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]]> In der lievue ass äsux mouäss vom 1. Juni d. I. findet sich ein
Artikel von Ferd. Brunetiere, der in dem Ausspruche gipfelt: „daß es ebenso
lächerlich wie hassenswert!) sei, einen politischen Krieg mitten in voller Ci¬
vilisation mit aller Gewalt zu einem Rassenkrieg, zu einem neuen unaus¬
löschlichen Kampf umwandeln zu wollen." Wir sind gerne bereit, dem Herrn
Brunetiere ohne Rückhalt hierin beizupflichten, nur müssen wir ihn bitten,
diesen Vorwurf an die richtige Adresse, d. h. an seine eigenen Landsleute
zu richten.
Jener Artikel handelt über ein in Deutschland neu erschienenes Hand¬
buch der Geographie von A. Hummel. Herr Brünettere findet dasselbe in
Bezug auf Darstellung und Vielseitigkeit des Stoffes sehr belehrend, zweck¬
dienlich, ja in vieler Beziehung selbst nachahmungswürdig für Franzosen.
Zwei Dinge hat er jedoch daran auszusetzen. Zunächst ist der Deutschland
gewidmete Theil ein verhältnißmäßig viel zu großer, und zweitens wird dem
deutschen Volksthum zu sehr darin gehuldigt, während die Nachbarvölker,
besonders Frankreich, unterschätzt werden.
Was den ersten Punkt anlangt, so haben wir gerade einen Band eines
französischen Schulbuchs der Geographie*) vor uns. Derselbe enthält die Geo¬
graphie sämmtlicher europäischen Staaten mit Ausnahme Frankreichs, es muß
also wohl der Geographie Frankreichs, da wir doch nicht annehmen können,
daß dieselbe mit der von Afrika oder Asien zusammengeworfen sei, ein be¬
sonderer Band gewidmet sein. Herr Brunetiere kann daraus ersehen, daß es
auch in Frankreich Leute giebt, die der vernünftigen Ansicht sind, daß in
einem Handbuch oder Schulbuch der Geographie der vaterländischen Geo¬
graphie eine eingehendere Behandlung zu Theil werden muß.
Was den zweiten Punkt anlangt, so scheint Herr Brunetiere nicht zu
wissen, daß bislang ein großer Theil des deutschen Volkes, im grellsten Gegen¬
satz zum französischen, das Ausland mit bewundernden Blicken betrachtete
und dabei den Werth des Vaterländischen stark unterschätzte. Von diesem
Standpunkt aus wird aber auch wohl der Herr Brunetiere zugeben, daß es
verzeihlich erscheint, wenn man in Deutschland diesem Jndifferentismus durch
eine vielleicht zu sanguinische Schilderung deutscher Verhältnisse beizukommen
sucht, besonders wenn man von einer Selbstberäucherung, wie sie folgende
Stelle eines französischen Schulbuches enthält, noch himmelweit entfernt bleibt:
„In der alten Welt gab es ein Volk, welches Gott aus der Menge der
Nationen auserwählt hatte, damit es die ursprüngliche Ueberlieferung und die
bei Anfang aller Wesen den Menschen gegebenen Gesetze der Moral unversehrt
erhalten möchte, man kann sagen, daß in der regenerirten Welt Frankreichs
das neue auserwählte Volk ist. In seinem Schooße trägt es alles, was
nöthig ist, die Reiche zu erleuchten oder zu zerschmettern (6o1g.irer on
toudro^or)".
Dies steht wörtlich zu lesen in einer sowohl in Frankreich als auch in
Belgien vielfach wiederholten Auflage einer Iliswirs no Kranes v. M. Victor
Boreau, die, von der Geistlichkeit mächtig protegirt, in einer großen Anzahl
Schulen beider Länder eingeführt war und sehr wahrscheinlich noch in Ge¬
brauch ist.
Wenn deutsche Dichter ihr Vaterland über alles in der Welt setzen, so
theilen sie diese liebenswürdige patriotische Schwäche wohl mit vielen Kunst¬
genossen aller gebildeten und halbgebildeter Nationen. Ob die deutsche Be¬
völkerung in Ungarn wirklich ein wahrer Segen für das Land ist, wie Herr
Hummel behauptet, oder ob das Gegentheil der Fall ist, wie Herr Brunetiere
anzunehmen scheint, dafür lassen sich wenigstens ebenso viele Gründe für wie
wider anführen; einem Deutschen wird man daher aus der ersteren Annahme
niemals einen Vorwurf machen können. Daß „der Deutsche denkt und der
Franzose redet", kann doch vernünftiger Weise nur bedeuten, daß sie dies
mit Vorliebe thun. So stimmt es aber ganz genau zu dem, was aufgeklärte
Franzosen selbst ausgesprochen haben. So sagt Mad. de Staöl in ihrem
Buch über Deutschland, in dem Kapitel über die Conversation: „Die deutsche
Conversation ist ein Medium der Gedankenvermittelung, die französische da¬
gegen ein Instrument, auf dem man mit Vergnügen spielt." Die etwa
kniffliche Unterscheidung zwischen normal- und Nichtnormalsranzosen, welche
ersteren Herr Hummel allein auf Islv av Trance beschränkt wissen will, hätte
auch unserer Ansicht nach, weil gegenstandlos, besser unterbleiben können; daß
dieselbe aber den Rassenhaß zu nähren vermöchte, können wir unmöglich zu¬
geben, ebensowenig wie ein vielleicht übereiltes Wort Mommsen's dies ver¬
möchte.
Herr Brunetiere kommt bei Gelegenheit auch auf die Schilderung
der natürlichen Grenzen Deutschlands nach Daniel's Lehrbuch zu sprechen.
Wie viel Staub dieselbe in den letzten Jahren speciell in Frankreich
aufgewirbelt hat, wie viel Trugschlüsse, absichtliche und unabsichtliche,
daran geknüpft worden sind, läßt sich kaum sagen. Zunächst wollen
wir dazu bemerken, daß in den vielen Jahren vor dem deutsch-fran¬
zösischen Kriege, in denen das Daniel'sche Lehrbuch in den meisten
deutschen Schulen eingeführt war, es den Franzosen ebensowenig wie jetzt den
Oestreichern, Dänen und Russen, die nach Ansicht der Franzosen durch jene
deutsche Prätensionen auch bedroht sind, in den Sinn gekommen ist, jener
Stelle die jetzt so beliebte Deutung zu geben. Nichtsdestoweniger müssen
auch wir wünschen, daß der Verfasser bei einer erneuten Auflage seines Werkes
dieser Stelle eine solche Wendung giebt, daß jedes Mißverständniß zur Un¬
möglichkeit wird, nicht als ob wir es für denkbar hielten, die Herren Fran¬
zosen dadurch von unserer Friedensliebe und unserm Wunsche nach aufrichtiger
Aussöhnung zu überzeugen. Sie suchen doch nur nach Scheingründen und
nehmen sie, wo sie sie finden, um den von ihnen systematisch geschürten Rassen¬
haß zu beschönigen; es gilt vielmehr ihnen jedmöglichen Vorwand zu nehmen
und ihnen das Hassenswerthe eines von langer Hand vorbereiteten Rassen¬
krieges, den sie durch ihr Gebahren unvermeidlich heraufbeschwören werden,
allein zu überlassen.
Aufmerksame Beobachter und genaue Kenner des französischen Volkes, Deut¬
sche, welche sowohl vor als nach dem Kriege unter demselben geweilt haben und
noch weilen, und die aus einer gewissen Vorliebe für Land und Leute kein
Hehl machen, haben verschiedentlich ihre Stimme erhoben,*) um ihre deutschen
Landsleute auf die Symptome eines drohenden Völkerkrteges aufmerksam zu
zu machen, der, wenn auch voraussichtlich erst nach einer Reihe von Jahren,
aber dann ganz unvermeidlich und mit um so größerer Heftigkeit ausbrechen
wird. Wohl hat sich äußerlich manches geglättet, wohl mag der einzelne
Deutsche jetzt wieder unbehindert durch Frankreich reisen, ohne, wie noch vor
nicht allzulanger Zeit, auf Schritt und Tritt Insulten ausgesetzt zu sein: der
Franzose wird ihn vornehm übersehen, ihn vielleicht gar mit kalter Höflichkeit be¬
handeln; aber diese äußere Ruhe ist nur eine erzwungene; im Innern dieser in
ihrem Heiligsten, d. i. ihrer Eitelkeit, gekränkten Nation kocht und tobt es um so
mehr und nur ab und zu bricht der verhaltene Groll in unbewachten Mo¬
menten an einzelnen Punkten mit urwüchsiger Gewalt hervor, um ebenso
plötzlich wie auf ein Zauberwort hin zu verstummen. Wir kennen dieses
Zauberwort, es heißt Geduld, abwarten, bis der große Moment gekommen
ist. In diesem Gedanken ist die sonst so vielfach gespaltene Nation einig;
in diesem Gedanken trägt sie willig die großen Lasten, die ihr das Staats¬
wesen, die ihr der beschwerliche Heeresdienst auferlegt, in ihm hat sie
ihre Arbeit mit rastloser Thätigkeit und seltener Energie wieder aufgenommen,
in ihm findet sie einen Trost über die Unglücksfälle der Schreckensjahre, wie
man die Kriegsjahre von 70 und 71 zu nennen beliebt. Je weniger aber
aus Klugheitsrücksichten der Haß sich äußern darf, um so tiefer frißt er sich
ein, um so intensiver wird er, und nicht nur die unlautern Mächte der
vaticanischen Religion führen ihm immer neue Nahrung zu, denn das ist
anderswo auch nicht anders; nein auch die Wissenschaft, die doch berufen ist,
auf lichten Höhen zu wandeln, und die vor allem dazu angethan erscheint,
zwei gleich, wenn auch verschieden begabte Culturvölker, die Geschichte und
Abstammung zu Verwandten und Nachbarn gemacht hat, auszusöhnen, wird
von unwürdigen Jüngern in den Staub der tagespolitischen Vexationen
herabgezogen und muß ihre Waffen, die sonst nur zum Heil der Menschheit
gegen die finstern Mächte der Dummheit und Unwissenheit gewandt werden,
zur Herbeiführung eines brudermörderischer Kampfes zwischen zwei Nationen
mißbrauchen lassen, die sich in gleicher Weise um sie verdient gemacht haben.
Die Revue ach Ävux moväes, gewiß ein Blatt, dessen wissenschaftlicher
Charakter über allen Zweifel erhaben ist, hat sich dennoch bereit gefunden,
einem Artikel von Quatrefages, der mit ernster Miene der Welt erzählte,
daß die heutigen Preußen keine Deutschen, sondern Finnen seien, und vielen
andern ihre Spalten zu öffnen, die dazu angethan waren, den Gegensatz zwi¬
schen Deutschland und Frankreich und zwar ganz ihren frühern Intentionen ent¬
gegen zu schärfen.
Es wäre fast eine Beleidigung für die Revue, wenn wir hier gleich
hinterher die Sudelschrtften eines Tissot in irgend einer Beziehung zu ihr
erwähnen wollten, aber doch dürfen wir die Frage nicht unterdrücken: warum
hat das renommirte Blatt, dessen Aufgabe es vor allem gewesen wäre, auch
nicht ein Wort gefunden, um das französische Publicum über den gänzlichen
Unwerth jener Schriften aufzuklären? Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir
annehmen, daß es der Deutschenhaß gewesen ist, der ihr gegen besseres Wissen
Schweigen auferlegt hat.
Ja sagen wir es rund heraus, man darf sich eigentlich über nichts mehr
wundern, was in unserm Nachbarlande passirt, denn der Haß auf die Spitze
getrieben macht blind wie die Liebe und macht auch sonst vernünftige Mer-
schen zu allen Thorheiten fähig. Das Tollste aber, was auf wissenschaftlichem
Gebiet in Frankreich vorgekommen ist, hat ein sogenannter französischer Gelehrter,
ein Historiker von Fach, ein gewisser Herr Victor de Saint-Genis, der sich
als Correspondent des Ministeriums für historische Arbeiten als Laureat des
Instituts von Frankreich, als Officier des Saint Maurice- und des Saint
Lazare - Ordens von Italien u. f. w. einführt, in seinem neuesten Werk ge¬
leistet, welches folgenden für Franzosen äußerst verführerischen Titel führt:
„Der Erbfeind oder die germanischen Einfülle in Frankreich und das durch
Preußen in seinen Grenzen berichtigte Europa, mit drei Karten." Wenn wir
in einem früheren Artikel über die Ttssot'schen Schmähschriften*) die Ansicht
verfochten, daß es vor allem schnöde Gewinnsucht sein müsse, die diesen Herrn
zu seiner unsaubern Arbeit begeistert habe, so haben wir hinsichtlich des
Herrn de Saint-Genis nicht den geringsten Grund, an seinem echten, über¬
zeugungstreuen, untilgbaren, bis zum Wahnwitz gesteigerten Haß zu zweifeln,
denn nur ein solcher konnte ihn zu einer Geschichtsfälschung veranlassen, wie
sie frecher kaum erdacht, wie sie unverschämter und cousequenter kaum von
Jesuiten ins Werk gesetzt werden kann.
Herr de Saint-Genis will nämlich nichts Geringeres, als die falsche
Legende von dem französischen Ehrgeiz zerstören, er will beweisen, daß nicht
Frankreich der Erbfeind Deutschlands sei, sondern daß seit uralter Zeit das
Umgekehrte der Fall sei: daß Deutschland 28 Mal, und davon 27 Mal ohne
jede Berechtigung, plündernd und mordbrennend in Frankreich eingefallen
sei, die kleineren Einfälle gar nicht mitgezählt. In seiner Einleitung, die
äußerst characteristtsch für den Herrn Verfasser, für sein Werk und für das
heutige französische Publicum ist, macht er dem französischen Leser zunächst den
Vorwurf aus seiner spanischen Unbekümmertheit, aus seiner afrikanischen
Erstarrung. „Unsere Unglücksfälle", so ruft er in seiner bilderreichen Sprache
aus, „scheinen nur die sociale Epidermis äußerlich gestreift zu haben, sie haben
keine Wunde gegeben, sie haben die Rasse nicht aufgerüttelt. Aber habt
Acht! Bis jetzt haben wir nach den Ereignissen geurtheilt, es ist Zeit unsere
Meinung nach der Gerechtigkeit zu messen und nicht eher seine Schlüsse zu
ziehen, als bis man überlegt hat." (Nebenbei ein schönes Compliment für
seine Herren Compatrioten.) „Doch kann man das verlangen von einer Ge¬
sellschaft, die sich in Zersetzung befindet? Wenn man, in seiner Existenz
bedroht, nicht einmal des nächsten Tages gewiß ist, kann man sich dann um
das Studium (er meint hier zweifelsohne das historische) bekümmern?
Aber doch halte ich es für erlaubt, euch zuzurufen: Habt Acht! der Abgrund
ist vor euern Füßen. Ergreift dieses Tau, oder die Fluth schwemmt euch
hinweg. Drum fort mit dem Parteitreiben, denn ohne die Freundschaft
Rußlands würde uns jeden Augenblick eine neue Invasion treffen. Aber für
unsere zu leicht erschütterte Einbildungskraft (Herr de Saint-Genis beachtet
offenbar nicht, daß er auf der Seite vorher von afrikanischer Erstarrung
gesprochen hat) genügt es, die Geschichte zu enthüllen, aber nicht die, welche
erfunden ist, die Wahrheit zu quälen, sondern die echte Geschichte, losgelöst
von den Banden der Leidenschaft und der Parteilichkeit." Und dann heißt
es wörtlich weiter: „Nicht seit gestern sucht Deutschland Streit mit Frank¬
reich. Das Sprichwort hat nicht gelogen, seit zwei und einem halben Jahr¬
hundert hat Preußen unsere Erniedrigung vorbereitet. Die deutschen Ge¬
schichtsschreiber richten sich in ihren Büchern, in der Hoffnung, Europa auf eine
falsche Spur zu bringen, gegen den Erbfeind ihrer Nasse und klagen Frankreich
fortgesetzter, hartnäckiger, unversöhnlicher Angriffe an. Aber das Entgegengesetzte
ist die Wahrheit. Wozu dieser eifersüchtige Haß? Woher jene Scheinheiligkeit,
die anderen das Verbrechen vorwirft, was man selber plant?" (Es ist Herr
de Saint- Genis, der dies fragt.) „Ein Wort von Blaisse de Montluc
entschleiert uns dies Geheimniß. Bet der Belagerung des Schlosses de Lans
in Piemont, im Jahre 1352, zögerte man einen Durchbruch zu erzwingen.
Nun, rief Montluc aus, muß man soviel Aufhebens von diesen Deutschen
machen? Ich wette, daß von dreitausend fünfzehnhundert keine Hosen an¬
haben, und daß die meisten unserer Soldaten sammtne und seidene haben.
So laßt sie kommen, wir werden sie ausklopfen." Herr de Saint-Genis be-
merkt dazu: „Ja, weil sie keine Hosen haben, wollen sie uns die unsern
nehmen." Das ist die wahre unparteiische Geschichtsschreibung dieses gelehrten
Herrn. Und dann, nachdem er schlechtweg behauptet, die heutigen Deutschen
wären noch dieselben Barbaren wie zu Zeiten Cäsar's, heißt es wörtlich:
„Durchblättern wir unsere Annalen, so werden wir auf jeder Seite die Spuren
germanischer Plünderungs- und Mordbrennerzüge finden. Es ist gut, diese
Dinge zu wissen, damit endlich die Legende von dem französischen Ehrgeiz ver¬
schwinde und damit man nicht das Schattenbild des uns belauernden Ulanen
am Horizonte aus dem Auge verliere." „Indem ich dieses Buch schreibe",
heißt es gleich daraus weiter, „ist mein Zweck gewesen, zu zeigen, daß Frank¬
reich nicht allein ein Interesse daran hat, in der Geschichte den Gang und
den Fortschritt des deutschen Ehrgeizes, d. h. der preußischen Herrschaft zu
studiren. Dänemark, Schweden, Norwegen, Holland, Belgien, die Schweiz,
sind wie wir bedroht. Oestreich-Ungarn, Rußland selbst, finden keine Gnade
vor den Geographen Berlins. Diese Stelle ist bedeutsam, da sie nur etwas
verblümt denselben Gedanken enthält, dem Herr Tissot in seinem Buch „Leg
?rü3siMS en ^ItewaMs" folgende Worte leiht: „Er (der Preuße) hat zu
allen Zeiten genommen und wird noch viel nehmen, bis endlich Europa ihm
seine ganze Gendarmerie auf die Fersen hetzt." Wahrlich par vodilo trg,t.rum!
Bei Beiden die gleiche Gemeinheit der Gesinnung, bei Beiden dieselbe naive
Beschränktheit, anzunehmen, daß man durch solche Redensarten andere Leute,
als ungebildete und halbgebildete Franzosen überzeugen könne; nur bei dem
einen eine größere Plumpheit und Unverfrorenheit des Ausdrucks. Herr
de Saint-Genis schließt dann seine Vorrede, die er, nebenbei bemerkt, nur an
den französischen Leser richtet, wie folgt: „Ich will euch beweisen, daß die mit
Ueberlegung gefälschte Geschichte in den Händen der Preußen eine gefährliche
Heuchelet geworden ist. Die Deutschen haben 28 Mal Frankreich mit Krieg
überzogen, und sie klagen unsern Ehrgeiz an! Ich werde in dieser mühseligen
Arbeit jede Lebhaftigkeit der Sprache vermeiden. Ich werde nicht Franzosen,
sondern Fremden die harten Wahrheiten entlehnen, welche man von den
Deutschen ausgesagt hat. Ich suche keineswegs Preußen verächtlich, sondern
Frankreich beliebt zu machen; der Geist der Rache ist ein unfruchtbares Ge¬
fühl; man muß das Unrecht vermeiden, was man seinen Feinden vorwirft.
Gerade einem kalten und geduldigen Haß gegenüber ziemt es sich mit Höf¬
lichkeit zu brüsten."
Wenn man sich den Schluß dieser Vorrede genauer ansieht, besonders
auch mit Rücksicht auf das, was vorhergeht, so wird man uns gerne zugeben,
daß wir vorher nicht zu viel behaupteten, als wir sagten, daß dieses Buch
das Tollste enthält, was seit langer Zeit jenseits der Vogesen gedruckt ist.
Nach den gemeinsten Ausfällen gegen die räuberischen und mordbrennerischen
barbarischen Deutschen, sagt er, er werde jede Lebhaftigkeit der Sprache ver¬
meiden, und in demselben Athemzug, in welchem er die von ihm erst er¬
fundene Behauptung uns an den Kopf schleudert, daß die Deutschen die
Geschichte absichtlich fälschen und sich daraus eine für Europa gefährliche
Waffe machen, erklärt er nur von Fremden seine sogenannten Wahrheit ent¬
lehnen zu wollen. Wenn man dabei bedenkt, daß der Verfasser die Dreistig¬
keit besessen hat, dieser Vorrede das tiefbedeutungsvolle Wort des Tacitus
„sine irg. se stuäio" vorzusetzen, so kann es zweifelhaft erscheinen, ob für
Frankreich der Umstand beschämender ist, daß es einen Menschen wie Victor
de Saint-Genis zu den Vertretern französischer Wissenschaft gezählt hat, oder aber
der, daß sich bis dato noch kein wirklicher französischer Gelehrter bereit gefunden
hat, diesen Herrn zur Rechenschaft zu ziehen, und ihn in seiner Nichtigkeit
und Erbärmlichkeit vor aller Welt bloszustellen. Doch sehen wir zu, wie
der ehrenwerthe Herr Verfasser sich mit seiner, wie er selbst einräumt, müh
seligen Arbeit abfindet.
„Die Erzählung, welche folgt", so hebt Herr de Saint-Genis nach
einigen gemeinen Ausfällen, leeren Wiederholungen und nichtssagenden Phrasen
im ersten Kapitel an, „hat zum Zweck, jedem, der es vergessen hat, ins Ge-
dächtniß zurückzurufen, was Frankreich von Deutschland getrennt hat, und
was uns (die Franzosen) den andern Völkern nähert; sodann kurz die wenig
bekannte Geschichte der östlichen Grenze zu erzählen und dann die alten un¬
veräußerlichen Rechte der Franzosen auf die natürlichen Grenzen des alten
Galliens ins rechte Licht zu setzen. Nachdem man gesehen hat, wie unsere
Väter ihres Besitzes entäußert wurden in einer sehr zweideutigen Hoffnung
auf einen europäischen Frieden, wird man weniger erstaunt sein über die
Rückforderungen, welche Frankreich nie aufgehört hat, auf ein Territorium
zu erheben, welches ihm gehört, und über die Anstrengungen, welche unsere
Nachbarn in verschwenderischer Weise gemacht haben, um sich derselben zu
bemächtigen, indem sie glaubten, uns so in Vormundschaft zu halten."
Wir wissen nicht, was Herr de Saint-Genis mit dem Ausdruck „ins
richtige Licht stellen" (mettre en lumiöro) hat sagen wollen. Wer aber an¬
nehmen wollte, dies bedeute so viel als klar machen, beweisen, würde sich
sehr täuschen. Der Herr Verfasser denkt gar nicht daran. Er stellt diese
unerhörte Behauptung auf, ohne einen ernstlichen Versuch zu machen, sie zu
begründen, und doch müßte er sich darüber klar sein, daß diese Beweisführung
der eigentliche Angelpunkt seiner „penibeln Arbeit" war, denn wäre ihm die¬
selbe gelungen, so müßten wir Deutschen reuevoll eingestehen, daß wir mit
Ausnahme etwa der kurzen Spanne von 1794—1814 den Franzosen schänd¬
licher Weise das Ihrige vorenthalten haben und dann möchte es mit den 28
Einfällen in Frankreich seine Richtigkeit haben. Alles, was er zur Begründ¬
ung seiner unveräußerlichen Forderungen anführt, ist eben nur Folgendes.
„Vor zehn und einem halben Jahrhundert kamen scharfsinnige Politiker
(sie!) auf den Gedanken, den Rhein (er meint hier die Rheingrenze, die
übrigens in dem damaligen Karolingischen Reiche gar nicht existirte) durch
eine solide Barriere aus kleinen unabhängigen Staaten gebildet" (d. i. histo¬
rischer Nonsens, oder wie viele waren es und wie heißen sie?) „zu ersetzen,
welche in ihrer Neutralität ihre Stärke finden sollte und gewissermaßen
solidarisch für einander hafteten. Die Bischöfe, welche im Jahre 843 den
Vertrag von Verdun aufsetzten, wollten die Gallier von den Deutschen durch
eine politische Combination trennen. Jene neutrale Zone war durch die
Diplomaten des 9. Jahrhunderts dem gallischen Territorium entlehnt, sie war
<zuM germanisirt" (also doch!) „in dem Maße, wie sich die französische Ein¬
heit" (wenn es hier Ehrgeiz hieße, würde der Satz einen Sinn bekommen)
„stärkte, fühlte man die Nothwendigkeit, dem alten Gallier" (aber wo war
denn dies und wo die alten Gallier?) „seine natürliche Alpen- und Rhein¬
grenze zurückzugeben."
Man sieht also: eine ernsthafte Begründung seiner Behauptung hat er
gar nicht versucht und zwar deshalb nicht, weil er sich wohl bewußt ist, daß
dieselbe auf zwei Lügen basirt, und weil er sehr wohl weiß, daß die Masse des
französischen Publicums in historischen Dingen nicht so viel Logik besitzt, diesen
Mangel der Darstellung herauszufühlen; daß aber seine besser unterrichteten
Landsleute ihm aus Haß gegen Deutschland durch die Finger sehen würden,
darüber konnte er keinen Zweifel hegen.
Die von Herrn de Saint-Genis hier supponirte Grenze zwischen Gallien
und Germanien ist nichts anders als die von Cäsar willkürlich festgesetzte
Rheinlinie, die die Deutschen jedoch weder vor noch nach ihm respectirt
haben*), da ein Strom überhaupt keine natürliche Grenze zwischen zwei
Völkern bilden kann. Aber selbst die Unmöglichkeit angenommen, der Rhein
habe im Alterthum die beiden Völker streng geschieden, so fällt dem Herrn
de Saint-Genis immer noch die Aufgabe zu, den Beweis zu liefern, daß die
heutigen Franzosen als unverfälschte Nachkommen der alten Gallier ein un¬
veräußerliches Recht auf den früheren territorialen Besitz derselben haben.
Als Cäsar nach Gallien kam, fand er daselbst eine große Mannigfaltigkeit von
unter sich uneinigen Volksstämmen vor, von denen nur ein Theil Gallier
waren. Was von dieser Bevölkerung, unter der sich auch germanische oder ger¬
manisch gemischte Stämme vorfanden, nicht über den Rhein zurückging, wurde
unterworfen und mit der Zeit so sehr seiner Nationalität entkleidet, daß
von seiner Sprache sich nur geringe Reste in der heutigen Landessprache vor¬
finden. Als dann später die Germanen in geschlossenen Massen in das
römische Gallien einfielen, und die Legionen daraus vertrieben, fanden sie
keine Gallier vor, sondern römische Provinzialen, die von der allgemeinen
Fäulniß des sinkenden Römerreichs angesteckt, sich ohne Schwertstreich den
siegreichen Franken ergaben, und deren Land später unter den Karolingern einen
Theil des großen germanischen Weltreichs ausmachte. Der Bertrag von
Verdun theilte dasselbe bekanntermaßen in Ostfravken (Deutschland), West¬
franken (Frankreich) und Lothringen unter die drei Enkel Karl's des Großen.
Hiermit erst beginnt die französische Geschichte im eigentlichen Sinne,
denn unter den Karolingern ist die Geschichte dieses Landes untrennbar mit
der deutschen Geschichte verbunden, und was vorhergeht, ist entweder Special-
geschichte der germanischen Stämme in den eroberten Provinzen des römi¬
schen Galliens oder aber Geschichte der unterworfenen römischen Gallier.
Was also dem Bertrage von Verdun vorhergeht, müßten die französischen
Historiker, wenn anders sie logisch verfahren wollen, als Vorgeschichte ihres
Landes behandeln. Aus einer Vorgeschichte aber unveräußerliche Rechte her¬
leiten zu wollen, ist ebenso unverschämt als absurd**).
Was aber nach dieser Richtung hin schon alles in Frankreich dagewesen ist,
das zeigt wohl am besten das naiv-unverschämte Decret des ersten Napoleon
von Schönbrunn, erlassen im Jahre 1809, worin er sich auf Karl den Großen
als den Kaiser der Franzen, seinen erlauchten Vorgänger beruft. Seine
französischen Unterthanen fanden dies ganz in der Ordnung, denn in ihren
Köpfen waren noch die Anschauungen der großen Chroniken lebendig, nach
denen die Gallier und Franken von trojanischen Flüchtlingen abstammten,
und die Franken, die man auch Franzosen nennt, Deutschland erobert und
die Römer geschlagen haben. Wenn auch seitdem manches geschehen ist, um
diesen historischen höhern Blödsinn aus den Köpfen der Massen des französischen
Volkes zu verbannen, so scheint es doch, als wenn sie ab und zu gerne wieder
in denselben zurückfallen, weil er ihrer Nationaleitelkeit schmeichelt.
Doch kehren wir zu Herrn de Saint-Genis zurück. Statt sich mit einer
wissenschaftlichen Begründung seiner Thesen abzumühen, ergeht sich der
ehrenwerthe Herr in endlosen Variationen des schon Mitgetheilten und sucht
das Langweilige derselben durch gemeine Jnvectiven gegen Deutschland ver¬
gessen zu machen. Die folgende ist beispielsweise ganz im Stile des Herrn
Tissot, dessen traurige Berühmtheit ihm, wie es scheint, den Schlaf geraubt
hat. „Aber was man nicht genug ins Licht stellen kann, ist der unverträg¬
liche herrschsüchtige Charakter jener nordischen Soldaten, deren vollendetster
Typus die Preußen von 1870 sind, ist der ungestillte Hunger, der sie aus
ihren sandigen Ebenen und aus ihren kalten Wäldern in unsere Weinberge,
in unsere Städte treibt, ist die Gefahr, unsere edelmüthige Unvorsichtigkeit in
Contact zu lassen mit diesen geduldigen Naturtrieben (instincts Mtisnts),
mit diesen von langer Hand geplanten Ueberraschungen."
Dann kommt er mit einem etwas genialen Gedankensprünge auf den
Mangel der Erziehung in Frankreich zu sprechen, und meint, daß die Publi-
cisten das nachholen müßten, was der Schulmeister versäumt habe, besonders
in Bezug auf Erweckung von Patriotismus. Wenn dies wirklich durch Selbstver¬
herrlichung möglich ist, wie er behauptet, daß es in Deutschland vor sich ginge, dann
steht Frankreich, wie wir das schon an dem einen Beispiel glauben sattsam nach¬
gewiesen zu haben, keineswegs hinter Deutschland zurück. Er wiederholt dann
die schon oft gemachte Behauptung, daß die deutschen Gelehrten absichtlich die
Geschichte fälschen, indem er eine Notiz daran knüpft, die dieselbe erhärten soll.
Wir theilen diese wörtlich mit, weil sie ein grelles Schlaglicht auf die er¬
staunliche Ignoranz dieses französischen preisgekrönten Historikers wirft. Er will
nämlich einem deutschen Ethnographen widerlegen, der England eine deutsche
(d. h. wohl eine germanische) Insel genannt hat, und thut dies folgender¬
maßen: „Seit beinahe 40 Jahren haben die Deutschen/ die erfahren darin
sind, den Samen der Zwietracht unter Völker auszustreuen, deren natürliche
Verwandtschaft und herzliches Einverständniß ihnen lästig ist, die britische
Nation überredet, daß sie aus Ungko-Sachsen gebildet ist, während sie aus
Angeln besteht, die aus jenen dänischen Provinzen gekommen sind, die heute
an Preußen ausgeliefert sind, aus Celten und Neustro - Normannen. Macau-
lay, Carlisle, Tennyson haben entgegenkommend die geschichtlichen Fälschun¬
gen accreditirt, die die Ungko-Sachsen als erbliche Gegner der lateinischen
Rasse hinstellen, aus der sie doch Dank den Siegern von Hastings zum guten
Theil abstammen." Die Sieger von Hastings sind Normannen und diese
also nach Ausspruch dieses gelehrten Herrn lateinischen Ursprungs. Wir
meinen aber, daß, wer sich so wenig in der Geschichte seines eignen Landes
bewandert zeigt, seine Oracelsprüche über die Geschichte anderer Völker
von vorneherein verdächtig macht, und fast fürchten wir, daß man es uns
verdenken würde, wenn wir dieselben noch weiterhin einer ernsthaften Wider¬
legung würdigten. Von dieser Erwägung geleitet, werden wir uns fürder-
hin lediglich darauf beschränken, eine kleine Blumenlese aus seinen kühnsten
Aussprüchen zu veranstalten, die wir auch mit einigen Randglossen begleiten
werden und dann den von ihm ersonnenen Plan mittheilen, nach welchem
auf einem zukünftigen europäischen Congresse die Karte von Europa zu repe-
tiren ist, um endlich die Freundschaft zwischen Deutschen und Galliern und
damit dann auch den Weltfrieden herzustellen.
Mit welcher Miene mag wohl der ehrenwerthe Herr Verfasser folgende
Worte niedergeschrieben haben? „Zu welcher Zeit haben wir den Boden
Deutschlands mit Krieg überzogen, wofern wir dazu nicht durch unsere Ver¬
theidigung gezwungen waren? Und, wenn wir auf diese Seite des Rheines,
auf französischen Boden zurückgekommen sind, waren wir beladen mit Säcken
voll Gold und Edelsteinen wie die Reiter Johann Casimir's, zogen wir hinter
unsern Kanonen schwere Lastwagen her wie die Kriegsknechte Blücher's oder
die Pommern Werber's. Es wäre lehrreich den materiellen Vortheil zu be¬
rechnen, den die Deutschen aus diesen 28 Invasionen gezogen haben. Vom
16. Jahrhundert an wäre dies möglich, aber man würde diese Werthe für
excessiv halten, und es ist besser, daß man nicht weiß, welchen Aderlässen
die französischen Ersparnisse genügen können." Angesichts solcher Worte
könnte man darüber in Zweifel sein, ob die Ignoranz dieses ehrenwerthen
Historikers größer ist als seine Frechheit; wenn man aber die gleich daraus
folgenden Expectorationen liest, wird es einem scheinen, als ob sich beide
Tugenden bei ihm die Stange hielten: „Zu wiederholten Malen, in den
Jahren 843, 1610, 1632, 1704. 1812 und 1831 versuchten Politiker mit
vorschauendem Blick die beiden Ufer des Rheins in eine Zone neutraler Staa¬
ten umzuwandeln, die dazu bestimmt waren, das arbeitsame, productive, in¬
telligente Frankreich gegen die wüthenden Angriffe der Bettler (bssoigneux)
des Harzes oder die Hungerleider (gMinüs) Pommerns zu beschützen. Sie
scheiterten aber an dem ererbten Haß, den gewisse Deutsche gegen alles hegen,
was reicher und glücklicher ist als sie selbst."
Nachdem er sodann durch eine Stelle eines Schulprogramms des Magde¬
burger Gymnasiums aus dem Jahre 1856, welches die Deutschen in etwas
lebhafter Sprache daran erinnert, daß die Welschen noch im Besitz des Elsaß
sind, den Beweis zu führen glaubt, daß der deutsche Unterricht nicht nur
Sorge dafür trägt, die Jugend für den Kampf des Lebens sondern auch für
den historischen Kampf der Nationen und Rassen tauglich zu machen,
versteigt er sich zu dem Ausspruch: „Und so sind es die Untversitcitsange-
hörigen, die Paris bombardirt haben". Die Kenntniß dieser Thatsache, meint
er, „kann man nicht genug verbreiten." Und dann, einem Karl Moor nicht
unähnlich, ruft er aus: „Drum fort mit den Utopien eines menschenfreund¬
lichen Ideals. Opfern wir niemals das große Bild des Vaterlandes jenem
hohlen Traum einer menschlichen Solidarität!" Es folgt dann ein neuer
ebenso gemeiner wir alberner Ausfall gegen Preußen: „Die Preußen haben
keine Nationalist, diese ebenso große (Ig-rge) wie richtige Idee. Ilbi prg.eäa,
ibi Meria, sagte Pomponius Mela von ihnen. Sie betrachten als ihr Vater¬
land alle Länder, wo sie ihre Eroberungssucht stillen können." Herr de Saint-
Genis behauptet sodann, daß er xar ÄiseMion übersetze, und daß die Sitten
der Preußen dieselben geblieben seien. Der ehrenwerthe Herr erinnerte sich
hier wohl seines früher gegebenen Versprechens, seine harten Wahrheiten über
die Deutschen nur Fremden entlehnen zu wollen, und, um diesem doch in et¬
was nachzukommen, reitet er den unglückseligen Pomponius Mela, jenen
Geographen zweifelhafter Güte aus der Zeit des Kaisers Claudius, vor.
Aber seien wir gerecht, auch Tacitus hat er excerptrt. natürlich aber nur
solche Stellen ausgewählt, die ihm behagen, und die, aus dem Gesammtbilde
herausgerissen, eine ungünstige Deutung für Deutschland zulassen. Ein
solches Verfahren von Seiten eines Historikers setzt doch nothwendiger Weise
ein ebenso unwissendes wie oberflächliches Publicum voraus. Einmal zieht
er sogar Dante an, um ihm ein Verdammungsurtheil gegen die Deutschen
unterzuschieben. Er vollbringt dies folgendermaßen: „Man darf sich nicht
wundern", meint er, „daß die Menschen von jenseit des Rheines niemals
die Hoffnung auf Rache aufgegeben haben; sie haben den Italienern niemals
die Siege des Marius und des Cäsar verziehen." (Herr de Saint-Genis
weiß offenbar nichts von dem Unterschied, den man zwischen italisch und
italienisch macht. Italiener gab es aber zu Zeiten des Marius und des
Cäsar noch eben so wenig, wie es Franzosen gab.) „Nachdem sie unzählige
Male ihnen durch erheuchelte Freundschaft zu schmeicheln gewußt, haben sie
endlich die Maske abgeworfen, sobald sie ungestraft ihre Pläne eingestehen
konnten. Die feierliche Ironie der Einweihung des Hermannsdenkmals gleich
nach dem Kriege von 1870 ist der Beweis dazu. Die Italiener haben end¬
lich ein Einsehen gehabt. Um auf geistreiche Weise die dem Varus angethane
Schmach zu rächen, sind sie auf den Gedanken gekommen, in Legnano ein
Denkmal zum Andenken des berühmten Tages vom 29. Mai 1176 zu errich¬
ten, an welchem Kaiser Friedrich Barbarossa, von den vereinigten Lombarden
geschlagen, 20,000 Deutsche verlor und bei seiner Flucht seinen Helm, seine
Fahnen und seinen Hochmuth zurückließ. Unsere Freunde jenseits der Berge
sind reich an solchen Erinnerungen; es hinge nur von ihnen ab, für jeden
Tag des Jahres eine Niederlage ihres traditionellen Feindes aufzuzählen, den
Dante mit dieser gewaltigen Apostrophe brandmarkte:
l^ol, walaclstto Iiixo:
Ousuwü, Ssutro es von tus rabbi»."
Die Stelle findet sich im 7. Gesang des Inferno und hat selbstverständlich
keinen Bezug auf Deutschland. Virgil nämlich redet mit diesen Worten
Pluto an. Man fragt sich hier wie an so manchen andern Stellen dieses
merkwürdigen Buches: Liegt hier eine Fälschung aus Bosheit vor, oder ist
es ein durch Unwissenheit verursachter Irrthum und ist letzteres der Fall,
geht die Unwissenheit dieses preisgekrönten Historikers so weit, daß er nicht
einmal weiß, daß Dante ein eifriger Ghibelline war, der das Erscheinen des
deutschen Kaisers Heinrich VII. auf dem Boden Italiens durch eine lateinische
Schrift über die Monarchie, von der er eine endliche Beilegung der italieni¬
schen Wirren erhoffte und durch Lieder feierte, die bald von einem Ende Ita¬
liens bis zum andern wiederhallten?
Die schon vorher besprochene Stelle aus Daniel giebt auch unserm Ver¬
sasser Gelegenheit ganz Europa gegen Preußen unter die Waffen zu rufen.
„Oestreich und Rußland", sagt er, „nehmen diese Windbeuteleien der preußi¬
schen Schulmeister noch nicht ernsthaft, aber der Same, den man in das Hirn
der jungen Deutschen wirft, gährt und geht auf; noch eine kurze Spanne
Zeit, und wenn dann plötzlich die Kanonen eines zweiten Sadowa oder
eines anderen Sedan ertönen, werden wir Soldaten zu bekämpfen haben,
die entflammt sind von dem Stolze des Sieges und von der Ueberzeugung,
daß sie, indem sie Oestreich, Rußland oder Frankreich verheeren, sich nur
des alten Erbes ihrer Väter bemächtigen, das ehrgeizige Nachbarn ihnen ge¬
raubt haben, Rußland, welches so viel für die französische Einheit gethan
hat in den Jahren 1815, 1818. 1871. 187S und dem Frankreich auf das
Tiefste txi-okvnäämt'my erkenntlich bleibt" (viao: Lebastoxol) „Nußland allein
kann die Gefahr beschwören. England hat nicht zu seiner Ehre" (hier merkt
man eine Verstimmung heraus, wohl wegen des Ankaufs der Suezeanal-
Actien) „und sehr zur Unzeit sich nicht mehr um die europäischen Angelegen¬
heiten gekümmert. Aber noch giebt es drei tüchtige Nationen, mit denen uns
die engsten Bande der Sympathie und der Dankbarkeit verknüpfen: Schweden
Portugal und Italien, und die stets mit uns in dieser friedlichen Coalition
sein werden." Mein sieht, er buhlt nach allen Seiten hin. — Folgende Stelle
ist auch der Form wegen interessant, da diese im grellen Gegensatze zum In¬
halt steht. Er schlägt hier nämlich wieder einen Ton an, als ob er die
ganze Weisheit der Bramanen der Welt zu verkünden hätte und fördert doch
nichts als blühenden Blödsinn zu Tage: ,,Was man vor Europa immer
wiederholen muß, und was wir selber lernen müssen, wir, die wir es zu sehr
vergessen haben, ist Folgendes: Seit den Anfängen der Geschichte hat der
Rhein zwei Rassen geschieden, die sich nie haben vermischen oder vereinigen
können." (Aber wo bleiben dann seine eignen Compatrioten, die Herren
Franzosen, unsere liebenswürdigen Vettern, das augenscheinliche Product
dieser Mischung?) „Die Nothwendigkeit, seine Einheit zu vertheidigen, hat
Frankreich immer aus die Alpen und auf den Rhein geworfen und wird es
stets darauf werfen." (Ein naives Geständniß französischer Eroberungssucht.)
„Das Werk des alten französischen Königsthums ist gewesen, die alte gallische
Einheit wieder herzustellen, die durch die Invasion der Barbaren gebrochen
war, es ist die nationale Pflicht, der jede unserer Dynastien sich hat weihen
müssen. Nach dem herkömmlichen Königsthum hat selbst das Kaiserreich,
aus einem neuen öffentlichen Recht hervorgegangen, diesen Pack mit der Ge¬
schichte aufrecht erhalten müssen. Was auch heute die inneren Geschicke
Frankreichs und die möglichen Umwandelungen seiner Regierung sein mögen,
eine Nothwendigkeit ist da, der sie sich nicht wird entziehen können, nämlich
diejenige, die Mittel zu ergreifen, um zu leben und in Europa mitzuzählen.
Zerstückelt, besiegt, in seiner Würde und in seiner Geschichte verletzt, wird
Frankreich so lange eine blutende Wunde in der Seite tragen, bis es die
Provinzen zurückerlangt hat, die zu Zeiten Cäsar's und Tacitus' ihr als
Barriere gegen die ausgehungerten Horden der teutonischen Wälder dienten,
jene Provinzen, welche" — man höre! — „die erste Coalition von 843 uns
verlieren ließ, und welche Ludwig XIV. und Napoleon I. für Frankreich zu¬
rückerobert hatten." Daß die bornirte Schamlosigkeit des Herrn de Saint-
Genis doch auch ihr Gutes hat, sieht man recht deutlich an dieser Stelle;
so unumwunden, mit solcher edlen Dreistigkeit hatte man sich seit dem
Kriege jenseits.der Seine über die unverrückbaren Ziele der französischen Erobe¬
rungssucht nicht mehr vernehmen lassen.
Auch ein salbungsvoll pfäffischer Ton steht dem ehrenwerthen Herrn
gut an, wie man aus folgender Stelle ersieht: „Aber die Stunde jener
Wiederstattung ist in den Händen der Vorsehung. Unsere menschlichen
Vorhersehungen können, besonders in einer Epoche, wo die unerwarteten
Niederlagen so plötzlich sind, sich nicht ohne Anmaßung bis auf jene Ver¬
änderungen ausdehnen, die die vollständige Wiederherstellung des europäischen
Gleichgewichts einschließen würden, welches zum ersten Mal 1815 und ein
zweites Mal 1866 umgestürzt ist." Der Sturz der Napoleonischen Zwingherr¬
schaft, die Zurücknahme seines Länderraubes ist für den ehrenwerthen Herrn ein
Umsturz des europäischen Gleichgewichts. Herr Victor, so wollen wir ihn der
Kürze wegen nennen, hat es offenbar vergessen, daß er eben noch ganz Eu¬
ropa aufgerufen hat, den Worten seiner Weisheit zu lauschen, dasselbe Eu¬
ropa welches sich für solidarisch erklärte, diesen korsischen Kronenräuber und
mit ihm das friedliebende, nur augenblicklich von Blutdurst heuchelte Frank¬
reich, oder sollen wir sagen Gallien, wir thun dem Herrn Victor gern diesen
Gefallen, zur Raison zu bringen.
Ehe wir nun auf den weltbeglückenden Plan dieses edelmüthigen Philan¬
thropen eingehen,^müssen wir noch erzählen, wie er dazu gekommen ist, gerade
jetzt, d. h. vor einigen Monaten damit ans Tageslicht zu treten. „Der
Wunsch nach Frieden", so erzählt er uns in seiner leutseligen und dabei
geistreichen Weise, „ist allgemein in Europa, und dennoch bedroht der Krieg
uns fortwährend. Jeder weiß es, jeder fühlt es, jeder denkt es. Preußen
kann nicht länger das zu schwere Gewicht des Steges auf seinen Schultern
tragen", (Herr Victor hat ganz recht, so was vermögen nur französische
Schultern) „es fürchtet, daß seine Beute ihm entwischt, daß seine deutschen
Annexionen sich seiner Dictatur entziehen, daß der Katholicismus Baierns,
Sachsens" (Kovuz? soit, gui mal xeuse! dem gelehrten Herrn schwebte
sehr wahrscheinlich der lange gültig gewesene Rechtsgrundsatz vor: en^us r<z-
8lo, kjus relisio; und da er nun sehr wohl wußte, daß das sächsische Königs.
Haus katholisch ist, so lag die Annahme zu nahe, daß auch das Land es sei;
daß es sich nun zufällig anders- verhallt, ist doch wahrhaftig nicht seine
Schuld; auch verschlägt es dabei wenig, daß Sachsen für die Wiege der
deutschen Reformation gilt) „und des linken Rheinufers der Verfolgung
überdrüssig werden, daß England müde wird mit anzusehen, wie Preußen die
Hand nach Belgien und Holland ausreckt" (vgl. den belgischen Raubplan
Benedetti's), „daß Oestreich sich in dem Blute von Sadowa wie erstickt fühlt
und daß die Skandinavischen Staaten wegen der heroischen Schmach Schles¬
wigs" losbrechen. (Es giebt Leute, die am hellen Tage überall Gespenster
sehen. Was kann Herr Victor dafür, wenn er zu dieser mehr bedauerns¬
werten Klasse gehört?) „Preußen waffnet ohne Ermüdung, es starrt von
Eisen und Stahl, es erschöpft unsere Milliarden und wenn ihm nichts mehr
als sein Credit übrig bleibt. wird es einhalten müssen; entweder entwaffnen
oder einen Einfall machen. Das ist der Krieg auf kurze Sicht. Der nagende
Wurm des Deficits tödtet Preußen, und in seinen Selbstmord möchte es
Europa mit hineinreißen, das auf Preußen eifersüchtig ist und es fürchtet.
Warum nicht vor dem Kriege versuchen, was doch das unausbleibliche Re¬
sultat des Krieges sein würde?" Bei aller Hochachtung, die wir schon für
den staatsmännischen Blick des gelehrten Historikers bekundet haben, können
wir doch nicht umhin, unsere etwas entgegenstehende Meinung über diesen
Punkt dahin zu präeisiren, daß, falls dieses Resultat, so wie es ihm vor¬
schwebt, wirklich durch einen Krieg unausbleiblich wäre, seine Herren Com-
patrioten mit uns keine Worte mehr tauschen, sondern den Krieg ganz wie
im Jahre 70 vom Zaune brechen würden. „Seit Wochen", erzählt er sodann,
wird es überall bemerkt, daß Symptome einer fühlbaren Annäherung zwischen
Frankreich und Deutschland vorhanden seien. Wenn die bis jetzt so rauhe
hochmüthige Politik Bismarck's Frankreich gegenüber sich in einem friedlichen
Sinne modificirt hat, muß man dann nicht annehmen, daß das Geheimniß
dieses brüsten Wechsels die Nothwendigkeit ist? Um sich frei bewegen zu
können gegenüber den Verwickelungen, die Europa möglicherweise bald treffen
können, muß Preußen entweder Frankreich vernichten oder es sich zum Freunde
machen, es giebt kein Mittelding zwischen diesen zwei Alternativen", (die
neuesten Ereignisse haben freilich dargethan, daß es doch noch so ein Mittel¬
ding giebt, daß Preußen auch ohne die „Freundschaft" Frankreichs und ohne
es zu vernichten sich frei bewegen kann, aber wer irrt sich nicht einmal?)
Bismarck, meint Victor sodann, habe voll von Illusionen in seine Macht,
zuerst den Gedanken gehabt, in Frankreich von neuem einzufallen und die
alten Grenzen, wie sie den kleinen Preußen jetzt in der Schule gelehrt werden,
herzustellen. Aber zweimal hat der Scharfblick und die Billigkett des Kaisers
von Rußland Frankreich vor diesem Attentat und Europa vor einer schreck¬
lichen Erschütterung bewahrt. Herr Bismarck, führt er dann des längeren
aus, habe hieran und an dem heroischen Widerstand der deutschen Katholiken
begriffen, daß die Zeit der Gewaltthaten vorüber sei. Er ist urplötzlich fried¬
liebend geworden. Es giebt keine Art Avancen, die seine Agenten den Fran¬
zosen nicht machen: in der Presse, in den Salons, auf internationalen Ver¬
sammlungen, auf der Blumenausstellung in Köln.
Es könnte nun Leute geben, die besonders in Anbetracht dessen, daß es
unser leutseliger Kronprinz gewesen, der auf der Kölner Ausstellung den
französischen Ausstellern einige anerkennende Worte gesagt hat, diese Insinu¬
ationen des Herrn Victor für grundgemein erklärten; gegen diese müßten
wir jedoch den ehrenwerthen Herrn entschieden in Schutz nehmen. Denn
ganz augenscheinlich hat er nichts anderes gewollt, als den Deutschen aä oculos
demonstriren, daß sie Unrecht gehabt, als sie geglaubt haben, einen groben
Klotz mit Glacehandschuhen streicheln zu müssen und daß es immer wahr
bleibt, daß auf einen groben Klotz unter allen Umständen ein grober Keil
gehöre. So können oft die besten Absichten verkannt werden.
Preußen ist also nach Herrn Victor genöthigt, Frankreich zu vernichten
oder es sich zum Freunde zu machen; es würde unbedingt das erste thun,
wenn Rußland nicht wäre, und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als das
zweite zu versuchen. Frankreich ist demnach in der glücklichen Lage, an die
Verleihung seiner Freundschaft Bedingungen zu knüpfen. Daß dieselben aber
höchst billig sind, wird man bei der bekannten Großmuth der Franzosen im
Allgemeinen und bei dem noch größern Edelmuth des Herrn Verfassers im
Besonderen als selbstverständlich voraussetzen. Zugleich sucht dieser treffliche
preisgekrönte Geschichtsschreiber dieselben historisch zu begründen, indem er in
brillanten ApereM die Geschichte Galliens von der römischen Eroberung an
bis zum Frankfurter Frieden behandelt, wobei er natürlich die Kämpfe mit
dem Erbfeinde in lichtvoller Weise in den Vordergrund zu schieben weiß.
Nach dem bereits aus den einleitenden Kapiteln Mitgetheilten wird man
sich leicht vorstellen, welche Fülle von Gelehrsamkeit, welche Tiefe der Ge¬
danken, welche Weite des Horizonts, wie viel Originelles und Neues darin
enthalten sein muß, und wir bedauern aufrichtig, daß uns der Raum dieser
Arbeit nicht erlaubt, nach Belieben aus diesem Reichthum zu schöpfen. Doch
können wir uns nicht versagen, einige Lichtstrahlen aus demselben aufzufangen,
die unsere blöden nordischen Augen ganz besonders blenden werden. So
lesen wir Seite 44 von den Franken: „Der Tod allein kann sie niederwerfen.
Die Furcht findet sie unzugänglich. Tapfer wie die Gallier, sind sie nicht
grausam wie die Germanen; man kann das Wort des Horaz auf sie an¬
wenden : von kuuers, Mvet, sie haben keine Todesfurcht im Gegensatz zum
Germanen, der sich am Blute delectirt: ca-sels Muüet; der Eine tödtet um
zu siegen, der Andere tödtet um zu tödten." Einige Seiten vorher bei der
Erwähnung der römischen Eroberung Galliens lesen wir folgendes: „Ihm,
Cäsar waren wir Deutsche. Ich verzeihe dem Cäsar." Wie rührend: Ur.
Victor Mräoriue o. L6se>,r. Ist das sublime oder einfach riäiouls? Seite
132 heißt es: „Die 16. Invasion der Deutschen gab uns Metz, dieses Boll¬
werk Frankreichs, diese edelmüthige und stolze Stadt, deren größter Schmerz
in unsern neuesten Opfern der gewesen ist, übergeben worden zu sein, ohne
haben kämpfen zu können. Die Vertheidigung von Metz hat die lothringischen
Fürsten populär gemacht und hätte ihnen beinahe einen Thron eingebracht.
Was bewahrt Frankreich nicht für denjenigen auf, der ihm Lothringen zurück¬
geben wird." Seite 174 heißt es: „Die Invasion Hollands im Jahre 1672
führte zwei Jahre später die Invasion des Elsaß durch die verbündeten
Deutschen herbei. Dies war die 23. und die einzige, die durch unsere Offen¬
sive berechtigt war." Seite 204: „Am 22. September 1792 rückte die franzö¬
sische Armee inmitten von Beifallsbezeugungen in Savoyen ein, es war
weder eine Invasion noch ein Eroberung, sondern gegenseitiger 6Jen as tra-
ten'nec>. Zwei lang getrennte Brüder finden sich wieder, umarmen sich; das
ist die einfache und große Geschichte." Seite 21,1: „Napoleon I. rächt bei
Jena und Auerstädt alle Invasionen, welche wir seit den Anfängen der
Nation erlitten hatten. Preußen scheint todt, das deutsche Reich ist zerstört.
Dank der (üonkeävratioll MrmÄMguö" (er meint hier wohl C0ut6ä^ration
rkönainz, den Rheinbund?) „und den umfassenden Interessen der Mittelstaaten,
es scheint, daß die Einheit Deutschlands, jene Gefahr, gegen welche seit Jahr¬
hunderten das Genie Frankreichs gekämpft, für ewig beschworen wäre." Seite
223: „Der König von Preußen, der auf gallischer Erde nur das Herzogthum
Cleve und einen Theil Gelderns besaß, empfing fast das ganze rheinländische
Frankreich, man machte ihn so zum Wächter Deutschlands gegen Frankreich."
Zwei Seiten weiter heißt es: „Nicht erst seit gestern hat Europa unser Land
gegen den Haß Preußens vertheidigen müssen. Die Verträge von 1815 hatten
in den Augen dieser unerbittlichen Feindin unsere Stellung noch nicht genügend
verringert."
Der Frankfurter Friede ist nach Herrn Victor ein Act der militärischen
Gewalt und kein Instrument der Beruhigung und der Versöhnung. Europa
hat die Zerstückelung Frankreichs nicht ratificirt und nicht gebilligt, die Con¬
vention von 1870 ist nur für die beiden contrahirenden Mächte verbindlich.
Er hält es für schwierig, daß ernsthafte Garantien des europäischen Friedens
auf der Basis des Frankfurter Vertrags gefunden werden können. Den Ge¬
danken aber an eine blutige Revanche schon für das Jahr 1876 weist er
mit folgenden Worten zurück: „Wir werden uns auf diese Thorheit nicht
einlassen. Wir werden das deutsche Reich sich unter dem Gewicht seiner
Siege umherwälzen lassen; die Zeit ist nahe, wo die Süddeutschen müde
werden, die Werkzeuge einer egoistischen Politik zu sein, für welche die Re¬
ligion nur ein Mittel ist; ein nagender Wurm hat sich im Herzen Deutsch¬
lands eingenistet, und die Unordnungen, welche er dort verursacht, werden
bald zum Borschein kommen. Die Freimaurerei und ihre Armee, die inter¬
nationale Arbeiterverbindung, haben ganz nach Wunsch ein Theater aufge¬
schlagen in dem Lande, welches die Rohheiten der Hussiten, der Rüsttaudts (?)
und der Wiedertäufer gesehen hat. Morgen vielleicht wird der rothe Hahn
die Frauen Berlins und die Kinder von Münster und Hamburg in Schrecken
setzen."
Nachdem uns Herr Victor so zu unserm eigenen Besten die Hölle recht
heiß gemacht hat, nachdem er den Boden unter uns schon hat wanken und
Alles um uns her hat zusammenstürzen lassen, streckt er uns edelmüthig die
Hand entgegegen, um uns aus Schutt und Trümmern aufzulesen und uns
zugleich mit der Freundschaft der großen Nation Schutz und Sicherheit zu
gewähren. Daß dafür einige kleine Gegenforderungen gestellt werden, kann
weiter nicht auffallen. Für diesen großen Liebesdienst der Freundschaftsver¬
leihung von Seiten Frankreichs an Deutschland verlangt er folgende Kleinig¬
keiten, die ein demnächstiger europäischer Congreß, auf dem natürlich die
große Nation, vielleicht durch den Mund seines preisgekrönten Historikers,
wieder das große Wort führen wird, sanctionirt werden sollen:
1) Rückkauf von Elsaß-Lothringen. Zwei Milliarden denkt er, würden
unserer Habgier genügen. Herr Victor läßt dann seiner Phantasie die Zügel
schießen, indem er uns in farbenreicher Schilderung ein wahrhaft idyllisches
Bild von den Zuständen Frankreichs am Tage der Auflage der Befreiungs¬
anleihe entwirft.
2) Rectificirung der Grenzen: am Mittelmeer bis Vintimillia, in den
Alpen bis zum Plateau vom Mont Cenis und bis zum kleinen Sanct Bern¬
hard, im Norden Zurückgabe der vier Grenzfestungen Vauvans, Lcindau,
Saarlouis, Marienburg und Philippeville.
3) Neutralisation des rheinischen Frankreichs. Herr Victor vertheilt
dies mit bekannter französischer Großmuth unter Belgier und Holländer, und
doch verschenkt man auch in Frankreich den Pelz nicht eher, als bis man
den Bären gefangen hat. Belgien, welches in Rasse, Sitten und Religion
mit Frankreich identisch ist und nie seine politische Verwandtschaft mit seinem
Mutterlande verleugnet hat, empfängt 1) Luxemburg, 2) die Preußische
Rheinprovinz zwischen Rhein und Mosel. Holland, welches durch die Natur
seines Bodens und durch seine geographische Configuration für deutsche In¬
vasionen vorherbestimmt zu sein scheint, und nach dessen Städten, wo die
Wissenschaft, die Kunst, der Handel Reichthümer aufgehäuft haben, Preußen
lüstern hinüberschaut, bekommt, um sein Territorium unverletzlich zu machen
1) die Preußische Rheinprovinz zwischen Mosel und Maas, 2) das linke
Ufer der Ems.
4) Skandinavische Union. Dänemark, welches auf ungerechte Weise im
Jahre 1864 beraubt worden ist, tritt wieder in den Besitz von Schleswig
und selbst von Holstein, wenn dieses Land es vorziehen sollte, in seine frühern
Verhältnisse zurückzukehren. Die skandinavische Union würde die Neutralität
des baltischen Meeres sichern.
5) Regelung des italienischen Gleichgewichts. Herr Victor versteht da¬
runter Wiederaufrichtung des Thrones des unfehlbaren Papstkönigs.
6) Regelung der Orientfrage. Von den tiefsinnigen Combinationen, die
er bei dieser Gelegenheit zu Tage fördert, wollen wir aus verschiedenen
Gründen ganz absehen und nur noch den Schlußpassus des ganzes Werkes
mittheilen. „Das könnten die Bedingungen eines dauerhaften Friedens sein,
wenn Europa auf die große Stimme der Vergangenheit, die die Lehren
der Geschichte offenbart, hören wollte. Von aufrichtigen Bundesgenossen, von
Italien, Spanien, Portugal umgeben, gegen den Norden Europas vertheidigt
durch die Neutralisation der Schweiz, gegen Preußen durch die Neutralisation
des rheinischen Frankreichs, sich im Norden auf Belgien, Holland und Däne¬
mark stützend, die genügend mächtig reconstituirt sind, um im Stande zu
sein, ihre Neutralität in Respect zu setzen, an Schweden einen alten Waffen¬
gefährten, einen naturgemäßen Freund findend, an Rußland einen natürlichen
Verbündeten, dessen ritterliche Sympathien seine Macht verdoppeln, hat Frank¬
reich weder Oestreich, noch England, noch Preußen zu fürchten, die die einzigen
Staaten sind, welche bei der gegenwärtigen Lage Europas irgend welchen
Vortheil aus seinem Ruine ziehen könnten. Seine Mäßigung vertheidigt es
gegen Koalitionen, seine Expansivkraft erlaubt ihm, in der Welt zu glänzen,
seine monarchischen Jnstincte, sein Bedürfniß nach Freiheit, sein katholischer
Glauben, sein Entdeckungsgeist, sein Geschmack für die Künste, die edel-
müthigen und anziehenden Eigenschaften seiner Kinder, die Fruchtbarkeit seines
Bodens, seine hinreißende Gewalt, seine Hülfsquellen und sogar seine Grillen
— wieviel Gründe um nicht an der Zukunft zu verzweifeln. Gott rette
Frankreich!"
Ja, so mögen auch wir zum Schluß ausrufen: Gott rette Frankreich! —
vor dem Geist, der in diesem Buche waltet, denn es ist der Geist der Lüge,
der Geist des Jesuitismus, der sich in Frankreich mehr und mehr Bahn
bricht, und der trotz augenblicklichen materiellen Aufschwungs das ganze
Volksleben zu vergiften und dauernd zu ruiniren droht! Von einem eng¬
herzigen politischen Standpunkt aus könnten wir Deutsche derartige Symptome
mit einer gewissen Schadenfreude begrüßen ; denn es unterliegt keinem Zweifel,
daß ein Volk, welches sich in eitler Selbstverblendung krampfhaft sträubt
einen leidenschaftslosen Blick auf sich selbst und seine Umgebung — ja selbst
auf seine Gegner zu werfen, nicht unschwer zu besiegen sein wird. Aber
von einem höheren Standpunkt aus, — und wir sind überzeugt, daß der
größte Theil der gebildeten Deutschen denselben mit uns einnimmt, — müssen
wir in Erinnerung an die großen Verdienste, die der französische Volksgeist
in seinen hervorragenden Vertretern sich um die Aufklärung und die Civili¬
sation erworben hat, dieselben aufrichtig bedauern. Denn wenn wir uns
auch darüber keinen Illusionen hingeben, daß uns ein zweiter Krieg unter
irgend welchen Umständen erspart werden könnte, so kämpfen wir doch lieber
im Bewußtsein unserer Stärke, im Vertrauen auf unsre gute Sache den
schweren Kampf mit einem aufgeklärten, freiheitlich regenerirten Frankreich,
in der wohlbegründeten Ueberzeugung, daß nach Beendigung desselben sich,
wie es unter anständigen, sich gegenseitig achtenden Gegnern Sitte ist, ein
dauernder Friede wird vereinbaren lassen, den wir in einem vom Jesuitis¬
mus zersetzten Frankreich nie suchen und nie finden werden.
An die auffallende und in der Geschichte der abendländischen Cultur-
Völker wohl vereinzelt dastehende Erscheinung, daß die englische Nation, ob¬
wohl sie vermöge der Abstammung, der Sprache, des Glaubens und in nicht
geringem Grade der Gemeinsamkeit politischer Interessen, gewissermaßen schon
von der Natur auf einträchtliches Zusammenwirken mit der deutschen ange¬
wiesen ist, nicht nur seit Jahrhunderten supreme Gleichgiltigkeit und Mangel
an Verständniß für deutsche Eigenartigkeit bekundet, sondern auch auf allen
Gebieten die Initiative der gegenseitigen Annäherung allzeit uns überlassen
hat, an diese Thatsache werden wir im täglichen Verkehre wie in der Bücher¬
welt sattsam erinnert. Am lebhaftesten aber, wenn wir von uns weg auf
die zwischen England und Frankreich obwaltenden Beziehungen blicken. Frei¬
lich bietet das Nachbarland mehr Stoff für sensationelles und theatralisches
Interesse, stärker gepfefferte Stimulantia für die insulare Langweile und Bla-
sirtheit; auch wirkt die Erinnerung an die Zeiten, als die politischen Ge¬
schicke der beiden Länder im Kriege und im Frieden mit einander verbunden
Waren und als Beide von dem frühe erreichten Höhepunkt nationaler Bildung
mit Stolz auf die jammervollen Zustände in Deutschland hinabsehen durften,
noch immer mächtig aus die Stimmung in der Gegenwart. Und doch sollte
man glauben, daß die Erwägung, daß auch wir seitdem unsere Sturm- und
Drangperiode durchgemacht, unsere Geistesriesen hervorgebracht, den Schul¬
staub abgeschüttelt und den Nachweis von Fähigkeiten geliefert haben, die der
Practische Engländer am meisten bewundert, die spröden Vettern uns in»
zwischen beträchtlich näher gebracht hätte. Aber die Summe der neuen Ge¬
sichtspunkte, die Empfänglichkeit für Belehrung über unsere öffentlichen Zu¬
stände, die sich nothgedrungen hätte verdoppeln müssen, seitdem sich die
letzteren durch die Niederwerfung Frankreichs geklärt und eine festere Ge¬
staltung genommen und an Verständlichkeit gewonnen haben, ist noch immer
erschrecklich klein und wird es, fürchten wir, noch lange bleiben, wenn nicht
etwa die projectirte Völkerstraße des unterseeischen Riesentunnels Wunder
thut. Man weise auch nicht auf die leuchtenden Namen jener Pioniere, unter
denen Thomas Carlyle und George Grote die Ersten sind; sie sind eben
wegen der Hinneigung zum Mutterlande und seiner Cultur vom Gros der
Gebildeten noch unverstanden geblieben. Es bedarf beim Durchreisen des
Landes und beim Aufenthalte in den großen Städten nicht großer Beob¬
achtungsgabe, um zu erkennen, daß, abgesehen von dem vorübergehenden
Moltke - Cultus als Pendant zu der Blücher-Wellington-Vergötterung und
den Reminiscenzen aus Odo Russell's Schlachtenbuch, kein wesentlich neues
Element den Kreis der überlieferten Durchschnittsanschauungen vermehrt haben
kann. Sehr viel darf allerdings für die Zukunft von den Bestrebungen be¬
hufs Verbesserung des Unterrichtswesens, theilweise nach deutschem Muster,
erwartet werden; dazu bedarf es aber noch langjähriger Kämpfe gegen den
hartnäckigen Widerstand des in England so überaus mächtigen Pfaffenthums
und der Säcularisivung der Schulen nicht minder als der Universitäten. Ge¬
rade auf den besten Anstalten tritt zwar oft das Deutsche nicht ohne Osten¬
tation auf. befindet sich aber wie auch sonstwo gewöhnlich in den Händen
eines elenden Maitrethums. Ich kenne mehr als einen Universitätsprofessor,
der von deutscher Geschichte ungefähr soviel weiß, als im Taeitus steht. Mehr
Begnadete kennen dann auch Luther, ein wenig Friedrich den Großen und
Blücher. Noch Keinen habe ich getroffen, der auch nur in irgend einem
Winkel der mittelalterlichen Geschichte unseres Volkes Bescheid gewußt hätte.
Bei Frauen dagegen aus den höheren Ständen, die zumeist eine allgemeinere
Bildung von der Schule und vom Festlande mitbringen und die Zeit nicht,
wie die Brüder, mit lateinischer und griechischer Verseschmiedekunst zu ver¬
geuden brauchen, findet sich häufig eine einigermaßen entsprechende Vertraut¬
heit mit unserer Nationallitteratur, die noch immer der Mehrzahl der Gebil¬
deten ein Buch mit sieben Siegeln ist. Solchen anmuthigen Quiproquos,
wie die vor Kurzem in amerikanischen und englischen Zeitungen gemachte Mit¬
theilung, daß das deutsche Volk seinem großen Philologen Gottfried Hermann
auf der Höhe des Teutoburger Waldes ein Riesendenkmal errichtet habe, sind ja
keineswegs selten und geben einen nicht unzuverlässigen Gradmesser für die
Durchschnittsbildung ab. Demgegenüber wäre es indessen nicht gerecht, bei
dieser Gelegenheit Schottlands nicht zu gedenken, dessen vom Drucke der Hoch¬
kirche freies und von nationalen Vorurtheilen weniger umstricktes Volk nicht
mit jener grimmigen Zähigkeit an den Ueberlieferungen starrer Ausschließlich¬
keit und dem allgemeinen Codex insularer Convenienzen festhält wie die süd-
lichen Nachbarn. Hier bestanden von jeher gewisse, an die kleineren Propor¬
tionen und an den engeren Rahmen deutscher Verhältnisse erinnernde Ein¬
richtungen, die dem schottischen Geiste ein wesentlich verschiedenes Gepräge
verliehen und ihn zu einem geeigneteren Recipienten deutscher Saatkörner
machten. In markirtester Weise kennzeichnet diese Verschiedenartigkeit die Hoch¬
schule; denn die Kluft zwischen Edinburgh und Oxford ist nicht kleiner als
die zwischen letzterem und einer neuern deutschen Universität, etwa Bonn
oder München.
Das bisher Gesagte führt zur Erwähnung einer in Deutschland bereits
nicht mehr ganz unbekannten Societät englischer Biedermänner und ihres
literarischen Organs, worin der Tradition zuwider den deutschen Vettern
gegenüber ein Annährungsversuch gemacht wird, aber auf einem Wege oder
vielmehr Umwege, der zu einem solchen Zwecke wohl noch schwerlich betreten
worden ist. Die Sache gehört auch noch insofern hierher, als sie einen Be¬
weis dafür liefert, welche Früchte das Zusammenwirken der mangelhaften
Geschichtskenntnisse mit der frommen Bornirtheit alttestamentlicher Forschung
oder Astergelehrsamkett zeitweilig dem anglosächsischen common sense zum
Trotze zu Tage fördert.
Schon vor drei Jahren gerieth mir während eines mormuA rambls in
den Hundstagen durch die erfrischend kühlen Paternosterwinkel hinter der
Paulskirche eine Brochüre in die Hände, deren barocker Titel anhub: ?Ko veil
likteä trou tds nations!c. und dann ferner andeutete, daß Preußen und
Engländer israelitischen Ursprungs seien. Den Hauptinhalt bildete denn auch
die frohe Kunde, daß die Jahrtausende lang vermißt und verschollen gewesenen
zehn Stämme an der Themse und an der Spree wieder aufgefunden seien.
Uebrigens berechtigten alle psychologischen Symptome, dem Verfasser ein mehr
pathologisches als ein andres Interesse entgegenzubringen. Man konnte da, um
nur Eines hervorzuheben, aus dem Munde des sächsischen Landpfarrers
(Esser) vernehmen, daß es im Mittelalter eine norddeutsche Stadt Bremen
gab und eine andre ähnlichen Namens auch in Northumberland. Daran
geknüpft die schüchterne Muthmaßung, daß hier ein Problem für die Geschichts¬
forschung vorliege, vielleicht der Hinweis auf irgend welche wechselseitige Be¬
ziehungen zwischen Norddeutschland und England. Indessen stellte sich, was ich
für die Grille eines sonderbaren Schwärmers gehalten hatte, später als ein Pro¬
dukt heraus, das nebst zahlreichen ähnlichen auf dem breiten Boden einer an
Bedeutung und Ausdehnung gewinnenden sectenähnlichen Genossenschaft ge¬
wachsen war. Die letztere nennt sich die ^.nglo Israel Association und be¬
treibt ihre Propaganda vermittelst einer stattlichen Monatsschrift, ?Ks
LtanÄarä ok Israel, deren zehnte Nummer eben vor mir liegt. Die Anglo-
Jsraelitische Gesellschaft, heißt es in dem als Anhang gegebenen Prospectus
ist gegründet worden: Erstens, um so viele Belege als möglich für die Be¬
hauptung, daß die Briten vom Hause Israel abstammen, zu sammeln und
weiter zu verbreiten. Zweitens, behufs Förderung und Belebung des Studi¬
ums der Geschichte Judas und Israels." Im Folgenden wird dann auf
die Wichtigkeit der Aufgabe hingewiesen, die ein einheitliches Vorgehen und
Zusammenhalten aller gelehrten Gläubigen erheische. Ein stehender Ausschuß
von Forschern läßt es sich angelegen sein, durch Vorlesungen und Verbreitung
von Schriften das Studium der Geschichte, Archäologie und Sprache des
auserwählten Volks zu heben und fördern. Er ersucht Alle, welche
wissenswerthe Beiträge zur Lösung des großen Problems liefern zu können
glauben, den israelitttchen Ursprung des englischen Volkes zu beweisen, um
Einsendung der Artikel. Auch sollen, wenn es an Gelehrsamkeit gebricht,
Geldbeiträge nicht verschmäht werden. Fünf Pfund verschaffen lebensläng¬
liche, S Schillinge zwölfmonatltche Mitgliedschaft, Handwerker jedoch und
Bauern, welche sich „diesem veredelnden Unternehmen" anschließen, entrichten
nur 1 Schilling. Schließlich Aufforderung zur Etnzeichnung in die „Stamm¬
rolle der Jsraeliten", an alle Anglosachsen, die sich für Nachkommen
Israels halten. Schriftführer: Rep. Alexander B. Grimaldi, maMter ar-
tiuw, 12, Southampton Street, Strand, London. Unter den fünfzig Mit¬
gliedern des Ausschusses figuriren: General H u dahin so n, Generallieutenant
Täte, OberstGawler, Major Philipps, Major Petrin, Major nickte
in Baden-Baden, Major Brewster, G. Napier, rnagistor artium, ferner
zwei Hauptleute, Professor Tenner, fünf Doctoren der Medicin, 12 Geist¬
liche, sämmtlich maMtri artium; auch alle Uebrigen sind Gentlemen. Bei
keinem fehlt die volle Adresse.
Eine ungefähre Vorstellung von der Wirksamkeit der gelehrten Gesell¬
schaft verschafft ein Blick in die vorliegende Nummer der Zeitschrift. „Ich
halte mitWilson dafür", sagt der Verfasser eines Artikels unter der Ueber¬
schrift: Die germanische Theorie, „daß wir Angelsachsen germanischer
Abkunft sind. Die Geschichte bestätigt diese Ansicht. Desgleichen unsere
Sprache mit ihrer germanischen Grundlage und romanischen Zusätzen, wie
Max Müller sagt. Die Deutschen sind, wie wir, eine Nation oder vielmehr
ein Völkercomplex. Wir wollen sie ein wenig näher betrachten. Die Cen¬
tral-Preußen sind: die Brandenburger, Hannoveraner, Mecklenburger,
Holsteiner, Baden*), Hessen-Cassel, Württemberg, Schwaben, Franken, Baiern,
Sachsen. (Welches nun die Peripherie-Preußen seien, wird verschwiegen.)
Dieselben reden scharf gesonderte Dialecte, was unsere Coloniebewohner nicht
thun. Besitzen nicht die Deutschen „die Thore ihrer Feinde" ebenso wie wir?
Ringen sie nicht mit uns um die Führerschaft unter den Völkern der Erde?
