehr humoristische als tragische Scene aufgeführt.
Der grobe persönlich verletzende Ton der Urtheilsentenz, die unanständige, für
den angegriffenen Gelehrten sehr schmeichelhafte Hast des ganzen Verfahrens
zeugen deutlich, daß Triebfedern persönlicher Rache mitwirkten. Vermuthlich
hatte der spöttische Griffel des weltgewandter Galilei mehr als einen feiner
theologischen Feinde getroffen. Genug, am 26. Februar 1616 erschien Galilei
vor dem Kardinal Bellarmin, der umgeben war von dem Generalkommissar
des heiligen Offieii und von zwei Zeugen. Der Jukulpat wurde aufge¬
fordert: im Namen des Papstes nud des heiligen Gerichtes feierlich das Ver¬
sprechen abzugeben: er wolle hinfüro nie mehr behaupten, lehren oder ver¬
theidigen den Satz von dem Drehungsgesetz der Erde, weder durch Schrift,
Wort oder irgend ein anderes Mittel; thäte er es dennoch jemals wieder, sei
er dem heiligen Gericht verfallen.
Galilei leistete den Schwur.
Das war in mancher Beziehung auch ganz klug und vernünftig, denn
falls Galilei auch Talent zum Märtyrer gehabt hätte und sich für sein Rota¬
tionsgesetz hätte holdem und braten lassen, es Hütte doch nichts an der Sachlage
geändert. Schon zählten die Anhänger der freien Forschung im Norden Europas
nach vielen Tausenden. Ob also eine Versammlung von Priestern das System
des Kopernikus auf den Index der verbotenen Bücher setzen ließ oder nicht,
und einem einzelnen Gelehrten einen Zwangseid aufnöthigte, das änderte wenig
an der Weltgeschichte. Es ist vergeblich versucht worden, die Authentizität der
hierauf bezüglichen Akten anzuzweifeln: und zwar ist dieser Versuch von einem
treuen Katholiken, Herrn von Gehler, gewiß in bester Absicht unternommen worden
in seiner Schrift: „Galilei und die römische Kurie", Stuttgart, 1876. Selbst¬
verständlich ist der Versuch mit leichter Mühe durch Domenico Berti zurück¬
gewiesen worden. Es ist aber auch gar nicht recht zu begreifen, wie die
römische Kurie hätte anders handeln sollen, als sie gehandelt hat. Man
kann ihr doch keinen Vorwurf aus einem Einschreiten gegen Ansichten machen,
die ihren innersten Prinzipien zuwider waren. Sie mußte gegen Galilei ein¬
schreiten, und sie hat es in rücksichtsvoller Weise gethan. Der Fehler an dem
Vorgehen der Kurie war, daß sie sich zur Richtern: über wissenschaftliche Fragen
auswarf, die sie einfach nicht verstand. Die Akten erwähnen kein Wort von
den vielen gedruckten und ungedruckten Briefen, Vortrügen oder Ansichten
Galileis, in denen, wie in dem oben citirten Briefe an den Pater Castelli, frei¬
denkerische Neuerungen ausgesprochen waren. Auffallenderweise suchte oder fand
man uicht dort das Vergehen des Gelehrten, wo Priester sehr wohl als Sach¬
verständige Hütten entscheiden können. Nein, über eine Frage der reinen Wissen-
schaft wurde in stupider Anmaßung ein falsches Urtheil gefällt, und da man
Galilei nicht widerlegen konnte, wurde er moralisch geknebelt. Ganz ausdrücklich
nur das kopernikanische System wurde für dumm und ketzerisch erklärt, weil
es dem Bibeltext entgegen sei. Diese unglückliche Position stellte die römische
.Kurie allen Angriffen blos. So unbedingt folgerichtig und kräftig sie ihr
Herrscheramt unter dem gewölbten Dome christlichen Glaubens verwalten mochte,
auf den scharfen, sonnigen Höhen der abstrakten Wissenschaften mußte sie den
Kürzern ziehen. Denn die römische Kurie selbst muß heute die Jugend in
Tausenden von Schulen in demselben Systeme unterrichten, welches sie als
„dumm und ketzerisch" erklärte; sie selbst hegt in ihrem Schoße bedeutende
Astronomen, und sie folgen bei ihren Versuchen, noch weitere Entdeckungen zu
machen, den Spuren Galileis.
Dieser selbst spielt von nun an nach den Akten des Prozesses eine Rolle,
die weder seinem Verstände noch seinem Charakter Ehre macht. Nach unsern
heutigen Begriffen mußte er von nun an sich ruhig verhalten und besonders
in Anbetracht der entschieden glimpflichen Behandlung, die er im Vergleich zu
andern, weit weniger gefährlichen Ketzern erfahren, das gegebene Wort halten,
er hätte es denn standhaft verweigern müssen. Ein so entwickeltes Ehrgefühl,
eine so klare ethische Empfindung dürfen wir aber vernünftiger Weife bei dem
Sohne Italiens im Jahre 1616 nicht voraussetzen. Ein Jeder ist der Sohn
seiner Zeit, und namentlich Galilei besitzt in vollem Maße die Schwächen seiner
Landsleute und Zeitgenossen. Er zeigt sich eitel, hochfahrend, spöttisch, dabei
ohne wahren Muth, kriechend und habgierig. Galilei war an das reichliche
Leben eines fürstlichen Günstlings gewohnt. Er war des Gedankens unfähig,
seiner Heimat zu entsagen und um seiner Ueberzeugung oder Forschungen
willen in Deutschland, Holland, England oder gar Skandinavien das Brod der
Verbannung zu essen, wie Andere vor ihm gethan. Er schien nicht einmal zu
empfinden, daß sein Widerruf ihn einigermaßen kläglich erscheinen lasse. Ruhig
weilte er in Rom noch drei Monate nach der ihm widerfahrenen Behand¬
lung. Die Kurie, im instinktiven Gefühl, hier eine sehr heikle Sache angerührt
zu haben, hielt mit ihrer oft bewiesenen Klugheit Maß; was geschehen war,
hatte geschehen müssen; nnn aber spielte sie die Rolle der zärtlichen Mutter,
die den gestrauchelten Sohn wieder aufrichtet. Es war nur ein kleiner
Familienzwist gewesen. Die Welt brauchte davon Nichts zu erfahren. Da je¬
doch das Gerücht in eben dieser Welt sich verbreitete, der Sohn habe gelinde
Schelte bekommen und Abbitte leisten müssen, so ließ sich Galilei schriftlich
vom Kardinal Bellarmin, dem vortrefflichen Jesuiten, ein Zeugniß geben, daß
so etwas nie vorgekommen sei. Vom heiligen Vater wurde er sogar sehr
wohlwollend in einer Audienz empfangen. Ob einer von ihnen erröthete,
darüber sagen die Akten nichts. Hoffen wir es von beiden. —
Galilei lehrte dann, wohl in der Ueberzeugung, den Schein gerettet zu
haben, in sein altes Verhältniß zum Herzog von Toskana zurück, und lebte
ganz den Wissenschaften. Daß er seinen zu Rom gegebenen Eidschwur brach
und sogar neue Anhänger seiner Lehre warb und bildete, wissen wir aus deu
Memoiren eben dieser Anhänger. Sicher war man auch zu Rom sehr wohl von
all diesen Vorgängen unterrichtet, und wenn man trotzdem nicht gegen Galilei
als rückfälligen Ketzer einschritt, so war der Grund wohl weniger in dem
Hauche christlicher Milde und verzeihender Liebe zu suchen, als darin, daß
Galilei, nur auf mündlichen Verkehr sich beschränkend, seinen Gegnern es nicht
leicht machte, Beweise seiner Handlungen zu beschaffen. Sein Werk „it K-ZWia,-
tortZ" war zwar voll prickelnder Satire gegen seine Gegner, enthielt aber nichts,
was das verbotene Sonnensystem direkt berührte.
Da trat ein Ereigniß ein, das Galilei zu den kühnsten Hoffnungen ent¬
flammte. Ein neuer Papst wurde gewühlt. Urban der Achte, aus dem flo-
rentinischen Geschlecht der Barberini stammend, war ein alter Bekannter des
Gelehrten, ja, als Kardinal hatte er sogar ein Lobgedicht auf deu Entdecker
neuer Welten gemacht. Galilei, als echter Italiener feiner Zeit, eilte mit der
größten Harmlosigkeit wieder uach Rom, nöthigte den Papst, die alte Jugend-
freundschaft wieder aufzufrischen, erhielt von demselben Geschenke und „erbat",
wollen wir höflicher Weise sagen, für seinen Sohn sogar eine Pension! Auch
der Gegner des Papstthums wird nicht umhin können, dieses Verhalten Urbans
des Achten als ein echt fürstliches anzuerkennen, vornehm im besten Sinne
des Wortes, das um so schärfer deu Kontrast mit deu darauf folgenden Hand¬
lungen Galileis hervortreten läßt. Der aufgeklärte, feingebildete Fürst der
Kirche, durchdrungen von dem Gefühl, daß nnter seinem Vorgänger ein grober
und beklagenswerther Mißgriff vorgekommen sei, hat sich offenbar bemüht,
foweit er persönlich konnte, Galilei zu entschädigen. Andrerseits Hütte der
hohe Verstand und die lange Erfahrung des Letzteren im Hof- und Staatsleben
dem Gelehrten deutlich machen sollen, daß das Wohlwollen des Papstes ge¬
wisse Grenzen nicht überschreiten durfte, daß der Papst als solcher unter Um¬
ständen anch eine Lehre verwerfen und verfolgen mußte, die der Fürst Barberini
als Kardinal geistreich gefunden, vielleicht auch später noch unter vier Augen
gebilligt hatte.
An all das dachte jedoch Galilei nicht, als er sein Werk herausgab:
„Unterhaltungen über die beiden großen Weltsysteme." Er zwang dadurch den
Papst, dem, was man damals Recht nannte, seinen Lauf zu lasten.
Schon die unendlichen Vorsichtsmaßregeln, welche Galilei ergriff, beweisen,
daß er durchaus nicht borg, links handelte. Er legte das Werk zur Begut¬
achtung dem „Hausminister" Pater Riccardi vor; dieser ließ sich durch die
Vorrede täuschen, in der Galilei versichert, nur das System des Kopernikus
beschreiben zu wollen, damit die Welt sähe, in Italien verdamme man An¬
sichten nicht, ohne sie zu prüfen, kein Volk der Erde sei in der Erkenntniß so
schwieriger Dinge weiter fortgeschritten, als die Italiener. Er hütet sich, die
Personen des Dialoges Schlüsse ziehen zu lassen, und läßt schließlich den Ver¬
theidiger der alten Weltanschauung, nachdem er von seinen Gegnern vollkommen
matt gesetzt ist, bei der Behauptung stehen bleiben: „Deine Gründe sind die
geistreichsten, die man sich denken kaun, mir aber kommen sie weder wahr noch
logisch vor", ein Benehmen, welches ebensowohl einem unerschütterlichen
Bibelglauben, als einem unerschütterlichen Starrsinn, oder der Verbindung
beider entspringen kaun. Die Einführung einer solchen Figur unter solchen
Verhältnissen kaun wohl nicht als Beweis besonderen Wohlwollens angeführt
werden. Hierzu kommt uoch, daß der Pater Riccardi sich laut beklagte über
den Mißbrauch, deu Galilei mit dem ihm erwiesenen Vertrauen getrieben haben
sollte. Galilei hatte den Pater bewogen, die Erlaubniß zum Druck des Werkes
in Florenz zu ertheilen, nachdem der Text in Rom von ihm revidirt ward,
aber er hatte es auch durchzusetzen gewußt, daß die Korrekturbogen von dem
Inquisitor des Gerichts in Florenz gelesen wurden, statt nach Rom zurück¬
zuwandern. Der Kostenpunkt ist hierbei schwerlich allein entscheidend gewesen.
Vielmehr läßt sich kaum bezweifeln, daß Textverfälschungen, Bestechungen 2c.
hierbei eine Rolle gespielt haben.
Man kann leicht ermessen, welche Erbitterung diese That des siebzig¬
jährigen Mannes in den Kreisen der römischen Kurie hervorrief, und wohl
uicht mit Unrecht. Aber auch die allgemeine damalige Weltlage drängte die
Kurie zu energischen Einschreiten gegen den ketzerischen Gelehrten. Als Galileis
Werk erschien, im August 1632, war Gustav Adolf auf der Hohe seines
Siegeszuges in Deutschland. Nach wenigen Tagen traf die Nachricht ein, bei
Breitenfeld sei das letzte katholische Heer uuter Tilly, dem treuesten Kämpfer
des Papstthums, vernichtet. Gustav Adolf besetzte München. In Frankreich kämpfte
Richelieu mit wechselndem Erfolge gegen die Hugenotten, aber er war besten Falles
ein lauer Christ. In Polen, Ungarn, den Niederlanden, Dänemark, Schweden ge¬
hörten überall die besten geistigen Kräfte der Ketzerei. Und in Italien? Galilei,
das Haupt der Wissenschaft, hatte zwar bisher sich der Kirche unterworfen, aber
welche Vorkämpfer hatte er gehabt, und welche Nachfolger mußte er erhalten,
wenn sein dreister Eidbruch uugezüchtigt blieb. Da hatten Vesal und Aldvvrandi
als Aerzte und Naturforscher weite Reiche erschlossen; wohl hatte man Giordano
Bruno vor einem Menschenalter noch glücklich verbrennen können, nun aber
lehrte Thomas Campanella, der geistvolle Dominikaner, fast ärgere Philosophie
als jener. Was wollte jener Schüler Galileis, Evangelista Torieelli, mit
seinem Instrument, das sich vermaß, dem Winde seine Stärke nachzurechnen?
Neben Kopernikus' und Keplers gotteslästerlichein Irrthum verbreitete sich das
Gift der glaubenslosen Humanität eines Desiderius Erasmus von den zahl¬
reichen deutschen Universitäten ans die Lehrstühle Patras und Bolognas. Und
schließlich hatte Urban der Achte das Recht, oder er glaubte das Recht zu haben,
eine bittere persönliche Kränkung an dem Manne zu strafen, dem er Wohl¬
thaten und Ehren erwiesen, ja den er in wiederholten, langen, zengenlosen
Unterredungen seines persönlichen Vertrauens würdig erachtet.