Ihre Thore sind Kiel und Danztg im Norden, Köln und Ehrenbreitstein,
Metz und Straßburg im Westen, Ulm und Königstein, die letztere noch jung¬
fräulich, im Süden, Posen und Königs b urg h im Osten." Acht Jahre bin ich in
Deutschland umhergereist, soweit die deutsche Zunge reicht; und obwohl ich
die Glaubenslosigkeit der Bevölkerungen in allen ihren großen Städten leider
constatiren muß, so habe ich doch nirgends so wohlbesetzre Kirchen wie in
den protestantischen Dörfern Deutschlands gesehen. Wir brauchen uns also,
däucht mich, unserer deutschen Vettern nicht zu schämen. Sie sind mehr
israelitisch im Sabbathhalten als wir Engländer. In Central - Deutschland,
d- h. Württemberg (»le), lebt eine große den Methodisten verwandte Ge¬
nossenschaft, in einem schönen Lande, welches mit Palästina verglichen werden
kann. Wenn es auf Erden ein Paradies giebt, so ist es dieses. Wenn wir
Engländer uns nun auch mit gerechtem Stolze als das lichtspendende Volk
bezeichnen dürfen, mögen wir doch auch den Deutschen zugestehen, daß auch
sie ihren Antheil an der Verbreitung des Lichtes haben. Geschriebenin der
Norton ViearsM, NansKelä von Antiquarius." In dem nächsten Artikel
S. 113 polemisirt ein Herr Löwe gegen eines Mitarbeiters Philo-Js-
rael, Ansicht, daß die Jsraeliten M masss und auf einmal nach England
gezogen seien und in. andern Ländern nur dürftige und zersprengte Bruch¬
theile zurückgelassen hätten. Vielmehr seien höchst wahrscheinlich die Cimbern
und Teutonen und die übrigen germanischen Stämme die eigentlichen ver¬
schollen gewesenen Jsraeliten, von denen dann ein Haufe sich auch auf die
nordischen Inseln begab. In den Söller und im Wesen der heutigen Ger¬
manen liege durchaus Nichts, was der besagten Descendenztheorie wider¬
spräche; sicherlich seien sie keine Assyrier. Ein sehr gewichtiger, und bis jetzt
noch von Niemandem vorgebrachter Beweisgrund liege in Folgendem: „Unsere
königliche Familie stammt zwar einerseits auch von Deutschland und oben¬
drein sind einzelne Mitglieder derselben mit Dänen, Deutschen und Russen
vermählt. Sollen wir nun aus letzterem Grunde etwa annehmen, daß die
königliche Familie uiid Heiden verschwägert sei? Ich kann mich nicht ent¬
schließen, das zu glauben. Was auch der eigentliche Kern der Bevölkerung
des russischen Reiches sein mag, so kann ich mich doch der Muthmaßung
"'ehe erwehren, daß das regierende kaiserliche Haus den zehn Stämmen ange¬
hört." Bon ganz erfrischender Wirkung nach dieser öden Duselei ist dann
e>n Quell reinen Wassers, der uns ganz unerwartet unter der Ueberschrift
-,Des Sachsen Heimath" entgegensprudelt. Es ist eine Stelle aus Herder's
"Ideen zur Philosphie der Geschichte der Menschheit" über die welthistorische
Bedeutung der germanischen Völker. Die Worte stehen da unvermittelt und uner-
läutert, und es kann Einen nur wundern, daß, wenn gelegentlich deutsche Ge-
schichtswerke nicht ganz unberücksichtigt gelassen werden, überhaupt so viel blühen¬
der Unsinn aufgetischt werden kann. In einem dritten Artikel tritt der Mit¬
arbeiter Philo-Jsrael auf die Mensur mit dem Herrn Oberst Gawler, welcher
die letz.rische Ansicht vertritt, daß nur neun Stämme in England eingewandert
seien. „Gott selbst verheißt an vielen Stellen der Schrift seinem Volk der-
einstige Macht und Herrlichkeit auf den Inseln; vgl. 2 Sam. 7, V. 10—11,
1 Chron. 13, V. 9—10. Hiernach behaupten wir gegen Oberst Gawler,
daß die h. Schrift Schritt für Schritt unsere Ansicht bestätigt, daß die zehn
Stämme en masss nach den britischen Inseln gewandert sind und ersuchen
ihn, uns zu widerlegen. Er möge den Nachweis liefern, wo seine neun
Stämme seßhaft geworden sind, doch verbitten wir uns jeden Hinweis auf
Oxforder oder ähnliche Autoritäten, von welchen Engländer und Deutsche
ohne Weiteres als Zweige desselben Stammes behandelt werden." Dann
die plötzliche und unerwartete Wendung: „Ist dies übrigens die Zeit, unsere
geistigen Fähigkeiten und Kräfte über Streitfragen zu vergeuden, die uns
gar nichts angehen? Jetzt, wo die orientalische Frage an uns heranrückt
und das Ottomannische Reich mit raschen Schritten seinem Untergange ent¬
gegengeht und das dumpfe- Rollen des kommenden Sturmes schon in un¬
seren Ohren klingt?" Dieser Apostrophe zum Trotz werden schließlich dennoch
die Gläubigen noch einmal zum Ausharren und zu eifriger Propaganda auf¬
gemuntert. Ungefähr auf derselben Stufe stehen die Leistungen des Herrn
Cockburn-Muir in Putney, welcher in einem Briefe an einen Herrn
Bird in Clifton die Heilswahrheit gegen die Universitäten vertheidigt, „die
da in rettungsloser Dunkelheit befangen sind," und zwar an der Hand der
Geschichte, der Ueberlieferung, der Ethnologie und der Sprachwissenschaft, die
sämmtlich auf unserer Seite sind."
Den Gipfelpunkt aber wahnwitziger Exegese und blühenden Blödsinnes,
der hie und da mit gesundem Menschenverstand verquickt ist, scheinen der
Herr B. S. und seine Widersacher erreicht zu haben. Was letzterer dem Ver¬
fasser des Artikels zugetraut haben muß, erhellt aus der folgenden Erörterung
auf Grund der Stellen Apokalypse 14, 9—11 und 20, 4. „Und was nun
den Antheil des deutschen Reiches an dem verfluchten Maalzeichen des
Thieres durch Einführung des neuen Decimalsystems in Maß und Gewicht
anbetrifft, so ist dieser Gegenstand von so hoher Wichtigkeit, daß wir uns
veranlaßt sehen, gegen eine so gehässige Auslegung jenes ganz legalen Maals
der Abtrünnigkeit Verwahrung einzulegen, welches doch Alle, die es annehmen,
zu ewigen Höllenstrafen verurtheilt; vgl. Ap. 14, 11: „Und der Rauch ihrer
Qual wird aussteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit; und sie haben keine Ruhe
Tag und Nacht, die das Thier haben angebetet und sein Bild; und so Je¬
mand hat das Maalzeichen seines Namens angenommen." Wie es dem be-
geisterten Exegeten überhaupt möglich gewesen war, in dieser Stelle den
göttlichen Bannfluch gegen das Decimalsystem des deutschen Reiches zu er¬
kennen, ist aus dem Texte des vorliegenden Artikels nicht mehr ersichtlich;
übrigens thut der Verfasser des letzteren das Seinige, um unsere Schuld nach
Kräften in ein mäßigeres Licht zu stellen; namentlich bittet er erwägen zu
wollen, daß es sich hierbei doch weniger um ein religiöses als vielmehr um
ein wirthschaftliches Interesse handle. Auch dringt er in den fanatischen
Deutschenhasser, um derentwillen nicht ein ganzes Volk dem ewigen Verderben
Preiszugeben, vielmehr zu bedenken, was das deutsche Volk im Zeitalter der
Reformation im Kampfe mit Rom geleistet habe und in der Gegenwart
abermals leiste. Ferner warnt er vor nationaler Ueberhebung. „Unsere
Selbstüberschätzung und unser großer Wohlstand können leicht eine Falle für
uns werden, so wie sie auch andre Völker zu Grunde gerichtet haben. Aller¬
dings sind wir ja Alle darin einig, daß wir den hohen Vorzug des am
meisten begnadeten Geschlechts genießen als die Nachkommen Ephraims, vgl.
Jeremias 31. Aber eben das Recht der Erstgeburt selbst soll uns ja daran
erinnern, daß noch Andere nach uns zur Gemeinschaft gehören. Lasset uns
also forschen und darnach suchen, wer diese Genossen sind und nicht mit
kaltem Stolze uns von ihnen abwenden. Wir wünschen ihnen Glück bet
ihrem Ringen nach Einheit und Freiheit und Kraft, welche Güter wir schon
so lange besitzen. Der deutsch-französische Krieg ist sicherlich noch nicht aus¬
gekämpft, und von der Entscheidung werden dann sicherlich ernstere Fragen
als das letzte Mal abhängen. Ist die Kriegesfackel erst wieder angezündet,
so kann keiner von uns wissen, wie weit der Brand dann um sich greifen
wird. Vielleicht werden auch unsere Interessen mit ins Spiel kommen, wenn
der Preis, den Rußland den Franzosen für seine Hilfeleistung gegen Deutsch¬
land abfordert, der Besitz des langersehnten Konstantinopels sein sollte. Im
Hinblicke auf diese Möglichkeit liegt für alle Stämme Israels die Aufforderung
zu festem Zusammenhalten, um den friedlichen Besitz des Landes Jinmanuels zu
sichern für das auserwählte Volk."
Doch genug des Unsinns. Da die resxeetgMit? der Gönnerschaft und
der Redaction der Zeitschrift keinen Raum für irgend welchen Zweifel lassen,
so darf die Lebensfähigkeit derselben wohl als verbürgt angesehen werden-
übrigens wirklich die, wie verlautet, im Wupperthale und in Schwaben
"«gestellten Propagandaversuche von Erfolg gewesen sind, mögen die folgenden
Nummern lehren. Dieselben sind zu beziehen gegen Einsendung von sechs
Pennymarken oder 60 Pfennig von James Nisbet u. Co., Berners Street,
Oxford Street. London. — S. W. Partridge u. Co.. 9, Paternoster Row.
E C. — W. H. Guest, 29. Paternoster Row, E. C. London.
Wie im Durchschnitt jede moderne Kunstausstellung, so macht auch die
gegenwärtige, vorwiegend von auswärtigen Künstlern beschickte Dresdener
Ausstellung in ihrer großen Masse den Eindruck einer interessanten coloristischen
Versuchsstation, eines Laboratoriums der Farbentechnik, welches neben einem .
Schwall von oberflächlicher decorativer Mittelmäßigkeit auch manche recht
beachtenswerthe Erscheinungen zu Tage fördert, die entschieden als eine Be¬
reicherung, wenn auch nicht der Kunst im höheren Sinne, so doch des tech¬
nischen Theils derselben betrachtet werden müssen.
Farbe, Colorit, Effect, das ist die Losung unserer jetzigen Kunstbestre¬
bungen, und die Zeichnung wird dabei meistens mit einer, fast möchte man
sagen, brutalen Geringschätzung behandelt, — eine Technik, welche dem Be¬
schauer nicht selten schon auf einer Distance von 10 Schritten ein gebieterisches
„Halt" zuruft, damit er sich den durch die Farbe aus respectvoller Entfernung
erhaltenen allgemeinen Eindruck der Naturwahrheit des Bildes nicht durch
nähere Besichtigung desselben wieder zerstöre. Das sinnige, beschauliche
Arbeiten, das liebevolle Sichversenken in den Gegenstand scheint den meisten
Künstlern unserer Zeit abhanden gekommen zu sein; die Unbefangenheit des
Schaffens wird durch den beunruhigenden Gedanken verscheucht: „Wie wird
das Bild auf der Ausstellung wirken? — Wird es durchschlagen. Effect
machen? Oder wird es erdrückt werden durch die andern brillanten Farben¬
stücke?" Und so wird in fieberhafter Hast aufgetragen, was die Palette nur
hergeben will. „Im Atelier muß es geschmiert und geklext aussehen", heißt
es, „dann wirkt es aus der Ausstellung." Mag wohl sein, für ein gewisses
Publicum; nur wird dabei übersehen, daß die Bilder schließlich doch bestim¬
mungsgemäß in einem Salon ihr Unterkommen finden sollen, und wenn dieser
nicht mit hohlem Flitter und decorativem Pomp, sondern mit feinem Geschmack
und solider Noblesse eingerichtet ist, dann tritt die rohe Behandlungswetse
der Bilder um so schroffer hervor, je gediegener und eleganter die Umge¬
bung ist.
Und nicht allein die Schönheit der Zeichnung wird dabei vollständig
ignorirt, sondern auch die Composition artet dermaßen aus, daß von zweck¬
mäßiger Anordnung und Vertheilung der Massen, von harmonischem Fluß
der Linien, überhaupt von gedankenreicher Conception des Bildes kaum noch
die Rede sein kann. — Wozu das auch? — Das große Publieum hat im
Allgemeinen dafür wenig Sinn; es steht geblendet und staunend vor jenen
frappanten Knalleffecten, während es an tief empfundenen und liebevoll
durchgearbeiteten Bildern meistens gleichgilttg vorübergeht, weshalb man es
im Grunde genommen den Künstlern kaum verdenken kann, wenn sie statt
des hochfltegenden Pegasus lieber den ertragliefernden Ackergaul reiten und
den rasenden Tanz unserer Zeit um das goldene Kalb mittanzen.
Die Erzeugnisse der Kunst sind stets ein treues Spiegelbild der jeweiligen
idealen und realen Bestrebungen ihrer Zeit. Sie stimmen vollständig über¬
ein und stehen im innigsten Zusammenhange mit den Erscheinungen auf
andern Gebieten des Lebens, des Kunstgewerbes, der Industrie, des Hand¬
werkes, wie überhaupt der sittlichen und volkswirthschaftlichen Zustände-
Betrachtet man demnach die Kunst als die Blüthe eines Culturvolkes, so
ergiebt ein Vergleich von selbst, daß bei einem mit unnatürlichen Gewaltmitteln
gepflegten Treibhausgewächse die besten Kräfte und Säfte zu ungesunden,
monströsen Organen verwendet werden und eine zwar brillante, aber in un¬
heimlicher Farbenpracht glühende Blüthe von ephemerer Dauer und ohne
Frucht sich entwickelt. So ist auch die Frucht redlicher deutscher Arbeit, das im
Schweiße des Angesichts sauer verdiente Geld mittelst der „Börse" aus den Händen
solider arbeitsamer Bürger massenweise in den Säckel speculirender Jndustrte-
ritter, Börsenjobber, Aetienschwindler und Gründer geflossen. Und solche
Leute als Kunstmäcene?!
Ist es da zu verwundern, wenn die wahre, echte Kunst auf den Aus¬
stellungen von einem Farbenschwall blendender Effecte ohne tiefern Gehalt
erstickt wird, — wenn die ganzen Kunstbestrebungen in eine coloristische
Ltsex1e-eKg.se! ausarten, die nach möglichst hohen Preisen jagt, und am meisten
gilt, wenn sie dieselben'wirklich erreicht?
Doch wir wollen nicht zu schwarz sehen; denn neben dieser seichten
Tagesproduction der Malerei macht sich noch eine tiefergehende Strömung der
warmen, poetischen Kunstrichtung geltend, welche auch von den wirklichen
Kunstfreunden einer aufrichtigen Verehrung und lebhaften Theilnahme ge¬
würdigt wird. Und abgesehen davon hat auch jene Kunstrichtung ihre gute
Seite, denn es ist nicht zu verkennen, daß die deutsche Malerei, namentlich
im Vergleich zur französischen und niederländischen, in der Farbentechnik un-
verhältnißmäßig zurückgeblieben war und mit einer gewissen Einseitigkeit und
asketischen Strenge die abstracte Gedankenmalerei, die geistvolle und gehalt¬
reiche Composition, die stilvolle Zeichnung und Linienführung auf Kosten
einer sinnlich reizvollen Farbenwirkung soweit bevorzugte, wie es sich mit
einer specifisch malerischen Anschauunng doch nicht recht vereinbaren läßt.
Für den Augenblick droht jedoch die deutsche Kunst in ihrer großen Masse
ins entgegengesetzte Extrem umzuschlagen und die beregten Vorzüge, durch
welche sie nach einer, und zwar sehr gewichtigen Seite hoch über anderen
Nationen stand, weit über Bord zu werfen. Erst wenn das durch die über-
stürzten Bestrebungen der Gegenwart angesammelte reiche Material mit
ruhiger Besonnenheit gesichtet wird, erst wenn zu der unbedingten Herrschaft
über die Farbe eine eracte, charactervolle Formengebung, gewissenhafte Zeich¬
nung und edle Composition sich gesellt, wird den Anforderungen einer ge¬
diegenen Technik entsprochen werden. Das Beste fehlt dann freilich immer
noch, der gedankliche Inhalt, die poetische Conception und der geistige Gehalt
des Kunstwerkes, welchen als Zweck zu verwirklichen selbst die vollendetste
Technik immer nur als Mittel dienen soll, während bei vielen Bildern um¬
gekehrt oft der seichteste Gedanke als Mittel herhalten muß, an welchem sich
eine nicht selten virtuose Technik als Zweck entfaltet. Das traurige Deficit,
diese innere Geistesarmuth in glänzender Hülle, der wir auf dem Gebiete der
heutigen Kunst ebenso oft begegnen, wie im persönlichen Verkehrsleben, ist
im ersteren Falle wesentlich dem Bildungsgange der Akademien zur Last zu
legen. Daß dieselben ohne alle Vorbedingung Zöglinge, gleichviel ob von
der Dorf- oder Bürgerschule, vom Gymnasium oder der Universität, gleichviel
ob aus armen Bauern- oder Handwerksfamilien, aus reichen Bürger- oder
vornehmen Adelsfamilien stammend, mit gleicher Bereitwilligkeit aufnehmen,
ist vollständig in der Ordnung, denn das Talent für die Kunst tritt ohne
Unterschied in allen Volksclassen gleich bedeutend auf. Daß die Akademie
aber sich um die für jeden Künstler so wichtige ästhetische und humanistische
Bildung so ganz und gar nicht bekümmert und nur ausschließlich die tech¬
nische Ausbildung derselben ins Auge faßt, ist namentlich gegen die durch
Geburt und Verhältnisse in dieser Beziehung weniger begünstigten Schüler
ein Unrecht, dessen Folgen sich in spätern Jahren schwer beseitigen lassen.
Daraus mag sich wohl genügend der verhältnißmäßig ärmliche Inhalt er¬
klären, der die Kunst unseres sonst so hochgebildeten Jahrhunderts kennzeichnet
gegenüber früheren Kunstperioden, aus denen man nur wenige Namen zu
nennen braucht — wie Leonhardo da Vinci, Michelangelo, Dürer, Rubens
u. a. Künstler, welche an humanistischer und wissenschaftlicher Bildung den
ersten Gelehrten und Staatsmännern ihrer Zeit vollständig ebenbürtig zur
Seite standen — um sich klar zu machen, weshalb deren Werken außer der
technischen Vollkommenheit noch etwas Anderes innewohnt, dessen Werth und
Bedeutung selbst Jahrhunderte nicht abzuschwächen vermochten. Nur weil
sie mit ihrer Bildung und Intelligenz auf der Höhe ihrer Zeit standen, ver¬
mochten sie dieselbe vollständig zu verstehen und, vielleicht sich selbst unbewußt,
deren Geist in ihren Werken zu verkörpern.
Ist nun die Dresdener Akademie schon nach dieser Richtung hin im
Nachtheil gegen andere Kunstschulen wie Leipzig, Berlin, München, Wien
u. s. w. — denen zur leichtern Ausfüllung der Lücken in der humanistischen
Bildung der Schüler die höchsten Lehranstalten, Universitäten, zu Gebote
stehen, — so ist es doppelt auffällig und betrübend, daß auch nach der dech.
nischen Seite in der Dresdener Malerschule keine Spur von jenem frischen
Zuge zu bemerken ist, der durch die ganze Kunstrichtung der Neuzeit hindurch¬
geht, der frischen Naturwahrheit der Farbe ihre poetischen Reize abzulauschen
und sie mit gewandter Pinselführung wiederzugeben.
Wenn andere Schulen in diesen Bestrebungen stellenweise zu weit gehen
und alle übrigen zu einem Bilde nothwendigen Requisiten über dem Haschen
nach decorativer Farbeneffecten hintansetzen, so beharrt dagegen die Dresdener
Schule consequent in einer, fast möchte man sagen, antteolortstischen Richtung,
ohne dabei im Ganzen durch einen großartigen Zug in Zeichnung und Com-
position für jenen Mangel hinreichend zu entschädigen, und es thut jedem
aufrichtigen Verehrer der Kunst in der Seele weh. daß die Dresdener Maler
bei ihrer schwerfälligen Technik mit dem größten Fleiße und dem gewissen¬
haftesten Streben nicht annähernd leisten, was schon ganz junge Leute z. B.
von der Düsseldorfer, Münchener und der so schnell emporgeblühten kleinen
Weimarer Kunstschule in technischer Hinsicht mit fast spielender Leichtigkeit und
größter Sicherheit erreichen. Der Grund davon ist nicht etwa im Mangel an talent¬
vollen Leuten zu suchen, denn wir sehen auch auf dieser Ausstellung coloristisch
hervorragende Leistungen gerade von frühern Schülern der Dresdener Aka¬
demie, welche jedoch erst auf andern Kunstschulen erlernen mußten, was sie
trotz offenbarer Anlagen in Dresden nie erreicht halten.
Auch den höchst resp-ctablen Lehrkräften an sich kann durchaus kein Vor¬
wurf gemacht werden, wohl aber der unzweckmäßigen Disposition über die¬
selben. Es hat fast den Anschein, als ob man von der naiven Anschauung
ausginge, daß die Lehrer, ähnlich wie die Schüler, nach der Anciennität von
den untern Classen progressiv nach den obern vorrücken müßten, und Rang
und Würde derselben danach abzuschätzen wäre. Was bei den Schülern, als
dem naturgemäßen Bildungsgange entsprechend, förderlich ist, erweist sich bei
den Lehrern, deren individuelle Kunstrichtung als in sich abgeschlossen, in
ihrer Qualifikation nothwendig dieselbe bleiben muß, als durchaus unpractisch.
So bleibt es z. B. unerklärlich, daß zwei so eminent coloristisch begabte
Lehrkräfte, wie die Professoren Gönne und Scholtz im Anlikensaale Zeichnen
lehren müssen, während Professor Ehrhardt, bei dessen vorzüglichem Lehrer¬
talent das feine Gefühl für Form und Modellirung des menschlichen Körpers
seinen Sinn für Farbengebung ganz unverhältnißmäßig überragt, im Maler¬
saale unterrichtet und Professor Dr. Große, dessen ausgesprochne classische
Richtung unverkennbar auf die plastische Formenschönheit und die erhabene
Hoheit der Antike hinweist, einem akademischen Maleratelier vorsteht.
Zieht man noch in Erwägung, daß einem Künstler wie Professor Paul
Thumann, — dessen edle, echt deutsche Kunstrichtung mit der tief empfundenen
Zeichnung und fein stilisirten gehaltvollen Composition ein maßvoll wirk¬
sames, naturwahres Colorit verbindet, und dessen Einfluß auf eine günstige
Entwickelung der hiesigen Kunstzustände von größter Tragweite gewesen
wäre — jede Aussicht auf einen entsprechenden Wirkungskreis rundweg ab¬
geschnitten worden ist, so daß derselbe, ebenso wie der bedeutende Landschafts¬
maler von Kameele, der Kunststadt Dresden nach kurzem Aufenthalte den
Rücken zu wenden sich veranlaßt fühlte; — zieht man ferner in Erwägung,
daß einer unserer genialsten Künstler, Erwin Oehme (von Sr. Majestät
König Albert aus eigener, selbständiger Entschließung zum Professor ernannt)
als Lehrkraft für die Akademie gar nicht in Betracht gezogen wird, wie auch
sonst jeder außerhalb der Dresdener Sphäre liegende Einfluß consequent fern
gehalten worden ist, so erklärt es sich hinlänglich, weshalb eine gesunde zeit¬
gemäße Entwickelung und ein frischer Aufschwung der Malerei der Dresdener
Schule vollständig abgeht. Die nachtheiligen Folgen davon zeigen sich in
jeder Ausstellung und den Schaden trägt die junge aufstrebende Künstlerschaft.
In unserm letzten Artikel besprachen wir das Annahmeschreiben von
Rutherford B. Hayes, dem Bannerträger der republikanischen Partei,
und mußten zu dem Schluße kommen, daß Hayes in allen Hauptpunkten,
namentlich in der Geld- und Aemterfrage, den dringenden Anforderungen der
Zeit und den gerechten Wünschen der unabhängigen Reformfreunde in hohem
Grade Genüge gethan habe. In ähnlicher Weise, wie Hayes, äußerte sich
auch sein Mitkandidat William A. Wheler. Unterdessen haben wir nun auch
die demokratischen Präsidentschaftskandidaten, Samuel I. Tilden und
Thomas A. Herdriecks, nach langem Zögern die Briefe veröffentlicht,
in denen sie officiell die ihnen angetragene Kandidatur (Tilden für das Prä¬
sidentenamt, Hendriecks für das Amt des Vicepräsidenten) annehmen und
die Grundsätze entwickeln, welche sie, wenn gewählt, zu befolgen gedenken.
Das vom 31. Juli d. I. datirte Annahmeschreiben Tilden's ist sehr
umfangreich, obschon es fast durchweg nur dieselben Punkte berührt, über
die Hayes seine Ansichten kundgethan hatte. Man merkt es den Ausführungen
Tilden's an, daß er sich in einer Lage befindet, die es ihm schwieriger macht,
sich, über manche Fragen so präcis und klar auszudrücken, wie es von seinem
Gegner Hay.es geschehen ist. Tilden ist eben ein Compromißkandidat. Die
demokratische Partei ist in ihrer großen Mehrheit gegen das Hartgeldsystem
und zu Gunsten des uneinlösbaren Papiergeldes, nur eine verhältnißmäßig
geringe Minorität ist sür baldige Wiederaufnahme der Baarzahlung. Um
diese beiden Flügel der demokratischen Partei zu einigen, wurde der Kom¬
promiß eingegangen, den einflußreichen Hartgeldmann Tilden für die Präsi-
dentur und den minder einflußreichen Papiergeldmann Hendricks für das
Vicepräfidentenamt zu ernennen. Es liegt nun auf der Hand, daß es für
Tilden nicht leicht war, sich in der so wichtigen Geldfrage so auszusprechen,
" daß er seine persönliche Meinung aufrecht erhielt und doch der Mehrheit
seiner Partei nicht vor den Kopf stieß. Er mußte eben als politischer Ba-
lancirkünstler auftreten und übernahm auf diese Weise nicht sowohl die Rolle
eines Führers, als die eines Dieners der demokratischen Partei.
Es würde übrigens ungerecht und nicht der Wahrheit entsprechend sein,
wenn man das Annahmeschreiben Tilden's für ein oberflächliches und seichtes
Machwerk ausgeben wollte. Tilden ist ein gewandter und kluger Politiker,
der die Verhältnisse in der Union und die Gefühle seiner Landsleute, nament¬
lich seiner Parteimitglieder, ganz genau kennt. Sein Schreiben ist daher,
obschon es eine Menge trügerischer Sophismen und bestechender Allgemeinheiten
enthält, doch als ein mit feiner Berechnung und Menschen und Zeitumstände
lernenden Scharfsinn abgefaßtes Document zu bezeichnen. Dasselbe tritt
scheinbar, d. h. mit langgewundenen Redensarten und schwülstigen Phrasen,
nicht aber in Wirklichkeit für das Hartgeldsystem in die Schranken. Tilden
erklärt, daß er und die demokratische Platform für Wiederaufnahme der
Baarzahlung seien, und doch verwirft er mit voller Entschiedenheit das von
einem republikanischen Congresse erlassene Gesetz vom 14. Januar 1875, welches
bestimmt, daß jene Wiederaufnahme mit dem 1. Januar 1879 beginnen soll.
Er verwirft dieses Gesetz angeblich aus dem Grunde, weil dasselbe keine vor¬
bereitenden Schritte (wise- xrexarations) enthält. In diesem Punkte hat er
vollkommen Recht; das genannte Gesetz enthält solche „weise Vorbereitungen"
nicht. Aber daraus folgt doch keineswegs die Nothwendigkeit, daß dasselbe
widerrufen werden muß. Es ist immerhin ein erfreulicher Schritt zum Bessern,
daß wenigstens durch das Gesetz vom 14. Januar 1875 ein genauer Termin
fixirt ist, an welchem die so nothwendige und angeblich auch von den Demo¬
kraten herbeigesehnte Baarzahlung wieder beginnen soll. Oder würde es einem
Wechselgläubiger, der die Zahlung eines Wechsels sehnlichst herbeiwünscht,
als passend und zweckmäßig erscheinen, den in diesem Wechsel verzeichneten
Zahlungstag auszustreichen oder zu entfernen und dem Schuldiger die Hono-
rirung nach Belieben zu überlassen? Ist aber außerdem nicht Zeit genug
vorhanden, „weise Vorbereitungen" zur Erfüllung des Gesetzes vom 14.
Januar 1873 zu treffen? Ein das Hartgeldsystem aufrichtig befürwortender
Congreß und ein dieses System ebenso aufrichtig billigender Präsident würden
in einem Zeitraume von länger als zwei Jahren sehr wohl Mittel und Wege
finden, dem verderblichen Papierschwindel ein Ende zu machen und die Baar-
zahlungen mit dem 1. Januar 1879 eintreten zu lassen. Erklärte doch vor
nicht langer Zeit die „Neuyorker Staatszeitung," ein die Kandidatur Tilden's
unterstützendes Blatt, selbst, „daß ein Widerruf des Gesetzes vom 14. Januar
1875, ohne gleichzeitige Annahme einer praktischen Bar¬
zahlung s-Maßregel, ein Sieg der Jnflationisten oder Paplergeldschwindler
wäre. Auffällig, ja, über alle Maßen verdächtigend ist aber der Umstand,
daß gerade die demokratische Partei, welche in ihren Reihen die Anhänger
der Inflation und der Repudiation, d. h. die Vertheidiger des uneinlösbaren
Papiergeldes und des Wortbruchs gegen die Staatsgläubiger der Union,
zählt, nicht müde wird und kein Mittel unversucht läßt, den Widerruf des
Gesetzes vom 14. Januar 1878 durchzusetzen. Hat doch das gegenwärtige
Repräsentantenhaus des Congresses, in welchem die Demokraten in der Mehr¬
heit sind, einen solchen Widerruf bereits beschlossen. In Anbetracht aller
dieser Umstände ist es keinem Zweifel unterworfen, daß, wenn die demo¬
kratische Partei bei der nächsten Präsidentenwahl siegt, sie die Wiederaufnahme
der Baarzahlung selbst gegen den Willen Tilden's, der nur ein Instrument
in ihrer Hand ist, ad e«Iönäa,s Ars-Seas vertagen würde. Doch hören wir,
was Tilden in seinem Annahmeschreiben über den Zeitpunkt der Wiederauf¬
nahme der Baarzahlung zu sagen hat; er läßt sich hierüber u. A. also
vernehmen:
„Der passende Zeitpunkt, die Baarzahlung zu beginnen, ist der Moment,
wenn weise Vorbereitungen die vollständige Fähigkeit haben heranreifen lassen,
das beabsichtigte Ziel mit jener Gewißheit und Leichtigkeit zu erreichen, die
am ersten geeignet sind, das gesunkene Vertrauen zu heben und den Unter¬
nehmungsgeist der Geschäftswelt zu beleben. Je schneller dieses Ziel
erreicht werden kann, desto besser wird es sein. Selbst wenn alle
Vorbereitungen getroffen worden sind, müßten bei Festsetzung des genauen
Datums der Wiederaufnahme der Baarzahlung die bestehende Lage des
Handels und des Credits, im Inlande wie im Auslande, so wie die Wechsel-
curse auf den Wechselplätzen in Betracht gezogen werden. Die specifischen
Maßregeln und die Festsetzung des Tages der Wiederaufnahme sind als
Details der Ausführung von ewig wechselnden Zuständen (Lvei-eliang-
WZ eomtitioniz) abhängig; dieselben gehören in das Gebiet practisch-admini-
strativer Staatswissenschaft (xraetieiü .^äministr^dive se!Msmg,nsI>ii>)."
Aus diesen Worten Tilden's ist deutlich zu erkennen, daß er für seine
Person die Baarzahlung bald angefangen haben möchte; dies sagt er, um
die Reformleute zu gewinnen. Damit er aber auch seine inflationistischen
Freunde befriedigt, fügt er schnell hinzu, daß über die Fixirung der gewünschten
Wiederaufnahme sich kaum etwas Bestimmtes sagen lasse, dies gehöre „in das
Gebiet der practisch-administrativen Staatswissenschaft." Fragen wir aber, was
er etwa unter „practical aÄmilÜZti'g,divo Ltatesmausliip" versteht, so läßt er
uns darüber vollkommen im Zweifel, er empfiehlt nur, was alle Präsident¬
schaftskandidaten unter ähnlichen Umständen empfohlen haben, nämlich:
»öffentliche Sparsamkeit, officielle Einschränkungen und weise Finanzwirth¬
schaft." Dies sind aber nur allgemeine, schönklingende Redensarten, nichts
Anderes. Den einzigen practischen Schritt, der bisher zur Wiederaufnahme
der Baarzahlung geschehen ist, das Gesetz vom 14. Januar 1875, bezeichnet
er als „eine grobe Täuschung O 8nar<z ana äslusiov)." So viel über Tilden's
Bemerkungen in Bezug auf die Geldfrage.
Was Tilden hinsichtlich der Aemterfrage zu bemerken hat, ist noch viel
schwächer. Wie aber die demokratische Partei über diesen zweiten Cardinal-
punkt denkt, dafür liefert die Handlungsweise des gegenwärtigen Repräsen¬
tantenhauses des Congresses eine deutliche Illustration. Wie bereits bemerkt,
sind die Demokraten daselbst in der Majorität, und sie haben nichts eiliger
zu thun gehabt, als, getreu ihrer Maxime: „to tlnz »vietors bslong tke Lxoilg
(den Siegern gehört die Beute)", alle Aemter, über die sie zu verfügen haben,
an ihre Parteigenossen allein zu vergeben.
Auf das Annahmeschreiben von Thomas A. Hendricks näher einzugehen,
ist nicht nöthig. Er stellt sich darin ganz offen auf den einseitigen demo¬
kratischen Standpunkt und tritt als der entschiedenste Gegner des Gesetzes
vom 14. Janur 1875 auf; er verhehlt seine Sympathien für die Jnflatio-
nisten sehr wenig und ist ganz außer Stande, irgendwie von einem höhern
Gesichtspunkte aus die gegenwärtige Lage der Dinge in den Vereinigten
Staaten zu beurtheilen. Während Tilden mit großer Umsicht und Klugheit
und in staatsmännischer Weise seine Ansichten entwickelt, appellirt Hendricks
als ein ganz gewöhnlicher Tagcspolitiker und Demagoge an die Leidenschaften
und Vorurtheile der Wähler. Beide aber vergessen, indem sie die republi¬
kanische Partei für die große Schuldenmasse der Vereinigten Staaten verant¬
wortlich machen, daß die demokratischen Rebellen es in erster Linie gewesen
sind, die durch Beginn des Secessionskrieges zu jener Schulterhöhe die Ver¬
anlassung gaben und daß die demokratischen Repräsentanten im Congresse in
diesem Jahre für die Südstaaten Millionen Dollars als Schadenersatzansprüche
aus eben diesem Kriege anmeldeten. Mit Recht erinnert in dieser Beziehung
ein Aufruf, welchen die deutsch-amerikanischen Republikaner von Chicago
kürzlich an die deutsch-amerikanischen Wähler erließen, daran, daß nach diesem
Borgange zu erwarten steht, daß nach einem demokratischen Nationalsiege
die Kosten der vom Süden der Union begonnenen Rebellion in Form von
Entschädigungsansprüchen des Südens dem Norden aufgebürdet und so die
Steuerkasten ins Unendliche gesteigert werden. „Noch ist die vollziehende
Gewalt in den Händen der Republikaner", so heißt es in diesem Aufrufe,
„und trotzdem sind in dem Städtchen Hamburg in Süd-Carolina Greuel¬
thaten verübt worden, wie wir sie von Bulgarien und Bosnien lesen. Man
lasse die Demokraten in den Besitz der ganzen Regierung gelangen, man
überlasse ihnen die Controlle des öffentlichen Schatzes, den Oberbefehl über
die bewaffnete Macht, — und wir werden Zustände erleben, wie sie vor dem
Nebellionskriege nicht schlimmer und verderblicher waren und wodurch alle
Errungenschaften dieses blutigen Krieges wieder in Frage gestellt würden."
Mit den beregten Ersatzansprüchen stimmen allerdings die von Tilden em¬
pfohlene „öffentliche Sparsamkeit, officielle Einschränkungen und weise Finanz¬
wirthschaft" sehr schlecht zusammen. Und dabei ist es eine Thatsache, daß
die beiden demokratischen Präsidentschaftskandidaten, Tilden und Hendricks,
während des Secessionskrieges stets zu den Freunden der Rebelli n gehörten,
während Hayes als Soldat der Unionsarmee tapfer für die Union kämpfte;
auch spielte der jüngst von den Demokraten im Staate New-Uork für das
Gouverneursamt aufgestellte Horatto Seymour beim Ausbruche des Bürger¬
krieges eine durchaus nicht unionsfreundltche Rolle.
In Anbetracht aller dieser Umstände dürfte Karl Schurz sich nicht im
Unrecht befinden, wenn er über die Eventualitäten der kommenden Präsidenten¬
wahl folgendes Prognostikon stellt: Im Falle des Sieges der Republikaner
ist nachstehendes Resultat zu erwarten: 1. Anwendung des ganzen verfassungs¬
mäßigen Einflusses der Executivgewalt zu Gunsten einer schleunigen Wieder¬
herstellung der Baarzahlungen und Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden
Mehrheit im Congresse; 2. Entfernung der schlechten Beamten aus dem
Staatsdienste und consequente Durchführung des von Hayes entworfenen,
vortrefflichen Civil-Dienstreform-Programms, so weit die constitutionelle Ge¬
walt des Präsidenten reicht; der öffentliche Dienst ist keine Partei-Agentur
mehr, das Beutesystem hört auf, Opposition gegen diese Reform seitens der
Beutepolitiker im ersten Congresse unter Hayes' Administration, aber Zu¬
sammenbrechen dieser Opposition bei den nächsten Congreßwahlen; 3. gewissen¬
hafte Ausführung der Gesetze, verbunden mit einer gerechten, versöhnlichen,
Eintracht und ehrliche Regierung befördernden Politik dem Süden der Union
gegenüber. Im Falle eines Sieges der demokratischen Partei ist da¬
gegen zu fürchten: 1. eine Papiergeldmajorität im Repräsentantenhause des
Congresses; Anstrengungen zu Gunsten einer Baarzahlungspolitik seitens
Tilden's, die aber an der Majorität des Repräsentantenhauses scheitern;
Fortdauer des verderblichen, ungewissen Zustandes der Finanzen auf unbe¬
stimmte Zeit; im Falle des Todes von Tilden und der Amtsnachfolge von
Hendricks allgemeine Confusion und Wiederaufleben der Jnflations- und
Repudiationspläne; 2. Entfernung der schlechten Beamten, aber auch der
guten; massenhafter, unwiderstehlicher Sturmlauf von Aemtersuchern aus dem
Süden und dem Norden der Union; im Wesentlichen Beibehaltung des Beute¬
systems und des Civildienstes als einer Parteimaschine und somit der daraus
entspringenden Demoralisation; etwaige Versuche in der entgegengesetzten
Richtung bleiben dem allgemeinen Andrang der Partei gegenüber fruchtlos;
3. Anregung falscher Hoffnungen bet dem gesetzlosen Elemente im Süden der
Union durch den Parteisieg und Vermehrung gewaltthätiger Excesse nud re-
actionärer Versuche, trotz aller Wünsche der Unionsregierung und des bessern
Theiles des südlichen Volkes, solche zu verhüten.
Schließlich darf nicht vergessen werden, daß ein Sieg der demokratischen
Partei eine Ermunterung für die ultra mondänen Elemente in den
Vereinigten Staaten sein würde, da die Ultramontanen seit längerer Zeit
Nur gelegentlich geschieht es, daß wir in das Blatt „Im neuen Reich"
einen Blick thun, und so ersehen wir erst jetzt, daß Herr Mommsen in Ur. 37
desselben einen Artikel „Abermals zur Abwehr" veröffentlicht hat, der
sich gegen unsre Mittheilungen über den sreiburger und den jenaer Protest
in der Promotionsfrage (Ur. 33) und gegen unsere Auszüge aus der Berge'-
schen Schrift über die römischen Schleudergeschosse (Ur. 35) richtet. Wir
haben weder Zeit noch Lust noch Raum, uns mit diesen Gegenständen aber¬
mals ausführlich zu befassen, und so genüge folgendes Wenige zur Erwide¬
rung und Klarstellung.
Der M.'sche Aufsatz bekundet zunächst, daß die Bemerkungen, mit denen
wir unsre Auszüge begleiteten, und die keinen andern Zweck hatten, als Ver¬
leumdeten und unschuldig Berurtheilten zur Seite zu treten, die verdunkelte
Wahrheit ins Licht zu rücken und von gewissen Unfehlbarkeiten nachzuweisen,
daß sie nicht unfehlbar sind, wohl getroffen und stark erhitzt haben. In der
Verblendung des Zornes verletzten Selbstgefühls mißversteht uns der Ver¬
fasser, in hastiger Hitze übersieht er wesentliche Dinge, legt er uns Aeußerungen
in den Mund, die wir nicht nur nicht gethan, sondern ausdrücklich, wenn
auch nicht gerade in dem ehrfurchtsvollen Tone, welchen Herr M. im Be¬
wußtsein seiner Bedeutung und seines Einflusses erwarten mochte, abgelehnt
haben, vergißt er bisweilen die gewohnte und ihn so schön kleidende Würde,
um sich in Schimpfreden zu ergehen.
Ein Mißverständniß irritirten Verstandes z. B. ist es, wenn Herr M.
in den Schlußworten unseres Aufsatzes über die Promotionen uns die Be¬
hauptung aufstellen läßt, er „habe mit seinem Auftreten gegen gewisse Formen
der Doctorpromotion seinen persönlichen Vortheil im Auge." Das würde
in der That nicht blos „lächerlich", sondern nahezu unbegreiflich von uns ge¬
wesen sein. Aber wir haben daran nicht entfernt gedacht. Wir fragten:
„Sollte bei den Unwahrheiten, welche der Artikel der Pr. Jahrb. über die
Jenenser brachte, außer der moralischen Entrüstung und dem Reformato¬
reneifer über gewisse Ungehörigkeiten etwa auch noch — etwas xro äomo mit
untergelaufen sein?" Was wir damit in Wirklichkeit vermutheten, ist uns
auch jetzt noch nicht erlaubt zu sagen. Einige Leser werden gerathen haben,
daß uns bei dem pro äomo u. A. eine vorzüglich durch Herrschaft einer ge¬
wissen Clique heruntergebrachte Universität vorgeschwebt habe. Wir schweigen
dazu, aber die Zeit zum Reden wird kommen, und dann wird man unsre Aus¬
führung durchaus nicht „lächerlich" und noch weniger „gleichgültig" finden.
Sie wird die Form der Vermuthung dann nicht beibehalten.
Zu den wesentlichen Dingen, welche Herr M. in seiner Ueberreiztheit
übersieht, gehören namentlich unsere Anführungszeichen, die für ihn gar nicht
zu existiren scheinen. Infolge dessen meint er wiederholt, uns in die Schuhe
schieben zu dürfen, was andrer Leute Leistung ist. Ja die Verblendung und
Verwirrung geht so weit, daß sie nicht blos uns. sondern auch diesen Andern
die Worte im Munde verdreht, wo es dann freilich erklärlich wird, wenn der
Abwehrende Pfui ruft, von Jnvectiven und Injurien irre redet, „Gift" und
„Schmutz" erblickt und Herrn Bergl's Angriffe geschmackvoll und „getrost dem
eignen Verwesungsprocesse überlassen zu können" wähnt. Es widersteht uns,
von diesen Unsauberkeiten zu sprechen, doch mag das Aergste, was Herrn M.
hier passirt ist, kurz erwähnt werden. S. 415 wirft er uns entrüstet vor,
von einem Kammerdiener Mommsen gesprochen zu haben, während weder
dieses Blatt noch überhaupt jemand dieses Wort gebraucht und Herr Bergl
nur auf einen Kammerjunker Mommsen angespielt hat, wir aber auch
diesen weit milderen Ausdruck sofort in einer Einschaltung als nicht recht passend
bezeichnet haben. „Wie soll man also jenen Vorwurf charaeteristren?" Wirklich
blos als Hallucination der äußersten fiebernden Aufgebrachtheit? Oder wäre
es die Gewohnheit unachtsamen Lesens und Betrachtens? Oder hätte etwa
das Gewissen des Abwehrenden den Kammerdiener im Kammerjunker gefunden?
Wir hätten bei der unfreundlichen Stellung, die Herr M. zur Wahrheit
einnimmt, fast Neigung, Schlimmeres anzunehmen, nämlich, daß Herr M.
einfach wieder einmal in seinem Interesse bewußt und absichtlich die Unwahr¬
heit gesagt habe.
Im Uebrigen bleibt sowohl was wir in der Promotionssache als was
wir in der Bergl'schen Angelegenheit Andere äußern ließen und selbst äußerten,
einige Nebendinge hinsichtlich der letzteren abgerechnet, nach der M.'schen
Darstellung unverändert bestehen. Herrn M.'s „Abwehr" ist dort ein still¬
schweigendes, hier ein ausdrückliches, wenn auch in allerlei Entschuldigungen
gewickeltes Zugeständniß des Wesentlichen der ihm gemachten Vorwürfe.
Er hat den Freiburgern und Jenensern Dinge vorgeworfen, die nicht wahr
sind, und er hat (beiläufig keineswegs wie Fleischer die Moabitica) den An¬
kauf der pariser Schleudergeschosse empfohlen, die ein Seitenstück zu den
Schwindelfabrikaten der Firma Schapira waren.
Das Bild des Zeus. Von Dr. Ludwig von Sybel. Mit zwei Lichtdruck¬
tafeln. Marburg, Elwcrt'sche Verlagsbuchhandlung. 1876.
Ein Vortrag, den der Archäolog der Marburger Universität, wohl vor
einem größeren Publicum, gehalten hat, aber ein Vortrag, der aus der immer
mehr anschwellenden Masse ähnlicher Erzeugnisse hervorleuchtet, wie ein blanker
Edelstein aus dem Schutt — eine ganz eigenthümliche Leistung, die ich sofort
auf einem Niedersitz zwei Mal gelesen, um hinter das Geheimniß der Kunst
zu kommen, und ein Meisterstück, man mag es betrachten, von welcher Seite
man will. Neben dem Redner haben zwei Zeusbüsten gestanden, die bekannte
Colossalbüste des Zeus von Otricoli und der weniger bekannte schöne archaische
Kopf des sog. Zeus Talleyrand; beide sind dem Schriftchen in Lichtbrücken
beigegeben. Von dem letzteren Kopfe geht der Redner aus. Er leitet den
Beschauer durch eine eingehende Beschreibung zu genauester Betrachtung des¬
selben an, und da dieser Kopf die Elemente verschiedener Stilperioden in sich
vereinigt, knüpft er daran eine Geschichte und Charakteristik dieser Kunststufen.
Dann entwirft er ein Bild von dem Wesen des höchsten Gottes im hellenischen
Volksglauben und verfolgt von den ältesten Zeiten an die bildliche Dar.
Stellung desselben. Bei dem berühmtesten Zeusbilde des Altherthums, dem
Goldelfenbeincoloß des Phidias in Olympia, angelangt, erörtert er die ver¬
schiedenen Zweige der Technik innerhalb der griechischen Plastik, wendet sich
dann zu der Person des Künstlers und führt die sämmtlichen übrigen Zeus¬
darstellungen desselben vor, die dem olympischen Zeus vorausgingen, beschreibt
den letztern aufs anschaulichste an der Hand der alten Schriftquellen und der
in neuerer Zeit zur Reconstruction herangezogenen elischen Münzen und ver¬
folgt endlich von diesem Höhepunkte aus die Wandlungen des Zeusideals
bis zur alexandrinischen Zeit — und da stehen wir vor dem zweiten der
aufgestellten Köpfe, dem Zeus von Otricoli. Also Denkmälerbeschreibung,
Kunstgeschichte, Mythologie, Kunstmythologie, Kunstlehre. Künstlergeschichte,
und abermals Kunstmythologie und Denkmälerbeschreibung im Rahmen eines
einzigen Vortrags, alles in meisterhafter Weise mit einander verflochten, so
daß eins völlig natürlich und ungesucht das andere aufnimmt und von ihm
abgelöst wird, und alles straff auf einen Mittelpunkt bezogen — es ist in der
That ein kleines Cabinetstück, das nicht so leicht jemand nachmachen wird.
Mit so viel Geist hat uns lange Niemand Kunstwerke des Alterthums vor¬
betrachtet, daß wir sie ihm mit so viel Lust nachbetrachten könnten, wie der
Verfasser dieses Schriftchens. Der junge Nachwuchs unserer heutigen Archä¬
ologen glaubt jetzt wunder was zu thun, wenn er mit dem Centimeter-
maße ausmißt, wie viel an einer Statue der Abstand vom linken Ohr¬
läppchen bis zum linken Nasenflügel oder von der rechten Brustwarze bis
zur rechten Achselhöhle beträgt. Hier tritt uns doch wieder einmal Jemand
entgegen, der ein paar gesunde, helle, geistvolle Augen im Kopfe hat. Und
geistvoll wie die ganze Behandlung des Stoffes ist auch die sprachliche Dar¬
stellung. Das Schriftchen trägt vom ersten bis zum letzten Worte das Ge¬
präge eines durchaus eigenartigen Stiles von hoher, mannhafter Schönheit.
Lese jeder dies Heft, der sich einen aparten Genuß bereiten will. G. W.
Mit diesem Hefte beginnt diese Zeitschrift das IV. Quartal ihres
35. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Pofi-
anftaltcn des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 9 Mark.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im September 1876. Die Werlagshandlnng.
Es giebt wohl keine Provinz im ganzen deutschen Reiche, die eine so
reiche, einheimische Literatur aufzuweisen hätte, als das Elsaß. Zählt man
doch die Alsatica nicht nach Hunderten, sondern nach Laufenden von Publi¬
cationen und Monographien, wie das unlängst herausgegebene Berzeichniß
der Straßburger Landes- und Universitätsbibliothek nachweist, welches nicht
weniger als 27.000 Nummern aufzählt. Angesichts dieser zahlreichen lite¬
rarischen Leistungen sollte man meinen, die Geschichte des Elsasses wäre nach
allen Seiten hin auf das Gründlichste erforscht und bekannt. Dem ist aber
nicht also; es bleibt noch unendlich zu thun übrig, und die kontss rerum
^Isiitiea.rum sind bei weitem noch nicht alle durchgegangen und erschöpft. Es
giebt noch manche städtische Archive, welche eine namhafte Anzahl von un¬
gedruckten Documenten aus der Vorzeit enthalten, und die Bezirksarchive von
Colmar und Straßburg sind noch reich an mancher wichtigen Urkunde,
die das Licht der Oeffentlichkeit bis jetzt noch nicht erblickt hat.
Eine bedeutende und bisher noch nicht genügsam für derlei Arbeiten be¬
nutzte Fundgrube bildet das Stadtarchiv von Straßburg. Dasselbe ist sehr
') Straßburgs Blüthe und die volkswirthschaftliche Revolution im Xlil. Jahrhundert.
Rede gehalten bei Uebernahme des Nectorates der Universität Straßburg am 31. October 1874
von Gustav Schmoller. Straßb. Karl I. Trübner. 1875.
Straßburg zur Zeit der ZunMmpfe und die Reform seiner Verfassung und Verwaltung
w XV. Jahrhundert. Rede gehalten zur Feier des Stiftungsfestes der Universität Straßburg
am 1. Mai 1875 von Gustav Schmoller. Mit einem Anhang- Enthaltend d.e Neformat.on
der Stadtordnung von 1405 und die Ordnung der Fünfzehner von 1433. Straßb. Karl
Trübner. 1875. .
,
^ Ist Gottfried von Straßburg (der Dichter) Straßburger Stadtschreiber gewesen ? Eine
Morische Untersuchung von Carl Schmidt. Straßb. C, F. Schmidt'sche Umversttats-Buch¬
handlung. Friedrich Bull. 1876.
^.^^^Straßburger Räthselbuch. Die erste in Straßburg ums Jahr 1505 gedruckte deutsche
Räthselsammlung, neu herausgegeben von A. F. Butsch. Straßb. Karl I. Trübner. 1876.
reich und aus der Katastrophe des Jahres 1870 unversehrt hervorgegangen.
Die beiden ersten der oben genannten Monographien, zwei Rectoratsreden
des bekannten Nationalökonomen Professors Dr. Gustav Schmoller, der-
maligem Rector der Universität Straßburg, beruhen auf den gründlichsten
Quellenstudien im Straßburger Archiv und eröffnen dem Geschichtsforscher
weite Blicke auf ein bisher wenig bekanntes Gebiet. Denn wenn auch im
Allgemeinen die Geschichte der alten Reichsstadt am Oberrhein in ihrer poli¬
tischen Entwicklung ihren wesentlichen Grundzügen nach bekannt war; wenn
für einzelne Perioden dieser Geschichte, wie für die der deutschen Mystik, für
die Zeit der Reformation, für die französische Revolution, ein reiches Material
und vielfache Specialstudien vorlagen, so war dagegen Straßburgs innerliche
Geschichte vom 13. bis zum 13. Jahrhundert in ein gewisses, mystisches
Dunkel gehüllt. Dasselbe in lichtvoller Weise, in edler classischer Form und
gestützt auf deutliche Urkunden, aus denen die Thatsachen sich wie von selbst
ergeben, aufgehellt zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst der vorliegenden
Abhandlungen. Es ist die innere Geschichte der Stadt Straßburg in socialer
und volkswirthschaftlicher Beziehung; es ist die Entstehung ihrer viel gerühmten
und oft bewunderten Verfassung, die Analogie hatte mit derjenigen von Venedig;
es ist das verschlungene Räderwerk ihrer Verwaltungskörper, welche Prof.
Schmoller uns in lichtvoller Darstellung vorführt.
Das alte römische Argentoratum war in den Stürmen der Völkerwan¬
derung untergegangen. Die fränkischen Könige, die im Elsaß sich so oft auf¬
hielten und Paläste wie die Isendurg bei Rufach und Kirchheim, so¬
wie die Kronen bürg, unweit Maßlenheim bewohnten, scheinen, wie die
älteren Historiker behaupten, auch in der Nähe der Trümmer des alten Ar¬
gentoratum, einen Palast in Königshosen besessen zu haben. Daher der Ur¬
sprung einer Pfalz in Straßburg. Die Stadt war auch von alter Zeit her
ein Bischofssitz; die Bischöfe besaßen dort, in der Nähe der von Chlodwig
erbauten, zuerst in Holz aufgeführten Hauptkirche, dem späteren Münster,
einen Frohnhof. Auch andere Gebäude, die zu agrarischen Zwecken dienten,
erhoben sich allmählich. Die Ansiedler, die um die Mitte des zehnten Jahr¬
hunderts sich dort niederließen, waren entweder Beamte des Bischofs oder
Landleute, die dessen Felder bebauten oder endlich Handwerker, welche für die
leiblichen Bedürfnisse des Bischofs und seiner Leute zu sorgen hatten. Bis
um das Jahr 11S0 ist also Straßburg eine Ackerbaustadt; die Häuser darin
sind klein und unansehnlich; jedes hat Scheune und Stallung, Feld und
Garten; zählte man doch im elften Jahrhundert 800 Gartenräume in der
Stadt. Naturalleistungen aller Art hatte sowohl der ackerbautreibende als
auch der gewerbliche Theil der Bevölkerung zu leisten und die Ministerialen
des Bischofs sorgten dafür, daß alle Verpflichtungen zu Gunsten ihres Herrn
gewissenhaft erfüllt wurden. So bietet denn das ältere Straßburg das Bild
einer großen Domänenverwaltung dar und hat einen durchaus agrarischen
Charakter. Doch schon zeigen sich die Anfänge einer freieren Entwicklung der
Gewerbe und die ersten Spuren eines volkswirthschaftltchen Lebens in den
Märkten, welche im Schatten der bischöflichen Kirchen und bei Anlaß großer
gottesdienstlicher Feste entstehen und Handel und Wandel hervorrufen.
Einen mächtigen Antrieb zu neuer Gewerbthätigkeit gaben die Kreuz-
Züge und die Römerfahrten. Neue Bahnen eröffneten sich durch die¬
selben für den Handel; das Rheinthal wird eine Hauptader für den neuen
Verkehr; Köln für den Niederrhein, Straß bürg für den Oberrhein werden
Haupthandelsplätze; die Bedürfnisse aller Art werden größer, die Bevölkerung
wächst und allmählich vollzieht sich auch in der innern Verwaltung und in der
Verfassung der Städte, speciell aber in Straßburg, ein völliger Umschwung.
Die Gewerbe durchbrechen ihre Fesseln; nicht mehr ausschließlich für des
Bischofs Leute, auch für den großen Markt des Lebens arbeitet der Hand¬
werker. Ein neuer Stand entsteht, der das Mittelglied zwischen den Dienern
des Krummstabs und dem Volke bildet, es ist der Kaufmannsstand, dem sich
die übrigen Gewerbetreibenden anschließen. Sie bilden ein neues Element in
der Bevölkerung, das sich durch Intelligenz, Weltkenntniß und Wohlhabenheit
auszeichnet. Das ist die eine Seite der Umgestaltung, die Volkswirth-
schaftliche; die andere ist mehr politischer Art; des Bischofs Diener und
Ministerialen kommen allmählich zur Erkenntniß, daß die Naturalleistungen
durch Geldsteuern ersetzt werden müssen, indem die Physiognomie der Stadt
sich völlig verändert habe und ganz neue Elemente der Bevölkerung zu den
Ackerleuten hinzugekommen sind. Ihre eigenen Interessen treiben sie immer
mehr der Bürgerschaft zu, aus bischöflichen Ministerialen werden sie allmählich
städtische consiliarii, die zwischen Stadt und Bischof vermitteln und auch die
Häupter der Bürger, iMZistri civium, in ihren Rath ziehen. So entsteht
allmählich, durch die Verhältnisse hervorgerufen, ein Stadtrath, um das Jahr
1200; 1214 erkennt Kaiser Friedrich II. denselben, unter der Zustimmung
des Bischofs und 1219 unbedingt an. Die Bischöfe fügten sich in der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in die neuen Zustände und verschafften
den Bürgern manche Erleichterung, wie die Beschränkung der lästigen Wein¬
steuer. Neue Stadtrechte entstehen, 1214 und 1244, die den Bürgern immer
größere Zugeständnisse einräumen. Eine Reaction aber konnte nicht aus¬
bleiben ; der energische und leidenschaftliche Bischof WalthervonGeroldseck
wollte sein altes Recht wieder behaupten und den früheren Zustand der Dinge
wieder herbeiführen. Es kam zum blutigen Kampfe und in der Schlacht von
Hausbergen. 1263, erlangten die Bürger nach heißem Ringen, was sie
schon vorher auf friedlichem Wege erstrebt hatten. Vom Jahre 1300 an
hat sich in Straßburg eine bedeutende Revolution vollzogen und zwar auf
politischem, socialem und volkswirtschaftlichen Gebiete. Aus einer bischöf¬
lichen Stadt ist Straßburg zu einer freien Reichsstadt herangewachsen; aus
einem agrarischen Orte hat sich Straßburg zu einem blühenden Emporium
emporgeschwungen; aus einer unbedeutenden Oertlichkeit, die im 10. Jahr¬
hundert kaum 600 Seelen in sich faßte, ist sie eine wichtige Handelsstadt von
80,000 Einwohnern geworden. Auch ihre Verfassung hat eine Umgestaltung
erfahren: neben dem stolzen Patrizier, dem ehemaligen bischöflichen Ministe¬
rialen, begegnen wir im Rathe der Väter der Stadt auch dem gewichtigen
Kaufherrn und dem wohlhabenden Handwerker, an den in späteren
Zeiten das Regiment übergehen wird. Diese große sociale und volkswirth-
schaftliche Umgestaltung der Dinge fand, wie im übrigen Deutschland, so
auch in Straßburg, von 1150—1300 statt und bezeichnet eine hohe Blüthezeit
der Straßburger Geschichte.
Es bleibt uns nach dieser gedrängten Uebersicht über die Abhandlung
von Prof. Schmoller nur wenig zu bemerken übrig. Eines nur möchten
wir hervorheben, daß unsers Bedünkens die statistischen Ziffern zu niedrig ge¬
griffen sind. Wir wollen zugeben, daß zu Ende des 9. Jahrhunderts die
Zahl der Bewohner des alten Argentoratum 1000—1600 Seelen nicht über¬
schritten habe, obwohl wir auch hier ein Bedenken nicht unterdrücken können —
sagt doch der Dichter Ermoldus Siegellus, der im Jahr 824 zu Straßburg
in der Verbannung lebte, daß deren Schifffahrt, Holz» und Weinhandel be¬
deutend sei;— daß aber, um die Mitte des 12. Jahrhunderts, dieselbe sich nur
auf 4—6000 Seelen belaufen habe, möchten wir stark bezweifeln. Fällt doch
gerade in jene Zeit der gewaltige Münsterbau, an welchem Hunderte von
Steinmetzen und Tausende von Handlangern thätig waren, und der auch für
Handel und Verkehr, für vinetg, et navigis, von hoher Bedeutung war!
Auch eine spätere statistische Angabe, die besagt, daß bei der Kapitulation von
Straßburg im I. 1681 die Stadt nur eine Bevölkerung von 22,121 Men¬
schen gezählt habe, ist trotz der Behauptung des elsässischen Schriftstellers,
Friedr. Karl Heitz, des bekannten Sammlers, den der Verfasser als Gewährs¬
mann anführt, doch nicht über jeden Zweifel erhaben und scheint uns gleich¬
falls zu gering angeschlagen zu sein.
Die zweite Monographie Schmoller's, die gleichfalls als Rectoratsrede
erschien,, schildert uns eine der interessantesten Perioden der früheren Stra߬
burger Geschichte, nämlich die Entstehung des Zunftwesens und die Zunst-
kämpfe in der alten Reichsstadt im vierzehnten Jahrhundert, sowie die Um¬
gestaltung der städtischen Verhältnisse in Verfassung und Verwaltung im
fünfzehnten. Ueber das ehemalige Zunftwesen in Straßburg war bisher
wenig Genaues bekannt; wohl hatte der bekannte elsässtsche Sammler Fnedr.
Karl Heitz im Jahre 1836 unter dem Titel: „Das Zunftwesen in Straßburg.
Geschichtliche Darstellung, begleitet von Urkunden und Ackerstücken," eine
Schrift herausgegeben, die ein reiches urkundliches Material enthält; allein
es war das Zunftwesen der späteren Zeit, das Heitz schilderte, das Zunft¬
wesen, wie es noch wenige Jahre vor der französischen Revolution von 1789
in Straßburg bestand. Der Ursprung und die Gestaltung der Zünfte im
14. und Is. Jahrhundert war aber, für Straßburg wenigstens, so viel wie
unbekannt. Die gediegene Abhandlung, die wir anzeigen, ist wiederum eine
Frucht ernster archivalischer Studien und Forschungen; man fühlt es dem
Verfasser nach, daß er keinen Schritt vorwärts thut, ohne daß er festen ge-
schichtlichen Grund und Boden unter sich hat. Nach seiner Ansicht sind zu
Straßburg, wie auch vielfach anderwärts, die Zünfte aus den bischöflichen
Handwerksgenossenschaften hervorgegangen, und zwar in dem für dieselben
wichtigen Zeitraum von 1130 bis 1300. Zuerst bildeten sich Schwurgenossen¬
schaften und Einungen (eonkr-iternitaetM), die mehr gewerblicher als poli¬
tischer Natur waren. Als dieselben aber das Gewerbegericht und die
Gewerbepolizei an sich zogen und eine Gerichtsbarkeit ausübten, so
bildeten sie eine Corporation, eine Theilgemeinde, die auch an den städtischen
Rathsangelegenheiten sich betheiligte. An der Spitze der Zünfte standen zu¬
erst, ihrem Ursprünge gemäß, bischöfliche Ministerialen oder Patrizier; mit
der Zeit ersetzten dieselben Zunftmeister bürgerlicher Abkunft. Als eine ge¬
werbliche und politische Genossenschaft erscheint uns die Zunft zu Anfang des
16. Jahrhunderts; ihr Wirkungskreis erweitert sich noch in der Folge; es
kommt zu Reibungen Mit dem Adel, der ehemaligen bischöflichen und könig¬
lichen Ministerialität, und da in den gewaltigen Reichskämpfen Bürger und
Zünfte auf kaiserlicher, Bischöfe und Clerus auf päpstlicher Seite stehen, so
spiegelt sich in den Zunftkämpfen im Kleinen der große Kampf der Nation
in damaliger Zeit getreulich ab.
Neben dein gewerbetreibenden Theil der Straßburger Bevölkerung, ^der
später in selbständigen Zünften sich organisirte, finden wir dort ein Patrizmt,
das meist aus Adeligen und reich gewordenen Kaufleuten bestand und den
eigenthümlichen Namen Constofler, eovstabulai-ii, von dem Dienste zu
Pferde führte. Die Constofler waren auch als Genossenschaften constituirt;
sie bekleideten die Ehrenämter in der Stadt, saßen im Rath, versahen den
Wachdienst, trieben die Steuern ein und lebten zuerst in friedlichem Einver¬
nehmen mit der Bürgerschaft. Aus der bischöflichen Ministerialität waren
sie zumeist hervorgegangen und bildeten in Straßburg das aristokratische
Element, das im Besitz der Gewalt war. Um das Jahr 1300 jedoch regt
sich das Selbstgefühl der Handwerker; mit der eigenen Gerichtsbarkeit und'
dem selbständigen Verwaltungsrecht, das jede Zunft besaß, wuchs auch das
Selbstvertrauen der bürgerlichen Elemente, die nun gleichfalls Sitz und
Stimme im Rath begehrten. Dazu kamen noch manche Mißbräuche, welche die
Patrizier sich nach und nach zu Schulden kommen ließen. Sie wurden stolz und
übermüthig, verfielen immer mehr, wie der Landadel, in Raufereien und zeit¬
raubende Ritter- und Turniersptele, vernachlässigten der Stadt Wohl, ja
neckten und quälten vielfach Bürger und Handwerker, wie die alten Chro¬
nisten Closener und Königshoven berichten. Größere Unzufriedenheit
erregte auch der Umstand, daß die Constoster immer herrischer und parteiischer
wurden und daß in Straßburg Niemand mehr ohne Bestechung der Richter
zu seinem guten Rechte kommen konnte. Andere Ursachen kamen noch da¬
zu, so die Wucherzinse, welche die Juden nahmen und die den kleinen Mann
völlig zu Grunde richteten und die religiösen und politischen Bewegungen
und Zeitereignisse. Ist doch die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts die Zeit
der Geißler und Mystiker gewesen; trat doch der Gegensatz der päpstlichen
und weltlichen Gewalt zwischen Friedrich von Oesterreich und Ludwig dem
Bayer gerade damals recht grell hervor. Wie im ganzen Reiche, so gab es
auch in jeder Reichsstadt zwei Parteien; während Bischöfe, Domherren und
Patrizier welfisch gesinnt waren, so war die Loosung der Bürger und Hand¬
werker: Hie Waldungen! In Straßburg kam zu diesen socialen und volks-
wirthschaftlichen Ursachen, welche die Revolution von 1332 vorbereiteten und
erklären, noch ein Umstand hinzu: die Constofler waren uneins unter sich; die
Zorn und Mülnhein, die beiden Hauptadelsgeschlechter der Stadt vertrugen
sich so wenig mit einander, daß der Rath am Rathhause, aus dem Martinsplatz,
zwei verschiedene Ausgänge hatte müssen machen lassen, um dem Unfrieden
zu wehren; die Zunftgenossen hingegen waren einig und standen alle für
einen. Der Anlaß zum Siege des demokratischen Elementes über das aristo¬
kratische war in Straßburg ein ganz zufälliger. In einem lustigen Gelage
in der adeligen Trinkstube der Zorn, im Ochsensteinischen Hof. bricht zwischen
tzü beiden Patrizierparteien Streit aus; derselbe nimmt solche Dimensionen
an, daß die Handwerker mit bewaffneter Hand einschreiten und die Gewalt
an sich bringen. Solches geschah im Jahre 1332 und durch diese Revolution
wurde der Grund zur neuen Verfassung der Stadt Straßburg gelegt. Von
nun an sind die Zünfte durch ihre Schöffen und Vertrauensmänner im
Rathe vertreten; an der Spitze desselben steht jetzt der Ammanm eist er,
das Haupt der Anhaltende, also ein Plebejer, die adeligen Stallmeister
stehen unter -ihm. Doch sind die Constofler aus dem Stadtregiment nicht
ausgeschlossen; ein Drittheil der Stellen kommt ihnen von Rechtswegen zu.
Ein Factor ist in der socialen und politischen Revolution Straßburgs im
Jahre 1332 nicht zu überzusehen, das ist die militärische Tüchtigkeit der
Handwerker. Schon im Jahre 1263 hatten sie davon in der blutigen Schlacht
von Hausbergen eine glänzende Probe abgelegt; seitdem hatten sie sich darin
noch vervollkommnet. Während die Constofler ihre edle Zeit in Streifzügen
und Fehden oder in Turnierspielen zubrachten, die den Verfall des Ritter-
thums bezeichnen, übten sich die Zunftgenossen im Wachdienst, in leiblichen
Uebungen und in treuer militärischer Pflichterfüllung. Gerade das 14. Jahr¬
hundert sah die Tüchtigkeit dieser bürgerlichen, städtischen Kriegerschaaren,
die den Kern der Nation bildeten und in dem Kampfe zwischen Ludwig dem
Bayer und Friedrich dem Schönen den Ausschlag gaben, von Tag zu Tag
wachsen und zunehmen.
Doch kehren wir zu unserem speziellen Gegenstande zurück. Was für
Veränderungen in Verwaltungsangelegenheiten und Verfassungsfragen brachte
die Revolution von 1332 in Straßburg hervor? Genau läßt sich dies im
Anfang nicht bestimmen. Nur so viel läßt sich im Allgemeinen sagen, daß
zu Straßburg vom Jahre 1332 an der Einfluß der „Geschlechter" oder Con¬
stofler immer mehr abnahm und das bürgerliche Element zunahm. Das war
übrigens im übrigen Reiche auch der Fall. Ist doch die zweite Hälfte des
14. Jahrhunderts die Blüthezeit des Städtewesens in ganz Deutschland, die
Zeit, wo Städte und Fürsten im Kampfe um die Gewalt mit einander
rangen. Die Städte, die von 1381 an mit einander Bündnisse gegen die
Fürsten geschlossen hatten, unterlagen schließlich und auch Straßburg mußte
im Jahre 1389 den Landfrieden von Eger mitunterzeichnen und große
Kriegskosten bezahlen. Trotzdem und abgesehen von den großen Landplagen,
die das Elsaß verheerten, wie das Sterbotte von 1349, die Einfälle der „wilden
Engelländer" in den Jahren 1365 und 1376, nimmt Straßburgs politische
Bedeutung von 1332 bis 1392 beständig zu. Eine Hauptursache ihrer Macht¬
entfaltung liegt in dem Institut der Pfahl- und Ausbürger. Eine
wichtige Urkunde darüber erschien gerade in Straßburg im Jahre 1698; sie
hat den gelehrten Archivaren Jakob Wemker zum Verfasser und ist be¬
titelt: vo VtalüburZerls, as Ilsdurggris et KlevendurMris. ^.rZ. 1698.
Die Stadt Straßburg besaß nämlich, wie andere Reichsstädte, das Recht,
auswärtige Bürger auszunehmen, die, wo sie auch immer restdirten, der Stadt
Schutz und Schirm genossen. Die Bauern und Unedlen, die so aufgenommen
wurden, hieß man Pfahlbürger, die Adeligen Ausbürger. Dieses
Recht hatte zwei Seiten, eine Licht- und eine Schattenseite. Wenn einerseits
das Ansehen der Stadt nach Außen hin sich vermehrte, so wurde dadurch
die Stadt andrerseits in manche Fehden verwickelt, welchen nicht städtische,
sondern lediglich Privatinteressen zu Grunde lagen. Kaiser Karl IV. hatte
durch die Goldene Bulle das Psahlbürgerat, das zu vielen Mißbräuchen
Anlaß gab, förmlich aufgehoben. Das Ausbürgerthum aber bestand
bis zu Ende des 14. Jahrhunderts in Straßburg fort und zog der Stadt
einen so verderblichen Krieg zu, daß ihre politische Macht dadurch nach Außen
hin aufs Tiefste erschüttert wurde. Wegen der ungesetzlichen Gefangennahme
eines englischen Ritters Harleston durch Herrn Bruno vonRap voll¬
st ein, einem straßburgischen Ausbürger, wird die Stadt in einen Krieg ver¬
wickelt, der ihr die Reichsacht und 1392 eine Belagerung zuzieht. Zuletzt
muß sie doch nachgeben und sich mit schwerem Gelde loskaufen. Den mate¬
riellen Schaden, den Straßburg damals erlitt, schätzt Professor Schmoller auf
1 Million Goldgulden, eine damals sehr hohe Summe, die die finanzielle
Lage der Stadt sehr gefährdete. Bon jener Zeit an giebt Straßburg die
Ausbürgervolttik mehr und mehr auf; dieselbe hatte ihr wohl Glanz und
Ruhm, aber im Ganzen wenig innere Kräftigung gebracht.
Was nun die innere Lage der Stadt seit der Revolution von 1332 und
derjenigen von 1349 betrifft, so läßt sich nicht leugnen, daß auch das neue
demokratische Regiment seine großen Schattenseiten hatte. Es läßt sich nicht
verkennen, daß die Zünfte, deren Zahl damals zwischen 20 und 28 schwankte,
die Macht der Constofler völlig zu brechen suchten, indem sie jeden Patrizier
zwangen, irgend einer Zunft sich anzuschließen. Man bildete oft Zünfte,
die aus Handwerkern bestanden, die keine Verwandtschaft mit einander hatten,
wie die Oelmutter und Tuchscheerer; man nahm Mitglieder auf, die auch zu
einer andern Zunft gehörten; die Zünfte bildeten jede für sich eine Theil¬
gemeinde, die ziemlich unabhängig dastand. Wohl waren die Zünfte auch
im Rath vertreten, aber auch hier war keine feste Ordnung. Aus einem
kleinen Rathscollegium von 8—12 Mitgliedern, wie er ums Jahr 1200 ge¬
wesen, war der Rath bis zu 56 Mitgliedern im Jahr 1349 angewachsen.
Als Regierungsbehörde war dieser zahlreiche Rath geradezu unbrauchbar, be¬
sonders auch darum, weil der Ammeister jedes Jahr neu gewählt wurde und
die 4 Stallmeister ihr Amt als Rathsvorsitzende nur ein Vierteljahr lang
ausüben durften. Ueberall entstanden Klagen, besonders von Seiten der
Constofler, von denen im Jahre 1419 ein Theil die Stadt verließ. Auch das
Finanzwesen war übel bestellt; es fehlte an ständigen, besoldeten Beamten,
an Controle, an einem geregelten Geschäftsgang. Aus allen diesen Gründen
war eine Reorganisirung des Staatswesens, eine feste Ordnung in der Ver¬
waltung unumgänglich nöthig geworden.
Das Jahr 1403 ist ein klimaterisches in der Verfassungsgeschichte der
Stadt Straßburg zu nennen. In demselben fand die Revision der Stadt¬
ordnung statt, die bisher ungedruckt und, so zu sagen, unbekannt im Stadt¬
archiv sich befand und durch deren Veröffentlichung Herr Professor Schmoller
sich die größten Verdienste um die elsässtsche Literatur erworben hat. Ganz
neue Aufschlüsse und Einblicke in jene mittelalterliche Periode gewährt uns
dieses interessante Schriftstück, das der Verfasser als ersten Anhang zu seiner
Monographie herausgiebt; er resumirt durch ein kurzes Summarium jeden
Paragraphen, was die Uebersicht und das allgemeine Verständniß des Doku¬
mentes wesentlich erleichtert. Aus dieser Urkunde entnehmen wir die successiven
Veränderungen und Vervollkommnungen der Straßburger Constitution vom
Jahre 1405 an bis 1482, wo sie ihre vollendete Gestalt erhielt. Folgende
Punkte sind die wichtigsten: Im Patriziat findet eine Scheidung statt; von
1419 an theilen sich die „Geschlechter" in gehorsame und widerspenstige;
die getreuen Constofler, 89 Familien, bleiben im Verband des neuen Staats¬
lebens, die anderen ziehen aus und fallen dem Landadel und den Fürsten zu.
Das war eine politische Nothwendigkeit, hervorgerufen durch die neue Sach¬
lage. Der Ammeister behält äußerlich Ehren und Würden, wie auch der
große Rath und die Schöffenversammlung, allein im Staatsmechanismus
entsteht, neben der wechselnden Negierung ein beständiges Regiment,
das im Grunde im Besitz der Gewalt ist, und alle Angelegenheiten der Stadt
leitet. Es sind dies die drei geheimen Stuben der Dreizehner (XIII),
Fünfzehner (XV) und El nun d zwanz i g er (XXI). Der Ursprung
der Dreizehner fällt ins Jahr 1392; da wurde, in kriegerischen Zeiten, eine
Commission von neun Mitgliedern, die sog. Nenner ernannt, die das Kriegs¬
wesen zu leiten hatten, und zwar unabhängig vom großen Rathe. Aus
derselben heraus entwickelte sich mit der Zeit ein ständiges Negierungscollegium,
bestehend aus 4 Constoflern. 4 Altammeistern und 4 Handwerkern und dem
regierenden Ammeister. Dieses Kollegium, dessen Mitglieder lebenslänglich
ernannt waren und dem der jeweilig amtirende Stallmeister prästdirte, hatte
die Befugnisse, man erlaube mir einen modernen, aber adäquaten Ausdruck,
eines Ministeriums des Aeußern und des Krieges. Ein Dreizehner konnte
in jedes beliebige Amt der kleinen Republik, als Ammeister, Stallmeister oder
Rathsherr gewählt werden, ohne deshalb seine Stelle zu verlieren. Nur die
Kammer der Fünf zehn er war ihm verschlossen. Dieses städtische Ver-
waltungscollegium entstand im Jahre 1433 und entsprach einem inneren Be¬
dürfniß. Wohl waren Ordnungen und Gesetze in der Stadt; Niemand aber
controlirte, ob dieselben auch treu gehandhabt würden, denn der frühere Rath
übte zugleich mit der gesetzgebenden auch die vollführende Gewalt aus. Eine
Art Staatsrath, ein oberster Gerichtshof war demnach nothwendig geworden.
Aus dieser Idee entsprang die Entstehung der Fünfzehnerkammer, die, in
vollständiger Trennung von der bestehenden Verwaltungsbehörde, kein Mit-
glted aufnehmen sollte, das ein öffentliches Amt bekleidete. Dieses Collegium
bestand aus S Constoflern und 10 Handwerkern und ergänzte sich selbst; nur
wer 33 Jahre zurückgelegt hatte, durfte darin sitzen; die Mitglieder waren
lebenslänglich ernannt und bildeten eine weitere Abtheilung des beständigen
Regiments. Die Fünszehner waren die Wächter des Gesetzes und die Bürgen
der Verfassung; sie schlugen auch die neuen Gesetze vor und beriethen sie
durch und wurden so nach und nach die Gesetzgeber Straßburgs. In der
Folge erweiterte sich ihre Competenz und alle inneren Angelegenheiten der
Stadt waren ihnen unterstellt, so daß sie, als Ergänzung des Dreizehner-
collegiums, ein Ministerium des Innern bildeten.
Herr Professor Schmoller fügt als zweiten Anhang seiner gediegenen
Abhandlung die bisher ungedruckte Ordnung der Herren, der Fünf¬
zehn, aus dem Jahre 1433, bei. Das Original derselben existirt zwar nicht
mehr, dafür standen aber dem Herausgeber drei Copien aus dem 16. und
17. Jahrhundert zur Verfügung. Die erste befindet sich im Straßburger
Stadtarchiv und trägt die Jahreszahl 1660; die zwei anderen sind in der
werthvollen Heitz'schen Sammlung enthalten, die den Grundstock der alsatischen
Abtheilung der Universitäts- und Landesbibliothek von Straßburg bildet.
In diesem „Brief", wie er in der Urkunde genannt wird, sind alle Attri¬
bute und die Competenz dieser Kammer auf das Genaueste und Sorg¬
fältigste aufgezeichnet.
Ein drittes Collegium entstand zu Straßburg in der ersten Hälfte des
13. Jahrhunderts, das war dasjenige der Einundzwanziger (XXI).
Der Ursprung dieser Körperschaft war folgender: In einem Berichte, der im
Straßburger Stadtarchiv sich vorfindet, und den Herr Professor Schmoller in
seinen archivalischen Forschungen vorgefunden hat, ward auseinandergesetzt,
wie ungünstig die jährliche Erneuerung des Raths auf den Geschäftsgang
wirke, da viele Rathsherren der öffentlichen Angelegenheiten unkundig wären,
darum sei es rathsam, den Rath jährlich nur zur Hälfte zu erneuern.
So dauerte das Rathsmandat zwei Jahre. Zugleich kam die Sitte aus,
daß in allen wichtigen Fällen der Rath nach seinen „alten Freunden"
schickte, um dieselben zu befragen. Diese „alten Freunde" waren ein Ausschuß
verdienstvoller und staatskundiger Männer, die ursprünglich den Münsterbau
zu beaufsichtigen hatten. Sie waren für fünf Jahre gewählt; wer wieder
gewählt wurde, der wurde als lebenslängliches Mitglied dieses Rathes der
„Alten" angesehen. Die Zahl der Einundzwanziger schwankte oft zwischen
20 und 30; die meisten unter den Dreizehnern und Fünfzehnern waren in
dieser Kammer, die also, genau genommen, eine Verschmelzung der Mitglieder
des „beständigen Regiments" war. Keine wichtige Angelegenheit wurde ohne
Zuziehung der XXI ausgeführt und beschlossen und dieselben besaßen die
wirkliche Staatsgewalt, die der große Rath nur nominell ausübte. „Räth
und XXI" ist auch die gewöhnliche Eingangsformel der alten Straßburger
Rathsbeschlvsse und Verordnungen.
Mit der Entstehung und Consolidirung der drei geheimen Stuben, die
das beständige Regiment bildeten, war zu Straßburg das Werk der Ver-
fafsung, das 1482 vollendet ist, abgeschlossen. Nach Außen hin vertreten
Ammeister, Stallmeister und Rath die Stadt, nach Innen üben die eigent¬
liche gesetzgeberische und vollziehende Gewalt die drei angegebenen Raths-
eollegien aus.
Hand in Hand mit diesem Aufbau der Constitution nach Oben, ging
auch eine schärfere Abgrenzung der Aemter und ihrer hierarchischen Abtheilung
nach unten. In der Justiz und innern Verwaltung entstanden gleich¬
falls Neuerungen von ebenso großer Bedeutung und Wichtigkeit als die
konstitutionellen Reformen. Zunächst erlangte die Stadt Straßburg, die die
Eingriffe der Westphälischen Vehmgerichte standhaft zurückgewiesen hatte, die
Vergünstigung, daß das Dreizehnereollegium als delegirtes Organ des Reichs¬
kammergerichts von Speyer functioniren durfte. Die Criminaljustiz behielt
sich der große Rath vor, die Civiljustiz ging in den meisten Fällen auf den
kleinen Rath und die drei städtischen Niedergerichte über. Gegen 1433 ent¬
stand auch ein eigenes Polizeigericht, die sog. Siebenzüchtiger, dessen
Mitglieder „sieben erbare man" waren, welche die Stadtpolizei unter ihrer
Aufsicht hatten. Unter ihnen standen die zwei Siebenerknechte, die
nebst'den Ammeisterknechten gefurchtere Persönlichkeiten in der Stadt
waren. Die Siebenerknechte waren die Chefs der sulbalternen Polizei; unter
ihnen und den Ammeisterknechten standen die Thurmhüter, die Wächter und
die Söldner der Stadt.
Auch in der Verwaltung fanden von 1405 an große Verbesserungen
statt. Wohl finden wir in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts einzelne
selbständige Verwaltungsbehörden, wie die Dreier vom Pfennigthurm, den
Kaufhausverwalter, den Lohnherrn, den Rentmeister u. a. in.,
allein die Competenzen derselben sind nicht genau bestimmt. Von 1405 an
wird das anders, es wird die Stadtverwaltung eine geordnete und geregelte.
Die Amtleute d. h. Beamte der Stadt werden besoldet und müssen jede
Woche ihren Kostbrief, das heißt ihr Ausgabebuch, vorlegen und ein Buch
über ihre Einnahmen führen; ihre eigenen Gehälter werden fixirt, die viel¬
fachen Aenderungen im Dienstpersonal hören auf. Die wichtigsten städtischen
Aemter im 15. Jahrhundert waren: die Dreier vom Pfennigthurm, die
das Finanzwesen der Stadt unter ihrer Aufsicht hatten, der Lohnherr, der
über das städtische Bauwesen gesetzt war, der Kaufhausverwalter, der
über das Steuerwesen die Aufsicht führte, unter ihm standen die sog. Um-
gelder und Zöller, die aber mehr von den Dreiern abhingen; die
Münzherren, die Stallherren, welche die Einkommensteuer einzogen,
die Zinsmeister, der Armbrustmeister und der Kranichmeister be¬
kleideten gleichfalls einflußreiche Stadtämter. Schließlich erwähnen wir noch
die Stadtschreiber, deren Ansehen vom I. 1500 an bedeutend wuchs.
So gestaltete sich der Organismus der Straßburger Verwaltung zu
einem lebensvollen, festgegliederten Ganzen, dessen Theile harmonisch in ein¬
ander griffen und zusammenwirkten. Daß diese Reform der Verfassung und
Verwaltung auf alle Zweige und Gebiete des öffentlichen Lebens einen tiefen
und heilsamen Einfluß ausübte, liegt auf der Hand. Wie das Zunftwesen
in Straßburg insbesondere davon berührt wurde, schildert der Verfasser in
kurzen Zügen. Die Zünfte waren sowohl im großen als auch im kleinen
Rath und in den drei Rathscollegien vertreten; darum wurde die Autonomie
der einzelnen Zunft in politischen Dingen immer beschränkter. Von 1441
an werden die Zunftordnungen revidirt und dem Rathe vorgelegt, und die
Zünfte müssen diese revidirten Ordnungen beschwören. Künftighin soll keine
Zunft mehr Steuern erheben und Schulden machen, ohne Wissen und Willen
des Raths. Die Fünfzehnerkammer übte dazu noch eine Controle über die
Zünfte aus und bildete in streitigen Fällen die Reeursinstanz. Ferner
wurde die Zahl der Zünfte in Straßburg von 28 auf 20 herabgesetzt. Die
Zunft bekam auch, vom 16. Jahrhundert an, eine ganz andere Gestaltung
als früher; sie streifte ihren politischen Charakter immer mehr ab, um dem
gewerblichen Platz zu machen. Das 16. Jahrhundert sah in Folge der Ent¬
deckung des Schießpulvers, der Erfindung der Buchdruckerei und dem Ge¬
brauch des Compasses neue Industriezweige und Gewerbe entstehen. Die
gewerbliche Thätigkeit der Zunft entwickelt sich immer mehr; das Lehrlings¬
und Gesellenwesen, die Jahre der Wanderschaft, die Verfertigung von Meister¬
stücken bilden von nun an die Hauptstadien und Elemente des Zunftwesens.
Die Hauptwirkung dieser Umgestaltung war die Entstehung eines tüchtigen
Mittelstandes, der in behaglichem Wohlstand lebte, ohne sich um der Fürsten
Händel viel zu bekümmern und die edlen Künste des Friedens pflegend.
Wenn wir, am Schlüsse der gediegenen Abhandlung des Herrn Professor
Schmoller angelangt, nochmals die socialen und politischen Verhältnisse des
alten Straßburg überblicken, so ergiebt sich für den Geschichtsforscher, wenn
er den harmonisch gegliederten Organismus des damaligen Straßburger
Staatswesens sich vergegenwärtigt, das Bild einer idealen Republik, wie
dieselbe Plato beschrieben hat und wie Erasmus in seinem bekannten
Briefe in einer begeisterten Lobeserhebung sie geschildert. Dem^ne viäedam
mollarodiam aksgus t^lnmüäe, aristooratiam Lins tkotionibus, äemooratiam
sine wlnultu, opes absguö luxu, kslieitg-wu akLMö xroeaoitÄts. HuiÄ b.g,o
darmoma eogitari potsst telieius? Adipan in nujusmoäi remMblieam, alpine
tibi eontigiWöt illciÄLre! die nilnirum, Kio lieuisset Mo tuam oivi-
tawm verekslieem instituore.
Freilich wirkten auch bedeutende Persönlichkeiten, wie ein Gener von
Kaysersberg, ein Jakob Wimpfeltng, ein Sebastian Braut, ein
Jakob Sturm von Sturmeck, ein Martin Butzer, ein Wolfgang
Capito und Andere mit, um Straßburg im Zeitalter des Humanismus und
der Reformation auf die Höhe zu bringen, die es erreicht hat. Daß aber
solche Männer auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens sich vorfanden, die
neben den materiellen Wohle der Stadt auch treue Pfleger ihrer geistigen Güter
waren, das ist ein Segen der alten Zeit, die dem Patrizierstand in der Stadt¬
verwaltung noch eine Stelle ließ und dem Bügerthum dadurch edle Kräfte
zuführte. Daß auch durch gelehrte Anstalten, wie das Thomasstift eine war,
das geistige Leben reiche Nahrung erhielt, ist ein bekannte Thatsache. Die
Väter der Stadt hatten Sinn für höhere Bildung und Geistesarbeit; aus
diesem Sinn ist das Gymnasium und die Hochschule Straßburgs hervorge¬
gangen, die als deutsche Universität im Jahre 1871 in verjüngter Gestalt
wieder erstanden ist und in anderer Form die Traditionen der Vergangenheit
und die Arbeiten früherer Jahrhunderte fortsetzen will.
Somit wären wir am Schlüsse der gediegenen Monographien von
Professor Schmoller angelangt. Drei Punkte wollen wir aus denselben
noch hervorheben. Wir erhalten einmal dadurch ein Bild von dem mittel¬
alterlichen, bisher in mystisches Dunkel eingehüllten Straßburg, das an Klar-
heit und lebendiger Anschaulichkeit wenig zu wünschen übrig läßt; zum Andern
bekommen wir über die Entstehung und die Competenz der drei Rathscollegien
der XIII, XV und XXI die bestimmtesten Aufschlüsse. Viel ist über diesen
Gegenstand schon geschrieben worden; im Allgemeinen war der Mechanis¬
mus derselben auch bekannt; viel unklare Vorstellungen herrschten aber darüber,
hauptsächlich aus dem Grunde, weil die alten Ordnungen derselben nicht ge-
hörig bekannt waren. Das ist aber das dritte und nicht das geringste
Verdienst des geehrten Verfassers, daß er zwei der wichtigsten Urkunden des
alten Straßburg, die Reformation der Stadtordnung von 1405
und die Ordnung der Fünfzehner von 1433 veröffentlichte. Dieselben
werfen ein ganz neues Licht auf die mittelalterliche Periode der Stra߬
burger Geschichte. Möchten wir, und das ist der Wunsch, mit dem wir
schließen, noch recht oft mit ähnlichen Abhandlungen aus der Feder des
Straßburger Nationalökonomen erfreut werden! Möchte jede Rectoratsrede
er Straßburger Universitätslehrer einen solchen Beitrag zur gründlichen
Kenntniß der elsässtschen Geschichte liefern, wie die beiden angezeigten Schriften,
die einen ehrenvollen Platz in den Quellen und Forschungen zur
Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker ein¬
nehmen.
In der ersten angezeigten Monographie von Prof. Schmoller „Stra߬
burgs Blüte u. f. w. im XIII. Jahrhundert" heißt es S. 28, es sei ein
Ruhm der Stadt gewesen, Leute in ihrem Dienst gehabt zu haben, wie den
Dichter Gottfried, den Stadtschreiber von Straßburg. Das giebt uns Ver¬
anlassung von einer kleinen historischen Schrift zu sprechen, die den gelehrten
Straßburger Forscher, Professor CarlSchmidt, zum Verfasser hat. Derselbe
hat kürzlich die kritische Frage untersucht: Ist Gottfried von Straß,
bürg (der Dichter) Straßburger Stadtschretber gewesen? Seit
Hermann Kurz, der bekannte Literarhistoriker, in Pfeiffer's Germania,
sich in diesem Sinne ausgesprochen hatte, galt es als unumstößliche That¬
sache, daß Gottfried von Straßburg Stadtschreiber gewesen war. Worauf
aber gründet sich die Vorausetzung von Kurz? Auf zwei Urkunden von 1207,
welche König Philipp von Straßburg aus dem Markgrafen Azzo von Este
ausstellte. In diesen beiden Documenten, die Kurz nach Lunig (Loäex
Iwliae llixlomatieus) citirt, kommt unter den Zeugen, die dieselben unter¬
schrieben haben, HoÄökreüus Kocielarius Ah ^rAsutwu, vor, das gewöhnlich
auf Gottfried von Straßburg bezogen wird. Das Rodelarius wird dabei
als synoym von Rotularius aufgefaßt; Rödel ist aber die deutsche Form
des lateinischen rotu 1 us. Rodelarius oder Rotularius könnte aber möglicher¬
weise, obwohl es sonst selten in dieser Form vorkommt, gleichbedeutend mit
Schreiber sein. Nun aber erhebt sich eine eigenthümliche Schwierigkeit; der
gelehrte Muratori, der diesen Text am ersten im Jahre 1717 veröffent¬
lichte, hat die Lesart Radelarius; daraus hat Lunig Rodelarius und
später Grandidier Stadel arius, den Stadel er, den Aufseher der bischöf¬
lichen Scheunen gemacht. Um sich aus diesem Chaos von Lesarten eine Gewi߬
heit zu verschaffen, hat Professor Schmidt Nachforschungen im Archiv von
Modena angestellt; aus denselben geht hervor, daß die Originale beider
Urkunden zwar nicht mehr eristiren, dagegen aber eine Copie aus der Mitte
des 15. Jahrhunderts; in derselben steht aber weder Radelarius, noch
Rodelarius, noch Rotularius, noch Stadelarius, was alles fal¬
sche Lesarten sind, sondern Koäetnäus ^iäklarius 6s ^rMlltma. Professor
Schmidt ist geneigt das Zidelarius als einen adeligen Geschlechtsnamen
anzunehmen, um so mehr, als um jene Zeit zu Straßburg mehrere Ritter
vorkommen, die den Namen Cidel arius führen. Aus der ganzen Beweis¬
führung des gelehrten Straßburger Geschichtsforschers geht zur Genüge hervor,
daß die Annahme, Gottfried von Straßburg sei im Jahre 1207 Stadtschreiber
gewesen, historisch nicht begründet ist. Zu den angeführten, mehr formalen
Gründen kann man unsers Bedünkens auch den Umstand hervorheben, daß
die Anfänge des Straßburger Rathes erst in das Jahr 1212 gehen, und daß
zu jener Zeit, wenn überhaupt damals ein Stadtschreiber zu Straßburg
existirte, derselbe damals keineswegs zu den bedeutenden Persönlichkeiten der
Stadt gehört haben wird, wie dieses später der Fall war. Schließlich bemerken
wir zu der angegebenen gehaltvollen Broschüre von Prof. Schmidt, daß auch die
beiden Wappen merkwürdig sind, die die Decke derselben zieren. Dasjenige
auf der Vorderseite stellt sechs flache Hände oder Ritterhandschuhe dar, drei
oben, zwei darunter, die dritte ganz unten, in Form eines umgekehrten
Dreiecks; es ist das Wappen, das Herr Dietrich, äietus OiäölariuZ, Vogt
zu Dofsenheim im I. 1246, in seinem Siegel führte. Das andere Wappen,
auf der Rückseite der Decke, welches das ex-lidris des Herrn Professor
Schmidt ist, stellt das Ligillum durssusium ^.rsentmönsis eiviwtig dar, und
ist das älteste Straßburger Stadtwappen.
Die letzte Schrift, die wir hier besprechen wollen, ist eine bibliographische
Rarität, die ein verdienstvoller Augsburger Sammler. Herr A. F. Butsch,
das Glück hatte aufzufinden und das Verdienst, neuerdings herauszugeben.
Herr Butsch hat der historischen und wir können sagen, speciell der elsässt-
schen Literatur, denselben Dienst geleistet, wie Professor Carl Schmidt aus
Straßburg durch die Herausgabe der Roos, Sörmam^ von Thomas Mur¬
ner. Von dem Straßburger Räthselbuch, das in den ersten Jahren des 16.
Jahrhunderts erschien, (Herr Butsch setzt dessen Ursprung in das Jahr 1605)
eristirte ein Exemplar auf der früheren, im Jahre 1870 untergegangenen
Bibliothek von Straßburg. Der Titel der alten Schrift, die ohne Vorrede
und Zeitangabe zu Straßburg erschien, ist folgender: Wölchem an Kürzweill
thet zerrinden (mangeln) Mag woll diß büchlin durchgrynden. Er findt da¬
rin vit kluger ter. Von Rettelsch (Räthseln) gedicht und vit nuwer mer.
Getruckr zu Straßburg. 24 Blätter in 4. Das Exemplar von Herrn Butsch
ist eines der äußerst seltenen der ersten Auflage, denn von diesem Räthsel¬
buche, das ein sehr gelesenes Volksbuch gewesen zu sein scheint, erschienen
viele Nachdrücke. In einer Einleitung giebt der gelehrte Herausgeber
einige interessante Notizen über das Räthselbuch, sowie einige allgemeine
Bemerkungen über das Wesen und die Bedeutung des Räthsels überhaupt.
Wenn wir nun zum Inhalt dieses Räthselbuches, das wohl eines der
ältesten in Deutschland sein dürfte, übergehen, so finden wir darin 336
Räthsel vor. Dieselben sind, bis auf die 22 ersten, in gewisse Rubriken ein¬
getheilt, nämlich: Von Gott (23 — 33). Von den Heyligen (36 — 42). Von
dem Gebet (43 — 50). Von Wasser (51 — 65). Von treck (66 — 91). Von
vogeln (92 — 104). Von Fischen (105 — 110). Bon Hunden (111 — 212).
Von den Handwerken (213 — 241). Von dem Hymmell (242 — 255). Von
dem erdtreich und Landen (256 — 264). Von den Menschen (265 — 325).
Von den Buchstaben und schrifft (326 — 366).
Diese Rubriken haben unter sich keinen innern Zusammenhang; in
manchen kommen Räthsel vor, die zu der Inschrift in gar keiner verwandt¬
schaftlichen Beziehung stehen, wie z. B. von den Hunden. Was nun die
Form des Räthsels anbetrifft, so wird dasselbe gewöhnlich eingeleitet durch
das Wort: Rot (Rathe), oder auch Ein frag oder auch Item, darauf
erfolgt die Antwort. Meist ist die Frage in Reime gefaßt, die Antwort
hingegen nie. Die meisten dieser Räthsel scheinen im Elsaß selbst entstanden
zu sein und waren wohl mehr oder weniger Witzworte aus dem Kloster-
und Volksleben entnommen, wie ja in älterer Zeit mehr gesunder Humor
als jetzt in allen Schichten der Gesellschaft zu finden war. Es ist also eine
Sammlung von solchen Redensarten in Form von aufgegebenen Fragen,
der wir in diesem Straßburger Räthselbuche begegnen. Einige dieser Räthsel
sind wirkliche bovs mots, andere drollige Späße, mitunter kommen auch, wo¬
rin es bekanntlich unsere Väter nicht so genau nahmen, triviale und schmutzige
Ausdrücke und Vergleichungen vor. Der Dialekt, in dem diese Räthsel ge¬
schrieben sind, ist der alemannische, alt elsässische, von dem sich im Elsaß bis
auf den heutigen Tag Spuren erhalten haben, z. B. Dottenlad (Sarg),
noch jetzt sagt man im Elsaß an vielen Orten Todtenbaum, Karch ist
noch heute der landesübliche elsässische Ausdruck für Karren oder Wagen;
desgleichen sagt man noch Kiffel für Kiefer, Morn für Morgen, Streit
für Kamm, Zehre für Essen, Weckolter für Wachholder u. s. w. Ein
uralter Straßburger Euphemismus, Sprochhus für Abtritt, kommt auch
in dieser Räthselsammlung vor. Der Herausgeber derselben fügt dem Büch¬
lein ein Wo rtverzeichniß bei, in welchem er die schwierigen Ausdrücke
erklärt. Bei einem Worte Feysten, Räthsel 120, hat er dies zu thun
unterlassen. In sprachlicher Beziehung bemerken wir jedoch, daß hie und da
auch ein anderer Dialekt als der alemannische, nämlich der fränkische vor¬
kommt. So z. B. sind Hot für hat, hon für haben, keine elsässischen Sprach -
formen, denn im Elsaß sagt man wie früher, so jetzt noch het für hat und
hen für haben.
Auch in eulturhistorischer Beziehung hat das Büchlein seinen Werth.
Es weiht den Leser in manche Sitte und alte Volksanschauung ein, und
deutet uns an, wie man in Städten und Klöstern, im Haus und auf dem
Markt, dachte, fühlte und redete.
Schließlich sei noch hervorgehoben, daß der Herausgeber dieser Räthsel¬
sammlung an Herrn Karl I. Trübner in Straßburg, bei welchem auch die
Schmoller'schen Abhandlunden erschienen sind, einen intelligenten Verleger
gefunden hat. Eine bibliographische Seltenheit wird jedoch die Straßburger
Räthselsammlung von 1605 auch ferner bleiben, da die gegenwärtige Auflage
Wir befinden uns mit dem Folgenden wieder einmal auf dem Gebiete
des alten Glaubens und der alten Sitte, von denen jener auch als Aber¬
glaube bezeichnet wird, und die beide mehr oder minder ein Nachhall der
Zeiten sind, wo die Deutschen noch Wuotan, den Himmelsgott, Donar, den
rothbärtigen Wetterherrn, und die fruchtspendende Erdmutter verehrten, die
in den nördlichen Gauen Heile, Flink oder Holda, im Süden Perchta hieß.
Veranlaßt werden wir zu diesen Betrachtungen dadurch, daß wieder einmal
die Ernte im Gange und nahezu vollendet ist. Langsamer Schrittes stieg
sie vom Süden nach Norden und hier bei uns wieder von der Ebene nach
dem Gebirge hinauf — in Thüringen von der Goldner Ane bis nach Ober¬
hof, wo im Winter der Schnee zwölf Fuß hoch liegt, und von den Feldern
um Stadt Ilm bis zum Knie des Schneekopfs über Marchand, wo wir
dieses Jahr in der Mitte des September noch Weizen und Hafer ein¬
bringen sahen.
Auf den Aeckern schnitten Sense und Sichel den weißen Roggen, um
dann auch den röthlichen Weizen und die borstige Gerste — die älteste Getreide¬
art auf deutschem Boden, nach welcher einst Fro, der Erntegott, den gold¬
borstigen Eber zum Attribut bekam— von rüstigen Armen geschwungen, dar¬
niederzulegen. Wir sahen die Schwaden fallen, die Garbenbinderinnen ihre
Mandeln schichten, die Erntewagen hochgethürmte Fuder der Scheune zu¬
führen. Was die nicht faßte, bildete unter freiem Himmel mächtige Mieter
und Feine. Ueber das Stoppelfeld hin aber ging mit den Vögeln die Schaar
der Dorsarmen, die gleich jenen nicht säet und doch ernährt wird, zu be¬
scheidener Nachlese. Allenthalben, im Blachfeld wie in den Bergthälern,
hören wir jetzt bereits den taktmäßigen Fall der Flegel und das Schnurren
und Klappern der Maschinen, die das Korn zu neuem Brote dreschen.
In den Gärten und auf den Gemüsebeeten überm Zaune draußen ver¬
wandelten sich inzwischen die Blüthendolden der Stock- und Laufbohnen in
Schotenbündel, schwoll der Krautkopf, sträubten Braunkohl und Grünkohl
ihren krausen Federbusch und reifte neben der Rübe — auch einer der ältesten
Speisen der Deutschen — die Knolle der Kartoffel, die jener erst seit anderthalb
Jahrhunderten an die Seite getreten ist. Weiterhin schlugen zur Freude der
Hausfrauen Flachsbreiten im Winde ihre blauen Wellen, rankte sich hochauf¬
strebend der Hopfen um seine Stangen, nahmen in den Wipfeln des Obst¬
gartens Apfel und Pflaume allmählich die Farben der Reife an, und rötheten
sich am Spalier der Hauswart die Wangen der Pfirsiche. Nicht lange, und
auch die Rebe wird ihre Frucht an den Winzer abgegeben haben, auf die
Arbeit der Tenne wird die Arbeit der Kelter folgen, und die Ernte wird
vollendet sein.
Der Segen kam wie vor Alters von oben. Im Uebrigen erntet jeder,
wie er gepflügt und gedüngt, gejätet und gegossen hat. Der Landwirth mit
modernen Grundsätzen, mit Entwässerungsröhren und Berieselungsgräben,
mit Knochenmehl, Düngesalz und Guano auf dem Lande fährt außer dem
Segen des Himmels auch den Segen der Wissenschaft in seine Vorraths¬
häuser. Der Bauer alten Glaubens findet nur, was seine Väter fanden,
wenn sie fleißige Pfleger von Feld und Garten waren und dabei die Bräuche
nicht vernachlässigten, mit denen uraltes Herkommen ihnen das Gedeihen
ihrer Saat zu fördern gebot.
Auch der Altgläubige hat seine „Wissenschaft" bei der Bereitung seines
Ackers, bei der Aussaat und bei der Sicherung derselben vor feindlichen
Mächten. Er hat seine Bauernregeln, seine Rockenphilosophie, seine Schwend-
und Loostage. Er weiß, daß zum Säen des Getreides und zum Pflanzen
von Hackfrüchten gewisse Zeiten gewählt und andere vermieden werden müssen.
Er säet, wenn es irgend möglich, seinen Roggen am Gründonnerstage oder an
Sanct Urban (23. Mai), seine Gerste und seinen Hafer am Tage Benedict
(21. März), seine Erbsen am Gregorstage (12. März), seine Linsen an Ja
cobi und Philippi (1. Mai), seine Wicken am Ktlianstage (8. Juli), seinen
Buchweizen, „damit er nicht zu lange blüht", bei abnehmendem Monde.
Alles, was in der Marterwoche gesäet wird, kommt gut fort; dagegen wird
aus dem vom 1. bis 7. April Gesäeten mehr Unkraut als Frucht. Gro߬
väterlicher Regeln eingedenk, hütet der ländliche Tagewähler sich, derlei Arbeit
an Galli oder Michaelis vorzunehmen, desgleichen sind die Mittwoch und der
Sonnabend dabei ausgeschlossen. Nicht leicht wird er an den Tagen Tibur-
tius oder Olympia Dünger auf sein Feld fahren oder im Krebs Rüben oder
Kohl pflanzen.
Diese Regeln sind ziemlich allgemein gültig unter dem altgläubigen
Landvolk im deutschen Norden. Andere gelten nur in der oder jener Land¬
schaft. Wenn der erste Acker besäet wird, setzt man in Osfriesland, West-
phalen und Schlesien einen Spaten an das Ende desselben und macht den
ersten Wurf kreuzförmig herum — ein Gebrauch, der in christlicher Zeit ent¬
standen, aber auch eine verdunkelte Erinnerung an den Hammer Donar's
sein kann, dessen Rune die Kreuzform hatte. In Schwaben streut der alt¬
gläubige Bauer zuerst eine Handvoll Samen im Namen Gottes des Vaters,
dann eine in dem des Sohnes und zuletzt eine in dem des heiligen Geistes
aus — in der Urzeit wird man dabei vermuthlich die drei höchsten Götter
angerufen haben. In Hessen nimmt man zu Säetüchern Leinwand, zu welcher ein
Mädchen unter sieben Jahren das Garn gesponnen hat. In Schlesien und der
benachbarten Oberlausitz sowie in Mecklenburg herrscht hier und da noch die Sitte,
sich beim Säen der Gerste drei Körner unter die Zunge zu legen und dieselben
nach vollendeter Ausstreuung der übrigen in drei Ecken des Feldes in die
Erde zu stecken, wozu man eine Zauberformel mit dem Namen der Dreifaltig¬
keit murmelt. Während des Säens selbst aber darf kein Wort gesprochen
werden. Das ganze Verfahren soll die Saat vor Vögelfraß schützen. Aehnlich
macht man es in Lauenburg mit dem Weizen und in Hessen und der Mark
mit den Erbsen. Der Weizen wird im Harz vor Schaden bewahrt, indem
man den Samen vor dem Ausstreuen stillschweigend auf den Kopf hebt und
dann spricht: „Weizen, ich setze dich auf den Band, Gott behüte dich vor
Trespe und Brand." Vor Hagelschaden sichert der Bauer der Wetterau seine
Felder durch Kohlen vom Osterfeuer oder durch blühende Zweige von Erlen,
Pappeln oder Weiden, die am Palmsonntage in der Kirche geweiht worden
sind, und die man darauf in den Acker steckt. Vor Bezauberung durch „böse
Leute" stellt man das Getreide in ganz Mitteldeutschland, namentlich in
Schlesien, Sachsen und Thüringen, dadurch sicher, daß man eine Eule an das
Scheunenthor nagelt. Wieder dem Aberglauben in der Wetterau gehört die
Meinung an, nach welcher man sich eine reiche Ernte verschafft, wenn man
drei Kornähren an den Spiegel steckt und dazu die drei heiligsten Namen
ausspricht. Stirbt in Franken und Hessen eine Hausfrau, so müssen sämmt¬
liche Sämereien im Gehöft durcheinander gerührt werden, weil sie sonst nach
der Aussaat nicht aufgehen.
Glückverheißende Saatzeiten für den Lein, der nächst dem Getreide Im Leben
des Ackerbauers die wichtigste Rolle spielt, sind dem altgläubigen Ostpreußen
der zweite Juni, dem Märker der Tag Maria Bekleidung, dem Mecklenburger
„der hundertste Tag" (von Neujahr oder von Lichtmeß an?), anderen Nord¬
deutschen der Gründonnerstag oder der Sanct Ezechielstag (l.0. April). Im
Mai gesäet giebt er, wie die Bauern um Königsberg meinen, schlechte Lein¬
wand. Hanf muß man am Marcustage (24. April) säen, dann geht er gut
auf. doch darf man an diesem Tage kein Fleisch essen, auch muß Neumond
sein, wenn das zutreffen soll. Im Lauenburgischen gewinnt sich die Braut
reichen Flachssegen, wenn sie sich, bevor sie zur Trauung an den Altar geht,
eine Rist Flachs um das linke Bein bindet; denn „der Flachs wird dadurch
vom Pfarrer ungesegnet." Um den Flachs recht lang werden zu lassen,
springt die Hauswirthin des Schlesien und des Märkers, der auf alte Satzung
hält, in der Fastnacht beim Tanz im Kruge, so hoch sie kann. Zu gleichem
Zwecke muß im Harz am Fastnachtstage, in Ostpreußen am Gründonnerstage
die älteste Jungfer des Hauses rückwärts vom Tische springen. Der Mentler-
burger aber weiß ein anderes erprobtes Mittel zur Erlangung einer guten
Flachsernte: er steckt beim Säen eine Harke in das Feld, damit der Flachs
sich daran ein Beispiel nehme und ebenso hoch zu werden strebe, wie der
Harkenstiel. Wieder andere Wege zu demselben Ziele schlägt der Landmann
in Thüringen ein, indem er beim Ausstreuen der Leinsaat möglichst weit
ausschreitet, an beiden Enden des Leinfeldes große Büsche von Hollunder,
der in der Heidenzeit ein heiliger Baum war, aufpflanzt, und auf dem be-
säeten Acker ein paar frische Eier ißt. An einigen Orten herrscht auch der
Gebrauch, daß die ganze Familie, damit der Flachs recht wohl gerathe, am
Himmelfahrtstage Milch und Semmel verspeist.
Mit ähnlichem Zauber düngen und pflegen die Altgläubigen ihre Ge¬
müsebeete und Obstgärten. Nach der Sitte der Väter steckt der Schlesier
seine Bohnen am Tage Christian (14. Mai), der Wetterauer die seinen am
Gründonnerstage, „damit sie nicht erfrieren". Damit sie aber recht reichlich
tragen, steckt sie der letztere immer in ungrader Zahl. Die Erbsen müssen
in Westpreußen und der Mark bei abnehmendem Monde gesäet werden; denn
sonst blühen sie, sagt man, zu lange; Kürbisse sind nach mecklenburgischer
und lauenburgischer Bauernregel am Abend vor Himmelfahrt zu stecken, wenn
das Fest mit der großen Glocke eingeläutet wird, da nach der Erfahrung der
alten Leute ihre Früchte dann sehr groß werden, Gurken aus demselben Grunde
und „weil ihnen dann der Frost nichts anhaben kann", nach schlesischen und
wetterauischem Volksglauben am Abend vor Walpurgis. Kohl muß man,
wofern er gedeihen soll, am Gründonnerstage, wenn zur Kirche geläutet wird,
pflanzen, sagt man unter den Landleuten der Wetterau, und ihn drei Freitage
nach einander bedanken, fügt der lauenburgische Bauer hinzu. Kartoffeln
dürfen, wie man im Meklenvurgischen meint, nicht an einem Tage gesteckt
werden, der im Kalender mit dem Zeichen des Steinbocks markirr ist, weil
sie in diesem Falle sich nicht gut kochen; dagegen ist zu rathen, sie bei weichem,
d. h. südlichem oder südwestlichem Winde zu pflanzen, da sie dann leicht auf¬
platzen.
Der heilige Karl, dessen Tag der 28. Januar ist, herrscht über Weinstöcke
und Obstbäume, und deshalb darf der, welcher diese nicht eher verschnitten hat,
nicht versäumen, dies an diesem Tage zu besorgen. Der heilige Blasius, dem
der 3. Februar geweiht ist, gilt als specieller Schutzpatron der Obstbäume,
darum soll man die Versetzung der letzteren an diesem Tage vornehmen.
Wer seine Apfel- und Birnbäume auf Fastnacht beschneidet, der sichert sie
nach einem andern Aberglauben vor Raupen und die Früchte vor Würmern.
Die am 19. Februar gepflanzten Bäume, sagt wieder eine andere Regel des
Volkes in verschiedenen katholischen Landstrichen, stehen unter der Obhut der
heiligen Susanna. Ganz allgemein herrscht der Gebrauch, die Obstbäume in
den heiligen zwölf Nächten oder Loostagen, d. h. vom Weihnachtsabend bis
zum Abend des Dreikönigstags, durch Umwinden mit Strohseilen fruchtbar
zu machen. In Schlesien erstrebt man den gleichen Zweck dadurch, daß man
am Sylvesterabend in ihre Zweige hinein schießt, in Mecklenburg steckt man
an demselben Abend ein Geldstück in einen Spalt ihrer Rinde. In Hessen
wird ein junger zum ersten Male tragender Baum fruchtbar gemacht, wenn
man seine Früchte von einem noch auf dem Arme getragenen Kinde oder
mindestens von einem Kinde unter sieben Jahren abpflücken läßt. In der Alt¬
mark bewirkt man dasselbe, wenn man die Aepfel oder Birnen in einen recht großen
Sack pflückt und einige davon am Baume läßt. Werden in Schlesien die
ersten Früchte gestohlen, so trägt der verstimmte Baum ganze sieben Jahre
nicht mehr. Wenn in der Wetterau auf einem Gehöft der Hofhund stirbt,
so muß man ihn unter einem Obstbaum des Gartens begraben, da derselbe
dann sehr reichlich trägt, eine Regel, die auch in Schlesien gilt.
So ist denn die Zeit der Pflege von Feld und Garten vergangen.
Mancherlei andere Regeln, oft sinnreich, bisweilen sinnlos, hatte der Alt¬
gläubige noch zu beobachten; denn groß ist in den Kreisen, wo die Rocken¬
philosophie der guten alten Zeit noch das Regiment führt, das Kapitel von
dem, was man soll und nicht soll. Er hat sie befolgt, treu und sorgfältig,
wie es ihm gelehrt worden, wenn auch nicht mit dem vollen Glauben an sie
wie seine Väter. Der gewissenhaft angewandte Zauber hat seine Wirkung
gethan, die gewissenhafte Arbeit mit Pflug und Hacke noch bessere, der Himmel
mit Sonne und Regen, je nach des Jahres Art, die beste. Die Ernte ist da,
um den Arbeitern ihren Lohn zu reichen, und auch sie ist mit einem Kranze
von Bräuchen umgeben, die in Süddeutschland und Norddeutschland im
Wesentlichen verwandt sind und hier wie dort mehr oder minder deutlich auf
die Zeit zurückweisen, wo man noch Wuotan und der Erdmutter Herke
opferte.
Wir heben von diesen Sitten der Erntezeit vor allem die hervor, die sich
auf die Behandlung bezieht, welcher der letzten Garbe auf dem Stoppelfelde
zu Theil wird. Die älteste Gestalt dieses Gebrauches finden wir in Nord¬
deutschland. In Mecklenburg und der Mark läßt man (ließ man wenigstens
noch vor einigen Jahrzehnten) bei der Roggenernte einen Theil des Getreides,
der oben zusammengebunden wird, auf dem Felde stehen. Um diesen Getreide-
büschel, den man mit Bier besprengt, sammeln sich nach vollbrachter Arbeit
die Schnitter, nehmen die Hüte ab. richten die Sensen aufwärts und rufen:
„Wode. Wode
Hat dinen Päre nu Foder,
Nu Distel unde Dorn
Tom andern Jahr beler Korn."
Der Büschel heißt der „Fergodentheel", d. ist Fro Woden's oder Herrn
Wuotan's Antheil, die Ceremonie wird der „Erntesegen", der Schmaus, der
dann den Knechten und Tagelöhnern gegeben wird, „Wodelbier" genannt.
Wir haben hier also ganz offenbar ein Opfer und ein Gebet vor uns, bei
welchem Wuotan, der alte Himmelsgott und Erntespender, sogar noch ge¬
nannt wird, und bei dem auch die heidnische Libation nicht fehlt. Sehr ähnlich
ist der im Lippeschen und Hessischen noch hier und da vorkommende Gebrauch,
nach welchem die Schnitter die letzte Garbe, durch die sie einen blumenbe¬
kränzten Stab gesteckt, umtanzen und, dazu an die Sensen schlagend, „Wänden!
Wänden! Wänden!" rufen. Ebenfalls ganz deutlich haben wir das alt¬
deutsche Heidenthum vor den Augen, wenn noch zu Ende des vorigen Jahr¬
hunderts die Erntearbeiter im Schaumburgischen, unmittelbar nachdem die
letzte Garbe gebunden war, den Acker mit Bier begossen, sich entblößten
Hauptes um jene, den „Waulroggen", sammelten und tanzend eine alte Weise
sangen, welche hochdeutsch lautet:
„Wode, Wode, Mode!
Himmelsriese weiß, was geschieht,
Immer nieder vom Himmel sieht.
Volle Krüge und Garben hat er,
Auch im Wald wächst's mannigfalt.
Er ist nicht geboren und wird nicht alt.
Wode, Wode. Wode!"
Aus Süddeutschland gehört eine bayerische Sitte hierher, nach welcher
die stehengelassenen Roggenhalme zu einer Menschengestalt zusammengebunden
und mit Blumen geschmückt werden. Vor dieser Puppe, welche .Oswalo"
(vielleicht der Asenwalter, der Götterherrscher) heißt, fallen die Mäher auf
die Knie und beten: „Heiliger Oswald, wir danken dir, daß wir uns nicht
geschnitten haben." In Franken, Schwaben und wieder im norddeutschen
Westphalen ist der Gott noch mehr verblaßt, die Auszeichnung der letzten
Garbe aber geblieben. In Franken heißt das geschmückte Aehrenbündel der
„Otte" und man umtanzt es mit dem Reim:
„O heiliger Sanct Maha,
Bescher über's Jahr mea!
So viel Köppla, so viel Schockla,
So viel Aehrla, so viel Jährla."
In der Gegend von schwäbisch Gmünd und Ulm kniet der Bauer,
bevor er die Winterfrucht schneidet, mit seinen Leuten auf freiem Felde nieder
und betet fünf Vaterunser und einen Glauben. Auf dem letzten Acker aber
läßt man an einer vorher schon bezeichneten Stelle einige Halme stehen, steckt
in ihre Mitte eine kleine Birke oder Pappel, an die man jene mit bunten
Bändern befestigt, und betet dann vor ihr knieend wie vorher. An einigen
Orten bleibt diese kleine Garbe, die der „Mockel" heißt, auf dem Stoppel¬
acker stehen, anderwärts wird sie zuletzt abgehauen, üm das letzte Fuder zu
schmücken. Von einer uns vorliegenden großen Anzahl westphälischer Ernte¬
sitten theilen wir nur einige besonders charakteristische mit. Wenn in den
Dörfern Deckbergen und Kleinbremen das Korn abgemäht ist, werfen die
Schnitter unter dem Rufe: „Wani, Wani, Wankt" ihre Mützen in die Höhe.
In der Umgebung von Borgloh, Bissendorf und Gesmold bindet man, wenn
der Roggen abgemäht ist, zwei Garben mit einem Strohseil zusammen, so-
daß sie eine Puppe bilden, die man darauf am Ende einer Mandel aufstellt,
wonach alle Schnitter und Binderinnen herzukommen und jubelnd „De Ante,
de Ante!" rufen. Bisweilen wird auch da, wo das beste Korn steht, ein
Baum aufgepflanzt, woraus man die um ihn herumliegenden Halme zu einer
größeren Garbe um ihn zusammenbindet, welche „de Otte" heißt. Diese
Garbe fällt zuletzt der Großmagd zu. während bei Iserlohn die jedenfalls
ältere Sitte herrscht, jene Garbe, die hier ebenfalls „de Otte" genannt wird,
an dem Baume hängen zu lassen, sodaß sie die Erinnerung an das alte Ernte¬
opfer bezeichnet. Ist bei „de Otte" an Wuotan als den „Alten" zu denken,
von dem das Schnittergebet der schaumburgischen Bauern sprach, so haben
wir in dem Namen „de Greaute Meaur", wie die letzte Garbe in den Dörfern
bei Unna, und in der Bezeichnung „Herkelmaie", wie sie in der Nachbar¬
schaft von Werk heißt, einen Nachhall an die Erntemutter und Erdgöttin
Herke zu vermuthen, die, wie bemerkt, in andern deutschen Landstrichen Frick,
Frau Holle oder Perchta genannt wurde und unter diesem Namen noch hie
und da spukt.
Eine wichtige Rolle scheint ehedem bei den Erntefesten als Opfer oder
Hauptgericht beim Schmause der Hahn gespielt zu haben. In Schwaben ist
davon nur ein Hahnenschlagen und der Ausdruck „Schnitthahn", mit dem
man zu Leutkirch den sonst in schwäbischen Landen „Sichelhenke" genannten
Ernteschmaus bezeichnet, und dem das schweizerische „Kcähhahn" entspricht,
übrig geblieben. In westphälischen Gegenden begegnen wir neben Aehnlichem
auch deutlicheren Ueberbleibseln der alten Feier. Bei Recklinghausen heißt
der Ernteschmaus „Bauthahn". in Osterwiek, Koesfeld und Horstmar „Stoppel-
Hahn". Zu Kohlstädt am lippeschen Walde setzt man bei der Einfuhr des
Getreides auf das letzte Fuder einen vergoldeten Hahn, der allerlei Frucht im
Schnabel trägt und nachher meist am Hause aufgehangen wird, und ähnlich
verfährt man in der Gegend von Warburg, wo der mit Flittergold über¬
zogene Hahn w einer Blumenkrone, und zu Varßen bei Pyrmont, wo er in
einem Kranze zu sitzen pflegt. Anderswo erinnert nur eine im Erntekranz
angebrachte Hahnenfeder noch an ihn.
Von andem Gebräuchen der Getreideernte können wir hier nur die beiden
hessischen erwähnen, nach welchem man die ersten Halme von einem Kinde
unter fünf Jahren schneiden und das erste Strohseil zu den Garben von
einem Kinde unter sieben Jahren winden läßt und die erste gebundene Garbe
Nachts zwölf Uhr durch die Hintere Scheunenthür hinauswirft; sie ist „für
die Engel vom Himmel" und heißt der „Erntesegen/'
Mit dem Getreide fuhr der Bauer der alten Zeit seine Hauptnahrung,
mit dem Flachs seine Hauptkleidung in die Scheune, und so hat die Ernte
des letzteren ebenfalls manchen alten Zug bewahrt. Dieß ist namentlich in
Norddeutschland der Fall. Zu Riemke bei Bochum band man früher nach
beendigter Ernte, wenn der Flachs ins Wasser gelegt wurde, in eins der
Bunde ein Butterbrot, welches man den „Fretboden" nannte. In Frankenau
legt man noch jetzt in das Bund drei Wiesenblumen und eine Sichel. Butter¬
brot und Blumen sind wohl ein Opfer für die Göttin Frick oder Holle, die
dem Flachsbau vorstand, während die Sichel, wie alles Eisen im Aberglauben,
vor bösem Zauber schützen sollte. In einigen westphälischen Orten ferner
herrscht die Gewohnheit, demjenigen, der zuletzt mit dem Reinigen seines
Flachses zu Stande kommt, eine mit „Scheve", d. h. mit Flachs- oder Hanf¬
abfall, ausgestopfte Puppe, die der „Schevekerl" heißt, vor die Thür zu stellen.
Wer seinen Flachs zu spät schwingt, dem wird eine ähnliche Figur, die nach
der Schlepbrake, dem Werkzeuge der schwingenden, das „Schlepwif" genannt
wird, am Abend heimlich vor das Haus gesetzt.
Interessanter und poetischer sind die ländlichen Feste, die sich in einzelnen
einsam liegenden Weilern der Bergzüge am Niederrhein, vorzüglich im Ber¬
gischen und Siegenschen, erhalten haben, die sogenannten „Schmtngtage ",
an denen die Bäuerinnen des Ortes sich gemeinsam der Zubereitung des ge-
ernteten Flachses unterziehen. Nachdem die Stengel durch abwechselndes
Einweichen und Trocknen mürbe geworden sind, in der letzten Hälfte des
October, finden sich die Frauen und Mädchen des Dorfes in einem der größeren
Höfe desselben zusammen. Zuerst werden die Stengel auf der Breche oder
dem Flachsäuel, einer sehr einfachen Maschine, wo zwei in einandergreifende
gezähnte Holzscheeren sie fassen und zermalmen, bis auf den zähen Bast gänz¬
lich zerrieben. Dann wird dieser Bast bündelweise in dem Einschnitt eines
aufrechtstehenden Bretes, des sogenannten Schwingstocks, vermittelst der
Schwinge, eines dünnen fächerartigen Schlägels, von den daran noch fest¬
sitzenden Stengelbrocken, dem Schiff, gereinigt und durch anhaltendes Klopfen
in die einzelnen Fasern zertheilt. Zwanzig, ja bisweilen doppelt so viele
Frauen versammeln sich zu dieser Verrichtung unter freiem Himmel oder auf
der Scheuntenne. Jede führt außer ihrem Geräth und Werkzeug einen Schatz
alter Lieder mit sich, und wenn die Arbeit einmal im Gange ist, schallen zu
dem taktmäßigen Geklapper der Schwingen Jauchzen und Gesang vom
Morgen bis in die Nacht hinein. In einzelnen Pausen werden eigenthüm¬
liche Gerichte und Getränke gereicht, bisweilen auch alte Spiele vorgenommen,
worauf es wieder an die Arbeit geht — nichts von alledem geschieht nach
Zufall oder Belieben. Alles nach dem Herkommen und bestimmtem Ritus,
als wenn es. wie einst, im gewissen Sinne einer heiligen Handlung gälte.
Nachdem die Schwingerinnen sich vor ihren Schwingstöcken in Reihen
geordnet haben, die klappernde Arbeit ihren Anfang genommen hat und die
Zungen durch den reichlich gespendeten Anisbranntwein gelöst sind, wird der
Schwingtag mit einem feierlichen Liede in Molltönen eröffnet, welches mit
folgender Strophe anhebt:
„Wo geht sich denn der Mond auf?
Blau, blau Blümelein!
Ober'in Lindenbaum, da geht er auf.
Blumen im Thal, Mädchen im Saal!
O Du tapfre Nose!"
Das blaue Blümelein ist die Flachsblüthe. Die Strophe wird so viele Male
wiederholt, als Sängerinnen vorhanden sind, und jede Wiederholung bezeichnet
das Haus einer derselben als Ausgangsstelle des Mondes. Dann folgen die
andern hergebrachten Lieder, die alle in Moll gehen, meist rasch bewegt sind
und gewöhnlich erotischen Inhalt haben oder einen Balladenstoff behandeln.
Manche unter denselben mögen mehrere hundert Jahre alt sein, wenn man
nach den wenigen Reimen, die sie haben, und nach den Alliterationen, mit
denen sie durchwebt sind, schließen darf. Dahin gehört u. A. die Ballade:
»Zu Engelheim ein Lindenbaum", die nur an zwei Stellen Reime hat und
die bekannte Geschichte von Eginhard und Emma, ohne die Liebenden zu
nennen, erzählt. Andere alte und merkwürdige Schwingtagslteder sind: das
vom „Abendreuter" (Abenteurer), einem Grafensohne aus Straßburg, der seine
von den Heiden geraubte Schwester sieben Jahre lang in aller Welt sucht
und sie zuletzt als Dienstmagd in einer Schenke am Rheine findet, dann das
vom Pfalzgrafen Heinrich dem Wüthigen, der seine Gemahlin erschlug, und
das von der unschuldig gesenkten und schließlich wieder zu Ehren gebrachten
Magd zu Frankfurt, die der Dichter der Ballade am Galgen von Engeln
behütet und mit Speise und Trank versehen werden läßt. So folgt ein Lied
dem andern, bald wird ein ernstes, bald ein heiteres angestimmt, bis wieder
ein auf den Flachs bezügliches beginnt. Die Schwingerinnen singen dann
gewöhnlich:
„Es flog eine weiße Taube
Wohl aus dem Lindenbaum,
Sie flog wohl über Grünhaide
Vor Edelkönigs Haus.
Was trug die weiße Taube?
Ein blau, blau Blümelein.
Die jüngste Königstochter
Soll spinnen ein Fädchen fein."
U. s. w.
Nach diesem Liede, welches meist in die ersten Stunden des Nachmit«
tags fällt, verläßt die Gesellschaft plötzlich ihre Schwingstöcke und eilt hinaus
vor das Gehöft auf einen Erdhügel oder eine künstliche Erhöhung über dem
Boden, wo dann Alle, gegen Morgen gewendet, mit erhobenen Händen drei¬
mal aus voller Brust aufjauchzen. Was das zu bedeuten hat, weiß Niemand
zu sagen. „Es ist von Alters her so gebräuchlich" erhält der danach Fra¬
gende zur Antwort. Vielleicht rief man in der Urzeit den Namen der Erd¬
mutter aus, die dem Bau und der Verarbeitung des Flachses vorstand; denn
möglicherweise ist hiermit in Verbindung zu bringen, daß ehedem am Nie-
derrhein auch in der Walpurgisnacht jenes dreimalige Aufjauchzen nach Osten
hin Sitte war, daß man in Westphalen bei den ländlichen Festlichkeiten, mit
denen der Frühling begrüßt wurde, dreimal den Namen Herke zu rufen
pflegte, und daß die Schwingfeste früher nur am Freitage abgehalten wur¬
den, welcher jener Göttin des saatengebährenden Erdenschooßes, des Flachs-
segens und der Spinnkunst geweiht war.
Wieder in das Gehöft zurückgekehrt, beginnen die Frauen und Mädchen
ihr Schwingen und Singen von Neuem, und das geht so lange fort, bis sich
am Abend die jungen Männer des Ortes und der Nachbarschaft einfinden,
um an dem nun folgenden Tanze theilzunehmen und zuletzt ihr Schätzchen
nach Hause zu geleiten. Noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr¬
hunderts geschah es dabei, nach dem Zeugniß eines alten Predigtbuches, daß
„die Dorfburschen einen Pferdeschädel mit Katzendärmen überspannten
und neben dem Hackebret darauf schnurrten zu teuflischem Hallo und
Hopsa."
Bei der Arbeit der Schwingtage sowie später beim Tanze wird ein nur
bei dieser Gelegenheit übliches Getränk, ein Gemisch aus Wein oder Honig¬
wasser mit Anisbranntwein, worin Pfefferkuchen zerweicht ist, herumgereicht.
Die herkömmlichen Gerichte dazu sind Mehlkuchen und Hirsebrei. Jenes
Getränk, „Kümpchen" genannt, wird, da es breiartig dick ist, mit Löffeln ge¬
nossen, und zwar will das Herkommen, daß die Mädchen ihre Burschen damit
füttern. Sie halten dabei jede ihr Schüsselchen auf dem Schooße, ihr Schatz
kniet vor ihnen und wird von der Hand seiner Liebsten vermittelst des Löf¬
fels gespeist.
Das Uebermaß des Genusses dieser berauschenden Suppe führte bet
mehr als einer jener Zusammenkünfte zu Unfug und blutigen Raufereien
während des Heimwegs der Paare, indem man den Raub der Sabinerinnen
nachahmte. So geschah es, daß die Kirche gegen die Schwingfeste zu eifern
begann, und daß seit Anfang dieses Jahrhunderts auch die weltlichen Be¬
hörden mit Verboten und Strafen dagegen einschritten. Auf diese Weise ist
die ursprünglich allenthalben am Niederrhein verbreitete Sitte auf der Ebenen
allmählich verschwunden, und selbst in den Bergen kommt sie nur an wenigen
Orten noch vor.
Lange hat es gedauert, ehe das Amtssprachen-Gesetz verkündigt worden
ist. Die Erklärung dieser Verzögerung liegt nahe. Nicht daß die himmel¬
schreienden Proteste, die Massenpetitionen der Polen, zum Theil sogar an die
allerhöchste Stelle gerichtet, bei unseren Staatsmännern einen beunruhigenden
Eindruck hervorgerufen und sie zum Zaudern bewogen hätten. Mit einer
solchen Erklärung können sich eben nur die polnischen Nationalitätseiferer
schmeicheln. Der wahre Grund der verzögerten Publication des Gesetzes liegt
offenbar darin, daß mit ihm gleichzeitig die Königliche Verordnung, welche
die vorläufigen Ausnahmen von der Anwendung des Gesetzes enthält, er¬
scheinen mußte. Da eine solche Verordnung Gesetzeskraft besitzt, so durfte
sie nicht übereilt werden, sondern es mußten ihr die genauesten Ermittelungen
über das unzweifelhafte Bedürfniß des ferneren amtlichen Gebrauchs der
fremden Sprachen in den vorherrschend undeutschen Landestheilen vorher¬
gehen, damit die Würde des Gesetzes nicht durch nachträgliche Zusätze oder
Abänderungen geschädigt würde.
Dafür, daß wir auf das Gesetz etwas warten mußten, erhalten wir
durch dasselbe auch werthvolle und zuverlässige Auskunft über die Ver¬
breitung und Machtstellung der Staatssprache in den gemischt-deutschen
Grenzgebieten, welche einigen Ersatz dafür gewährt, daß die statistischen
Aufnahmen sich seit dem Jahre 1861 nicht mehr auf die Sprache des Volkes
erstreckten. Selbverständlich würde man vollkommen irregehen, wollte man an¬
nehmen, daß in allen Gemeinden, bei denen es ferner nicht mehr gestattet
ist, in den Gemeindeversammlungen, in den Gemeindevertretungen und Schul¬
vorständen anders als deutsch zu verhandeln, die deutsche Sprache die aus¬
schließliche oder auch nur die vorherrschende der Bevölkerung sei. Aber so
viel darf man annehmen, daß in allen nicht als Ausnahmen aufgestellten
Gemeinden, Amtsbezirken, Kreisen u. s. w. das Deutsche mindestens von
der Mehrzahl der Bevölkerung verstanden und von der Mehrzahl der
Gebildeten, denen naturgemäß die Leitung der genannten Versammlungen
gebührt, auch gesprochen wird.
Prüfen wir mit diesem Maßstab in der Hand die amtssprachlichen Fest¬
stellungen der Königlichen Verordnung vom 28. August d. I., so ergiebt sich,
daß der deutsche Vaterlandsfreund mit ihren Ergebnissen zufrieden sein kann.
Was namentlich den wundesten Theil des Staates, die Provinz Posen be¬
trifft, so ersehen wir aus ihnen, daß die deutsche Sprache dort in allen
Städten in vorstehend charakterisirter Weise eingebürgert ist und die Herr¬
schaft ausübt mit Ausnahme von acht kleinen Nestern, welche sich nur durch
ihr ererbtes Stadtrecht von unbedeutenden Dörfern unterscheiden. Die Hälfte
von ihnen, Powidz, Mieltschin, Grabow und Mixstadt, liegt an der russischen
Grenze; Dubin, Kröben, Scharfenort und Opalenitza zerstreut in den west¬
licheren Kreisen. Auffallend ist nur, daß sich unter diesen polnischen Nestern
auch eine Kreisstadt, Kröben, befindet, wobei zu bemerken, daß es diesen
Rang nur seiner Lage in der Mitte des Kreises verdankt, während sich die
ansehnlichen rein deutschen Städte Bojanowo und Rawiez wegen ihrer Lage
an der Kreisgrenze dazu nicht eignen.
Ungünstiger stellt sich freilich das Verhältniß bei den Landgemeinden.
Ihnen wird der amtliche Gebrauch der polnischen Sprache auf fernere 5 Jahre
gestattet; von den 26 Kreisen der Provinz in den Is ganzen Kreisen: Mogilno,
Wregrowitz, Gnesen, Adelnau, But, Kosten, Sabrina, Wreschen, Pleschen,
Schildberg, Krotoschin, Kröben, Posen, Schroda und Sander, ferner in
Theilen der Kreise Jnowrazlaw, Chodschesen, Fraustadt, Bomst und Obornik.
Wer da weiß, wie zahlreich und bedeutend die deutschen Sprachinseln auch
in den Is Kreisen sind, welche ganz Ausnahmen von der Strenge des Ge¬
setzes bilden, wird vielleicht hin und wieder Anstoß nehmen, daß dort nicht
die deutschen Gemeinden Ausnahmen von den Ausnahmen bilden. Dieses
Bedenken läßt sich indeß leicht dadurch heben, daß darauf aufmerksam gemacht
wird, daß die Königliche Verordnung die Anwendung der polnischen Sprache in
den mündlichen Verhandlungen der Schulvorstände, Gemeindevertretungen und
Gemeindeversammlungen nicht anbefiehlt, sondern nur neben der deutschen
„gestattet." In den rein oder der Zahl nach überwiegend deutschen Gemeinden
der ganzen Provinz Posen sind ohne Zweifel die genannten Verhandlungen
schon bisher deutsch geführt worden, es wird darin also nicht noch jetzt für
wenige Jahre ein Rückschritt gethan oder auch nur erstrebt werden. Es kommt
dazu, daß die deutschen Landgemeinden in den Gegenden mit wenig Aus¬
nahmen von lutherischen sogen. Hauländern abstammen und wegen dieser
ihrer Konfession sehr gute Preußen und eifrige Deutsche sind im Gegensatz
zu ihren katholischen stam ngenossen, die sich polnisches oder sei es auch
römisches Nationalbewußtsein willig beibringen lassen, wenn es ihren Caplänen
so gefällt.
Ganz anders liegen die Verhältnisse in der Provinz Preußen, namentlich
auch in Westpreußen, welches von den Reichsfeinden noch immer als ein
ganz polnisches Land in Anspruch genommen wird. Zu unserem Erstaunen
finden wir in der Königlichen Verordnung in der ganzen großen Provinz, also
einschließlich des katholischen Ermland und des protestantischen Masuren, nur
22 Landgemeinden und diese nur im Kreise Thorn als Ausnahmen von der
sofortigen Anwendung des Amtssprachengesetzes aufgeführt. Es ist erklärlich,
daß von einer fünfjährigen Ausnahmsstellung polnischer Gutsbezirke in der
Verordnung in keiner Weise die Rede ist; die Anwendung der Staatssprache
hängt dort immer lediglich von dem Belieben des Gutsherrn ab, dem das
Gesetz keinerlei Fügsamkeit schuldet. Unser Erstaunen über das angeführte
Ergebniß der Ermittelungen der Behörden gründet sich am meisten darauf,
daß die beiden an den Kreis Thorn im Osten angrenzenden Kreise Straßburg
und Löbau, welche nach der statistischen Aufnahme vom Jahre 1861 (S. die
Sprachkarte des preußischen Staates von Richard Böckh) bedeutend größere
Flächen als mit Polen besetzt zeigten, als der erstere, gegenwärtig nicht in
einer, nicht in der abgelegensten Landgemeinde das Bedürfniß der vor¬
läufigen Fortdauer der polnischen Amtssprache hat. Da wir nicht annehmen
können, daß die Bedürfnißfrage von den Behörden so verschieden aufgefaßt
und entschieden worden ist, so muß das Deutschthum in jener Gegend West¬
preußens seit 1861 mit verschiedener Stärke Fortschritte gemacht haben. Auch
läßt sich das sehr wohl erklären. Von allen Ständen hält keiner, wie an
allem Altüberlieferten, so auch an der angestammten Sprache fester, als der
bäuerliche Grundbesitzerstand, und zwar um so mehr, je wohler er sich be¬
findet und je fester er deswegen sitzt. In diesem Zustande befinden sich aber
die polnischen Bauern des thorner Kreises, bei ihnen findet die deutsche
Sprache deswegen um so schwerer Eingang, als sie in solcher Lage das Ein¬
dringen von Deutschen in ihre Mitte gewöhnlich zu verhindern wissen. Der
Boden der Kreise Stroßburg und Löbau besitzt dagegen nicht die gleiche Güte
wie dort, er ist mehr sandig und steinig. In solcher Lage sitzen Bauern über-
Haupt, namentlich auch die polnischen, nicht so fest, sondern sie sind eher ge¬
neigt, ihr Glück auf einem neuen Grundstück zu versuchen. Bei solchem
Umherziehen kommen sie dann selbst eher in die Lage deutsch zu lernen, und
zugleich hört die Schwierigkeit für deutsche Bauern auf, die Abgeschlossenheit
polnischer Gemeinden zu durchbrechen. Dieser Zustand herrscht wahrscheinlich
in den genannten beiden Kreisen, ihm dürfte also die rascher fortschreitende
Germanisation in ihnen zuzuschreiben sein.
In dem südlichen breiten, aber schwachbevölkerten Grenzstreifen Ost¬
preußens, in welchem das Polnische die allgemeine Volkssprache ist, in Ma-
suren, wird durch die Königliche Verordnung gar kein Bedürfniß desselben als
Amtssprache anerkannt. Das ist bei bei dem Mangel an polnischem Natio¬
nalbewußtsein und bei der Anhänglichkeit des Volkes an den Staat sehr erklär¬
lich. Dagegen müssen wir aus eigner, ganz neuer Wahrnehmung bezweifeln,
daß in ganz Oberschlesien bei einer polnischsprechenden Bevölkerung von rund
800,000 Einw. nirgends, selbst nicht in den abgelegensten Gemeinden der
Kreise Rosenberg, Lublinitz, Tarnowitz. Groß-Strehlitz u. s. w. das Be¬
dürfniß des einstweiligen Fortgebrauchs der polnischen Sprache in den Ge¬
meindeversammlungen u. s. w. vorhanden sein soll. Die polnische Bevölke¬
rung des platten Landes ist nirgends in Preußen in so ausgedehnten Flächen
unvermischt anzutreffen, wie in einem großen Theile Oberschlesiens. Auch
hat die Kenntniß der deutschen Sprache unter ihr durch die Bemühungen der
katholischen Geistlichkeit unter der Aegide des Ministers von Muster seit 26
Jahren Rückschritte gemacht. Allerdings würde diese gesetzliche Nichtanerken¬
nung des polnischen Sprachbedürfnisses in ganz Oberschlesien die bündigste
Abweisung der meuterischen Wühlereien der polnisch-ultramontanen Presse
und einiger nationalfanatischer Sendlinge sein. Doch darf man eine solche
Demonstration nicht als entscheidenden Grund der Staatsregierung für die
besagte Entscheidung über die Bedürfnißfrage annehmen, er wäre ihrer nicht
würdig, vielmehr darf man voraussetzen, daß die Frage im Regierungsbezirke
Oppeln ebenso reinsachlich geprüft und entschieden worden ist, wie in allen
andern Landestheilen.
Einen Beweis von der Objeetwität der Prüfung giebt die Gewährung
der fünfjährigen Frist für die mündlichen Verhandlungen sogar einer Kreis¬
vertretung; es ist diejenige von Hadersleben in Schleswig, sie darf vorläufig
noch ferner dänisch verhandeln. Sonst haben die Dänen dieses Recht noch in den
ländlichen, besonders den kleinen Communal-Versammlungen und Vertretun¬
gen in den Kreisen Hadersleben, Apenrade, Sonderburg, in zwei östlichen
Hardesvogteien pes Kreises Flensburg und in einem Kirchspiel des Kreises
Flensburg, Daraus erhellt, daß die deutsche Sprache in Schleswig seit der
preußischen Besitznahme des Landes keine erheblichen Fortschritte gemacht hat.
denn bis zu den genannten Gedecken wurde schon im Jahre 1848 die deutsche
Sprachgrenze gezogen. Hätten damals die Schleswig-Holsteiner gesiegt und
einen eignen Kleinstaat zu Stande gebracht, so hätte sich die Germanisation
von Nordschleswig rasch und leicht vollzogen. Bis dahin waren die Dänen
im Süden der Königsau durchaus nicht dänisch, sondern Schleswig-holsteinisch
gesinnt, die amtliche Sprache, z. B. auf dem Landtage des Herzogthums, war
nicht dänisch, sondern plattdeutsch, (hochdeutsch. D. Red.) welche achtungswürdige
Sprache der alten Hansa als Landessprache galt und zur Vermittelung der Ger¬
manisation diente. Die Stimmung der schleswigschen Dänen änderte sich, als
anderthalb Jahrzehnte hindurch das Deutsche, das Hoch- wie das Platt-Deutsche,
von den Jnseldänen in der Landschaft mit Gewalt unterdrückt wurde. Als dann
die Preußen kamen, mit denen die Schleswiger sich durch keine geschichtlichen
Erinnerungen verbunden fühlten, da brach das Gefühl der Verwandtschaft
mit den Skandinaviern jenseits des Betts und der Königsau bis in die
untersten Volksschichten durch. Jederman sind die Kundgebungen der An¬
hänglichkeit an Dänemark bekannt, die seit 1866 ununterbrochen von
den Nordschleswigern ausgehen, es erübrigt also, weiter auf sie einzu¬
gehen. Daß sie aber mit der feindseligen Abwehr der deutschen Sprache
verbunden sind, das ergiebt sich aus der Königlichen Verordnung. Man ersieht
aus ihr zugleich, daß die Kenntniß der Sprache des Staates in keinem Lan¬
destheile so wenig verbreitet ist, wie in Nordschleswig.
Ein ganz anderes Ergebniß zeigt die Verordnung in der nordöstlichen
Ecke Ostpreußens, in Preußisch-Litauen. Die Sprachkarten von 1848 (z. B.
eine von Kiepert) und die älteren (Bernhardy) zeigen das ganze große Gebiet
von Nimmersatt bis Angerburg und bis zur russischen Grenze bei Goldapp
als von der litauischen Sprache eingenommen mit Ausschluß von zwei deut¬
schen Sprachinseln am Pregel und einer kleinen um Memel- Die Boeckh'sche
Karte von 1861, allerdings die erste und einzige, welche auf genauen amt¬
lichen Ermittelungen beruht, zeigt die Litauer im Süden des Pregels und
in einem breiten Streifen nördlich von dem Strom fast ganz verschwunden,
und der Rest der Landschaft erscheint durch deutsche Sprachparzellen so zer¬
nagt und zerfressen, wie eine Schiffsplanke durch den Bohrwurm. Dennoch
findet man neben dem Kreise Heydekrug auch die Kreise Memel. Niederung
und Tilsit noch mit sehr ansehnlichen rein litauischen Strecken bedeckt. Heute
nun liegt das Bedürfniß des ferneren amtlichen Gebrauchs der Volkssprache
Nach der Königlichen Verordnung nur in den Landgemeinden des Kreises Heydekrug
und das auch nur mit Ausnahme von vier Amtsbezirken vor. Daraus er¬
giebt sich ein besonderes rasches Vorschreiten der deutschen Sprache und das
baldige Aussterben der litauischen in Preußen.
Es bleibt nur noch eine kleine Ecke fremden Sprachgebiets zu beleuchten
übrig, die von dem belgischen Wallonenlande im Süden von Aachen und
Eupen nach Preußen vorspringt. Sie enthält nur die einzige Stadt Mal-
medy. Ihr wurde noch vor wenigen Jahren der Vorwurf gemacht, daß sie
ganz und gar nur die französische Sprache pflege, daß dort in der Familie,
wie in den Verhandlungen des Gemeinderaths und anderer örtlichen Körper¬
schaften nur sie angewendet werde und daß auch die Gesinnung der Bürger¬
schaft französisch sei. Ob dem noch jetzt so ist, wissen wir nicht; aber wir
ersehen aus der Königlichen Verordnung, daß der Bürgerschaft keinerlei amtlicher
Gebrauch der fremden Sprache ferner gestattet ist, wohl aber den Landge¬
meinden im Süden und Osten, aber nicht im Norden der Stadt. Es geht
aus der Verordnung zugleich die merkwürdige Thatsache hervor, daß auch
die wallonischen Landgemeinden an der belgischen Grenze ihre localen
Angelegenheiten nicht in wallonischer, sondern in französischer Sprache ver¬
handeln. Diesem Mißbrauch hätten unseres Erachtens die preußischen Behör¬
den schon längst steuern sollen.
Werfen wir noch einen Rückblick auf das Gesammt-Ergebniß unserer
Untersuchung, so finden wir, daß die deutsche Sprache unter den fremden
Völkerbruchstücken an den Grenzen Preußens in Schleswig und im Bezirk
Aachen kaum merkliche, in Posen sehr erhebliche, in Ost- und Westpreußen,
sowie unter den in der Königlichen Verordnung unerwähnt gebliebenen Wenden
der Lausitz reißend schnelle Fortschritte gemacht hat. Ueber Oberschlesien
In Kirchditmold, einem Dorfe, das eine halbe Meile westlich von Kassel
am Fusse des Habichtswaldes liegt, hatte im vorigen und in diesem Jahr¬
hundert die althessische Försterfamilie Grau ihren Sitz. Ein Oberförster dieses
Namens, welcher dort das noch heute stehende Försterhaus baute, starb in
demselben vor Ausbruch des siebenjährigen Krieges und hinterließ eine Wittwe
mit zwei unmündigen Knaben, welche der damalige Landgraf von Hessen,
Wilhelm VIII., auf seine Kosten erziehen ließ. Als dieselben herangewachsen
waren, traten sie beide frühzeitig in das hessische Jägerbataillon, damals
„Jägercorps" genannt, welches nur aus gelernten Jägern, meist Söhnen von
Forstbeamten, bestand und sich durch seine Tapferkeit im siebenjährigen Krieg,
bei der Erstürmung des von Franzosen besetzten Frankfurt (1792) und in
dem gegen die französische Republik geführten sog. Brabanter Krieg (1793
und 94) rühmlich hervorgethan hat. Beide Brüder Grau verheiratheten sich
dann mit den beiden einzigen Töchtern des Oberförsters Böttger zu Kirch-
ditmold, des Nachfolgers ihres Vaters, und der ältere von ihnen wurde in
Folge dessen Adjunct seines Schwiegervaters und später, nach dessen Tod,
Oberförster zu Kirchditmold. Als solcher hat er in der Geschichte der hessischen
Jägerei eine gewisse Berühmtheit erlangt; zahlreiche, noch jetzt im Munde des
Volkes fortlebende Anecdoten geben davon Zeugniß, welch' eine populäre Ge¬
stalt der „alte Oberförster Grau" im Hessenlande war. Er war ein großer
stattlicher Mann von schönen Gesichtszügen, nach Leib und Seele das Muster
eines alten Hessen von echtem Schrot und Korn.
Kurz nach der Verheirathung beider Brüder brach der siebenjährige Krieg
aus. In diesem gehörte bekanntlich der Landgraf von Hessen-Kassel zu den
wenigen Bundesgenossen des großen Preußenkönigs, welche diesem in seinem
heldenmüthigen Kampf gegen das verbündete Europa beistanden. Durch den
Ausbruch des Krieges wurden beide Brüder als junge Förster gezwungen,
wieder in das hessische Jägercorps einzutreten, und in diesem machten sie den
ganzen siebenjährigen Krieg, unter Führung des tapferen Herzogs Ferdinand
von Braunschweig, von Anfang bis zu Ende mit, während ihre beiden Frauen
in dem elterlichen Försterhaus zu Kirchditmold verblieben. Aus den Kriegs-
ereignisien jener Zeit heben sich hauptsächlich drei Begebenheiten heraus, bei
welchen die Gebrüder Grau eine Rolle spielten.
Die Franzosen hatten sich in den Besitz von Kassel gesetzt und auf dem
nahegelegenen Kratzenberg ein verschanztes Lager angelegt. Ihre Vorposten
lagen in dem Dorfe Kirchditmold, dessen Friedhof von ihnen befestigt worden
war. Eines Abends lagerte auf dem dortigen Försterhof um ein mächtiges
Bivouakfeuer eine französische Grenadier-Compagnie, und der Hauptmann
derselben saß gerade mit dem Schwiegervater der Gebrüder Grau, dem Ober¬
förster Böttger. beim Schach. Da machten plötzlich die hessischen Jäger, von
dem benachbarten Dorf Hohenktrchen herkommend, den Versuch. Kirchditmold
zu überrumpeln, wobei die Gebrüder Grau die ortskundigen Führer abgaben.
In dunkler Nacht überstiegen die Jäger die Hecken des am äußersten Ende
des Dorfes gelegenen Försterhauses und griffen die auf dem Hof liegenden,
völlig arglosen Franzosen, ohne einen Schuß zu thun, mit aufgepflanzten
Hirschfänger an. Ein wildes Handgemenge beginnt, in' welchem der fran¬
zösische Hauptmann mit der Mehrzahl seiner Leute niedergestochen wird.
Während sich das Gefecht von dem Försterhof in das Innere des Dorfes,
namentlich nach dem befestigten Friedhof hin fortwälzte, blieben die beiden
Brüder Grau zurück und pochten ungestüm an die Thüre des verrammelten
Försterhauses. Nachdem sie auf ihren wiederholten Zuruf endlich von den
Ihrigen drinnen an den Stimmen erkannt worden waren, öffnete sich die
Thüre, und es traten ihnen ihre beiden jungen Frauen, jede mit einem kleinen
Kinde auf den Armen, entgegen; diese Kinder hatten kurz nach dem Aus¬
marsch der jungen Männer das Licht der Welt erblickt. Man braucht das
Entzücken eines solchen Wiedersehens nicht weiter auszumalen. Doch dasselbe
sollte nur wenige Minuten dauern, denn die Franzosen hatten aus ihrem
Lager Verstärkungen erhalten und drängten die hessischen Jäger wieder aus
Kirchditmold hinaus. Noch einmal umarmten die Brüder Grau Weib und
Kind — dann waren sie mit ihren Kameraden wieder im Dunkel der Nacht
verschwunden, und die jungen Frauen mit ihren Eltern lauschten zitternd
und zagend auf das Knallen der Schüsse, das sich mehr und mehr in der
Ferne verlor.
Am andern Morgen bot der Forsthof einen schauerlichen Anblick dar.
Derselbe war ganz mit todten Franzosen bedeckt. Unter ihnen befand sich
auch die Leiche des Hauptmannes, von welcher der Oberförster zum Andenken
ein Crucifix mit Rosenkranz ablöste, das jener als Amulet unter der Uni¬
form um den Hals getragen hatte.
Einige Jahre später, während deren sich die beiden jungen Männer und
ihre Frauen nicht gesehen hatten, standen die Franzosen und die alliirten
Truppen des Herzogs von Braunschweig wieder in der Gegend von Kassel
sich feindlich gegenüber. Letztere hatten wieder ihr Lager auf den Höhen des
langgestreckten, waldigen Bergrückens, des sog. Brandes, bei dem Dorf Hoben-
kirchen; ihr Befehlshaber, Herzog Ferdinand, hatte sein Hauptquartier in
dem landgräflichen Lustschloß Wilhelmsthal bei Mönchehof. Im Försterhaus
zu Kirchditmold lag ein französischer General im Quartier welcher von jenem
oben erzählten Wiedersehen der Gebrüder Grau und ihrer jungen Frauen
Kenntniß erhalten hatte. Derselbe war ein menschenfreundlicher Mann, ein
ritterlicher Franzose besten Schlages. Er erbot sich, die erforderlichen Schritte
zu thun, um wieder einmal ein Zusammentreffen zwischen den beiden jungen
Männern und ihren Frauen zu ermöglichen. Er schrieb daher an den feind¬
lichen Befehlshaber, den Herzog von Braunschweig, und bat für die beiden
Frauen mit ihren Kindern um einen Geleitsbrief in das alliirte Lager. Dieser
wurde bereitwilligst gewährt, und der französische General ließ darauf in
seinem Wagen unter Bedeckung die Frauen und Kinder nach den feindlichen
Borposten bringen. Durch diese hindurch gelangten sie glücklich zu ihren
Männern, die von diesem unerwarteten Besuch nicht weniger überrascht
wurden, als damals bei dem nächtlichen Ueberfall Ktrchditmolds ihre Frauen.
Und eben so sicher und wohlbehalten kehrten letztere wieder zurück zu ihren
Eltern nach Kirchditmold. Fürwahr, ein schönes, wohlthuendes Bild echter
französischer Galanterie inmitten all der Greuel, welche die Franzosen sonst
während des siebenjährigen Krieges im westlichen Deutschland und ganz be¬
sonders in Hessen verübt haben.
Das dritte erwähnenswerthe Ereigniß bezieht sich auf das für die Tapfer¬
keit der Hessen rühmliche, aber ihnen leider sehr ungünstige Gefecht bet
Sandershausen, einem Dorfe nahe bei Kassel (23. Juli 1758). Eine Com¬
pagnie hessischer Jäger, in welcher die Gebrüder Grau standen, hatte die
Aufgabe, die Franzosen an dem Uebergang über eine Schiffsbrücke zu hindern,
welche diese in der Ane über die Fulda geschlagen hatten. Die Jäger hatten
sich auf dem rechten Fuldaufer hinter den Hecken der dortigen Gärten ver¬
steckt. Ihr Hauptmann, welcher den Feind in einen Hinterhalt locken wollte,
hatte ihnen befohlen, nicht eher zu schießen, als bis die ersten Franzosen die
Schiffsbrücke passtrt hätte und ganz nahe heran wären; dann sollten sie ihnen
über das Kreuz halten, d. h. über die Stelle, wo sich die weißen Bandeliere
der Patronentasche und des damals noch nicht auf dem Rücken, sondern an
der linken Seite getragenen Schnappsackes kreuzten. Als nun die Franzosen
die Brücke überschritten hatten und in einen Hohlweg eindrangen, wurden
sie aus unmittelbarer Nähe von den hessischen Jägern, von denen ohnehin
jeder seines Mannes sicher war, so heftig beschossen, daß sich die Todten in
dem Hohlweg aufthürmten und das Vordringen der Franzosen völlig ins
Stocken gerieth. Plötzlich ertönt für die Jäger das Signal zum Rückzug.
Eine Abtheilung französischer Reiterei war oberhalb der Ane durch die Fulda
geritten und drohte den Jägern in den Rücken zu fallen. Bei diesem Rück¬
zug erhielt der jüngere der beiden Brüder Grau einen Schuß ins Bein, und
als er seinem Bruder zurief, er möge ihn um Gotteswillen nicht liegen lassen,
hoben ihn dieser und einige Kameraden auf und trugen ihn auf ihren
Büchsen in das erste Bauernhaus des Dorfes Bettenhausen, wo er Schutz
und Verpflegung fand. Unterdeß zogen sich die übrigen Jäger auf den
Sandershäuser Berg, wo ihr Hauptcorps stand, zurück und nahmen an dem
Weiteren Verlauf dieses für die Hessen so verhängnißvollen Gefechtes Theil,
bei welchem schließlich mehrere Hundert dieser Tapfern nach verzweifelter
Gegenwehr von der Uebermacht der Franzosen in die an jener Stelle sehr
tiefe Fulda gesprengt wurden und ertranken.