Der Papst übergab also Galileis Schrift dem heiligen Kolleg zur Be¬
urtheilung, und infolge dessen wurde der Verfasser im Oktober 1632 vor
das Inquisitionstribunal zu Rom geladen. Das Zeugniß von drei Aerzten,
daß er mit einem Bruchleiden behaftet sei, sowie die Fürsprache des Groß-
herzogs verschafften ihm Aufschub bis zum Januar 1633. Da aber mußte er
die Reise antreten und wurde im toskanischen Gesandschaftshvtel internirt, das
er uur verlassen durfte, um zum Verhör zu erscheinen.
Am 12. April wurde das erste Verhör abgehalten und Galilei gefragt,
ob er sich der Vorgänge im Jahre 1616 erinnere. Der Angeklagte erklärte,
sich dessen zu erinnern, daß Kopernikus' System als ketzerisch erklärt worden
sei; was das Verbot der Verbreitung desselben dnrch ihn anbelange, so er¬
innere er sich dieses Verbotes nicht mehr, es sei so lange her. — Daß eine
solche Ausflucht dem Angeklagten jede etwa vorhandene Sympathie bei seinen
Richtern rauben mußte, erscheint eben so klar, als es unbegreiflich erscheint,
wenn Domenico Berti sich bemüht, uns zu dem Glauben zu bekehren, Galilei
habe hier wirklich an Gedächtnißschwäche gelitten. Ein Mann von siebzig
Jahren, der soeben ein wissenschaftliches Werk in einer von Geist und schärfster
Satire sprühenden Form veröffentlicht hat, soll vergessen, daß man ihm vor
sechzehn Jahren eben diese Arbeit bei Androhung des Scheiterhaufens verboten
hat! Da hat sicherlich Mezieres, der französische Bearbeiter Bertis, mehr
Recht, wenn er annimmt, Galilei habe damals nnr Zeit zu gewinnen gesucht:
vielleicht werde der Herzog iuterveniren, vielleicht gelinge es ihm, den
Papst persönlich zu sprechen und durch den Zauber seiner Rede wie schon
öfter, aus Feinden sich Verehrer zu schaffen. Wenn dies seine Absicht war,
so mußte er bald einsehen, daß sie gänzlich gescheitert sei. Im weiteren
Verlauf des Verhörs nämlich äußerte er, daß er über einzelne Punkte
jener damals mit dem Papst Urban dem Achten gehaltenen Zwiegespräche nur
diesem gegenüber sich aussprechen könne. Der tief gereizte Pontifex bewilligte
ihm jedoch keine Unterredung. — Als man ihn fragte, ob er vor dein Drucke
seines Werkes dein Pater Riccardi Kenntniß gegeben habe von dem Verlauf
jenes Prozesses ans dem Jahre 1616, erwiderte er mit derselben Doppel¬
züngigkeit: er habe dies nicht für nöthig gehalten, da er in seinem Werke
das verbotene System weder behauptet noch vertheidigt habe, sondern es nnr
erkläre. Da Galilei in seinen Werken eine starke satirische Ader verrieth, durch
welche er ebenso wie im persönlichen Umgänge sich viele Feinde geschaffen
hatte, so liegt die Vermuthung nahe, daß auch seine Richter in solchen Ant¬
worten versteckten Hohn finden mußten. Dabei lief noch der unglückliche Um¬
stand mit nnter, daß man zufälligerweise bereits in der obenerwähnten Figur
des bibeltrenen Starrkvpses einige Züge entdecken, wollte, welche ans den Papst
selbst hindenteten. Die Art der Vertheidigung Galileis hatte den natürlichen
Erfolg, daß die Maßregeln gegen den Angeklagten verschärft wurden. Die
Anklage, daß er ein Anhänger des kvpernikanischen Systems sei und ein ihm
ausdrücklich untersagtes Werk geschrieben habe, wurde durchaus aufrecht er¬
halten, und Galilei in deu Palast der Inquisition, übergeführt. Mau wies ihm
dort ein Bedientenzimmer an, und seine Freiheit wurde in jeder Weise beschränkt.
Von dem Pater Commissarius des heiligen Gerichts wurde er hier häufig
besucht, und hatte derselbe mit ihm vielfache Unterredungen. Man wird wohl
nicht fehlgreifen, wenn man diesen Besuchen weniger evangelische Liebe und
zarte Sorge für das Seelenheil des Angeklagten unterlegt, als den Auftrag
der Gerichtsherren, den Ketzer zum Plaudern zu veranlassen. Dieser Vincente
Maeolano macht übrigens im Ganzen den Eindruck eiues wohlwollenden
Mannes. So meldet er eines Tages mit sichtlicher Befriedigung, daß der
Gefangene voller Zerknirschung seine Irrthümer einsehe, und nur noch um etwas
Zeit bitte, seinen Rückzug in ehrenvoller Form antreten zu können. Der Pater
war jedenfalls der Ansicht, man werde auch diesmal Galilei glimpflich ent¬
schlüpfen lassen, wenn er nur Reue bezeige. Bei dem nächsten Verhör, am
30. April, gab denn auch Galilei folgende Darstellung der Sachlage zum
Besten: Er bekenne hiermit, daß bei seinem Versuche, das kopernikanische System
zu widerlegen, er fälschlicher Weise den für dasselbe sprechenden Gründen zu
viel Gewicht beigelegt und dadurch zur Verbreitung eines verderblichen Irr¬
thums beigetragen habe, da er doch eigentlich die Absicht gehabt habe, dies
System zu widerlegen. Er erklärte: „Ich bin gern bereit, das kopernikanische
System durch alle Mittel zu widerlegen, die Gott in meine Hand geben wird!"
Demjenigen, welcher mit der Denk- und Redeweise des damaligen Italiens
vertraut ist, kann der jesuitische Doppelsinn anch dieser scheinbar vollendeten
Aufrichtigkeit uicht entgehen. Seine Richter jedoch, in kluger Würdigung des
Charakters ihres Widersachers, ließen ans den Ausbruch dieser scheinbaren
Reue, den sie für aufrichtig zu halten sich deu Anschein gaben, sofort eine Ver¬
mehrung der äußeren Annehmlichkeiten in der Haft des Gefangenen eintreten.
Mail ließ ihn in das Gesandtschaftshvtel zurückkehren und erlaubte ihm, für
die Pflege seines kranken Körpers Sorge zu tragen.
Man darf die Klugheit dieses Verfahrens nicht gering anschlagen. Galilei,
ein Mann, sowohl an die tausend Bequemlichkeiten des verfeinerten iii^K illo
damaliger Zeit gewöhnt, als durch die Erfolge in der vornehmen Welt für
jede Rücksicht und Rücksichtslosigkeit doppelt empfänglich und empfindlich, mußte
in der überreizten und krankhaften Stimmung, in der er sich erklärlicher Weise
befand, auf diese Äußerlichkeiten einen Werth legen, der ihn dahin führen
konnte, schneller „mürbe" zu werden, wenn man ihm im rechten Augenblicke
wieder mit Entziehung drohte.
Wie richtig diese Methode berechnet war auf deu Charakter dessen, dem
sie galt, zeigt eine Stelle aus Galileis Vertheidigungsschrift, in der er in
geradezu jämmerlicher Weise um Erbarmen winselt zu Leuten, von denen sein
Verstand und seine Lebenserfahrung ihm sagen mußten, daß sie Erbarmen
und Milde ebenso uur als Mittel zum Zweck benutzen, wie Härte und Grau¬
samkeit, Er sagt da wörtlich: „Es erübrigt mir noch eine letzte Bemerkung;
sie betrifft deu traurigen Stand meiner Gesundheit, welcher herbeigeführt durch
den Zustand fortwährender Angst und Ungewißheit, vermehrt durch die Be-
schwerden einer Reise im schärfsten Winter, zusehends sich verschlimmert hat
dnrch die zehnmonatliche Dauer meiller Haft, wie durch mein Alter von siebzig
Jahren. Ich habe Zuversicht zu der Güte und Milde der allerdurchlauchtigsten
(omiuvlltiSLiini) Herren, welche meine Richter sind, daß sie diese meine Leiden
als Kompensation meiner Strafen, die ich wohl verdient zu haben gestehe,
ansehen und Gnade für Recht ergehen lassen einem gebrechlichen Greisenalter
gegenüber, das ich ihrer Huld empfehle!" Das war ein Held! Nebenbei er¬
zählt uns die Geschichte, daß dieser todtkrank'e, sterbende Greis nachher noch
zehn Jahre ganz behaglich, mit durchaus ungestörter Verdauung sich der
florentinischen Küche erfreute; also ganz so schlimm, als er die Sache darstellt,
kann sie nicht gewesen sein.
Wir kommen nun an jenen Punkt des Prozesses, der unter den Parteien bis¬
her am bestrittensten gewesen ist. Es ist dies die Folterfrage und alles, was
damit zusammenhängt. Hier verdankt man der Arbeit Domenico Bertis ab¬
solute Klarheit, da er deu Rotulus des Prozesses veröffentlicht. Dieses Akten¬
stück enthält in kurzer trockner Darstellung alle prozeßleitenden Entschließungen
sowohl, als auch die infolge derselben vorgenommenen Gerichtshandlungen.
Hieraus ergibt sich denn ganz klar, daß die von den Freunden des römischen
Klerus kvlpvrtirte Behauptung, das letzte Drittel des Prozesses habe sich nur
auf dem Pcipier abgespielt, um die Zeitgenossen Galileis einzuschüchtern, in das
Gebiet der wohlwollenden Hypothesen gehört. Die Akten ergeben vielmehr,
daß der Papst sehr ernstlich befohlen hatte, dem Angeklagten nicht nur wegen
seiner Ansichten, sondern auch wegen seiner Thathandlungen den Prozeß zu
machen und nöthigenfalls die Folter anzuwenden, wenn er sie aushalten
könnte, ohne zu sterben. So sind wohl ohne Zweifel die Worte: „g.e si
kmstinnsrit." zu übersetzen. Die andere Version, welche sagen will- „wenn er
sie aufrecht erhielte" (se. die Ketzereien) schreibt denn doch dem heiligen Vater
ein so gewaltsames Klvsterlatein zu, wie es der elegante und feingebildete Ka¬
valier aus dem Hause Barberiui wohl kaum geschrieben haben kaun.
Das vom 16. Juni datirte Schriftstück bedroht deu Angeklagten ganz so, wie
Tausende anderer um ihrer Ueberzeugung willen und in in^oren voi gloii^in
verbrannter Ketzer und Hexen mit der Tortur und beliebig zu verlängernder
Gefängnißstrafe, wenn er nicht widerriefe.
Am 21. Juni 1633 fand ein letztes Verhör statt, und Galilei ant¬
wortete, als er befragt wurde, ob er jemals behauptet habe und noch behaupte,
daß die Erde um die Sonne laufe, daß er seit dem Jahre 1616 durchaus
nur das ptolemäische Weltsystem für ganz und gar richtig gehalten habe. Da
diese Antwort nnn ganz unverfänglich immer noch nicht erschien, so eröffnete
der Vorsitzende des Gerichts Galilei, wenn er nicht klare und unumwundene
Antwort ertheilte, werde man zur peinlichen Frage schreiten. Der in den
Akten angewendete Ausdruck: sxlunczn iiMrosum läßt hierüber gar keinen
Zweifel zu. — „Ich bin hier um zu gehorchen", war die Antwort Galileis
— „aber nicht etwa ans geänderter Ueberzeugung", setzt der aufmerksame
Leser unwillkürlich hinzu.
Zur Folter selbst kam es indessen nicht, man begnügte sich mit dem er¬
haltenen feierlichen Widerruf und dein von Galilei gleichfalls gegebenen Ver¬
sprechen, auf Verlangen die Theilnehmer und Gesinnungsgenossen seiner
Ketzereien zu nennen. Man wollte so auch seinen Anhängern den Mund
schließen. Wenn eine Folterung stattgefunden hätte, so würde deren in den
Akten Erwähnung geschehen sein. Bei einer derartigen Rechtshandlung war
vor allem die Gegenwart des vereideten Gerichtsschreibers nöthig. Derselbe
protokollirte jedes Wort, jeden Schmerzensruf, jeden Seufzer des Gepeinigten,
ja selbst die Anzahl und Art der Todeszuckungen, wenn der verdrießliche Fall
eintrat, daß der Delinquent verstockter Weise starb, ehe die Richter befriedigt
waren. Es müßte also in den Akten hierüber etwas zu finden sein, oder es
müßte sich an dieser Stelle der Prozeßhandlnng eine Lücke befinden; wollte
man schließlich nicht annehmen, daß eine große Aktenfälschnng im Jahre 1633
stattgefunden habe, in der bestimmten Absicht, die Geschichtsforschung späterer
Jahrhunderte irre zu führen. Das ist sehr unwahrscheinlich.