Noch in seinem hohen Alter gedachte der spätere Oberförster Grau mit
soldatischem Stolz der Heldenthaten, welche die hessischen Jäger in diesem
Gefecht verrichtet. Er war bereits pensionirt, als eines Tages, in der west¬
fälischen Zeit, der König Jerome mit seiner Gemahlin Katharina, der Tochter
des Königs von Württemberg, eine Spazierfahrt nach Kirchditmold machte.
Der König hatte von dem originellen Oberförster so viel erzählen hören,
daß er begierig war, denselben persönlich kennen zu lernen. Der königliche
Wagen hält vor dem Försterhaus, der alte Oberförster wird herausgerufen
und über seine Erlebnisse von der Königin befragt; diese verdolmetschte dann
seine Antworten dem König Jerome, der bekanntlich die Sprache seiner ge¬
liebten Unterthanen nie gelernt. Bei dieser Gelegenheit kam der alte Ober¬
förster Grau auch auf das Sanderhäuser Gefecht zu sprechen, und hierbei
gerieth das hessische Soldatenblut so in Wallung, daß er, ohne zu bedenken,
mit wem er sprach, ausrief: „Majestät, da haben wir Jäger aber die Fran¬
zosen so zusammengeschossen, daß die Todten haufenhoch gelegen haben."
König Jerome, dem auch diese Aeußerung übersetzt wurde, lachte darüber
und ließ den alten Oberförster fragen, wie lange er als Förster gedient hätte,
und welche Pension er bezöge. Letztere erschien dem König so geringfügig,
daß er sie hinfort aus seiner Schatullkasse verdoppelte.
Trotzdem blieb Grau stets ein guter Hesse. Seinen weidmännischen Zorn
erregte es, wenn sein Sohn, welcher sein Nachfolger im Amt geworden war,
in den Waldungen des sog. Leibgeheges starke Hirsche von 16 oder 18 Enden
einfangen mußte, welche dann bei den Parforcejagden in der Ane bei Kassel
zu Tod gehetzt wurden. Die Königin Katharina, welche selbst eine große
Liebhaberin der Jagd war, ließ sich außerdem durch ihren Stallmeister vier
Sechzehnender so dressiren, daß sie mit ihnen Schlitten fahren konnte.
Der Oberförster Grau war übrigens kein Forstmann nach heutiger Art,
sondern ein Jäger alten Schlages, wie man sie damals nur kannte. Denn
in jener Zeit „studirte" man nicht, wie heutzutage, „Forstwissenschaft", son¬
dern man „erlernte" zunftmäßig bei einem bewährten Jäger die „Jägerei"
und erhielt nach überstandener Lehrzeit, wie bei jedem Handwerk, einen ord¬
nungsmäßigen Lehrbrief, durch welchen man die Berechtigung erlangte, in
das militärische Jägercorps aufgenommen zu werden. In demselben blieb
man, bis man eine Anstellung als Förster fand. Bor einer solchen fand
eine Art Examen statt; dieses wurde aber nicht vor einer hochgelehrten
Prüfungscommission, sondern sehr einfach vor dem jedesmaligen Oberförster
von Kirchditmold abgelegt, welcher damit beauftragt war, die Qualification
sämmtlicher hessischen Förster festzustellen. Das Verfahren bei dieser sog.
Prüfung muß ein ebenso praktisches als kurzes gewesen sein; denn in der
Regel war die ganze Sache binnen einer Stunde abgemacht. Der Geprüfte
erhielt dann ein Zeugniß und legte dieses dem Oberforstcollegium vor, wo¬
rauf er in die sog. Versorgungsliste ausgenommen wurde und seine Anstellung
als Förster abwartete. —
Bis in seine siebziger Jahre hatte Grau sein Amt treulich verwaltet
und war kurz vor der westfälischen Zeit in Pension getreten. Die franzö¬
sische Wirthschaft war ihm, als einem guten, alten Hessen in innerster Seele
verhaßt und er dankte Gott, daß er unter derselben nicht mehr zu dienen
brauchte. Mit wahrem Jubel begrüßte er daher den Umschwung des Jahres
1813. Freilich mußte er diesen Jubel zunächst theuer bezahlen. Denn
der auf dem Schlachtfelde viel erprobte, alte Kriegsheld mußte noch die
Schmach erleben, daß im Herbst 1813 von Kosaken sein Haus geplündert
und er selbst von den Unholden mißhandelt wurde. Auf seine Beschwerde
wurde vom russischen General von Winzingerode, welcher vormals hessischer
Jäger-Hauptmann gewesen war und den Oberförster Grau von jener Zeit
her sehr wohl kannte, sofort von Kassel aus eine Abtheilung Husaren auf¬
geboten, um die Marodeure einzufangen und zu bestrafen.
Als im November 1813 Kurfürst Wilhelm I. nach Hessen zurückkehrte,
war der alte Oberförster Grau einer der ersten, welche ihm auf Wilhelms¬
höhe ihre Aufwartung machten. Da der Oberförster Grau ein sehr hohes
Alter erreichte, so besuchte ihn der Kurfürst zuweilen und fragte ihn einst,
wie er es anfange, daß er immer an Geist und Körper so frisch und rüstig
bleibe. Der Oberförster war ein starker Raucher. Indem er nun dem Kur¬
fürsten seine tägliche Lebensweise schilderte, bezeichnete er die verschiedenen Ab¬
schnitte des Tages (Aufstehen, Kaffeetrinken, Frühstück. Mittagsessen u. s. w.)
jedesmal mit den Worten: „Dann mache ich mir eine Pfeife an", so daß der
Kurfürst, welcher selbst nicht rauchte, endlich zu ihm sagte: „Aber mein lieber
Oberförster, er thut ja den ganzen Tag nichts als Pfeifen anmachen." Der
Kurfürst blieb ihm stets gewogen und nahm ihn sich gewissermaßen zum
Muster, indem er hoffte ein ebenso hohes Alter zu erreichen, als der Ober¬
förster Grau zu Kirchdttmold. Doch starb Kurfürst Wilhelm I. vor letzterem
im Jahre 1821. 78 Jahre alt, während Grau 1823 in dem hohen Alter
von 93 Jahren zu Kirchditmold verschied. Er hinterließ zwei Söhne, von denen
der ältere, wie schon erwähnt, sein Amtsnachfolger in dem Forsthaus zu Kirch¬
ditmold geworden war. Dieser Sohn spielte in dem Aufstand der Hessen im
Jahre 1809 insofern eine Rolle, als er beschuldigt wurde, den Aufruhr in
dem zu seinem Bezirk gehörigen Dorf Dörnberg mit angestiftet zu haben.
Er wurde in Folge dessen verhaftet und in das Kastell abgeführt, welches
Mit Gefangenen aus allen Ständen überfüllt war. Während mehrere Führer
des Aufstandes durch das westfälische Kriegsgericht zum Tode verurtheilt und
auf dem sog. Forste erschossen wurden, saß der Förster Grau, den Tod immer
vor Augen, längere Zeit in dem Kastell. Seine Schwester, eine durch Schön¬
heit und Entschlossenheit ausgezeichnete Frau, welche an einen Kasseler Bür¬
ger verheirathet war, that auf Wilhelms-, oder wie es damals hieß, Na¬
poleonshöhe einen Fußfall vor der Königin Katharina und bat um Gnade
für ihren Bruder. Auch die Gunst, welche sich sein alter Vater durch die
oben erzählte Unterredung bei dem König Jerome erworben hatte, mochte
dazu beitragen, daß der Sohn endlich freigelassen und sogar in seine
Stelle als Förster zu Kirchditmold wieder eingesetzt wurde.
Ein widerwärtiges Buch sowohl nach seinem Inhalt, wie nach seiner
Tendenz und nicht minder nach seiner Sprache. Von den vier Kapiteln behandelt
das erste eine Episode aus dem Treiben der bekannten mystisch-pietistischen
Schwärmerin Eva v. Buttlar, die zu Anfang des vorigen Jahrhunderts im
Wtttgensteinschen mit einigen männlichen Spießgesellen muckerische Thor¬
heiten verbunden mit geschlechtlichen Ausschweifungen trieb, das zweite die
Geschichte der Wiedertäufer von Münster, das dritte (vor einigen Jahren
schon besonders erschienen) wieder eine Muckergeschichte, die der wahnsinnigen
Margaretha Peter von Wildisbuch welche, nachdem sie in religiöser Überspannt¬
heit ihren Anhang zu greuelvollem Morde veranlaßt, sich zuletzt selbst von ihm
kreuzigen ließ. Das vierte Kapitel (ebenfalls schon abgedruckt und zwar in
der Gartenlaube) erzählt die Geschichte der Commune von 1871. Die
Zwischensätze bestehen bis auf den letzten, der uns damit bekannt macht, daß
>>er Verf. Herrn Gutzkow für einen bedeutenden und verdienstreichen Schriftsteller
hält, in Späßen, denen nicht viel mehr fehlt als der Humor. Basis und
Tendenz des ganzen Buches ist ein selbstgefälliger Pessimismus, an dessen
Echtheit wir übrigens keinen Augenblick glauben, von dem wir vielmehr an¬
nehmen, daß der Verfasser ihn zur Schau trägt, weil er damit geistreich,
originell unK interessant auszusehen meint. Was damit nicht erreicht wird, muß
die Wahl des Stoffes und die schamlose Hervorhebung blutig, wollüstiger
Greuel wie in Ur. 1, 2 und 3 thun. Die Sprache des Herrn Scherr endlich
erinnert an den Ton der Schenken, in denen die schweizerische Demokratie
sich trifft. Wortbildungen wie „Opportunitätsgesindel", „Dünkeltobsucht".
„Hypothesenwind", „Stinkjude", „erdiebsfingern". „unheilige Gesindelschaft"
„Menschenspülicht" sind noch lange nicht die schlimmsten. Daß der Verfasser
bei manchen seiner Bemerkungen und Urtheile im Grunde Recht hat, soll
nicht in Abrede gestellt werden, nur salbadert er sich immer in arge Ueber¬
treibung hinein, und auch, wo er etwas Bekanntes und Anerkanntes vor¬
bringt, muß er es in dem Gemisch von Pomp und Rohheit sagen, von dem
er offenbar wähnt, es sei die Sprache des großen Mannes. Auch er leidet,
wie uns dünkt, am Größenwahn, aber es scheint, daß das Publicum ihn
verdorben hat, indem es das Bramarbasiren des Polyhistors für echte sitt¬
liche Entrüstung hielt, während es doch nichts anderes als der Geschäftsstil
eines literarischen Vielschreibers war.
Erklärt sich mit heißer Entrüstung und in bilderreicher Sprache gegen
die Anwendung des Betrugsparagraphen (§. 263) des neuen deutschen Straf¬
gesetzbuchs auf das Treiben der Gründer. Das Resultat, zu dem er nach
allerlei Tiraden gegen Staatsanwälte und Delatoren der Preßpiratenschaft
gelangt, ist ungefähr folgendes: Die Gründungsseuche ist eine Krankheit der
Zeit; sie ist nicht die Ursache, sondern nur eins der Symptome der Urge-
sundheit unseres wirthschaftlichen Organismus; sehr viele Gründer haben in
gutem Glauben gehandelt, sie hielten ihr Verfahren für erlaubt, und so darf
man sie nicht als Betrüger behandeln. „Die Heranziehung des Betrugs¬
paragraphen in die Therapie des Gründungswesens ist eine im höchsten
Grade gefährliche Maßregel. Sie öffnet dem gewerbsmäßigen Denuncianten-
thum Thür und Thor, züchtet den straflosen Metneid und trifft mit dem
Schuldigen ein Heer von Unschuldigen, deren einziges Vergehen allein darin besteht,
daß sie einer Wahnvorstellung ihrer Zeit sich kritiklos hingegeben." Welche
Phrasen! Ob sich die Staatsanwälte und die Richter wohl an diesen senti-
malen Propheten kehren und sich fürchten werden „Märtyrer zu schaffen?"
Wir denken, nicht, und werden uns jedes Mal freuen, wenn wieder einen
der Schwindler der letzten Jahre für die „Wahnvorstellung", straflos schwindeln
zu dürfen, die gebührende Strafe trifft.
Diese Uebersetzung, die zuerst im Säeularjahre von Dante's Geburt er¬
schien und schon damals das Lob großer Sinntreue und ungemeinen Wohl¬
klangs verdiente, hat in dieser neuen Gestalt, die sie durch vielfache Aende¬
rungen gewonnen hat, einen nicht unwesentlich höhern Werth erlangt, so daß
wir sie, ovschon sie des Reimes entbehrt und nur die fünffüßigen Jamben
des Originals wiedergiebt, für die beste Uebertragung desselben erklären
möchten, die gegenwärtig im Deutschen existirt. Eine ziemlich große Anzahl
von Stellen hat der Uebersetzer diesmal anders aufgefaßt und wiedergegeben,
als früher. Noch häufiger ist es ihm gelungen, sich ohne Schaden für die
Verständlichkeit den Worten des Urtextes mehr anzuschließen als in den
ersten Ausgaben, und eben so oft hat er, ohne die Treue zu beeinträchtigen,
eine Wendung gefunden, die den Gedanken des Dichters klarer hervortreten
läßt oder dem Verse mehr Wohlklang verleiht. Auch die Erläuterungen, die
im zweiten Bande folgen, sind vielfach erweitert worden und tragen so noch
mehr zum Verständniß des Textes bei. Namentlich ist dies bet denen zur
Hölle und zum Fegefeuer der Fall, wo der Verfasser Scartazzini's Commentar
benutzen konnte.
Wir knüpfen daran die Anzeige, daß auch von der im gleichen Verlag
erschienenen Uebersetzung von Thomas Moore's „Lalla Ruth", deutsch von
Dr. Alexander Schmidt, und von Volney's „Ruinen", deutsch von Dr. August
Peters, Verlag von Kühlmann in Bremen, neue Auflagen oder Ausgaben
erschienen sind.
Der Verfasser des besten Buchs über die Geschichte Sachsens giebt uns
hier in gedrängter Uebersicht und in geschmackvoller Darstellung einen Abriß
dessen, was wir über das Leben der verschiedenen Zweige der Menschheit nach
den neuesten Forschungen wissen, wobei er auch nach Möglichkeit die Culturge¬
schichte berüsichtigt. Das Alterthum ist auf 74, das Mittelalter auf 72, die neue Zeit,
deren Geschichte bis auf die Beendigung des letzten Carlistenaufstandes fortgeführt
wird, auf 149 Seiten abgehandelt. In welchem Geiste der Verfasser die
neuesten Ereignisse in Deutschland bespricht, mag uns sein Schlußwort sagen:
„Stark genug, den Frieden nach allen Seiten zu gebieten, bildet das Deutsche
Reich den Schwerpunkt der europäischen Politik. Mit seiner Begründung ist
eine neue Periode der geschichtlichen Entwickelung angebrochen, in welcher
das deutsche Volk, bisher nur um seine geistigen Errungenschaften von andern
bewundert, auch als Nation seine Stärke in Beschützung jedes Rechts, in
Bekämpfung jeden Unrechts" zu bewähren haben wird — und bewähren
wird, fügen wir hinzu, so lange es sich nicht selbst untreu wird, und so lange
die Männer, die es jetzt leiten, oder Geistesverwandte nach ihnen, an seiner
Spitze stehen.
In der Ueberschrift zum Artikel von Erwart Kattner S. 67 muß es heißen: Die deutsche Sprache
in den Provinzen Preußens (statt in der Provinz Preußen).__^___
Teil und Geßler in Sage und Geschichte. Nach urkundlichen Quellen von
E. L. Rochholz. Heilbronn, Verlag von Henninger 1877.
Daß die Erzählung von Tell's Apfelschusse und der Ermordung des
Vogts Geßler durch ihn in allen Stücken aus einer Mythe der arischen Ur¬
zeit beruht, ist schon längst behauptet, seit geraumer Zeit von der ernsten
Sagenforschung und Geschichtsschreibung anerkannt und nur von Wenigen
noch heute bestritten. Gleichwohl ist das vorliegende Buch mit seiner über¬
aus gründlichen, bisweilen gar zu gründlichen und in Folge dessen breiten
Behandlung des Gegenstandes willkommen zu heißen. Niemand kann nach
den Ausführungen dieser mit ebenso viel Fleiß als Scharfsinn gearbeiteten
Monographie noch ernsthaft und mit gutem Gewissen meinen, daß ein Tell
und ein Geßler, wie sie in den alten schweizerischen Tellschauspielen leben,
und wie Schiller sie uns vorgeführt, jemals als geschichtliche Personen existirt
haben, und die Schweizer können sich dazu Glück wünschen, da der Anfang
ihrer Freiheit jetzt nicht mehr durch einen Meuchelmord befleckt ist. Da
unserer Erfahrung nach auch unter Leuten von sonst guter Bildung die
wissenschaftlichen Untersuchungen in Betreff der Tellssage und deren Ergeb-
nisse weniger als wünschenswert!) bekannt sind, so glauben wir nichts Ueber-
flüssiges und Unnützes zu thun, wenn wir einen ausführlichen Auszug aus
der ersten und einige Resultate der zweiten Hälfte der Rochholz'schen Schrift
folgen lassen. Zu jenem möge im Boraus bemerkt sein, daß die Sage von
dem Apfelschusse vor einem tyrannischen Herrscher auch im Völkerkreise der
Kelten und zwar unter den Kymren von Wales vorkommt.
Das Ergebniß unseres Buches lautet: Die Namen Tell und Geßler
sind geschichtlich unvereinbar. Jener bezeichnet eine den verschiedensten Völkern
schon im frühen Mittelalter bekannte Naturmythe, dieser aber erscheint erst
in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts und gehört lediglich dem Schwei-
zerkanton Aargau an. Aus den Urkunden der Familiengeschichte der schwei¬
zerischen Geßler geht hervor, daß kein einziger derselben die Rolle, welche die
Sagen von Tell ihnen zuweisen, gespielt, kein einziger einen Tell zum Gegner
gehabt hat, kein einziger von einem Tell oder einem ähnlichen Schützen ge-
tödtet worden ist. Ueberdieß aber charakterifirt sich die ganze Sage von vorn¬
herein als ungeschichtlich. „Alle Züge dieses Ereignisses", sagt H. Gelzer,
„spielen in das Land der Wunder. Gelingen in Allem, was der Held un¬
ternimmt. Er vollbringt glücklich den Apfelschuß, er allein rettet das Schiff
im Sturme, er hindert es mit einem einzigen Stoß an der Landung, er erlegt
ungefährdet den Tyrannen. Daß alle diese Züge, von denen jeder einzeln
schon des Wunderbaren genug hat, sich noch so rasch folgen, daß sie so in
ein einziges Drama verknüpft sind, verräth für Jeden, der mit der Eigen¬
thümlichkeit der Sagenbildung vertraut ist, daß hier ebenfalls die Hand der
Sage gewaltet hat."
Der Kern des Naturmythus, aus dem sich die Sage von Tell und
Geßler entwickelt hat, wird in den Volksfesten dargestellt, die in der Zeit
von den Fasten bis Pfingsten den Sieg des Lichtes über das Dunkel, des
Sommers über den Winter feiern, und von denen Rochholz eine große An¬
zahl beschreibt, die früher an verschiedenen Orten der Schweiz abgehalten
wurden. Sieben Burgen des Winters müssen nach altindischen Glauben ge¬
brochen werden — die sieben Wintermonate von Oktober bis Mai — und
zwar müssen sie mit Pfeilen beschossen werden, welche die Sonnenstrahlen des
Lichtgottes versinnbilden. symbolische Handlungen der Art kommen vielfach
vor. Das ursprünglichste Verfahren dabei schildert uns Gener von Kaisers¬
berg in den Mumelspiel seiner Heimath bei Schaffhausen, dem er 1352 bei-
wohnte. Man baute hier aus Bäumen und Reißig eine „Weihnachtsburg",
die dann von den Nachbarn belagert, mit Pfeilen und Bolzen aus Nüben-
schnitzen beschossen und schließlich erstürmt wurde, worauf die Bauern sich zu¬
sammensetzten und „eine ehrbare Freude mit einander hatten." Anderswo trat
der Winter als „Wilder Mann", als Bär, als Drache, als Räuberbande,
als Landesfeind u. d. auf, um schließlich überwunden und vernichtet zu wer¬
den. Ueberall war der Grundgedanke: nach langwierigem Kampfe zwischen
dem winterlichen Tyrannen und dem Helden Lenz erliegt jener den Sonnen¬
pfeilen, die dieser auf ihn abschießt.
Dieser Naturmythus, der allen arischen Völkern gemeinsam war, hat
dann in sehr alter Zeit schon ethischen Gehalt gewonnen und ist zuletzt,
gleich manchem andern, zu einem angeblich geschichtlichen Ereignisse geworden,
mit dem andere Züge aus Naturmythen sich verschmolzen. So ist die Be¬
freiung vom Winter zur Befreiung von der Herrschaft eines grausamen Mer-
schen und drückenden politischen Zuständen geworden, so verwandelte sich der
zunächst überhaupt als siegender Held gedachte Frühling in einen gefeierten,
stets treffenden Bogenschützen, und so ist u. A. der Apfelschuß in die Sage
gekommen, bis dieselbe unter verschiedenen Völkern arischen Stammes und
zwar schon Jahrhunderte vor der Zeit, in die man Tell und Geßler
versetzt, mehr oder minder die Gestalt angenommen hatte, in der sie diese
beiden zu Helden hat. In Folgendem geben wir nach Rochholz Beispiele
solcher der Tellssage zeitlich weit vorausgehender Erzählungen.
Sarpedon, ein griechischer Heros, wurde als Kind zum Schußziele hin¬
gestellt und ihm ein Ring von der Brust geschossen, eine That, welche die
Erwerbung der Krone von Lykien zur Folge hatte. Akkon von Kreta sieht,
wie sein kleiner Sohn Phaleros von einem Drachen überfallen und umstrickt
ist, nimmt Bogen und Pfeil, zielt durch die Umringelungen und trifft über
dem Kopfe des Knaben in den Rachen des Ungeheuers. Der persische Dichter
Farid Uddin Attar erzählt in seinem 1170 verfaßten Gedichte „Die Sprache
der Vögel": „Ein König hatte einen Lieblingssclaven, diesem legte er einen
Apfel auf den Kopf, schoß darnach mit Pfeilen und spaltete den Apfel
stets, der Sklave aber war während dessen vor Furcht krank."
Die nordische Wilkinasage berichtet: Wieland, der kunstreiche Schmied,
wurde vom Schwedenkönige Nidung gefangen genommen, seiner Schätze beraubt,
angehalten, als Knecht für die königliche Schatzkammer zu arbeiten, und, als
man sein Entweichen zu fürchten begann, gelähmt. Er entwich später doch
vermittelst der goldnen Flügel, die er sich in der Stille geschmiedet hatte.
Inzwischen hatte er seinen Bruder Eigil, den berühmtesten Bogenschützen, von
seiner Gefangenschaft benachrichtigt, und dieser erschien an Nidungs Hofe.
Er wurde dem Anscheine nach gut aufgenommen; denn sein Ruf war hier
wohlbekannt, allein er mußte schwören, des Bruders Schmach nicht rächen
zu wollen, und hatte alsbald eine Probe seiner Bogenfertigkett abzulegen,
indem er seinem dreijährigen Sohne Orendel einen Apfel vom Haupte schießen
sollte, den Nidung eigenhändig dem Kinde auf's Haupt legte. Der Schütze
sollte weder zur Rechten noch zur Linken, noch über den Apfel weg, sondern
allein nach letzterem zielen und nur einen Pfeil abschießen. Den Knaben zu
treffen war ihm nicht verboten, weil man wußte, daß er dies schon selbst zu
vermeiden bemüht sein werde. Eigil verweigerte erst den Schuß, unterzog sich
aber, als man ihm mit dem Schicksal seines Bruders drohte, dem Befehle.
Doch nahm er nun drei Pfeile aus dem Köcher, worauf er den einen an
die Sehne legte und den Apfel mitten durchschoß. Dieser Meisterschuß ist
lange gepriesen worden, auch der König bewunderte ihn sehr. Doch richtete
er bald die Frage an den Schützen, wozu er drei Pfeile aus dem Köcher ge¬
nommen habe, da ihm doch nur erlaubt worden sei. einen zu verschießen.
Eigil antwortete: „Herr, ich will nicht gegen euch lügen; wenn ich den
Knaben mit dem ersten getroffen hätte, so waren die beiden andern euch zu¬
gedacht." Die Umstehenden meinten, er habe wie ein Biedermann gesprochen,
auch der König nahm seine Rede gut auf und reihte ihn unter seine Mann¬
schaft ein. Als Wieland dann, nachdem er die Tochter des Königs betrunken
gemacht und geschändet und dessen beide Söhne ermordet hatte, entfloh,
und Nidung von der höchsten Schloßzinne herab verhöhnte, gebot der
König Eigil, nach ihm zu schießen. Eigil that, wie ihm geheißen, und traf
nach Verabredung mit seinem Bruder eine Blase, die dieser mit dem Blute
der Königssöhne gefüllt und sich unter den linken Arm gebunden hatte, so
daß der grausame König sehen mußte, wie das Blut seiner Kinder zum
zweiten Male floß. Er starb bald darauf vor Kummer. Wieland aber floh
heim nach Seeland.
Diese Erzählung kam, nach dem ausdrücklichen Berichte der Wilkinasage,
aus dem Munde deutscher Männer aus Münster, Soest und Bremen an
reisende Skandinavier, wurde von diesen gegen die Mitte des dreizehnten
Jahrhunderts aufgezeichnet und gelangte später in ihrer altnordischen Fassung
nach Deutschland zurück, weshalb man sie gewöhnlich für skandinavischen
Ursprungs hielt. Ihre deutsche Herkunft aber wird nicht blos durch das Obige
bezeugt, sondern auch durch Hunderte altgeschichtlicher Personen- und Orts¬
namen, von denen Rochholz eine Anzahl anführt. Nicht nur die Wielande
und Eigilone. auch der heute befremdlicher klingende Name der Geschlechter
Orendel treten in oberdeutschen Urkunden frühzeitig und reichlich auf. Der
Mythus vom Schützen Eigil ist also in uralter Zeit nicht blos in Nteder-
deutschland, sondern auch am Rhein und Main, an der Donau und am
Bodensee und ebenso auch in der Schweiz bekannt gewesen.
Verwandt hiermit, aber der schweizerischen Tellsage noch näher stehend,
ist die Erzählung vom Schützen Toko, ,die wir in der Histvii» danieg, des
Sazco Grammaticus antreffen. Saxo schrieb im letzten Viertel des zwölften
Jahrhunderts ' und verlegt die erwähnte Erzählung in das zehnte. Er
erzählt:
Ein Krieger Toko hatte einige Zeit in des Dänenkönigs Harald Blauzahn
Diensten gestanden, durch seine Leistungen die seiner Gesellen überboten und
sich damit viele Neider gemacht. Als er nun einmal bei einem Gelage, schon
etwas angetrunken, sich brüstete, er sei ein so geübter Schütze, daß er den
allerkletnsten Apfel, draußen auf einen Stock gesteckt, mit dem ersten Schusse
herabholen wolle, brachten die Horcher dies Wort dem König zu Ohren und
dieser war grausam genug, des Mannes vermessene Rede zu dessen Söhnleins
Lebensgesährdung zu mißbrauchen. Er befahl, statt des besagten Stockes solle
Tokos Kind, dieses theuerste Pfand der Vaterliebe, als Ziel hinausgestellt
werden, und wenn der Prahler den Apfel auf des Söhnleins Haupte nicht
mit dem ersten Pfeile durchbohre, so habe er mit seinem Leben sein freches
Reden zu büßen. Nun holte Toko den Sohn herbei, stellte ihn mit dem
Gesichte gegen das Ziel und sprach ihm Muth ein: unverwandten Hauptes
und unbeweglich müsse er das Schwirren des heranfliegenden Pfeiles erwar¬
ten, das geringste Zucken könnte den sichersten Schuß vereiteln. Er nahm
hierauf drei Pfeile aus dem Köcher, legte den ersten auf die Sehne und traf
den Apfel. Hätte er gefehlt und den Knaben ins Haupt getroffen, so wäre
der Mord auf den Bater gefallen, und man hätte den Schützen dem Er¬
schossenen nachgeschickt. Vom Könige alsdann befragt, wozu er mehrere
Pfeile aus dem Köcher genommen, da doch sein Heil nur auf einem Schusse
gestanden habe, erwiederte Toko: „Um an dir das Festgeber des ersten mit
der Schärfe der beiden andern zu rächen; denn nicht blos die Unschuld soll
gestraft werden, und deine Gewaltthätigkeit soll nicht ungerochen bleiben."
Mit diesem freimüthigen Worte gab er zu verstehen, daß ihm allerdings der
Titel des Tapfern, dem Könige aber eine herbe Rüge gebühre.
Allein vergebens hatte Toko diese für sein Vaterherz gefährlichste Klippe
nun umfahren, bald darauf brach ein ebenso schweres Gewitter über ihn los.
König Harald pflegte nämlich jener Fertigkeit sich zu berühmen, mit denen
die Finnen ihre verschneiten Gebirge auf Schneeschuhen durchfahren. Als
nun Toko auch hierin seine Geschicklichkeit derjenigen des Königs gegenüber¬
zustellen wagte, wurde er abermals beim Worte genommen und mußte die
Probe seiner Behauptung beim Felsen Kolla bestehen. Doch auch diesmal
hatte er, wie der Erfolg bewies, nicht eitel geredet. Er bestieg die Höhe jener
Meeresklippe, hatte nichts als seinen Leitstab, schnürte die glatten Schritt¬
platten an die Sohlen und fuhr dann mit reißenden Rutsch in die Tiefe.
Das blosse Erblicken der grausigen Abgründe würde Jeden noch vor Beginn
des Wagnisses außer sich gebracht und mit völliger Stumpfheit geschlagen
haben; er aber, auf abschüssigem Fels mit Blitzesschnelle hinabsausend, blieb
beherzt und wußte mit sicherer Hand den steuernden Leitstab zu führen.
Zwar gingen die schwachen Schneeschuhe an dem scharfen Gestein in Stücke,
und er selbst war nahe daran, ins Meer zu' stürzen, dennoch erreichte er
glücklich das Gestade und wurde von einem Schiffe aufgenommen. Als man
hernach die Trümmer der Schneeschuhe auffischte und dem König überbrachte,
hielt ihn dieser, der nichts weiter erfuhr, für todt.
Inzwischen war Harald in seiner Grausamkett gegen die Unterthanen
soweit gegangen. Menschen mit Ochsen zusammenspannen zu lassen. Darüber
empörten sich die Dänen, des Königs Sohn Sweno trat auf die Seite des
Volkes und wurde auf den Thron erhoben, Vater und Sohn rückten gegen¬
einander zu Felde, unter Sweno's Truppen stand Toko. Während man
zwischen beiden Heeren über einen Waffenstillstand unterhandelte, erging sich
Harald im nahen Walde, und als er hier eines Bedürfnisses wegen hinter
einem Gebüsch sich niederließ, wurde er von Toko überrascht und von dem
nach Rache lechzender Manne mit einem Pfeilschuß tödtlich verwundet. Die
Seinigen brachten ihn nach Julin, wo er bald darauf verschied.
Man sieht, daß hier alle Hauptpunkte mit der Sage vom schweizerischen
Tell zusammentreffen: der Schuß nach dem Apfel auf dem Haupte des Kindes,
das Bereithalten mehrerer Geschosse von Seiten des Schützen, dessen freies
Wort an den grausamen Gebieter, der wagehalsige Rutsch vom Felsen, der
in der Schweiz zum wagehalsigen Sprunge wird, und der Fall des Bedrängers
durch die Hand des Bedrängten. Mit Harald's Sohn Sweno, der die Waffen
gegen den eigenen Vater kehrt, ist Johann Parricida zu vergleichen. Der
König bringt dadurch, daß er Menschen und Ochsen zusammenspannt, sein
Volk zur Empörung, in der Chronik des Weißen Buches, die Tell's zuerst
gedenkt, bewirkt der Vogt Landenberg dasselbe, indem er dem Melchthal die
Ochsen vom Pfluge nehmen und ihm sagen läßt, .purer (Bauern) solten
den pflüg zielt." Harald wird hinter einem Gebüsch erschossen, Etterlin's
Chronik läßt den Landvogt von Tell „zuo Küßnach in der holen Gassen
HInder eynem poschenstuden" getödtet werden.
Altnordische Abarten der Eigil« und Tokosage sind die von Eindridi
und Heming. Eindridi verspricht dem norwegischen König Olaf Tryggwason
(!- 1030), sich taufen zu lassen, wenn er ihn in drei Künsten: Schwimmen,
Bogenschießen und Messerwerfen überträfe. Da Eindridi's Geschicklichkeit als
Schütze bekannt ist, so bestimmt der König, daß sie vom Kopfe eines Knaben,
den jener sehr liebt, eine Tafel herabzuschießen versuchen sollen. Man läßt
nun dem Knaben die Augen verbinden und das Tuch von zwei Männern
an den Enden festhalten, damit er vor dem heranschwirrenden Pfeile nicht
zusammenzucke. Darauf schießt der König zwischen Kopf und Tafel durch.
(Nach andern streifte er den Knaben, so daß er blutete.) Eindridi dagegen
unterläßt auf Bitten der Mutter und Schwester desselben den Schuß und
erklärte sich für besiegt. In der andern, ebenfalls in Norwegen spielenden
Sage besucht der König Harald Hardrade Sigurdson (5 1066) einst Asiat,
einen reichen Bauer auf der Insel Torg, und fordert dort dessen Sohn
Heming zum Wettstreit im Bogenschießen auf. Als er sieht, daß er diesem
dabei nicht gleichkommt, zwingt er ihn bei Verlust des Lebens, dessen Bruder
Blom eine Haselnuß vom Kopfe zu schießen. Der Schuß gelingt. Als
Harald aber dann einen Kriegszug gegen England unternimmt, stellt sich
Heming auf die Seite der Engländer und bezeichnet in der Schlacht bet
Stamfordbridge den König durch einen abgeschossnen Pfeil so genau, daß ein
anderer Schütze denselben erkennt und tödtlich verwundet.
Wieder der schweizerischen Sage ähnlicher ist die von dem Holsteiner
Henning Wulf, einem reichen Bauer zu Wewelsflet in Stormarn, der 1472
bei einer Empörung der Marschleute gegen König Christiern deren Anführer
gewesen war. Geschlagen und flüchtig, verbarg er sich in einem Sumpfe
und wurde hier durch seinen Hund, der ihm nachgelaufen war, verrathen.
Vor den König geführt, sollte er hingerichtet werden. Doch ließ Christiern,
da er wußte, daß Wulf ein trefflicher Schütze sei. dessen einziges Söhnlein
herbeiholen und befahl dem Vater höhnisch, demselben einen Apfel vom Kopfe
zu schießen; gelänge dies, so sollte der Empörer frei sein. Wulf holte seinen
Bogen, legte auf, nahm zugleich einen zweiten Pfeil zwischen die Zähne und
that glücklich den Schuß. Auf die Frage des Königs nach der Bestimmung
des zweiten Pfeils erfolgte die uns schon bekannte Drohung, worauf der
König den Schützen in die Acht erklärte und Wulf landflüchtig werden
mußte. Sein Besitz wurde mit Beschlag belegt, heißt heute noch das Königs¬
land und mußte als solches früher schwere Abgaben tragen. Dieselbe Sage
ist auch zu Nienborstel im Kirchspiel Hohenwestedt localistrt, und zwar da.
wo ehedem ein Schloß stand. Der Schütze mußte hier seinem Sohne eine
Birne vom Kopfe schießen.
Ebenfalls ein Absenker der allen diesen Erzählungen und auch der
Schweizersage zu Grunde liegenden Mythenwurzel aus der Urzeit ist die
altenglische Ballade von William of Cloudesly, einem Nachfolger Robim
Hood's, der, wie dieser mythische Geächtete im Sherwood Forest. als Wild¬
dieb in einem Walde bei Carlisle lebte, sich endlich ergab und auf die
Bitte der Königin begnadigt wurde. Um dem Könige einen Beweis seiner
^eschicklichkeit zu geben, erbot er sich von freien Stücken, seinem einzigen
siebenjährigen Sohne auf einer Entfernung von hundertundzwanzig Schritten
einen Apfel vom Kopfe zu schießen, vollbrachte das Wagstück und wurde da¬
für in die Königliche Leibgarde aufgenommen.
Noch ferner als die zuletzt erwähnte Sage steht der Erzählung vom
schweizerischen Tell die Mythe vom Riesen Tollo oder Töll, die an den
Küsten und auf den Inseln Esthlands verbreitet ist, aber aus Schweden
stammt. Sie hat mit jener allerdings den Namen des Helden, sonst aber
Nur den Weitsprung über Wasser und Fels, und Anklänge an die schließliche
Entrückung in einen Berg und den Zauberschlaf gemein, den Tell im Axen-
berge schläft. Die beiden Treffschüsse nach dem Apfel und nach dem Vogte
Und die bestandene Seefahrt im Sturme fehlen ihr. Aber diese ihr bei den
Jnselschweden mangelnden Züge treffen wir, wenn auch an einen andern
Namen geknüpft, bei den angrenzenden Finnen, sowie bei deren Nachbarn,
den Lappen, an. Im russischen Karelier wurde dem Sprachforscher Castre'n
Folgendes erzählt:
Einst machten finnische Grenzbewohner einen Streifzug nach dem Dorfe
Alajärwi, und nachdem sie dasselbe geplündert, wollten sie einen von ihnen
gehaßten und lange schon verfolgten Greis gewaltsam mit fortschleppen.
Während sie ihn nun längs des einen Ufers eines Sees hinführten, folgte
ihnen auf dem andern sein jüngster zwölfjähriger Sohn Lähonnen Tittta und
stieß fortwährend die Drohung aus, er wolle sie allesammt niederschießen,
wenn sie den Vater nicht in Freiheit setzten. Die Räuber waren jedoch nicht
gewillt, dieser Drohung Folge zu geben, sie verhöhnten den Knaben nur
und verfuhren um so grausamer mit dem Vater. Allein der Knabe ließ sich
nicht abschrecken, und die Feinde versprachen ihm endlich, seinem Begehren
unter der Bedingung zu willfahren, daß er vom entgegengesetzten Ufer aus
durch einen Pfeilschuß den Apfel zerspalte, den sie dem Vater auf den Kopf
legen würden. Der Knabe ging in der That auf diesen gefährlichen Versuch
ein, und der Vater gab ihm dabei folgenden Rath: „Erhebe deine Hand,
senke die andere; denn die Gewässer des Sees ziehen den Pfeil an." Der
Sohn that hiernach, und ganz gegen die Erwartung der Feinde traf der
Pfeil richtig sein Ziel, der Apfel fiel in zwei Stücken vom Haupte des Vaters
herab, und dieser wurde aus seiner Gefangenschaft befreit.
Eine andere Tradition erzählt von einer Finnenschaar, die sengend und
brennend weit und breit im russischen Karelier hauste. Um so viel als
möglich vor dem plündernden Feinde zu retten, hatten die Bewohner des
Landes ihre Schätze vergraben und ihr vorräthiges Getreide theils dem Viehe
vorgeworfen, theils auf den Schnee gestreut, woraus ihnen später eine gute
Ernte erwuchs. Auf diesem Raubzuge überraschte der Feind einen Karelier
Lähonnen Tinea in tiefem Schlafe. Durch den Lärm aufgeweckt, sprang dieser
von seinem Lager auf, ergriff Bogen und Köcher, warf die Beinkleider über
den Arm und entfloh solchergestalt den Verfolgern. Er war ein schneller
Läufer und würde sich wohl durch die Flucht gerettet haben, doch nöthigte
ihn die strenge Kälte des Winters, an seine nackten Beine zu denken. Als
er daher einen kleinen Vorsprung erreicht hatte, blieb er stehen, um die Hosen
anzuziehen, allein kaum hatte er das eine Bein bedeckt, als die Feinde ihn
einholten. Voll Muth und Geistesgegenwart spannte er nun seinen Bogen,
richtete ihn bald auf den einen, bald auf den andern der herankommenden
Verfolger und rief dabei: „Hüte dich, ich schieße dich nieder!" Durch diese
List brachte er eine solche Verwirrung unter den Gegnern hervor, daß er wieder
Gelegenheit zur Flucht und zum Ankleiden fand, woraus er in die Tiefe der
Wälder verschwand. Die Räuber setzten dann ihren Streifzug fort und ge¬
langten nach Verübung vieler Gewaltthaten an die Ufer des Sees Tuoppa-
järwi. Von hier wünschten sie nach Pääjärwi zu fahren, und da sie des
Weges unkundig waren, zwangen sie einen Bauer in Kiisjoki, ihr Boot ans
Ziel zu lenken. Auf dem Wege, den sie einschlagen wollten, befindet sich der
große Wasserfall von Niska. Als sie in der Nähe der Stromschnelle ober¬
halb desselben waren, steuerte der Bauer hart am Ufer hin, sprang plötzlich
auf eine über das Wasser hervorragende Felsplatte und stieß im Sprunge
das Fahrzeug in den Fluß hinaus. Die Feinde vermochten das Boot nun¬
mehr nicht zu lenken oder in seinem Treiben aufzuhalten, und die Strömung
führte sie in den brausenden Wasserfall hinab. Später las man an dessen
Tuße vierzig Mützen auf.
Der gefeierte Held, welcher finnisch Laurukäinen, läppisch Laurukadsch
heißt, hatte in Lappland, das ihm trefflich bekannt war, oft den russischen
Landesfeinden als Wegweiser gedient und sie in dieser Eigenschaft bei Fahrten
über Ströme und Seen ins Verderben zu führen gewußt. Einst hatten sie
ihn zum Steuermann den Patj»sti abwärts genommen. Als sie in die Nähe
einer Stromschnelle gekommen waren, band Laurukäinen ihre sieben Boote
zusammen und ermahnte die Russen, unter das Verdeck zu kriechen, damit
sie beim Anblick des furchtbaren Wasserfalles nicht in Schrecken geriethen.
Ohne eine Hinterlist zu ahnen, unterwarfen sich die Feinde diesem Rathe.
Nun aber steuerte jener die Boote dicht am Lande hin und rettete sich auf
eine vortretende Klippe, während die Russen in dem Falle umkamen.
Die Uebereinstimmung der Sage höchst verschiedenartiger und räumlich
weit von einander entfernter Völker ist also vorhanden, und die dänische
Tvkosage steht der schweizerischen vom Schützen Tell am Nächsten. Diese
Erscheinung aber erklärt sich nach Rochholz auf dem Wege literarhistorischer
Betrachtung. Das Werk des Saxo Grammaticus, welches die Tokosage ent¬
hält, ist zwar erst 1514 im Druck erschienen, hat aber ohne Zweifel schon
lange vorher in den Klosterbibliotheken handschriftlich cursirt und den Anna¬
listen zu Auszügen gedient. Solche Auszüge machte 1431 der Stralsunder
Mönch Thomas Gheysmer, und dessen Werk gelangte, wiederum auszugs¬
weise, 1480 zu Lübeck in niederdeutscher Uebersetzung zum Druck. Ist nun
daß Weiße Buch, wie bemerkt, diejenige schweizerische Chronik, welche die Ge¬
schichte von Tell zuerst bringt, um 1476 geschrieben, so liegen zwischen ihm
und der gedruckten Tokosage nur vier Jahre, und diese hat aller Wahrschein¬
lichkeit zufolge auf die Gestaltung jener Geschichte literarischen Einfluß geübt.
Diese Wahrscheinlichkeit wird aber zur Thatsache, wenn wir mit Rochholz
"uf die Streitfrage über die Abkunft des Schweizervolkes eingehen, welche seit
dem. fünfzehnten Jahrhundert von den Gelehrten der Cantone aufs hitzigste
verhandelt worden ist.
Bei Gelegenheit des „Alten Zürichkrieges", einem Streite zwischen Zürich
"ud Schwyz, bei welchem die Stadt Zürich österreichische Besatzung einnahm
und der Belagerung durch die Eidgenossen trotzte, erwachten unter dem gegen-
seitigen Parteihasse alte Stichwörter über die angebliche Herkunft aus der
Fremde, mit welcher die Bewohner der Urschweiz sich zu brüsten pflegten.
Den nächsten Anlaß dazu gab der Landschreiber von Schwyz. Johann Fründ,
mit seiner 1441 erschienenen Tendenzschrift „Vom Herkommen der Schwyzer."
In derselben erzählte er: Eine Hungersnoth hatte 6000 Schweden und 1200
Friesen genöthigt, mit Weib und Kind die Heimath zu verlassen und neue
Wohnsitze aufzusuchen. Sie schlugen si h tapfer durch und kamen in die da¬
mals noch unbewohnten Alpen, wo sie sich in der Gegend des Pilatus mit
Erlaubniß des Grafen von Habsburg, dem das Land gehörte, niederließen.
Unter ihren drei Häuptern Switerus, Remus und Wadislaus vertheilten sie
sich in die Landschaften Schwyz. Uri und Unterwalden-Hasli. Nach ihrer
alten Heimath Suetia nannten sie die neue Suitia. Bald wurden sie als
tüchtige Kriegsleute vom Papst und Kaiser gegen die durch einen abtrünnigen
Priester verführten Römer zu Hülfe gerufen, zogen mit des Gothenkönigs
Alarich Heere nach Rom, eroberten die Stadt, erschlugen die Heiden und
ernteten großen Ruhm. Statt des ihnen angebotenen Soldes verlangten sie
in ihrem Lande steuerfrei und einzig dem Kaiser unterworfen zu sein, und
da sie zum Schutze des Glaubens aufgebrochen waren, begehrten und erhielten
sie ein rothes Banner mit dem Zeichen des Kreuzes. Mit dieser Geschichte,
die ohne Zweifel aus dem 9. Buch der dänischen Chronik Saxo's abgeleitet
ist, war der Anfang der Schwyzer Freiheit in das fünfte Jahrhundert hin¬
aufgerückt und unmittelbar an das römische Reich geknüpft. In diesem Sinne
schrieb der Stand Schwyz während des erwähnten Streites mit Zürich an
die Reichsstände, um deren Parteinahme für Oesterreich abzuwenden, und
bald faßten die Fabeleien Fründ's in den Waldstätten allenthalben Wurzel.
Vergebens schrieb der Züricher Chorherr Felix Hemmerlin in seiner 14S0 voll
endeten, dem Herzog Albrecht von Oesterreich gewidmeten Schrift „ve iwbi-
liwto et rustieitÄte" dagegen. Sein Werk wimmelt von schimpflichen An¬
klagen und beleidigenden Anekdoten gegen die Urkantone. und in Betreff der
Einwanderungssage behauptet es, die Schwyzer seien Abkömmlinge der unter
Karl dem Großen in die Alpen deportirten heidnischen Sachsen und noch
ebenso roh und unchristltch, wie ihre Urväter. Ihren Namen trügen sie von
dem blutigen Schweiße, den sie in fremden Kriegsdiensten geschwitzt, und des¬
halb habe ihnen jener Kaiser die rothe Fahne zum Banner gegeben. Dem
Grafen von Habsburg, der ihnen Wohnsitze eingeräumt, hätten sie übel ge¬
dankt, indem sie seinen Vogt zu Lowerz erschlagen, sein Schloß zerstört hätten,
von der Herrschaft abgefallen seien und eine Eidgenossenschaft gestiftet hätten,
der die Nachbarn in Uri und Unterwalden dann beigetreten seien. Kurz, ihre
ganze Geschichte sei eine Kette von Empörungen und Freveln.
So heftig nun damals und noch später beide Gruppen der schweizerischen
Parteischriftsteller einander befehdeten, sind sie doch beiderseits einig über die
bald schwedische, bald cimbrische, bald nordsächsische oder friesische Abstammung
der Schweizer, und diese bleibt von da an der Knotenpunkt ihrer chronistischen
Erzählungen. Hielten sie nun selbst an dieser fabelhaften Abkunft aus dem
Norden fest, und stellten sie dieselbe in den Vordergrund der Volksgeschichte,
so mußten sie mit nicht geringerer Vorliebe auch nach der nordischen Helden¬
sage, wo sie sich schicklich darbot, greifen und auch diese in ihre Berichte ver¬
flechten. Darin liegt der augenfällige Grund, weshalb in der Tellsage die
Züge der skandinavischen Tokosage wiederkehren. Dieß ist ein so nothwendiges
Wechselverhältniß, daß es schon im vorigen Jahrhundert eingesehen und —
freilich erfolglos — öffentlich ausgesprochen worden ist.
Warum aber die von Hemmerlin vertretene, mit mehr Gelehrsamkeit, als
sie sein Gegner besaß, »erfochtene Ansicht von der sächsischen Abstammung
der Schwyzer nicht durchdrang und die Fründ'sche das Feld behauptete? Ein¬
fach deshalb, weil Hemmerlin's Baterstadt in jenem Kriege unterlag, weil
das antihelvettsche Element besiegt war und Fründ's schwedisch-urhelvetische
Märchen nun um so lebendiger in den Glauben des Volkes, ja, wie Rochholz
an vielen Beispielen nachweist, in das Staatsrecht der Ländercantone über¬
gehen konnten.
Wie verhielt sich nun hierzu die spätere schweizerische Geschichtsforschung?
Größtentheils ging sie in den alten Geleisen fort. Doch steht der Wander¬
sage schon Stumpf (Mitte des sechzehnten Jahrhunderts) zweifelnd gegenüber,
wenn er sie „eine argwöhnische Historie, wo die Irrthümer nicht zu zählen",
nennt. Desgleichen schwankt Tschudi (um 1870). Entschiedeneren Urtheils
ist der gele!rde Baseler Anton Heinrich Pantaleon, der erste Schweizer,
welcher (um 1566) Saxos Tokosage zum Zwecke geschichtlicher Vergleichung
ins Deutsche übersetzt hat. Sehr deutlich endlich spricht Jselin in seinem
Lexikon (Basel, 1728) sein Mißtrauen in die Wahrheit der Sage von Tell aus,
wenn er sagt: „Wie viele neue Scribenten auch dieser Geschicht Meldung thun,
so kann man gleichwohl nicht mit Stillschweigen übergehen, daß erstlich solche in
keinem gar alten Geschichtsschreiber gefunden werde, und fürs andere, daß
Dlaus Magnus und aus dem noch andere eine ganz gleiche Begebenheit
von einem gewissen Tocho erzählen, die sich zur Zeit des dänischen Königs
Harald und also viel hundert Jahre, ehe noch die Schweitzer von österreichi¬
schen Landvögten gedränget wurden, solle ereignet haben und doch der vorer-
Sehlten Geschicht des Wilhelm Teilen ganz gleich ist, sodaß schier nicht zu
zweifeln, daß die eine Erzehlung aus der andern hergenommen sei."
Die Antwort der altgläubigen Schule faßt sich in folgenden Satz zu¬
sammen, den Johannes von Müller geerbt und auf die Seinigen weiter
vererbt hat. „Es verräth (so sagt M. im 1. Bd. der Schweizergeschichte)
eine geringe Erfahrung in der Geschichte, von zwei Begebenheiten eine zu
leugnen,, weil in einem andern Land oder Jahrhundert ihr eine ähnlich war."
Die beiden von M. hier gesetzten AehnlichkeitssMe haben sich seitdem auf
viele Gleichheitsfälle vermehrt, und einem Historiker, welcher dieselben heute
noch ignorirt, wird mit dem besten Rechte vorgeworfen werden dürfen, er ver¬
nachlässige und verachte die wissenschaftliche Erfahrung. Seit dem sechsten
Jahrhundert lebt der Apfelschütze Eigil in deutschen noch vorhandenen Liedern
und sein Meisterschuß, ein Gemeingut der indogermanischen Familie, findet
sich in Persien und Skandinavien, in England und Holstein, Verwandtes
sogar bei Esther-, Finnen und Lappen. Wie lange vorher, ehe es eine Schweiz
gab, mußte also die Sage zu Völkern gedrungen sein, die heut zu Tage so
weitläufig mit einander verwandt sind und so fern von einander wohnen. Und
wie wenig ehrlich verfährt dann der Historiker, der, wie Müller, im Stillen
an keinen geschichtlichen Tell glaubt, ihn aber in seinem Geschichtswerke
mittelst eines Haufens erfundener Urkunden als wirklich und wahrhaftig am
Anfang des vierzehnten Jahrhunderts existirt habend darzustellen versucht?
Müller hatte 1783 einem Freunde geschrieben, bezüglich der Begebenheit mit
Tell sei er mit sich selber noch nicht im Reinen und werde sich mit guter
Manier aus der Sache zu ziehen suchen. Im folgenden Jahre erhielt er
von einem andern ihm befreundeten Geschichtsforscher der Schweiz einen Brief,
in dem es heißt: „Ich bin mit Ihnen vollkommen gleichstimmig, die Geschichte
des Apfels als unzuverlässig anzusehen." Dieselbe unwahrhaftigeRolle spielt der
seinerzeit vielgepriesene Geschichtsschreiber auch in Betreff der Einwanderungsfrage.
Er hatte dieselbe im ersten Bande seiner Schweizergeschichte nicht nur mit allerlei
historischen Sophismen, sondern auch mit den abenteuerlichsten Mitteln der Sprach¬
forschung verfochten. Die „Nationalsprache" der gegenwärtigen Haslithaler,
sagte er dort, sei zwar nicht schwedisch, aber auch nicht deutsch, und der Ur-
stamm ihrer Wörter könnte wohl in ein Idiotikon gesammelt werden, lasse
sich aber — wer müßte über solch Gerede nicht lächeln — nicht mehr er¬
rathen. Vor anderthalbtausend Jahren hingegen hätten die durch einander
wandernden Völker des Nordens einander noch nicht so sprachfremd geworden
sein können. Die Meinung Hemmerlin's, die Einwohner der Waldstätte
seien Abkömmlinge heidnischer Sachsen, die von Karl dem Großen erst in
das Innere des Frankenlandes und dann in die Alpen verpflanzt worden
seien, finde ebenfalls Unterstützung durch die auffallende Aehnlichkeit, welche
die Sprache des gemeinen Mannes in einigen Schweizerthälern mit der
Volkssprache auf dem — Thüringer Walde habe. Daß dem Geschichtsschreiber
der Schweiz diese abgeschmackten Einfälle nicht ernst waren, bewies er in
seinem Briefwechsel mit dem Historiker v. Pfister, von dem er als Erwiderung
auf seine soeben mitgetheilten Phantasten die folgende Zuschrift erhielt und
unter lebhafter Zustimmung entgegennahm: „Die besondere Frage von der Ein¬
wanderung der Schweizer hoffe ich näher erörtern zu können. Die Haupt¬
sache beruht auf dem Beweis, daß das ganze swevische und alemannische Volk
überhaupt nicht vom Norden her eingewandert, sondern von jeher in diesen
Sitzen gewesen. Der zweite Beweis muß zeigen, daß die Colonien, deren die
alten Lieder gedenken, in Sprache und Stammesart von den Alemannen gar
nicht verschieden sind, und daß das Mutterland, aus dem sie ausgewandert
sind, nach der Beschreibung kein anderes sein kann als Schwaben oder höch¬
stens Thüringen."
Der Beweis, daß die Bewohner der Urcantone keine Scandinavier und
ebensowenig Niedersachsen sind, ist längst nicht mehr zu führen. In den
Waldstätten aber steht die Frage immer noch auf dem Flecke, der ihr durch
den Einfluß der Müller'schen Schriften angewiesen worden ist; denn, wie
Rochholz sagt, „das conservative Herkommen, die ihm dienende Obrigkeit und
die diesen beiden wiederum dienstbare Presse sind hier die drei Gewalten, welche
den historischen Aberglauben pflanzen und erhalten." „Seitdem die Popular-
schriften in Form von Volkskalendern, Volksbibliotheken, Schulbüchern u. d.
die untern Klassen ausbeuten, sind alttraditionelle (aber unrichtige, vor
einigen Jahrhunderten zu bestimmten Zwecken erfundene und in Umlauf ge¬
setzte) Geschtchtsanschauungen auch unter dem Theile des Volkes verbreitet,
der sonst nicht liest. Als in den zwanziger Jahren die beiden Sprachforscher
Schmeller und Schottky die deutschen Gemeinden bei Verona und Vicenza
bereisten, um deren Abkunft und Mundart kennen zu lernen, erklärten ihnen
die Bauern jener isolirten Dörfer: „Bir samt Cimbarn" — wir sind Cimbern.
sehnliches mag man jetzt auch in den Waldstätten meinen. Wenigstens hat
ste Zschokke in „Des Schweizerlandes Geschichten" zu Cimbern gemacht und
diese Abstammung aus der Aehnlichkeit dortiger Geschlechtsnamen mit skan¬
dinavischen erweisen zu können geglaubt — als ob es in der Zeit, in welche
jene vermeintliche Wanderung verlegt wird, schon Geschlechtsnamen ge¬
geben hätte."
Mit gutem Rechte schließt Rochholz diesen Theil seiner Untersuchung
Mit den Worten:
„Wenn nun auch der Mythus von Toko-Tell ein echter ist, so sind doch
die Vereinigung zweier mythischen Gestalten und Schicksale zu einem speciell
helvetischen Zwecke, ferner die Uevertragung einer vorzeitlichen Sage auf
eine chronologisch fixirte schweizerische Begebenheit (den die Freiheit begrün¬
denden Aufstand um den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts), sodann das
Hereinziehen der gothischen und der longobardischen Wandersage auf das
Minzige und viel später bevölkerte Gebiet am Vierwaldstätter See zusammen
nichts anderes als ein gewaltthätiges Machwerk rathender und verrosteter
Gelehrsamkeit, mithin das schnurgerade Gegentheil echter Volkssage."
Im nächsten Artikel werden wir dem interessanten Buche bei der Lösung
einiger weiteren mit der Tellsage verknüpften Fragen folgen, sehen, wie der
Geßler derselben nie eristirt hat, und über ihre Entstehung wettere Auf¬
schlüsse gewinnen.
An einem Sonntagmorgen im Monat März des Jahres 187S blickte
die Sonne noch nicht über die nahen Berge, als die deutsche Cassadje-
Expedition in Dondo, einer kleinen Stadt Angolas, ca. 152 engl. Meilen
von der Küste des atlantischen Oceans entfernt, zum Aufbruch in das
Innere Afrikas bereit stand. — Es war eine recht stattliche Karavane,
die sich dort unter den ersten Waldbäumen nahe der Kipakallabrücke ver¬
sammelt!'; sie bestand aus dem Major von Homeyer, Dr. Pogge und dem
Schreiber dieses, als Mitgliedern der Expedition, Herrn Kapitain Alexanderson,
einem Deutschen aus Dondo, der uns begleitete, und Major Marques,
Chef des Presidios und der Militairgewalt von Dondo.
Zu Trägern des Gepäckes und unserer Hängematten (der Droschken
West-Afrikas) hatten wir ca. 60 Neger und außerdem noch einige Soldaten
als Bedeckung und Zuchtruthe für unsere Träger und die Bewohner der
zu durchziehenden Landstrecken. —
Unser Ziel war M-pungo an Dongo, einer der noch vorhandenen portu-
giesischen Militairposten, ungefähr 210—220 engl. Meilen von den Gestaden
des Atlantic entfernt gelegen. Die portugiesische Colonie Angola besaß in
früherer Blüthezeit des Mutterlandes viele solcher befestigter Plätze im Inneren,
die den Zweck hatten, den Handel zwischen „Weiß und Schwarz" zu schützen
und die quer durch den Afer führenden Wege offen zu halten. Durch die
Bereicherungesucht jedoch und die Grausamkeit der jeweiligen Commandeure
solcher Militairposten wurden Aufstände der Eingeborenen veranlaßt, die
erfolgreich zu bekämpfen die Regierung zu schwach war und in Folge deren
sie die am weitesten ins Innere vorgeschobenen Plätze verlor. Allmählich wird
die europäische Macht an die Küstenränder zurückgedrängt und über kurz
oder lang wird der eherne Griffel der Geschichte das Aufhören
einer portugiesischen Provinz Angola zu verzeichnen haben.
Einer der jetzt schon zu den am fernsten in den Osten vorgeschobenen Mi-
litairposten ist M-pungo an Dongo. Der Bestimmung des Vorstandes der
afrikanischen Gesellschaft zu Berlin gemäß sollten wir dort oder noch weiter
im Innern eine Hauptstation gründen, von der aus wir unsere Exkursionen,
Vorstöße und endlich die Expedition — nach jetzt oft gebrauchtem Ausdruck
quer durch den Continent auszuführen hatten. —
Man reist in Angola entweder in der von zwei Negern an einer
elastischen Stange getragenen Hängematte oder auf dem Renochsen. Die
letzteren treten jedoch erst in den Bergen auf, wo kühlere Lüfte wehen und
saftigere Gräser wachsen, auf unserer Tour ungefähr 170 engl. Meilen
weiter im Innern. — Unser persönliches Transportmittel bestand daher noch
bei Dondo nur in der Hängematte oder Tipoja nach portugiesischer Be¬
zeichnung.
Verläßt man die Stadt auf dem Wege nach M-pungo an Dongo, so
beginnt man nach 4 Meilen Marsch in die Berge zu steigen, wo stellenweise
Kletterpartien bevorstehen, welche die Hängematte nutzlos machen. —
Vor uns die Träger mit kräftigen Schultern und belastet mit dem für
die Reisetage nöthigsten Gepäck (bestehend in Eßwaaren und Wäsche), hinter
uns ein Theil der für die ganze Expedition bestimmten Waaren kamen wir
an den Fuß des Gebirgszuges, der. parallel dem Kustenrande tausend,
terassenförmig nach dem Innern zu höher und höher ansteigt. — Schon der
erste Hang, im Ost - Süd - Osten von Dondo, fällt sehr steil ab, und es ist
ein hartes Stück Arbeit, die abschüssige Höhe, die an ihrer Oberfläche scharf¬
kantiges Geschiebe trägt, in der schon fühlbar heißen Morgensonne zu er¬
steigen. Nach über V»stündigem Marsche ist der Gipfel erreicht und die kleine
Mühe findet Belohnung in der herrlichen Aussicht, die man von dort
genießt. Meilenweit schweift das Auge der Küste zu über die Ebene, die
nur von sanftwelligen Hügelzügen, den Dünenbildungen, durchfurcht und von
den Silberbändern des Coanza und des sich mit ihm unterhalb Dondos
Vereinigenden Mukesa (oder Makosa) durchwunden ist, welcher letztere seine
Quelle in der Nähe von Pungo an Dongos hat. — Dem Innern zu ist der
Blick großartiger noch und erhabener, aber auch Beschwerlichkeiten versprechend.
Bergzug thürmt sich auf Bergzug, eine Kuppe überragt die andere, und in
nebelgrauer Form scheinen die Gebirgsrücken in die Wolken zu ragen. Doch
solch eine Perspektive spornt, und vorwärts geht es frisch und hoffnungsvoll.
Schon hier auf verhältnißmäßig geringer Höhe ist der Einfluß der
letzteren auf die Reinheit und Temperatur der Luft merklich; — um so an¬
genehmer fühlbar, als gerade in Dondo wahrhaft pestilenzialische Dünste
wallen. Wer Dondo kennt, kennt die Hölle auf Erden. Machtloses An¬
kämpfen gegen ewiges Fieber, Rheumatismus und Ruhr — und dafür —
im guten Falle: — einige Pfennige Geldes, im schlimmeren: der Tod, sind
das Loos des dort vegetirenden Europäers. Die Epitheta der Stadt
sind: „Des weißen Mannes Sarg"; „Des Weißen Grabstein"; „Der
Bratofen" ; „Die Hölle Angolas"! — Um das durch sumpfige Ausdünstungen
bedingte malariaretche Clima zu illustriren, führe ich an, daß selbst dem in
der portugiesisch - angolensischen Armee dienenden Neger zwei Jahre der
Dienstzeit als dreie angerechnet werden. — Ich selbst verließ dieses Paradies
des Todes noch sehr geschwächt und matt durch Dyssenterien und Fieber; wie
wohlthuend empfand ich da die kräftigende Luft der Berge! Je weiter wir
marschirten und je höher wir stiegen, desto reiner wurde sie und desto mächtiger
wirkte sie auf den erschlafften Körper ein. Wie duftig Gold strömte sie in
meine Brust und ein Gefühl herrlichster Freiheit machte mich glücklich. —
So wohl mich fühlend, benutzte ich auch auf besser pasfirbaren Wege¬
strecken nicht die Hängematte, sondern ging stets zu Fuß, hier und da nach
reizenden Blümchen mich beugend oder ein zartes Gras pflückend. — Schon
hier nämlich tritt der schilfartige, Jagd- und Viehzucht vereitelnde verfitzte
Graswuchs der Küstensteppe etwas weniger stark auf und die Landschaft,
wenn nicht von parkartig geordnetem Baumwuchs bestanden, erhält einen
wiesenartigen Ausdruck. Weite Flächen sind mit niedrigeren, schönfarbigen
und feingegliederten Gräsern bedeckt, zwischen denen besonders asterähnliche
Blüthen und reichgefärbte Schmetterlingsblumen hervorlugen. — Hier und
dort steht auch der ehrfurchtgebietende, seiner Frucht wegen hochgehaltene
Colanußbaum mit Tausenden von braunen Blüthen bedeckt, oder ein Gummi¬
baum, die Banyane, die in einem einzigen Exemplar, durch zahllose Luftwurzeln,
die, Stämmen ähnlich, das mächtige, Schatten spendende Astgerüste tragen,
oft einen große Flächen bedeckenden Hain bildet. — Das niedrige, locker über
die tieferen Steppen verstreute Gesträuch besteht aus Vertretern der in jenen
Ländern an Menge auffallenden Lorberform mit immergrünem, dunkelglänzen¬
den Blatt und bedeckt mit thalergroßen, goldgelben myrtenähniichen Blüthen.
Auch hier zeigt der Baobab seine barocke Stammform und die elfenbeingelbe
Blüthe, der Baumwollenbaum seinen im Alter buchenähnltchen Habitus;
auch hier verschönern Palmen und Bananenbüsche die Landschaft und in
Nähe und Ferne schweift der erstaunte Blick über Mais-, Maniok-, Kaffee-
und Zuckerplantagen.
Um 9 Uhr Vormittags machten wir in der Nähe eines Vächleins mit
fast milchtrübem Wasser im Schatten einer dicht belaubten Tamarinde Halt,
um unsern Leib durch einige von Dondo mitgenommene kalte Speisen zu
stärken und um die übrigen zurückgebliebenen Träger zu erwarten. Lange
saßen wir jedoch nicht beim mündenden Mahl, denn ein Heer großer, gelber
Termiten, welches über uns und unsere Speisen herfiel, trieb uns eiligst in die
Flucht. Um 1^/2 Uhr Mittags erreichten wir das erste Negerdorf Kumbo,
dessen Einwohner natürlich, sobald sie Wind davon bekommen, daß portu-
giesisch-angolensische Landesvertheidiger die Gegend unsicher machten, sich un¬
sichtbar gemacht hatten. Das Dorf schien ausgestorben und nur eben stehen
oder liegen gelassene Geräthe ließen auf kurz vorher dagewesene Bewohner
schließen. Endlich erschien eine alte Frau mit einigen Kindern, zitternd und
heulend vor den Major Marques geführt. — Der Prozeß war kurz; da die
Frau — die Gattin des verlangten Dorfherrn — den Aufenthaltsort dessel¬
ben nicht angeben konnte oder wollte, wurden ihre Kinder auf Marque's Be¬
fehl gebunden und als Sclaven betrachtet. Fast schon unterwegs mit unserer
kleinen menschlichen Beute kam der Dorfherr, um seine Kinder und Unter¬
thanen zu befreien. Durch Unwissenheit unserer Führer waren wir in ein
Dorf gekommen, dessen Fürst nicht, wie Marques es vorausgesetzt, von un¬
serem Kommen benachrichtigt war. — Wir brachen daher nach der unerquicklichen
Scene, welche die Willkürherrschaft der portugiesischen Beamten und die Werth-
losigkeit des Menschenlebens in Afrika recht ins Licht stellt, wieder aus, um
in das auf unserer Route verzeichnete Dorf zu gelangen; nur wenige Minuten
später und wir hatten unser Ziel, ein Nachbardors, erreicht. — Von hier,
durch und Nahrung gestärkt, wieder abmarschirend, langten wir nach
Sonnenuntergang schon bei fast vollständiger Dunkelheit in Dombo, dem
Hause eines einzeln lebenden Portugiesen, an. Leider war dort, wie immer
auf unseren Reisen, wenn wir nicht des Coanza mächtige Wasserader berühr¬
en, nur weniges und dazu noch dicktrübes Wasser vorzufinden. Vor dem
Hause wurde das Nachtlager hergerichtet; nachdem die letzten der saumseligen
Träger angelangt, wurde das Gepäck zusammengestaut, wurden nicht weit davon
unsere eisernen Reisebetten gebrauchstüchtig gemacht. Kaum jedoch mit dem
Arrangement für die Nacht fertig, begann die Arbeit von Neuem, da ein
stark drohender Regen uns zwang, Alles ins Haus zu bringen. In dem
^nzigen Raum desselben, zwischen unseren Blechkoffern. Proviantsäcken und
Hängematten bereiteten wir unser Nachtmahl. Das trübe Wasser wurde ge-
kocht, durch ein leinenes Tuch filtrirt und ihm eine genügende Portion
Thee, portugiesischen Weines (pinto as xa.so) und etwas Zucker zugesetzt.
Dazu verzehrten wir etwas Schiffsbrod und um uns doch etwas Europäer
5" fühlen, steckten wir uns eine der damals noch vorhandenen Cigarren an.
Der Regen hatte nun aufgehört und die kühlere Luft, die Sternennacht lock¬
ten uns ins Freie hinaus. Wieder stellten wir unsere Reisebetten vor der
Thür auf und warfen uns des kräftigenden Schlafes harrend hinein. —
Bald verriethen nur das glimmende Feuer und bisweilen aufsteigende
Rauchwölkchen der Cigarre, daß wir noch nicht entschlafen. Da lag ich nun
unter dem Tropenhimmel einer lauen Nacht; träumerisch sah ich der wirbeln¬
den Säule des Rauches nach, der sich bald in der kühlen Luft verlor, und
mein Blick traf die tiefdunkele Himmels-Kuppel. übersäet mit der Unzahl
glanzvoller Sterne. Des Orion Bild bewunderte ich, das Siebengestirn, die
Magelhaen'schen Wolkenschleier und das liedgefeierte Kreuz des Südens. Es
war lange Zeit Sitte oder eigentlich Manie, diesem letztgenannten Sternbild
den Preis der Schönheit zuzuerkennen und selbst noch Humboldt sprach von
ihm in glühenden Worten. Ich muß jedoch, die Schönheit des Kreuzes
immerhin würdigend, gestehen, daß anderen Sternbildern der Vorrang zu¬
kommt. Das Kreuz ist nicht von regelmäßiger Form und einer seiner Sterne bei
nicht ganz klarem Wetter seiner geringen Größe wegen nicht zu sehen; Jda Pfeiffer
soll die Erste gewesen sein, die das Bild etwas nüchterner betrachtete, und
der gewiß schwärmerische, phantasiereiche Maximilian von Mexiko schloß sein
Urtheil dem ihrigen an. — So schön die Nacht war, so glanzvoll die Sterne von
unnahbaren Fernen leuchteten, so forderte doch auch der Körper sein Recht; das
Feuer des duftenden Krautes und der Augen erlosch allmählich und bald ent¬
schlief ich, leider nicht unbelästigt von den bei Regenluft ihren Eifer verdop¬
pelnden Moskiten. — Schon vor 6 Uhr am nächsten Tage wieder munter,
kamen wir doch wegen der Saumseligkeit unserer Träger vor 5^/-, Uhr nicht
vom Platze. Wegen dieser Bequemlichkeit der Träger scheint es geboten, die
Hülfe der Militairbegleitung zu benutzen. Wer jedoch das portugiesisch-an-
golensische .Heer" aus eigener Anschauung und durch Umgang mit demselben
kennt, wird sich vor ihm hüten. Uebrigens richtet auch zweckgemäßes, haupt¬
sächlich consequentes Benehmen beim Neger oft mehr aus, als die größte
Machtentfaltung. — Von Dombo abmarschirt, campirten wir in der Mit¬
tagszeit in M-panda, der Niederlassung eines viehhandelnden, alten Portu¬
giesen, auf dessen Weiden wir die fetten Ochsen grasen sahen, die später als
spindelmagere Thiere auf dem Markte (Kitanda) Loandas. der Hauptstadt
Angolas, verkauft werden. Um 6'/-, Uhr Abends erreichten wir, auf dem
Wege dorthin verfallene und verlassene Dörfer passirend und vorbei an Ueber¬
resten von Bauten aus portugiesischer Blüthezeit, Angola Calunga, wo uns
die etwas emancipirte, wirklich forsche schwarze Herrin des Dorfes in höchst
cordialer Weise empfing. Angola Calunga liegt schon weit hinein in den
Bergen und gestattet nur einen kurzen Fernblick, der im Kreise von den
Contouren der Bergzugsrücken gegen den Horizont beschränkt wird. Erheb-
lich kühler treten die (Cocos- und Oel-) Palmen auf; nicht, wie in den nie¬
deren Ebenen, in ganzen Hainen, sondern vereinzelter und nur, wenn eine
Schlucht einen Blick in die Tiefe gestattet, stößt das Auge auf die Palmen¬
haine, von denen der Nordländer glühend träumt — träumt! denn was
sind selbst seine kühnsten Phantasiegebilde gegen diese üppigen Kinder einer
maßlos kraftvollen Natur. —
Es marschirt sich äußerst angenehm auf jenen Höhen, zwischen den wallen¬
den Gräsern, die wegen ihrer nicht allzustarken Höhe den wehenden Zug
frischer Luft die Wange des Wanderers angenehm umfächeln lassen. Ein an¬
genehmes Bild für das Auge des Naturfreundes, die thautropfenbesäeten
Wiesenlandschaften im frischen Grün und Blüthenschmuck der Regenzeit; der
Flügelschlag der schwirrenden Lerche erinnert an die Morgenspaziergänge durch
die Culturen der nordischen Heimath, ebenso die gaukelnden Falter, die jede
nectarreiche Blüthe umflattern, sie berauben und sie treulos verlassen. Und in
all' diesem Ruhe und Friede athmenden Naturleben der — Mensch! Der
Weiße und der schwarze, der letzte mit dem Eigenthumsbewußtsein an sein
Land und ächzend unter dem Joch des ersten! Welches Ende, wenn der
Neger nicht periodisch und vereinzelt, sondern stets dem Bewußtsein seines
Rechtes Ausdruck gäbe?! Und trotz der Seltenheit der energischen Erhebun¬
gen des Negers in Angola wird er doch schließlich seinen ärgsten Feind unter
den Weißen, den Portugiesen verjagen; das beweist die allmähliche, doch stetige
Verkleinerung des in portugiesischen Händen befindlichen Landes. Mir ge¬
statten die Umstände nicht, in diesen Zeilen näher auf die politischen und
enlturgeschichtlichen Verhältnisse Angolas einzugehen, nur einen Blick will
ich eröffnen, der die Berechtigung beweist, Portugal in Angola ein trauriges
Prognostikon zu stellen: Angola wird hauptsächlich von Deportirten —
und Missionären civilisirt!
Das Dorf Angola Calunga verließen wir am 3. Tage unserer Reise
um 6 Uhr früh und erreichten nach kurzem Marsche Ktboakata. Kiboakata
ist eine sogenannte Patrouille, das heißt ein Platz, in welchem ein beständiger
Militairposten liegt, um für die Instandhaltung des „Heerweges" zu sorgen,
Steuern für die Regierung einzutreiben und auf eigene Rechnung und Ge¬
fahr zu rauben und zu plündern. Bezeichnend ist die Thatsache, daß von allen
Wegen in der Provinz, die für gewöhnlich von Militair beschritten werden,
sich die Dörfer der Eingeborenen meist tiefer ins Land zurückgezogen haben. —
In der Patrouille trafen wir auch einen Transport von Gepäck an, den wir
schon vor längerer Zeit unter Militairbedeckung von Dondo aus voran ge¬
schickt hatten. Es kam uns das sehr zu Statten, da wir aus den hier vor¬
gefundenen Vorcäthen unser Hauptnahrungsmittel, den Reis, der durch Zurück¬
bleiben des betreffenden Trägers verloren war, entnehmen konnten. — Nach
längerer Rast. welche für die bevorstehende starke Tour von Nöthen war,
marschirten wir um 12^ Uhr von Kiboakata ab nach Dumbo a Pepe.
Der Weg dorthin«»ist zwar durch das schluchtenreiche Terrain beschwerlich,
aber reich an entzückend schönen Landschaftsbildern. So trat ich. wegen
meiner körperlichen Leichtigkeit den anderen Herren eine gute Strecke voraus,
auf eine Fels-Console, von der ich zur Rechten Hunderte von Fußen tief in
die Ebene hinabsah. Lang dehnte sich das Thal des gewundenen Coanza-
stromes vor mir aus, bedeckt mit Urwäldern, Palmenhainen und Steppen;
hie und da zeigten Culturfelder und aufsteigende Rauchsäulen den Wohnort
von Menschen an. Hindurch rauschte der mächtige Wasser-Lauf; breit, bildet
er dort Inseln und Fälle, deren Brausen man auf weite Entfernungen ver¬
nimmt. Die eine dieser Inseln, eine kahle Felsformation erhebt sich hoch
noch über das Niveau meines Aussichtspunktes. Steil und schroff, wie von
Giganten dort aufgethürmt. ragt sie aus dem schaumsprühenden Flußwasser
in die schwindelnde Höhe und zeigt auf ihrer Spitze so wunderbare Formen,
daß ich an eines der alten Bauwerke der Portugiesen, deren Ruinen von
den Zeiten Pombal's predigen, erinnert wurde. In der That hatte die Na¬
tur durch Sturm und Regen die oberen, am leichtesten angreifbaren Partien
so durchfressen und zerwaschen, daß sie einer großartigen Kirchenruinc mit
Bogenfenstern, Kapellen, Thürmen und Erkern auf das Täuschendste ähnlich
sahen. Die Schwarzen erzählen wundersame Sagen über diese Felseninsel,
wunderbar ernst und melancholisch; auch sprechen sie davon, daß dort oben
beim Eindringen der Weißen die Gebeine ihrer verstorbenen Könige verborgen
worden seien, um sie nicht durch weiße Hände besudeln zu lassen. —Wohl eine
halbe Stunde bewunderte ich die prachtvolle Landschaft, die durch die Natur¬
ruine einen so eigenen Reiz erhielt; nur das Murmeln meiner Träger,
die sich nach dem Nachtquartier und ihrer täglichen Nation aZuu, aräontö,
welche sie in diesem Fall irata-dictio (frei: Trinkgeld) nennen, sehnten, ent¬
riß mich meinem Entzücken und eilig ging es weiter; da jedoch verabredet
war, daß wir in Dumbo a Pepe vereinigt einziehen wollten, gebot ich Weile
und um 6^/2 Uhr rückten wir in das große Dorf. Der Herr desselben, ein
einflußreicher und tüchtiger Mann, war von unserem Kommen bereits be¬
nachrichtigt gewesen und hatte sein Möglichstes für unsere Bequemlichkeit
gethan. Bald saßen wir beim Scheine einiger Lichter und der Bivouakfeuer
unserer Träger um einen Tisch unter riesigem Affenvrodtbaum. Unser Wirth
hatte einen Hammel schlachten lassen, dessen Fleisch theils als „heat", theils
mit Reis gekocht, uns vortrefflich mundete und auch des Weines wurde nicht
gespart. — Dumbo a Pepe, oder mit seinem portugiesischen Namen Don
Francisco besaß eine sehr einnehmende Persönlichkeit. Zu seiner schönen,
ebenmäßigen Figur besaß er ausnehmend kleine Füße, feingefvrmte Hände
und ein interessantes, kluges Gesicht, welches von dem in Europa als allge¬
mein angenommenen Negertypus nichts weiter besaß, als die allerdings etwas
aufgeworfenen Lippen. Seine Hautfarbe war ein schönes Schwarzbraun.