Die Sache erklärt sich auch ganz ungezwungen in ihrer natürlichen Ent¬
wickelung. Es war verboten, Greise und Kranke zu foltern. Wenn nun auch
die heilige Mutter Kirche dies Gebot stellenweise recht ungenirt übertrat,
namentlich wenn es sich um Ungläubige oder Ketzer handelte, so lag hier doch
keine Veranlassung dazu vor. Denn vor allem und hauptsächlich war Galilei
der „Mann" des mächtigen und gebildeten Großherzogs von Toskana, und da
derselbe auch äußerlich gute Beziehungen zum römischen Stuhle aufrecht erhielt,
so schien es nicht gerathen, durch die Vernichtung seines berühmtesten Unter¬
thanen seine Freundschaft auf eine zu harte Probe zu stellen. Zweitens aber
war Vernichtung Galileis nicht der Zweck der Kurie und konnte es nicht sein:
er mußte leben, möglichst lange, und scheinbar durchaus nicht „unter polizeilicher
Aufsicht stehend", nachdem er sein System oder vielmehr seine Auffassung des
Kopernikus widerrufen hatte. — Wenn sowohl Domenico Berti als M^zwres
noch als fernere Gründe gegen die Folter anführen, der Papst oder der Pater
Commissarius des heiligen Gerichts oder gar dieses selber habe Mitleiden mit
den Körperleiden und der Todesangst des Angeklagten gehabt, so macht dies
dem Gemüthsleben dieser Herren alle Ehre, aber geschichtlich ist dieses Mit¬
leiden nicht begründet. Wie sollte gerade Galilei dieses Mitleid erregen, währeud
Tausend anderer Ketzer ebenfalls oft krank, und immer voll Todesangst, er¬
barmungslos gefoltert wurden? Man bedürfte einfach der Folter nicht: man
wühlte alle andern Mittel, mit Entschlossenheit eine dem Klerus feindliche
Intelligenz zu Boden zu werfen, man that nicht zu wenig, nicht zu viel, und
erreichte bei genauer Kenntniß der Persönlichkeit den angestrebten Zweck. Von
Wohlwollen oder christlichem Erbarmen war nirgend die Rede.
Es handelte sich hier darum, eiuen glänzenden Geist, von seinen Landsleuten
vielleicht überschwenglich gefeiert, da sie die Originale nicht kannten, auf deren
eigue freie Geistesthat seiue Erscheinung gegründet war, wieder zurückzuführen
in den Schoß der Glaubensgenossenschaft und unter die Botmäßigkeit der
Kirche.
Galilei aber lebte, nachdem er seinen Widerruf unterzeichnet, noch zehn
Jahre theils zu Siena, theils bei Florenz in mehr oder minder fühlbarer
Polizeiaufsicht. Vergeblich verlangte Vineento Castelli, sein alter Zögling und
Schüler, die Erlaubniß, ihn zu besuchen. Selbst das Versprechen, nicht über
die Notation sprechen zu wollen, verschaffte ihm diese Erlaubniß nicht. An
alle päpstlichen Gesandtschaften, an alle Kommcmditen der Inquisition wurden
Auszüge aus den Prozeßakten gedruckt versendet, welche den Urtheilsspruch
und deu Akt des Widerrufes enthielten. Die Aufgeklärten gingen mit Spott
und Achselzucken über diesen verfehlten „Gedaukeumvrd" ihren Studien nach;
die große Masse des Volkes aber kümmerte sich herzlich wenig darum. Erst
etwa zweihundert Jahre mußten vergehen, bis die ersten französischen Forschungen
den Eifer mehr wohlmeinender als kluger Vertheidiger des Papstthumes er¬
weckten. Damit war der Anstoß zu lebhaftem literarischem Streit gegeben.
Schrift und Gegenschrift erschien in rascher Folge, und so mächtig war der
Strom der öffentlichen Meinung geworden, daß selbst das Kabinet von Rom
diesem Drucke nachgeben und der historischen Forschung die Akten dieses denk¬
Soeben kommt uns ein neuer starker Band der humoristischen Schriften
Mark Twains*) in die Hände, vou dem wir mir sagen, daß er wieder eine
große Anzahl höchst ergötzlicher Einsülle, schwanke und Satiren dieses be¬
deutendsten unter den jetzt lebenden amerikanischen Humoristen enthält, und
den wir deshalb allen Freunden dieser Art von Literatur bestens empfohlen
haben wollen. Zu gleicher Zeit aber ergreifen wir die Gelegenheit, den Lesern
einige Mittheilungen über das Leben des genannten Autors zu machen, die
um so mehr Interesse beanspruchen, als sie einen Blick in das literarische Treiben
und in das Kulturleben der Annkees überhaupt eröffnen.
Mark Twaiu, oder wie er eigentlich getauft ist, Samuel Langhorne
Clemens, ist in dem Städtchen Florida im Staate Missouri geboren, und
zwar am 30. November l835. Im Alter von zwölf Jahren verlor er seinen
Vater, ein Verlust, der einen nachtheiligen Einfluß auf seine weitere Aus¬
bildung hatte; denu abgesehen vou gelegentlichem Besuch der Bezirksschule
kann man sagen, daß unser Schriftsteller seine Bildung sich selbst verdankt.
Bald nach dem Tode seines Vaters trat er bei einem Buchdrucker in die Lehre,
wozu wir bemerken, daß auch mehrere andere angesehene Autoren Amerikas,
z. B. Artemus Ward und Bayard Taylor, ihre Laufbahn als Buchdrucker-
lehrliuge begannen. Nach Ablauf der in Amerika üblichen drei Lehrjahre ging
der junge Clemens als Gehülfe auf die Wanderschaft, auf welcher ihm ver-
muthlich drollige Abenteuer von der Art begegneten, wie er sie im „Skizzen-
buche" unter den Rubriken: „Zeitungsschreiber in Tennessee" und „Wie ich
ein landwirtschaftliches Blatt redigirte" beschrieben hat; denn der Winkel¬
haken und die journalistische Thätigkeit sind in Amerika weit näher mit ein¬
ander verwandt als bei uns, und es ist bei kleinen Blättern eher die Regel
als eine Ausnahme, daß der Redakteur seine Zeitung nicht blos schreibt,
sondern auch setzt oder doch scheu hilft.
Mit der Zeit indeß fand Clemens mehr Geschmack an der freien Luft
als am Dunst des Setzersaales, und die Folge war, daß er unter die Missis-
sivpilovtsen zu gehen beschloß, zu welchem Zwecke er sich an Bord des alten
Dampfers John I. Noe, der zwischen Se. Louis und Neworleans fuhr, die
erforderliche Kenntniß des Flusses erwarb. Daneben vernachlässigte der neue
Pilot aber auch die Literatur nicht. Im Gegentheil, er wurde eine Art all¬
gemeiner Berichterstatter für den Strom, indem er Dampfboot-Tagebücher und
gelegentlich Schwänke und Anekdoten für den „Se. Louis Repnbliean", das
vornehmste Journal in Missouri, schrieb. Das erste Opfer des Humors unseres
Autors war ein Oberst Tellers, ein geschickter Lootse, der, obwohl ohne alle
Bildung, eine sehr hohe Meinung von seinen geistigen Fähigkeiten hatte. Nach¬
dem Clemens den Artikel, welcher die komischen Seiten des Obersten mit großem
Geschick hervorhob, vollendet hatte, fragte er einen Bekannten, mit welchem
Namen er ihn unterzeichnen solle, als plötzlich einer von den Leuten des
Dampfers, der eben lothete, „NarK ?w.-un" rief, womit er die Tiefe des Wassers
angab, welches man in dem Augenblick passirte. „Richtig, das soll's sein,
Mark Twain will ich heißen", sagte Clemens. Garret, der damalige Redakteur
des „Nepubliean", nahm den mit diesem Namen unterzeichneten Aussatz in
sein Blatt auf, derselbe fand allgemeinen Beifall und wurde vielfach nach-
gedruckt.
Unser Humorist betrieb das Lootseugewerbe und nebenher etwas Zeitnngs-
schriststellerei sieben Jahre lang und gab es nur ans, um mit seinem älteren
Bruder, Orion Clemens, der von der Negierung zum Sekretär des Territoriums
Nevada ernannt worden, nach dein fernen Westen auszuwandern. Die Leser
der „Amerikanischen Humoristen" kennen die lebensvollen und zum Theil Hoch¬
komischeu Schilderungen, die er von seinen Beobachtungen und Erlebnissen
während der Reise nach jenem damals noch halb wilden Silberlande und
während seines Aufenthaltes unter dessen Bewohnern geliefert hat. Andern
Freunden dieses Blattes empfehlen wir sie als zu dem Besten gehörig, was
aus seiner Feder hervorgegangen ist. Er war erst Gehülfe seines Bruders,
in welcher Eigenschaft er nichts zu thun hatte und keinen Gehalt bezog, schweifte
dann in den Bergen und an den schönen Seen des Laudes herum, wurde
Silbergräber, war als solcher bald reich, bald arm, wanderte unter großen
Mühseligkeiten nach einem andern als besonders ergiebig gepriesenen Minen¬
distrikt, fand sich getäuscht und verzog, wieder nnter allerlei Strapatzen und
Gefahren, nach einer dritten Gegend, wo er mit Bekannten eine Silberader so
lange mit viel Hoffnung und wenig Erfolg zu eröffnen versuchte, bis ihm das
Geld ausging und er sich genöthigt sah, seinen Lebensunterhalt in einem Poch¬
werk zu suchen. Da er hier für täglich zwölf Stunden schwere Arbeit nur
die Kost und wöchentlich zehn Dollars bekam, hielt er es nicht lange aus,
sondern ergab sich zunächst wieder einem vergnügten Vagabundenleben und ging
dann aufs Neue an das Aufsuchen von Silberadern. Hierbei war er nahe
daran, Millionär zu werden, verbummelte aber die Zeit, binnen welcher er in
dem Erzgänge, den er entdeckt hatte, und der ihm die Million liefern sollte,
gesetzlich gearbeitet haben mußte, um Eigenthümer zu werden, und wurde fo
wieder zum armen Teufel. Indeß leuchtete ihn: in seiner Verzweiflung über
so tiefen Fall aus so großer Höhe ein Hoffnungsstrahl. Er hatte der „Daily
Territorial Enterprise" in Virginia City, der Hauptstadt Nevadas, gelegentlich
Korrespondenzen geschickt, und jetzt lud ihn der Redakteur dieses Blattes ein,
für fünfundzwanzig Dollars die Woche das Departement der Stadtneuigkeiten
bei ihm zu übernehmen. Clemens ergriff den Antrag mit beiden Händen, zog
nach Virginia City und hatte sich bald in seine neuen Pflichten hineingefunden,
die ihn unter den in Nevada obwaltenden Verhältnissen mit sehr seltsamen
Menschen und Dingen in Berührung brachten. Doktor Hingstvn, der ihn hier
mit Artemus Ward aufsuchte, erzählt:
„Virginia City war erst einige Monate alt. Die „Territorial Enterprise"
war ein täglich erscheinendes Blatt, gut redigirt, reich an Mittheilungen, voll
von Anzeigen, welches pünktlich jeden Morgen ausgegeben wurde, wo ein oder
zwei Jahre vorher uur die schweigende Wüste und höchstens ein paar Zelte
der indianischen Wilden gewesen waren. Das Hans, wo sich die Redaktion
und die Druckerei befanden, lag in der Cstraße. Die Grundmauern waren
von Granit, die Vorderseite von Eisen. Im Souterrain war eine Schank-
wirthschaft mit einem Piano, welches, wie man mir sagte, die Bestimmung
hatte, die bekümmerten oder aufgeregten Gemüther der Gäste zu besänftigen.
Hinter der Schenkstube arbeiteten zwei von Hoch cylindrischen Dampfpressen.
Im ersten Stock befanden sich die Comptoire von Maklern, die mit Bergwerks-
knxen handelten und ein Verkauf von Branntwein im Großen. Im zweiten
waren noch einige Makler und etliche Advokaten, und im dritten erst war die
Redaktion. Ich fragte nach Herrn Mark Twain, und als der Herr, den ich
suchte, seinen Namen erwühueu hörte, sagte er zu dem, an welchen ich mich
gewendet hatte: „Dan, lassen Sie den Herrn in meine Höhle eintreten. Das
edle Thier ist zu Hause." Ein junger Mann, stark gebaut, mit rothem Gesicht,
hellen Haaren, blitzenden Augen, der nichts vom Gelehrten, aber viel von einem
Bergmann an sich hatte, ein Mann, der aussah, als ob er bei einem Streite
seinen Mann stehen und ebenso gut zuschlagen als sich dentlich ausdrücken
könnte, fidel, flott, gutherzig — ein Maun der Art stand in Mark Twain vor
mir. Aus dem Fenster der Redaktion sah man hinaus in die große ameri¬
kanische Wüste, in welcher keine zehn Meilen vom Hause zwischen den Salbei¬
büschen Indianer ihr Lager hatten. Die Stadt wimmelte von Bergleuten,
Abenteurern, Spielern, jüdischen Handelsleuten und dem ganzen Menschen¬
getümmel, welches el',!e Bergwerksstadt in einem neuen Territorium in sich
sammelt. Natürlich geht in einer solchen Welt der Reporter nicht in gelben
Glacehandschuhen und mit einem Notizbuch mit goldbcschlagnen Ecken herum,
wenn er seiue Nachrichten zusammensucht. Ju Mark Twain fand ich genan
den Mann, den ich zu sehen erwartet, eine Blume der Wildniß, gefärbt mit
der Farbe des Bodens, einen Mann des Denkens und einen Mann des Handelns
in Eius verschmolzen, er war Humorist, aber zugleich ein Mensch, der schwer
arbeitete, Moinus in Filzhut und Aufschlagstiefelu."
Sechs Monate nachdem Mark Twain sich dem Stäbe der „Enterprise"
angeschlossen, begannen in Nevada die „flotten Zeiten", um ohne Abschwächung
drei Jahre lang fortzudauern. Die Stadt Virginia wuchs täglich an Größe.
Hunderte von Plänen zu raschem Gelderwerb waren in der Ausführung be¬
griffen, alle Tage wurden neue Gesellschaften zu diesem Zwecke gegründet.
Wagen mußten oft eine halbe Stunde lang in der Hauptstraße halten bleiben,
so groß war das Gedränge. Dabei hatte der Reporter fortwährend Gelegen¬
heit, Neuigkeiten zu sammeln, und hänfig geschah es, daß Mark Twain für
eine Notiz, die er in sein Blatt brachte, einen Antheil an einem werthvollen
Kuxe geschenkt bekam, sodciß er zuletzt einen halben Koffer voll solcher Antheil¬
scheine besaß, von denen jeder einen Marktwerth von vierhundert bis sechs¬
hundert Dollars hatte. Brauchte er dann Geld, so trug er ein paar davon
zum Makler und erhielt den Werth dafür. Trotzdem empfand unser Freund
nach einiger Zeit das Verlangen nach Veränderung. Er sehnte sich, nach
Californien zu gehen und die Wunder der Küste des Stillen Meeres zu sehen.