Seinen Körper umgab eine kleidsame Uniform, da er Capitain in der „ersten"
Linie der portugiestsch-angolenstschen Armee war. In San Paolo de Loanda
erzogen, ist er in gesellschaftlichen Benehmen jedem courfähigen Europäer
ebenbürtig, und an Tactgefühl Manchem von uns überlegen. Er ist ange¬
stammter Herrscher eines kleinen Reiches, das er im Verein mit seinen Ma¬
ltas, den nettesten des Volkes, im Dienste der Krone Portugals verwaltet.
Er giebt sich Mühe, die Lichtseiten europäischer Cultur seinem Lande zu Gute
kommen zu lassen und versucht viele unserer Institutionen dort einzuführen; —
freilich nicht immer mit Erfolg, denn nach seinen Klagen war es ihm bisher
unmöglich gewesen, die dort so nothwendige Pockenimpfung durchzubringen,
alle seine Versuche scheiterten an der Ungläubigkeit und dem Aberglauben
seines — Senates.
Um 10 Uhr, müde gemacht durch den anstrengenden Marsch durch die
Berge, begaben wir uns zur Ruhe, und zwar diesmal in einem Lehmhause.
Es sollte jedoch eine schlaflose Nacht werden; denn kleine Fliegen —
„Gnitzen" — trieben zu unendlichen Schaaren ihr blutsaugerisches Hand¬
werk, so daß ich rauchend und lesend die Zeit bis zum Tagesanbruch ver¬
brachte. Schon der erste Strahl der Sonne traf mich weit draußen in der
Steppe, die das Dorf umgiebt. Fernher tönte mir das Rauschen eines der
Coanzakatarakte zwischen das Jubellied der erwachenden Vogelwelt, und
siegreich verjagte das goldene Gestirn jenen Erlkönigschweif, der unheimlich
dicht und gespenstig über dem Flusse lag. Thauschwer senkten die „Schmuck-
gräser" ihre feinen Aehren nieder, eine Welt kleinen, geschäftigen Lebens vor
dem Blick des schonungsloser Menschen und noch viel schonungsloseren
Sammlers verbergend. Ein Brillantenmeer streute der Sonne Strahl über
die Welt, üppig umschmeichelte er die verwetterte Stirne der altersgrauen
Berge und von den zarten Blättchen der Acacien sog er wollüstig den feuchten
Kuß der Nacht. Auch der Mensch erwachte; von einem Baum, auf den ich.
um gute Rundschau zu halten, geklettert war, sah ich im Dorf Rauchwolken
häufiger werden, als die von den Nachtfeuern, und Töne menschlicher
Stimmen drangen an mein Ohr. Langsam schlenderte ich nach Haus, — lang¬
sam, denn heute war Zeit dazu, da wir einen Tag der Rast in Dumbo
a Pepe zubringen wollten. Schon fand ich meine Collegen, unsere Reise¬
begleiter und unseren Wirth wieder unter dem großen Baobab. schnell war
der Morgenthee bereitet und plaudernd rückten wir zusammen. Unsere
Träger hockten fröstelnd um ihre Feuer, die sehnigen Gestalten in ein dünnes
Kattunstück vollständig eingehüllt, wortkarg und still, bis ein miMbiedo —
ein Gläschen Nun — ihre Lebensgeister rege machte. Die Sonne wurde wärmer
und belebender und auch die Bewohner des Dorfes selbst wurden mehr und
mehr sichtbar; in respectvoller Ferne standen sie in kleinen Gruppen vereint,
um die seltenen Gäste, nämlich uns, zu sehen. — Auch wir zeigten nicht
geringe Wissens-oder Neugierde und fragten nach tausenderlei, so daß Don
Francisco mir durch sein an kalt-bleiben und seine schnellen Antworten wahr¬
hafte Bewunderung abnöthigte. —
Unserem schattigen Sitze, der von gigantischen, candelabersörmigen
Euphorbien umsäumt war, gegenüber sahen wir ein größeres Haus schon
halb in Trümmern. Es war die Wohnung des verstorbenen Dumbo a
Pepe, das große Reichthümer an Silber geborgen haben soll, die natürlich
in die Hände der weißen Herren fielen. Nach alter Sitte wohnt der jetzige
Fürst in einer kleinen Strohhütte, da er, so lange der Sitz seines Vorgängers
steht, sich kein eigenes Haus bauen darf. Wenn auch die Prüfungszeit, in
der er entbehren lernen soll, wegen der leichten Bauart nicht allzulange währt,
so ist doch der Grund zu diesem Gebrauche anerkennenswerth. — Die Er¬
zählungen von den Schätzen des todten Herrschers gab Gelegenheit, von
den Reichthümern, besonders den mineralischen, der Provinz zu sprechen.
Sie sollen in der That groß sein, und überall hört man von früheren, in der
Glanzzeit der Portugiesen bebauten Silberminen, die jetzt verfallen sind. —
In unser Gespräch klangen plötzlich wunderbare Töne, tief und voll, mächtig
dröhnend und auch in sanfteren Schwingungen an unser Ohr dringend. Es
war ein Concert, welches Don Francisco veranstaltet hatte. Die Künstler
waren vier Neger und die Instrumente, welche sie erecutirten, waren die
Marimbas. Außer der viersaitigen Geige der M-balundus im Innern der
Provinz Bengella und der achtsaitigen Harfe der M-pongwes in den Ga¬
bunländern sah ich bet Negern kein vollendeteres Instrument. Die Marimba
besteht aus zwei Halbbögen elastischen Holzes, die durch zwei Schnüre in
stärkere oder geringere Spannung versetzt werden können, um verschiedene
Klangfärbungen hervorzubringen. Quer über die Innenseite der beiden
Holzbogen sind vierundzwanzig bis dreißig schmale Brettchen harten Holzes
befestigt, unter welchen eben so viele hohle Flaschenkürbisse, zwischen die beiden
parallelen Holzbogen gebunden, nach der Außenseite derselben hängen. Die
hohlen Schalen geben die Resonanz zu den Tönen, welche durch Schlagen
vermittelst zweier an Stäbchen befestigter Gummistücke auf die Brettchen
hervorgebracht werden. — Diese Marimba erinnerte mich an unsere Holz¬
harmonika, nur ist der ersteren Ton voller, mächtiger und packender und
kann mehr modulirt werden. Die Fertigkeit der vier Spieler war bewun-
dernswerth. Vor ihren auf dem Boden stehenden Instrumenten hockend,
bearbeiteten sie, allerdings in „negerhafter", übermäßig hitziger Art und
Weise mit ihren in Summa acht Gummitrommelstäben die Brettchen,
im besten, fehlerlosesten Ensemble und fest im Tacte bleibend. Häufig er¬
klangen Soli, bis mit kräftigem Zusammenwirken die drei Begleiter ein¬
fielen. Nie hörte ich unmelodische Dissonanzen und die sonst bei Negermusiken
ermüdende Wiederholung einzelner Partieen fiel hier fort. — Es ist übrigens
eigenthümlich und wohl der Bemerkung werth, daß gerade die beiden,
ihrer musikalischen Leistungen wegen berühmten Stämme West-Afrikas, die
vorerwähnten M-balundu und die M-pongwe, wilde kriegliebende Canni-
balenvölker sind. Befährt man den Ogowai, südlich vom Gabun, so kämpft
man oft am Tage erbittert gegen dieselben Neger, die man Nachts be¬
wundert und lieb gewinnen lernt, wenn sie am Ufer, um die Lagerfeuer
hockend, ihre tiefernsten Melodien auf der Harfe spielen.
Nach Beendigung des originellen Concertes war mehr und mehr Leben
in unsere Träger und die Bewohner des Dorfes gekommen und fröhlich be¬
gannen sie singend ihre Tänze, die Hände zum Tacte 'zusammenschlagend.
Ihre Tänze erinnerten oft an unseren Contretanz. Aus zwei gegenüber¬
stehenden Partien treten Solotänzer in der Mitte sich gegenüber, allein oder
umschlungen, die wunderbarsten, oft obscönsten Bewegungen ausführend, die
von den Uebrigen mit stets improvisirten Liedern begleitet werden. Oft auch
bewegen sich die ganzen Parteien auf einander zu, tanzen zusammen und
wechseln vielleicht die Plätze, oder auch einzelne Tänzer zeigen für sich ganz
allein ihre Künste, sich auf demselben Fleck bewegend, mit den Füßen rut¬
schend, die Beine verrenkend und heftig gestikulirend. Der erste Maeota
Don Francisco's, berauscht durch unsere Freundlichkeit — oder Freigebigkeit,
gab uns eine Borstellung zum Besten. Gewandt und zierlich tanzte er mit
komisch wirkender Grandezza in seinen Bewegungen, wie von einem Schatten
begleitet und nachgeahmt vor seinem hinter ihm tanzenden Diener. — Nach dem
Schauspiel der Tänze füllten wir den Rest des Tages durch kleine Spazier¬
gänge durch das Dorf und die Pflanzungen aus, die Lehmhäuser unter den Gras¬
bändern musternd, Sitten und Bräuche belauschend, und einen kleinen Blick
über Flora und Fauna uns verschaffend. — Die Nacht nach diesem trotz
der Rast etwas angreifenden Tage schliefen wir köstlich, weil ungestört vonMos-
ktten, so daß wir frisch und gestärkt am nächsten Morgen früh unsere Schritte
weiter gen Pungo an Dongo lenken konnten. Unser Weg führte jetzt in den
an ausgedehnteren Hochebenen reichen District obigen Namens, und zwar
schlugen wir unser erstes Nachtquartier nach beschwerlichem Tagmarsch im
Dorfe des Fürsten (im portugiesischen „sods," so viel als der „Obere") Muda
auf. Auch er war Officier, Lieutenant in der „zweiten Linie" des Angoln-
Heeres und für bewiesene Tapferkeit mit — einem Glas-Orden decorirt. _
Unser Major von Homeyer, der einen Theil des Tages den ihm von Don
Francisco angebotenen Renochsen benutzt hatte und ziemlich zerschlagen in
Muda ankam, machte den alten weißhaarigen Soda durch das Geschenk einer
preußischen Jnfanterieuniform ganz närrisch vor Freuden, und wir hatten
später wirklich das Vergnügen, den Mann in dienstlichen Angelegenheiten zu
Pungo an Dongo in preußische Uniform gekröpft zu treffen. Nach ebenso
anstrengendem Marsch erreichten wir am Abend des sechsten Reisetages
Kiongo. in dessen Nähe wir den sich unterhalb Dondos mit dem Coanza
vereinigenden Mukesa als ziemlich breiten Bach überschritten. — Kaum
hatten wir dort vor dem Hause eines Mulatten campirt, als sich der Besuch
eines Weißen einstellte, der sich zwischen unserem in Reihen aufgestellten
Gepäck umher drückte, die Menge desselben — so schien es — bewundernd,
hie und da die Festigkeit eines Blechkofsers oder eines Sackes untersuchend
und mit heiliger Scheu unsere Waffen anstarrend. Ohne uns den Zweck
seines Kommens und seiner Gepäckrevision — es konnte ja ein Beamter der
Geduld lehrenden Alfandega (Zoll-Behörde) sein — mitzutheilen, war der Be¬
such so unbemerkt und plötzlich, wie er gekommen, auch wieder verduftet. —
Wie uns mitgetheilt wurde, sollte das eines jener ihrer Würde so gänzlich
vergessenden Subjecte sein, die sich mit spitzbübischen Negern zusammenthun,
um vorüberziehende Weiße, deren Waffenmacht nicht furchtgebietend genug ist,
zu plündern. Bei uns schien der gute Mann eines besseren belehrt zu sein, denn
wohl nur die Aussicht, statt Beute etwas bleierne Erfrischung zu erhalten, hat ihn
von seinem Versuch zurückgehalten. — Unser Wirth steckte augenscheinlich mit
dem Weißen unter einer Decke, hatte aber später, obgleich er wußte, daß wir
nicht blind gewesen seien, doch die wahrhaft pyramidale Frechheit, uns seine
Dienste als — Führer ins „unbekannte Innere" anzubieten.
In welch „treffender" Weise wir dem liebenswürdigen Mischblut dankten,
darf sich der Leser in ziemlich lebhaften Farben ausmalen. — Die Nacht in
Kiongo überraschte uns mit einem echt tropischen Regen; doch schlief ich so
fest, daß mich erst das im Bette selbst angesammelte Wasser erweckte. Flugs
ging es mit Zurücklassung der Betten ins Haus, wo wir den Rest der
Nacht auf Matten gelagert an der Erde zubrachten. Die fühlbare Folge
dieses Nachtlagers in Kiongo war ein Tage währendes höchst unangenehmes —
„Jucken." — Am frühen Morgen vor die Thür tretend, sah ich eine „Idylle",
die sich mir unauslöschlich eingeprägt hat: „Mutterglück!" Eine Negerin
nährte ihr auf dem Schooß liegendes, nein, strampelndes Kind, indem sie
einen ziemlich steifen Maismehlbrei händevoll in den Mund des Kindes hin¬
einstrich und dann nach Art des Wurststopfens unserer Hausfrauen die Dosis
mit dem Daumen in den Hals hinunterschob. Ob das Kind um sich schlug,
schrie und weinte, oder vielmehr wegen Luftmangels nur krampfhafte Anstreng¬
ungen dazu machte, war der Frau Mama ziemlich gleichgültig. — Der Regen
währte noch bis Mittag fort, so daß wir eine Parsorcetour zu machen hatten,
wollten wir den Endpunkt unserer Reise, Pungo an Dongo. noch heute er¬
reichen. Der Weg dorthin führte auf den ersten zwei Dritteln der Strecke
durch kleine Schluchten, über Bäche, Hügel und Berge bis er bei einer Fels¬
wand bet Kaxanda vorbei auf eine große Ebene führt. Beim ersten Blick
über dieselbe blieb ich wie festgebannt am Flecke stehen. Ein solches Pano¬
rama war mir bisher noch nicht geboten. Ueber eine unabsehbare Ebene
glitt mein Blick, und nur leise machte sich am östlichen Horizont ein Rahmen
blauer Bergrücken bemerkbar. In Mitten aber der mit Steppen und Gebüsch
Parkähnlich bedeckten Fläche liegt Pungo an Dongo. Eine Welt von Fels¬
blöcken erhebt sich dort, gigantisch auch im kleinsten ihrer Theile. Altersgraue
Steinkolosse bis zu Höhen von ca. 400 Fuß steigen aus dem grünen Grunde
auf, einen Raum von fast drei viertel deutschen Meilen einschließend. Riesenfels
neben Riesenfels, sich gegenseitig stützend, drängend und überragend, schluchten¬
bildend und auf den Gipfeln Naturgärten tragend, wie sie die Künstlerphantasie
nicht schöner und reicher zu schaffen vermag. Die Steinmassen erdrückten mir
fast das staunende Auge, wenn nicht Flora ihre Kinder lieh, die Zeugen
der Ewigkeit durch Schmuck von Grün und Blüthe dem Menschengeiste
faßbar zu machen. — Zu den beiden Seiten der dichtgedrängten Steinmasse
erheben sich zwei große, hohe Blöcke, bis ca. 250 Fuß ansteigend. Die Zeit
von Jahrtausenden schliff sie beide zu Wartthürmen ähnlichen Gebilden und
so sieht Pungo an Dongo wie eine Beste aus. in der Götter sich bargen,
vor dem Drängen von Titanen. Der scheidenden Sonne Gold umstrahlte
den Horst der Felsen, die unser Ziel umschlossen und ich mußte, scheidend von
dem Anblick hinunter in die Ebene steigen. Nur kurz war die Spanne
Zeit, in welcher mein Auge auf unserem künftigen Heim ruhte, aber solch'
ein Bild macht geistige Entbehrungen und körperliche Leiden vergessen, die
nur als Folie dienen für das Erhabene, das sich in solchen Momenten un-
vergeßlich der Seele einprägt.
Geflügelten Schrittes eilten wir den Felsen zu. schon weit draußen von
einem schnell umkehrenden, ochsenreitenden Späher des Militairchefs von
Pungo an Dongo empfangen. Um 7 Uhr Abends gelangten wir auf einem
der drei einzigen in den Kessel führenden, beschwerlichen Fußpfade auf die
Lavastraßen, die hie und da hohl unter unseren Tritten in die feuchte Dunkel¬
heit hallten. Wenige Minuten später öffnete uns der Lieutenant „Francisco
Velloza Carlo Esmeraldo Castel-Branco" sein Haus mit ächt romanischer
Liebenswürdigkeit. Jetzt konnten wir endlich wieder einmal sagen, wir sind
— daheim!
Das stolze Felsennest ist mir die liebste meiner Reiseerinnerungen; nicht
allein wegen seiner Naturschönheiten, sondern auch eines Mannes wegen,'
den ich dort kennen lernte. Es war ein Neger, Jose Gonsalvez de Azevedo,
der von seinem Vater die Künste des Schreibens und Lesens erlernte und
dann, sich selbst überlassen, sich allein fortbildete. Jahrelang reiste er im Innern
in Handelsinteressen, lernte die Sprachen meistern, Menschen beurtheilen und
sammelte einen Schatz von Erfahrungen über Sitten und Gebräuche ver¬
schiedener Negerstämme. Er ist der einzige gebildete Schwarze, der ein
günstiges Urtheil über seine Brüder fällte, der Einzige von den Manchen,
die ich kenne und die — eine natürliche Erscheinung — über ihre Rassen-
Genossen den Stab brechen. Er allein behauptete, daß die Bildungsfähigkeit
des Geistes und des Charakters des Negers ihm unzweifelhaft sei und ent¬
schuldigte viele Schwächen und Laster desselben damit, daß sie häufig von
den „hochstehenden Weißen" mitgebracht seien. »Gehe weiter ins Land,"
sagte er mir einst, „so wirst Du Stämme finden, die weder unmittelbar, noch
mittelbar mit Weißen in Berührung traten; das sind erst Neger, wahr und
original; beurtheile sie und Du wirst günstiger urtheilen. Ihr Weißen wollet
Licht verbreiten durch Missionäre, die sich die Männer Gottes nennen und
es nicht sind! O. wie sie Liebe im Munde haben und unsere Kinder hungern
lassen und schlagen; wie sie Mäßigkeit predigen und in Fülle leben; wie sie
den Rum ein Teufelswerk nennen und den Wein lieben; wie sie gegen unsere
Frauen eifern und — o! die saueren Trauben und die Füchse!" —
In der That, wo, wie es in ganz Angola der Fall ist, verfeinerte
Cultur und unaffectirte Natürlichkeit nahe zusammentreffen und je schärfer
die Contraste zwischen Civilisation und Ungeschliffenheit hervortreten, da
gewinnt häufiger die Letztere das Wohlwollen des Beobachtenden; am
grellsten treten solche Contraste in der Gestalt des Menschen auf!
Was schmeichelt dem prüfenden Auge mehr, die Figur jenes Weißen,
der seinen Leib in womöglich — oder meistens! — unordentliche Kleider ge¬
zwängt, dort etwas gebeugt, mit gelblichem, schlaffen Gesicht und müden,
krankheitsmatten Ausdruck vor sich hinstarrt — oder jener broncefarbene
Bursche mit dem Gluthblick im schwarzen Auge, der seinen schlanken Körper¬
bau in ein luftig Gewand gehüllt, ein kleines Füßchen und eine schmale
Hand durch die Falten blicken läßt und, reizende Grübchen in den Wangen,
beim Lächeln die herrlichsten Perlenzähne zeigt? —
Wer ringt Dir Achtung ab, jener „Weiße", der sich selbst vergessend, den
vor ihm stehenden Sclaven maßlos zornig mit seinen Fäusten ins Gesicht
schlägt, oder der Bestrafte, der starr, wie erzgegossen, mit Selbstbeherrschung,
ohne Zucken eines Muskels, ohne Thräne ruhig die verdienten oder unver¬
dienten, doch immerhin grausamen Schläge ins Antlitz erhält?
Kürzlich hat eine etwas energische Maßregel der Regierung die Gemüther
für einige Zeit in lebhafte Aufregung und Spannung versetzt, glücklicher,
w^se wie es scheint — ohne nachhaltige Wirkung. Ich meine die poli¬
zeiliche Ausweisung einiger minderjähriger Schüler in mehreren Städten des
Elsasses, so namentlich in Straßburg. Colmar. Pfalzburg u. a. — die in
Folge der Option oder der Entlassung aus dem diesseitigen Staatsverbande
nach Frankreich ausgewandert sind, um dort ihren Studien obzuliegen und
nur alljährlich zur Zeit der Herbstferien, womöglich in der französischen
Pensions-Uniform. für einige Wochen in die frühere Heimath zu Eltern oder
Anverwandten zurückkehren.
Die Regierung betrachtet diese jungen Leute als Elemente, die ihre in
Elsaß-Lothringen gebliebenen Altersgenossen schon durch ihr bloßes Erscheinen
Zur Unzufriedenheit veranlassen und der Verwaltung als solcher zur Zeit nur
als unbequeme Factoren gelten können, und wendet deshalb die etwas
strengen Bestimmungen des hier noch in Geltung befindlichen französi¬
schen Fremdengesetzes vom 3./11. Dezember 1849 auf sie an. Die Sache
hat offenbar ihre zwei Seiten und kann verschieden beurtheilt werden, je nach
dem Standpunkte, den man dabei von vorn herein einzunehmen für gut
findet. Der Standpunkt der Regierung ist klar und entschieden. Sie muß
wir äußerster Behutsamkeit darüber wachen, daß die junge Generation, die
sie ganz und voll für sich d. h. für das Deutschthum zu erziehen die Absicht
hat, vor jeder Berührung mit Elementen bewahrt bleibe, deren Erziehung
"ach ganz den entgegengesetzten Principien geleitet wird.
Schon aus diesem allgemeinen Gesichtspunkte der nationalen Erziehung
laßt sich, abgesehen von Einzelumständen, die an und für sich strenge und
peinliche und wohl auch für die reichsländische Verwaltung unter den abnormen
Verhältnissen, wie sie sich in den letzten drei Jahren gezeigt haben, nothgedrungene
Maßregel rechtfertigen. In dieser Hinsicht ist daraus hinzuweisen, daß in
der genannten Periode 1873—76 die Zahl der Entlassungsgesuche für Minder¬
jährige unter 17 Jahren, denen bekanntlich nach dem Gesetze über den Erwerb
und Verlust der Landes- und Staats-Angehörigkeit die Entlassung nicht
verweigert werden kann, wobei aber in der Mehrzahl der Fälle die Absicht,
die betr. jungen Leute der Dienstpflicht zu entziehen, nur zu klar zu Tage
tritt — daß, sage ich, derartige Entlafsungsgesuche sich in den letzten drei
Jahren in fast geometrischer Progression vermehrt haben.
Die Regierung will nun diesem Unwesen und offenbaren Mißbrauch der
Auswanderungsfreiheit der elsaß-lothringenschen Schuljugend zur rechten Zeit
einen Damm entgegensetzen. Sie characterisirt daher jene Maßregel als eine
wesentlich präventive für zukünftige Fälle, als eine „Warnung" im Interesse
der Eltern der Minderjährigen, die sich vergeblich darüber beklagen, wenn
ihren großjährig gewordenen Söhnen in der Zukunft absolut alle und jede
Einwirkung auf die Regelung der Verhältnisse ihres Geburth- und Heimath¬
landes versagt bleibt, alle Stellen mit eingewanderten Altdeutschen besetzt
werden u. dergl., wenn eben diese Söhne schon in jungen Jahren dem
Stammlande den Rücken kehren und ihre Ausbildung statt in deutschen Er¬
ziehungsanstalten, deren das Land zahlreiche und vorzügliche besitzt, in der
Fremde suchen, wo sie im Princip ja doch nur zur Verachtung, um nicht
zu sagen zum Haß gegen ihr neues deutsches Vaterland erzogen werden.
Dazu kommt noch ein Punkt, der dabei noch viel schwerer ins Gewicht
fällt und auch bei Erlaß jener Ausweisungen von offiziöser Seite hinlänglich
betont worden ist. Nach dem herrschenden Landesrechte kann der Minder¬
jährige nach der diesseitigen Entlassung, die mit dem Zeitpunkte der Ein¬
händigung der Entlassungsurkunde sofort den Verlust der deutschen Staats¬
und elsaß-lothringischen Landesangehörigkeit zur Folge hat, ein selbständiges
Domizil in Frankreich nicht erwerben; denn er behält bis zu seiner Gro߬
jährigkeit gemäß Art. 108 coäs sein gesetzliches Domizil bei seinen
Eltern oder Vormündern. Nun wird aber jede Entlassungsurkunde vo ixsv
nach 6 Monaten ungültig, wenn der Entlassene nicht innerhalb dieser Frist
seinen Wohnsitz nach dem Auslande verlegt hat, oder doch wenigstens den
Beweis liefert, daß er eine anderweite Nationalität erworben hat. Wie soll
der nach Frankreich ausgewanderte Minderjährige, der ja noch keine volle
Rechts- und Handlungsfähigkeit in juristischer wie bürgerlicher Hinsicht hat,
diesen Beweis liefern? Unmöglich. Liefert er ihn aber nicht, so wird er ge¬
mäß §. 11 des Reichs -Militärgesetzes vom 2. Mai 1874, bei dauerndem
Aufenthalte im Reichslande trotz des Verlustes der deutschen Staatsan¬
gehörigkeit in militärischer Beziehung so behandelt, als ob er nicht
ausgewandert wäre, und dem deutschen Heere einfach eingereiht. In
sonstiger Hinsicht aber ist das Verhältniß sin gäriz sonderbares. Deutscher
ist der Minderjährige nicht mehr; denn er hat seine Entlassung genommen.
Franzose kann er nicht werden, da er dort als Minderjähriger keinen selbst¬
ständigen Wohnsitz haben und die französische Nationalität nicht erwerben
kann. So wenigstens die hier seit einigen Monaten in Brauch gekommene
Interpretation des Ober-Präsidiums der betr. Paragraphen des Gesetzes über
den Erwerb und Verlust det Staatsangehörigkeit. Die Entlassung schwebt
also einfach in der Luft; sie ist nach K Monaten ein Richtiger Act geworden,
und die betr. Urkunde wird in den Registern der B^waltuag als ungültig
gestrichen.
Das sind allerdings sehr rigorose Bestimmungen. Aber die Verwaltung
wird antworten: Ils, Isx seriM We! Und außerdem werden die Eltern
der Minderjährigen vor Aushändigung des Auswanderungsscheines ausdrücklich
und speziell auf alle diese Bestimmungen und vornehmlich auf §. 11 des Rcichs-
militärgesetzes aufmerksam gemacht. Sie Haben's sich also selbst zuzuschreiben,
wenn in Zukunft unheimliche Folgen über sie und ihre Kinder hereinbrechen.
Warum lassen sie die jungen Leute nicht im Lande, wo sie doch selber bleiben
und entziehen sich auf diese Weise selber die nothwendige Stütze im Alter
u. s. w.?
Uebrigens haben auch aus allgemeinern Gesichtspunkten diese massenhaf¬
ten Auswanderungen junger intelligenter Elsaß-Lothringer nach Frankreich
zu den angegebenen Zwecken zur Zeit absolut keinen Sinn mehr — es müßte
denn die immerhin erklärliche Furcht vor der allgemeinen Wehrpflicht,
oder eine allerdings sehr schwer erklärliche Scheu vor dem höhern Unterricht
in den deutschen Schulen sein. Für letztere fehlt aber jegliche Berechtigung
— daß das Elsaß in Bezug auf den höhern Unterricht seit den 70er Jahren
sehr erhebliche Fortschritte in xuneto der allgemeinen Bildung und intellec-
tuellen Freiheit gemacht hat, wird nachgerade jetzt — mögen auch über das
niedere Unterrichtswesen im Reichslande die Stimmen noch so getheilt sein
— von den Vernünftigen und Einsichtigen offen zugestanden. Bezüglich der
Gymnasien und Realschulen ist hier — abgesehen von zahlreichen
Privatäußerungen — auf eine sehr anerkennende Besprechung der diesjährigen
Prüfungs-Resultate in der städtischen Realschule in Straßburg im „Elsässer
Journal" hinzuweisen, sowie auf eine gelegentliche Correspondenz eines Bür.
gers aus Wasselnheim an dasselbe Blatt, — zwei „Stimmen aus dem
Volke", die seiner Zeit von der Tagespresse mit Recht als Zeichen des un¬
zweifelhaft nahen „I'lat lux" in diesem Punkte registrirt worden sind.
Gleiche Anerkennung wird der Straßbttrger Universität, die am 16.
dö. Mes. ihre Vorlesungen wieder eröffnen wird und deren Lectionsplan
namentlich in der philosophischen Facultät ungeheuer reichhaltig ist. nicht
bloß von der elsässischen, sondern auch von der französischen Presse gezollt.
So verglich kürzlich die „Oxion natiollg.!«" den frühern jämmerlichen Zustand
dieser Universität, die von der franz. Regierung wirklich äußerst stiefmütter¬
lich behandelt wurde, mit thu jetzigen Flor derselben in jeder Hinsicht. Sie
schließt den etwas sentimentalen Artikel mit den bezeichnenden Worten: „Hier
verbergen die Deutschen nicht ihre Absicht, aus Straßburg das zu machen,
was Bonn so lange gewesen ist: Ein Vorposten deutschen Geistes gegen
Frankreich!" Allerdings.
So veröffentlicht gerade in diesem Augenblick ein kleines, aber nicht
ohne maßgebenden Einfluß im Ober-Elsaß vegetirendes Blatt, die „^KeKss
^Isaeicmnes", eine Reihe von Artikeln über die Straßburger Universität, die
dem betr. französischen Correspondenten augenscheinlich als ein großes Wun¬
der-und Kunstwerk erscheint, ähnlich der astronomischen Uhr auf dem Münster
und die er daher nicht umhin kann, über alles Lob erhaben zu finden. Nun!
Das muß denn auch füglich sogar ein Blinder sehen, daß die Opfer, welche
die deutsche Negierung für die elsaß-lothringische Landes - Universität und die
damit in Verbindung stehenden Institute gebracht hat, ziemlich bedeutende
sind, daß es noch täglich ihr eifrigstes Bestreben ist, die Straßburger Uni¬
versität zu einer Hochschule ersten Ranges zu machen, und daß die Lehrstühle
dieser Hochschule ein Kranz von Gelehrten ziert, die mit den Besten ihrer
Zeitgenossen kühn in die Arena des wissenschaftlichen Wettkampfes treten
dürfen. — —
Gestatten sie mir zum Schluß noch mit ein paar Worten bei dem wich¬
tigsten und historisch denkwürdigsten Ereignisse zu verweilen, welches sich seit
den Tagen von Weißenburg und Wörth in der letzten Woche auf elsaß-
lothringischen Boden ereignet hat, nämlich bei dem Besuche des deut¬
schen Kaisers und seines erlauchten Sohnes und Erben, dessen die erstge¬
nannte Stadt vor allen Städten des elsässischen Gau's gewürdigt worden
ist. Es ist schon jetzt unzweifelhaft, daß diese persönliche Erscheinung der
beiden Träger und Repräsentanten deutscher Einheit, deutscher Macht und
Größe auf die Elsässer. namentlich auf die ländliche Bevölkerung einen tiefen
und nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Auch ging aus allen Veran¬
staltungen bei den Weißenburger Festen zur Genüge hervor, daß der Kaiser¬
besuch, wenn auch nicht ein heißersehntes Freudenfest, wie für den übrigen
schwäbischen Volksstamm, so doch ein wichtiger Gedenktag für die Elsässer
gewesen ist, der höchstwahrscheinlich nicht ohne bedeutsamen Einfluß auf die Stim¬
mung der Bevölkerung und auf die von Tag zu Tag zunehmende Einsicht,
Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß sich fast alles mittelalter¬
lich bürgerliche Leben mehr in der Oeffentlichkeit wie in umschlossenen Räumen
concentrirte. Man sah die Straßen und Plätze gleichsam als die erweiterten, an
sich meist engen, niedrigen, viel Licht entbehrenden Wohnungen an und betrieb
daselbst, wenn es nur irgend die Witterung erlaubte, die Mehrzahl der Ge¬
werbe, wie heute noch in Italien und im Orient; selbst Käufe wurden hier
notariell abgeschlossen, Amtshandlungen verschiedener Art vorgenommen und
Urtheile gefällt.
Waren die Geschäfte des Tages beendet, so hörte das öffentliche Leben
damit noch nicht auf. Der Arbeit folgte Lust und Genuß. Dort genügte
ein behagliches Ausruhen auf der Bank vor dem Hause, — hier saß der
ältere Bürger vor den Thüren der Zunftstube, schwatzte klug beim Kruge
Wein oder Bier, mitunter zog er auch ein Würfel- oder Brettspiel vor. Das
junge Volk wurde sehr zeitig ins Bett gesteckt, denn am andern Morgen be¬
gann die Schule um S Uhr und der Magister bestrafte die zu spät kommen¬
den hart. Für die erblühte Jugend kamen nun aber die schönsten Stunden.
Wie sie heraushuschten aus den Häusern und sich Freunde und Freudinnen
zusammenschaarten, die neuesten Neuigkeiten mittheilend! Wie selbstverständ¬
lich dirigirten sie sich sämmtlich einem Punkte zu. Einen Magnet gab es,
der sie alle gleichmäßig anzog. — und dieser Magnet war die Linde auf dem
freien Platz, die in keiner Stadt, selbst keinem Dorfe, fehlen durfte. Die
Linde, der Baum voll Würde und Anmuth, voll Stärke und Zartheit, der
Baum der Liebe und der Lieder, war schon in mythologischer Vorzeit der
Liebling unserer Voreltern; selbst schon Aphrodite hatte ihn sich zu ihrem
Heiligthum auserwählt. Unter ihren schattigen Zweigen versammelte sich
gar zu gern die muntere Jugend zu Scherz. Spiel. Tanz und Gesang, denn
in den ersten Zeiten des Mittelalters kannte man die später üblichen Tanz¬
hallen noch nicht. steinerne oder hölzerne Bänke waren gewöhnlich um den
Baum angebracht und der frische oft recht anmuthige Blüthenkranz der
jungfräulichen Bürgertöchter gruppirte sich auf denselben. Die Burschen
ließen nicht lange auf sich warten, bei manchem mochte wohl schon die
goldne Zeit der ersten Liebe eingezogen sein und so manches Herzenspaar
diese Stunden des fröhlichen Beisammenseins den Tag über ersehnt haben.
Es fehlte nicht an einzelnen beliebten Persönlichkeiten, welche die Spiele arran-
girten, eins durfte aber niemals dabei fehlen — der Gesang. Dort unter
der Linde wurde das eigentliche Volkslied gehegt und gepflegt und ihr haben
wir es mit zu danken, daß sich auch noch in unsern Tagen, Jung und Alt,
Reich und Arm an den alten Weisen erfreuen kann. — Ganz besonders
war das sogenannte Kranzsingen beliebt. Der frische Blumenkranz auf dem
langwallenden Haar ist von jeher der schönste Kopfschmuck der Jugend ge¬
wesen und stand im Mittelalter im hohen Ansehen. Wie heute die Tänzerin
ihrem Tänzer eine Schleife giebt, so geschah es damals mit dem Kranze, die
Jungfrau nahm ihn vom Scheitel und reichte ihn dem, welchen sie auszeichnen
wollte, — aber nicht umsonst, er mußte sich denselben verdienen. Jm Wett-
gesänge traten Beide an solchen Abenden auf. Die Jungfrau inmitten der
sie umgebenden Gespielinnen, forderte dazu mit zierlichen Worten die jungen
Männer heraus und einer derselben nahm den Kampf an. Er wendet sich
an das Mädchen und bittet in Versen um den Kranz. Diese giebt ihm nun ein oder
mehrere Räthsel zu lösen und macht hiervon die Gewährung der Bitte abhängig.
Der Ursprung dieses Spieles führt uns in das früheste germanische Alterthum zu¬
rück. Die auf uns gekommenen Dichtungen der älteren Edda bringen uns schon
Wettgespräche, so versucht z. B. im Vafthrudnisliede selbst Odhin unter
dem Namen Gangrad ein Wettgespräch mit dem vielwissenden Riesen Vaft-
hrudnir. Auch die Räthsel sind ein uralter, vielbeliebter Theil unserer Poesie,
welcher sowohl mit dem ganzen Sinne des germanischen Volkes als auch mit der
Eigenthümlichkeit seiner Dichtungen zusammenhängt. Der Zug des Räthsel¬
haften, das Streben, die innerliche Anschauung und Empfindung über irgend
etwas in ein Gleichniß zu verbergen, das die Thatsache und die Meinung
davon zugleich ausdrückt, zeigte sich vielfach. Die ganze altnordische Poesie ist
schon voll von Räthseldichtungen, — ist doch die Art der Statten im Denken
und Reden ein stetiges Räthselfinden und Räthselaufgeben. Dasselbe findet
auch bei den Angelsachsen statt. Aber auch in der innerdeutschen Poesie
tritt uns Ende des 12. Jahrhunderts die Räthselpoesie entgegen und war
jedenfalls auch dort schon früher vorhanden. Das Kranzsingen lehnte sich
allem Vermuthen nach an derartige alte Dichtungen und bildete sich erst mit
der Zeit zu der Form aus, wie wir sie im Mittelalter antreffen. — Einige
dieser Kranzlieder haben sich uns erhalten, das nachfolgende ist einer alten
Handschrift entnommen.*) Der Sänger tritt hierbei mit der Bitte vor:
„Gott grüß' euch hübsche Jungfrau fein
Möcht euer Nosenkränzlein mein doch sein;
Ach so greift höflich und fein
Mit eurer schneeweißen Hand
Auf euer oberstes Haarband
So will ich es legen in einen Schrein
Und es euch sagen zu Ehre
Daß es von der schönsten Jungfrau wäre."
Das Mädchen ist nun zwar nicht abgeneigt, dies zu thun, sie giebt ihm
aber erst nachstehendes Räthsel mit den Worten auf:
„Hübscher junger Knab', auf meines Vaters Giebel
Sitzen der Vöglein sieben;
Weß die Vögelein geleben,
Könnt' ihr mir das sagen,
So sollt ihr mein Kränzlein von hinnen tragen."
Der Sänger entgegnet:
„Der erst' gelebt eurer Jugend,
Der andere eurer Tugend,
'
Der dritt eurer süßen Aeuglein Blicke,
'
Der viere eures Gutes,
Der fünft' eures Muthes.
Der sechse' eures stolzen Leib's,
Der sichert eures reinen Herzen Schreins!
Zart' Jungfrau gebt mir das Kränzlein, es ist an der Zeit
Oder fürbaß mir versagen
Mit hübschen Worten und daran nicht verzagen."
Ein anderes dieser Räthsel lautet:
„Sänger, so merk' mich eben,
Ich will dir eine Frag' aufgeben:
Was ist höher wie der Gott?
Und was ist höher denn der Spott?
Und was ist weißer denn der Schnee?
Und was ist grüner denn der Klee?
Kannst mir das singen oder sagen,
Das Kränzlein sollst du gewonnen haben,
Darum will ich jetzt stille stehn
Und den Sänger zu mir her lassen gehen."
Letzterer erwidert:
„Du hast mir eine Frag aufgegeben,
Die gefällt mir wohl und ist mir eben.
Die Kron' ist höher, wie der Gott,
Die Schand' ist größer denn der Spott,
Der Tag ist weißer, denn der Schnee,
Das Märzenlaub ist grüner denn der Klee.
Die Frag' hab' ich dir thun sagen,
Das Kränzlein sollst du verloren haben!"
Es law ^auch wohl vor, *) daß der Sänger, wenn er den Kranz nun
endlich erhalten hatte, was oft erst nach einer langen Reihe von zu lösenden
Räthseln geschah, denselben auch zu vertheidigen hatte. Ein andrer Sänger
trat dann auf und legte ihm ebenfalls Räthsel vor. Löste er sie nicht, verlor
er den Kranz wieder. Auf diese Weise bildeten diese Lieder eine fortlaufende
Kette und das junge Volk konnte ihrer nicht müde werden.
Mitunter ging das Kranzstngen direct in den Tanz über. Große Vor¬
bereitungen waren hierzu nicht nöthig. — Geige, Leier, Pfeife, Trommel oder
Tambourin fanden sich bald, doch ein gesungenes Lied that ganz dieselben
Dienste. Vortänzer und Vortänzerin begannen und die ihnen nachfolgenden
Paare wiederholten den Refrain des Liedes. Arm in Arm geschlungen, be¬
wegten sich dann ganze Reihen, nach dem Takte der Melodie, die Straßen
herab und hinauf, schlangen sich um die Brunnen und bildeten auf den
Plätzen tanzende, jubelnde Kreise.
Sowohl das Kranzsingen wie diese Tänze sind in ihrer Eigenthümlichkeit
längst aus dem Volke verschwunden und nur in Schweden hat sich noch ein
Rest hiervon bis auf unsere Tage erhalten. In dem mehr oder minder
großen Kreise der Tanzenden steht ein junger Mann oder ein Mädchen und
windet einen Blumenkranz. Die Tanzenden singen:
„Das Mägdlein steht hier mitten im Tanz
Und pflückt sich Nosen wunderfein.
Es windet d'raus den schönsten Kranz
Wohl für den Herzgeliebten sein".
Das Mädchen setzt darauf einem Burschen den Kranz auf und die
andern singen:
„Komm' du mein Geliebter her
Den ich mir hier ausersah
Willst du dies und wohl noch mehr
Reich die Hand und sprich ein Ja."
Das Paar tanzt in dem Kreise herum und das Spiel beginnt von
Neuem. —
Als die Entsittlichung im Mittelalter immer mehr und mehr zunahm,
überwucherte sie leider auch diese einfachen, bis dahin nur harmlosen Volks¬
spiele, wie man sie in ihrer Ursprünglichkeit doch nur nennen konnte. Aus
dem Kranzliede wurde ein mit den unsittlichsten Zweideutigkeiten angehäufter
wüster Gesang und die Tänze verletzten in ihrer rohen Weise den Anstand
dergestalt, daß die Behörden dagegen einschreiten mußten. Eine tief einge¬
wurzelte Volksseele ist aber sehr schwer auszurotten. So war es auch hier:
Kanzel, Gesetz und Reichstagsbeschlüsse konnten wenig dagegen thun. Die
Alten drückten nur zu gern ein Auge zu, ihrer eignen Jugend dabei gedenkend
und trotz aller Verbote erhielten sich diese Vergnügungen fast bis in die
Neuzeit hinein. Was aber der Kraft des Gesetzes unmöglich wurde zu zer-
stören, that langsam mit leiser Hand die Zeit selbst in ihrem steten Wechsel.
Je mehr sich das allgemein städtische Leben von der Oeffentlichkeit in die
Häuser und in bedeckte Räume zurückzog, im gleichen Maße verschwanden
Spiel und Tanz von den Straßen und Plätzen und ließen sich in Wohnungen
und Säle einengen. Die Plätze unter der Linde sind verwaist, doch bergen
sie ein gutes Stück Sittengeschichte alter Zeit, welches uns Bilder lautesten
Jubels und ausgelassener Freude vor unsere Seelen zu zaubern im Stande ist.
Schon in seinen „Bergbleaml'n", der ersten Gedichtsammlung, die Karl
Stieler in oberbairischer Mundart herausgab, hat der Verfasser dieser
neuen Dialektdichtungen große Formgewandheit, feine dichterische Empfindung
und reichen Farbensinn, namentlich für den Localton des bairischen Gebirgs
bekundet. Es darf nicht Wunder nehmen, daß die vorliegende Sammlung,
die in Jahren herangewachsen ist, diese Vorzüge in noch höherem Grade
aufweist, als die frühere. Denn der fast unbekannte Autor der „Bergbleaml'n"
ist inzwischen einer der ersten deutschen Feuilletonisten geworden; eine Reihe
illustrirter Prachtwerke, welche vorzügliche Naturschilderungen und Volks¬
studien enthalten, nennen Karl Stieler als den Verfasser des Textes, so „Aus
deutschen Bergen", „Rheinfahrt", „Italien" und das eben begonnene Pracht¬
werk „Elsaß-Lothringen" (Stuttgart), das wir noch eingehender besprechen
werden. Besonders lobenswerth scheint uns in der vorliegenden Sammlung,
daß der Verfasser ganz frei von Sentimentalität das Leben und Treiben seiner
Gebirgsbewohner darstellt und die Gebirgsidyllen, die ihm in die Feder
kommen, nirgends verhimmelt. Was gesittete Literarhistoriker, die im Dunste
großer Städte aufgewachsen sind, mit Jeremias Gotthelf auf- immer verfeindet,
die göttliche Grobheit seiner Buben und Meitscheni und der Dunst der
^wmenthaler Vtehställe, der überall in seinen Romanen zu Hause ist, das
^ag diesen zartbesaiteten Nerven vielleicht auch Stieler's „Was mi freut"
unleidlich machen. Wir unsrerseits stimmen dagegen dem Verfasser durchaus
bei, wenn er in der Vorrede „über Ziele und Grenzen der Dialektdichtung"
s°ge: „Das erste Erforderniß, das man an dialektische Dichtungen stellt, ist
die Echtheit . . die Echtheit der Ausdrucksweise und der Denkweise. In
jedem Gedicht soll wirklich der Bauer denken, nicht wir selbst. Die typische
Gestalt des Bauers gewinnt nicht dadurch an Feinheit, daß man nur hier
und da seine äußere Grobheit beschneidet. Laßt ihn doch, wo es der Fall
einmal erfordert, so grob sein als er wirklich ist. aber erinnert euch, daß er
auch noch mehr ist als ein Grobian. Vergeht nicht, daß auch sein Leben
Stunden hat. deren tiefe Herzenslaute vielleicht noch mächtiger sind, als das
Empfinden unserer geschulten Seele und daß auch diese Laute ein Recht haben,
in der wahren volksthümlichen Dichtung zum Ausdruck zu kommen." Wir
finden diesen Naturlaut der Volksseele etwas poetischer ausgedrückt in diesen
Gedichten, als wenn sich die Bauern g, ig. Berthold Auerbach in salonfähigen
spinozistischen Redensarten unterhalten. Lesen wir z. B. das Gedicht „Der
Musikant." Ein Tanzmusikant hat einen kranken Buben zu Haus: er weiß
nicht, ob er ihn noch lebendig antrifft, wenn er heim kommt. Während der
Vater den Luftiger aufspielt, verscheidet das Kind. Die Mutter erzählt ihm
von den letzten Augenblicken des Knaben:
„Grad allweil d'Handln' ausgstreckt hat er
Und nix als g'fragt: Wo ist der Vater?
G'wiß zehnmal bin i ganga schaugen." —
Der Vater fahrt sich über d'Augen.
So ernst wie dieses sind wenige Gedichte der Sammlung. Aus den
allermeisten spricht der gesunde Volkshumor, auch bei den trübsten Stimmungs¬
bildern. So läßt sich der sterbende Mann noch einmal einen Stecken von
der Frau reichen:
„„Du muaßt ja sterben, da brauchst kein Stecken"".
„Ja extra deßz'weg'n", sagt der Mann,
„Daß i ti' no'mal hauen kann".
Dös war a guter Mann, a guter,
Sagt sie, aber a boshaft's Luder.
Der sterbende Michel dagegen sagt zur Frau:
„An Mann, den brauchst ja dengerscht — und
Na heirath'se — halt an — Sepp von Gmünd"
,,„O mei"", sienne sie, daß es s'ganz z'sprengt,
„„An den, da hab i aa schon denkt!""
Die berechtigte Eigenthümlichkeit der polizeilichen Ehehindernisse, die
Baiern sich in den Bersailler Verträgen reservirt hat. spricht sich in der An¬
rede aus, die der Pfarrer an die Brautleute hält, die von ihm copulirt
sein wollen:
„Die kennt ma schon, die Lent, die junga"
So sagt der Pfarrer, „selbs nur Staat" (still)
Ihr zwei habt's aa schon 's Gloria g'surga
Voneh, daß 's nur noch z'sammg'läut Hot".
Mehr in das Gebiet der Schnadahüpfeln gehören die folgenden Reime:
Mit die vorzüglichsten Sachen verdanken wir dem Kampf mit den
Schwarzen, an welchem der Verfasser durch seine politischen Correspondenzen
wie durch seine gelegentlichen Reden im oberbaierischen Dialect, die er den
Bauern in den allerschwärzesten Wahlkreisen hält, jahraus jahrein seinen red¬
lichen Theil hat. Hier beruht vollends Alles, was die kleine Sammlung an
Politischen Liedern enthält, auf unmittelbarster unverschönerter Wirklichkeit.
Da schildert zunächst ein würdiger Dechant aus der guten alten Wessen-
bergischen Zeit den Zelotismus der jungen Hetzkapläne: „Die reden daher,
daß 's mi ganz reißt, so g'Scheit und so vermessen, daß d'moanst sie haben
den belli'n Geist mit sammt die Federn g'fressen." Ebenso zutreffend be¬
zeichnet dann ein Bauer den politischen Standpunkt seiner Gemeinde: ja
liberall — dös sind wir Alle, blos wählen thun ma (wir) schwarz. Zu solcher
Gemeinde paßt „der dumme Kandati", der zum Abgeordneten gewählt wird
„und weil er sonst nix werden kann, so wast'mener'n halt a nul, den Mann/' Zu
dieser Gemeinde paßt aber auch vortrefflich das Treiben der Schwarzen selbst. „Die
g'heime Wahl" enthält dieses Treiben: „Zu mir is der Her Pfarrer komm«
und sagt, i soll den Zettel nehm« und sagt zu mir (und dem daneben) ist
uneröffnet abzugeben! Denn so steht's im Gesetz «mal, und drum is dös a
g'heime Wahl. I hätt schon so gern einig'schaugt, aber jetzt hab i im net
traut, wer drob'n (drinn) steht — i woaß nit. No mein, i denk — es wird
schon oaner sein." Ein anderer Bauer kennt den Namen seines Kandidaten
noch gar nicht; aber er tröstet sich: „I denk, sie bringen uns schon van am
Sunntag aus der Fruhmeß hoam." Hans endlich bleibt nicht ungerührt
bei dem Borwurf, daß er jetzt mit den Schwarzen gehe: „Wo niemand lesen
kann und Schreiben, da habn's am besten ihrer Treiben. So schaug Di
nu a weni una, bei Ent (Euch) san doch die mehrern Duenna." Aber
auch dafür hat Hans einen Trost: „Ja ja, dös glaub i selber bald, die
Dümmern san mir scho, aber die mehrern san mer do(es)." Auf solchen
Dörfern ist dann der Wirth neben dem Pfarrer die Ortsvorsehung. Bon
ganz besonderer Klugheit muß aber natürlich der Wirth sein, bei dem die
Schwarzen am Montag und die Liberalen am Sonntag kneipen und
beide ihn plagen bei den Wahlen: „Gek, bei uns wählst mit." Das plagt
ihn in der That ungeheuer. Endlich hat ers heraus:
Dös nachstmal, wenn's jetzt wieder kemma,
Da will i mich in Obacht mesma
Und da wird's aufgeschrieb'n ganz all'rat,
Wieviel Maß Bier daß jeder hat,
In die lichteren Kreise Oberbaierns ist dagegen wohl der hübsche Wort¬
streit zu verlegen, den verschiedene Arbeiter über „den Bismarch" halten.
Der Fuhrknecht meint, der Kanzler wäre ein guter Fuhrmann geworden.
Der Maurersepp hätte ihn am liebsten als Maurer gesehen, da er sein Meister¬
stück mit Niederreißen der „alten Hütten" bereits abgelegt „und hat uns
hing'stellt a schön's Haus." Der Zimmermann sagt: „der hat aa drumbaut
noch an Zaun, daß d' Spitzbub'n sich nit einitraun." Der Jägerhaus
meint: „A Jager hätt er werden sollen, weil er allweil an (den) Punkten
trifft. Der Hausknecht aber ruft:
Was besser ist — dös best i's g'wiß:
Daß er der Bismarch wor'n is.
Diese Proben mögen genügen. Sie beweisen, daß nicht allemal ein
Ueber Natur, Inhalt, Werth dieser Reiseführer zu sprechen, ist über¬
flüssig, allerseits sind sie bekannt und geschätzt, und Jeder betrachtet es als
selbstverständlich, daß die neuen Auflagen sorgfältig durchgesehen und dem
Bedürfniß des Publikums angemessen verändert und ergänzt sind. Auch hier
ist nichts unterlassen, was geeignet war, die rothen Bücher auf der Höhe der
Zeit zu erhalten. Bei Ur. 1 sind die Pläne und special-Kärtchen nach dem
neuesten Material und des Verfassers eigener Erfahrung berichtigt, die Höhen¬
angaben in Metern mit Berücksichtigung der neuen österreichischen Militär-
mappirung revidirt, die Entfernungen entweder in Kilometern oder, auf Ge¬
birgsstraßen, in Gehstunden angegeben. Das Letztere gilt auch von Ur. 2
und 3, als deren wesentlichste Bereicherung die kunsthistorischen Beiträge er¬
scheinen, welche Professor Anton Springer geliefert hat. Außer einer Reihe
kleiner Notizen sind von demselben viele der den kunsthistorisch interessanteren
Städten beigegebenen einleitenden Bemerkungen und insbesondere die übersicht¬
lichen Hinweise auf die bedeutendsten Bilder, welche bei den großen Gemälde-
gallerien in Wien, München, Frankfurt u. s. w. der Aufzählung der einzelnen
Nummern vorausgehen.
Eine Umarbeitung der „Baltischen und russischen Culturstudien" des
selben Verfassers, bei der einzelne Stücke ganz weggeblieben und für sie
andere hinzugekommen sind. Der Inhalt besteht jetzt aus folgenden Auf¬
sätzen : Philipp Wigel, der deutsche Nationalrusse. — Die altgläubigen
Sectirer in Oesterreich, Rußland und der Türkei (den Lesern d. Bl. bekannt)
— P. M. Leontjew und die russische Presse, — die „neue Formel der Civi¬
lisation", — Iwan Turgenjew und seine Zeitgenossen, — Ernst Gideon von
Loudon, — Eine livländische Spukgeschichte, — Albert Hollander und Fer¬
dinand Wolier. Die letzteren drei Abtheilungen haben wohl nur locales
Interesse, d. h. für Livländer. Die Biographie Londons dagegen und der
Aufsatz über Turgenjew, desgleichen die Charakteristik Leontjews und der
neueren russischen Journalistik und vielleicht auch die Philipp Wigels, des
wunderlichen und excentrischen Verfassers der in den vierziger Jahren viel¬
genannten Flugschrift: „I^a Russis euvalüs xg.r les ^Uemg,riä8", der zu den
Führern der national-russischen Reaction gegen den deutschen Einfluß im
Czarenreiche zählt, werden allgemein mit Interesse gelesen weroen. Wenn wir
abrechnen, daß der Verfasser bisweilen den Persönlichkeiten, die er characterisirt
deshalb, weil sie baltische Deutsche sind, eine höhere Bedeutung beizulegen
scheint, als sie wirklich besitzen, und daß ihm mitunter locale Streitigkeiten
erheblich wichtiger erscheinen, als uns und vermuthlich vielen Andern, so
besitzt er einen guten historischen Sinn, und da sich damit eine respectable
allgemeine Bildung und das Talent, lesbar zu erzählen verbinden, so werden
die meisten der zuletzt genannten Partien seines Buches auch für das größere
Publicum eine willkommene Lectüre sein. Endlich aber hat auch das kritische
Essay: „die neue Formel der Civilisation" entschieden Anspruch auf Beachtung
von Seiten des deutschen Publicums. In den vierziger Jahren machte Herr
von Haxthausen die Kreise der moskauer Slavophilen, die von der russischen
Weltherrschaft träumten und nur noch nach dem neuen Princip, der neuen
Idee suchten, deren Träger der zu jener berufene Stamm nach Hegel sein
mußte, mit der Entdeckung bekannt, daß diese Idee in Rußland bereits in
dem Gemeinbesitz der Bauern gefunden sei. 1848 wurde die Lehre von der
welterlösenden Kraft des Gemeindebesitzes und seiner Bedeutung für die
künftige slavische Weltherrschaft von Alexander Herzen als „neue Formel der
Civilisation" verkündet. Sie sollte „das belebende Princip des russischen
Volkslebens" und die Grundform der russischen Gesellschaft sein. Die Lehre
von dem gleichem Anspruch Aller an den Grund und Boden, von der Noth¬
wendigkeit einer Verwandlung des persönlichen in das Gemeindeeigenthum
sollte das Zeichen sein, unter dem der russische Stamm zu streiten und über
das zu unterwerfende westliche Europn zu siegen berufen wäre. Tausende
und aber Tausende glaubten das. Der Verfasser aber weist nach, daß die
Einrichtung des Gemeindebesitzes, an der das Emancipationsgesetz von 1861
nichts geändert hat, indem die Volksgewohnheit die ihr gebotene Möglichkeit,
die Dorfmark zu zerschlagen und den Einzelnen als Erbbesitz zuzutheilen,
unbenutzt gelassen hat, erstens nicht sehr alt ist und zweitens keineswegs
die vortheilhafte Wirkung auf das Volk hat oder gehabt hat, die Haxthausen
ihr nachrühmt. Im Gegentheil, die russische Regierung hat. gestützt aus
zahlreiche übereinstimmende Gutachten, dieses System, das noch vor wenigen
Jahren als nationales Palladium verherrlicht wurde, uneingeschränkt ver«
urtheilt, und das Gewicht der practischen Erfahrungen, auf welche dieses
Urtheil sich stützte, war so groß, daß die Vorkämpfer des Communesystems
wenigstens für den Augenblick zu schweigen für gerathen hielten. Der Wahn,
daß das Institut des ungeteilten Gemeindebesitzes eine universale, für die
Zukunft des gesammten Europa und seine Civilisation in Betracht kommende
Bedeutung habe, daß der ursprüngliche Zustand der russischen Ackerbauer sich
mit den letzten Zielen der ökonomischen Entwickelung Westeuropas berühre,
und daß die Russen von der Nothwendigkeit des persönlichen Eigenthums,
der' sich jedes nach voller Entfaltung seiner wirthschaftlichen Kräfte ringende
Volk zu unterwerfen hat. ausgenommen seien — alle diese Wahnvorstellungen
sind zernichtet.
Mag man über den historischen Roman der Gegenwart urtheilen wie
wan will, soviel wird man zugestehen müssen, daß die Entwickelung der ganzen
Gattung wie die günstige Aufnahme ihrer Haupterscheinungen ein gutes Zeugniß
ablegt für das Erwachen des historischen Sinnes. Und in der That haben
Werke wie Scheffels „Ekkehard" oder Ebers „Aegyptische Königstochter"
Kreisen, die einer streng historischen Darstellung wenig Geschmack abgewinnen
und lebendige Anschauungen längst vergangener Epochen und Menschen ge¬
geben, lebendigere vielleicht, als ihnen Geschichtswerke vermittelt haben würden.
Daraus vor allem ist es sicher zu erklären, wenn Männer von der wissen¬
schaftlichen Bedeutung Felix Dahn's Ergebnisse strenger Forschung im Gewände
der Dichtung einem größeren Publikum nahe zu bringen versuchen. Allbe¬
kannt und in der Hauptsache auch anerkannt sind Dahn's Arbeiten über die
Geschichte der germanischen Stämme während und nach der Völkerwanderung in
seinen „Königen der Germanen" und seinem „Procopius von Cäsarea." War
er also stofflich vorzüglich ausgerüstet für eine poetische Darstellung aus dieser
Zeit, so hatte er seine dichterische Begabung längst durch eine Reihe von
Gedichten epischen Inhalts, wie durch seine Dramen und seinen culturhistorischen
Roman „Sind Götter?" dargethan. Beides, umfassende Sachkenntntß und
poetisches Talent, wird auch in seinem neuesten Werke „Ein Kampf um
Rom" Niemand vermissen und seine überaus günstige Aufnahme — der erste
Band erlebte in wenigen Wochen die dritte Auflage — sprach für die gelungene
Lösung des schwierigen Problems, ein modernes Publikum für Verhältnisse,
Personen und Ereignisse zu erwärmen, die durch die Kluft von 1300 Jahren
weniger noch als durch ihre innere Frsmdartigkeit von ihm getrennt sind.
Sein Stoff freilich: der Untergang des ostgothischen Reiches in Italien,
Me dem Dichter diese Lösung wesentlich erleichtert. Keine Volksgeschschte des
'
angehenden Mittelalters steht uns näher, als diese gothische. Wir kennen die
Sprache, die Verhältnisse, die Geschicke der Ostgothen genauer als die irgend
eines germanischen Stammes, und welche großartige Tragik liegt doch in
diesem Geschick! Eine Herrscherkraft ersten Ranges, ein hochbegabter Volks¬
stamm scheitern an dem unmöglichen Versuche, in dem alten Culturlande
Italien, inmitten eines an Zahl und Bildung ungleich überlegenen, durch
Sprache und Religion von den Einwanderern getrennten Volkes, ohne Zu¬
sammenhang mit der germanischen Heimath, im Kampfe mit dem alten
Culturstaate von Byzanz ein Reich zu gründen und zu behaupten mit wenigen
Hunderttausenden kriegerischer Landbauern, denen nur zweierlei eine kurz¬
dauernde Ueberlegenheit gab, die frische Volkskraft und die kriegerische Tüchtig¬
keit, und denen das ungewohnte Klima und der Luxus des Südens diese
einzigen Bürgschaften ihrer Existenz rasch genug entzog.
Kommt von vornherein menschliche Theilnahme diesem Todeskampf eines
ganzen Volkes entgegen, so wird sie noch dadurch wachsen, daß wir hier die
Ereignisse genau zu verfolgen vermögen. Insofern war F. Dahn günstig
genug gestellt; war doch seine Hauptquelle jener Procopius von Cäsarea, der
unter den Historikern der byzantinischen Zeit unbestritten den ersten Rang
einnimmt. Aber wenn die größere Handlung bis ins Einzelne hinein bekannt
ist. über das innerste Wesen der Handelnden erfahren wir doch nur wenig;
beruht ja unsere Kenntniß lediglich auf dem Berichte des Vertreters einer
Partei, der Byzantiner; in das Seelenleben der Gothen hineinzusehen, sie zu
begreifen in ihren Entschlüssen und ihren Motiven, uns mit einem Worte
ihre Helden menschlich nahe zu bringen, das ist uns aus den historischen
Darstellungen allein fast unmöglich. Ein um so weiteres Feld eröffnet sich
hier dem Dichter. An die äußere Handlung war er wesentlich gebunden,
Menschen von Fleisch und Blut zu schaffen — in den historischen Schranken
— das war fast ausschließlich sein Werk. Sehen wir, wie er sich mit beiden,
mit den äußeren Thatsachen und mit den Personen abgefunden hat.
Der Todeskampf des ostgothischen Reiches umfaßt die ganze Zeit ovo
Tode Theodorichs bis zur Schlacht am Vesuv, von 526 bis SS2. Ein so
langer Zeitraum läßt sich im Rahmen eines Romans unverkürzt nicht dar¬
stellen. Dahn hatte also die Wahl, entweder eine Episode herauszugreifen
oder das Ganze in seiner Darstellung auf kürzere Zeit zusammenzudrängen-
Er hat das Letztere gewählt, er hat, wie er selbst in der Vorrede sagt, die
Länge des Zeitraums „verschleiert." In der That fehlen in seiner Dichtung
genauere Zeitangaben fast ganz und seine Helden erscheinen am Ende nicht
wesentlich älter, als am Anfange. Es wird nicht zu läugnen sein, daß dadurch
eine gewisse Unklarheit hervorgerufen wird. Eine nothwendige Folge des
Verfahrens war aber vor allem, daß er sich sehr starke Abweichungen von
der Wirklichkeit gestatten, eine Menge Thatsachen einfach streichen mußte.
So werden die Jahre nach Mtiges Untergange, die damals einander rasch
folgende Erhebung zweier Könige, des Erarich und Jldibald, übergangen;
Belisar erscheint nur einmal in Italien statt zweimal; zu Totilas Zeit wird
Rom nur einmal belagert und genommen, die Entsatzversuche Belisars, der
Verlust der Stadt an die Byzantiner, ihre abermalige Einnahme durch die Gothen
und ihre endgiltige Eroberung durch Narses, für alles dies ist bei Dahn kein
Platz. Andere Abweichungen, wie das Erscheinen Alboins neben Narses, der
Abzug der letzten Gothen auf einer nordischen Flotte u. a. in. sind mehr
nebensächlich. Sicher muß auch dem Romandichter eine gewisse Freiheit in
der Behandlung eines historischen Stoffes erlaubt sein, ob aber eine so große,
wie sie sich Dahn genommen, das ist doch zweifelhaft, wenn nun einmal
die Dichtung ein treues Bild der Ereignisse geben soll. Eine ganze Reihe
von Aenderungen hängt außerdem mit Dahn's Darstellung der handelnden
Personen aufs Engste zusammen.
In der Auffassung ihrer Handlungen sowohl, als ihrer Charaktere,
war er viel weniger beengt; innerhalb des gegebenen, aber ziemlich weiten
Rahmens hat er sich frei bewegen können, und er hat diese Freiheit be¬
nützt, um die Schicksale wie selbst das persönliche Wesen der Einzelnen oft
selbständig zu gestalten, überlieferte Züge tiefer zu begründen und weiter
auszuführen, ganz neue hinzu zu erfinden, und eben darin hat er unleugbar
eine große poetische Kraft entfaltet. Er hat es verstanden, in die große
Tragödie eine Reihe persönlicher Tragödien einzuflechten, besonders auch das
Jntriguenspiel meisterhaft zu schildern, die Charaktere der Hauptpersonen
scharf und lebendig herauszuarbeiten.
Eine Reihe von Beispielen mag dies näher begründen. Gewaltig, noch
im Leben fast zur sagenhaften Gestalt geworden, tritt Theodorich auf, nur
einmal, und zwar an seinem Todestage. Er stirbt mit der peinvollen Er¬
kenntniß, daß er umsonst gearbeitet, daß Niemand nach ihm das Reich halten
könne, aber nicht die Erinnerung an den Tod des Symmachus und Boethius
Peinigt ihn, wie die Ueberlieferung meldet — „sie waren Verräther" — sondern
die Ermordung seines germanischen Gegners Odoaker; für diese That, fürchtet
er. werde das göttliche Strafgericht sein ganzes Volk treffen. Breiter entfaltet
sich die Darstellung seiner Tochter und Nachfolgerin Amalaswintha. Sie er¬
scheint, wie sie war, verwälscht, dem eignen Volke abgewendet und den Ro¬
manen hingegeben; so wird sie zum Verbrechen — der Ermordung ihrer
gothischen Hauptgegner — angetrieben, das ihr die letzte Zuneigung des
eignen Volkes raubt und doch die Römer nicht gewinnt, schließlich von den
Gothen entsetzt, von ihrer Feindin Gothelindis, der Gemahlin Theodahads,
of Verderben gelockt, aber zur Erkenntniß ihres Frevels gekommen, warnt
sie zuletzt noch ihr Volk vor dem Verrathe Theodahads. — Sehr selbständig
schildert sodann Decbr Persönlichkeit und Charakter des Vitiges, der Belisar
erliegt. Wir wissen wenig von ihm, bei Decbr wird er zu einem lebendigen
Menschen: ein tapfrer Krieger, schlicht gerade, unfähig zur List, ohne Ehrgeiz,
auch ohne besondere Begabung, aber voll Entschlossenheit. Er lebt, ehe er
König wird, in glücklichster Ehe mit Rauthgundis. die Dahn frei erfunden,
aber höchst sympathisch dargestellt, auf einem Gute bei Florenz, selbst freilich
meist am Königshofe, wo man von seiner Ehe kaum etwas weiß; nach
Theodahads Entsetzung erhebt ihn die Volksversammlung zum König und
verwickelt ihn damit in einen furchtbaren persönlichen Conflikt. Denn da die
entschiedenen Anhänger des Königshauses der Arnalungen nur Mataswintha,
den letzten Sproß des alten Stammes, die Tochter Amalaswinthas, als Königin
anerkennen wollen, so zwingen ihn, um Spaltung zu verhüten, seine Anhänger,
sein geliebtes Weib zu verstoßen; er thut es, im Innersten gebrochen, aber
in der Brautnacht erklärt er Mataswintha, sie sei seine Königin, nie werde
sie sein Weib, und legt zwischen sich und sie das blanke Schwert. Da erwacht
in dem tödtlich beleidigten Weibe der Haß um so grimmiger, als er nur die
umgewandelte Liebe ist; denn Mataswintha hat, ohne zu wissen, daß er vermählt,
in Vitiges, seitdem sie denken kann.das Ideal eines Mannes verehrt. Unmittelbar
am Ziele ihrer heißen Wünsche zurückgestoßen, verschmäht, kennt sie seitdem kein
anderes Interesse, als Vitiges zu vernichten; als er Rom belagert, verräth sie
jeden seiner Pläne; als er in Ravenna eingeschlossen ist, zündet sie die Getreide
Speicher an und vernichtet so die letzte Hoffnung der Gothen, die Stadt zu
halten. So erlebt sie den Triumph, Vitiges gestürzt und gefangen in den
Händen der Byzantiner zu sehen. Aber schon quält sie die Reue, und als
der byzantinische Prinz Germanus um sie wirbt, da giebt sie sich selbst den
Tod. In Vitiges' Gefängniß aber tritt sein treues Weib Rauthgundis; sie
verschafft ihm die Mittel zur Flucht, sie entkommt mit ihm, doch verfolgt
von den byzantinischen Reitern finden sie beide in den Wellen des Po ihren
Tod. — Das Ganze ist fast vollständig Dahn's Eigenthum; Rauthgundis
hat er ganz erfunden ; von Mataswintha ist nur bekannt, daß sie, mit Vitiges.
aber gegen ihren Willen, vermählt, in der That verrätherisch handelte und
dann, nach seinem Sturze wirklich das Weib des Germanus wurde. Ab¬
weichend von der Wirklichkeit wird auch das Ende des Vitiges erzählt.
Auch bei der Schilderung Teja's, des letzten Königs der Gothen, hat
die historische Ueberlieferung Dahn wenig geboten: Teja führt den letzten
Heldenkampf seines Volkes heldenmüthig durch und fällt, das ist im Grunde
Alles, was wir von ihm wissen. Bei Dahn erscheint er als eine düstere
Gestalt, in frühester Jugend unselig, da er seine Geliebte unwissentlich ge-
tödtet, ein entschiedener Pessimist — nur die blinde, eiserne Nothwendigkeit
regiert die Welt, es giebt keinen Gott -—, überzeugt von dem unvermeidlichen
Untergange seines Volkes, aber entschlossen, das Furchtbare edel zu tragen
und edel zu sterben, seine Trauer ausströmend im Liede. So ringt er über¬
all mit. ein eiserner Held und kämpft als König die letzte Heldenschlacht
am Vesuv, in der er fällt.
Sein Gegenpart und doch sein Freund ist Totila, der .Sonnenjüngling",
der „Siegfried" der Gothen, ein Idealist durch und durch, voll menschlich
warmer Empfindung, voll Güte und Humanität, von Allen geliebt, auch von
den Italienern, und doch von den Gegnern gefürchtet als ein unwiderstehlicher Held.
Er hofft Römer und Gothen zu versöhnen, das Reich Theodorichs wieder zu er¬
öffnen. Es ist symbolisch für diese Hoffnung, daß er eine Römerin, Valeria liebt.
Aber wie das ganze Volk, so verfolgt auch ihn das düstere Schicksal, so
nahe er auch zuweilen seinem politischen und seinem persönlichen Ziele zu sein
scheint: Valeria, früh dem Kloster geweiht, dann durch die Erbauung eines
solchen von diesem Gelübde gelöst und doch selbst sich nicht gelöst fühlend,
bleibt von dem Geliebten durch den Krieg getrennt. Dann siegt freilich
Totila. er nimmt Rom. er residirt im Capital; sein Gedanke scheint realisirt,
der Stunde seiner Verbindung mit Valeria ganz nahe gerückt zu sein, da
zieht mit Narses das Verderben heran; Totila fällt und jenes Kloster Valerias
bei Taginä wird seine Ruhestätte.
So treten die Hauptvertreter der Gothen als lebendige Menschen hervor,
deren Schicksale im vollsten Maße die Theilnahme herausfordern. Und das
ist. wie die Ueberlieferung nun einmal ist, ganz wesentlich Dahn's Verdienst.
Reiches Material auch für die Darstellung des Persönlichen, boten ihm
seine Quellen für die byzantinische Seite, aber auch hier gebührt ihm die detail-
lirtere Ausführung. Justinian schiebt er einigermaßen in den Hintergrund,
um so bedeutsamer tritt die Kaiserin Theodor« hervor, das lasterhafte, ge¬
wissenlose, intriguante, frömmelnde Weib, doch nicht ohne einen Zug von
Größe in ihrer unbezähmbaren Herrschsucht und ihrer unbeschränkten Herr¬
schaft über Justinian. So wie Dahn sie schildert, war sie sicher in Wirklich¬
keit. Auch Belisar scheint im Ganzen wohl, wie er war. ein tapfrer Hau¬
degen, der einzige Held von Byzanz, ehrlich und geradezu — vielleicht zu
ehrlich —, eben deshalb dem Jntriguenspiel nicht gewachsen, in Ungnade ge¬
stürzt durch schnöde Hinterlist und von der Blendung nur gerettet durch
seinen Nebenbuhler Narses. Mit der Darstellung dieses letzteren hat Dahn
unserer Meinung nach ein Meisterstück geliefert. Wie deutlich tritt er uns
entgegen, der kleine, kranke, epileptische Mann, der nur an der Krücke geht
und von seiner Sänfte aus die Schlachten leitet, dabei voll hohen Selbstbe¬
wußtseins, voll rücksichtsloser Offenheit selbst dem Kaiser, und was noch viel
gefährlicher, auch der Kaiserin gegenüber, und doch beiden unentbehrlich durch
sein Feldherrntalent und seine diplomatische Kunst, dabei nicht ohne Sinn
für Heldengröße: er rettet Belisar und ehrt Teja. — Ein ganz besonders
gelungenes Characterbild scheint uns auch das zu sein, das Dahn von
Procop, dem Geheimschreiber Belisars und Historiker des Gothenkrieges, ent¬
wirft. Hier hat er freilich weniger frei erfunden, als vielmehr aus seinen
Werken den Charakter des Schriftstellers erschlossen und den so gewonnenen
Rohstoff kunstvoll modellirt zum plastischen Gebilde. So mag er gewesen
sein, dieser Byzantiner; an sich ein trefflicher Mensch, aber ein Sohn seiner
Zeit und Nation, von ihren Schwächen und Fehlern nicht frei und sich dessen
auch bewußt, ein Verehrer Belisars und Bewunderer der Gothen, ein Ver¬
ächter seiner Landsleute und Feind der Kaiserin, dabei vorsichtig geschmeidig,
unterthänig, zu schwach, um ganz ehrlich, und zu ehrlich, um ganz Höfling
zu sein. Dem entsprechen seine Werke: er schreibt den gothischen Krieg ge¬
wissermaßen officiös, aber für ein byzantinisch - officiöses Werk zu ehrlich; er
läßt sich deshalb von der Kaiserin als Buße die Pflicht auferlegen, die Bau¬
werke Justinians in den Provinzen zu schildern, oder was dasselbe ist, mit
Lob zu überschütten, und er rächt sich für diesen Zwang, indem er die
„Geheimgeschichte" schreibt, jene Lästerchronik des byzantinischen Hofes, die
kaum ihres Gleichen hat.
Neben den historischen Figuren, von denen wir eben die wichtigsten zu
charakterisiren versuchten, steht noch eine ganze Reihe frei erfundener Ge¬
stalten auf gothischer Seite: außer der schon erwähnten Rauthgundis, Adal-
goth und Goedo, Harald und Haralds, besonders aber der alte Waffenmeister
Theodorichs, Hildebrand, für den allerdings die Figur der Heldensage vorlag,
der Hauptführer der streng gothischen Partei, noch Heide durch und durch, in
allen Kämpfen bewährt und sie alle überlebend, bis er mit nach dem Norden
zieht. Die bedeutendsten poetischen Mittel aber hat Dahn verwendet in der
Darstellung des Cethegus Cäsarius. Damit tritt zwischen Gothen und
Byzantinern die dritte Macht auf, die Italiener. Dieser Römer, der für die
Wiederherstellung der Weltherrschaft von Rom aus kämpft, betrachtet sich
selbst als Nachkomme Cäsars, vor dessen Statue ihm der verwegene Gedanke
aufsteigt, an den er sein Leben setzt, und in der That hat der erste Monarch
Roms wohl zu diesem Bilde des „letzten Römers" gesessen, so weit dieser
auch hinter dem Vorbilde zurückbleibt, denn Cethegus ist ein Mann schneidig
und biegsam wie Stahl, alles, auch die schlechtesten Mittel: Heimtücke, Ver¬
rath, Mord unbedenklich daransetzend an die Durchführung seines Planes,
in jeder Intrigue Meister, jeden Gegenspieler durchschauert und jeden über¬
trumpfend, , die Menschen beherrschend und leitend mit dämonischer — ja
sagen wir es offen — mit übermenschlicher, oft unbegreiflicher Macht, zu
Boden gerungen immer wieder ausschreitend, und doch auch kämpfend, wie
ein Held und fallend wie ein Held. Keiner der andern Mitspieler greift so
unaufhörlich und so nachdrücklich in die ganze Handlung ein, als er. Er
bildet die Verschwörung der Römer in den Katakomben zum Sturze der
gothischen Herrschaft, er gewinnt trotzdem Amalaswinthas Vertrauen, wird
so Präfect von Rom, bewaffnet die Römer, verdirbt Amalaswintha, indem er
sie zum Morde der drei Gothen treibt, hilft sie dann stürzen, tödtet ihren
Sohn Athalarich, der ihm plötzlich zu selbständig gegenüber tritt. So hat
er die gothische Herrschaft ins Wanken gebracht; aber eben als er die Frucht
seiner Mühe ernten, Rom und Italien zu selbständiger Erhebung gegen die
Gothen fortreißen will, da mißlingt dies: die Byzantiner landen früher als
er erwartet. Trotzdem weiß er sich in dem Besitze eines großen Theils
von Rom und namentlich des Capitols neben Belisar zu behaupten, ja er
reißt sodann den Ruhm der Vertheidigung Roms fast allein an sich. Um
Belisar zu beseitigen, verwickelt er ihn vor Ravenna in die Intrigue gegen
Vitiges, durch welche dieser bewogen wird, Belisar die ostgothische Krone ab¬
zutreten, ohne daß der Byzantiner allerdings die ernste Absicht hätte, sie an-
zunnehmen, verdächtigt ihn dann in Constantinopel, bewirkt seine Abberufung
und seine eigne Ernennung zum Statthalter Italiens. Er scheint am Ziele.
Da kreuzt Totilas Erhebung seinen Plan, er unterliegt im Kampfe um
Rom und entkommt mit Mühe verwundet nach Byzanz. Doch dort erwirkt
er seine Absendung mit einem neuen Heere und beginnt sein Spiel von vorn.
Da findet der Italiener seinen Meister an dem Byzantiner Narses: er sieht
sich unter seinen Befehl gestellt, überwacht, gehemmt, schließlich des Hochver¬
raths an Justinian angeklagt. Gescheitert mit seinen Plänen, verlassen von
Allen, die ihm die liebsten sind, von seinem Adoptivsohne Julius Montanus,
der sich schaudernd von dem düstren, blutbefleckten Manne abgewendet, von
Procop, der dem Jugendfreunde die Freundschaft kündigt, nur noch begleitet
von seinem treuen Sclaven den Mauren Syphar, sucht und findet er den
Tod am Vesuv.
Einen reinen Eindruck bringt freilich dieser Charakter, auf dessen Aus¬
malung Dahn so ganz besondere Sorfalt verwendet, nicht hervor. Man
kann Cethegus bewundern, aber sich nicht für ihn erwärmen, dazu ist er zu
sehr Dämon, sind seine Mittel und Wege zu gewissenlos. Ja man wird
auch Bedenken erheben müssen gegen die Möglichkeit nicht nur einzelner Züge,
sondern des ganzen Charakters in jener Zeit. Man getraut den gesunkenen
Italienern des 6. Jahrhunderts eine solche Natur nicht zu und kann sie ihnen
nicht zutrauen, wie sie denn auch in Wirklichkeit nicht eine entfernt ähnliche
Gestalt aufzuweisen haben.
Auch gegen die Charakteristik der Dahn'schen Helden überhaupt wird sich
von historischen Standpunkte aus gar Manches einwenden lassen. Am wenig-
sten gegen die Byzantiner: sie sind uns verständlicher, weil sie einer hochent¬
wickelten Culturwelt angehören, und klarer, weil wir positiv mehr von ihnen
wissen. Bei den Gothen verbindet sich mit unstreitig Echten auch sehr
Modernes. Echt ist ihre gewaltige Leidenschaft, ihr unerschüttertes Heiden-
thum, ihre Heldenfreundschaft und Heldentreue. In Scenen, wo diese Züge
hervortreten, weht etwas von der Luft der Nibelungen. Modern dagegen
muß man ohne Weiteres die starke Betonung und sentimentale Aus¬
malung der Liebesverhältnisse nennen, namentlich aber das Hervortreten der
Reflexion, die z. B. in Teja sich geradezu bis zum philosophischen Pessimis¬
mus steigert. Man darf hier dreist behaupten: wir wissen nicht, wie die
Gothen in derlei Dingen empfunden haben, aber so wie Dahn es darstellt,
haben sie keinesfalls empfunden.
Eine nicht geringere Schwierigkeit hatte der Dichter in der Gestaltung
der Sprache seiner Helden zu überwinden, eine Schwierigkeit freilich, der man
bei jedem historischen Romane mehr oder weniger begegnet. Die Sprache
soll die Farbe der Zeit tragen und doch uns nicht gar zu fremdartig an-
muthen. Sicherlich war es nun im vorliegenden Falle leichter, Italiener und
Byzantiner annähernd wahrheitsgetreu reden zu lassen, als Germanen. Von
jenen steht uns eine ausgebreitete Literatur zur Verfügung, von diesen so
gut wie nichts, woraus sich auf ihre Ausdrucksweise schließen ließe. Dahn
hat sich dadurch zu helfen versucht, daß er die Gothen besonders eine durch¬
aus poetische Sprache reden läßt, in kurzen, scharfen, oft epigrammatisch zu¬
gespitzten Sätzen, und in der That ist mancher seiner Dialoge meisterhaft,
von dramatischen Leben erfüllt, den Leser athemlos fortreißend von Wendung
zu Wendung. Aber man hat nicht den Eindruck, so wenig wie bei Freytags
„Jngo" —: so können die Personen wirklich gesprochen haben; man em¬
pfindet die Sprache fast stets als ein idealisirt und oft verkünstelt poetische,
selten als recht der Zeit und dem Volke entsprechend.
Lassen sich so manche Bedenken gegen die historische Treue in der Zeich¬
nung der Charaktere und in der Sprache nicht abweisen, so wird um so
rückhaltloser die wunderbare Beherrschung des Materials in allem, was die
Zustände jener Epoche betrifft, anzuerkennen sein. Hier verfügt Dahn, wie
zu erwarten, mit souveräner Sicherheit über zahllose Einzelheiten und so
detaillirt muß er in sich das Bild dieser Verhältnisse reflectirt haben,
daß seine Darstellung mit fesselnder Lebendigkeit und Anschaulichkeit wirkt.
Wie oft ist ein römisches Gastmahl in seinem raffinirten Luxus, seiner
Sinnenlust, seiner aus Frivolität und feinster gesellschaftlicher Bildung wun¬
derbar gemischten geistigen Athmosphäre dargestellt worden. Und doch hat
Dahn in seinem Gastmahl gerade ein unübertreffliches Meisterstück geliefert,
so anschaulich in allem Detail, so wahrhaft dramatisch in seinem Dialcig und in
der Handlung, daß man die Personen und ihre Umgebung vor sich zu
sehen, sie reden zu hören glaubt. Sehr charakteristisch tritt auch die Kirche
W ihrer Herrschsucht, ihrer Verweltlichung, ihrer feingespitzten Intrigue, bei
ihm hervor, und höchst anziehend schildert er sodann den byzantinischen Hof
in seinem Luxus, seiner Frömmelei, seinem Jntriguenspiel, diesen Hof, an
dem man, wie Narses der Kaiserin in's Gesicht zu sagen wagte, an einem
Worte sterben kann, mag man es gesagt oder nicht gesagt haben. Malerisch
entfaltet sich ebenso die Buntheit des byzantinischen Heeres, dieser Musterkarte
aller Nationen der Welt. Mit wenigen Strichen versteht es endlich der
Dichter, indem er uns <auf den Hof eines gothischen Gutsbesitzers (Vitiges)
in der Nähe von Florenz führt, auf's Wirksamste die Innigkeit und das tief
empfundene Glück germanischen Familienlebens auf dem Gegensatze zwischen
holden und Römern, der unhaltbaren Stellung der ersteren inmitten einer
feindlichen romanischen Bevölkerung, zu contrastiren. Ein erquickender Friede
ruht auf diesem Bilde, es ist eine tief poetische Idylle, aber eine Idylle auf
dem Hintergrunde einer düsteren Tragödie.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß das Werk, trotz nicht leicht
wiegender Bedenken gegen manche Elemente in der Darstellung der Personen
und Zustände, wie in der Behandlung der Sprache, eben in diesen einen nicht
gewöhnlichen poetischen Werth besitzt. Hinsichtlich der Composition des Ganzen
und der Darstellungsweise bleibt derselbe noch zu erörtern. Für die erstere
'Nüssen wir zunächst festhalten, daß Dahn die Einheit des Ganzen nicht in
einer Person, sondern im Volke der Gothen sucht, daß also der Held des
Romans nicht die oder jene Einzelfigur, sondern das ganze, glänzend ver¬
tretene Volk der Gothen ist. Giebt man die Statthaftigkeit einer solchen
Auffassung zu, so mangelt es dem Werke durchaus nicht an der jedem Kunst¬
werke nothwendigen Einheit, und man hat dann nicht nöthig, Cethegus
Cäsarius zum Helden zu machen, der doch eben gar nicht das Volk, um
dessen Schicksal es sich handelt, vertritt und auch persönlich nicht die Sym¬
pathien erwecken kann, die dem Helden zukommen; dann sieht man in ihm
nur einen Gegner, dessen Bedeutung die Schwere des Kampfes für die Gothen
steigert. Dem entsprechend werden auch die Byzantiner nicht durch eine
Alles überragende Hauptfigur repräsentirt, sondern durch mehrere, wesentlich
gleich wichtige Persönlichkeiten, denn Volk kämpft hier gegen Volk, und wenn
die Italiener factisch nur von Cethegus vertreten werden — die übrigen
Römer sind Nebenfiguren, nur der künftige Papst Silverius bedeutet etwas
mehr — so entspricht das nur den Verhältnissen: Cethegus hat eben kein
Volk hinter sich, der Kampf um Rom ist sein Kampf, nicht der Kampf der
Italiener.
In Bezug auf die Composition wird nun ohne Frage die Exposition,
die etwa den ersten Band füllt, den ungeteiltesten Beifall beanspruchen
dürfen. Sie ist durchaus ein Meisterstück. Man sieht das Verderben von
allen Seiten heranziehen, unaufhaltsam, unerbittlich, eine dumpfe Schwüle
ruht auf dem Ganzen, bis der Blitz der byzantinischen Kriegserklärung sie
durchbricht. Nur wenige der Gothen ahnen das drohende Verhängniß: in
dunkler Nacht schwören Hildebrand und sein Bruder, Totila, Teja nach alt-
heidischem Brauche sich zu, den Kampf aufzunehmen bis zum Aeußersten.
Derweilen bildet Cethegus mit dem Priester Silverius die römische Kata¬
kombenverschwörung gegen die Gothen. Da stirbt Theodorich, Alamaswinthe
folgt ihm, vertraut in ihrer Verblendung dem Todfeinde Cethegus Rom an,
vernichtet — auf seinen Rath! — durch die Ermordung ihrer drei Haupt¬
gegner die letzten Sympathien der Gothen. Einen Moment noch scheint es,
als ob der junge Athalarich. ihr Sohn, sich ermannen, die Herrschaft an sich
nehmen werde: er fällt durch Cethegus. So sind Ostgothen und Italiener
scharf einander gegenübergestellt und die Sympathien von Anfang an für die
Germanen gesichert, deren Schutzgeist in Theodorich im verhängnißvollsten
Augenblicke stirbt, deren Königin sie verräth, gegen welche eine römische
Verschwörung mit Hinterlist und Mord im Dunklen schleicht, deren schlichtes
reines Familienleben, wie es im Hause des Vittges sich entwickelt, im er¬
greifendsten Gegensatze steht zu der Schwelgerei und dem Sinnentaumel der
vornehmen römischen Welt, wie sie beim Gastmahle erscheint. Zugleich ent¬
faltet sich nun in seinem Glänze und seiner Verderbniß der Hof von Byzanz;
wir werden in den Rath Justinians, in das geheime Cabinet Theodoras
eingeführt, wir sehen, wie hier jene Pläne zum Verderben der Gothen ge¬
schmiedet werden, und unsere Theilnahme für das unglückliche Volk, das
solchen Gegnern erliegen soll, so unwürdigen und doch so überlegnen, wird
noch höher gesteigert.
Dieser glänzenden Exposition entspricht jedoch der weitere Verlauf der
Handlung nicht völlig. Zu massenhaft drängen sich die Thatsachen aus den
verschiedensten Schauplätzen, die Zahl der handelnden Personen wird fast
verwirrend groß, so sicher auch Dahn jeder einzelnen ihre Stellung anzu¬
weisen, so kunstvoll er die Fäden zu entwirren weiß; das Schicksal der meisten
endlich gestaltet sich so tragisch, daß eine düstere Färbung sich mehr und mehr
über das Ganze legt. Der Schluß, der Kampf am Vesuv und der Abzug
der Gothen auf einer normannischen Flotte, ist äußerst effectvoll. aber mehr
phantastisch als poetisch. Umsonst sucht man nach einer sittlichen, poetischen
Rechtfertigung dieses Ausgangs; man ist versucht, mit dem Schicksale zu
grollen, dessen ehernen Gang soviel Heldenkraft und Edelsinn nicht aufzu"
halten vermochte, und kommt beinahe zu der Ansicht, daß Teja mit seiner Ver-
Meiflungsphilosophie Recht habe und daß sein finstrer Pessimismus die
Philosophie des ganzen Werkes sei. Uns scheint, hier hat Dahn doch der
Geschichte Unrecht gethan. Das Gothenvolk hat in Wirklichkeit tragischer
geendet, als er es enden läßt; bei ihm erliegt es nur übermächtigen, äußeren
Gewalten, thatsächlich ist es ebenso gut an seiner inneren Schwäche zu Grunde
gegangen, mit einem Worte an dem Mangel eines geschlossnen, einheitlichen
Nationalgefühls. Die gothische Nation war schon in der Auflösung begriffen,
vom Einflüsse römischer Cultur zersetzt, als Byzanz sie angriff. Das Alles
entwickelt Dahn in seinen „Königen der Germanen"; in seinem Romane
tritt dies Moment nur etwa bei Amalaswintha und Theodahad, also nur
Anfange und ganz vereinzelt hervor, sonst gar nicht, und damit fehlt die
tragische Schuld der Gothen, die ihren Untergang als die Sühne derselben
erscheinen ließe.
Ueber die Mängel der Composition hilft nun aber in der That
die Darstellung meist hinweg. Sie ist überaus anschaulich, packend, in den
Dialogen von dramatischer Kraft, in den Schilderungen großer Scenen von
plastischer Schärfe, in der Intrigue von bewunderungswürdiger Feinheit.
Man lese z. B. die Schilderung von Theodorich's Tode, die Verschwörung
gothischen Patrioten bei Ravenna, die Verhandlungen im Kriegsrathe
Justinians. die Intriguen des Cethegus gegen Amalaswintha und Athalarich,
und man wird diesem Urtheile beistimmen. Auf der andern Seite ist nicht
Zu verkennen, daß der Verfasser bisweilen der Phantasie und dem Glauben
seiner Leser etwas zuviel zumuthet. So lebendig z. B. die Beschreibung des
ersten Zusammenstoßes der Gothen und Byzantiner vor Rom oder des
gothischen Sturmes auf Rom gehalten ist, es ist kaum möglich, sich bei dem
raschen Wechsel der Schauplätze ein klares Bild zu machen, und zugleich legen
diese Helden Proben von Ausdauer und Körperkraft ab, die über das Menschen¬
mögliche hinausgehen. Zu bewundern bleibt freilich auch hier die wahrhaft
üppige Phantasie des Dichters, die immer neue Situationen zu erfinden
weiß, aber er hat ihr doch etwas zu sehr die Zügel schießen lassen.
Wir kommen zum Schlüsse. Unzweifelhaft ist der Roman ein Werk
von nicht gewöhnlicher Bedeutung, im Einzelnen voll wunderbarer Schön¬
heiten, stets fesselnd durch die Anschaulichkeit und das pulsirende Leben seiner
Darstellung, die auch über manche historisch nicht unbedenkliche Dinge hin¬
weghelfen. Wenn der Eindruck doch kein ganz harmonischer, befriedigender
^r, so liegt das weniger in der zu großen Ausdehnung, als in dem über-
schwänglichen Reichthums der Handlung und in der allzugroßen Zahl der
Personen, nicht weniger am Schlüsse. So vielen Erfolg man deshalb dem
^nahe auch wünschen mag, wir möchten doch zweifeln, daß es in seiner
gegenwärtigen Gestalt dauernde Bedeutung gewinnen werde.
Schritt vor Schritt zerstört Rochholz nach dem Glauben an den Haupt¬
helden der Tellssage und dessen Schicksale auch eine Anzahl von Fabeln, die
sich auf Nebenpersonen und Nebendinge beziehen, um dann nochmals auf jene
zurückzukommen. Wir können hier seiner weitschichtigen und nicht recht gut geord¬
neten Beweisführung nur gelegentlich und in der Kürze folgen und geben in Betreff
der meisten Punkte, die er behandelt, nur die Ergebnisse, zu welchen er gelangt.
Die alten Chroniken der Schweiz erzählen nach dem Vorgange des im
vorigen Abschnitte genannten Hemmerlin, der beiläufig von einem Tell und
einem Geßler noch nichts weiß, über die Ursachen des Aufstandes der Schwyzer
Folgendes: „Ein Graf von Habsburg, der natürliche Herr der Schwyzer,
hatte auf einem gewissen Schlosse im Lowerzer See einen Burgverwalter als
Vogt des ganzen dortigen Thales, der von zwei Brüdern aus Schwyz er¬
schlagen wurde, weil sie glaubten, er stehe zu ihrer Schwester in einem ver¬
dächtigen Verhältnisse. Als der Graf sie darum strafen wollte, verbanden sich
mit ihnen zunächst zwei Verwandte, diese vier weiter sich mit zehn, letztere
wiederum sich mit zwanzig, endlich alle Bewohner der Thalschaft, kündigten
ihrem Herrn den Gehorsam auf und zerstörten das Schloß, dessen Reste man
noch heute im See gewahrt. Darauf bemächtigten sich auch die benachbarten
Unterwaldner, während ihr Gebietsherr, der Edle von Landenberg, in der
Christnacht in der Kirche war, seines Schlosses Tamm, zerstörten dasselbe,
vertrieben den Landenbergcr und verbanden sich mit den Schwyzern. Ihrem
Beispiele folgten die Luzerner, Berner, Zuger und endlich auch die Urner,
die unter der Aebtissin von Zürich standen.
Aus der Darlegung unsrer Schrift ergiebt sich aber, daß jenes „Schloß"
im Lowerzer See ein 1313 von den Schwyzern zur Abwehr Herzog Leopolds
erbauter Thurm war, und daß dieser Thurm seinen Namen Schwanau erst durch
die Chronisten des fünfzehnten Jahrhunderts empfangen hat, die ihn dem
1333 unternommenen Kriegszuge der Straßburger gegen das rheinische Raub¬
schloß Schwanau entlehntendie Ermordung eines angeblichen Zwingherrn
daran knüpften und damit einem Wunsche des Schwyzer Kantonalstolzes ent¬
sprachen. Am Neujahrstage 1308 hatte nämlich der Sage zufolge Uri die
Vogtsburg Zwing-Uri (die nie existirt hat) und ebenso Unterwalden die
Burg von Tamm gebrochen. Sollte nun Schwyz sich den Beiden eben¬
bürtig anschließen, sollte es den Bund der drei Länder, aus dessen Befreiungs¬
werk die Eidgenossenschaft erwuchs, thatsächlich mit begründet haben, so
mußte es ebenfalls und zu gleicher Zeit eine Zwingburg zerstört haben, und
diese ist eben Schwanau. Das echte Schwanau war ein Raubschloß des
Grafen von Geroldseck, eine Stunde oberhalb Straßburg gelegen. Dessen
Zerstörung war eine Großthat des oberrheinischen Bürgerthums, an der nicht
nur die Uferstädte, sondern auch Bern, Freiburg und Luzern sich betheiligten,
da die Räuberburg die Rheinschifffahrt störte und so auch den Handel
der Binnenschweiz beeinträchtigte, die ihre Waaren und Transitgüter zu
Basel verlud.
Die heutige Volksvorstellung kennt drei Telle und versteht unter diesen
Namen die drei Männer aus den Waldstätten, welche mit einem Gefolge
von dreiunddreißig Gleichgesinnten am Neujahrstage 1307 oder 1308 auf
der Wiese am Rutil berathend zusammentraten und sich hier einen gegen-
seitigen Eid für die Freiheit der drei Länder zuschwuren. Jene drei werden
darum auch die drei ersten Eidgenossen genannt. Sie heißen heute: Walter
Fürst, von Attinghausen aus Uri, Wernher Staufacher von Steinen in Schwyz
und Arnold Melchthal von Unterwalden ob dem Kernwald, Ihrem Drei¬
bunde wird als dessen heroischer Obmann Tell vorgesetzt, allein um nach
eignem Belieben handeln zu können, schließt er sich freiwillig von jener Be¬
rathung aus und bringt dann durch seine That den Aufstand ans Ziel.
Bei den älteren Chronisten herrscht weder über diese Dreizahl noch über
die Namen der Telle Uebereinstimmung. Einige nennen nur Tell, Staufacher
und Melchthal, andere fügen noch Kuno ab Altsellen nit dem Wald hin¬
zu, wieder andere Ali von Gruob Ob dem Wald. Das Seltsamste ist, daß
man zu diesem mythischen Mervereine den historischen Walter Fürst nicht
wählte, sondern an dessen Stelle sogar amtlich den sagenhaften Tell
setzte. Bei solchem Schwanken der Quellen geschah es, daß in Schillers
Tell Walter Fürst von Attinghausen sogar in zwei Personen zerfallen ist,
in den Freiherrn Wernher von Attinghausen und in den Walter Fürst. Auch
da wird der Bund geschlossen, ohne daß jener Freiherr davon weiß, ja er
stirbt inzwischen mit den Worten: „Hat sich der Landmann solcher That
verWogen, ja dann bedarf es unserer nicht mehr."
Dasselbe Wachsthum und Schwinden macht sich auch in der Zahl der
Landvögte und der gebrochnen Zwingburgen bemerklich. Getödtet werden der
Geßler in Küßnacht, der Wolfenschießen auf Rotzberg und der Schloßvogt
auf Schwanau. Der vierte ist Landenberg zu Tamm, der sich durch die
Flucht rettet. Zu ihren vier zerstörten Burgen kommt noch Zwing-Uri hin¬
zu. Ebenso hat man dem Ereignisse vier Kapellen gewidmet, die bekannten
drei Tellskapellen und die Staufacherskapclle zu Steinen.
Auch der Kanton Graubünden hält sich berechtigt, seine besonderen drei
Telle aufzustellen und diesen die republikanische Constituirung des Bündner¬
landes zuzuschreiben: Peter von Pultingen, Abt von Disentis, Hans Brun,
Herr von Räzüns und Graf Hans von Hohensar, und nachdem dieser
Schematismus durch Chroniken, Denkmäler, Schauspiele und Lieder dem
Volke zum politischen Glaubenssätze gemacht war, bildete ihn dasselbe weiter
aus und parodirte ihn zu revolutionären Zwecken. Im Bauernkriege von
1663 stellte sich das gegen Luzern empörte Entlebuch unter drei eingeborne
Bauernobersten und nannte sie als Vorkämpfer und Rächer des gekränkten
Volksrechtes die drei Teilen, Diese waren: Hans Emmenegger von Schüpf-
heim, Christen Schybi von Escholzmatt und Kaspar Steiner, Sigrist zu
Eumen in der Grafschaft Rothenburg. Auch das aargauer Freienamt hatte
an jenem Aufstande theilgenommen und zwar unter drei Führern, die bei
ihren Leuten die Telle, bei den Gegnern aber die Regentensresser hießen.
Im Hintergrunde aller dieser Dreiheiten steht der alte Heidenglaube an
die Fortdauer seiner mythischen Volkshelden, welcher meint, daß dieselben in
einen Berg entrückt und in Zauberschlaf versunken, hülfreich wiederkehren
werden, wenn das Vaterland in Noth ist. Im Seelisberg dicht hinter dem
Rutte schlafen nach dem Volksglauben seit Jahrhunderten die drei Telle, um
in Zukunft die Freiheit noch einmal zu retten. Im Axenberg sitzt der
Schütze Tell, von dem der Volksglaube Aehnliches erwartet. Um luzernisch
Dietwtl an der Reuß heißt es, wenn man in den Bergen Rothhorn und
Enzifluh ein dumpfes Donnern, Kanonenschüssen ähnlich, vernimmt, Prinz
Karli exercire darin mit seiner Armee und werde, sobald der Antichrist erscheine,
herauskommen und ihn schlagen, wobei Gelehrte und Belesene an Karl
den Großen denken; während das Volk vielmehr den Erzherzog Karl, den
aus der Kriegsgeschichte der neunziger Jahre noch immer erinnerlichen Gegner
Napoleons, im Sinne hat, durch dessen momentan glückliche Operationen die
damalige Schweiz, früher französisch gesinnt, schnell gut österreichisch geworden
war. In Tirol verbreitete sich 1848 auf die Nachricht hin, daß die Oester¬
reicher in Italien eine Niederlage erlitten hätten, das Gerücht, der Sandwirth
Hofer lebe im Berge zu Jlsingen oder in der Sarner Scharte und werde das
Volk abermals aufbieten. Verwandte Sagen finden wir unter allen ger¬
manischen Völkern und ebenso unter den Slaven. Wir erinnern an den
Kyffhäuser und an den Untersberg, sowie an den Berg Blanik, in welchem
der Czechenheld Zdenko von Zasnink auf einer Steinbank schläft, um einst
wiederzukommen. Die Erklärung dieser Erzählungen ist nach Rochholz ein¬
fach folgende. In der Urzeit wohnten die Menschen in den Höhlen der
Berge, und in solchen bestatteten sie auch ihre Todten. Daher die alte Redens¬
art, in den Berg, in den Hügel gehen für Sterben. Die verstorbenen
Stammväter, Helden und Fürsten sitzen oder liegen daher nach der Volks¬
vorstellung im Berge. Den ältesten Germanen wohnten selbst die Götter
in den Bergen, wovon wir in dem „Alten" des Tannhäuserliedes, der offen-
bar Wuotan ist. einen Nachhall haben. Jeder einzelne Stamm hatte so
seinen besondern Götter- und Heldenberg und sein eigenes Schlachtfeld, auf
das der schlafende Gott oder Held einst heraustreten sollte zum Entscheidungs¬
kampfe und zur endlichen Herbeiführung des Weltfriedens.
Wo diese Sage sich gliedert und von drei Teilen zu erzählen weiß, ist
sie ein Sproß jener Trinitäten und Triumvirate, in welche sich die Götter-
und Königsgeschlechter, die Stammväter und Helden der Heidenzeit auszubilden
Pflegten. Den Grund sucht Rochholz in der Dreizahl selbst, welche die erste
Vereinbarung der zwei zu einem und demselben Zwecke ist und an den Wahl¬
spruch des politisch aus drei Gliedern bestehenden graubündener Landes
„onus ti-inuw psrtöotum" erinnert. Die Begleiter der beiden indischen
Aethergottheiten Indra und Rudra sind die Ribhus, deren Name im Indischen
selbst als Sonnenstrahlen übersetzt ist, und die zugleich treffliche Bogenschützen
sind. Aus ihrer Schaar ragen drei Brüder durch ihre Thaten besonders
hervor: Ribhus, Vibhva und Vayas. Ihnen entsprechen, wie Kühn nach¬
gewiesen hat, genau die von der germanischen Mythe gefeierten Brüder
Wieland, der ein kunstreicher Schmied, Slagfidhr, welcher der befiederte Pfeil,
und Eigil, der ursprünglich die scharfdurchdringende Pfeilspitze ist. Sie sind
Söhne des Riesenkönigs, Gewitterherrn und Bootbauers Wato, der seinerseits
eine Hypostase Wuotans ist, und vermählt mit den drei Walküren Schwanen¬
weiß, Schneeweiß und Allweis. Eigil muß, wie wir sahen, seinem dreijährigen
Sohn auf König Nidungs Befehl einen Apfel vom Kopfe schießen. Das
altenglische Volkslied besingt die drei vereinten Schützen Adam Bell, Clym
of the Clough und William of Cloudesly. Sie sind Wilddiebe, haben
einen Trabanten des Königs erschossen und sollen, endlich gefangen genommen,
zum Galgen geführt werden. Doch darf William (man vergleiche diesen
Vornamen mit dem Wilhelm Teils) auf dem Wege zum Tode vor dem
Könige noch einen Meisterschuß thun, schießt seinem Sohne auf 120 Schritte
einen Apfel vom Kopfe und befreit damit sich und seine beiden Gefährten.
Die aus Skandinavien weiter nach Nordosten wandernde Sage hat sich mit
den Schweden im Meerbusen von Riga auf der Insel Oesel niedergelassen,
wo die drei Riesenbrüder Töll oder Tell, Leigre und Neider Hausen. Der
mythische Held bei den zunächst angrenzenden Esthen ist Kallewipoeg, der zwei
Brüder ähnlichen Wesens Alewipoeg und Sulewipoeg hat. Die Sage wird dann
von den Esthen zu deren einstigen Nachbarn, den Lappen, übergegangen sein,
in deren Mythe der riesentödtende Held Paiwiö mit zwei Söhnen Wuolabba
(Olaf) und Jsaak die herkömmliche Dreiheit bildet. Die Sicherheit Jsaaks
im Gebrauch von Pfeil und Bogen ist so groß, daß er eine Flußäsche trifft,
wenn sie den Kopf über das Wasser erhebt. Seinen besten Schuß thut er
im Kampfe gegen die räuberischen Russen. Einer von deren Häuptlingen ist
so unbeweglich in seinen Panzer geschnallt, daß ihm sein Knecht die Mahlzeit
in den Mund stecken muß. Als er nun eben einmal gefüttert werden soll,
erlauert ihn Jsaak, der Schütze, und während der Knecht jenem die Gabel
zum Munde führt, kommt der Pfeil des Gegners gepflogen, trifft die Gabel
und treibt sie dem Russen in den Hals.
Eine halbe Stunde oberhalb Altorf im Canton Uri, am Eingange des
Schächenthales liegt das uralte, von Urkunden schon um die Mitte des
neunten Jahrhunderts erwähnte Dorf Bürgem. Hier bezeichnet auf einer
anmuthigen Höhe eine kleine mit Scenen aus Teils Leben bemalte Kapelle
die Stelle des Hauses, in welchem dieser Schützenheld gewohnt haben soll.
Nicht weit davon ragt ein epheuumsponnenes Thurmfragment empor, einst, als
das untere Land von Uri noch zum Züricher Frauenmünsterstift gehörte, der
Sitz des herrschaftlichen Hausmeiers. Nach der Pförtnerin aber, die in den letzten
Jahren hier stationirt war, hätte hier Teils Schwiegervater, der edle Ritter
von Attinghausen gewohnt. Dem Fremden kam diese Belehrung seltsam
vor, dem Einheimischen nicht. Auch im urdemokratischen Uri giebt man viel
auf vornehme Herkunft und Verwandtschaft, und so hatten schon die ältesten
Schweizerchroniken sämmtliche beim Rütlibunde Betheiligte zu Adeligen ge¬
macht, und die spätere Zeit hat dies geglaubt. Selbst der vielbelesene Mar¬
schall Fidel von Zurlauben verunstaltete seine Schriften durch grobe Bei¬
spiele solcher dem Emporkömmling anhaftenden Großmannssucht und erfand
für Tell und Melchthal ein adeliges Wappen. Mit derselben thörichten
Denkweise hat man für Längstverstorbene Grabsteine nachgemacht und für
rein mythische Namen Glasgemälde kirchlich nachgestiftet, wie deren eins für
Stauffacher und dessen Frau Herlobig in der Kirche zu Art und ein anderes
für Schrutan Winkelried in der Abtei zu Engelberg zu sehen war. „Man
ist aber bei derlei antiquarischen Spielereien nicht stehen geblieben; denn um
einen unerweislichen Personennamen oder eine vorausgeglaubte Thatsache der
historischen Ungewißheit zu entziehen, hat man sich auf das Gebiet der ge¬
schichtlichen Diplomatik gewagt, Urkunden geschmiedet, historische Inschriften
ersonnen und selbst Kirchenbücher in Namen und Zahlen gefälscht, alles dies
in der gewöhnlichen Meinung, ein spießbürgerlicher Eigendünkel sei schon
Nationalstolz, diesen aber weiter auszubreiten sei ein tugendhafter und patri¬
otischer Zweck, welcher die gewählten Mittel des Betrugs heilige." Fälle der
Art kamen namentlich in Bürglen vor, wo man zum Beweise, daß in
diesem angeblichen Wohnorte Teils wirklich einmal ein Held dieses Namens
gelebt, Documente künstlich schuf und amtlich zur Geltung brachte, so daß
selbst Johannes v. Müller sich imponiren und mit Unterdrückung seines
bessern Wissens zu der Aeußerung verleiten ließ: „Gewiß hat dieser Held im
Jahre i:-w7 gelebt und an den Orten, wo Gott für das Glück seiner Thaten
gedankt wird, solche Unternehmungen wider die Unterdrücker der Waldstätte
gethan, durch die dem Vaterlande Bortheil erwachsen." Die Geschichte dieser
Fälschung aber ist nach Rochholz folgende:
„Der Berner Pfarrer Uriel Freudenberger hatte über die historischen
Schwächen der Tellengeschichte einen kleinen Aufsatz verfaßt und denselben
1752 durch seine Freunde in der katholischen Schweiz (Haller und den Lu¬
zerner Staatsmann Felix v. Balthasar) dem Urner Pfarrvikar Johannes
Jmhoff zu Schaddorf unter dem gutmüthig lautenden, aber ironisch gemeinten
Ansinnen in die Hand spielen lassen, man möge den geschichtlich unbe¬
wanderten Opponenten mittelst der in Uri so reichlich vorhandenen Tellen-
urkunden kurzweg widerlegen. Die Intrigue war richtig vorberechnet; denn
die erhellten Documente waren wirklich auch in Uri so wenig vorhanden,
daß Jmhoff erst sieben Jahre nachher eine Reihe inzwischen aufgesammelter
Schriftstücke zu übersenden vermochte, welche sich auf den ersten Blick als
höchst abenteuerliche und erfolglose Bagatellen erwiesen. Sogleich auf diese
nichtigen Papiere hin veröffentlichte Freudenberger seine Brochüre „Suillaumö
toll f^bis vavoise" (1760). Sie mußte ebenso rasch in mehrern Cantonen
obrigkeitlich confiscire und verbrannt, ja durch dieselben Männer öffentlich
widerlegt werden, durch deren Hand vorher jener Schriftenaustausch nach und
von Uri gegangen war. Nun aber fielen diese neuesten Apologeten Teils
ernstlich und zwangsweise in diejenige Rolle zurück, welche Freudenberger vor-,
her nur scherzhaft gespielt hatte; denn auch sie suchten, um die „?a.d1ö
Ds-noise" zu widerlegen, in Uri alsbald weiter nach beweisenden Documen-
ten und erhielten solche ebenfalls zugeschickt, aber siehe da, dieselben waren
nicht weniger Träume und Fälschungen, als die vorher von Jmhoff über¬
sandten." Sie ließen die, welche sie in gutem Glauben benutzten, krassen Un¬
sinn als schlagende Beweismittel behandeln, wie dies namentlich v. Balthasar
Passirte, als er in seiner „Schutzschrift für Wilhelm Teil" das Zeugniß der
sogenannten Klingenberger Chronik anrief, indem er sagte: „Der verstorbene
Herr Landamman Püntener (aus Uri) hat emsig verschiedene Archive durch¬
sucht, um die Beweise für das Dasein Teils aufzufinden, und fand unter
Anderem in einer alten Klingenberger Chronik folgende Worte: ^Villielmus
l'eUo, Urlmiensis libortatis MoxuANAwi-, cum suis liberis (?uni<zlmo et.
^valtero, natu ninno, vixit anno 1307. ZHus LtWimu, romana extinetum
^t> z?uit xost delli Huietem nez^ruf in LurZIg, eeelesias Idurieensis
>>urs, se ^WÄtnero (!) ?urstü ad ^ttiugknusa,, hin ant.esigng.ol, Mner
^Megius; uteryus in bello Norgartensi Milo 131S." (Wilhelm Tell, der
Vorkämpfer der Freiheit Aris, hat mit seinen Söhnen Wilhelm und Walther
'^ Jahre 1307 gelebt. Sein Stamm ist noch nicht erloschen. Nachdem auf
den Krieg Ruhe gefolgt war, wurde er Verwalter zu Burglen für die Kirche
zu Zürich und berühmter Schwiegersohn von Walther Fürst von Atting-
hausen, seinem Rottenführer. Beide haben an dem Kriege zu Morgarten
theilgenommen im Jahre 1315. — Dieser Satz ist die Quelle jener Bericht¬
erstattung, mit welcher die obengenannte Pförtnerin auf der Bürglener
Thurmruine die Fremden zu empfangen pflegte.
„So viele Angaben diese Stelle macht", sagt Rochholz hierzu, ebenso
viele Zeugnisse plumper Unwissenheit trägt sie zur Schau. Allerdings war
das Bürglener Meieramt ein Lehen der Aebtisstn des Züricher Frauenmün-
sterstiftes, aber keine einzige der Züricher Schriften, die über dieses Bürglener
Patronatsrecht handeln, kennt einen Meier Namens Tell; erstlich einen „Meyerus"
nicht, weil ein solcher in der Amtssprache des Züricherstists stabil und aus¬
schließlich „villleus" betitelt war, und sodann einen Tell nicht, da dieser
Personenname selbst in den vier Archiven und in sämmtlichen Ehe-, Tauf¬
und Todtenbüchern der Urkantone gleichfalls mit keiner Sylbe zu finden,
ist. Auch würde die Textstelle „eeelLsig, tnnriesnsis", wenn sie echt sein
sollte, zu lauten haben „monastörium gMg.lig.L tliuriesnsis". Besonders
aber ist das „Hus stemma, nonclum extinewm sse" im Munde eines gleich'
zeitigen Schriftstellers ein Widersinn und weist auf eine Zeit hin, wo die
Urner Näki sich Takt nannten, aber schon dem Aussterben nahe waren."
Woher nahm aber Püntener die ganze lateinische Stelle? Aus der
Klingenverger Chronik kann er sie nicht abgeschrieben haben; denn erstens
ist das Sammelwerk, welchem man fälschlich den Namen einer Chronik der
Thurgauer Edeln von Klingenberg beigelegt hat, deutsch abgefaßt, und ander¬
seits ist es eine Züricher Stadtgeschichte, die im österreichischen Interesse ge¬
schrieben ist, schon aus diesem Grunde von einem „Vorkämpfer der Freiheit
Uri's" nichts enthalten kann und in der That auch, wie der von Anton
Henne besorgte Abdruck jetzt bezeugt, den Namen Teils. des Befreiers,
nirgends erwähnt. Püntener muß also sein Citat in einer ähnlich beschaffne^
auf die Klingenbergische sich berufenden Chronik gefunden haben, und unsere
Schrift weist nach, daß dies diejenige seines Ahnen Johann Püntiner ge'
wesen ist. Letzterer, der in den Jahren 1441 bis 1468 abwechselnd ^s
Landesstatthalter und Landammann zu Uri in der Regierung gestanden,
alten Zürichkrieg mitgemacht und dabei eine Wunde davon getragen ha^'
war der Verfasser einer „LKronieg, wiseellg,", welche 1799 beim Brande des
Fleckens Altorf ein Raub der Flammen geworden sein soll. Obwohl die'
selbe also nicht mehr existirt. kennt man sie doch nach ihrem Inhalte
Genüge, theils durch ältere Chronisten, welche gemeinsam aus ihr geschöpl
haben, ohne sie zu nennen, theils durch die neueren Geschichtsschreiber d
Urkantone, denen sie noch vorlag und zu Auszügen diente. Sie alle ^
weisen, daß ihr Original eine fabelhafte Geschichte der Urzeit enthalten ha-
die ganz in dem Geschmacke der Alles durcheinander würfelnden, von Mönchen
geschriebenen altdeutschen Weltchroniken verfaßt war. Püntiner führte u. A.
den Ursprung seiner Urner auf den Gothenkönig Alarich zurück und läßt
sie Rom erobern und von dem durch sie geretteten Papste ihr Landesbanner
erhalten, was im Jahre 398 geschehen und in der Chronik des Klosters Sec¬
tors bei Altorf zu lesen sei.
So wurde durch Schriften, die ihre Quellen nicht in der Volkssage
hatten, dem Volke eine Erfindung beigebracht, die dann von demselben erst
wieder auf seine Wege vervielfältigt worden ist. Und die Forscher, die sich
auf solche Erzählungen als auf echte und wahre Volkssagen verließen. be¬
dachten nicht, daß jede mündliche Ueberlieferung, die durch viele Jahrhunderte
hindurch etwas weitertragen und fortpflanzen soll, immer nur an einzelnen
Begebenheiten und Umständen haftete, also niemals sich auf eine politisch
zusammenhängende Geschichte ausdehnte. Tell aber wurde ja gerade zum
Mittelpunkte der Geschichte vom Befreiungskampfe der Urschweiz gemacht.
Kehren wir nun zu den angeblichen Urkunden zurück, und fragen wir,
ob dieselben ebenfalls Bekanntschaft mit den Püntinerschen Angaben ver¬
rathen, so ist darauf mit Ja zu antworten, und zwar kennen sie nicht blos
die oben citirte lateinische Stelle, sondern auch deren Verwerthung zu einer
Reihe von Urkundenfälschungen im Streite über die Existenz eines Tell.
Jmhoff meldet nämlich, im Todtenbuche der Kirchengemeinde Schaddorf stehe
geschrieben: „Wilhelm Tell, Walter, sein jüngster Sohn, Walter de Tello.
Cuni sein Sohn." Ebenso stehe im Todtenbuche der Gemeinde Attinghausen:
»Im Jahre 1675 ist verschieden Anna Margaretha Tell. Im Jahre 1684
ist verschieden Johann Martin Tell. der letzte seines Stammes, ultimus
stginmatis." Endlich sei in der „com'a, libri vitas in ^ltork et geeäoi'k
anno 1360 renovaw" zu lesen: ,Mmilig,rum xrisearum Husäsm gentis
libsrae eonäitivnis Nomina: der Fürst. 1307, 131S, der Teile, 1307." Alle
diese dreist auftretenden Angaben sind aber von Eutych Kopp als Schwindel
und Täuschung nachgewiesen worden. Die angeblich aus dem Seedorfer
Jahrzeitbuche entnommenen Namen und Daten kommen dort nicht vor und
sind nichts als Auszüge aus der Chronik Tschudis unter den betreffenden
Jahren. Das Schaddorfer Todtenbuch enthält nirgends den Namen Tell,
zeigt aber, daß der Name Walter de Tello eine Umänderung des Namens
Walter de Trullo ist. der vorher an dieser Stelle stand. Eine ähnliche Fälschung
findet sich im Attinghausener Todtenbuche, wo der Name eines Johann
Martin Näki, und die Namen seiner Töchter in Tell umgewandelt worden
sind, und der von Jmhoff behauptete Zusatz „ultimus Ltommatis" nicht zu
finden ist. Diese Koppschen Nachweise sind in den Waldstätten nothgedrungen
anerkannt worden. Hauptmann Müller aus Altdorf, der eifrige Forscher in
der Tell betreffenden Literatur, hat in der 1834 in seiner Vaterstadt abge¬
haltenen Versammlung des Fünfortischen Geschichtsvereins zugestanden, daß
man in den Kirchengemeinde-Registern der ganzen Thalschaft dem Namen
Tell nirgends begegne; er habe sich von den stattgehabten Unterschiebungen
des Namens Tell an Stelle des Namens Näki im Attinghausener Kirchen¬
buche durch eigne Besichtigung desselben überzeugt.
Das Weiße Buch läßt den vom Landvögte Geßler verhörten Tell zur
Entschuldigung seines Ungehorsams sagen, wenn er witzig wäre, so hieße er
nicht der Tell, mit andern Worten, wäre er bei Verstände, so würde man
ihn nicht den Tell nennen. Die späteren Chronisten Etterlin und Tschudi
schrieben dieses Wort unverändert nach, und das Urner Tellenspiel, welches
unter obrigkeitlicher Protection auf dem Alrorfer Marktplatze aufgeführt
wurde, drückt diesen Mangel an Verstand bei dem Nationalhelden deutlich
aus. Schiller, der an der Albernheit des Heros künstlerischen Anstand nehmen
mußte, läßt den Befragten antworten: „Wär' ich besonnen, hieß' ich nicht
der Tell." Einen ähnlichen Ausweg hatte bereits Spreng versucht, indem
er gesagt, Tell habe gegen den ihn ausfragenden Landvogt Verrücktheit vor¬
geschützt und sei eben wegen dieser frechen Verstellung verurtheilt worden, auf
das eigne Kind zu schießen. Takt oder Telle, von talem, einfältig oder kindisch
thun abzuleiten, bedeute einen Narren. Habe doch auch Odysseus, um nicht
mit nach Troja ziehen zu müssen, sich wahnsinnig gestellt und unter dieser
Maske Roß und Rind zusammen vor den Pflug gespannt, als aber dann
Palamedes ihm seinen Sohn Telemach vor den Pflug gelegt, sei der Vater
gezwungen gewesen, vorsichtig neben dem Kinde vorbeizuackern und so seine
Verstellung selbst zu entdecken. An solche mythische Züge müsse man sich
erinnern, wenn man die Glaubwürdigkeit der Geschichte von Tell deshalb
bestreite, weil der Landvogt unmöglich so unvernünftig gewesen sein könne,
dem Blödsinnigen einen Kindesmord zu gebieten. So weit Spreng. Den
wichtigeren Einwurf, daß Tell dann in blos vorgeschütztem Blödsinn noch un¬
vernünftiger als der Landvogt handelt und den anbefohlnen Schuß wirklich
thut, übergeht er, da es ihm nur um den Beweis zu thun ist, daß der Name
Tell kein Geschlechts-, sondern nur ein Beiname gewesen. Mit dieser Be¬
hauptung stehen wir aber bei jenen verspäteten Namenssagen, die erst dann
auftauchen, wenn der ursprüngliche Sinn eines historischen Namens bereits
erloschen ist.
Richtig ist, daß Tell die Bedeutung Thor, Geistesschwacher, Alberner hat.
Daß solche Prädicate nicht zu einem Nationalhelden, nicht zum Mitbegründer
der Eidgenossenschaft passen, liegt auf der Hand. Die sagenausbildende Ueber¬
lieferung empfand diesen Mangel und half sich einigermaßen damit, daß sie
dem Geistesschwachen gleichsam Vormünder gab, die sogenannten drei Teilen:
Staufacher. Walter Fürst und Arnold Melchthal. Während diese drei zu¬
sammen auf dem Rutil sich berathen und den Schweizerbund stiften, schließt
Tell sich selbst von ihrer Versammlung aus, legt sich in der hohlen Gasse
auf die Lauer und schießt aus dem Versteck den Landvogt vom Pferde. Die
Sage bleibt bei alledem mangelhaft, aber diese ihre Mangelhaftigkeit erklärt
sich, wenn wir mit Rochholz auf ihren Grund zurückgehen und ihre Ent¬
wickelung verfolgen. Ihr Kern und Keim ist das Erliegen des Winterriesen
vor den Pfeilen des Frühlings. Indem diese Naturmythe sich in eine That¬
sache mit ethischem Inhalt verwandelte, verlor sie ihr einheitliches Wesen und
nahm bedenkliche und unvereinbare Züge an. „Der Tyrann erliegt dem
meuchelmörderischen Pfeilschützen, ohne daß ein Zweikampf zwischen beiden
vorausgegangen wäre. Der Meisterschütze hat das ihm gesteckte Ziel bereits
getroffen, er läßt jetzt den zweiten Pfeil, der dem Vogte für den Fall eines
Fehlschusses zugedacht ist, im Goller und bekennt, für wen er bestimmt ge¬
wesen. Dennoch thut er wenige Stunden nachher den meuchlerischen Schuß.
Diese feige That sucht nach einer Entschuldigung, aber die vorgebrachten
Gründe reichen nicht aus. Der Mord geschieht ja nicht aus Nothwehr;
denn der Schütze ist bereits frei, er ist auch keine vom Landesgesetze gebilligte
Blutrache; denn nicht das Kind, sondern der Apfel ist getroffen. Was bleibt
also bei solchem Morde Anderes übrig, als die Rachethat eines in seinem
Blödsinn zur Unzeit gereizten Thoren." So ist die Dümmlingssage in die
Tellsage gekommen, und zwar durch das Volksgewissen, welches eine sittlich
nicht zu rechtfertigende That wenigstens erklärt sehen wollte, und der Bolks-
mund hat aus seinem Wortvorrath den redenden Beinamen Tell dazu ge¬
geben. Einen Narren zum Nationalhelden, einen Meuchelmörder zum Be¬
gründer der Freiheit zu machen, ist dem Volke nie eingefallen. Dieß war
den regierenden Herren und deren Chronikschreibern vorbehalten, seitdem diese
den schweizerischen Nationalstolz gepachtet hatten. „Sie, die nun selbst die
Tyrannen im Lande spielten, ließen in Tell das Recht des Tyrannenmordes
verherrlichen. Tschudi, bald dieser Magnaten Werkzeug, bald ihr Mitregent,
kam dem bekannten Moralsystem des Jesuiten Busenbaum zuvor und ver¬
theidigte in seiner Chronik den Fürstenmord offen. Viel klüger, sagt er,
würden die Eidgenossen gethan haben, sich mit den fünf Mördern des Kaisers
Albrecht zu verbünden, statt sie von sich zu weisen. Sei es doch der Er¬
mordete gewesen, welcher den drei Ländern die Bestätigung ihrer Freiheiten
verweigert habe, sodaß sie alsdann von Oesterreich angegriffen und zur
Schlacht bei Morgarten gezwungen worden seien. Darum habe es nachmals
die drei Länder auch zu reuen begonnen, daß sie sich des Herzogs Johann
und seiner Mitverschwornen nicht angenommen und ihm nicht geholfen hätten,
der doch so treulich an ihnen gehandelt und ihnen vorhergesagt habe, wie es
ihnen ergehen würde. Solche erdichtete Gedanken waren es, die Tschudi den
Waldstätten in den Mund zu legen die politische und historische Frechheit
hatte. Die Folgen dieser Sophistik ließen nicht auf sich warten. Schon
sieben Jahre nach dem Tode des Chronisten, im Jahre 1879 erschien zu
Basel das Urner Tellenspiel in neuer Auflage und trug jetzt, trotz der in der
damaligen Schweiz schon scharf gehandhabten Büchereensur, auf dem Titelblatte
das herausfordernde Motto:
„Tyrannen und ein Hund, der tobt,
Wer die erschlägt, der wird gelobt."
Tell war von nun an der obrigkeitlich autoristrte Tyrannenschlächter,
und in diesem seinem Amtsgeschäfte ein Verbrechen zu sehen, galt jetzt selber
schon als eins. Knieend und mit dem Strick um den Hals mußte der Zu¬
widerredende Abbitte thun."
Ueber die zweite Hälfte des Rochholz'schen Buches, die sich vorzüglich
mit Geßler beschäftigt, müssen wir uns kurz fassen. Geßler ist eine geschicht¬
liche Persönlichkeit, aber freilich eine ganz und gar andere als die, welche uns
die Tellssage vorführt. Im Jahre 1314 erkaufen Johannes Geßler und
dessen Söhne Gotteshausgüter, welche der Luzerner Stiftsalmosenei zins¬
pflichtig sind. Diese Höfe, Brüggtal und Bergiswil, sind Eigenthum des
Luzerner Leodegarstiftes und liegen, der erste innerhalb des Luzerner Pfarr¬
kreises in der Richtung gegen das Dorf Ebikon, der zweite im Bezirke des
Hofes zu Küßnach, wo er Sonderrechte besaß. Den Eigenthümer dieser Höfe,
den Vater Johannes Geßler, kennt man urkundlich seit dem 13. Januar
1309. Er ist ein unfreier Bauer aus aargauisch Meienberg. nimmt aus der
Hand des Habsburger Adels Zinsgüter im Eigenamte und im Freiamte in
Pacht, und kauft sie von Frohndienst und Vogtssteuer los, kommt als Pferde¬
händler mit Herzog Leopold dem Aelteren in Verkehr, leiht demselben hundert
Pfund Pfennige, erhält statt deren Rückzahlung den Titel eines herzoglichen
Küchenmeisters und stirbt als solcher 1313. Sein ältester Sohn Heinrich
vermehrt das väterliche Erbe, wird Ritter, hält sich vorübergehend am Hofe
zu Wien aus und vertritt da die Ansprüche der Stadt Luzern. Dieß ist jener
Geßler, aus dessen Namen die schweizerischen Chronisten ein Mittel zu fort¬
gesetzter Geschichtsfälschung gemacht haben. „War dieser beurkundete ritter¬
liche Diener der Herzöge von Oesterreich dem Pfeile Teils zum Opfer gefallen,
so schien damit der urkundlich nicht nachweisbare Tell thatsächlich erwiesen.
Daß beide, Schütze und Erschossner, nur die beiden unentbehrlichen Hälften
einer und derselben Sagencomposition waren, ließ die arglose Vorzeit sich
noch nicht träumen, dieß begann erst dem vorigen Jahrhundert klar zu werden.
Noch mangelten die Beweismittel. Diese sind uns erst durch Eutych
Kopps' urkundliche Forschungen beschafft worden. Nach diesen wissen wir
Folgendes.
Eine Persönlichkeit Namens Hermann Geßler, die angeblich bis 1307
als österreichischer Vogt in den Waldstätten regiert hätte und dort getödtet
worden wäre, existirt in der Geßler'schen Familie damaliger Zeit ebenso wenig
wie später. Das demselben beigelegte Amt eines Reichsvogtes der drei Länder
war damals gleichfalls noch nicht vorhanden, weil in der ganzen Zeit Albrechts,
als Herzogs und als Königs, Uri und Unterwalden kein Reichsland waren,
in Schwyz aber die Landesverwaltung durch Ammänner geführt wurde, über
welche ein Landmann als Richter gesetzt war. Ein solcher Richter aber schließt
in seiner Eigenschaft als Verweser der Vogtesgerichtsbarkeit das Bestehen
eines Landvogtes neben ihm aus.
Ein Hermann Geßler von Brunegg hat bis 1307 und noch geraume
Zeit später gleichfalls noch nicht gelebt, da diese Burg erst zu Ende des
vierzehnten Jahrhunderts in den Besitz eines Geßler, Heinrich's des Zweiten
dieses Namens kam, der 1403 starb.
Ein Vogt Geßler auf der Burg Küßnach ist ebenfalls eine Unmöglich¬
keit, da diese Schloßvogtei urkundlich von 1296 bis 1347 dem Rittergeschlechte
der Eppone von Chüssinach, dann als herzogliches Erdleben dem Walter von
Tottikon gehörte, hierauf durch dessen Tochter an deren Gemahl Heinrich
von Hunwile und endlich am 24. August 1402 durch Kauf an das Land
Schwyz kommt, ohne jemals einen Geßler zum Besitzer gehabt zu haben.
Hiermit wird, wie Rochholz sagt, „durch die Geschichtsforschung Geßler
aus der Tellensage befreit, wie durch die Sagenforschung Tell aus dem Ge¬
biete der Geschichte ausgewiesen ist. Tell wird aus dem politischen und
kirchlichen Credo gestrichen, Geßler ebenso aus dem Aberglauben des Volkes
und der Lesewelt. Ist Geßler der pragmatischen Geschichte sicher anheimge¬
stellt, so ist Tell um sein Schlachtopfer gebracht, so endet die bisherige
Zwillingsschaft dieser beiden Namen. Politische Bosheit eines von welschem
Solde lebenden und das deutsche Stammland hassenden Magnatenthuw.es
war es, die das Märchen vom Tyrannen Geßler auf die Bahn brachte und
es durch eine welschdenkende Priesterschaft sogar kirchlich sanctioniren ließ.
Dieses aufzudecken ist Aufgabe der historischen Gerechtigkeit."
Bis diese Zeilen in die Hand der Leser gelangt sein werden, sind nahezu
vier Wochen verflossen, seit das Ereigniß des jüngsten badischen Minister¬
wechsels, welches wir nachstehend besprechen, sich vollzogen hat. Innerhalb
dieser vier Wochen hat die Einbildungskraft müssiger Köpfe und die Schreib¬
seligkeit sensationslustiger Correspondenten genugsam Zeit gehabt, dem Publi¬
kum ihr Wissen oder auch Nichtwissen über das unverhofft eingetretene Er¬
eigniß darzulegen. Die Zeit ist nicht unbenutzt geblieben. Von dem kleinsten
Localblatt unseres badischen Ländchens an bis hinauf zu jenen Organen,
welche für Säulen der deutschen Presse erachtet werden, einer „Kreuz-Zeit.",
„Köln. Zeit.", „Allg. Zeit." u. s. w. ist der badische Ministerwechsel reichlich
besprochen worden. Die Tagesblätter jeglicher Parteifarbe haben ihm ihre
Beachtung geschenkt, also daß der Demokrat wetteiferte mit dem Ultramon-
tanen, der Nationalliberale nicht zurückstand hinter dem Deutsch-Conservativen.
Was wir aber bei all' diesen Darlegungen, mit wenigen Ausnahmen, fast
vollständig vermißt haben, das ist die Weite und Umsichtigkeit des politischen
Blickes, die das Einzelereigniß zu erfassen versteht in naturnothwendigen
Zusammenhang einer nicht erst seit kurzem gegebenen Constellatton. Dieses
kleinliche Suchen und stöbern nach dem Einzelgrund, der das Ereigniß zu
Tage förderte; dieses sich Anklammern an die einzelnen Worte des fürstlichen
Handschreibens, welches den neuen Ministerpräsidenten in sein Amt berufen
hat; dieses juristisch sorgfältige Bemühen, den Beweis eines nicht stattgehabten
und nicht statthabenden Systemwechsels aus diesem Zweifachen zu erbringen,
sie kennzeichnen doch wohl nur den Tagespolitiker, der von der Hand in den
Mund lebt. Wir wollen nicht zu diesen gerechnet sein. Das Einzelereigniß,
wie hervorstechend es auch sei, ist doch immerhin nur ein Glied, das mit
Naturnothwendigkeit sich einfügt in eine Kette, die nun einmal so angelegt
und geplant ist, daß sie auch dieses Gliedes nicht entbehren kann. Alles ist
Samen! Wer dieses Dichterwortes bei seinem politischen Raisonnements nicht
eingedenk war, der würde nicht wehren können, daß er trotz allen Anstrichs
der Geistreichigkeit, den er sich vielleicht zu geben weiß, dennoch unerbittlich
zu der Zahl derer gezählt würde, deren Geschäft in der deutschen Sprache
als Kannegießerei bezeichnet zu werden pflegt. Dagegen wird es freilich
auch nicht fehlen, daß wer den Gedanken jenes Wortes auch bei Betrachtung
der politischen Tagesgeschichte zur Geltung bringt, von der oberflächlichen
Kurzsichtigkeit oder dem bösen Uebelwollen der „Geschichtbaumeisterei" be¬
zichtigt und sammt seinen Aufstellungen mit vornehmem Lächeln bemitleidet wird.
Doch ist Solches leicht zu ertragen, um so mehr, als die letzte und höchste
Instanz über Werth oder Unwerth der gesammten politischen Auffassungs¬
und Betrachtungsweise, wie der Auffassungs- und Betrachtungsweise eines
Einzelfalles nicht durch wohl- oder überwollende Kritiker der gleichzeitigen
Tage gebildet wird, sondern durch die Geschichte der kommenden Jahre.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen wenden wir uns zur Sache selbst,
indem wir zuvörderst in Kürze das Thatsächliche des jüngst stattgehabten
badischen Ministerwechsels mittheilen, sodann die Ursachen des Vorgangs zu
erkennen suchen. Solche Kenntniß und des Weiteren ein prüfender Blick
auf das Ministerium werden ermöglichen, mit ziemlicher Sicherheit einen
Schluß zu ziehen auf die politische Signatur der nächsten Zukunft unseres
badischen Staatslebens.
Nachdem bereits mehrere Tage lang diesbezügliche Gerüchte in Umlauf
gewesen waren, brachte am 25. September das Regierungsorgan, die „Karlsruher
Zeitung" die vom 24. September datirte Mittheilung, daß Seine Königliche Ho¬
heit der Großherzog unterm 21. d. M. geruht hatten, den Staatsminister Dr.
Jolly auf dessen Ansuchen seines Amtes als Präsidenten des Staatsministeriums
und Minister des Innern unter Vorbehaltung der anderweitigen Verwendung
im activen Dienst gnädigst zu entheben. Gleichzeitig mit der Amtsenthebung
wurde dem abtretenden Minister die allerhöchste besondere Anerkennung seiner
langjährigen, ausgezeichneten und erfolgreichen Dienste ausgesprochen unter
Verleihung des höchsten Ordens der badischen Krone. Nachdem in Folge
des Vorgangs auch die sämmtlichen übrigen Mitglieder des Staatsministeriums
dem Großherzog ihre Aemter zur Verfügung gestellt hatten, wurde von diesem
mittelst Schreibens aus Stuttgart vom 23. September der seitherige Präsident
des Handelsministeriums Turban aufgefordert, die Aufgabe zu übernehmen,
„auf Grundlage der bisher maßgebend gewesenen Richtung der Regierung,
sowohl in Betreff der inneren Politik als auch in Bezug auf die nationalen
Entwickelungsaufgaben ein freisinniges Ministerium neu zu bilden." Prä¬
sident Turban unterzog sich dieser Aufgabe. Unter Beibehaltung seines
Ressortministeriums trat er als Staatsminister und Präsident des Staats¬
ministeriums an die Spitze der Geschäfte. Der Präsident des Ministeriums
des Großherzoglichen Hauses, der Justiz und des Auswärtigen, v. Frey-
dorf, wurde in den Ruhestand versetzt, indem gleichzeitig die Geschäfte des
Ministeriums des Auswärtigen dem Staatsministerium zugewiesen wurden;
der Präsident des Finanzministeriums, El l statt er, blieb auf seinem Posten,
desgleichen das Mitglied des Staatsministeriums, Staatsrath Nüßlin; zum
Präsidenten des Ministeriums des Innern wurde Landescommissar L. Stösser
ernannt und zum Präsidenten des Großherzoglichen Hauses und der Justiz
Fiscalanwalt Dr. Grimm in Mannheim.
Wenn wir nun die Ursachen des stattgehabten Ministerwechsels darzu¬
legen suchen, so wird man nach dem, was wir bereits oben ausgeführt
haben, nicht erwarten, daß wir mit minutiösen Eifer irgend einen Einzel¬
vorgang aufstöbern, welcher die Krisis herbeigeführt habe. Was über solche
Einzelvorgänge von der Presse berichtet wurde, gehört doch insgesammt mehr
oder minder in das Gebiet der vagen Vermuthungen und Gerüchte. Abgesehen
jedoch hiervon, würde jeder Einzelvorgang, der den Rücktritt Jolly's zur
Folge gehabt, nur den Moment anzeigen, in welchem der schon lange an¬
gehäufte Zündstoff explodirte. Wir wollen keineswegs einen solchen Einzel¬
vorgang als die nächste, äußerlich greifbare Ursache der Krisis von vorn¬
herein ablehnen, werden vielmehr in unsern betreffenden Ausführungen selbst
einen Einzelvorgang in Anspruch nehmen. Allein derselbe muß auf alle Fälle
der Art sein, daß er sich organisch in den Zusammenhang der die Gesammt-
lage gestaltenden, nicht erst seit gestern bestehenden politischen Stimmungs¬
momente einreihen läßt, und er muß ferner so schwer in die Wagschaale
fallen, daß er für hinreichend befunden wird, ein Ereigniß von weittragenden
Folgen, wie das der Rücktritt eines Ministeriums unter allen Umständen
ist, in Scene zu setzen. Die Sache unter diesen Gesichtspunkt gerückt, ist
nun wohl klar, daß — wir greifen nur diese zwei Punkte heraus — weder
die von dem Großherzog gewünschte Ernennung einer dem Fürsten nahe¬
stehenden Persönlichkeit zum Mitglied des Staatsministeriums, welcher Er-
nennung der Staatsminister widersprochen habe, noch auch Differenzen zwischen
letzterem und dem Großherzog bezüglich der Besetzung der Präsidentenstelle
der Oberrechnungskammer als Einzelvorgänge die Krisis heraufbeschworen haben.
Wie gehen weiter und sehen uns nach einer konstitutionellen Noth¬
wendigkeit oder Veranlassung zum Rücktritt des Ministeriums Jolly um.
Sie liegt nicht vor. Zwar ist es kein Geheimniß, daß zwischen dem Mini¬
sterium Jolly und den Führern der national-liberalen Landtagspartei, des
zur Zeit absolut ausschlaggebenden parlamentarischen Factors unseres
Staatslebens, ein inneres, herzliches Einvernehmen schon seit längerer Zeit
nicht mehr bestand, ja, man kann sagen, nie bestanden hat. Die sog. Offen¬
burger Bewegung, welche zu Ende des Jahres 1868 mit direct gegen Jolly
gerichteter Spitze ihre Wogen warf, brachte eine von Beginn der Re¬
gierungsthätigkeit Jolly's an zwischen ihm und den Führern der national¬
liberalen Partei bestehende Mißstimmung zum Ausdruck, und wenn auch
die Mißstimmung allmählig ihren acuten Character verlor, so blieb sie doch
bestehen. Es möge hier unerörtert bleiben, worin dieselbe ihren Grund hatte.
Jolly's eminente staatsmännische Befähigung wird nirgends angezweifelt,
seine energische Hingabe an den nationalen Gedanken, sein consequentes Fest¬
halten der liberalen Pricipien lassen keine Bemäntelung zu. Persönliche
Gründe, die in etwas mitgewirkt haben mögen, können nicht in maßgebender
Weise Ausschlag gegeben haben. Vielleicht, daß Jolly das, was man Fühlung
mit der Kammer nennt, zu wenig cultivirte. daß er nach der Weise Bismarck's
in dessen früherer Epoche etwas zu autokratisch vorging, die Landtags¬
majorität als einen Factor betrachtete, der einzig in legislatorischer Hin¬
sicht zu berücksichtigen sei, dem irgend welcher weitergehende Einfluß aber
nicht zugestanden werden dürfe. Sei dem, wie ihm sei. Die Mißstimmung
bestand. Sie zeigte sich insbesondere auch auf dem letzten Landtag 187S/76
und hat während desselben mehrmals eine recht unangenehme Gewitterschwüle
über die Atmosphäre unseres Staatslebens verbreitet. Die schon vor dem Zu¬
sammentritt des Landtags zwischen der „Bad. Corr.", dem Organ der national¬
liberalen Landtagspartei, und der officiösen „Karlsr. Zeit." zum Theil recht
gereizt geführten Plänklergefechte gestalteten sich während der Landtagssession
zu ernsten Scharmützeln. Und auch soweit diese nicht statthatten, lebte man
stets auf dem gegenseitigen Hui vive! Es waren insbesondere die Gesetzes¬
vorlage über die obligatorische Einführung der const sionell gemischten Volks¬
schule, sodann das sog. Pfarrdotationsgesetz, die Discussion des Gesetzes über
Einrichtung und Befugnisse der Oberrechnungskammer, endlich zum Schluß
des Landtags noch Erörterungen über eine Umformung der ersten Kammer,
welche die' gegenseitige Mißstimmung und Gereiztheit, mitunter in sehr scharfer
Weise, zum Ausdruck brachten. Thatsache ist, daß bei ein und dem andern
der streitigen Punkte der Staatsminister sich mehr, als ihm erwünscht war,
durch den Willen des Großherzogs gehemmt sah. Indessen konnte dies an
der Sache selbst nichts ändern, und auch der Umstand besserte nichts, daß die
erste Kammer — ein und das andremal sogar weitgehender, als es dem Minister
willkommen sein konnte — bezüglich der Differenzpunkte durchweg der zweiten
Kammer frondirend entgegentrat. Aber bet alledem hat man beiderseits ver¬
standen, sich zu vertragen; man hat gegenseitige Rücksichtnahme walten lassen,
und es wurde namentlich bezüglich sämmtlicher Gesetzesvorlagen schließlich
Uebereinstimmung erzielt, so daß sie ohne Ausnahme zu Gesetzen erhoben
wurden, wenn auch nicht durchweg so, daß man auf beiden Seiten völlig
zufrieden gestellt war. Die letzte Landtagssession hatte das Ansehen des
Staatsministers nicht im mindesten erschüttert; im Gegentheil, sie hatte es,
allgemeiner Meinung nach, neu gekräftigt. Auch in den wenigen Wochen,
welche seit Schluß des Landtags verflossen sind, war kein Vorgang zu
verzeichnen, welcher eine constitutionelle Veranlassung zum Rücktritt des
Ministeriums enthalten hätte. Die auf dem Landtag vottrten Gesetze er¬
hielten eines um das andere die Sanction des Fürsten, und wie wenig man
auf Seiten der national-liberalen Landtagspartei an eine Mtnisterkrisis dachte
oder gar sie wünschte, beweist u. A. die Thatsache, daß man dort von dem
Eintritt der Krisis auf's Höchste überrascht war und daß die „Bad. Corr."
sofort den Rücktritt Jolly's auf's lebhafteste bedauerte. Nach alle dem ist
es schwer verständlich, wie ein sonst mit Recht hochangesehenes Blatt, die
„Köln. Zeit." sich, sogar „von gut unterrichteter Seite", aus Süddeutschland
schreiben lassen konnte, der Grund des Ministerwechsels liege in der streng
constitutionellen Gesinnung des Großherzogs, welcher durch Herbetführung
einer Neubildung des Ministeriums das harmonische Einverständniß zwischen
Regierung und Landtag habe erhöhen wollen. Wie wäre z. B. auch mit
solcher Absicht das in Einklang zu setzen, daß auf den wichtigen und ein¬
flußreichen Posten des Präsidenten des Ministeriums des Innern ein Mann
berufen wurde, der auf dem letzten Landtag, hauptsächlich wegen Meinungs¬
verschiedenheiten in der Frage der Schulgesetznovelle, als treuer Anhänger der
Negierung offen aus der national-liberalen Fraction ausschied! Item, eine
constitutionelle Nothwendigkeit oder Veranlassung zum Ministerwechsel lag
nirgends vor.
Welches aber sind die Gründe? Die officiöse Presse hat sie bis jetzt
nicht proclamirt. Ihre Proclamirung ist — die Sache rein vom Standpunkt
des politischen Beobachters aus betrachtet — unseres Erachtens auch durch¬
aus nicht nöthig, da sie dem, der die politische Strömung unseres Staats¬
und Hoflebens wenn auch nur seit einigen Jahren beachtet hat, klar liegen.
Solchem Beachten konnte nicht entgehen, daß an höchster Stelle des Landes
die vordem so frische und opferfreudige Beg-'isterung für den nationalen Ge¬
danken allmählig einer Stimmung des Unbehagens gewichen war. Getragen
von jener Begeisterung hatte Großherzog Friedrich, weit vorleuchtend seinen
fürstlichen Vettern, hohe Opfer auf den Altar des Vaterlandes niedergelegt:
Baden kennt keine Reservatrechte, und unser Heer ist, da ein einheitlich
deutsches Heer noch nicht geschaffen ward, zufolge der Mililärconvention vom
25. November 1870 Bestandtheil des preußischen Heeres. Der Name des
Großherzogs Friedrich wird um solchen hochherzigen Handelns willen in der
deutschen Geschichte für alle Zeiten mit größter Achtung genannt werden.
Aber eine und die andere bittere Frucht der kühnen Saat konnte dem, der
die Saat ausstreute, nicht erspart bleiben. Möglich, daß bei Abschluß der
Mtlitärconvention die Rücksichten auf die bis dahin gedienten badischen Mili¬
tärs etwas kräftiger hätten zur Geltung kommen können, wenn man ernstlicher
als es geschehen sein soll den Versuch gemacht hätte, sie zur Geltung zu
bringen. Möglich, daß man unbeschadet der Verwirklichung der nationalen
Idee in ein und dem anderen Stück etwas weniger rasch hätte vorgehen
dürfen. Wir kritisiren es nicht. Aber die es kritisirten haben den Thron
des Fürsten umschwärmt. Und was die Koryphäen der Bureaukratie, was
der particularistisch gesinnte Adel, was die römisch-katholischen Würdenträger
in Frack und Sutane — was sie Alle, die der nationale Gedanke zur Seite
geschleudert hat, an Stimmung des Unmuths, des Mißbehagens und der
Verbissenheit in sich tragen, das haben sie dem Fürsten nahezubringen gewußt.
Wir wollen kurz sein: an Stelle der opferfreudigen Hingebung an den natio¬
nalen Gedanken trat eine gewisse Zurückhaltung, ein sorgsames Hüten der
noch gebliebenen Souveränität. Sodann ist es offenkundig, daß am Karls¬
ruher Hof. wie behauptet und geglaubt wird, wesentlich in Folge des Ein¬
flusses der in dieser Hinsicht den Traditionen ihres väterlichen Hauses treu¬
ergebener Großherzogin die kirchlich positive Richtung freundlicheren Blickes
beachtet wird, als die z. Z. dominirende liberale Protestantenvereinspartei.
Die Herrschaft dieser Partei, deren kirchenpolitische Principien sich seit dem
Jahre 1860 immer nachdrücklicher verwirklichten, war nicht absolut beliebt.
Die Wirren, welche der unausgesetzte Kampf mit der Curie zur Folge hatte,
wurden unangenehm empfunden. So kam es, daß die im sog. „Kultur¬
kampf" seit dem Jahr 1860 Landtag für Landtag durch tief einschneidende
gesetzgeberische Acte energisch durchgeführte Verwirklichung freisinnigster Prin¬
cipien nicht mehr genehm war. Es bedarf nur der elementarsten Kenntniß
psychologischer Grundgesetze, um verstehen zu können, wie sich bei solcher
Stimmung eine immer schärfere Antipathie gegen den Mann festsetzen mußte,
der die Seele all' dieser Bestrebungen war, dessen unbeugsame Festigkeit auch
nicht das leiseste Abschwenken von der Bahn des nationalen Gedankens ge¬
stattete, dessen zähe Energie die liberalen Principien in rastlos vorwärts
schreitenden Handeln unerbittlich verwirklichte. Der kühnste Vertreter des
nationalen Gedankens, unter dessen Führung Baden jene opferfreudige natio¬
nale Politik befolgt hatte; der energischste Vorkämpfer der liberalen Prin¬
cipien, der diese, den Ultramontanismus mit scharfer Schneide bis ins innerste
Mark treffend, nachdrücklichst analisirte, war nicht mehr persong, ^rata, war
dies vieleicht niemals völlig gewesen. Ein kleiner Anlaß, und die Stimmung
des Unbehagens konnte zum Durchbruch kommen, namentlich einem Mann
wie Jolly gegenüber, an dessen Wesen Strammheit und Energie das Characte-
ristische ist, während eine gewisse diplomatische und höfische Geschmeidigkeit
und Elasticität fehlt. Der Anlaß stellte sich ein. Es ist bekannt, daß der
Großherzog zu Beginn des letzten Landtags nur nach längerem Zaudern
und unter scrupulöser Bedenken — schon damals hatte eine Minister¬
krisis geschwebt — die Genehmigung zur Einbringung des Gesetzent¬
wurfs betr. der konfessionellen Volksschulen in confessionell gemischte er¬
theilt hatte. Und ebenso ist Thatsache, daß er sich nur schwer entschließen
konnte, die das Princip der confessionell gemischten Schule schärfer, als die
Regierungsvorlage zum Ausdruck bringenden Aenderungen, welche die zweite
Kammer an dem Gesetzentwurf vornahm, zu genehmigen. Minder bekannt
vielleicht, aber nichts desto weniger Thatsache ist, daß das von beiden Kam¬
mern genehmigte Gesetz einige Wochen im Kabinet des Fürsten lag, ohne die
Sanction zu erhalten. Zwei Tage, nachdem ihm diese geworden, erhielt
Staatsminister Jolly die Entlassung. Hier hätten wir den Einzelvorgang,
indem sich ganz von selbst die Vermuthung nahe legt, daß der Großherzog,
von dem leitenden Minister zur Sanctionirung des mehrerwähnten Gesetzes
gedrängt, diese auf eine Weise gewährt habe, die es letzterem zur Gewißheit
machte, daß die Principien der von ihm vertretenen Politik nicht durchweg
die Billigung des Fürsten besäßen und daß in Folge dessen eine fernere er¬
folgreiche Bethätigung im Amte nicht mehr möglich sei. Sind vielleicht noch,
was wir keineswegs unbedingt in Abrede stellen wollen, speziell persönliche
Fragen mit in's Spiel gekommen, so war der äußere Anlaß zu dem innerlich
längst vorbereiteten Ereigniß gegeben.
Dr. Juli u s Jo lip,*) Badenser von Geburt, trat zum erstenmal in die
größere Oeffentlichkeit, als er, damals a. o. Professor an der Universität
Heidelberg, sich an den kirchenpolitischen Kämpfen der Jahre 1839 und 1860
betheiligte, insbesondere auch als Redner auf den protestantischen Durlacher
Conferenzen. Lamey berief ihn in das Ministerium des Innern, in welches
er am 2. April 1861 eintrat. Im Jahr 1866, als Baden in die unselige
Position gegen Preußen hineingedrängt wurde. gerieth er in seiner Eigen¬
schaft als Mitglied der ersten Kammer, in welche ihn die Universität Heidelberg
gesandt hatte, dadurch daß er die von Edelsheim geleitete antipreußische Politik
mißbilligte, in scharfen Conflict mit der Regierung. Er schied in Folge
dessen aus dem Ministerium und wurde unterm 26. Juni dem Verwal¬
tungsgerichtshof als Rath beigegeben. Nach Beendigung des Krieges wurde
er unterm 27. Juli 1866 von Mathy, der damals an die Spitze der Geschäfte
getreten war, als Lamey's Nachfolger zum Präsidenten des Ministeriums des
Innern berufen. Dieses Ressortministertum beibehaltend, übernahm er nach
Mathy's Tode am 12. Februar 1868 als Präsident des Staatsministerium
die Leitung der Geschäfte, die er denn auch betbehielt, bis der 21. September
1876 ihn von seinem hohen Posten abberief.
Der gleichzeitig mit Jolly abgetretene Präsident des Ministeriums des
Großh. Hauses, der Justiz und des Auswärtigen, v. Freydorf, hatte,
damals Rath im Justizministerium, im Jahr 1866 Jolly im Ministerium
ersetzt. Den Posten als Präsident des Ministeriums des Großh. Hauses
des Aeußeren hatte er seit dem 27. Juli 1866 inne. Später war er, wie
bereits erwähnt, noch mit der Leitung des Justizministeriums betraut worden.
Jolly's hohe Verdienste sind unbestritten. Es war bedeutungsvoll, daß
er, der unermüdete Vorkämpfer des nationalen Gedankens, sofort nachdem
seine Ernennung zum Präsidenten des Staatsministeriums vollzogen war,
an dem gleichen Tage das noch unter Mathy's Auspicien berathene Wehr¬
und Contingentsgesetz als verantwortlicher Minister eontrasignirte. Diese
Gesetze schufen uns ein Heer nach preußischem Muster, sie gaben uns ein
Armeecorps, das die heldenmütigen Kämpfe bei nuits, Belfort u. A. sieg¬
reich bestehen konnte. Bekannt ist, in welch' kühner Führung der jetzt zu¬
rückgetretene Staatsminister das nationale Banner vorantrug, als der
Wogenschlag des drohenden Krieges sich brandend an den Grenzgestaden
unseres badischen Landes vernehmen ließ. Jolly's Namen unter dem
Versailler Protokoll vom 15. November 1870 ist von den Namen der sieben
Unterzeichner derjenige, dessen Träger nebst Btsmarck die größte innere Berech¬
tigung besaß, ihn unter dieses ewig denkwürdige Aktenstück zu setzen.
nachhaltige Spuren wird das Wirken des bisherigen Premiers in
unserem innerbadischen Staatsleben zurücklassen für alle Zeiten. Die libe¬
ralen Principien wurden mit eonsequentester Energie verwirklicht. Unter Jolly
z. B. erfolgte die Verweisung der politischen und der Preßvergehen vor die
Schwurgerichte, unter ihm hatten mehrfache, tiefeingreifende Verfassungs¬
änderungen in freiheitlichen Sinne statt, das Wahlrecht zum Landtag wurde
erweitert, das Gesetz über Ministerverantwortlichkeit votirt und das Verfahren
bei Mintsteranklagen geregelt, die Gemeindeordnung erfuhr eine zeitgemäße
Revision, die Städteordnung trat in's Leben, schließlich gewährte noch das
auf dem letzten Landtag beschlossene Gesetz über Einrichtung und Befugnisse
der Oberrechnungskammer eine höchst werthvolle Bereicherung der konstitutio¬
nellen Institutionen. Den Kirchen wurde bezüglich ihres inneren Lebens
durchweg freie Bewegung gelassen, nicht minder wurde aber auch die Staats¬
hoheit ihnen gegenüber nachdrücklichst zur Geltung gebracht. Das die recht¬
liche Stellung der Kirchen im Staat regelnde Gesetz vom 9. Oktober 1860
wurde in einigen wichtigen Punkten ergänzt und verschärft; bereits zu Ende
1869 wurde die bürgerliche Standesbeamtung den Geistlichen abgenommen und
die Civilehe obligatorisch eingeführt; das Sttftungsgesetz vom 5. Mai 1870
Machte durchgreifende Ordnung eines vielverwirrten Gebietes; das Altkatho-
Ukengesetz vom 15. Juni 1874 kam den berechtigten Forderungen, welche
Folge dieser Bewegung in der römischen Kirche zu Tagen traten, in
Weiser Berücksichtigung entgegen. Wie sehr der jetzt zurückgetretene Staats-
Minister die hohe Bedeutung der Kirche würdigte und wie sehr er geneigt
^r. sie in der Erfüllung ihrer Aufgabe zu unterstützen, zeigte sein ernstliches
Bemühen für das Zustandekommen des auf dem letzten Landtag votirten sog.