Bald fand sich dazu eine gute Gelegenheit, indem zwei Bergleute die Absicht
hatten, mit einem Manne von Weltkenntniß nach Newyork zu reisen und dort
eine reiche Silbergrnbe auf den Markt zu bringen. Es wurde vermittelt,
daß Mark Twain sie von San Francisco aus begleiten und dafür einen be¬
trächtlichen Antheil an dem Erlös des Bergwerks erhalten sollte. Er ging
nach San Francisco, stattete sich elegant aus, lebte eine Zeit lang herrlich und
in Freuden von dem Inhalt seines Koffers und wartete ans die Verkäufer der
Silbergrnbe, die ihn nach Newyork abholen sollten. Da brach das Unglück
doppelt über ihn herein. Die Papiere, die er noch besaß, fingen plötzlich an,
im Werthe zu sinken, er zögerte mit dem Verkauf, und ehe er sich's versah,
waren sie so tief gefallen, daß er nach Bezahlung seiner Schulden nur noch,
etwa funfzig Dollars sein nennen konnte und, um nicht zu verhungern, wieder
Reporter werden mußte. Als solcher kam er einmal zwei Tage nicht ans seine
Redaktion, und so geschah es, daß die Verkäufer des Silberbergwerks ihn, als
sie kamen, um ihn abzuholen, nicht antrafen und ohne ihn abreisten. Er ver¬
sank darauf in so trübe Stimmung, daß er nicht einmal recht mehr zum Be¬
richterstatter taugte und ersucht wurde, zurückzutreten, worauf er in die tiefste
Noth gerieth. Er schrieb jetzt allerlei Kleinigkeiten für das Blatt „The golden
Era", dann für den „Califvrnian", den Bret Harte redigirte; aber dieses
Unternehmen hatte keinen Erfolg, und nachdem Mark Twain sich einige Wochen
fast ohne Geld in der traurigsten Lage befunden, zog er mit einem alten Berg¬
mann in die Region der Goldgruben, um dort sein Glück zu suchen. Er fand
es auch hier nicht, und nach einigen Monaten, in denen er u. A. anch in
Calaveras County, dem Schauplatz der „Argvnautengeschichten" Bret Hartes,
eine Zeit lang gelebt, kehrte er nach San Francisco zurück. Er war jetzt
nicht mehr so niedergeschlagen als vor diesen: Ausfluge; denn er hatte sich in¬
zwischen an die Armuth gewöhnt. Aber er hatte alle Energie und zugleich seinen
Humor verloren, er war „faul geworden" und lebte einige Wochen lediglich
vom Schuldenmachen.
Da lächelte ihm das Glück noch einmal. Sein alter Freund, der Her¬
ausgeber der „Enterprise" in Virginia City, übertrug ihm die Korrespondenz
ans San Francisco für sein Blatt, und als er mit dem Honorar seine Schulden
bezahlt, nahm er das Anerbieten der „Sacramento Union" an, für diese
Zeitung nach den Sandwichsinseln zu reisen und über dieselben zu berichten,
namentlich aber in Betreff der Zuckeriuteressen Beobachtungen anzustellen und
Mittheilungen zu machen. Er erfüllte diesen Auftrag, durchstreifte jene Inseln
nach den verschiedensten Richtungen, lieferte vortreffliche Berichte über die
dortigen Zustände und Verhältnisse, in denen sein alter Humor wieder glänzte,
war aber, als er nach etlichen Monaten von da nach Californien zurückkam,
so arm wie zuvor. Da fiel ihm ein, es mit Vorlesungen über seine letzten
Erlebnisse zu versuchen. Er war damals noch wenig bekannt im Goldlande,
auch hatte er niemals Vorträge gehalten, und so war er schou im Begriffe,
den Plau aufzugeben, als ein befreundeter Redakteur ihm zeigte, wie er's an¬
zufangen habe. Sem Rath erwies sich als praktisch, Mark Twain hatte ein
volles Haus, nach Schluß der Vorlesungen eine wohlgefüllte Kasse, und am
andern Tage sah er sich in allen Zeitungen der Stadt gerühmt.
Dies war im Jahre 1866. Drei Jahre zuvor hatte Artemus Ward
mit großem Erfolge in San Francisco humoristische Vorträge gehalten und war
dann nach Nevada gegangen. Mark Twain beschloß, ihm das nachzuthun. Er
machte erst eine Tour durch Californien und dann nach Osten, wo er in Vir¬
ginia City gute Geschäfte machte, aber infolge eines schlechten Witzes guter
Freunde, die ihm auf der Rückkehr von eiuer einträglichen Vorlesung im
Städtchen Gold Hill als Räuber verkleidet auflauerten, in eine Krankheit ver¬
fiel, die ihn drei Monate ans Bett fesselte. Als er nach San Francisco zu¬
rückgekehrt war, faßte er den Plan zu einer Reise um die Welt. Zuerst sollte
ein Ausflug nach Japan gemacht werden, von da wollte er nach China und
Judien gehen, dann über Aegypten nach Europa, welches er nach verschiedenen
Richtungen zu durchstreifen gedachte, und zuletzt wollte er über das Atlautische
Meer nach Newyork fahren. Der Plan gelangte aber nicht zur Ausführung.
Der Wunsch, seine Verwandten nach siebenjähriger Abwesenheit wiederzusehen,
bewog ihn, seine Absicht zu ändern, und anstatt auf dem Umweg über Japan
und China begab er sich direkt — diesmal über den Isthmus von Panama
— nach Newyork.
Er kam in der „Empire City" im Frühjahr 1867 an, und fast unmittel¬
bar nach seinein Eintreffen daselbst finden wir ihn mit der Veröffentlichung
seines ersten Werkes in Buchform, der Sammluug von Schwanken und andern
humoristischen Aufsätzen beschäftigt, die unter dem Titel „Smileys berühmter
Springfrosch und andere Skizzen" in der Grnnowschen Kollektion von Ar¬
beiten amerikanischer Humoristen auch deutsch erschienen ist. Es mag hierzu
bemerkt werden, daß Geschichten von ungewöhnlichen Fröschen in Amerika so
beliebt und so häufig sind, wie Geschichten von außergewöhnlichen Schlangen.
Man ist auf diese Thiere ohne Zweifel deswegen gekommen, weil sie sich mit
ihrem Wesen ganz vorzüglich zu der Art barocker, scherzhaft übertreibender Er¬
zählungen eignen, welche von den Aankees mit dem Terminus „ta.I1 storz^"
bezeichnet werden, und die namentlich im Westen sehr beliebt sind. Es ist
nichts Ungewöhnliches, wenn man in amerikanischen Journalen einem Aufsatze
mit der Ueberschrift: „Wieder eine Froschgeschichte" oder „Ein Seitenstück zu
Twains Springsrosch" begegnet, aber das Original steht hoch über allen diesen
Nachahmungen. Dasselbe wurde sofort in England und bald darauf auch in
Australien nachgedruckt. Ebenso ist das kleine Buch in Indien wohl¬
bekannt, und man sagt, daß einmal ein Parse dasselbe einem kranken
Engländer mit den Worten gebracht habe, es sei das Lustigste, was er
lesen könnte.
Jetzt bot sich unserm Autor Gelegenheit, etwas von der alten Welt zu
sehen und so seinen längst gehegten Wunsch zu befriedige». Im Frühjahr
1867 tauchte in Newyork der Plan auf, einen großartigen Verguügungsausflug
zu armngiren. Die Unternehmer wollten einen Dampfer miethen, der im
Sommer diesen Hasen verlassen, über das Atlantische Meer nach dem Mittel¬
ländischen gehen und an den Haupthafeuplätzeu von Spanien, Frankreich,
Italien, Griechenland, der europäischen Türkei, Syrien und Aegypten so lange
halten sollte, bis die Passagiere genügend Zeit gehabt hätten, Touren durch die in¬
teressantesten Gegenden dieser Länder zu machen und Rom, Paris, Konstanti-
nopel, Jerusalem und Kairo zu besuchen. Die Rückkehr sollte vor Einbruch
des Winters erfolgen. Der berühmte (später ebenso berüchtigte) Kanzelredner
Ward Beecher ans Brovklyn sollte die Gesellschaft begleiten, sah sich aber ab¬
gehalten. Statt seiner ging in Mark Twaius Gestalt der amerikanische Humor
mit, was doppelt komisch war, da die Passagiere zum größten Theil ans
frommen Pilgern bestanden, die vor allem das heilige Land sehen wollten. Für
unsern jungen Humoristen, der frisch ans dem rauhen Leben des jungen,
rührigen, hart arbeitenden Westens kam, war die östliche Welt mit ihrem Ur-
alterthnpl, ihrer Ruhe, ihrem trägen Vegetiren und ihren hundert anderen
Gegensätzen voll anziehender Dinge. Es war der Mühe werth, nachzu¬
sehen, wie weit Rom Sacramento glich, und ob Kairo einige Aehnlichkeit mit
Sau Francisco hatte. Ueberdies war anzunehmen, daß die Gewohnheiten und
Anschauungen der Bewohner von Paris und Neapel sich einigermaßen von
denen unterschieden, welche nnter den Goldgräbern von Calaveras und den Silber¬
bergleuten vou Nevada herrschten. Die Beobachtungen und Erlebnisse dieser
Reise hat Mark Twain in zwei Büchern niedergelegt, von denen das eine,
„IKe Innoesnts ^trog.ä", die Tour von Newhvrk bis nach Neapel, das andere,
„Ine Am?ilMM8 ?rei-;re88" die Weiterreise nach Griechenland, Konstanti¬
nopel, der Krim, Syrien, Palästina und Aegypten und die Rückfahrt in die
Heimat beschreibt, und die beide der Grnnowschen Sammlung „Amerikanische
Humoristen" (übersetzt von Moritz Busch) einverleibt sind. Der Titel
Junon<zue8 ^broaÄ", die Arglosen, Unvorbereiteten, naiven ans Reisen war
sehr passend gewählt, wenigstens was den Verfasser selbst betrifft. Er besuchte
Europa und Asien, ohne sich dnrch Studien darauf vorbereitet zu haben. Er
wollte die Dinge sehen, wie sie sich in seiner Seele spiegelten, und über den
Eindruck berichten, den sie auf einen Mann von humoristischer Weltanschauung
machten, welcher Europa und die Länder der biblischen Geschichte zum ersten
Male und ohne einen Mentor in Gestalt eines Reisehandbuchs, ohne gelehrte
Bildung und ohne einen Reisesack vollgestopft mit herkömmlicher Sentimen¬
talität durchwandert. Die ganze Reise über betrachtete er sich die Dinge so,
wie man es von einem noch nicht gereisten Amerikaner erwarten mußte, und
legte überall an Menschen und Sitten den Maßstab, den er sich während seines
Aufenthalts in den Bergen von Californien und Nevada zurecht gemacht hatte
ein Verfahren, welches seinen Berichten und Urtheilen ein oft ungemein
drolliges Gepräge verlieh.
Ehe Mark Twain nach Europa aufbrach, hatte er sich verpflichtet, während
seiner Reise Eindrücke derselben für die newyorker Blätter „Tribune" und
„Herald", sowie für die „Alta California" in San Francisco zu schreiben.
Einige der ergötzlichsten Betrachtungen und Vorkommnisse seines Ausflugs
waren infolge dessen dem amerikanischen Publikum schon bekannt, ehe die
„Quäker City" (so hieß der Dampfer, der die Gesellschaft trug) wieder heim¬
kehrte. Dies ist das gewöhnliche Verfahren in Amerika, wo jeder Schriftsteller
für die periodische Presse schreibt und nur wenige Bücher in Buchform er¬
scheinen, ohne vorher in einer Zeitung oder Zeitschrift ihre Pflicht gethan zu
haben. Im Dezember kamen die Pilger uach Newhork zurück, und sogleich
ersuchte der Redakteur der „Tribune" uusern Autor, ihm für sein Blatt poli¬
tische Briefe zu schreiben. Wenige Wochen nachher aber machte sich Mark
Twain ein die Vervollständigung seiner Reiseberichte, die nnn als Buch er¬
scheinen sollten. Vielleicht war es das Geräusch und Getümmel Newyorks,
vielleicht eine andere Ursache, wenn er zu diesem Zwecke nach San Francisco
ging, eine Strecke von sechstausend englischen Meilen. Hier vollendete er seine
Reisebeschreibung, die dann im Sommer 1869 im Buchhandel erschien.
Während dieses zweiten Besuchs in Californien wurde das Blatt „Overland
Monthly" gegründet, welches Mark Twains Freund Bret Harte redigirte, und
in dessen erster Nummer schon finden wir einen Beitrag aus der Feder unseres
Autors. Es ist der allerliebste Aufsatz, der eine Eisenbahnfahrt von Marseille
nach Paris beschreibt und jetzt das zwölfte Kapitel der „Arglosen auf Reisen"
bildet. Während der nächsten Monate erschienen andere Bruchstücke des Werkes
im „Overland Monthly".
Mit den beiden Bänden seiner Reiseschildernug wurde Mark Twain mit
einem Schlage in Amerika ein Liebling des Publikums. Dieselben erschienen
im Verlage der Hartforder „American Publishing Company" und machten
ganz außerordentliches Glück. Man sagt, daß der Verfasser als seinen Theil
"ni Gewinn siebzehntansend, die das Werk verlegende Gesellschaft aber siebzig-
iausend Dollars bekommen habe. Ueberall wurden die Scherze Twains mit
dem größten Beifall aufgenommen, selbst in den geistreichen, hochgebildeten
und etwas zimperlichen Kreisen Bostons. Desgleichen in England, wo sofort
eine eigne Ausgabe der beiden Bände erschien, und wo die Kritik sich gleich-
falls sehr günstig über das Talent des Verfassers aussprach. Nur ein oder
Zwei Blätter, denen der Scherz des Amerikaners nicht in den Kopf wollte, oder
die ihn mißverstanden, indem sie sein Absprechen über hergebrachte Empfindungen
vor gewissen heiligen Dingen und seine Gleichgültigkeit gegen mit Recht hoch¬
gehaltene Meisterwerke der alten Kunst für ernstlich gemeint hielten, äußerten
sich abfällig. So z. B. das „Saturday Review", dessen Urtheil Mark Twain
Veranlassung zu einer köstlichen Scheinkritik gab, welche die gesammte ameri¬
kanische Presse täuschte und in den literarischen Kreisen von Newyork, Phila¬
delphia und Boston viel Heiterkeit erregte. Auch die „Revue des Deux
Mondes" machte sich in einem langen weisen Artikel durch ein derartiges
Mißverstehen der Absichten des Verfassers zum Gegenstand des Spottes der
Amerikaner.
Im Sommer 1W9 kaufte Mark Twain ein Drittel des Eigenthumsrechts
am „Buffalo Expreß" und wurde Mitredakteur des Blattes. Sein Name
war jetzt wohlbekannt in ganz Amerika, und die Bewohner von Buffalo waren
uicht wenig stolz darauf, daß der beliebte Humorist sich ihre Stadt zu seiner
künftigen Heimstätte ersehen hatte. Die Journale der Union begannen bald,
deu „Expreß" als Fundgrube für Komik zu betrachten, mit der sie ihre eignen
Spalten schmücken und beleben konnten. Sie brauchten nicht lange zu warten.
Mehrere der prächtigsten Geschichten unseres Autors und eine Fülle komisch
gehaltener kürzerer Aufsätze erschienen zuerst in diesem Blatte, die sofort uach
ihrem Erscheinen die Runde durch die amerikanische Presse machten, dann in
die englische übergingen, um in den mit „Varict^" oder „Mwdilm" über-
schriebneu Spalten derselben zu glänzen und zu ergötzen, bis sie endlich in
Indien und Australien anlangten und fast allenthalben von neuem auftauchten,
soweit auf dem Erdball eine englische Zeitung in englischer Sprache erscheint.
Clemens hatte noch kein Jahr in Buffalo gewohnt, als er einen weiteren
Beweis gab, daß er den Wunsch hegte, das Vagabnndenleben an den Nagel
zu hiiugen und ein seßhafter Bürger zu werden. Er nahm sich eine Frau.
Der Gegenstand seiner Wahl war erstens eine schöne, dann eine auch in
andern Beziehungen für ihn sehr passende Dame. Sie besaß ein erhebliches
Vermögen und hatte noch mehr zu erwarten, ihre Verwandten waren wohl¬
habende und einflußreiche Leute, und da Twain jetzt selbst sehr reichliche Einnahmen
hatte, so waren seine Aussichten in die, Zukunft so gut, als er sie sich irgend
wünschen konnte. Während des Winters von 1M9 zu 1870 hielt er wieder
in verschiedenen Orten Vorlesungen. Das System solcher öffentlichen Vorlesungen
ist in Amerika weit ausgebildeter als bei uns. Fast jeder Mann von Ruf in
der Wissenschaft oder der Literatur findet sich dort über kurz oder lang be¬
wogen, mit Vorträgen zur Belehrung oder Erheiterung vor das Publikum zu
treten, und stets versammelt ein solcher eine aufmerksame und dankbare Zu¬
hörerschaft von Hunderten vor sich. Am besten aber lohnen sich humoristische
Vorträge, und vou alleu Humoristen, die jetzt in Amerika als „Lecturer" auf-
treten, füllt keiner seinen Saal und solchen Menschenmassen als Mark Twain.
Vor Kurzem sprach er in New port in der Steinwciy Hall, und bei dieser Ge¬
legenheit wurden vor Oeffnung der Thüren schon zweitausend Dollars sür Bil¬
lets eingenommen, und mehrere hundert Leute mußten sich wieder entfernen,
da kein Platz für sie übrig war.
Wir haben schon einmal bemerkt, daß humoristische Lecturer ihren Vor¬
trägen sonderbare Titel zu geben Pflegen. Artemus Warth Vortrag „Die
Kinder im Walde" war ein Beispiel. „Warum wühlten Sie diesen Titel?",
fragte ihn ein Freund, der gesehen hatte, daß in demselben nichts über das
Märchen enthalten war, welches diesen Namen führt. „Weil der Titel gut zu
klingen schien. Ich wollte das Ding vorher „Meine sieben Großmütter"
nennen", antwortete Artemus. Ein anderer Humorist neunte seinen Vor¬
trag einfach „Milch", er kam daun, als es zum Sprechen ging, mit einem
Kruge voll Milch und einem Glase auf die Rednerbühne, goß die Milch aus
dem Kruge in das Glas, setzte dieses auf den Tisch vor sich und begann hier¬
auf zu sprechen, ohne auch nur mit einem Worte dieser oder irgend welcher
andrer Milch Erwähnung zu thun. Verblüffender Unsinn als Element des
Scherzes ist ein Gedanke, der im Gemüthe eines transatlantischen Humoristen
stets oben aufschwimmt. Eine der beliebtesten Vorlesungen Mark Twains war
die über die Sandwichinseln, wo er sich erbot, den Zuhörern zu zeigen, wie
die Kanibalen ihre Speisen zu sich nähmen, wenn eine Dame die Güte haben
wollte, ihm zu dem Zwecke ein lebendiges Kind einzuhändigen, und wo er die
Bemerkung machte, daß der Hundebraten der Sandwichsinsnlcmer „nichts An¬
deres sei, als unsere beliebte amerikanische Wurst nach Entfernung des Geheim¬
nisses." Ein Lieblingsgegenstand war ihm bei dieser Thätigkeit Artemus
Ward, und in seinem Vortrag über diesen verstorbenen Humoristen Pflegte er
die komische Geschichte von dem Manne zu erzählen, der Artemus eine Weile
mit Fragen nach noch lebenden Berühmtheiten quälte. Der Humorist ant¬
wortete auf alle diese Fragen: „Hab' in meinem ganzen Leben nichts von ihm
gehört", bis der Quälgeist endlich alle Geduld verlor und Artemus anfuhr:
„Nun, Sie verwünschter Nichtswisser, dann haben Sie wohl auch nichts von
Adam gehört?" — „Was war nur gleich sein andrer Name?", fragte Artemus,
indem er mit einem Gesichte fo harmlos als möglich emporblickte.
Im Frühjahr 1870 gewann der Herausgeber der „New Aork Galaxy"
unsern Autor zu Beitrügen für diese Monatsschrift, in welcher ihm ein eignes De¬
partement eingeräumt wurde, in dem er dann eine Fülle der lustigsten Schnurren
und Schwänke veröffentlichte. Im November 1870 wurde unserm Humoristen
ein Sohn geboren, und als ihm um diese Zeit von der „Tribune" die drin¬
gende Bitte um einen Bericht über den Ausfall der Wahlen in der Gegend
von Buffalo zutelegraphirt wurde, telegraphirte er zurück, er habe Plötzlich den
Beruf empfunden, die Kindermuhme zu spielen, und dies besage ihm viel besser
als das Berichterstatter. Von diesem selben Kinde erzählen seine Freunde
folgendes Geschichtchen: Man fand Mark eines Tages in seiner Studirstube, wie
er allem Anschein nach voll väterlicher Zärtlichkeit den jungen Twain — der
„noch so jung war, daß er noch nicht aufrecht gehen und Geschäfte machen
konnte" — auf den Knieen schaukelte. Frau Twain, die den Bestich in sein
Allerheiligstes führte und den Gemahl in dieser Weise beschäftigt sah, fragte:
„Nun Mark, uicht wahr, Du hast das Kindchen recht lieb?" — „Na", er¬
widerte Mark in langsamem, stockendem Tone, „ich kann's eigentlich — nicht so
recht sagen — daß — ich — es lieb hätte; aber — ich — achte es."
Während der Saison kommen die „Lecturer" einander oft ins Gehege.
Bei einer Gelegenheit traf Mark mit dem „dicken Mitarbeiter" LontiiKuwr)
zusammen, einem wohlbeleibten Herrn, der in Newyork ein Witzblatt heraus¬
gibt und Vorträge hält, die er humoristisch nennt. Der „dicke Mitarbeiter"
wohnte diesen Abend dem Vortrage Twains bei, und am Morgen zogen beide,
nachdem sie einige Artigkeiten ausgetauscht, ihre Straße. An einem der nächsten
Abende glaubte Mark zu bemerken, daß sein Vortrag mit geringerem Interesse
verfolgt werde als sonst, und nachdem er denselben noch an einigen Orten
wiederholt, wurde sein Verdacht bestätigt, ja es kam ihm vor, als entdecke er
aus den Gesichtern seiner Zuhörer ein gewisses Erstaunen statt des Gelächters,
mit dem er bisher begrüßt worden war. Er wunderte sich ganz außerordent¬
lich über diese Veränderung. Was konnte mir die Ursache sein? War ihm
sein Humor ausgegangen? Wußten die Leute Humor nicht mehr zu schützen?
Verstand er dem, was er als Scherz empfand, nicht mehr die Form zu geben,
in der es auch auf Andere komisch wirkte? Hatte er seinen Verstand verloren?
Er wußte sich auf diese Fragen keine Antwort zu gebe», und so entschloß er
sich, deu Vorstand der Gesellschaft, in deren Lokal er gesprochen, offen um
Auskunft anzugehen. „Sagen Sie mir doch nur einmal", fragte er, „warum
wirken meine Witze, mein Humor, auf die guten Leute hiesigen Orts nicht
wie anderwärts?" — „Je nnn, sehen Sie", erwiderte der Mann, „da hatten
wir gestern Abend den dicken Mann hier, und Sie können von unsern Leuten
doch kaum erwarten, daß sie zwei Abende hinter einander über dieselben Spaße
lachen." Die Sache war die, daß der fette Schlingel die wirksamsten Scherze
Marks sorgfältig ausgeschrieben, sich den Weg, den dieser zu nehmen beabsich¬
tigt, in den Ankündigungen angesehen und sich mit seiner Rundreise so einge¬
richtet hatte, daß er seinem Rivalen stets einen Tag voraus war und seine
Aufzeichnungen ungehindert verwerthen konnte.
Im März 1871 erschien ein kleines Buch, welches Twams angebliche
„Selbstbiographie" und seinen „ersten Roman" brachte. Es waren schwanke,
die mit Illustrationen ausgestattet waren, welche nicht das Mindeste mit dein
Texte zu schaffen hatten, und die eine Satire auf den berüchtigten Erie-Ring
waren, welche nicht unerheblich dazu beitrugen, daß die Eisenbahn den Händen
der Betrüger Gould, Fisk u. Comp. entrissen wurde. Um zu zeigen, wie be¬
liebt der Humorist war, bemerken wir, daß ein einziger nnter den Bestellzetteln,
welche das kleine Heftchen verlangten, ans die ungeheure Zahl von zehntausend
Exemplaren lautete.
Inzwischen war der Schwiegervater unseres Autors gestorben, und dieser
Umstand sowie andere Heimsuchungen seiner Familie bewogen Twain, seine
Mitarbeiterschaft an der „Galaxy" im April 1871 aufzugeben. Er kündigte
dies mit folgenden Worten an:
„Zum Abschiede. — Ich habe jetzt für die „Galaxy" ein Jahr lang
geschrieben. Die letzten acht Monate habe ich fast ohne alle Unterbrechung
zu Gefährten und Stubengenossen Tag und Nacht Aerzte und Krankenwärter
gehabt. Während dieser acht Monate hat der Tod meinem Familienkreise
zwei Mitglieder entrissen und zwei andere tückisch bedroht. Alles das habe
ich durchgemacht, und dabei bin ich die ganze Zeit über kontraktlich verpflichtet
gewesen, dieser Monatsschrift alle vier Wochen humoristische Beiträge zu liefern.
Ich spreche hierin genan die Wahrheit. Ich bitte die Leser, sich gefälligst ein¬
mal an meine Stelle zu denken und sich die gräßliche Seltsamkeit meiner Lage
zu vergegenwärtigen. Die „Memoranda" (so hatte er seine Beiträge über¬
schrieben) werden mit diesem Hefte unseres Magazins für immer zu erscheinen
aufhören. Früher dachte ich mir's als die unbehaglichste Lage, ein Seeräuber
mit knappen Gehalte und ohne Anspruch auf Antheil an dem Ertrage des Ge¬
schäftsbetriebes zu sein, aber jetzt habe ich eine andere Ansicht. Alle
Monate einmal lustig sein zu müssen in unerfreulicher Zeit, ist noch weniger
behaglich."
Durch den Tod ihres Vaters kam Frau Clemens in den Besitz eines
Vermögens, welches eine Viertelmillion Dollars betrug, und jetzt hatte ihr
Gemahl keine Veranlassung mehr, seine Beschäftigung als Redakteur fortzu¬
setzen. Er verließ noch im Laufe des Jahres 1871 Buffalo und zog nach
der schönen Stadt Hartford in Connecticut, wo er noch jetzt lebt. Hier hat er
außer vielen kleinen komischen Aufsätzen, die sich im „Skizzenbuche" befinden,
auch die in den beiden letzten Jahren erschienenen größeren Arbeiten „Tom
Sawyers Abenteuer" und (mit Warner) „das vergoldete Zeitalter" verfaßt,
welche ebenfalls den von Moritz Busch übersetzten „Amerikanischen Humoristen"
einverleibt worden sind. Jeden Winter nahm er seitdem auch seine Reisen als
„Lecturer" wieder auf. Eine der interessantesten Reihenfolgen von Vortrügen
war dabei die Serie, die er seitdem nnter dem Titel „HouglünZ it" (von
Busch unter dem Titel „Im Silberlaut Nevada" übertragen) als Buch ver¬
öffentlichte.