Pfarrdotationsgesetzes. Eine ganz besondere Fürsorge widmete Jolly der
Volksbildung und Volkserziehung. Das gesammte Volksschulwesen erfuhr
eine neue Regelung, die Lehrergehalte wurden auf die entsprechende Höhe
gebracht, die dienstliche Stellung der Lehrer wurde verbessert, ein viertes
Lehrerseminar wurde eröffnet, und schließlich erfolgte noch die Umwandlung
der confessionellen Schulen in confesstonell gemischte. Auch das Gewerbeschul¬
wesen wurde auf gesetzliche Grundlage gestellt, und weithin bekannt ist, wie
sehr der Minister seine Fürsorge der Hebung' des gelehrten Schulwesen zu¬
wendete und wie er hier in gründlicher Reformarbeit überaus segensreiches
leistete. Nicht minder auch bemühte er sich unausgesetzt und nachdrücklichst,
zuweilen zum gelinden Schrecken der das Budget berathenden Landstände, um
Hebung der Universitäten.
Nur einem Manne von der eminenten Arbeitskraft Jolly's war es
möglich, in den ereignißvollen Jahren seines Wirkens so überaus schwierige
umfassende Aufgaben zu bewältigen, nur ein Staatsmann von der hohen
Begabung und energischen Festigkeit, wie sie dem zurückgetretenen Minister eigen
war, konnte solch' tiefeingedrückte Spuren verdienstvollsten Wirkens hinter¬
lassen. In der Entwicklungsgeschichte des deutschen Reiches und in der
inneren Geschichte Badens wird Jolly's Namen für immer in Ehren genannt
werden. Der zurückgetretene Ministerpräsident hat nicht lange im Ruhestand
verharrt. Eben in diesen Tagen hat die Berufung zum Präsidenten der
Oberrechnungskammer ihn in den activen Staatsdienst zurückgeführt. So
wichtig dieser Posten ist und so auszeichnend die Stellung, so hätten wir
doch für Jolly einen anderen Platz gewünscht, einen Platz, wo seiner Arbeits¬
kraft, Begabung, Einsicht und reicher Erfahrung, seiner parlamentarischen
Schlagfertigkett und rednerischen Gewandtheit ein reicheres, ergiebigeres
Arbeitsfeld wäre zugetheilt gewesen. Das Reich ist groß und braucht manche«
Mann. Dort ist noch mancher Posten, den der einstige badische Staats¬
minister zieren würde.
Und nun noch ein kurzes Wort über die politische Signatur, wie sie
unter dem neuen Ministerium die der nächsten Zukunft sein dürfte. Unsere
Ansicht bezüglich dieser Signatur ergiebt sich aus dem oben Gesagten von
selbst. Ministerpräsident von Turban war ein tüchtiger Chef seines
Ressortministeriums und zugleich vielleicht derjenige unter den Ministern, der
mit der Landesmajorität am meisten Fühlung hatte. Als Staatsmann
er sich noch nirgend documentirt. Der neue Präsident des neuen Ministeriums
gleich Turban Abgeordneter zur II. Kammer, ist parlamentarisch bekannt
durch seine Berichterstattung über das Einkommensteuergesetz und seine
tretung des Erwerbsteuergesetzes an Stelle des damals erkrankten Abgeordneten
Blum, er hat mit Recht den Ruf eines tüchtigen, thätigen und vielerfahrener
Verwaltungsbeamten. Die schneidige Energie Jolly's besitzt er wohl nich^
Grimm, nunmehriger Chef des Justizministeriums, gehört seit 186
der zweiten Kammer an, ebenso ist er mit einem Mandat für den Reichstag
betraut und ist Mitglied der Justizcommission. Auf dem Landtag 1869/70 hat
er sich durch seine glänzende Berichterstattung über das Stiftungsgesetz aus¬
gezeichnet. Er war von Anfang an ein zuverlässiges Mitglied der national¬
liberalen Fraction, als kenntnißreicher Jurist und tüchtiger Anwalt, wie nicht
minder als ehrenwerther Character und fleißiger Arbeiter stets geschützt.
Ftnanzpräsident Ellstätter ist nicht Neuling, ebenso gehört Nüßlin dem
Staatsministerium schon längere Jahre als Rath an. Das Handschreiben
des Großherzogs an den neuen Staatsminister, in welchem er diesen mit der
Neubildung des Kabinets beauftragte, enthält die Willenserklärung des
Fürsten, daß die Richtung der Regierung, sowohl in Betreff der inneren
Politik, als in Bezug auf die nationalen Entwicklungsaufgaben, die bisherige
bleiben werde. Dieses Wort ist aufrichtig gesprochen, und wir sind fern
davon, es deuteln zu wollen. Aber die oben dargelegten Momente eines
gegen früher vollzogenen und sich vollziehenden Stimmungswechsels in den
höchsten Kreisen sind damit nicht aus der Welt geschafft. Die nationale und
freisinnige Politik kann bleiben und wird für die nächste Zukunft bleiben,
aber an die Stelle der freudigen Hingebung und der energischen Arbeit, in
der bisher die Ziele solcher Politik verfolgt wurden, kann und wird zögernde
Zurückhaltung, schonende Friedensliebe treten. Wir wollen, ohne diesen Punkt
von vornherein zum Prüfstein nationaler Gesinnung zu erklären, nur auf
das Eine hinweisen, daß die abgetretenen Minister Jolly und v. Freydorf Ver¬
theidiger des Reichseisenbahnsystems waren, Turban und Ellstätter, die auf
ihren Posten gebliebenen Räthe der Krone, Gegner desselben. Sodann haben
wir bereits oben bemerkt, daß der neu ernannte Präsident des neuen Ministe¬
riums im Verlauf des letzten Landtags aus der national-liberalen Fraction
schied, weil er mit deren energischem Vorgehen in Sachen der Einführung der
confessionell gemischten Volksschule sich nicht einverstanden zeigte. Die gegne¬
rischen Blätter führen eine zuversichtliche Sprache. Der „Bad. Beob.", das
Organ unserer Ultramontanen, meint, „daß der Kulturkampf nun nicht mehr
wie bisher als eigentliche Lebensaufgabe des badischen Staates betrachtet
werde." Die evangelischen Orthodoxen, auch Deutsch-Conservative benannt,
characterisiren das neue Ministerium als „liberal, aber gemäßigt" und
schließen aus der Zusammensetzung desselben, „daß der feindliche Geist des
Liberalismus gegen die christliche Kirche, wie er im letzten Jahrzehnt bei uns
die Oberhand gewonnen hatte, nicht mehr mit der seitherigen Härte entscheidend
in unsere Verhältnisse einzugreifen im Stande sein wird." Eine der Regie¬
rung nahestehende Zeitung aber kündigt bereits eine mehr „wirthschaftliche"
Aera an. Unsere Ansicht: wir haben ein Geschäftsministerium. Aber im
Hintergrund will sich bereits ein anderes zeigen. Der Schatten war voraus¬
geworfen geraume Zeit, ehe die Kreuzzeitung den Namen ausplauderte.
Und uns dünkt wirklich, als ob die Füße derer, die das Ministerium Jolly
begraben haben, schon vor der Thüre seien, auch dus neue Ministerium
hinaufzutragen. Auf alle Fälle wird die national-liberale Partei gut thun,
sich nachdrücklichst an den Wahlspruch des großen Preußenkönigs zu erinnern:
Der Grundgedanke dieser Schrift ist kein neuer, er ist die Herder'sche
Anschauung von der Geschichte, nach welcher dieselbe als die Entwickelung
eines aus bestimmter Anlage hervorgegangenen Organismus aufzufassen ist,
und Einzelmensch, Volk und Race nur Glieder der Alle harmonisch zusammen¬
fassenden Menschheit sind, die so in ihrer gesammten Lebensthätigkeit als
eine Person erscheint. Der Verfasser ist der richtigen Ansicht, daß Herder
diesen Gedanken nicht vollständig durchgeführt habe; wenn er selbst aber nun
an diese Aufgabe geht, so überzeugen wir uns schon auf den ersten Seiten,
daß dem guten Willen nicht das genügende Vermögen zur Seite steht, mit
andern Worten, daß er zwar ein gebildeter Geist und nicht ohne einen ge¬
wissen Scharfblick, aber immerhin ein Dilettant auf diesem Gebiete ist, der
sein Wissen in der Hauptsache aus Herder, Bunsen, Burdach und — Rotteck,
zum guten Theil auch aus Th. Rohmer (!) geschöpft hat und von den Re¬
sultaten der neuesten wissenschaftlichen Forschungen so gut wie keine Kenntniß
besitzt. Neben manchen guten Gedanken enthält dieser Band daher viel Ver¬
altetes und, wo der Verfasser selbst vermuthet, schließt und vergleicht, oft
schiefes oder vollständig Falsches. Auch die Sprache, in der uns das vor¬
getragen wird, ist mit ihrem blumenreichen Pathos die eines Laien.
Dieser Band giebt nach einem Rückblick auf das siebzehnte Jahrhundert
und namentlich auf den Hof Ludwigs des Vierzehnten zunächst Bilder aus
den Tagen der Regentschaft, wo die bekannte Prinzessin Elisabeth Charlotte
von Kurpfalz besondere Berücksichtigung erfährt, dann die Anfänge der feinen
Gesellschaft und der geistreichen Kreise in Paris, die sich um die Herzogin
von Maine gruppirten, und hierauf die vornehmen quietistischen und pietistischen
Gesellschaften in Westdeutschland mit ihren Damen. Ein weiteres Kapitel
führt uns an die deutschen Höfe des vorigen Jahrhunderts und bringt Por¬
träts u. A. von Sophie von Hannover und Sophie Charlotte von Preußen.
Wieder ein anderes beschäftigt sich mit den hervorragenden Frauen aus der
ersten Zeit Ludwigs des Fünfzehnten. Dann werden wir in die geistige
Bewegung der damaligen französischen Gesellschaft eingeführt; die Stellung
der Frauen zur Philosophie der Zeit und der Salon der Marquise von
Lambert werden geschildert, Frau Fontaine - Martel geht an uns vorüber,
wir blicken in die lustigen Abende bei Frau Denis und in das Neuigkeits-
bureau der Madame Doublet u. d. Das nächste Kapitel zeigt uns Voltaire
und seine „göttliche Emilie." Im weiteren Verlauf betrachtet der Verfasser
die Geistesbildung der deutschen Frauen in der ersten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts und — in etwas wunderlicher Verbindung in demselben Ab¬
schnitte — die Frauenmoden unter Ludwig dem Fünfzehnten. Das Schlu߬
capitel endlich hat es zunächst mit Friedrich Wilhelm I. von Preußen und seiner
geschichtlichen Bedeutung für Preußen und Deutschland zu thun, bespricht
dann sein Verhältniß zu seiner Gemahlin und seinen Kindern und endigt
mit einem Bilde der Markgräfin Wilhelmine von Baireuth, der bekannten
Schwester Friedrichs des Großen. Etwas Neues über den Gegenstand des
Buches erfahren wir in allem dem nicht. Aber der Verfasser weiß im Ganzen
hübsch zu erzählen und lebhaft zu schildern. Nur hätte er in der Heran¬
ziehung von Personen und Verhältnissen, die nur mittelbar zu den Frauen
des achtzehnten Jahrhunderts in Beziehung stehen und nur zum Verständniß
der letzteren erwähnt und characterisirt werden mußten, sich kürzer fassen
sollen. Was soll z. B. in Capitel 4 die breite Erzählung vom vertrockneten
Lutherthum und seinen Zionswächtern, und was hat die ausführliche Charac-
teristik des Vaters Friedrichs des Großen, der wir im Schlußcapitel begegnen,
während hier von Wilhelmine von Baireuth nur aus 6 Seiten die Rede
ist, in einem Buche zu suchen, das uns vor Allem Frauen schildern will?
Die Satiren des Petronius sind, wie wir den Philologen und Historikern
unter unsern Lesern nicht zu sagen brauchen, ein getreues und ungemein
lebendiges Bild der Sitten, die um die Mitte des ersten Jahrhunderts unsrer
Zeitrechnung in den Kreisen der reichen Römer herrschten, und das Gastmahl
des Trimalchio ist ein Bruchstück oder eine Episode dieses culturgeschichtlichen
Gemäldes, welche erst vor etwa zweihundert Jahren in einem Mönchskloster
zu Trau in Dalmatien wieder aufgefunden wurde. Der Ort der Handlung
ist wahrscheinlich Neapel. Zwei junge römische Bürger, Eneolpius und As-
cytus, beide Jndustrieritter, Schmarotzer und Gauner, beide in alle Geheim¬
nisse und Bräuche der liederlichen Gesellschaft eingeweiht, haben sich mit ihrem
Liebling Gnon in die Provinz auf Abenteuer begeben. Sie kommen auf
ihrer Reise nach Neapel, wo sie hören, daß der Sevir (Priester) Cajus Pom-
pejus Trimalchio, ein reicher, ungebildeter, aber eingebildeter Emporkömmling,
ein Gastmahl zu geben im Begriff ist. und demselben beizuwohnen beschließen,
was ihnen nicht schwer fällt, da Trimalchio offne Tafel hält. Die Beschrei¬
bung des Schmauses führt uns eine Menge seltsamer und kunstreicher Ge¬
richte. Geräthe und Geschirre vor. die uns zeigen, in welch raffinirter Weise
das Hauswesen der damaligen römischen Nabobs eingerichtet war, und die
dabei geführten Gespräche der Gäste, sowie die Reden Trimalchios und sein
Betragen gegen seine Frau enthüllen uns die ganze Gemeinheit und Ver¬
kommenheit der Welt, deren Typen Gastgeber und Gäste sind. In der
That, die letzteren sind ihres Wirthes, dieses ordinären, großthuenden, eitlen
Geldprotzen vollkommen würdig, die ganze Gesellschaft besteht aus dem Ab¬
schaum und Bodensatz der vornehmen Kreise, aus freigelassenen und reichge¬
worden Sclaven. Glücksrittern, in herkömmlichen glatten Formen gewandt
sich bewegenden Lumpen, die eine Auffassung der Menschen und Dinge kund¬
geben, welche an den gebildeten Hausknecht erinnert. So ist das Gemälde
ein sehr widerwärtiges, aber von hohem Werthe für die Kenntniß vom Stande
der Gesittung in weiten Kreisen des kaiserlichen Rom zur Zeit, wo Tacitus
schrieb, und gewissermaßen eine Ergänzung des Inhalts von dessen Schriften.
Wir bemerken noch, daß der Uebersetzung die Ausgabe der Satiren Petrons
von Bücheler zu Grunde liegt, die 1871 erschien, und daß dabei u. A. eine
Bearbeitung des Gastmahls von L. Storch benutzt worden ist.
Die bisherigen Uebersetzungen der Irrfahrten des vielgereisten Dulders
Odysseus gaben uns das Original in seinem eignen Versmaße, also in
Hexametern wieder. Man konnte meinen, das wäre selbstverständlich, zumal
die deutsche Sprache, wie Donner, Minkwitz und Jordan durch ihre Leistun¬
gen gezeigt haben, sich sehr wohl für dieses Metrum eignet. Die vorliegende
Uebersetzung hat einen andern Weg eingeschlagen, und das Ergebniß kann
nicht anders als sehr befriedigend genannt werden. Herr Schwarzschild hat
die italienische Stanze gewählt, und wenn er dies bei der Ilias nicht hätte
thun können, ohne der Urdichtung einen falschen Ton und ein unpassendes
Gewand zu geben, so liest sich unserer Meinung nach seine Verdeutschung in
gereimten Jamben ganz außerordentlich gut und sogar besser, als die ihr
vorangegangnen in Hexametern nachgedichteten. Es verhält sich eben anders
mit der Odyssee als mit der strengen, gepanzerten, gewaltigen Ilias. In ihr
ist die altklassische Würde und Hoheit aufs Innigste verschmolzen mit einer
wunderbaren Romantik, wie wir sie selbst bei den italienischen Dichterheroen
vergeblich suchen. Die sittliche Idee, welche sich durch das Ganze hindurch¬
zieht, leidet durch die vielfach eingewebten humoristischen Episoden durchaus
nicht. Die grausenvollsten Abenteuer wechseln mit den zartesten Idyllen, mit
den entzückendsten Naturmalereien. Nirgends ist die Rohheit der Völker, die
Grausamkeit und Wildheit der Menschen schreckensvoller, nirgends aber auch
sind ihre edlen Eigenschaften liebenswerther, die Gattentreue, die Mutterliebe,
die Ergebenheit alter Diener ergreifender und rührender dargestellt. Hier
aber ist die romantische, auch in der deutschen Sprache so wohltönende und
so natürlich klingende Stanze am Platze, Im Uebrigen ist der Uebersetzer
dem Urtext (er folgt der Ausgabe von Fache) nach Möglichkeit treu geblieben,
und da er mit sehr geringen Ausnahmen vortreffliche Verse macht, können
wir seine Arbeit nach allen Seiten hin empfehlen. Namentlich unter Frauen,
denen der Hexameter wie der ungereimte Vers überhaupt unsrer Erfahrung
nach immer unsympathisch fein wird, dürfte seine Uebersetzung Glück und für
Homer Propaganda machen.
Das ist Recht, daß unser bester leipziger Gelegenheitsdichter endlich ge>
wagt hat, mit dem Schönsten, was seine liebenswürdige Laune, seine schelmische
Ironie und sein immer vergnügter und vergnüglicher Witz ihm die Jahre
daher bescheerten, vor ein größeres Publikum zu treten. Er, hat durchaus
nicht zu fürchten, was er in den einleitenden Versen sagt, wenn er klagt:
„Wem kam nicht schmerzlich zu Gehöre
Das Loos unzähliger Tenöre?
Im trauten Zimmer, am Clavier,
Glückt mancher Ton und wirkt das Beste.
Nun treiben Muth und Ehrbegier
Zur Bühne, in Concertpaläste. —
Der Raum, wie weit! Die Welt, wie kalt!
Der Ton, der Künstler — er verhallt."
Die Welt wird nicht kalt bleiben vor diesen Gedichten, sie wird sie ihrer
Mehrzahl nach allerliebst finden, es wird ihr warm, traulich, im besten Sinne
gemüthlich dabei um's Herz werden, vor allen Dingen aber wird sie lachen
über den gesunden Humor, der hier so gewandt dem Klavier der Sprache
die unerwartetsten Klänge und Anklänge entlockt. Einige von den Scherzen,
welche der Cyklus „Fröhliche Liebe" umfaßt, hätte Goethe nicht anmuthiger
schaffen können. Ur. 5, „Vor der künftigen Wohnung" ist ein wahres
Kabinetsstück neckischer, niedlicher Behaglichkeit. Von den Gedichten der
zweiten Gruppe „Für liebe Freunde und freundliche Gelegenheiten" wird
namentlich das von der Kukuksuhr, sowie das an Karl Mathy gefallen,
doch wolle uns der Verfasser verzeihen, wenn wir bet letzterem die Weglassung
des Epithetons „preußische" vor dem Worte Verschwörung auf dem Titel
nicht nothwendig und in der Veränderung der ursprünglichen Zeilen in
Strophe 6:
„Hin nach Berlin den trutz'gen Denker ,
Nach Pansa hin den Mann der That"
keine Verbesserung zu finden vermögen. Ungemein komisch und originell sind
in dem Kapitel „Jocus" zunächst die „Deutschlands akademischen Jüng¬
lingen" gewidmeten Verse, wo es von dem strebsamenStudirenden U.A. heißt:
„Als Glück von beträchtlicher Größe
Erkennt's auch mit Dank sein Gemüth,
Wenn er sich geöffnet die Schöße
Achtbarer Familien sieht,"
dann der „Dithyrambus auf das Relative". Ebenfalls voll schnurrige Ein¬
fälle und drollige Wendungen endlich ist „Das Buch der Jahrtausende" eine
gereimte Weltgeschichte „der Nation als Lehrbuch, zum Selbstunterricht und
für das Freiwilligenexamen dargereicht." Den Schluß machen eine Anzahl
hübscher Räthsel. Wir empfehlen das kleine Buch als zu dem Besten gehörig,
was die neuere deutsche Dichtkunst auf dem Gebiete des schalkhaft-Anmuthiger
uns geboten hat, und sind überzeugt, daß unsere Leser uns für die Empfehlung
von Herzen dankbar sein werden, wenn sie die Bekanntschaft dieses liebens¬
würdigen Dichters machen.
Neun Aufsätze des bekannten Geschichtsforschers, die zur Aufhellung
verschiedener Punkte in der neuen Geschichte dienen, und von denen die meisten
allgemeines Interesse beanspruchen, was namentlich von den drei ersten gilt.
Ur. 1 der Abhandlungen, die zugleich von allen den größten Raum ein¬
nimmt, ist ein Beitrag „zur Geschichte der preußischen Politik in den Jahren
1830 und 1832", der uns die Stellung zeigt, welche die deutschen Haupt-
machte in jener Zeit zu den Umgestaltungen in Frankreich und Belgien so¬
wie zum Zollverein einnahmen. Ur. 2, „Preußen und das System der
Großmächte" betitelt, ist der Wiederabdruck einer 1849 erschienenen Flugschrift,
die durch die treffende und klare Darlegung, mit der sie schon damals das
nothwendige Programm der preußischen Politik in Betreff der deutschen Frage
aufstellte und entwickelte, in weiten Kreisen Sensation erregte. Die dritte
Abhandlung sodann, „Zur Geschichte der deutschen Partei in Deutschland"
behandelt eine Episode aus der Geschichte des Fürstenbundes und beleuchtet
vorzüglich den Einfluß, den Karl August von Weimar hier übte. Der
folgende Aufsatz: „Ein historischer Beitrag zur Lehre von den Congressen"
führt uns in die Zeit nach dem spanischen Erbfolgekriege zurück, wo die
Diplomatie an die Stelle der Entscheidung politischer Fragen durch Kriege,
die Entscheidung auf Congressen zu setzen bemüht war, was mit dem Auf¬
treten Friedrichs des Großen ein Ende nahm. Der nächstfolgende weist mit
Hülfe von Pariser Documenten nach, daß der bekannte Nymphenburger
Vertrag, angeblich 1741 zwischen Frankreich und Bayern abgeschlossen, niemals
existirt hat, sondern eine Fälschung ist. In der sechsten Abhandlung wird
die gewöhnliche Ansicht, als sei der Gedanke der Eroberung Schlesiens Frie-
drtch dem Großen plötzlich gekommen, zurückgewiesen und dargethan, daß
dieser schon vor dem Ableben des Kaisers nicht sowohl die aussichtslose
jülich'sche Succesion als vielmehr Schlesien, mit dem die sächsischen
Könige von Polen ihre Kurlande zu verbinden wünschten, im Auge
hatte, und daß er für diesen Preis Oesterreich gegen die der pragmatischen
Sanction feindlichen Mächte zu unterstützen bereit war. daß man aber in
Wien andere Absichten verfolgte. Der siebente Aufsatz geht wieder in etwas
frühere Zeiten zurück, indem er uns mit dem im Wiener Vertrag von
1719 abgeschlossnen, von Georg dem Ersten von England angeregten Bünd¬
nisse Oesterreichs, Großbritanniens und Sachsen-Polens bekannt macht, welches
auf die Bekriegung und Verkleinerung Preußens für den Fall abzielte, daß
dieses der Erwerbung Mecklenburgs durch Hannover nicht zustimmen sollte —
ein Bündniß, welches nach wenigen Monaten sich auflößte, als nach dem Tode
Karls des Zwölften England den Beistand Preußens bedürfte, um den Frieden
zu Stande zu bringen. Die beiden andern Aufsätze sind nur für Historiker von
Fach bestimmt. Der eine gibt eine Charakteristik Pufendorfs, des Geschichts¬
schreibers Friedrich Wilhelms des großen Kurfürsten, der andere beschäftigt
sich mit der jültch'schen Erbfolgefrage, deren Phasen der Verfasser bei Be¬
trachtung einer dieselbe behandelnden Flugschrift, des Stralendorff'schen Gut¬
achtens, vor uns entwickelt. Alle diese Gegenstände sind mit dem Talente
für Auflösung und Klärung auch der verwickeltsten und dunkelsten Fragen
behandelt, welches wir bei dem Verfasser der „Geschichte der preußischen Po¬
litik" immer zu finden gewohnt sind, aber auch mit der ihm gleichfalls eigenen
Trockenheit und Nüchternheit, die Menschen und Dinge nur ausnahmsweise
und dann nur kurz schildert und charakterifirt.
Diese Schrift, welche das 6. Heft des ersten Bandes der „Zeitfragen des
christlichen Volkslebens" bildet, bespricht den vom Titel genannten Streit
vom Standpunkte der Partei der süddeutschen „Reichspost", d. h. der protestan¬
tischen Gegner der Maigesetze, doch in gemäßigter Weife, sieht allerlei traurige
Wirkungen des Kampfes der „Omnipotenz" des Staates mit der nach dem
Verfasser ihm gleichberechtigt nebengeordneten Kirche und prophezeit noch mehr
Unheil. .Wenn die Regierung sagt: wir können nicht einlenken; denn es
handelt sich um die Souveränetät des preußischen Staates, so werden die
Bischöfe antworten: und wir können es nicht; denn es handelt sich um die
Selbständigkeit der Kirche, um die Existenz der römischen Kirche in Deutsch¬
land. Damit kommen wir .nicht weiter. Aber damit würden wir weiter
kommen, wenn jeder Theil nicht zuerst von dem andern erwartete, sondern
bei sich selbst damit anfinge, sich des Volkes jammern zu lassen, die Einen
darum, daß es verwildert, die Andern darum, daß ihm das Brod des Lebens
so theuer wird. Und wenn darin beide wetteiferten, dann würde kaum noch
die Frage entstehen. welcher von beiden Theilen zuerst die Hand zum Frieden
bieten solle." Wir sagen dazu: auch damit kommen wir nicht weiter; denn
das sind allgemeine Redensarten. Der Staat verlangt, daß die Kirche seinen
Zwecken nicht entgegentrete, daß sie sich nur um sich, nur um überirdische,
nicht um weltliche Dinge kümmere; die Kirche hat diesem Verlangen zu ent¬
sprechen, dem Kaiser zu geben was des Kaisers ist, die Macht und Gewalt
in allem, was nicht zum Dogma gehört, und wenn etwas zum Dogma ge-
macht worden ist; was staatsfeindlich ist, so hat sie dem Staate auch dies
zu opfern. Wir dulden die Polygamie der Mormonen nicht, wir dulden
auch keine Mitregierung des Romanismus in staatlichen Angelegenheiten.
Entsteht daraus Schaden für die Kirche, so fällt die Schuld daran nicht dem
Staate, sondern der Herrschsucht Roms und der Verblendung seiner Anhänger
in Deutschland zur Last.
Es hat wenige Staatsmänner gegeben, welche einen so entscheidenden
Einfluß auf das Schicksal ihres Volkes ausgeübt haben, wie Rudolph
Johann Thorbecke. Nicht die Verhältnisse des niederländischen Staates
seinen Nachbarn oder zu Europa wurden durch diesen Staatsmann be¬
stimmend geleitet, denn Holland war nicht mehr wie in vergangenen Tagen in
der Lage. Einfluß auf die Geschicke unseres Welttheils auszuüben. Aber das innere
politische Leben des Volkes wurde durch Thorbecke eine Zeit lang, und zwar
glücklich, beherrscht. Wir sehen an ihm ein Beispiel, wie ein Mann aus
^ner immerhin schlichten Umgebung, durch die Macht seiner Ueberzeugung
und seiner Lehre einerseits, und die Lage der Umstände andrerseits, hervor¬
zutreten vermag, um der Führer seines Volkes in schwieriger Zeit zu werden.
Wir sehen die Aristokratie des Geistes zur Regierungsmaxime sich empor¬
arbeiten und eine kurze Zeit zur vollen Blüthe gelangen, um dann durch den
Einfluß kleinlicher, widerstrebender Sonderinteressen gelähmt und zur Seite
geschoben zu werden.
Thorbecke wurde im Jahre 1798 in Zwolle als Kind bürgerlicher Eltern
geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums studirte er in den Jahren
1815—17 am Athenaeum zu Amsterdam und dann bis 1820 an der Leidener
Universität. Von dort ging er einige Zeit nach Deutschland, insbesondere
"och Göttingen, um das Studium der Staatsrechtswissenschaften fortzusetzen.
Hier wurde er mit der historischen Schule bekannt, die einen überwiegenden
^"fluß auf seine spätere Entwickelung ausübte. Wieder ins Vaterland zu-
^ckgekehrt erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität zu Gent, und nach
belgischen Revolution, zu Leiden. Diese Zeit der sich vorbereitenden und
^ziehenden Trennung der südlichen von der nördlichen Hälfte der Nieder¬
lande war auch für Thorbecke eine Zeit des entstehenden Zweifels an dem
^her befolgten Regierungsprincip, an der Heilsamkeit des in seinem speciellen
Nördlichen niederländischen Vaterlande herrschenden Ideen. Aber er kann
sich noch nicht losreißen von der Tradition, von dem Einfluß der aufgeregten
Menge, die sich dem Liberalismus und dem damit verbundenen Ultramon^
tanismus der Belgier gegenüber um den König und dessen Politik schaart.
Der Liberalismus ist ihm die fortgesetzte Revolution. Er schreibt darüber
an Groen van Prinsterer: „Man klagt, daß der revolutionäre Geist bei den
Unterthanen noch immer nicht zum Stillstand gekommen ist. Aber aus
welchem Grund erwartet man politische Gelassenheit, wenn die Regierung
selbst nach denselben revolutionären Prinzipien handelt? Oder wie ist es
anders zu erklären, wenn die Regierung glaubt, sich unbedingt fügen zu
müssen in das Verlangen einer eingebildeten oder wirklichen Majorität der
Einwohner?" „Ich glaube, daß es nur in wenigen Fällen für eine Regierung
paßt, sich in einen Prozeß vor dem Gericht der öffentlichen Meinung hinein¬
schleppen zu lassen. Der Enthusiasmus der Volks- und Freiheitsvertheidiger
wird nicht länger anhalten, als man demselben Aufmerksamkeit schenkt."
Aus der Correspondenz, welche Thorbecke in den Jahren 1830—1832 mit,
Groen van Prinsterer geführt hat, erhellt deutlich, daß er sich damals, wenn
auch nicht so überzeugungsvoll, doch ganz auf dem antirevolutionären Stand¬
punkte Groen's befand, dem dieser bis zu seinem Ende treu geblieben ist.
Der König zeigte sich bekanntlich geneigt, den belgischen Liberalen Con¬
cessionen zu machen, um sich mit mehr Kraft gegen die Ultramontanen wenden
zu können. Thorbecke hält das für einen Fehler. Er war ein Gegner des
Liberalismus; er wollte, der König Wilhelm I. sollte ihn durch kräftige
Mittel im Zaume halten; er wirft der Regierung Schwäche vor: „Sehr
wünschenswert!) würde es nach meiner Meinung gewesen sein, daß es nicht
so weit gekommen wäre, um solche strenge Maßregeln nöthig zu machen.
Ein geringer Theil der Festigkeit und Strenge, die man zuletzt in vollem
Maße angewandt hat, würde, frühzeitig gezeigt, vielleicht hinreichend gewesen
sein, den gewünschten Erfolg zu erlangen." Aber auch in Bezug auf die
Thätigkeit der katholischen Geistlichkeit hat Thorbecke sich nicht allein damals,
sondern auch noch später gänzlich getäuscht. Er hat dieser Illusion auch
dann noch nicht entsagt, als ihm der Ultramontanismus, nachdem er mit
Thorbecke's Hülfe zu einer herrschenden Macht geworden war, den Rücken
wandte und ihn mit Schmähungen überhäufte. In so fern hielt Thorbecke
an dem Irrthum der Besten seiner Zeitgenossen fest. Hätte König Wilhelm
sich dazu entschließen können, sein Land in wirklich liberaler Weise zu regieren,
so daß er die liberale Partei in Belgien zufrieden gestellt hätte, vielleicht
wäre die Trennung zwischen Süden und Norden nicht erfolgt und Belgien
wäre vor der Herrschaft der Jesuiten behütet worden. Aber der in den ^
Nordniederlanden herrschende Geist und der autokratische Character des Königs
konnten sich dazu nicht verstehen. Die Belgier klagten fortwährend über un-
rechtmäßige Behandlung und Nerfassungsverletzungen seitens des Königs,
der von seinen nördlichen Unterthanen in seinen Handlungen unterstützt
wurde. Die Holländer klagten nach dem Ausbruch des Aufstandes über Ver¬
letzung der Verträge des Wiener Congresses. Sie drangen in den König
nicht nachzugeben und die Hülfe der Großmächte zu verlangen. Dieser An¬
sicht war auch Thorbecke. Doch konnte er sich gleichzeitig des Gedankens
nicht erwehren, daß eine Wiedervereinigung unmöglich geworden sei, wenn
nicht die Regierung nach aller Kraft darnach strebe, Belgien der Dynastie
der Oranier zu erhalten. Ader auch dieser Hoffnung muß er schließlich ent¬
sagen; er meint, die Großmächte seien durch das Überhandnehmen des revo¬
lutionären Zeitgeistes gezwungen, alle Forderungen Belgiens zu unterstützen.
Endlich rückt die holländische Armee gegen die belgische, und eine französische
Armee kommt der letztern zu Hülfe. Die Holländer müssen sich zurückziehen,
und die Londoner Conferenz macht Friedensbedingungen, welche der König
Wilhelm nicht annehmen will. „Ich glaube", schreibt Thorbecke, „wir müssen
die Kosacken und die englische Flotte abwarten, die uns dazu (zur Annahm?
dieser Bedingungen) zwingen sollen." Man weiß, daß der König noch acht
Jahre lang zum größten Schaden seines Landes und unter wachsender Un¬
zufriedenheit der Holländer gezaudert hat.
Daß der König und die Holländer die Trennung von Belgien so langsam
verwinden konnten, trotzdem sie die Unmöglichkeit der Vereinigung schon bald
nach dem Aufstand im August 1830 einsahen, lag vielleicht daran, daß der
König und die Königsmacher, die ihn auf den Thron gehoben, noch im Jahre
1813 von der Vereinigung aller Niederlande im Norden geschwärmt hatten. Das
Volk hatte sich freilich an dieser Art von Schwärmerei in keiner Weise betheiligt.
Als die Trennung sich nun vorbereitete und vollzog, erklärten die¬
selben Königsmacher, daß Belgien durch den Wiener Congreß den
Holländern gewissermaßen aufgedrungen worden sei, so namentlich im
^ahre 1829 der Graf van Hogendorp, der eifrigste der manischen Partei¬
führer des Jahres 1813, welcher nun, da die Trauben sauer wurden, be¬
hauptete, daß bei der Bereinigung „unser Wille nicht in Betracht gezogen
Wurde." Diese Behauptung wagte er, obwohl von demselben Hogendorp,
wahrscheinlich schon im Jahre 1812 ein Memorandum ausgearbeitet, jeden¬
falls aber im November des Jahres 1813 dem englischen Cabinet überreicht
Wurde, in welchem Belgien und Theile Deutschlands für Holland verlangt
wurden, Thorbecke scheint diese Thatsache damals noch nicht gekannt zu
^ben, aber im Jahre 1860, in Veranlassung des Erscheinens der Corre-
spondenz Falk's (der ebenfalls 1813 zu der Erhebung Oranien's und der
Reinigung mit Belgien sehr viel beigetragen hatte) schrieb er „die Ver¬
ätzung aller Niederlande ist bis jetzt gewöhnlich betrachtet worden als
eine uns durch die Großmächte aufgedrungene Verfügung und als eine Be->
friedigung der Erwerbungssucht der Dynastie. Sie wurde aber, ehe die
Diplomatie und das Haus Oranien sich geltend machen konnten, wenig¬
stens schon 1812. zugleich mit dem Gedanken an unsere Befreiung, durch
Falk, als sein Lieblingsplan, mit Professor van Lennep verbreitet." Trotzdem
ist noch jetzt diese unhistorische Vorstellung in Holland vielfach verbreitet
und der „Gids" (die angesehenste Wochenschrift in Holland) schreibt noch im
Juni dieses Jahres, daß die Reaction, die sich in der Bildung der heiligen
Allianz äußerte, an der Zusammensetzung des Königsreichs der Niederlande
durch den Wiener Congreß schuld sei. Eine derartige Vorstellung ist freilich
in allen Theilen falsch.
Die Trennung von Belgien war also eine vollendete Thatsache und
Thorbecke war seit dem Aufstande als Professor des Staatsrechtes in Leiden
angestellt worden. Obgleich Gegner des Liberalismus, sieht er doch die
Fehler der Verfassung; aber seine Ansichten über die nothwendigen Reformen
treten nur schüchtern und allmählich hervor. In der Stille vollzieht sich bei
ihm eine Entwickelung, die im Jahre 1839 und auch da noch nicht voll¬
ständig abgeschlossen wurde. In diesem Jahre tritt er mit seinem bedeutend¬
sten Werke: Bemerkungen zum Grundgesetz (^auteeKsumA ok as Kronäroet),
in die Oeffentlichkeit. In diesem Werke unternimmt er eine Kritik des alten
Grundgesetzes von 1815 und liefert das Material für eine neue Staatsver¬
fassung. Das Buch erregte ungeheures Aufsehen, denn es brach mit dem
Bestehenden und Trationellen, an dem die Holländer immer mit großer Vor¬
liebe gehangen hatten. Thorbecke zeigte sich hier als Vorkämpfer des Libe¬
ralismus und als Gegner der autokratischen Regierung des Königs. Manchem
gebildeten Holländer war seit der Trennung von Belgien der Gedanke ge'
kommen, daß die belgischen Liberalen in ihren Forderungen nicht so ganz
unrecht gehabt hätten und daß Vieles faul im Staate sei. Thorbecke hatte
durch seine Vorlesungen bei vielen selner Schüler die Theilnahmlosigkeit an
der politischen Entwickelung des Landes verscheucht und ihnen seine werdenden
Ideen eingeprägt. Die Erscheinung seiner „Bemerkungen zum Grundgesetz"
brachte diese gährenden Elemente in Fluß, und der Verfasser wurde sofort
als der Führer des zu schaffenden jungen Hollands erkannt.'
Wie war aber diese gänzliche Umwandlung in dem Geiste Thorbeckes
selbst entstanden? Der historischen Schule treu, wollte er den bestehenden
Zustand Hollands, der ihm durchaus ungenügend vorkam, aus der Vergan¬
genheit erklären. Er spürte nach den Ursachen des Verfalls, und er fand die
Keime schon in der Entstehungsperiode der Republik.
Seine „historischen Skizzen" — Aufsätze, die er in verschiedenen Zeit¬
schriften veröffentlichte - geben uns Aufschluß über die Resultate seiner
Untersuchungen, und zeigen uns zugleich auch den Weg, auf dem er zu seinen
liberalen Ueberzeugungen gekommen ist. Schon im Jahre 1826 schrieb er an
Groen: „Bei der glücklichsten Freiheit und Staatsform sind wir doch
andern Nationen gegenüber 25 oder 30 Jahre zurückgeblieben." Und dennoch
konnte sich Thorbecke noch im Jahre 1830 von der antirevolutionären Idee
nicht frei machen, die sich in seinen Worten äußert: „Der König muß thun,
nicht was die Nation verlangt, sondern was Recht ist." Diese Idee hat ihn
nie ganz verlassen, er ist ein Gegner der Volkssouveränetät geblieben, und
doch wich er als Minister im Jahre 1853 vor der Volksstimme, weil der
König ihn nicht gegen dieselbe zu stützen wagte. Eine parlamentarische Re¬
gierung lag nicht in seiner Absicht und im September 1849 erkannte er noch
in der zweiten Kammer an „das eigenartige constitutionelle Uebergewicht des
Einflusses der Regierung." Aber die durch ihn schon geschaffenene Konstitution
leitete logisch und factisch zum Parlamentarismus, und wenn das Ministerium
Thorbecke ein Uebergewicht auf die Nation ausübte, so war es nicht, weil
es von der Regierung, sondern von Thorbecke als dem eminenten Haupte der
liberalen Partei ausging.
Bei seinem Auftreten an der Leidener Universität nach der belgischen
Revolution klagt Thorbecke: „Soweit ich bemerken konnte, besteht hier bei
den Studenten weder eine Meinung über Politik, noch ein Interesse an politischen
Gegenständen." Für einen Lehrer der Staatswissenschaft muß eine solche
Erfahrung an der Blüthe des Volkes schmerzlich sein. Warum war der Ge¬
meinsinn aus dem Volke verschwunden? Hatte er in frühern Zeiten geherrscht
und wie hatte er sich geäußert? Thorbecke sah in der Geschichte seines Va¬
terlandes ein Volk fast plötzlich eine große Kraft entfalten, mit großer That¬
kraft und Einigkeit die Tyrannei eines fremden Herrschers abschütteln, sich
trotz seines kleinen Gebietes und seiner geringen Zahl zu einer Großmacht
emporschwingen, dann aber stufenweise von dieser Höhe herabsteigen, bis es
zur Bedeutungslosigkeit hinabgesunken war und selbst seine Unabhängigkeit
verloren hatte. Nur ein paar mal gelang es, die alte Herrlichkeit wieder
scheinen zu lassen, aber ohne nachhaltige Wirkung. Dieselbe Staatsform
hatte den Aufgang sowohl, wie den Niedergang der Republik beherrscht.
Die Union von Utrecht vom Jahre 1679 war bis 1795 die Constitution
des Landes gewesen. Sie hatte zugleich Großes und Klägliches geleistet.
Aber der Zustand des Landes wurde je länger desto schlimmer. Die Macht
der Republik sank fortwährend im Ansehen, so daß sie ein Spielball in den
Händen Anderer wurde. Unendliches Parteigezänk löste alle Bande, welche
die Republik bisher zusammengehalteri hatten, und die Parteien vergaßen sich in
ihrem Haß so sehr, daß sie fremde Hülfe und Heere zur Erreichung ihrer
Pläne in's Land riefen. Frankreich ließ die Partei der Patrioten im Stich,
und Preußen eroberte das Land in wenigen Tagen und fast ohne Wider¬
stand für den Prinzen von Oranien. Eine fremde Macht nöthigte ihren
Willen denjenigen auf, die noch kurz vorher sich hoch über ihre Feinde erhaben
dünkten, jetzt aber nicht den Muth hatten, für ihre Ueberzeugung ein Opfer
zu bringen.
Acht Jahre später fand dasselbe schmähliche Schauspiel statt, nur mit
dem Unterschiede, daß die Franzosen zur Vertreibung des Erbstatthalters
in's Land gerufen wurden, und daß die Folgen dieser gänzlich un¬
blutigen Invasion zur völligen Vernichtung der Republik führten. Die
batavische Republik zeigte sich lebensunfähig. Das Königreich Holland
starb trotz der wohlmeinenden Anstrengungen Ludwig Napoleons an Kraft¬
losigkeit. Die Einverleibung in Frankreich erfolgte. Thorbecke äußert sich
über diese Periode: „Man wendet seinen Blick gerne von einem solchen Schau¬
spiel ab, und doch ist es weniger heilsam, unsere Größe zu bewundern, als
unsere Schwäche zu betrachten. Gutgesinnte, ihr Land aufrichtig liebende
Männer bringen aus Angst Eid, Pflicht, Ueberzeugung und Ehre zum
Schweigen, um einen König zu verlangen, den sie nicht wollen. Eine Er¬
scheinung, die nicht die erste und einzige in unserer politischen Geschichte ist.
.... Diejenigen, welche damals lebten, hielten unsere Unterwerfung unter einen
fremden König und ein fremdes Gesetz für die alleinige oder hauptsächliche
Folge von Napoleons Uebermuth und Gewalt. Wir stehen den Ereignissen
ferne genug, um sie im Zusammenhang mit der ganzen Reihe Begebenheiten
seit 1793 zu betrachten. Wie schmerzlich auch der Zweifel sei, wagt Jemand
von uns zu behaupten, daß wir ein besseres Loos verdienten? Würde es
uns geholfen haben, wenn wir selbständig geblieben wären? Die Verwir¬
rung bei uns würde noch unendlich größer und ohne Ende gewesen sein.
Unser Unglück kam nicht in Begleitung oder mit der Herrschaft der Franzosen,
sondern es kam daher, daß wir unsere Reform ohne sie nicht ausführen
konnten." Es war eine traurige Zeit, wo man einen Fremdling sich zum
König erbat, da man sich selbst nicht mehr regieren konnte, und wo man
diesen König mit Jubel empfing. Noch trauriger war es, daß man diesen König
in seinen Plänen für die Unabhängigkeit des Landes nicht zu unterstützen wagte.
Dennoch war die Einverleibung Hollands in Frankreich nicht ohne
Segen für die Zukunft, denn durch sie allein war eine gänzliche Umgestal¬
tung der durch und durch verrotteten Zustände möglich; ohne sie würde
die alte Wirthschaft wohl niemals rein ausgefegt worden sein; finden sich
die Spuren derselben doch auch jetzt noch! Aeußerlich in der Form ist Alles
zwar ganz anders geworden, aber in. den selten und Gewohnheiten des
Volkes ist noch ein beträchtlicher Nest lebendig geblieben. Auch in andern
Ländern hatte die französische Herrschaft Vieles, was faul war, beseitigt, und auch
andere Völker mußten sich die Fremdherrschaft gefallen lassen. Aber vielleicht
nirgendwo fügte man sich so willig, als in Holland, und als endlich das
übrige ganze Europa gegen Napoleon in die Waffen trat, als die siegenden
Verbündeten auch zur Befreiung der Niederlande heranrückten, da hatten die
Holländer nicht den Muth, selbst zur Befreiung der Fremdherrschaft mitzu¬
wirken. Als die Franzosen abgezogen waren, wollten sie das Land im
Namen Napoleons weiter verwalten, da sie sich vor einer möglichen Rückkehr
des Kaisers fürchteten. Nur einem halben Dutzend Männern gelang es mit
vieler Mühe, eine Bewegung zu Gunsten des Prinzen von Oranien hervor zu
bringen, diesen aus England zu berufen und zum souveränen Fürsten zu proclamiren.
Die Vereinigung Hollands mit Belgien, deren Lösung Thorbecke noch
im Jahre 1830 widerstrebte, wurde später von ihm als ein Fehler betrachtet.
Es ist eigenthümlich, wie geschickt der Prinz von Oranien und seine Rath¬
geber die Früchte der Siege der Verbündeten zu ernten wußten, ohne daß
sie sich zur Erlangung derselben die geringste Mühe gaben. Aber Wilhelm I.
war ein schlauer Kopf, der die Gelegenheit zu benutzen wußte und sich zu¬
eignete, was er eben greifen konnte, ohne in den Mitteln sehr wählerisch zu
sein. Als er bei seiner Ankunft in Holland im November 1813 sah, daß
man rathlos war, welche Form man dem wieder selbständig gewordenen
Lande geben wollte, nahm er gleich den Titel eines souveränen Fürsten und
bald darauf den eines Königs an. Er gab dem Lande eine Verfassung —
1814 eine für Holland und 1813 eine für die Vereinigten Niederlande —
und erklärte sie trotz des allgemeinen Widerstandes der Belgier für gültig.
Hätte er nach dieser Verfassung regiert, dann hätte er vielleicht die Abneigung
der Belgier überwunden, aber er verletzte immer wieder diese Constitution.
In Holland war das politische Leben erstorben und König Wilhelm hütete
sich, es wieder zu erwecken, denn er wollte allein regieren. Im Norden des
Landes fügte man sich willig dem autokratischen Regiments, aber im Süden
wuchs der Widerstand, bis er in die offene Revolution ausbrach.
Thorbecke sagt über diese Zeit: „Nicht Theilnahme, sondern Enthaltung
schien Bürgerpflicht zu sein. Die Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit,
ohne viel Streit oder Mühe erlangt, die Rückkehr eines nationalen, popu¬
lären Oberhauptes, waren ein so großer überströmender Segen, daß Niemand
daran dachte, über die Art der Regierung zu unterhandeln mit einer Macht,
von der man sich nur Wohlthaten und Hebung des allgemeinen Wohlstandes
versprach." Das Volk und das Bürgerthum, welche auch in den Zeiten der
Republik keinen Einfluß auf die Regierung gehabt hatten, dachten auch jetzt
nicht daran, ihn zu erlangen. Die Negierungsfamilien suchte der König durch
Verleihung alter, unter der französischen Herrschaft vernichteter Vorrechte an sich
zu fesseln. „Anstatt der Tüchtigkeit und Charakterstärke drängten sich Tradition
und Selbstsucht in den Vordergrund." „Man schlug das goldene Buch der
Republik wieder auf, um darin Ansprüche zu suchen zur Erlangung von Vor¬
rechten und Vorrang, wobei das Wohl Aller demjenigen Weniger weichen
mußte." „Wir waren, wie ein großer Theil des westlichen Europas, in einen
andern, bisher durch Fremdherrschaft gestörten Lebenskreis getreten, dessen
Rechte und Pflichten wir kennen lernen mußten. War die Zeit dazu
noch nicht gekommen? Wenn in andern Ländern und in Frankreich
selbst, gleich nach dem Ende der Napoleonischen Tyrannei, sich ein
starker Drang nach materiellem und sittlichem Fortschritt offenbarte, was durfte
man sich nicht für Niederland versprechen? Kein Land stand in einer so
hohen allgemeinen Gunst; wir schienen bei der glücklichsten Vereinigung aller
Bedingungen von Recht, Ordnung und Wohlfahrt, dazu bestimmt ein Modell¬
staat zu werden. Man erinnerte sich unserer großen Männer; des Lichtes,
welches hier schien, als es anderswo noch dunkel war; des Schutzes, dessen
man hier stets theilhaftig wurde; des niederländischen Unternehmungsgeistes
unseres Einflusses zu Land und auf allen Meeren. Wenn dieses kleine Volk,
trotz seines oltgarchischen und kirchlichen Zwiespaltes, früher Größeres als
manche große Monarchie geleistet hatte, was durfte man nun nicht auf der
großen Bahn der konstitutionellen Freiheit von ihm erwarten? Wirklich sah
Jeder bei der Wiedergeburt unserer Unabhängigkeit das Erwachen und die
Stärkung einer lang zurückgedrängten Kraft. Das Gegentheil fand statt.
Wir waren so lange unthätig gewesen und blieben es."
Die Erkenntniß, daß sein Vaterland, das einst eine so bedeutende und
ruhmvolle Rolle in der Geschichte gespielt hatte, das geistig und materiell
andern Ländern voraus gewesen war, jetzt einem allgemeinen Verfall preis¬
gegeben war und sich daraus nicht erheben konnte: diese Erkenntniß hatte
Thorbecke in den dreißiger Jahren dazu gebracht, historisch die Ursachen dieses
Rückschrittes zu untersuchen, und wir sehen, wie er ohne Zaudern die Mängel
des niederländischen Staats- und Volkslebens aufdeckt. Er hielt seiner Nation
rücksichtslos ein Spiegelbild ihrer Sünden vor und zeigte ihr, wie sie sich
wieder zu Besserem erheben könne. Der Ursprung der Freiheit der Nieder¬
lande, die Union von Utrecht, hätte, nachdem der Staat sich gebildet hatte,
nach den veränderten Umständen auch verändert werden müssen. Verschiedene
Male hat man Versuche dazu gemacht, die aber jedesmal an dem Eigennutz
der Einzelnen gescheitert sind. Das allgemeine Wohl wurde bei Seite ge¬
schoben und die Selbstsucht regierte. Das mußte anders werden. Der Ein¬
zelne war doch nur ein Theil des ganzen Volkes und das Volk ein Theil
der Menschheit. Der Erfüllung der Pflichten, welche Jeder dem Allgemeinen
gegenüber hatte, mußte man sich wieder unterziehen, und der Staat, als
Ausdruck des Willens Aller, stand über den einzelnen Theilen. Durch An-
Haltung des Volkes zur Erfüllung seiner Pflichten als Staatsbürger, will
Thorbecke seine Kraft entwickeln und jeden Einzelnen zu selbständigem Handeln
anspornen. Später äußert er sich: „Es ist das Kennzeichen eines liberalen
Staates und einer liberalen Regierung, daß sie die Entwickelung der selb¬
ständigen Kraft befördern, selbständiger Kraft in Provinz, Gemeine, Ver¬
einigung und Individuum. Befördern heißt, die allgemeinen Bedingungen
schaffen, unter denen die Entwickelung möglich ist. Will das heißen, daß der
Staat für Alles zu sorgen, alle Leiden und Fehler der Gesellschaft zu heilen
habe?.....Ein erstes Gesetz ist Enthaltung, Enthaltung von dem, was
außer seinem Beruf als Rechtsvereinigung liegt."
So wirkte Thorbecke als Lehrer der academischen Jugend in Leiden.
Dort fand er viele begeisterte Anhänger, freilich auch manche Feinde. Denn
abgesehen davon, daß er mit den liebgewonnenen Traditionen des Volkes
brach, daß die Selbstsucht einen entschiedenen Gegner in ihm sah: so hatte
Thorbecke den Umstand gegen sich, daß seine persönliche Erscheinung im ersten
Augenblick eher abstoßend als einnehmend wirkte. Er gehörte nicht zu den
Menschen, die man gewöhnlich liebenswürdig nennt. Er war manchmal schroff
und rücksichtslos; dagegen verschwand diese Seite seiner Persönlichkeit bei
näherer Bekanntschaft gänzlich vor den übrigen glänzenden Eigenschaften seines
Geistes und Charakters. Seine „Bemerkungen zum Grundgesetz" brachten
ihm auch in weiten Kreisen viele Freunde, und im Jahre 1848 wurde er
von den Provinzialstaaten von Südholland zur zweiten Kammer gewählt.
Hier fand er aber durchaus keine Unterstützung für seine Pläne zur Verän¬
derung der Verfassung, und als er im Jahre 1844 mit 8 Gesinnungsgenossen
einen weitern Antrag in dieser Richtung stellte, drang er auch damit nicht
durch. Die übrigen Kammermitglieder verschanzten sich hinter Traditionen
und Gewohnheiten und fanden es unpassend, daß von der Kammer eine Ver¬
fassungsveränderung vorgeschlagen würde. Thorbecke sagt: „Wenn man seit
einiger Zeit mit so viel Aufhebens von niederländischen Sinn oder nieder¬
ländischen Prinzipien sprechen hört, so ist es unmöglich, nicht an den schmeicheln¬
den Wahn einer Nation des alten Testamentes zu denken, daß für sie und
ihre Regierung ein besonderer Gott in der Welt wäre. Natürlich thut jedes
Volk das, was es thut, in seiner Weise. Aber diese Weise zeigt sich aus
Thun, aus der Ausübung. Ich begreife, daß man sprechen kann von
den Prinzipien einer niederländischen Kunst oder Wissenschaft, sobald wir eine
bestehende niederländische Kunst oder Wissenschaft haben. Aber woher holt man
^ehe Reihe von niederländischen Prinzipien? Aus der Erinnerung? Mit der
Erinnerung regiert man eben so wenig, wie man den Hunger mit der Mahl-
ieit von gestern stillt. Ist nur das vaterländisch, was bet uns besteht oder
bestand? Jede Erneuerung oder Veränderung arti-niederländisch? Unsere
Zeit wird durch neuentstehende allgemeine Kräfte in Wissenschaft, Kunst und
Industrie sowohl, wie in Staatenbildung beherrscht. Uns in solcher Zeit
Absonderung vorzuschreiben, hieße unser Todesurtheil aussprechen."
Die Folge dieses Vorgehens war für Thorbecke, daß er nicht wieder in
die Kammer gewählt wurde. Man sah die Nothwendigkeit zur Veränderung
der Staatsverfassung noch lange nicht allgemein ein. und es bedürfte erst der
Einwirkung von Außen, um diese zu Stande zu bringen.
Diese Einwirkung brachten die immer höher gehenden Wogen der poli¬
tischen Erregung im übrigen Europa, und in der Thronrede bei Eröffnung
der Kammern, Oct. 1847. erkennt selbst der König Wilhelm II. die Noth,
wendtgkeit einer Aenderung der Constitution, an. Eine dazu am 8. März des
folgenden Jahres gemachte Regierungsvorlage entsprach indessen so wenig den
eingetretenen Ereignissen und der in Folge derselben veränderten Meinung
in den Niederlanden, daß der König schon nach acht Tagen zu weiteren Con¬
cessionen sich entschloß. Nun wurde von den Kennern eine ganz im Geiste
Thorbecke's gehaltene Verfassung berathschlagt und angenommen. Der Ein¬
fluß der Gegner Thorbecke's, die ihn überall zu verleumden suchten, war
indessen noch stark genug, ihn von der Regierung selbst fern zu halten, und
erst im Herbste 1849 sah der König keinen andern Ausweg, als den ihm als
seinen Feind geschilderten Mann zum Minister zu berufen.
Zur Kennzeichnung des Verlaufs und der leitenden Ursachen dieser
Staatsreform ist eine Aeußerung Thorbecke's sehr treffend: „Wenn wir sagen
(nämlich in der Antwort auf die Thronrede Febr. 1849): „Als Euer Majestät
königliches Wort die Reform beschloß", dann zielt dieses augenscheinlich auf
den Anfang, auf den ersten Stoß, dessen erstes Ergebniß das veränderte
Grundgesetz gewesen ist. Dieser Ausdruck sagt durchaus nicht, daß der König
allein, unter Beseitigung der gesetzlichen Mitwirkung und Formen, das Grund¬
gesetz verändert hat und Niederland eine neue Constitution gegeben. Der
Vorredner legt ein besonders Gewicht darauf, daß die Reform bei uns zu
Stande gebracht wurde, ohne daß ein Fuß auf revolutionäres Gebiet gesetzt
wurde. Ich bekenne, daß ich das Wort Revolution, Umwälzung, nicht in
dem beschränkten Sinn des geachteten Redners auffaßte. Revolution ist Ver¬
änderung von Grundsätzen, die mit oder ohne Verletzung der gesetzlichen
Formen stattfinden kann. Was ist nun bei uns geschehen? Hat nicht der König
im Monat März des vorigen Jahres die Initiative ergriffen. Hat nicht das
königliche Wort beschlossen, daß die Reform wirklich begonnen wurde? Ich
meinestheils wage nicht zu versichern, daß ohne dieses Wort die Veränderung
des Grundgesetzes, welche ein neues Grundgesetz geschaffen hat, durch die
vorige Kammer zu Stande gebracht worden sei." Aus diesen Worten geht her¬
vor, daß die Constitution nicht in Folge eines allgemein stark und tief gefühlten
Bedürfnisses entstanden ist, sondern die Maßregel eines verständigen Fürsten
war, der, die Zeichen der Zeit wohl beobachtend, freiwillig dasjenige gab, was
man vielleicht später von ihm gefordert hätte.
Thorbecke blieb bis zum April 1853 Minister des Innern und Leiter
der Regierung. Diese Zeit ist seine Glanzperiode, da sein Einfluß von da
ab nach und nach sinkt. Nachdem die neue Constitution geschaffen war
und man daran ging den ganzen Staatsorganismus zu erneuern, wagten
steh wieder die Parteileidenschaften und der Eigennutz des Einzelnen hervor.
Die kirchlichen Parteien brachten das erste Ministerium Thorbecke's zum
Sturz, Bei der ausgesprochenen Trennung zwischen Kirche und Staat, be¬
eilte sich die römische Curie die Hierarchie in die ihr verliehene vollkommene
Freiheit wieder einzuführen. Der Papst überhäufte die neue Constitution,
obgleich sie der katholischen Kirche jede Freiheit ließ, mit heftigen Schmähungen.
Das erweckte den Argwohn und den Zorn der Calvinisten, die das Land
von den päpstlichen Anmaßungen bedroht sahen. Eine allgemeine Agitation
erfolgte, und der König sah sich genöthigt, den Calvinisten beruhigende Zu-
sicherungen zu geben. Thorbecke, über diesen Schritt des Königs unzufrieden
nahm seine Entlassung.
Im Jahre 1849 glaubte Thorbecke noch, die Partetungen im Lande
hätten aufgehört. In dieser Täuschung konnte er aber nicht lange bleiben.
Der Gedanke, daß in einer Volksvertretung sich nicht Parteien bilden sollten,
daß eine konstitutionelle Regierung schließlich nicht eine Parteiregierung sein
würde, wenn nicht ganz besonders hervorragende Männer an der Spitze der
Regierung stehen, oder die Constitution nicht ein Uebergewicht der Regierung
über die Volksvertretung begründet, — ein solcher Gedanke erscheint sonderbar.
Aber Thorbecke's Ansichten sind hin und wieder gar zu idealistisch, und die
Thatsachen werden ihn manchmal gründlich enttäuscht haben. Wurde er selbst
doch, der das Bestehen von Parteien in der Kammer und dem Lande leugnete,
allgemein als der Führer der liberalen Partei anerkannt, und wurde doch
i°in erstes Ministerium durch die verbündeten Parteien der Conservattven und
Antirevolutionären gestürzt.
Und mit seinem Sturz treten die Parteien immer heftiger auf. Zwar
konnten sie den einmal errungenen Fortschritt nicht mehr rückgängig machen,
sie hinderten die Durchführung der Reorganisation der einzelnen Theile
Staatswesens. Die nach Thorbecke auftretenden Ministerien der conser-
vativen Partei konnten nur etwas zu Stande bringen, wenn sie zugleich
"Ach die liberale Partei in ihren Ansprüchen befriedigten. Es stellte sich
^raus, daß der liberalen Partei, wegen ihrer Majorität die Negierung ge¬
bühre, und so wurde Thorbecke im Jahre 1862 wieder ins Ministerium
^rufen. Indessen fand es sich, daß die Verhältnisse sich seit einem Jahrzehnt
verändert hatten. Die Katholiken, welche so lange liberal waren, wie sie
vom Liberalismus Freiheiten erlangen konnten, wandten sich gegen denselben,
sobald er ihnen nichts mehr bieten konnte. In Folge der päpstlichen Eney-
clica kamen nur heftige Ultramontane als Abgeordnete in die zweite Kammer
und auch die Calvinisten traten kühner auf. Auch unter den Liberalen zeigten
sich verschiedene Elemente, die sich nicht mehr dem alten Parteihaupte
unterwerfen wollten und den Standpunkt Thorbecke's als veraltet betrachteten.
Thorbecke selbst trat im Jahre 1866, wegen einer Meinungsverschiedenheit
mit seinen College», als Minister ab. Von jetzt an wechseln liberale und
conservative Ministerien, ohne daß eines derselben es zu einer ersprießlichen
Wirksamkeit bringen konnte. Die Parteien in der Kammer machten jede
für sich Jagd auf die Regierung, selbst in dem Bewußtsein, daß sie die er¬
haschte Beute nicht behaupten konnten. Die Liberalen, die zwar immer noch
eine knappe Majorität hatten, waren unter sich uneinig und zeigten ein
klägliches Bild der Unfähigkeit. Da versuchte Thorbecke nochmals im An¬
fange des Jahres 1870 die Liberalen um sein drittes Ministerium zu ver¬
sammeln, aber vergebens. Sein Einfluß war nicht mehr groß genug, die
entfesselten Elemente der Parteisucht und und der persönlichen Interessen
zurück zu drängen. Er hatte den erstorbenen politischen Sinn des Volkes
wieder aufzuwecken versucht, aber auf seinen Ruf waren die alten Leiden¬
schaften, die das Land ins Verderben geführt hatten, erschienen. Diese stellten
sich ihm überall in den Weg und hemmten sein Streben. Der Mann, dem
es früher ein Leichtes war, für seine Gesetze eine große Kammermajorität
zu erlangen, konnte jetzt nur in einzelnen Fällen auf die Annahme seiner
Vorschläge rechnen.
Am 4. Juni 1872 starb Thorbecke. Seinem Andenken wurde vor
einigen Monaten in Amsterdam ein Denkmal errichtet. Die Parteiwuth
seiner Gegner wußte zu bewerkstelligen, daß dieses Denkmal nicht an der
ursprünglich bestimmten Stelle in s'Gravenhage errichtet werden konnte.
Thorbecke sagte, das neue Grundgesetz sei durch die Initiative des Königs
entstanden; mit viel größerem Rechte kann man aber behaupten, daß die
Fortschritte, welche die Niederlande in den letzten dreißig Jahren auf dem
Gebiete der Staatsentwickelung gemacht haben, dem Wirken Thorbecke's zu¬
zuschreiben sind. Er beherrschte eine Zeit lang das ganze politische Leben
des Landes; er war es, der ihm eine neue Verfassung und manche Verbesserung
in der Gesetzgebung gab. Er brachte in den bewegungslosen Staatskörper wieder
Leben und Thätigkeit; aber die Mächte, welche das in früheren Jahrhunderten
so thatkräftige Volk in einen Zustand der Erschlaffung getrieben hatten, schlum¬
merten ebenfalls nur, um bei dem erneuerten Leben auch wieder aufzuwachen.
Sie hinderten nicht allein den von Thorbecke angebahnten Fortschritt, sondern
sie waren auch die Ursache, daß manche seiner Maßregeln das Gegentheil
von dem bewirkten, was sie bezweckten.
Die Hoffnung und das Vorwärtsstreben, welche sich in der ersten Zeit
des Auftretens Thorbecke's kundgaben, sind gewichen der Resignation im
Volke und der Unfähigkeit zu fast jeder Maßregel, die nicht durch die große
Noth der Verhältnisse abgedrungen wird. Man berathschlagt Jahr aus
Jahr ein in Kammern und Commissionen und Versammlungen über die
Lebensfragen des Landes, aber Parteileidenschaft, Selbstsucht und Rück¬
sichten aller Art verhindern jedes Handeln. Jeder klagt den Andern an, daß
er die Schuld an diesem Zustande trage, aber Keiner will etwas von seinen
Ansprüchen zum Wohl des Staates aufgeben. Und nun gar die kirchlichen
Parteien, die den Staat ihren Zwecken dienstbar machen wollen, regen sich
mit wachsendem Erfolg. Die alte Oligarchie der Republik ist unter veränderter
Form wieder erstanden und das niedere Volk erwartet nur von Oranien
Hülfe. Dem Calvinismus, den reformirten Pastoren, sind die Jesuiten zur
Seite getreten; beide suchen die Herrschaft zu erlangen. Dieser Zustand hat
sehr viel Aehnlichkeit mit demjenigen, den Thorbecke als abschreckendes Bild
von der alten Republik schilderte. Man spricht wieder von niederländischen
Principien und Bedachtsamkeit, von niederländischer Freiheit, weil man lieber
mit schlechten Gewohnheiten zu Grunde gehen will, als sich andern, bessern
Gewohnheiten zu fügen. Man sonnt sich noch immer so gerne an dem Ruhm
der Vorfahren und wähnt sich selbst groß in diesem ererbten Glänze. Noch
gelten die Worte Thorbecke's: „Die niederländischen Propheten können sich,
glaube ich, nicht über Mangel an Verehrung in ihrem Vaterlande beklagen.
Wir lieben das Lob und hassen die Kritik." „Ein unkundiger, fremder
Schriftsteller, der uns und unsere Zustände rühmt, ist eine Autorität, die uns
in unserer eigenen Werthschätzung erhebt. Aber Thiers, der mit einigen
Prozenten seines Talentes unsere berühmten Schriftsteller reich machen könnte,
der aber das Unglück hat, sich über Schimmelpenninck (Ratspensionär der
batavischen Republik) nur kurz zu äußern und nicht zu wissen, daß unser
Landsmann dem ersten Consul Gesetze vorschrieb, wie sollte er mehr als ein
armseliger Vielschreiber sein können?" Die nationale Eitelkeit und Selbstüber¬
hebung macht sich ungebührlich breit; man ist beleidigt und wird grob, wenn
Jemand es wagt, alte Traditionen, deren sich doch schon so manche als
nicht stichhaltig bewiesen haben, einmal kritisch zu beleuchten.
Wie viele große Fragen des Volkslebens harren der Lösung? Das
Colonialwesen, die Landesvertheidigung, das Steuerwesen, die Strafgesetz¬
gebung stehen seit langen Jahren auf der Tagesordnung und für die Ver¬
besserung des Schulwesens agitirt man schon geraume Zeit; aber das Inter¬
esse der herrschenden Klassen, der Oligarchie, und der Parteien widerstrebt
einer zeitgemäßen Umgestaltung dieser Zweige der Staatsverwaltung. Nicht
wie früher steht eine mangelhafte Staatsform den Verbesserungen und dem
Fortschritt im Wege, es ist jetzt nur allein die Selbstsucht der Regierenden,
in der Kammer sowohl, wie am Ministertisch und bei der Wahlurne, der
man die Schuld zu geben vermag.
Es ist Thorbecke gelungen, diese Selbstsucht der Einzelnen eine Zeitlang
zurück zu drängen, aber es ist ihm nicht gelungen, sie dauerhaft unschädlich
zu machen. Er richtete sein Hauptaugenmerk auf die Verbesserung der Staats-
formen; aber er sorgte nicht mit gleichem Eifer dafür, daß das Volk zu
Staatsbürgern erzogen wurde. Wohl erkannte er die Nothwendigkett, daß
Jeder sich als Theil des Staates und dieser sich wieder als ein Theil der
Gesammtheit fühle, aber wer sollte das Bewußtsein der Pflicht dem Volke,
der Jugend einpflanzen?
Das Studium und die Beherzigung der Schriften Thorbecke's, die leider
nur äußerst gering an Umfang sind, eine Vergleichung derselben mit den jetzigen
Zuständen, würde den Holländern vielleicht die Augen für die ihnen drohenden
Gefahren öffnen. Sehr vieles, was Thorbecke über die Schäden der alten
republikanischen Wirthschaft sagte, ist noch jetzt auf die eben herrschende
So darf man wohl die Schriften der Madame Louise d'Alq nennen, die
sich mit der Lebenskunst und dem beschäftigen, was in der feinen Welt Frank¬
reichs und mehr oder minder unter den Gebildeten und Zartfühlenden aller
etvilisirten Nationen für schicklich und wohlanständig gilt. Als die Ver-
fasserin vor zwei Jahren mit dem Buche „I^s 8a>voir-vivrs co toutss Iss
eiroonstcmees 6s ig, vie" an die Oeffentlichkett trat, wurde ihr ein Empfang
zu Theil, der fast unerhört war. Bis dahin war sie dem Publikum völlig
unbekannt gewesen, und dennoch erlebte ihr kleines Werk binnen Kurzem elf
starke Auflagen, und es erfreut sich jetzt unter unsern Nachbarn jenseits der
Vogesen eines Ansehens, wie zu seiner Zeit in Deutschland der in der Ueber,
schrift genannte Rathgeber Knigges.
Derselbe Erfolg ist der Vervollständigung jener Schrift, die uns jetzt
unter dem Titel „I^a Leievce «Zu Rorate" (?aris, I-iKrairie as la Kamille,
?r. MdarÄt) vorliegt, in Frankreich sicher, und da gegen den Inhalt dieser
Betrachtungen und Rathschläge vom Standpunkte deutscher Lebensanschauung
und Sitte kaum Wesentliches einzuwenden ist, da dieselben vielmehr in manchen
Punkten zur Verschönerung und Bereicherung des Gebietes, welches wir gute
Lebensart nennen, beitragen können, und da sie in höchst anmuthiger und
natürlicher Sprache vorgetragen werden, so sehen wir nicht ein, warum sie
nicht auch unter uns willkommen genannt werden sollten. Wenn uns manche
Aeußerungen des französischen Geistes nicht sympathisch sind, so darf uns das
nicht abhalten, seine guten Seiten anzuerkennen, und wenn nicht Weniges
von den Auswüchsen des pariser Lebens von uns besser nicht schön gefunden
worden und nicht nachgeahmt geblieben wäre, im Punkte des feinen Taktes,
des urbaren Verkehrs mit Freunden und Fremden, der Artigkeit und des
rücksichtsvollen Verhaltens gegen Jedermann konnten und können wir noch
jetzt von den Franzosen lernen.
Die „FoisQcs an Noväs" fällt in vielen Stücken mit der Lebenskunst
zusammen, man kann sie so, wie die Verfasserin sie begreift, die Quintessenz
des savoir vivre oder die Politik des gesellschaftlichen Lebens nennen. Sie
ist gleichsam das Ceremoniel der wohlerzognen, zartempfindenden Welt, sie
ist in wesentlichen Punkten synonym mit Etiquette, Höflichkeit, berechtigtem
Herkommen im socialen Verkehr. Der Gentleman wird geboren, und die
xolitksss nu eoour läßt sich nicht anerziehen; aber der Welt gegenüber als
Gentleman wenigstens aufzutreten, kann man lernen, und hier haben wir
ein in liebenswürdiger Form abgefaßtes Compendium dazu, in dem wir schon
Bekannten und zur zweiten Natur Gewordenen fast ebenso gern begegnen,
wie dem Neuen, was geboten wird.
Die Verfasserin behandelt zunächst den Eintritt der jungen Leute in die
Welt, um dann zu zeigen, wie sie sich mit ihr zu stellen haben, und darauf
die verschiedenen Verhältnisse zu betrachten, in die Männer und Frauen durch
das Leben gebracht werden können. Ein interessantes Kapitel beschäftigt sich
mit dem Beginn einer Hauswirthschaft, ein anderes mit der allein stehenden
Frau und den Pflichten, die sie zu beobachten hat. Weiterhin begegnen
wir u. A. Regeln in Betreff von Picnies und Vergnügungspartien, von
Wetten und Vielliebchen, Besuchen und Einladungen. Die verschiedenen
Arten der Begrüßungen werden besprochen, desgleichen die Musik in der Ge¬
sellschaft, die Unterhaltung. Bälle, kleine Thee- und Abendgesellschaften, die
beste Art zu geben und zu empfangen, das Verhältniß der Tochter zum Vater,
der Tanz und die Gesellschaftsspiele, sowie noch manches andere hier in Be¬
tracht Kommende, wobei vorzugsweise auf das Bedürfniß der jungen Damen-
well Rücksicht genommen ist. Um einen Begriff davon zu geben, wie der¬
gleichen Dinge hier behandelt sind, und was der Leser in den verschiedenen
Kapiteln zu erwarten hat, theilen wir im Folgenden aus den Abschnitten XI.
bis XIII. einige Auszüge mit.
„Häufig hört man sagen: ich lade Den oder Jenen zu meinem Diner
oder Empfang nicht ein, weil ich weiß, daß er nicht annehmen kann, daß er
schon eine andere Einladung hat u. d. Das ist nicht richtig. Man muß
ihm eine Einladung zukommen lassen, auch wenn man von vornherein weiß,
daß sie abgelehnt werden wird; denn die Artigkeit ist ihm erwiesen, und der
Betreffende ist uns dafür ganz ebenso verpflichtet, als ob er davon hätte
Gebrauch machen können. Ueberdieß aber wissen wir nicht, ob er nicht bei¬
den Einladungen entsprechen kann oder sich von der, welche der unsern voraus¬
ging, loszumachen vorzieht. Es verhält sich ebenso, wenn man unter dem
Vorgeben, daß eine Person zu hoch stehe, um auf ihr Erscheinen hoffen zu
lassen, oder daß man wisse, sie sei von zu schwacher Gesundheit, in verdrie߬
licher Stimmung oder in bedrängter Lage, die Einladung unterläßt; man
darf nicht wissen, daß sie ablehnen wird, man muß seinen Bekannten unter
allen Umständen die Artigkett einer Einladung erweisen, wenn man eine
Festlichkeit veranstaltet. Natürlich werden, wenn man nur eine gewisse An¬
zahl von Gästen zum Diner bei sich sehen kann, die übrigen Freunde sich
nicht verletzt fühlen, wenn sie keine Einladung erhalten, auch kann man viele
Bekannte haben, zu denen man in keinem so vertrauten Verhältnisse steht,
daß man sie zu Tische laden darf oder muß." . . „Wenn man eine Ein¬
ladung ergehen läßt, richtet man sie stets an das Haupt der Familie oder an
das älteste Glied derselben. Es genügt, z. B. nicht, ein junges Mädchen zu
bitten, mit ihrer Mutter zu kommen, und es hieße gegen die Gesetze der guten
Gesellschaft verstoßen, wenn man sie beauftragen wollte, diese Einladung
ihren Eltern zu überbringen. Man muß sich vielmehr persönlich zu diesen
begeben und ihre Einwilligung erbitten, bevor man zu der jungen Dame
selbst davon spricht. Eine Einladung zu einem Diner oder einer Abendunter¬
haltung muß, wenn sie nicht aus dem Stegreif veranstaltet wird, wenigstens fünf
und wo möglich acht Tage vorher erfolgen. Eine Frage des Taktes ist es,
wie weit man mit einer Einladung dringend werden, wie sehr man nöthigen
darf. Gewiß ist, daß hier die Eigenliebe ins Spiel kommt. Ich glaube,
daß starke Nöthigung mich nie bestimmt hat, eine Einladung anzunehmen,
die irgend welche Gründe mich auszuschlagen veranlaßten. Demungeachtet
machte mir die Dringlichkeit, wenn sie bis zu einem gewissen Maße ging,
Freude; denn sie bewies, daß man etwas von mir hielt. Es zeigt von
großer Weltkenntniß, wenn man seine Einladungen gut zu grupptren weiß.
Man kann in allen Ständen, allen Lebensstellungen gute Freunde haben,
und es ist ein werthvolles Talent, wenn die Hausfrau die verschiedensten
Lager zu vereinigen und unter ihnen das Gleichgewicht zu erhalten versteht.
Ein wenig Verschiedenheit unter den Gästen kann nichts schaden, sie schließt
die Eintönigkeit aus. Dann aber erkältet es die vom Glücke weniger be¬
günstigten Freunde, wenn sie sehen, daß sie den Bessergestellten nicht nahe
gebracht werden." . .