Im Herbst des Jahres 1872 besuchte unser Humorist England, wo er
die herzlichste Aufnahme fand, von wo ihn aber Familienereignisse oder, wie
ein londoner Witzbold sich ausdrückte, „ein Befehl der Regierung im Unter¬
rock" nach kurzer Zeit heimrief, sodaß er seine Absicht, Vorträge zu halte»,
unausgeführt lassen mußte. Er soll die Idee gehabt haben, nach seiner Heim¬
kehr ein Buch über die komischen Seiten der englischen Gesellschaft zu schreiben,
und obwohl er nur London und auch das nur, soweit es östlich von Temple
Bar liegt, einigermaßen kennen lernte, würde doch ohne Zweifel ein ergötzliches
Buch herausgekommen sein. Wie er mit den Sheriffs von London und Middle-
sex speiste, wie er herrliche Abende mit den witzigen und gelehrten Leuten ver¬
brachte, die sich um die Festtafel im Whitefriar und im Savage-Club ver¬
sammeln, wie er sich im bunten Gedränge der Guildhall bewegte, wie er mit
der alten und ehrenwerthen Körperschaft der Artillerie der City schmauste —
alle diese Dinge hätten, von seiner Feder geschildert, Kabinetsstücke der
humoristischen Literatur werden können. Aber es sind bereits mehrere
Jahre vergangen, ohne daß etwas verlautet hätte, es seien Rückblicke auf
seinen Aufenthalt unter den britischen Vettern mit Sicherheit zu erwarten.
Infolge der in Europa immer mehr abnehmenden Ausbeute gewisser
Erze, namentlich Gold, Silber, Zinn und Kupfer führender, hat man schon
längst angefangen, solche von jenseits des Ozeans zu beziehen, und sind be¬
kanntlich gerade die entferntesten Länder Südamerikas, wie Chile und Peru,
die Hauptbezugsquellen für englische, französische und selbst für deutsche, be¬
sonders sächsische, Hüttenwerke geworden. Man gewinnt diese Erze theils auf
den westlichen Abhängen der Cordillereu, theils sogar auf den in östlicher
Richtung an diese Gebirgszüge sich anschließenden Hochebenen, welche fast alle
des zum Verschmelzen nöthigen Brennmaterials entbehren. Kaum die Hälfte
der dort gewonnenen Erze verhüllet man in den Küstenländern mit eingeführten,
in Chile auch mit natürlich vorkommenden Steinkohlen, in Binnenländern mit
getrockneten Kaktuspflanzen, niedern Buschhölzern, trocknem Yaretamoos und
mit Lamadünger; auch werden einige Silbererze durch Amalgamation, d. h.
durch Extraktion des Silbers mittels Quecksilbers, zu gut gemacht. Die übrigen
Erze versendet man nach einer nicht sehr sorgfältigen Scheidung in kleinen
Stücken oder in Form von gröberem und feinerem Sande (Schliech), in Säcke
verpackt, ans Maulthieren und Lamas zwei bis sechzehn Tagereisen weit nach
der Küste des Stillen Ozeans, von wo sie ihre Wanderung um das Cap Horn
nach Europa antreten. Die Wasserfracht von der neuen uach der alten Welt
ist für diese Art Güter billig und stellt sich für den Centner bis England un¬
gefähr auf eine Mark. Erze, welche als Schiffsballast Verwendung finden,
berechnen sich in der Fracht selbstverständlich noch billiger. Auf diese Weise ist
den europäische» Schmelzbutter Gelegenheit geboten, an fremden Erzen zu er¬
setzen, was die einheimischen Gruben für ihren Betrieb zu liefern nicht mehr
im Stande sind. Indessen wird hierbei, wie mich dünkt, ein Fehler insofern
begangen, als die meisten der europäischen Schmelzwerkstätten keine eigenen
Gruben in Südamerika besitzen und daher bei der sich mehrenden Konkurrenz
in der Entnahme der Erze sowohl, wie bei der Unzuverlässigkeit der dortigen
Lieferanten sich nicht immer der nöthigen Erze versichern können und infolge
dessen oft empfindliche Störungen im Betriebe erleiden. Und doch gibt es,
besonders in Peru, verlassene Gruben — von unaufgeschlossenen Schätzen ganz
abgesehen — welche noch genug werthvolle Erze bergen, und in deren Besitz
M gelangen es weder großer Summen Geldes, noch sonstiger Schwierigkeiten
erfordert.
Als eine solche Grube bezeichne ich ganz besonders die von Choeolimpe,
welche sich außer ihrem metallischen Reichthums schon durch die Nähe der
Küste, sowie deshalb zur Wiederaufnahme empfiehlt, weil rings um sie bekehrte
Indianer, meist Lama- und Maulthierbesitzer (Koteros und Ärrisros) wohnen,
die den Transport der Erze nach der Küste billig vermitteln und einen neuen
Betrieb der Grube mit Freude begrüßen würden. Choeolimpe liegt auf der
Küstencordillen, ungefähr achtzehn deutsche Meilen vom Stillen Ozean und
der Küstenstadt Arica, unweit der Grenze von Bolivia. Die nächsten Ort¬
schaften nach dem Innern sind Velen, Chapiquina und Parinacota, nach der
Küste Putre, Socoroma und Linea.
Das Klima bietet infolge der hohen Lage dieser Gegend über dem
Meere (circa 4700 Meter) für den Europäer allerdings nichts Verlockendes.
Eine dünne, trockne, kalte Luft, die den stechenden Strahlen der Sonne sowohl
als den temporären Stürmen ungeschwächten Durchgang gestattet, verursacht
anfangs Kopfschmerz und Beklommenheit, welche meistens in den Sorrocho,
die lästige, aber ungefährliche Gebirgskrankheit ausarten, sich jedoch schon
in wenigen Tagen verlieren. — Baumlos erheben sich kegelförmige Trachyt-
berge, zum Theil mit stacheligen Pajagras und dürftigem Tolagejtrüpp, zum
Theil mit Blöcken und Gerölle bedeckt. In den drei Sommermonaten von
Dezember bis Februar (wenn die Sonne senkrecht steht), ziehen Nachmittags
dunkle Wolken mit Gewittern und Hagelschauern über die Gegend und ver¬
wandeln diese in wenigen Minuten in eine vollständige Winterlandschaft. Aber
das Klima ist trotzdem gesund, und die Gegend behält trotzdem einen eigenen
Reiz. Im Uebrigen kann man fast alle Lebensbedürfnisse von den genannten
Ortschaften und von der Küste aus befriedigen und sich selbst mit europäischem
Comfort umgeben, wie dies ja dort auch viel weiter im Innern schon längst
geschieht.
Ich vermag uun zwar nicht mit Bestimmtheit zu sagen, daß die Arbeit
in Chocvlimpe noch immer ruht, da mir seit sechs Jahren keine Nachricht über
dieselbe zugegangen ist; ich bin aber fest überzeugt, daß sich in dieser Hinsicht
nichts geändert hat; denn einestheils steht die Grube dort in dem Rufe, daß
in ihr unbesiegbare Wasserquellen existiren, die jede Arbeit vereiteln, andern-
theils sind die Bewohner der Küste, von denen sich allein eine Wiederaufnahme
voraussetzen ließe, meist Kaufleute, die sich zu wenig für die Sache interessiren,
fast gar kein Verständniß dafür haben und vielleicht anch dnrch schlimme Er¬
fahrungen mißtrauisch geworden sind, die sie früher an Ausländern gemacht,
welche sich als Bergleute ausgaben, ohne es zu sein.
Als ich im Jahre 1861 mit einem Deutschen, Herrn C. Bode aus Claus¬
thal, die Küsteueordillera zwischeu deu bekannterett Bergen von Caqnena und
Sajama zur Untersuchung auf Erzlager bereiste, wobei Chocvlimpe natürlich unser
Hauptziel bildete, nahmen wir ein paar indianische Bergleute mit dem nöthige»
Arbeitsgezähe aus einem Grnbenorte des Innern mit uns. In Parinacota
bot sich uns ein alter Indianer, welcher selbst noch in der Grube vou Ch»-
colimpe gearbeitet hatte und durch den früheren Verkehr mit Eingewanderten
sogar leidlich Spanisch verstand (eine große Seltenheit) als Wegweiser an.
Dicht bei Parinacota hatte damals ein sogenannter MMnio, ein Aufbereitungs¬
werk gestanden, in welchem die Erze, auf Lamas hierhergeführt, mittels eines
oberschlägigen Wasserrades unter Pochstempeln zerkleint und zugleich, mit
Quecksilber beschickt, amalgamirt wurden. Das Rad, die Stempel und die
Dachsparren hatten längst andere Verwendung gefunden, nur die Umfassungs¬
mauern und ein paar Basaltsäulen, die als Pochsohle dienten, waren noch
vorhanden. Unter letzteren kratzte der alte Indianer einige Hände voll Schlamm
hervor, der noch Quecksilberperlen und Silberamalgamkügelchen enthielt; er
versicherte uns, daß er aus dem daneben befindlichen kleinen Teiche, in welche»
die relavzs (die Rückstünde) abgelassen seien, schon einige Centner Quecksilber
und Amalgam gewaschen habe.
Ein sanft ansteigender, gut erhaltener Weg führte uns in anderthalb
Stunden auf die Grube, die ein vom Fuß bis zum Scheitel durchlöcherter
Berg andeutete. Verschiedene Gruppen von Häusern, auf dem sattelförmigen
AbHange der Südseite des Berges gelegen, nahmen unsere Aufmerksamkeit zu¬
nächst in Anspruch. Die Kirche, welche von einem srührrn Besitzer der Grube
erbaut war und deren Schlüssel sich im Besitze des jetzigen cula (Pfarrer)
von Veleu befand, (letzterer schien sich aus diesem Grunde auch als Besitzer
der Grube zu betrachten) war am besten erhalten. Ein paar Fenster von
durchscheinendem Alabaster beleuchteten das Innere der Kirche, in welcher
wir durch die Spalten der eingetrockneten Thürflügel mehrere Blas- und
Streichinstrumente an der Wand hüugeud und eine Baut bemerkten, auf welcher
wie es schien, sehr schöne Stufen von Silbererzen lagen. Um die Kirche,
reihten sich mehrere r-meos (Arbeiterwohnungen), halbzerfallene Hütten ans
Lehm- und Steinmauern aufgeführt und mit Pajagras gedeckt. In einer der¬
selben fanden wir ein halbes Dutzend eumlu-^, Böller aus Kanonenmetall
gegossen, wie sich derer die Indianer zu ihren Festen bedienen, und einen
""Ire, einen gegerbten Hammelbalg, zum Theil uoch mit Brauntwein gefüllt,
von dem zu trinken unsere Begleiter kein Bedenken trugen. Einigermaßen be¬
fremdete es uus, daß gerade diese Gegenstände hier zurückgelassen waren, auf
welche die Indianer sonst so hohen Werth legen. — Einen zweiten Hüuser-
kvniplex bildeten die Magazine und die Wohnungen der Beamten, sieben bis
acht einstöckige Gebände, deren Stuben, mit Glasfenstern und Kaminen ver¬
sehen, einen einstmaligen behaglicheren Aufenthalt als jetzt verriethen; denn der
Sturm hatte die Dächer arg zerzaust und mehrere Scheiben zerbrochen. Nichts¬
destoweniger gewährten uus diese Vehausuugeu während unseres zweitägigen
Aufenthaltes genügenden Schutz gegen Wind und Kälte.
Neben diesen Häusern, jedoch durch einen gassenartigen Gang getrennt,
semo ein Flammofen, welcher dazu gedient halte, das an den Silberamal-
iwwen haftende Quecksilber zu verflüchtigen und in Vorlagen wieder anfzu-
s'U'gen. Die sehn'nrzgeräucherte Esse ragte noch unversehrt aus deu Trümmern
^r Mauern, deren Dächer ein Raub der Flammen geworden waren. — Endlich
U' einiger Entfernung hiervon, auf der Sattellinie der Bergmnlde, trafen wir
^el versunkene Wasserschächte an, aus denen noch die gußeisernen Pumpen¬
rohre hervorsahen, und hundert Schritt weiter uach dem Berge zu einen halb
Zerfallenen Förderschacht mit Manlthiergöpel. Das zwei Zoll starke Förder¬
et, aus Hanf gedreht, lag noch dort, scheinbar gut erhalten, zerfiel aber bei
stärkerer Berührung zu Staub. Ein nicht unbedeutender Haldensturz von
Trachyt und Porphyr gab zu erkennen, daß hier größere Massen von Erzen
gefördert sein mußten.
Von hier führte uns der Indianer abwärts in das Thal nach der Mün¬
dung eines Stollen, welcher ohne Zweifel zu dem Zwecke begonnen war, um
mit dem Förderschachte in Durchschlag gebracht zu werden und die Wasser,
welche bis dahin künstlich durch die Pumpen der Schächte gehoben wurden,
aus diesem auf natürliche Weise abzuführen. Die senkrechte Teufe, welche
dadurch vom Schachtkranze bis zur Stollensohle gewonnen wurde, taxirten wir
auf sechzig bis siebzig Meter, die horizontale Entfernung des Stollenmund¬
loches vom Schachte auf vierhundert Meter. Nach der Aussage des Jndianers
waren im Stollen bereits zweihundert varg.8 (circa hundertundsechzig Meter)
ausgefahren, sodaß also noch zweihundertnndvierzig Meter fehlten, um mit dem
Schachte dnrchschlägig zu werdeu. Leider war es der herabgefallenen Wände
wegen nicht möglich, den Stollen weiter als einige Schritt zu befahren.
Diesem Stvllenmundloch gegenüber, unmittelbar am Ufer eines Baches,
welcher hier vorüberfließt, befanden sich mehrere yujmbülvws, prismatisch ge¬
hauene sechs bis sieben Centner schwere Pvrphyrblöcke, welche zum Mahlen
der Erze dienten und durch Querbalken mit den Beinen schaukelnd hiu- und
her bewegt wurden. Auch sie enthielten Spuren von Amalgam. Die Wasch-
rückstünde zeigten hier wie in Parinacota die lichte Farbe des Trachytes und
Porphyrs, ein Zeichen, daß überhaupt nur sogenannte „Dürrerze" (bleiarine,
aber silberreiche Erze, welche sich besonders zur Amalgamation eignen) ver¬
arbeitet waren. Es that uns leid, daß wir nicht ein Gangstück antreffen
konnten. Wie es schien, waren diese absichtlich sorgfältig entfernt, oder von
früheren Besuchern bereits ausgelesen und mitgenommen, doch versicherte uns
der Indianer, daß durchweg nur taeaim und rosielör gewonnen seien. Unter
diesen Namen versteht man hier die reichsten Silbererze und zwar nnter tu,-
einen eingesprengt gediegen Silber, unter rosivl^r Svrödglaserz und lichtes und
dunkles Rvthgiltig, welch letztere mehr oder weniger siebzig Prozent reines
Silber enthalten. Diese seien auf mehreren Gängen der oben bezeichneten
Bergmulde gebrochen und gewonnen.
Hierauf führte uns der Indianer ein paar hundert Schritte aufwärts
am Bache entlang nach einer Stelle des westlichen Fußes des Berges, die
durch ihr Aeußeres nichts Auffallendes hatte. Die scheuen Blicke aber, die
unser Cicerone um sich warf, gleichsam als wolle er sich vergewissern, daß ihn
außer uus niemand beobachtete, verriethen, daß er hier etwas Geheimes zeigen
wollte. Er ließ von unsern Bergleuten mehrere Tolastrüucher und die wenige
Deckerde entfernen und öffnete einen mit Holzstücken und Steinen bedeckten
piqvt?, eiuen tonlägigen (d. h. schrägeinfallenden) Schacht, aus welchem uns
ein mächtiger Gang von Bleiglanz entgegenleuchtete. Der Pique war kam fünf
Meter tief. Vor Ort ließen wir ein paar Schüsse einbringen, um Proben
zur genauern Untersuchung zu bekommen. An den frischen Brnchflcichen er¬
kannte man sogleich, daß die Erze außer Bleiglanz und Bleischweif uoch
Weißgiltig, Fahlerz, Kupferkies und Zinkblende enthielten. (Die spätern Ana¬
lysen der bleiischen Erze im Muffelofen ergaben — vom Blei, Kupfer und
Zink ganz abgesehen — einen durchschnittlichen Silbergehalt von 1'/,» Prozent.
Der Kupferkies und die Blende zeigten sogar deutliche Spuren von Gold.)
Wie nicht anders zu erwarten stand, setzte der Erzgang in der Uebergangs-
formativn auf, die hier vom Trachyt überflossen war und daher nicht zu Tage
trat. Ju der That bildete ein dunkler Thonschiefer das Hangende sowohl wie
das Liegende. Daß diese kleine Arbeit mit der großen Grube der Dürrerze
nichts gemein hatte und einer neueren Zeit angehörte, unterlag keinem Zweifel.
Unser Gewährsmann gestand denn auch, daß ein Halbindianer aus Vei6n
diesen Gang entdeckt, den Pique geöffnet und sogar einen Stollen zur Lösung
der Wasser begonnen habe, den er ebenfalls mit Steinen und Erde verschloß.
Nach dem geringen Haldensturze zu urtheile», welcher, um zu täuschen, seit¬
wärts angeschüttet war, konnte er auch mit dem Stollen nicht weit gekommen
sein. Ob er mit diesem Stollen zugleich auch die Dürrerze anzutreffen hoffte,
ist der großen Entfernung wegen nicht anzunehmen, wahrscheinlicher gedachte
er den Gang der bleiischen Erze in der Thalsohle zu schneiden und zu ent¬
wässern schon in der Absicht, die Erze rein auszuhalten und nach der Küste
zum Verkauf zu bringen. Nur die Furcht, daß der Cura ihm die Schätze
streitig machen würde, soll ihn veranlaßt haben, von der Arbeit wieder ab¬
zustehen.
Am andern Morgen nahm ich mir vor, den Berg selbst und seine vielen
kleinen Oeffnungen zu untersuchen, die von weitem wie Kaninchenhöhlen aus¬
sahen. Mein deutscher Reisegefährte war etwas gebirgskrank geworden und
blieb zu Haus. Er behielt einen unserer Bergleute bei sich, der zugleich
designirt wurde, das Mittagessen zu bereite» und die Pferde und Maulthiere
zur Weide und Tränke in das Thal zu sichren, wo Pasto, ein etwas weicheres
Gras, in üppiger Fülle am Bache wuchs. Ich trat daher meine Wanderung
wie dem alten Indianer und dem andern Bergmann an. Ersterer wußte über
jene Arbeiten nur wenig zu berichte», da sie einer früheren Periode angehörten.
Nach der Tradition hätten schon die Inkas hier Gold graben lassen, welches
in manekas (vereinzelten Anhäufungen) über die Oberfläche des Berges ver¬
theilt gewesen, aber rein abgebaut wäre, sodaß wir davon nichts mehr finden
würden. Trotzdem ließ ich Schießzeug und Patronen mitnehmen in der Hoff¬
nung, durch neue Anbruche doch noch Reste des edeln Metalles zu entdecken.
Allein der Indianer hatte Recht. Wir kletterten fast den ganzen Tag auf dem
Berge von unten bis oben umher, untersuchten gegen dreißig Löcher mit ihren
Halden und brachten nach den verschiedensten Richtungen die Schüsse ein; über¬
all zeigte sich taubes Trachytgestein. Die Oeffnungen, ebenfalls Piques, waren,
wie es schien, ohne Sprengung mit Keilarbeit eingetrieben und durchschnittlich
kaum drei Meter tief; einige am Fuße des Berges maßen jedoch fünf und
sechs Meter. Im losen Gerolle über den ganzen Berg verbreitet, fanden wir
nur Auripigment oder Rauschgelb in Krystallen bis zur Erbsengröße, welches
bekanntlich aus Arsenik und Schwefel besteht und früher als Malerfarbe benutzt
wurde. Daß dieses Gegenstand einer so ausgedehnten Arbeit gewesen sein
sollte, ist kaum anzunehmen, und müssen wir uns daher vorläufig mit der Aus¬
sage des Indianers begnügen.
Was nun endlich die Vergangenheit der Grube der Dürrerze betrifft, so
muß der Betrieb derselben, wie der Indianer ausrechnete, schon längere Zeit
vor dem Regierungsantritt des peruanischen Generals Gamarra (1839), viel¬
leicht schon Mitte der Dreißiger unseres Jahrhunderts begonnen haben. (Die
Indianer rechnen selten nach der Jahreszahl, sondern bedienen sich als Zeit¬
bestimmung meist der nennen der verschiedenen Präsidenten ihres Landes.
Mau könnte diese Eigenthümlichkeit fast als eine Ironie auf den häufigen
Wechsel der letzteren ansehen.) Der erste Besitzer der Grube sei ein Cura aus
Velcn gewesen, welcher so viel Silber gewann, daß er in kurzer Zeit ein
reicher Mann wurde. Als sich größere Mengen von Wasser einstellten, habe
er die Gruben an zwei Spanier verkauft. Sein Glück soll er jedoch in Ver¬
schwendungen aller Art wieder verscherzt haben, sodaß er als armer Mann
gestorben sei.. Ein Administrator, Namens Armstrong, habe den Betrieb für
Rechnung der Spanier geleitet, die Schächte weiter abgeteuft und mit Pumpen
versehen und den Stollen angefangen. Sechs Jahre habe dieser bedeutende
Ausbeute erzielt, sich dann aber dem Trunke und einem übermäßigen Genusse
von Coca ergeben und dadurch die Arbeit gänzlich vernachlässigt, sodaß die
Spanier an seine Stelle einen andern geschickt hätten. In heftigen Streit ge¬
rathen, hätten beide einander mit Waffen mehrere Tage in den Bergen ver¬
folgt, Armstrong sei dann schwer verwundet zurückgekehrt und bald darauf ge¬
storben Auf dem Sterbebette habe er zuvor den Mord des andern gestanden
und den Wunsch geäußert, daß man von diesem Vorfalle deu Herren der Grube
nichts verrathen und seiue Leiche hier in aller Stille des Nachts begraben
solle. Das sei auch geschehen; die Grube aber sei von der Stunde an
ersoffen.
Als wir am dritten Tage unsere Rückreise von Chocvlimpe antraten, führte
uns der alte Indianer nochmals um der Kirche vorüber und zeigte uns in ge-
ringer Entfernung vou ihr das vermeintliche Grab Armstrongs, welches, da es
keinen Hügel bekommen hatte, trichterförmig eingesunken war. An der Küste,
schloß der Indianer seine Erzählung, glaube man, daß die beiden Administra¬
toren nach Bolivia gegangen und dort im Innern verschwunden seien; er aber
wisse besser, wie sich die Sache verhalte, und wer es nicht glaube, brauche nur
um Mitternacht hierher zu kommen. Dann steige Armstrong ans seinem
Grabe, und sein Gegner stände drüben auf der Grube und winke mit einem
weißen Tuche. Das allein sei der Grund, weshalb niemand die Grube wieder
bearbeiten wolle; denn Geistererscheinungen brächten Unglück. Ich weiß nicht,
ob sich an der Küste noch jemand findet, der wie der alte Indianer an der¬
artige Spukgeschichten glaubt; die Ausländer wenigstens würde» sich dadurch
wohl schwerlich abhalten lassen, den Grubenbetrieb wieder zu eröffnen, wenn
sie nicht dnrch die bereits anfangs entwickelten Gründe abgeschreckt würden.
So liegen denn vielleicht die Schätze eines zweiten Potosi, nur achtzehn
Meilen von der Küste, verlassen und vergessen bis ans den heutigen Tag.
Wer es aber unternimmt, sie wieder aufzusuchen und neben dem Abbau der
blciischen Erze, die mit wenigen Kosten sofort gewonnen und verschickt werden
könne», den angefangenen Stollen bis zu den reichen Dürrerzgängen durchzu¬
schlagen (es ist kein „Rvthschöuberger Stollen" hierzu nöthig!), dessen Mühe
wird sicher einst reich belohnt werden.
Die Spezialberathung des Etats, in welche der Reichstag am Dienstag
eintrat, begann abermals mit einem Meinungsaustausch über die Frage der
Organisation der Reichsverwaltung. Im allgemeinen hat diese neue Erörterung
einen befriedigenderen Eindruck hinterlassen, als die entsprechende Diskussion
der ersten Lesung. Wenn der Reichskanzler den Unterschied zwischen seiner
Auffassung und derjenigen der liberalen Elemente des Reichstages dahin fest¬
zustellen versuchte, daß er seinerseits eine organische, den innersten Bedürfnissen
entsprechende Entwickelung der Reichsinstitntionen anstrebe, von der anderen
Seite dagegen lediglich der konstitutionellen Doktrin zuliebe eine radikale Um¬
gestaltung der Verwaltungseinrichtung verlangt werde, so hat die Rede Lasters
deutlich genng bewiesen, daß Fürst Bismarck dabei von irrigen Prämissen
ausging, daß ein solcher Unterschied gar nicht vorhanden ist. Der Reichskanzler
selbst leugnet nicht die Entwickelungsbedürftigkeit der heutigen Organisation-
Und die Richtung, in welcher sich die künftige Entwickelung seiner Ansicht nach
zu vollziehen haben wird, ist die allmähliche Verschmelzung preußischer Ministerien
mit den Reichsämteru. Der gleiche Grundgedanke beherrschte aber die Aus¬
führungen Lasters. Nicht also ein Gegensatz praktischer und theoretischer
Forderungen, sondern eine Meinungsverschiedenheit über die Dringlichkeit der
Reform bildet den Unterschied zwischen beiden Standpunkten. Dies konstatirt
zu sehen, ist, wenn auch ein kleiner, so doch immerhin ein Gewinn dieser er-
neuter Behandlung der Frage. Doch soll damit nicht gesagt sein, daß die
letztere ihrer praktischen Lösung näher geführt sei. Die ganz unübersehbaren
Schwierigkeiten, welche sie in ihrem Schoße birgt, haben bis jetzt nieder eine
Fraktion, noch einen Einzelnen dazu kommen lassen, mit einem detaillirten
Plan hervorzutreten. In der That würde es eine höchst optimistische Täuschung
sein, wollte man eine wesentliche Aenderung der Institutionen schon in naher
Zukunft erwarten. Ein gut Theil der im Reichstage lautgewordeneu Bedenken
und Beschwerden könnte aber ohne Zweifel durch einen bloßen Personenwechsel
beseitigt werden. Ein junges, aufstrebendes Staatswesen, dein die umfassendsten
Reformaufgaben gestellt sind, kann nicht gedeihen, wenn die eigentliche Leitung
der Geschäfte ihre Stärke in der schablonenmäßigen bureaukratischen Routine, statt
in eigenen schöpferischen Gedanken hat.
Außer der Verwaltnngsorgamsationsfrage hat der Gegensatz zwischen
Schutzzöllnern und Freihändlern in die Etatsberathung hineingespielt. Ein
praktisches Resultat dieser Auseinandersetzungen ist indeß nicht zu verzeichnen,
kann auch nicht früher erwartet werden, als bis irgend welche positiven Vor¬
schläge oder aber die neuen Handelsverträge zur Entscheidung stehen.
Was weiter noch zum Etat geredet wurde, war — mit Ausnahme etwa
der Desiderien betreffs der Thätigkeit des Reichsgesundheitsamtes — ohne
sonderliche Bedeutung. Der Etat des Auswärtigen Amtes bot sonst Herrn
Jörg Gelegenheit, die Welt über die diplomatische Lage und die grundfalschen
Bahnen der Bismarckschen Politik aufzuklären. Diesmal schwieg er; ob ans
Ueberzeugung oder irgend einem äußeren Zwange gehorchend, vielleicht gar,
weil sein nie versagender sekundäre Windthorst durch eine Erkältung vom
Reichstage fern gehalten wird — wer mag es ergründen! Aber in anderer
Richtung wurde beim Etat des Auswärtigen Amtes ein Schauspiel in Scene
gesetzt, das sich zwar auf den ersten Blick sehr harmlos ausnimmt, aber recht
nachdenklich zu stimmen geeignet ist. Für die Botschafterposten in London und
Petersburg war eine Gehaltserhöhung gefordert. Der Staatssekretär des Aus¬
wärtigen v. Bülow bemühte sich redlich, die Mehrausgabe als im Interesse
des Reiches nothwendig zu beweisen. Bei der Abstimmung über den Londoner
Posten aber wurde die Erhöhung mit 157 gegen 147 Stimmen abgelehnt.
Nunmehr warf für den Petersburger Posten der Reichskanzler selbst das ganze
Gewicht seiner Autorität in die Wagschale, und die Folge war hier die Be¬
willigung der Erhöhung mit 163 gegen 148 Stimmen. Wir fürchten, diese
beiden Abstimmungen sind ein Vorspiel dessen, was man in größeren Fragen
von dem neuen Reichstage zu erwarten hat. An zehn, fünfzehn Stimmen
mehr oder weniger hängt die Entscheidung, und irgend welcher vielleicht rein
zufälliger Umstand kann das Zünglein bald nach dieser, bald nach jener Seite
hin sich neigen machen.
Zum ersten Male sind in der abgelaufenen Woche auch die gewerblichen
Klagen im Reichstage lautgewordeu. Hoffen wir, daß die Weise, wie es ge¬
schah, kein böses Omen für die weitere Entwickelung dieser Angelegenheit ist!
Die deutsche Reichspartei, an der Spitze der sächsische Theil derselben, inter-
pellirte die Reichsregierung, ob dieselbe dem jetzt versammelten Reichstage zur
Beseitigung der unter der jetzigen Gewerbegesetzgebnng entstandenen Mißstände
Vorlagen über Abänderung derselben, „beispielsweise in Bezug auf das Lehr-
lingswesen, die Frauen- und Kinderarbeit, die Maßregeln zur Verhinderung
des Kvutraktbruchs, die Beschränkung der Wanderlager und des Hausirhandels,
sowie in Betreff der schaut- und Gastwirthschaften ?e." zur Berathung zu
unterbreiten gedenke. Eine solche Art des Vorgehens fordert nothwendig die
schärfste Kritik heraus. Niemand hat für die Gewerbeordnung vou 1869 die
Unfehlbarkeit in Anspruch genommen; es ist schlechterdings unmöglich, daß bei
einer so umfassenden und tiefgehenden Reform, wie sie durch dies Gesetz-
gebuugswerk vollzogen wurde, nicht Fehlgriffe gethan werden sollten, Fehl¬
griffe, in Bezug auf welche von vorne herein an eine spätere Revision gedacht
worden ist. Die Forderung der Anhänger der Gewerbefreiheit ist nur ge¬
wesen, daß diese Fehlgriffe genau erkannt seien, bevor man an eine Aenderung
der neuen Gesetzgebung herantrete. Die Urheber der in Rede stehenden Jnter¬
pellation haben es sich überaus bequem gemacht. Sie sind „geleitet von der
Ueberzeugung, daß die auf gewerblichen Gebiete unter der jetzigen Gewerbe¬
gesetzgebung entstandenen Mißstände einer Abhülfe bedürfen." Aber statt nun
diese Mißstände bestimmt zu bezeichnen und die Mittel zur Abhülfe anzugeben,
begnügen sie sich mit „beispielsweisen" Andentungen, die mit Hülfe eiues
»se e^col'g." lo intmitum vermehrt werden können, und lassen im übrigen die
Regierung allein sorgen. Wenn derartige vage Querelen in der Parteipresse,
auf Handwerkertagen und in Volksversammlungen erhoben werden, so ist das
uicht zu verwundern; von Männern aber, welche „Abgeordnete des ganzen
Volkes" sind und unmittelbar an der Gesetzgebuugsarbeit theilnehmen , sollte
man billig ein positiveres Verfahren erwarten dürfen. Die Jnterpellation hat
nicht einmal den Werth einer Anregung für die Regierung gehabt; denn daß
dieselbe den gewerblichen Klagen eine ernste Aufmerksamkeit zuwendet, war
längst bekannt. Ebensowenig wird sie andrerseits ihren Urhebern den Ruhm
eintragen, die Gewerbeorduungsrevision zuerst und in fruchtbarer Weise in Angriff
genommen zu haben. Wie anders haben doch die Konservativen gehandelt!
Ihr Gesetzesvvrschlag wegen Abänderung der auf die Verhältnisse der Gesellen
und Lehrlinge bezüglichen Bestimmungen der Gewerbeordnung umfaßt zwar
nur einen Theil dessen, was sie für revisionsbedürftig halten, und trägt außer¬
dem deu Stempel der Uebereilung an der Stirn; aber er weiß doch, was er
will, sagt nicht allein bestimmt, was, sondern auch, wie geändert werden soll.
Auf nationalliberaler Seite sind gleichfalls positive Propositionen in Vorbe-
reitung. Dieselben, mit deu konservativen zusammengefaßt, werden die Unter¬
lage für eine ohne Zweifel ersprießlichere Berathung bilden, als wir sie am
letzten Montag erleben mußten.
Eine recht klägliche Episode dieser Woche bildete die Posener Zeugniß-
zwangaffaire. Als der Fall Kantecki vor einigen Wochen im preußischen Ab¬
geordnetenhaus« zur Sprache kam, konnte der Justizminister mit leichter Mühe
das Ansehen der Regierung wahren, indem er sich hinter die Unabhängigkeit
der Gerichte verschanzte. Die Vertreter der Reichsregiernng waren minder
glücklich. Der minutenlangen Heiterkeit, welche der Präsident des Reichskanzler¬
amtes dnrch seine grausame Halbirung des Fürsten Bismarck in zwei von
einander absolut verschiedene Personen hervorrief, folgte Staunen und Kopf-
schütteln. über Erklärungen und Argumeutationsweise des Generalpostmeisters
Stephan. Wehrenpfennig hat an derselben eine vernichtende Kritik geübt. In
der That begreift man uicht, wie die Verwaltung ein Verfahren fortsetzen
mag, bei dem sie nur verlieren, nicht gewinnen kann. Wie die Dinge liegen,
ist es selbstverständlich, daß der Redakteur Kantecki bei der Weigerung, die
Person zu bezeichnen, von welcher er den Erlaß der Oberpostdirektion in
Bromberg erhalten, beharren wird. Die Verwaltung kommt also allmählich
in die Lage, wegen Verweigerung der Zeugenaussage in Bezug auf eine Hand¬
lung, die nicht einmal unter das Strafgesetzbuch fällt, thatsächlich eine Frei¬
heitsstrafe zu vollziehen, wie sie sonst nnr für schwere Verbrechen erkannt
wird. Ein so schreiendes Mißverhältniß zwischen Mittel und Zweck mag sich
durch den Buchstaben des Gesetzes vertheidigen lassen, dem Geiste wahrer Ge¬
rechtigkeit entspricht es nicht. Obendrein noch ist die Verwaltung in Gefahr,
mit der bereits verkündeten neuen Strafprozeßordnung, nach welcher die Haft
zur Erzwingung des Zeugnisses höchstens sechs Monate dauern darf, in Wider¬
spruch zu treten; vier Monate sitzt der unglückliche Redakteur des „Kurher
Poznanski" bereits hinter Schloß und Riegel. Wahrlich, es wäre ein wunder¬
liches Schauspiel , wenn eine Reichsbehörde den zufälligen Umstand, daß ein
bereits erlassenes Reichsgesetz einstweilen noch uicht in Kraft treten kann, be¬
nutzte, um eiuer durch das Reichsgesetz vollzogenen Reform mit Hülfe der noch
bestehende« Partikulargesetzgebung Hohn zu sprechen! — Leider wird die
unselige Angelegenheit den Reichstag, wie es scheint, noch wiederholt be¬
schäftigen.
Erfreulich war der Abschluß der Woche, Die Svunabendsitznng war
dem Gesetzentwurf betreffend die Lcmdesgesetzgcbnng Elsaß-Lothringens ge¬
widmet. Ein stärkerer Kontrast als der zwischen dieser Verhandlung und
jener stürmischen Scene vor drei Jahren, als Herr Teutsch den von Gam-
betta verfaßten Protest verlas, ist nicht denkbar. Die Autonomisten, auf der
Rednerbühne durch die Herren Bergmann und Schneegans vertreten, haben
ihre parlamentarische Thätigkeit mit sehr viel Takt und gutem Glück begonnen.
Die Erfolge, welche ihnen die loyale Anerkennung der bestehenden Verhältnisse
jetzt bereits eingetragen, werden, wie Stauffenberg in einer vortrefflichen Rede
entwickelte, auch die Protestler zwingen, von der bisherigen absoluten Negation
zu eiuer positiverer Haltung überzugehen. Was den erwähnten Gesetzentwurf
betrifft, welcher eine vorsichtige Erweiterung der Befugnisse des elsa߬
lothringischen Landesausschnsses unter entsprechender Einschränkung der Mit¬
wirkung des Reichstages an der dortigen Landesgesetzgebnng bezweckt, so wird
er freilich nicht ohne Modifikationen angenommen werden können-
, doch steht
Zu hoffen, daß sich eine Verständigung ohne allzugroße Schwierigkeit finden
lassen wird. Der Tag, da dies Gesetz zu Stande kommt, wird ein bedeutsamer
Markstein in der Entwickelung des Reichslandes zu einem lebendigen Gliede
d
D rutsche Kunst in Prag. Ein Vortrag von or. Alfred Woltmann,
Plos. d. Knusw'schichte an der k. k. Universität in Prag. Leipzig.
Aerlag von E. A. Seemann. 1877.
Dieser Vvrtraa bietet insofern ein besonderes Interesse, als er zu den
bekannten lärmenden Kundgebungen czechtscher Hansnarren führte, die keine
Wahrheit vertragen können', welche ihren Embüduugen von der Große und
Bedeutung ihrer' götzenhaften Nationalität widerspricht. Der Versasser hatte
"r dem zuerst in der prager „Concordia" gehaltenen Vortrage die Frage, was
in der künstlerischen Erscheinung der Stadt Prag deutsch sei, dahin beant¬
wortet: „Beinahe Alles. Erstens ist hier überhaupt Grund und Boden deutscher
Kunst, seit es in Prag eine Kunst gegeben. Zweitens aber fanden zwar mehr-
fach auch andere Einflüsse statt, diese wurden aber dann von Deutschland
übermittelt. Drittens endlich hatte von diesen fremden Einflüssen nur das, was
sich Deutschland auch sonst zu eigen machte, hier Bestand." Böhmen war im
Mittelalter nicht etwa, wie Ungarn, ein Grenzgebiet der deutschen Kunst, soudern
dieselbe faßte hier Wurzel, und zwar sie allein. Ein direkter Zusammenhang
Böhmens mit Byzanz in künstlerischer Beziehung ist eine leere Fiktion. Nur
die Russen und Südslaven hat der byzantinische Stil sich unterworfen, Böhmen
aber war von ihm getreunt und durch Deutschland in den Bereich einer
lebendigen und entwickelungsfähigen Kunst gezogen. Die Georgskirche auf
dem Hradschin ist ein Rest dieser Einwirkung, sie wurde von einem deutschen
Steinmetzen Werner erbaut. Ebenso deutsch sind die ältesten Reste der Plastik
und Malerei; deun auch da, wo wir slavische Künstlernamen mit bestimmten
Arbeiten in Beziehung setzen können, haben letztere ein durchaus deutsches Ge¬
präge. Gilt das vou der romanischen Periode, so ist es nicht minder wahr
von der späteren gothischen (eigentlich französischen). Auch in dieser beeinflußte
und beherrschte die deutsche Kunst — jetzt von Schwaben und von Köln her
— die böhmische kimstlerische Thätigkeit. Der Dom zu Prag ist vou Peter,
dem Sohne Heinrichs von Gmünd, Parliers in der Bauhütte von Köln, voll¬
endet, und derselbe ist zwar eine Leistung der Spätgothik, aber für seine
Epoche bei dem Glanze der Durchführung eine hervorragende Schöpfung.
Auch die Moldaubrücke ist von jenem deutschen Meister erbaut. Der Se. Georg
auf dem Domplatz wurde unter Karl dem Vierten von Martin und Georg
v. Klussenbach gegossen. Im Jahre 1348 wurde die Malerbruderschaft ge¬
gründet, deutsch siud ihre Statuten, deutsche Künstlernamen überwiege» zunächst.
Die große Kunstbewegung der Renaissance, in welche auch Deutschland ein-
griff, ging an Böhmen vorüber, ohne eine selbständige Theilnahme des Landes
zu wecken. Sie hat in Prag ihre Spuren hinterlassen, aber diese Werke sind
aus Italien importirte Produkte, an die sich keine Entwickelung knüpfte. Wo
sich denn aber bürgerliche Baukunst regt, sind italienische Einwirkungen nicht
zu spüren: der Giebelbau am Kleiuseitner Brückenthurm, die Arkadenhöfe
mancher Bürgerhäuser, die Brunnen und die schmiedeeisernen Gitter aus dieser
Zeit lehnen sich trotz aller Entfremdung Böhmens von Deutschland doch an
die deutsche Auffassung der Renaissance an. Nur wo der Hof schafft, steht es
anders. Wenn endlich neuerdings nach lange anhaltender Küimnerlichkeit ein
so schöner Ban wie das ezechische Theater emporwächst, so ist der Meister hier
zwar kein Deutscher, aber er hat in Wien seine Schule durchgemacht, und
sein Ban zeigt eine Auffassung der Renaissance, welche wesentlich der neuen
deutschen Schule eigen ist und dem Vorgange Sempers ihre Richtung ver¬
dankt. So ist es, und es kann nicht anders sein. Deutscher Bildung schulden
auch die das Beste, welche es selbst uicht zugeben wollen.
Mit nächstem Hefte beginnt diese Zeitschrift das II. Quartal ihres
36 Jahrgangs, welches durch alle Vnchhandlnngen und Postan-
stalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro Quar¬
tal 9 Mark.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften, Kaffee¬
häuser und Kouditoreie« werden um gefällige Berücksichtigung derselben
freundlichst gebeten.
Leipzig, im März 1877. Die Verlagshandlung.