„Einladungen zum Diner können namentlich in dem Falle, wo man
Einzuladenden einen Besuch schuldet, persönlich überbracht werden. Ist
Man keinen Besuch schuldig, so schreibt man ein Billet, welches sofort einen
Besuch oder wenigstens einen Brief des Empfängers zur Folge hat. Für
Bälle und zahlreichere Versammlungen läßt man oft Karten oder Briefe
Zucken, und in diesem Falle schickt man solche allen Personen, die man bei
steh zu sehen wünscht, auch denen, die man mündlich einladet. Ebenso ver¬
ehrt man bei Einladungen zu Hochzeiten, Begräbnissen u. dergl. Es ist höf¬
licher, die Einladungen austragen zu lassen, als sie mit der Post zu schicken,
und im letzeren Falle gilt für anständiger, sie im Couvert zu versenden als
offen. Eine Dame von Welt, die sehr artig zu sein wünscht, macht die Be¬
suche, die sie schuldet, eher, als sie ihre Einladungen zu einem Ball oder
einer größeren Festlichkeit ergehen läßt, damit man das nicht zum Vorwand
nehmen könnte, nicht zu kommen." . .
„Männer wie Frauen dürfen nie in nachlässigem Anzüge Besuche
abstatten. Ich verstehe darunter Besuche, welche nicht in die Kategorie
der geschäftlichen oder vertraulichen Besuche fallen, die man sich zu jeder
Stunde und in jeder Toilette erlauben kann. Wenn man zu Jemand an
seinem Empfangstage geht, so ist man, auch wenn man mit ihm auf dem
vertrautesten Fuße steht, nicht zu entschuldigen, wenn man nicht so elegant
erscheint, als man irgend kann. Anders verhält es sich, wenn man Jemand
Geschäftsangelegenheiten besucht, man macht ihm dann keinen eigentlichen
Besuch, man ist nicht gehalten, in seinen Besuchsstunden zu kommen, man
^egiebt sich zu ihm an den Tagen und Stunden, wo sein Arbeitszimmer ge¬
öffnet ist; sich bei ihm zu anderer Zeit oder in seinen Privatzimmern einzu¬
stellen, hieße eine Unschicklichkeit begehen. Der Herr des Hauses und die
Hausfrau tragen, wenn sie empfangen, sowohl am Tage als des Abends,
Namentlich aber des Abends, Handschuhe. Am Tage darf jener abwesend
und die Frau allein empfangen, aber bei Diners und bei einem Abend-
"Range ist es durchaus unmöglich, daß einer von den beiden Gatten unter
^gerd welchem Vorwande von dem Empfang fernbleibt. Auch die bereits
^ die Gesellschaft eingeführten Kinder müssen zugegen sein. Sämmtliche
Familienglieder, soweit sie nicht noch in die Kinderstube gehören, müssen fort¬
fahrend unter den Waffen stehen, d. h. sie dürfen sich niemals zurückziehen,
um auszuruhen oder sich einer vertraulichen Unterhaltung hinzugeben. Sie
haben fortwährend auf dem Posten zu sein, um auf das Bedürfniß ihrer
Gäste zu achten, sich für Alle zu opfern und sich nicht etwa einem Einzelnen
zu widmen. Ihre erste Pflicht ist die Unparteilichkeit. Man wird wohlthun,
diese Unparteilichkeit so früh als möglich den jungen Leuten einzuprägen, sie
sind zu oft geneigt, den Regungen ihres Herzens zu folgen." . . „Wir schulden
uns unsern Gästen, wir gehören nicht mehr uns, sondern wir und unser
Haus gehören den Eingeladenen an. Wir haben sie gebeten, zu uns zu
kommen, um sich zu unterhalten und zu vergnügen, nicht, um sie Verdruß
und Erniedrigungen erleiden zu lassen, nicht, um Den oder Jenen bevorzugen
zu sehen. Ein Haus, wo man die Kunst des Empfangs nicht versteht, wird
bald keine Freunde mehr zu empfangen haben und in den Ruf kommen,
langweilig zu sein. Das Gegentheil wird der Fall da sein, wo man sich
gleichsam zu vervielfältigen weiß, um alle Welt ohne Rücksicht auf Stellung
und Alter zu unterhalten."
„Aber man muß sich hierbei vor Uebertreibungen hüten. Man muß
jedem zukommen lassen, was ihm nach seiner Stellung auf der gesellschaftlichen
Stufenleiter an Aufmerksamkeiten gebührt, und es hieße die vornehme Dame
verletzen, wenn man ihrer Gesellschafterin davon ebensoviel oder mehr zu¬
wenden wollte, als ihr selbst, ja man liefe Gefahr, beide verdrießlich zu stimmen;
denn die Niedrigerstehende könnte es für Herablassung oder gar für Ironie
halten. Namentlich junge Leute verfallen leicht in diese Uebertreibung. Ihr
gutes Herz treibt sie an, sich den von der Natur oder dem Glücke weniger
begünstigten Freunden zu widmen. Das ist sicherlich edel und schön, aber in
der Welt, und vor allem bei sich zu Hause vor seinen Gästen muß man sich
hüten, durch zu große und auffällige Bevorzugung Einzelner zu verwunden
Mit dem Betreffenden allein, nicht gebunden durch Pflichten der Gastlichkeit,
kann man den Neigungen des Herzens ihren Lauf lassen." . .
„An einem Empfangstage muß die Unterhaltung sich um Allgemeinheiten
bewegen. Auch hier haben wir unser Herz und unsern Geschmack schweigen
zu lassen, wie sehr uns auch die üblichen Gemeinplätze mißbehagen mögen-
Das Gleichgültige herrscht und hält uns in seinem Bann."
„Man ist oft geneigt, Verstellung und Heuchelei mit dem Brauche der
Welt zu verwechseln. Dieser bedeckt uns zwar das Gesicht mit einer Maske,
aber es ist nur die Maske der Höflichkeit, der Rücksichtnahme, man könnte
sogar sagen, der Barmherzigkeit, und man darf sich darüber nicht zu sehr be¬
klagen. Die Heuchelei in der Gesellschaft besteht darin, daß man der gegen¬
wärtigen Person eine freundschaftliche Miene zeigt, dann sie anschwärzt und
verklagt, wenn sie abwesend ist. In folgendem Fall ist unser Verfahren keine
Heuchelei. Wir wünschen auszugehen, einem uns erwartenden Vergnügen
zuzueilen, aber es kommt Besuch. Die gute Lebensart verlangt, daß nichts
in unseren Zügen irgend welchen Verdruß über die Vereitelung unsrer Absicht
verrathe. Wir müssen, ohne daß man es merkt, zu Gunsten dessen, den wir
einen ungelegener Besuch zu nennen geneigt sind, das uns in Aussicht
stehende Vergnügen opfern. Egoisten mögen das eine Lüge, eine Verstellung
nennen, bei ihnen ist das möglich. weil bei ihnen die besten Empfindungen
entarten, aber die Grundlage dieses Gebrauchs ist und bleibt ein Gefühl der
Barmherzigkeit. Der so ungelegen Kommende hat, um uns zu besuchen auf
einen andern Gebrauch seiner Zeit verzichtet, er versprach sich ein Vergnügen
von einem Geplauder mit uns. er hat uns vielleicht eine Neuigkeit mitzu¬
theilen oder uns ein Anliegen vorzutragen, es würde eine Enttäuschung für
ihn sein, wenn er darauf verzichten müßte, und es ist unsrerseits Herzens¬
güte, wenn wir selbst, um ihm diese Enttäuschung zu ersparen, auf Pläne
verzichten, die uns Vergnügen versprechen. Je mehr uns das kostet und je
wehr wir verbergen, daß es uns etwas kostet, desto verdienstlicher ist unser
Verhalten."
„An seinem Empfangstage auszugehen, heißt sich der größten UnHöflich¬
keit gegen seine Bekannten schuldig machen. Man muß verstehen, an diesem
Teige seinen Verdruß, seine Un aufgelegtheit und vor Allem seine üble Laune
niederzuhalten und seine Vergnügungen seinethalben zu vertagen. Nur ein
Todesfall oder eine schwere Krankheit in der Familie gestatten und gebieten
eine Ausnahme hiervon." . . Ein junges Mädchen kann in Gemeinschaft
mit einer Erzieherin oder einer älteren Verwandten am Empfangstage des
Hauses ihre Mutter, die unwohl ist, vertreten. Doch werden die Besuchenden,
namentlich die Herren, dann ihren Besuch abkürzen und sich nach einigen allge¬
meinen Redensarten zurückziehen. . ."
„Welche von zwei in einem dritten Hause sich vorgestellten Personen
hat der andern zuerst ihren Besuch zu machen? Man macht wegen einer
bloßen Vorstellung einander keinen Besuch. Diese berechtigt nur dazu, daß
Man sich grüßt oder höchstens, daß man ein paar Worte mit einander spricht,
wenn man sich an einem öffentlichen Orte oder in einem Salon begegnet.
Sehr oft führen Vorstellungen Personen zusammen, die wenig Neigung haben,
wie einander in Beziehung zu treten. Sehr oft ist auch das Gegentheil der
Fall; dann ladet man sich gegenseitig ein, und der erste Einladende empfängt
herauf auch den ersten Besuch. Selbstverständlich hat man, wo die Lebens¬
stellungen nicht gleich sind, abzuwarten, daß die höherstehende Persönlichkeit
^e erste Einladung ausspricht. Wenn man sich näher zu treten wünscht,
wuß man sich beeilen, in der auf die Vorstellung folgenden Woche seinen
desund zu machen. Indem man zu sich einladet, fügt man hinzu: „Ich
°wpfange an dem oder dem Tage." Wenn man seine Karte bei Jemand
zurückläßt, zu dem man erst kürzlich in Beziehung getreten ist, schreibt man
darauf: „N. N. ist an dem und dem Tage zu Hause" oder „empfängt an
dem und dem Tage", was ceremoniöser klingt und einen ausnahmsweise
wichtigen Empfang andeutet."
„Ein junger Mann, der einer bedeutenden Persönlichkeit vorgestellt
worden ist und mit derselben Beziehungen anzuknüpfen wünscht, wird, selbst
wenn er weiß, daß diese sehr ceremoniös bleiben werden, sofort am Tage
nach dkr Vorstellung seine Karte bei dieser Persönlichkeit abgeben, aber sich
bei ihr nicht eher, als bis er eingeladen worden ist, als Besuch vorstellen.
Er wird dasselbe Verfahren einer Dame oder einer Familie gegenüber, der
er sich anzuschließen wünscht, beobachten. Diese Familie ist dann verpflichtet,
ihn in ihre Etnladungsliste für Bälle einzutragen oder jede Beziehung zu
ihm abzulehnen. An Jemand, der seine Karte nicht zurückgelassen hat, er-
gehen keine Einladungen. Aber er macht nicht eher Besuche, als bis er eine
Einladung empfangen hat. Wenn er eine Einladung zu Balle erhalten hat,
macht er die in diesem Falle erforderlichen Besuche, aber dann keine weiteren,
als bis er dazu aufgefordert und herzlich aufgenommen worden ist. Er darf
indeß keine besonders warmen und dringende Einladungen, wie man sie an
eine Dame richtet, erwarten; denn die Männer sind oft solche Gecken, daß
eine Familienmutter sehr vorsichtig sein muß. So kommt in die Beziehungen
eine gewisse Steifheit; der Mann wagt sich nicht zu nähern, indem er fürchtet,
eine Unschicklichkeit zu begehen, und der Frau ist nicht einmal erlaubt, höflich
zu sein."
„Wenn Jemand uns zu Danke verpflichtet oder uns einen Dienst er¬
wiesen hat, so sind wir ihm, auch wenn wir ihn kaum kennen, einen Besuch
schuldig, zum Mindesten haben wir unsere Karte bei ihm abzugeben. Der
Besuch zeigt von mehr Artigkeit, als die Karte und ist unumgänglich, wenn
wir zu dem Betreffenden in Beziehung treten oder wieder eine Gefälligkett
von ihm erlangen wollen. Er selbst ist nicht verpflichtet, diese Aufmersam-
keit zu erwidern. Ist er uns ein zweites Mal gefällig, so gebührt ihm ein
abermaliger Besuch, auch wenn er den ersten unerwidert gelassen hat, und so
weiter. Keinen Besuch zum Danke machen, heißt undankbar sein und nicht
wünschen, daß man sich für uns interessirt; keine Karte abgeben heißt un¬
höflich sein und es an Erfüllung des Herkömmlichen fehlen lassen."
„Wenn man einen Besuch macht, zieht man die Handschuhe nicht ab
oder zieht sie, wenn dies aus irgend einem Grunde doch geschehen muß, sofort
wieder an. Bei sich zu Hause Handschuhe tragen, ist — abgesehen von den
Stunden, wo man Besuche zu empfangen gewohnt ist — gesucht und über¬
elegant. Wenn man in der Stadt speist, so legt man die Handschuhe nicht
eher ab, als bis man sich zu Tische gesetzt hat und zur Serviette greifen
will. Man steckt sie dann in die Tasche. Wenn man Leute sie an Wirths¬
tafeln in ein Glas legen sieht, so verstößt das entschieden gegen das Her¬
kommen und den guten Geschmack. Man darf auch die Handschuhe nicht
sofort, nachdem man mit dem Essen des Desserts zu Ende ist, wieder anlegen,
weil das aussähe, als wollte man die Frau vom Hause drängen, das Zeichen
zum Aufstehen zu geben. Aber man zieht sie an, sobald man in den Salon
zurückgekehrt ist. Ein junges Mädchen, welches ein Musikstück vorzutragen
im Begriff ist, legt die Handschuhe ab, sobald sie sich an das Instrument gesetzt
hat, und zieht sie wieder an, wenn sie auf ihren Platz zurückgekehrt ist. Beim
Thee behält man die Handschuhe an. desgleichen bei einem kalten Frühstück oder
Abendbrod. Unter keinem Vorwand darf man ohne Handschuhe tanzen,
auch nicht die eine Hand entblößt; das ist weder Damen noch Herren ge¬
stattet. Dagegen dürfen letztere die linke Hand entblößen, wenn geraucht
wird. Ganz aus der Mode gekommen ist, daß die Damen ihr Taschentuch
in der Hand halten, wenn sie zu Besuch oder sonst in Gesellschaft sind." . .
.Ich hörte einmal eine Dame, die Grund hatte, sich für eine vornehme
Persönlichkeit zu halten, die Aeußerung thun, daß sie die Gabe besitze, ganz
genau den Gruß zu erwidern, der ihr zu Theil werde; d. h. wenn man
sie durch Neigen des Kopfes grüßte, so erwiderte sie dieß mit einem Kopf¬
nicken, wenn man ihr eine Verbeugung machte, so bekam man auch von ihr
eine solche. Es liegt etwas Richtiges in diesem Gedanken, dennoch aber muß
er modificirt werden. Unsere Würde verlangt, daß wir dem. der uns beim
Begegnen eine hochmüthige, kalte oder geringschätzige Miene oder Geberde
zeigt, nicht demüthig oder freundschaftlich begrüßen, und von diesem Gesichts-
punkte aus muß man seinen Gruß nach dem einrichten, der uns geboten
wird. Aber man braucht den Gruß des Andern nicht zu copiren und des¬
halb, weil jemand sich gemein beträgt oder die gute Sitte nicht kennt, es ihm
nachzuthun. Im Gegentheil, man gebe ihm eine Lection, indem man selbst
edler und vornehmer bleibt als er.
Die Art, wie jemand grüßt, giebt seine vornehme oder ordinäre Denk¬
weise viel deutlicher kund als Worte; die Art, wie jemand uns die Hand
drückt, ist häusig das Barometer des Herzens. Obwohl es auf Seiten von
Leuten, die der feinen Welt angehören wollen, eine Ziererei ist, wenn sie die
ihnen entgegengestreckte Hand kaum streifen, so liegt darin auch eine solche
Kälte, eine Gleichgültigkeit oder eine so eisige Zurückhaltung, daß ich meines-
theils vorziehe, die Hand gar nicht zu berühren, als sie so zu berühren oder
vielmehr mich so berühren zu lassen. Wenn man so vertraut mit einander
ist, daß man sich mit einem Händedrucke begrüßt, so empfindet man eben
genug Freundschaft für einander, um es mit Herzlichkeit zu thun. Wenigstens
sollte das so sein, und wenn es nicht, wie wir wünschen, immer und allent¬
halben der Fall ist, so thun wir es doch des Scheines wegen.
Ein junges Mädchen oder eine junge Frau darf einen jungen Mann
die Hand nicht drücken, und dieser wieder wird, wenn er Verstand und Takt
besitzt, seinerseits einer solchen Dame ebenso wenig die Hand drücken. Natur
lich gilt dies nur von rein äußerlichen Verhältnissen und entfernten Be¬
ziehungen der Betreffenden zu einander. Bei vertrauter Freundschaft giebt
es nichts Besseres als einen Händedruck, ein echtes „sdakekanüs", herzlich,
kräftig, wohl gemeint, das oft beredter als viele Worte ist. Aber es giebt
noch etwas Besseres, als den englischen Händedruck, d. h. die Begrüßung, wo
man den Freund nach einer Trennung sich beide Hände entgegenstrecken sieht,
um uns die unsere zu drücken, wo man sie in die seinen schließt, sie gleich¬
sam in Haft nimmt, als ob man fürchtete, sie würden wieder entfliehen.
Die Frauen geben die Hand, die Männer strecken sie hin.
Man wird gebeten, sich über den verschiedenen Ausdruck klar zu werden.
Figürlich bedeutet es, daß das weibliche Geschlecht gewährt, das männliche
verlangt, in Wirklichkeit sagt es, daß die Frauen (eine Folge des Gebrauchs
des Handkusses) den Rücken der Hand darbieten, während die Männer sie
umgekehrt, mit der Innenfläche nach oben hinstrecken. Der Mann ist's,
welcher der Frau zuerst die Hand bietet, weil er gewöhnlich der Aeltere ist.
Denn in Summa, wie es ein Act der Vertrautheit, ein Zeichen der Freund¬
schaft ist, so erwartet der jüngere von zwei sich Begegnenden, daß der ältere
oder höherstehende es ihm giebt. Ein junger Mann von zwanzig Jahren
ergreift die Hand, die ihm eine ältere Dame reicht. Diese wird nicht ab¬
warten, ob die jungen Leute ihr die Hand hinstrecken; sie würden es nicht
wagen. Aber zwischen Frauen und Männern von ungefähr gleichem Alter
liegt dem Darreichen der Hand eine vertraute Annäherung, ein Verlangen zu
Grunde und derartiges kund zu geben, ist der Frau nicht gestattet. Ein
Jüngerer oder seiner Stellung nach Geringerer kann wohl um eine Hand
bitten, wenn er Verzeihung verlangt oder Abschied nimmt, aber er wird es
hochachtungsvoll thun. Es kommt ihm nicht zu, die Hand lebhaft und innig
zu umschließen und lange in der seinigen zu behalten.
So kann, wie man sieht, in einem einfachen Händedruck viel von der
Kunst des Umgangs mit Menschen liegen. Aber hier wie anderwärts ver¬
fährt man in der Regel nach dem, was man empfindet. Trotz aller Uever-
legung läßt man am Händedruck fühlen, wie sehr oder wie wenig man von
den Gefühlen der Ehrerbietung, der Zuneigung, des Stolzes oder der Ge¬
ringschätzung erfüllt ist.
Die Männer bücken sich nicht, wenn sie auf der Straße grüßen. Sie
verneigen sich nur, wenn sie den Hut nicht aussahen und zwar mehr zum
Zeichen der Zustimmung, des Dankes oder der Hochachtung und dann nur
vor Frauen und hohen Würdenträgern. In Uniform verbeugt man sich
nicht. Auf der Straße nehmen die Männer mit der rechten Hand den Hut
ab und strecken die linke aus; können sie Letzteres nicht, so machen sie eine
Viertelwendung gegen die zu grüßende Person, ziehen die Fersen zusammen und
drücken die Brust heraus. Das ist, abgesehen von der zur Stirn erhobnen
Hand, der klassische, der militärische Gruß, der Gruß bei Hofe, aber nicht die
Verbeugung, die ein französisches Neckwort als die „eourdstts" bezeichnet.
Der Unterschied zwischen beiden ist sehr groß. Bei der einen Grußart richtet
man sich gerade empor, bet der andern beugt man sich nieder.
Bei den Damen ist die Verbeugung aus der Mode gekommen, doch nur
im gewöhnlichen Leben. Von der guten Gesellschaft Frankreichs, welche die
Ueberlieferungen zu bewahren weiß und sich von vulgären Gewohnheiten
nicht erobern läßt, wird sie noch für gewisse Fälle der Begrüßung als un¬
erläßlich betrachtet, nämlich bei Hoffesten, vor großen Würdenträgern, in der
Kirche vor dem Altar, auf dem Balle bei bestimmten Figuren und wenn man
seinen Tänzer verläßt. Kurz, die Verbeugung der Damen ist der Galagruß
geblieben, es ist aber keine kurze, gezierte, tänzelnde, schalkhafte Verbeugung
es ist die große Reverenz des Menuet.
Der Gruß durch bloßes Kopfnicken ist vulgär, eine vornehme Person
wendet ihn nicht einmal Untergebnen gegenüber an. Die Verbeugung des
Oberleibes nach vorn mit Krümmung des Rückens ist bäuerisch und wenig
graciös. Der anmuthigste Gruß für eine sitzende oder aufrechtstehende Frau
und derjenige zugleich, der sich nach dem Grade von Herzlichkeit, den man
hineinlegen will, leicht modificiren läßt, ist der, daß man dem zu Grüßenden
die Brust zukehrt, und dabei die Schultern einzieht und den Kopf gerade
aufrichtet. Man begleitet ihn, wenn man steht, mit einer Bewegung der
Füße, die man in der Tanzstunde mit der Kniebeugung lernt, die bei einer
regelrechten und wohlgelungnen Galareverenz unerläßlich ist. Der Gruß mit
der Hand ist sehr anmuthig. aber sehr familiär. Man wird ihn, wenn man
nicht naher Verwandter ist, Personen eines andern Geschlechts gegenüber nie
anwenden."
Ein Literarstatistiker will bewiesen haben, daß geistige Epochen eine
Zeitdauer von 19 Jahren umfaßten, man möchte wünschen, daß er recht habe:
denn seit 18S9 hat man vor lauter Darwin und Darwinismus wenig Anderes
gehört und sehnt sich nach Abwechselung. Man möchte aber auch glauben,
daß die Theorie richtig sei, da in der That die d arwinistische Epoche jetzt,
1876, bereits eine Transmutation erlitten hat. Darwins eifrigste Vertheidiger
wollen nämlich nicht mehr von Darwinismus, sondern nur von Descendenz¬
lehre, Entwickelungslehre reden. Sie sagen, das was eigentlich neu sei bei
Darwin und was zuerst seinen Ruhm begründet hätte: die Lehre vom Kampf
ums Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl, das sei freilich nicht so
wichtig, wie man zuerst gemeint habe; aber sein dauerndes Verdienst sei, daß
er das Princip der Entwickelung aufgestellt habe, das ja schon von Leibnitz
Kant, Fichte, Schelling, Hegel durchzuführen versucht worden sei. Mit andern
Worten: Darwin hat das Entwickelungsprineip nicht aufgestellt, weil es schon
da war, er hat es nicht begründet, weil seine Mittel ungenügend gefunden
wurden; man räumt ihm daher nur noch das Verdienst ein, daß er die
Naturforschung aus der empiristischen Einzelerforschung wieder zu einer um¬
fassenden philosophischen Betrachtung und zwar zu dem Princip der deutschen
Philosophie zurückgeführt habe. Freilich trägt die neue Entwickelungslehre
einen entschieden materialistischen, und nicht einen idealen Character, wie die
frühere. Aber auch hier, scheint mir, steht man an der Schwelle einer Transmuta¬
tion, nämlich der Umwandlung der materialistischen Entwickelung in die ideale.
Der Hinweis auf Leibnitz, Kant, Fichte, Schelling. Hegel und damit die Be¬
schäftigung mit diesen Männern, welche den objectiven oder absoluten Idealis¬
mus anbahnten und durchführten, konnte nicht ohne Einfluß auf die mate¬
rialistische Anschauung bleiben. Und während man vor 19 Jahren noch
voll und selbstgefällig vom Materialismus sprach, so verwischt man jetzt diesen
Namen, weil er Mißverständnisse erwecke; man will Monismus, Realismus,
sogar Idealismus gesagt haben.
Namen sind Zeichen oder Werthe für Sachen, die sie bedeuten, und
wenn auch freilich die Sache, die der neue Name bezeichnet, immerhin noch
Materialismus ist, so ist doch die Namensänderung wohl auch ein Zeichen,
daß die Sache selbst als ungenügend empfunden wurde und daß man nach
Anderem strebt, was nur idealer Monismus sein kann. Zu den Zeichen,
daß der Geist der Zeit aus dem materialistischen Fahrwasser sich wieder
zu idealeren Bahnen erhebe, rechne ich aber auch die Thatsache, daß die
letzten Jahre eine auffallende Menge von Schriften brachte, welche alle
von Kant redend, seine wahre Meinung wieder lebendig machen wollen.
Nun ist richtig, daß Viele in Kant einen Begründer des Materialismus
sehen, aber die unbestrittenere Thatsache ist doch die, daß an seinen Namen
sich der idealste Idealismus knüpft und daß sein kategorischer Imperativ aus
der vollsten Ueberzeugung von der Existenz der sittlichen Freiheit des Menschen
quillt; und deshalb wird eine Zeit, die sich wahrhaft mit Kant beschäftigt,
sich nie seiner idealen Zugkraft entziehen können.
Also vor 19 Jahren ein offener, breitgetretener Materialismus, der seit
1859 durch Darwins Gedanken ins speculative Fahrwasser geräth und dabei
transmutirt wird, so daß er jetzt es sogar als größere Ehre achtet, Monis¬
mus oder Idealismus genannt zu werden. Die Morgendämmerung eines
wiedererwachenden deutschen Idealismus erblicken wir in diesem Namens¬
wechsel und begrüßen um so freudiger die zweite Auflage von Lazarus' Leben
der Seele, deren erstes Erscheinen 18S7, also auch vor etwa 19 Jahren ge¬
schah und damals in der voll materialistischen Strömung allzu unbeachtet
blieb. Diesmal aber tritt sie in die idealreale Strömung zu gelegenerer Stunde
auf; denn sie lebt und athmet in Wahrheit in Jdealrealismus und zugleich,
wenn sie auch nicht über Kant polemisirt, lebt und athmet sie ganz in den Prin¬
cipien, durch die er der Reformator des Denkens wurde und wegen deren er
heute wieder allseitig angerufen wird. Es ist daher wohl interessant, auf die Be¬
deutung und den Inhalt der Schrift von Lazarus näher einzugehen, nachdem wir
früher*) einen einzelnen Punkt, das Gesetz der Apperception besprochen haben.
Zwei Dinge waren es, welche Kant stets mit Bewunderung erfüllten:
das moralische Gesetz in ihm und der gestirnte Himmel über ihm. Die
erste Bewunderung machte ihn zum Copernicus in der Auffassung des Geistes.
Denn die Seele, die seither als einfach ausnehmendes Wesen, wie eine un¬
beschriebene Tafel vorgestellt wurde, ward seit ihm begriffen als eine frei-
thätig synthetische Kraft, so daß die Welt gemäß dem Vermögen dieser Kraft
dem Menschen erscheinen muß. Die zweite Bewunderung ließ ihn die Ent¬
wickelung des Planetensystems entdecken und machte ihn auch zum Copernicus
in der Betrachtung der Natur, oder richtiger zum Erweiterer Newton's in
der Naturphilosophie. Vor Newton galten die Körper als kraftlos; er
zeigte aber, daß sie selbst Kräfte und zwar der Anziehung seien. Kant aber
bewies, daß alle Materie, auch das Atom, als anziehende und abstoßende
Kraft zu begreifen sei. Freilich verwarf er die Atome, die er in der me¬
chanischen Auffassung von Cartesius bekämpfte; aber er sagte: die Materie
ist ins Unendliche theilbar, aber in Theile die immer noch Materie sind; und
diese unendlich kleinen Theile können wir wohl Atome nennen, insofern wir
mit Lazarus S. 351 sagen: „Draußen im Reiche des Concreten bedeutet
Einheit niemals Einfachheit, selbst vom Atome wird nicht behauptet, daß es
wirklich einfach ist, sondern nur daß es durch seine individuelle Gestaltung
wie eine Einheit wirkt."
Ich darf daher sagen, Kant betrachtet die Seele, wie die Materie, bis
in ihr kleinstes Atom als Kraft, als Dynamis; und in dieser dynamischen
Auffassung liegt Kant's reformatorische That, durch die er um so mehr der
ganzen seitherigen Weltanschauung entgegentrat, als er nicht nur die Vor¬
stellung von einer kraftlosen Materie, sondern auch, muß man sagen, die
von einer kraftlosen Seele verwarf. Denn freilich hatte man die Seele als
die Kraft angesehen im Gegensatz zur Materie: aber möchte man nun sagen,
die Seele sei als Intelligenz aus der himmlischen Höhe in das Gefängniß
des irdischen Lebens gekommen, oder sie sei mit angeborener Idee ins Da¬
sein getreten, oder sie sei eine leere Tafel die von der Außenwelt beschrieben
werde: in all diesen Fällen galt die Seele eigentlich als kraftlos, insofern
sie ihr geistiges Vermögen nicht selbstthätig vermehren konnte, sondern ver¬
harren mußte in der Intelligenz, mit der sie vom Himmel kam, oder in der
Idee, die ihr angeboren war, oder insofern sie passiv aufnehmen mußte, was
die Außenwelt zufällig aufdrückte. Diesen Anschauungen gegenüber machte
Kant die Seele zu einem Vermögen der Ideen, zu einer die Wahrheit er-
obernden, und nach ihr aus inneren Principien mit sittlicher Freiheit sich zu
bestimmen vermögenden Kraft.
Von der Materie aber sagt Kant: Metaphysisch ließe sich von ihr
nur sagen, daß sie als anziehende und abstoßende Kraft zu begreifen sei; aber
nur auf dem Wege der Induction oder Erfahrung könne die Form oder das
Gesetz der Anziehung festgestellt werden. Diese Induction lehrte nun diese Form
als das Gesetz der Gravitation kennen und zeigte, daß das Gravitirende an
das Trägheitsgesetz gebunden ist, von welchem Kant sagte, ohne dasselbe wäre keine
Naturwissenschaft, sondern nur Hylozoismus möglich, und seine Existenz er¬
fordere für das was gravitirt und für das, was sich selbst bestimmt, zwei
verschiedene obzwar mit einander verbundene Substanzen.
Hiernach ist die sog. Materie die Substanz der Gravitation, der Geist
die Substanz des kategorischen Imperativs oder der sittlichen Freiheit. Nun
hätte man denken sollen daß, grade weil Kant's Ruhm darin gefunden wurde
dynamische Anschauung gebracht zu haben, man beim Reden von Materie
und Geist diesen dynamischen Unterschied, dieses wesentliche Arbeitsvermögen
der Substanzen in den Vordergrund gestellt habe. Aber nein! Man fuhr fort,
den alten mechanischen, oder wie ich lieber sage, den morphologischen Unter¬
schied festzuhalten, welchen Cartesius dahin festgestellt hatte, dah die Materie
das Ausgedehnte, der Geist, das Denken sei. Auf Grund dieses morphologischen
Unterschieds mühte man sich dann ab, das Eine stets als das Gegentheil
des Andern zu begreifen. Weil die Materie das Körperliche, Ausgedehnte
hieß, so mußte die Seele das Unkörperliche, Unausgedehnte, Immaterielle,
das Einfache, Untheilbare sein. Das Tragische dabei ist nur dies, daß jeder
Standpunkt sich dabei selbst das Gericht spricht, indem er auf der einen
Seite als Wahrheit gelten läßt, was auf der anderen falsch sein soll. Der
Idealist sagt, die Seele ist unräumlich, untheilbar und als einfaches Wesen
die allerrealste Existenz, aber im selben Athemzug sagt er weiter, ein Atom
ist ein Unding, denn als einfach und untheilbar wäre es unräumlich und
somit ein Nichts. Der Materialist umgekehrt sagt, die Annahme eines Gottes
oder einer Seele ist Unsinn, denn wie können beide weder sinnlich wahr¬
nehmen noch moiphologisch vorstellen; aber im selben Athemzug sagt er
Weiter: Atome existiren, obgleich wir sie weder sinnlich wahrnehmen, noch
Morphologisch vorstellen können.
Also was der Idealist am Atom, das tadelt der Materialist an Gott
und Seele. Beide beweisen damit nur. was Kant lehrte, daß es Grenzen
der Sinnlichkeit giebt,^ weshalb der Mensch sowohl nach der Seite des Kleinen
— dem Atom, — wie nach der Seite des Großen — dem weitumfassenden
Gott — beschränkt ist in der Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung und
somit der morphologischen Vorstellbarkeit. Was nutzt es überhaupt, zu sagen,
die geistige Kraft ist unräumlich? denn wenn ich mich als Ich vom Du
unterscheide, so fällt das Ich nicht mit dem Du zusammen und sie stehen
beide räumlich gegenüber. Ja insofern Kant sagt, Körper ist Materie in
bestimmten Grenzen, so kann ich sogar sagen, mein Ich ist körperlich; denn
die individuelle Natur, der Umfang seines geistigen Besitzes und seiner
Leistungsfähigkeit machen es zu einer Substanz innerhalb bestimmter Grenzen.
Diese morphologischen Betrachtungen sind daher ganz werthlos für die
Wesensbestimmungen der Dinge, und doch hält man auch anderwärts an
dieser werthlosen Betrachtung fest. So sagen in der Entwickelungslehre
sowohl Idealisten wie Materialisten, weil die Keimzelle mikroskopisch ein in-
differenzirtes Ding sei, so sei bei dem geringen morphologischen Unterschied denkbar
Möglich, daß das Unorganische ins Organische übergehe. Aber nicht auf die
Gleichheit der Form kommt es an, zumal diese in unserm Fall ein Schein
ist, der durch die Grenze unserer Sinnlichkeit bedingt wird, sondern auf die
dynamische Natur, auf die Leistungsmöglichkeit der Dinge kommt es an; und
so müssen wir mit Kant fragen: kann das, was gravitirt übergehen in das
was sich nach innerem Princip selbst zum Handeln bestimmt? Und ich sage,
Kant hat Recht, wenn er es läugnet und daher zweierlei Substanzen für
die zweierlei Arbeitsvermögen fordert.
In Betreff des Dynamismus stimme ich daher ein in den Ruf, daß
Kant wieder zu erwecken sei, und die Bedeutung von Lazarus' Schrift liegt
zum Theil eben darin, daß er unbekümmert um solche mit unserer Sinnlichkeit
nie zu entscheidenden morphologischen Fragen über Gott, Seele, Atom, sich
ganz und voll auf den Boden des Dynamismus stellte. Die Natur der Seele
kennen zu lehren, folgt er ihren dynamischen Erscheinungsweisen, forscht er
nach den Formen und Bestimmtheiten ihrer Leistungsmöglichkeit. „Statt av-
stracter Darstellung (S. 91) allgemeiner psychologischer Theorien, mache ich
einzelne Richtungen des concreten geistigen Lebens zum Gegenstand der Be¬
trachtung, zerlege sie in die darin waltenden, psychischen Elemente und führe
sie auf die betreffenden Gesetze und Principien zurück." Dazu gehört denn
freilich, daß man die Induction zu Rathe zieht, daß man aus dem vollen
Leben, als der Quelle der Erfahrung, die dynamische Natur der Seele fest¬
zustellen sucht. Der Schwierigkeit dieser Methode gegenüber ist es freilich
bequemer sich in morphologischen Betrachtungen zu ergehen, welche meist auf
dem einsamen Studirschemel aus dem Inhalt der Worte zu construiren sind.
Aber das Bequeme ist nicht auch das Wahre; und die wahre Methode der
Naturwissenschaft ist jene, auf deren Boden Kant sagt: Metaphysisch läßt
sich von der Materie sagen, daß sie als anziehende Kraft zu begreifen ist,
aber das Gesetz der Anziehung muß die Induction lehren. Lazarus wird
ähnlich sagen: Metaphysisch ist die Seele als Kraft sittlicher Freiheit zu
begreifen, aber die Form, das Gesetz dieser Freiheit, hat die Induction
zu lehren.
Ich sage nun weiter, daß Lazarus den Dynamismus und die Methode
Kant's deshalb so festhält, weil er auch die Scheidung festhält, welche Kant
macht, wenn er von der Vorstellung und vom Ding an sich spricht. Wir
denken nur in Vorstellungen und erkennen daher nicht das Ding an sich, von
dem wir nur durch seine Erscheinungen wissen. So sagt Kant, und ich ge¬
stehe, daß ich in diesem Punkte seine Wiedererweckung, wenn sie überhaupt
nöthig wäre, nicht wünsche. Ich behaupte eine Erkennbarkeit des Dings an
sich, denn wenn die wissenschaftliche Methode mich lehrte, daß ich die Materie
als das Gravitirende, die Seele als das Vermögen sittlicher Freiheit, Gott
als ein freithätig liebendes Wesen zu begreifen habe, so erkannte ich in dieser
THStigkeitsweise die Natur des Wirkender und somit das Wesen des Dings
an sich, mag auch noch so viel morphologisch unvorstellbarer Rest bleiben.
In der Unterscheidung von Vorstellung und Sache steht nun Lazarus
ganz auf dem Boden von Kant. Er, der Freund von Steinthal, weiß zu
gut, daß wir nur in Vorstellungen denken, die wir mit Worten benennen,
daß diese Worte aber nur Zeichen für Dinge sind, die sie bedeuten. wobei
der Inhalt des Wortes keineswegs sich deckt mit dem Inhalt oder der
Wesensbestimmung des Dinges.
Man sollte denken, das verstehe sich alles von selbst; aber doch versteht
Man in der Regel unter Metaphysik ein Philosophiren aus dem Wortinhalt
heraus und nicht mit den inductiv 'gegebenen Thatsachen. So nennt man
es metaphysisch gesprochen, daß das Atom als untheilbar einfach und ohne
Inhalt sein müsse; die Induction aber lehrt: das Atom ist ein einheitlich
Wirkendes, mit specifischer Dichte und bestimmter atombindender Kraft.
Man nennt es metaphysisch gesprochen, daß die Materie, weil sie das Aus¬
gedehnte sei, aus Theilen bestehe, somit theilbar, veränderlich, vergänglich und
somit das Schlechte und Unreine wäre, man nennt es metaphysisch consequent
gesprochen, daß die Seele weil sie Nicht-Materie sei, unausgedehnt, einfach,
somit untheilbar unzerstörbar, das Gute und Reine wäre. Die Induction
aber lehrt, daß die Materie das Vermögen der Gravitation, die Seele das
Vermögen sittlicher Freiheit sei. Da ist denn klar, daß weder die Gravitation
aus der Sittlichkeit, noch die Sittlichkeit aus der Gravitation metaphysisch zu
folgern ist, daß sie der Mensch erst aus der Induction erfahren und kennen lernen
Muß; es ist klar, daß die Begriffe von Reinheit und Güte, Unzerstörbarkeit
u. s. w. bei dem einen Vermögen so viel Werth, wie bei den Andern haben.
Das ist eben das Wohlthuende bei Lazarus, daß er frei ist von solchen
Wortklaubereien, daß er überall der Erfahrung nachgeht und das inductiv
Gegebene zur Grundlage nimmt; dies geschieht aber eben, weil er der That¬
sache Rechnung trägt, daß Worte nur Zeichen sind, deren Inhalt nur relativ
gültigen Werth hat. Ich erinnere an die oben gegebene Erklärung von
Atom und füge hier die vom Ich (S. 132) hinzu: „Wer da sagt: „Ich",
der denkt unter diesem seinen Ich nicht das reine Subject, sondern Alles.
Was er erlebt, was er gethan und gedacht und gefühlt hat. Alles, was den
Kreis seines inneren Daseins wesentlich erfüllt, seine Fähigkeiten, seine Seel-
^ug u. s. w.; „ich muß dies und das thun, unterlassen" und dergleichen,
beißt in Wahrheit: ich. der ich diese Bildung besitze, diesen Stand, dieser
Familie angehöre, diese Pflichten. Plane zu erfüllen habe. u. f. w."
Diese Erklärungen zeigen zugleich, daß Lazarus, so voll er auf dem
informatorischen Boden Kant's steht, doch auch über ihn berichtigend hinaus-
äehr. Kant eifert gegen Atome; Lazarus giebt dem Wort seine concrete
Bedeutung. Kant sagt, das Ich begleitet alle meine Vorstellungen. Lazarus
reißt das Ich aus dem Bedtentenverhältniß heraus und macht das Ich zur
einheitlich wirkenden nach außen sich bethätigenden Kraft zur Jchheit selbst.
Nur in Betreff der Erkennbarkeit des Dings an sich und namentlich Gottes
geht Lazarus nicht über den Standpunkt Kant's hinaus. Dieser Tadel ist
dem Buche Lazarus' nicht zu ersparen.
Noch möchte ich bei der Bedeutung der Schrift von ihrer Sprache reden.
Sie liefert den Beweis, daß auch der Deutsche im Stande ist, abstracte
philosophische Stoffe in schöner Rede und klarer Lebendigkeit zu behandeln.
So licht und klar ist seine Rede, so einfach und bei aller Strenge des Denkens
so zwanglos sind seine philosophischen Folgerungen, daß das Buch verständ¬
lich ist für alle, welche als Gebildete die für Gebildete geschriebenen Bücher
lesen und kaufen. Und wenn Prof. Neuleaux jüngst das schroffe Wort aus¬
sprach: der Deutsche wolle nur schlechte und billige Waare; so möchte ich
Lazarus' Buch als einen anderen Werthmesser achten und sagen: wenn dieses
Buch keine Aufnahme findet, so ist es ein Zeichen, daß der Deutsche nur an
negirenden und zersetzenden Schriften Freude hat. Denn bei der Meister¬
schaft seiner Darstellung und Sprache würde Lazarus' Leben der Seele in 2
Jahren 19 Auflagen erlebt haben, wie jetzt umgekehrt 2 in 19 Jahren, wenn
es in der negirenden Weise jener Männer geschrieben wäre, deren populärer
Ruhm so reich ist, daß ich ihn durch Namennennung nicht zu vermehren
brauche. — Ich verfolge nun einzelne Abhandlungen des Buches.
Bildung und Wissenschaft. Auf den ersten Anblick erscheint die
Zusammenstellung der einzelnen Capitel von Lazarus' Schrift — Bildung
und Wissenschaft — Ehre und Ruhm — der Humor — der Einzelne
und das Allgemeine — eine sehr zusammenhangslose. Aber in dieser
scheinbar zwangslosen Anordnung ist systematischer Fortgang. Bildung
und Wissenschaft führen das Material vor, durch welches und in welcher
Weise die entwicklungsfähige Seele sich zu bilden hat. Ehre und Ruhm
betrachtet die Seele als das Selbst oder Ich, das die Bildung erstrebt.
Der Humor betrachtet die verschiedenen Weltanschauungen, zu denen das Ich
unter den Einflüssen der umgebenden Welt gelangen kann. Im Verhältniß des
Einzelnen zum Allgemeinen wird der Mensch als das Glied der Gesellschaft
betrachtet und damit zugleich der reale Boden der Entwickelung der Seele.
Der Entdecker der Völkerpsychologie versetzt uns in seiner ersten Unter-
suchung sofort in die Anschauungen der Völker. Der Begriff der Bildung,
wie er bei den Deutschen gedacht werde, sei bei den übrigen Nationen nicht
als ein einziger Begriff vorhanden; den älteren, auch den classischen Völ¬
kern habe der Begriff und auch die Sache größtentheils gefehlt (S> 5). Zwar
seien Griechen und Römer unleugbar gebildete Nationen gewesen; aber die
Individuen waren Gelehrte, Künstler, Staatsmänner, nicht aber das, was man
Gebildete im engeren Sinne nennt. Bildung des Volkes und des Indivi¬
duums decken sich nicht, wie auch schon Gebildete und Ungebildete dieselbe
gebildete Sprache reden können (7, 8).
Diese Erscheinung ist zu wichtig, um nicht ihrer Ursache nachzugehen,
zumal Lazarus (S. 5) behauptet, in unseren Tagen würde der Begriff der
Bildung gar nicht mehr entstehen. Ich widerspreche dieser Ansicht und behaupte,
erwürbe heute entstehen, wie früher, wenn er noch nicht vorhanden wäre.
Warum fehlte den Alten der Begriff der Bildung? Weil ihnen der des
Lebens der Seele fehlte. Ihnen war die Seele nicht ein in der dreifachen
Thätigkeitsweise des Denkens, Fühlens und Wollen« sich äußerndes, einheitlich
persönliches Wesen, sondern sie nahmen verschiedene Seelen im Menschen an,
Plato drei, Aristotelos sogar fünf. Unter diesen galt das Denken und zwar
die selbstbewußtseinfrete reine Intelligenz als die höchste, aus dem Himmel
stammende Seele, während die anderen Seelen mit dem Selbstbewußtsein erst
durch den irdischen Leib, in dem die Intelligenz wie in einem Gefängniß
wohne, bedingt hießen. Diese griechische Seelenlehre ging parallel den griechi¬
schen Vorstellungen — namentlich von Plato und Aristoteles — über Gott,
der zu allen Zeiten der Seele ebenbildlich vorgestellt wurde. Gott erschien
als reine Intelligenz, die weder durch das individuelle Selbstbewußtsein in
ihrem allgemeinen Denken beschränkt, noch durch Wollen und Fühlen in
ihrer harmonischen Ruhe gestört werden durfte. Selbstbewußtsein, Wille und
Gefühl sollten also keine Wesensbestandtheile Gottes sein, sondern nur die
Intelligenz. Aehnlich urtheilte man über die menschliche Seele; in ihr sollten
die drei Momente nur schlechte Zugaben des irdischen Daseins sein, entstanden
durch den Einfluß der Materie.
Von einem Leben der Seele, von einer fortschrittlichen Entwick¬
lung der seelischen Kräfte, konnte dabei keine Rede sein. Die In¬
telligenz vermochte nur durch asketisches Fernhalten von den die niederen
Seelen des Begehrens und Selbstempsindens erregenden, sinnlichen Ein¬
drücken, ihre aus dem Himmel stammende Kraft rein zu erhalten. Erst
13. Jahrhundert tritt mit einem ausgeprägten Individualismus, sagt L.
(S. 6, 6) das was man Bildung nennt, wenn auch nur erst der Sache, nicht
dem Princip und bewußtem Ziel nach auf. Wir dürfen sagen, daß diese
Vorstellung von einer persönlichen Seele aufkam im Gefolge der Vorstellung
von einem persönlichen Gott, der nicht blos als Allweisheit reine Intelligenz
^ar, sondern als Heiligkeit reiner Wille und in seiner Liebe reines Gemüth,
und der'trotz dieser dreifachen Thätigkeitsweise als ein einheitlich lebendiges
Wesen gedacht wurde. Aber erst mit Kant, als er die Seele als eine frei¬
thätige, Wahrheit erobernde Kraft begreifen lehrt, war das Princip der
lebendigen Seele ein bewußtes Ziel der Denkenden. Nur blieb Kant leider
noch zu sehr in alt hergebrachten Anschauungen stehen und statt die
Seele als ein in Denken, Fühlen und Wollen freithätig und einheitlich sich
entwickelndes Wesen zu begreifen, sagt er nur: das Ich begleitet unsre Vor¬
stellungen; er scheidet, wie die Griechen und wie die Kirche Roms, welche die
Seelenlehre jener adopttrt hatte, hohe und niedere Seelenvermögen und er
läßt eigentlich nur der Vernunft die Entwicklung zukommen. Ja, indem er,
obgleich Ehrenretter der Vernunft, diese auf das Gebiet der Sinnlichkeit be¬
schränkte, so machte er sie eigentlich, ganz wie die Kirche, zu dem niederen
Vermögen, über welchem in Form der praktischen Vernunft das höhere Organ
des Glaubens an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit steht.
Lazarus geht in diesem Punkt über Kant hinaus. Denken. Fühlen und
Wollen sind ihm nicht als höhere und niedere Vermögen getrennt, sie sind
ihm die durch die Induction gegebenen dreifachen Erscheinungsweisen der
Seele, die bei der einheitlichen Natur der Seele sämmtlich — und nicht etwa
nur das Denken — zu entwickeln und zu steigern sind. S. 10 unterscheidet
L. daher die Bildung der Intelligenz, der Sittlichkeit und der Aesthetik des
Lebens. Aber grade diese vertieftere Auffassung von der Entwicklung der
Seele beweist auch, daß der Begriff der Bildung ein stets bleibender sein
muß, weil man der Entwicklungsfähigkeit der Seele bewußt wurde; ja er hat
durch L. eine Steigerung erfahren; indem wir mit ihm unter Bildung die
dreifache Entwicklung des einheitlichen Wesens verstehen, in welchem bei der
Wechselbeziehung dieser dreifachen Erscheinungsweise die Bildung der einen
bereichernd und befruchtend auf die andere wirkt oder wirken soll. Die
Theorie der höheren und niederen Vermögen kennt diese Wechselbefruchtung
nicht; deshalb sagt man in heutiger Zeit noch in der Regel: Das Wissen
allein ist entwicklungsfähig, das Wissen steht ohne Beziehung zum Glauben,
und die Sittlichkeit ohne Beziehung zu Glauben und Wissen, und weil man
es sagt, so handelt man oft auch danach.
Ausführlich bespricht L. in selner Betrachtung nur das Verhältniß der
Bildung zur Wissenschaft. Er zeigt S. 10, daß die Bildung individuell, das
Wissen allgemein ist; aber indem der Einzelne als sociales Glied dasteht und
Theil nimmt am Geist des Volkes und der Menschheit, so wird damit die
individuelle Bildung zu einer ethischen Aufgabe, zu einer Verpflichtung
Aller (S. 22).
L. beantwortet nun die Frage, warum die Alten nicht den Begriff der
Bildung gehabt hätten, und giebt dabei einen anderen Grund an, als ich
eben that. Er sagt S. 25, es sei geschehen, weil der Einzelne nur aus dem
Gesichtspunkt des Allgemeinen gewürdigt worden sei. Das ist richtig, aber
doch würde richtiger statt des Allgemeinen gesagt worden sein: aus dem
Gesichtspunkt des Staates, des Volkes oder der Nation. Denn über
dem Allgemeinen der Nation steht das Allgemeine derMenschheit und
SU diesem Begriff erheben sich die Alten nie. Ihnen galt es als höchste Ehre,
einem geehrten, ruhmvollen Staatsganzen anzugehören. Ein Fremder galt in
dem Staat, an dem er keinen Theil hatte, als Barbar und hatte mit dem
Recht oder der Rechtlosigkeit eines Sclaven mehr den Werth einer Sache als
den eines Menschen. Nicht das Menschsein, sondern das Athener-, das Spar¬
tanersein gab Werth, und so konnte bei dieser unmittelbaren Verbindung des
Einzelnen mit dem Ganzen das Streben nach individueller Bildung nicht
aufkommen. Woher stammt aber diese Werthschätzung nach dem Allgemeinen
des Staates und nicht nach dem Allgemeinen der Menschheit? Sie stammt
wieder aus der Fassung der Gottesidee. Denn wie die Vorstellung vom
Leben der Seele nur da entstanden ist, wo Gott selbst als persönlich leben¬
diges Wesen gedacht wurde, so erhob sich auch die Vorstellung vom Werth
des Individuums nur da, wo die Vorstellung von Gott als einigem Vater
der gesammten Menschheit lebendig war, und wo damit der einzelne Mensch
»is Kind und Ebenbild Gottes eine Würde und Ehre gewann, die ihn ge¬
wissermaßen unabhängig machte von der Schranke der Nationalität und ihn
anregen konnte, in unmittelbarem Hinblick auf das Unendliche, seine indivi¬
duelle Bildung selbst ins Unendliche zu steigern. Dieser Individualismus
erwachte, wie gesagt, im Is. Jahrhundert; er hat im Faust seinen berühmtesten
Repräsentanten, aber gemäß der damaligen Vorstellung von der Seele bei
einem vorwiegenden Streben nach Wissen und Wahrheit, in der einheitlichen
Richtung auf Ausbildung der Vernunft.
Wo dagegen der Polytheismus den Blick des Menschen an der Local-
gottheit haften läßt, da bleibt auch die Vorstellung auf das Gebiet der Local-
gottheit beschränkt und man fühlt seine Ehre und Würde nur als ein Glied
des von dieser Gottheit verherrlichten Ganzen. Bei dieser Unterordnung des
Einzelnen unter das Ganze fehlt die Anregung aus sittlich freier Erhebung
in individueller Bildung zu erscheinen, und wo trotzdem Bildung auftritt,
^ gilt sie als Luxus und Genuß, wie L. S. 26 mit Recht erwähnt, und
an den Beispielen der griechischen Hetären und der römischen äomina, zeigt.
Lazarus scheidet dabei alte und neue Zeiten; aber es ist doch zu er-
^nem, daß man eigentlich erst seit Kant des Princips der Entwicklung der
Seele bewußt wurde, so daß auch erst seit dieser Zeit die Nothwendigkett der
Bildung allseitiger erfaßt wurde. Ueberdies ist nichts feinfühliger als die
^dee, und so kann auch in neueren Zeiten bei materialistischen Vorstellungen,
beim Haften an äußerem Schein, bei Werthschätzung des Anständigen statt
des Sittlichen die Bildung als Luxus erscheinen, so hat sie z. B. in neueren
Zeiten als nothwendiger Luxus für Maitressen, und als unnöthig für die
Hausfrauen gegolten.
Was nun den Inhalt der Bildung betrifft, so ist kein Wissensgebiet
davon ausgeschlossen, das Universum gehört ihr zu und in Universalität hat
sie aufzutreten (27. 28). Des Centrum bleibt dabei das allgemein mensch¬
liche Interesse, wobei sich engere und weitere Kreise der Bildung ergeben, und
jeder Einzelne nach seiner individuellen Bestimmtheit, Famtlienangehörigkeit
sein eigenes Centrum besitzt. Die Fachgelehrsamkeit darf sich nicht zu sehr
von andern Wissensgebieten, namentlich nicht denen von allgemein mensch¬
lichem Interesse abschließen und die einzelnen Schätze des Wissens dürfen
nicht todt und träge neben einander liegen. Als Beispiele todter Gelehr¬
samkeit und wahrhafter Bildung stellt L. S. 37 Cooring, Professor in Helm-
städt 1606 — 81 und Lessing gegenüber. Treffliches sagt er dann S. 40 ff.
über die Bildung der Frauen. Da bei ihnen nicht die einseitig machende
Beschäftigung mit einer Fachwissenschaft verlangt wird, so kann bei ihnen
die Veredlung des Persönlichen, die Darstellung des rein Menschlichen um
so entschiedener hervortreten. Die neue Emancipationsmanie freilich zieht das
Weib herab und nimmt ihm den mystischen Reiz der das ewig Weibliche, das
uns alle hinzieht, umgiebt.
Wenn nun unter der Voraussetzung S. 49, daß das Centrum der Bil¬
dung das allgemein menschliche Interesse sei, die Höhe der Bildung in der
Aneignung desjenigen Inhalts, welcher die Gesammtheit des geistigen Lebens
der Menschen und ihrer Interessen ausmacht (S. 30), besteht, so erscheint
(S. 49) solche Bildung vorerst als eine unmögliche Aufgabe; aber es ist zu
bemerken, daß sowohl Polhhistorie als auch Philosophie auszuschließen sind-
Eine angehäufte Summe von Kenntnissen ist noch keine Bildung. Die
Philosophie aber als Wissen des Wissens hat es mit der Möglichkeit und
den Grenzen des Wissens überhaupt, wie mit der Begründung des Wissens
im Allgemeinen und im Einzelnen zu thun. Sie ist somit selbst Wissenschaft
und die Bildung steht zu ihr, wie zu den anderen Wissenschaften im Ver¬
hältniß der Aneignung. Aber nicht (S. 67) auf Aneignung der Voll¬
ständigkeit des Inhaltes der Wissensgebiete, sondern auf Klarheit und
Verständniß desselben, sowie auf gewisse geistige Regsamkeit kommt es bei
der Bildung an. Sehr bezeichnend ist daher, sagt L. (S. 63), der Ausdruck
Bildung. Er deutet an, daß es sich in ihr nicht um An full» ng mit
Kenntnissen, sondern um Gestaltung, und weil organische Gestaltung auch
um Belebung und innere Bewegung des Geistes handelt. Deshalb schafft
(S. 64) „die Bildung die Seele zu einem Organismus um, für den jede
neue Erforschung eine Nahrung ist, welche er in sich ausnimmt, organisch
verarbeitet, und die nicht blos zu seiner Erhaltung, sondern auch innerer Ent¬
faltung und lebendiger Thätigkeit dient."
Dies ist einer jener fortschrittlichen Gesichtspunkte, durch welche sich L.
so hoch über jene Seelenlehrer stellt, welche meinen, die Seele als ein ein¬
faches Wesen darstellen zu müssen, weil sie einheitlich wirkt und weil
sie als reales Ding nicht theilbar sein soll. Die Seele ist gleich einem Or¬
ganismus, sie wächst und entfaltet sich wie er; aber sie ist auch mehr wie ein
Organismus, so daß jede Entfaltung nicht blos eine räumliche Erweiterung
oder eine wiederholte Neubildung von vorher schon Dagewesenem ist, sondern
jede Entfaltung ist zugleich eine Bereicherung des Selbstbesitzes der Seele
sie ist ein Zuschlag zu dem vorhandenen Capital, sie stärkt und vermehrt das
geistige Vermögen des Menschen, so daß er „wächst mit seinen Zwecken".
Man kann sagen, mit jeder wesentlichen Bereicherung wird die Persönlichkeit
des Menschen eine andere, insofern er mit tieferer Weltanschauung auch
reichere Lebensideale zu verwirklichen strebt.
Indem nun L. von der allgemeinen und speciellen Bildung spricht, be¬
klagt er beim Handwerk, daß die Theilung der Arbeit die Bildung vermindere.
Beherzigenswerte Worte sagt er dabei (S. 68): Kenntnisse und Fertigkeiten
Neben ihren Gewerben beigebracht, nützen nach ihm den Handwerkern wenig.
Und er hat Recht, denn ein Vortrag über den Sauerstoff oder das Planeten¬
system nützt dem Schuster neben seinem Handwerk wenig. Heutzutage sieht
Man freilich oft in solchen fernliegenden Stoffen ein Bildungsmittel der
Handwerker; als ob Belehrungen über die Idee der Sittlichkeit nicht näher
lägen und durch Erweckung der Pflichttreue nicht auch dem Geschäfte selbst zu
gute kämen! S. 71 weist L. darauf hin, was anzuerkennen man freilich
noch wenig geneigt sei, daß auch in wissenschaftlicher Thätigkeit die Theilung
der Arbeit der Bildung der Personen, wie der Schöpfung der Sachen von
Nachtheil sei.
Ordnung, System, Principien, Gesetze, Methode — ich füge hinzu Kritik
^ machen den Bestand und den Fortschritt einer Wissenschaft aus (S. 77);
"ber sie bilden zugleich den Bildungsgehalt eines jeden Wissensgebietes. In
ihrer Aneignung, in ihrem klaren Verständniß liegt das Wesentliche einer all¬
gemeinen Bildung, welche freilich wie die Wissenschaft selbst stets Ideal
bleibe« wird, da sie durch einen bestimmten centralen Ausgang stets indi¬
viduell gefärbt ist (S. 79). Das Hauptkriterium für den Grad der Bildung
liegt aber in der Kenntniß der Nationalliteratur (S. 83). Denn die Reife
^ öffentlichen Bildung des Volkes giebt sich zumal in der Sprache kund.
^ Sprachschatz und die Sprachgewalt, die Stil- und Ausdrucksweise eines
Volkes spiegelt und manifestirt sich in seiner Nationalliteratur; und die Be-
^"ntschaft der Werke der Dichter und ihrer Geschichte sind das eigentliche
Gespräch der Gebildeten und ihr Verständniß der fast absolute Maßstab der
Bildung (S. 83).
Das Studium desMenschen aber ist derMensch, und deshalb
muß auch die Erkenntniß der Gesetze des geistigen Lebens, ein psychologisches
Verständniß des eigenen Innern ein wesentliches Moment sür die Bildung sein
(S. 92). Hiermit kommt L. auf die Bedeutung der Psychologie für die Bil¬
dung zu reden und knüpft S. 93 eine Gliederung seiner Schrift an. In
kürzeren Ausführungen folgen dann die Vergleiche zwischen Bildung und
Sittlichkeit, zwischen Bildung und Schönheit, doch verweisen wir des Raumes
wegen auf die Schrift selbst. Nur möchte ich noch speciell S. 111 hervor¬
heben, weil hier unser Völkerpsycholog von dem zweideutig sittlichen
Standpunkt der Griechen spricht, der eine Folge ihrer Verwechslung des
Schönen und des Guten gewesen sei. Dieses Urtheil zeigt, wie klar das
ethische Princip von L. erkannt ist und wie rein er es verwirklicht haben
will. Anstand und Schicklichkeit sind ihm noch keine Sittlichkeit, das Handeln
nach Principien des Schönen ist ihm noch kein Handeln aus dem Sittlichen. Das
Urtheil ist aber auch um so bedeutender, weil es von einem Manne stammt,
der voll Begeisterung ist für griechischen Volksgeist, und weil man auch heut«
noch oft sagt, da man diesen Mangel freier Sittlichkeit in Griechenland über¬
sieht oder übersehen will: im Griechenthum sei die wahrste Menschlichkeit vev
wirkliche worden.
Eine gute populäre Zusammenstellung der neuesten Forschungsergebnis!
auf dem vom Titel genannten Gebiete, bestimmt zur Ergänzung einer frühere'
Schrift des Verfassers, welche die Erde, ihren Bau und ihr organisches Lebe'
zum Gegenstande hatte und Beifall beim Publikum fand. Die Erscheinung"
und Wirkungen des Luftlebens sind vom höchsten Interesse, da unsere Gesuni
heit wie , unsere Cultur von der Luft, der Trägerin des Lichtes und de
Wärme, der Vertheilerin der Temperatur, beherrscht wird, da die Luft de
Pflanzen und Thieren ihre Verbreitung, den Menschen ihre Lebensweise un
Beschäftigung, ihren Verkehr und ihre Industrie vorschreibt. Den Stoff Z
seinem Buche hat der Verfasser durchgehends,bewährten Forschern, u. A. Hum¬
boldt, Dove, Mühry. Griesebach. Arago, Mohn, Kabsch und Reclus entnommen,
wobei er das streng Wissenschaftliche ausscheidend nur die Hauptbeweise und
die wichtigsten Resultate zusammengetragen hat, die jeder Gebildete wissen sollte.
Sehr zu loben ist die Vorsicht, mit welcher er dabei verfährt, und mit der
er allenthalben das, was als erwiesene Thatsache zu gelten hat, und das,
was nur Vermuthung und Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ist, in dieser
seiner Eigenschaft bezeichnet. In den gewöhnlichen Handbüchern wird nicht
Weniges, namentlich in der Pflanzen- und Thiergeographie und in der Lehre
von den Menschenrassen als Thatsache angesehen und mitgetheilt, was in
Wirklichkeit noch Gegenstand sich widerstreitender Behauptungen ist. Das
Ganze zerfällt in eine Einleitung, die sich über den Zusammenhang von Luft
und Leben verbreitet, und fünf Hauptabschnitte, von denen der erste sich in
Beantwortung der Frage: „Was ist die Luft?" mit der Charakterisirung von
Luft, Licht und Wärme, mit der Bestimmung der Größe des Luftraums und
mit Luftschifffahrten beschäftigt. Das zweite Kapitel behandelt die Winde,
deren Entstehung, die Passatwtnde und Windstillen, die Stürme und
Orkane, die Wasser- und Windhosen und Dove's Gesetz der Stürme.
Das dritte geht zur Betrachtung der Luft als Regenverbreiterin über, wo
dann Wolkenbildungen, Regenzeiten, Schnee und Hagel, das Wetter und
das Barometer und Aehnliches ins Auge gefaßt werden. Der vierte Haupt¬
abschnitt hat es mit der Wärme und Elektricität der Luft, mit dem Einfluß
der Temperatur auf die Gesundheit, mit den Gewittern, den Nord- und Süd¬
lichtern, dem Erdmagnetismus und den Ursachen und Wirkungen des Magne¬
tismus zu thun. Der fünfte und letzte endlich belehrt uns in einer Gruppi-
rung der wichtigsten Entdeckungen der modernen Wissenschaft von den be¬
treffenden Naturdingen über das Klima und seinen Einfluß auf das Leben
der Pflanzen, Thiere und Menschen, wo namentlich die Abschnitte über die
Zonen und Wanderungen der Pflanzen, über das Thierleben im Meere, über
die Verbreitung der Menschenrassen und die psychologische Begründung der
Rassenkennzeichen viel Lehrreiches enthalten. Erfreulich ist, daß der Verfasser
hier nicht in die Modethorheit der Häckelei einstimmt. Ein kleiner Irrthum
ist es, wenn S. 218 blos die Inder durch fortweisei'de Bewegung heran¬
winken sollen, auch die Westasiaten bis nach Aegypten hin thun dieß. Als
ein stärkerer Irrthum ist die Stelle zu bezeichnen, wo es S. 222 heißt:
„Unsere ältesten geschichtlichen Erinnerungen verdunkelten sich nach und nach
zu deutungsschweren Götter- und Heldensagen." Die Menschheit hat ge¬
schichtliche Erinnerungen erst von der Zeit an, wo sie die Schrift erfand.
Wo diese nicht existirt, sind die Sagen und Mythen zunächst nur Bilder
aus dem Leben der Naturmächie. die bei höherer Ausbildung des betreffenden
Volkes ethischen Inhalt gewinnen. Mit der Geschichte aber hat die Mytho¬
logie direct nichts zu thun. Auch die an jene Stelle sich knüpfende Bemerkung,
der Aberglaube sei aus Volksmärchen entstanden, zeigt, daß der Verfasser sich
hier nicht auf dem Gebiete befindet, auf dem er zu Hause ist und ein richtiges
Urtheil hat.
Die in dieser Schrift vertretene Anschauung der Dinge will nicht, wie
man nach dem Titel der Schrift meinen könnte, ein Philosophiren ohne
wissenschaftliche Vorbildung und wissenschaftliche Methode sein, sondern nennt
sich eine Philosophie des gesunden Menschenverstandes vorzüglich deshalb,
weil sie sich an das Gegebene hält und nicht weiter zu gehen versucht, als
die Grenzen des menschlichen Erkenntnißvermögens reichen, mit andern Worten,
weil sie nur die Causalkette eine kleine Strecke emporsteigt, während die
meisten Philosophen von oben herab, von Principien aus, die Welt in Ge¬
danken construiren. Ihrem Wesen nach ist jene Anschauung eine in ihren
Consequenzen weit abgehende Abzweigung der Schopenhauer'schen, von der
sie sich durch verschiedene Auffassung der Kantischen Idealität von Zeit und
Raum trennt, wodurch wieder die Wurzel der Jndiviouation sich als weiter
reichend darstellt, als Schopenhauer glaubt. Die Grundvoraussetzungen, auf
welchen der Verfasser sein System aufbaut, sind: die secundäre, vielleicht
tertiäre Natur des menschlichen Bewußtseins, die Unzulänglichkeit einer ab¬
sichtslosen, zufälligen Combination der bekannten Stoffe als Erklärungsgrund
für die menschliche Erscheinung und die organische Welt überhaupt, der „recti-
ficirte" Kantische Idealismus und die hierdurch gewonnene größere Durch¬
sichtigkeit des Welträthsels. In den ersten vier Kapiteln nimmt der Verfasser
Stellung gegenüber den drei Anschauungen, in welche sich der intelligente
Theil der Menschheit spaltet: der spiritualistischen. der materialistischen und der
durch den kritischen Idealismus inaugurirten Anschauung der neuern Philo¬
sophie bis auf Schopenhauer und Hartmann. Im fünften Abschnitt be¬
schäftigt er sich mit „anormalen Organisationen", worunter er das versteht,
was gewisse Schüler Schelling's als „Mittelreich" und „Nachtseite der Natur"
bezeichneten, Somnambulismus, Visionen, Wahrträume und Prophezeiungen
also, Organisationen, denen er mit anerkennenswerther Vorsicht gegenüber¬
steht, welche nach ihm aber doch „Beweismittel von zwingender Nothwendig¬
keit für und gegen so manche bestehende Anschauungen enthalten, und welche
ganz unverdienter Maßen einer objectiven Würdigung nicht unterzogen werden,
sondern einem stupenden Aberglauben (dem Spiritismus) überlassen sind, der
ganz ungerechtfertigte Schlüsse daraus zieht. Die beiden letzten Kapitel und
das Schlußwort endlich geben die Resultate, zu denen der Verfasser gelangt.
Dieselben sind im Wesentlichen folgende:
Das Wesen unsrer Erscheinung liegt nicht in unserm Bewußtsein, der
bekannte Stoff kann nicht das organisirende Princip sein, die menschliche
Erscheinung hat den Willen Schopenhauer's oder eine diesem entsprechende
All- eine Naturkraft nicht zur unmittelbaren Unterlage, weshalb die Wurzeln
der Individualität über die menschliche Erscheinungsform hinausragen. Wenn
wir aus den Sätzen: das Bewußtsein ist nur der Reflex uns unbekannter Ge¬
hirnvorgänge, der organische Bau verräth Absicht und Intelligenz, die der be¬
kannte Stoff nicht haben kann, die Wurzel der Individualität ragt über die
menschliche Erscheinungsform hinaus, den Begriff einer Seele construiren,
so können wir allenfalls noch sagen: diese Seele muß Intelligenz und Willen
haben, weil sie organistrt. sie muß etwas Stoffliches sein, weil sie auf den
Stoff wirkt und aus ihm Organe entwickelt, sie muß etwas Organisirtes sein,
weil Wahrnehmungen vorhanden sind, die den Schluß erlauben, daß sie durch
ihre Organisation in wesentlich andren physikalischen Verhältnissen, insbesondere
in andren Raum- und Zeitverhältnissen existtre. Hier hört der Faden des
Begründeten für das Transcendente aus und beginnt die Reihe des Wahr¬
scheinlichen und endlich die des Möglichen. Wenn wir aber die zufällige
Stoffcombinatlon für so wunderbare Organismen ausschließen und eine ge¬
wallte annehmen müssen, wenn wir diesen Willen weder als ein an sich Un¬
bewußtes noch als All-Einen für die Dauer der uns bekannten Welt annehmen
können, so bleibt nichts als das Princip der Seelenwanderung, wie es auch
geartet sein mag. Die Seele ist nichts Einfaches, nichts Immaterielles, nichts
Metaphysisches, mehr wissen wir nicht. Wir müssen uns damit begnügen,
zu wissen, daß der Mensch die zeitliche Erscheinungsform einer Seele sei,
welche vielleicht keine ewige, wohl aber eine unser Fassungsvermögen über¬
steigende lange und andersartige Existenz habe. Unser menschliches Leben
ist „nur ein Tag aus einem andern langen Lebenslaufe." — „Wohl mag
Schopenhauer darin Recht haben, daß die vollendete menschliche Organi¬
sation zur Verneinung des Lebens führe, jedoch nur dieses Lebens, der
menschlichen Daseinsform; er hätte Unrecht, zu glauben, daß diese Ver¬
neinung etwa ein otium eum Siguiwtö sei, er hätte Unrecht, weil den Kräften
der Natur nur ewige Arbeit, den organischen Wesen jeder Art nur höhere
Organisationsformen in Aussicht stehen."
Die Welt ist „eine unendliche, sich selbst überlassene organische Werkstätte,
in deren Thätigkeit kein außerhalb der Welt stehendes metaphysisches Princip
eingreift. Das Organisirende ist kein einheitlicher Wille, keine undefinirte
einheitliche Naturkraft, sondern eine Vielheit; die Arbeiter in dieser riefen-
haften organischen Werkstätte sind organisirende Viele, deren Ursprung und
Uranlage sich allerdings unserer Erkenntniß entzieht." — „Wir höheren
organisirten Gebilde sind nicht das erste, sondern das nee Product, die nee
Metamorphose einer unabsehbaren Reihe von Entwickelungen dieser bildenden
Kräfte. Ich, der Mensch, bin die Erscheinungsform eines Wesens, mit
welchem ich nach dem Ausdrucke Kant's wohl einerlei Subject sein mag. nicht
aber einerlei Person bin, wie Aehnliches im Traume vorkommt. Mein Ich,
dieser Reflex von Gehirnvorgängen, dieses Phantom, schwindet wie ein Traum,
das organisirende Wesen hingegen organisirt fort und fort, wenn auch seit
unfaßbarer Zeiten auf eine für mich unfaßbare Weise, und wenn auch in
den verschiedensten Formen, so doch jedenfalls mit steigender Vervollkommnung,
welche die Frucht seiner Arbeit ist. Ob diese Kette der Entwickelung eine
ewig fortlaufende sei, oder in unvorstellbaren Zeiten die indische Lehre von
der endlichen Auflösung des materiellen Alls eine Wahrheit werde, wissen
wir nicht und hat für uns gerade so viel Bedeutung als etwa die Frage,
ob der anziehende Mittelpunkt des Milchstraßensystems schon die Central-
sonne des Weltalls sei oder nicht. Wie aber mein Ich nur der Reflex eines
andern Wesens ist, so ist nothgedrungen meine vorgestellte Welt nur der
Reflex einer andern tiefer gelegenen; daher der Pessimismus (Schopenhauer's
und Hartmann's) nur für meine Welt richtig, hingegen in Betreff des meiner
— d. h. der in meiner Vorstellung lebenden — Welt zu Grunde Liegenden
fraglich ist. Von dem Augenblicke an, wo man die steigende Vervollkommnung
nicht nur der Cultur und Veredelung des Keimes, sondern auch dem organi-
sirenden Principe gutschreibt, gewinnt die Welt an Durchsichtigkeit und be¬
kommt durch die so gewonnene Vernünftigkeit eine optimistische Färbung, ja
mehr als das — einen hoch moralischen Charakter." — „Was das organi¬
sirende Princip bringt und nimmt, ist uns unbekannt; aber jede That, durch
die wir zur Cultur, sei es unseres Körpers, Geistes oder Gemüthes, sei es
der fremden organischen oder unorganischen Außenwelt, beitragen oder aber
ihr hindernd in den Weg treten, ist von folgenschwerer Wirkung für dieses
organisirende Princip, das durch die kleinsten Schritte und die größten Zeit¬
räume die Welt zum Wunder macht. Mit dem ewigen Lohne und der ewigen
Strafe hat es, so genommen, seine Richtigkeit."
Wir nehmen an, daß diese Auszüge die Leser veranlassen werden, sich
das Buch selbst anzusehen, eine Beachtung, die es auch von Seiten derjenigen
verdient, die nach dem Mitgetheilten nicht mit dem Verfasser einverstanden sind.
So oft das Gebiet des Aberglaubens auch schon untersucht und nach
seinen verschiedenen Erscheinungen dargestellt worden ist, noch niemals hat
Man sein Augenmerk auf die Rolle gerichtet, welche der Ring hier zu allen
Zeiten gespielt hat, und da diese Rolle eine sehr bedeutende ist, so glauben
wir, daß man uns dankbar sein wird, wenn wir die Sache im Folgenden
einer möglichst ins Einzelne gehenden Betrachtung unterziehen.
Von alten Zeiten her wurde der Ring als ein Zeichen oder eine Figur
voll geheimnißvolle Bedeutung angesehen. Indische und ägyptische Götter¬
bilder wurden mit ihm dargestellt und zwar sicher nicht blos zum Schmuck.
Einen Ring zogen um sich die Zauberer, wenn sie Geister beschworen. Mit
Gingen wurden wunderbare Heilungen vollzogen, schützte man sich gegen
Krankheiten, gegen Dämonen und Hexen, gegen das „böse Auge" und andere
Gefahren. Mit gewissen Ringen machte man sich der Sage nach die ganze
Magische Welt Unterthan, wobei das Wirkende allerdings nicht allein in der
^inggestalt, in der wir das Symbol des Anfang- und Endlosen, des Ewigen
uns haben, sondern zugleich in dem Material der betreffenden Ringe, in
Steine, den sie umfassen, in der Inschrift oder dem Bilde, das sie an
tragen oder in anderer Zuthat zu suchen ist.
Schon in Kalidasa's Sakuntala begegnen wir einem doppelt wunder¬
ten Verlobungsringe, der einerseits an den Ring des Polykrates erinnert,
'"dem er, im Wasser verloren gegangen, im Innern eines Fisches wieder-
Runden wird, und der andrerseits dem König Duschanta die ihm ent-
^wundere Erinnerung an seine Braut und die Liebe zu ihr wiedergiebt.
R^g des Zwerges Andwari in der eddischen Version der Geschichte von
^ Nibelungen trägt einen verhcingnißvollen Zauber in sich, der als Fluch
^uf jeden seiner Besitzer sich forterbt und zuletzt jenes Heldengeschlecht bis auf
Letzten tödtet. Vielfach sind in Mythen und Sagen, Liedern und Balladen
^acht und Glück, Liebe und Treue an einen Ring geknüpft. Auch unsere
Trauringe haben vielleicht ursprünglich amuletartige Bedeutung gehabt, sicher
wenigstens haben sie eine solche Bedeutung in der Volksmeinung hier und da
gewonnen und zum Theil bis jetzt behauptet.
Mehr Gewalt als alle Zauberstabe schloß nach rabbinischen und arabischen
Ueberlieferungen der berühmte Ring Salomos ein. Jene Traditionen erzählen
von ihm, daß er den König zum Beherrscher der gesammten Geisterwelt
machte, daß er ihm den Himmel öffnete, und daß er ihn stets weise und ge¬
rechte Urtheile fällen ließ. Im Talmud aber lesen wir von ihm Folgendes.
Nachdem Salomo Sidon eingenommen und den König dieser Stadt getödtet
hatte, führte er dessen Tochter Jerada hinweg und machte sie zu seinem Kebs¬
weibe. Da sie den Verlust ihres Vaters zu betrauern nicht aufhörte, ließ er
die Dämonen ein Bild von ihm verfertigen, um sie zu trösten, und nachdem
er dasselbe in ihre Kammer gethan, beteten sie und ihre Mägde es nach der
Sitte ihres Landes jeden Morgen und Abend an. Salomo, von Asif, seinem
obersten Rathe, von dieser Götzendieners unter seinem Dache benachrichtigt,
zerbrach das Bild und ging, nachdem er die Weiber bestraft, hinaus in die
Wüste, wo er Gott weinend um Vergebung wegen seiner Nachlässigkeit an¬
rief. Der Herr aber gedachte dieselbe nicht ungeahndet zu lassen. Salomo
hatte die Gewohnheit, wenn er in's Bad ging, seinen Siegelring (auf dem
sich der Sehern Hamphorasch, der unaussprechliche Name Gottes, befand, und
von dem seine ganze Macht abhing) in der Obhut der Jüdin Anima, eines
andern Kebsweibes von ihm, zurückzulassen. Eines Tages kam zu dieser ein
Dämon Namens Sandar, der die Gestalt des Königs angenommen hatte,
und empfing von ihr den Ring, mit dessen Hülfe er nun die Gewalt an sich
riß, während Salomo als unbekannter Bettler das Land durchwanderte.
Endlich, nach Verlauf von vierzig Tagen (so lange hatte auch das götzen¬
dienerische Treiben im Hause des Königs gedauert) flog der Dämon davon
und warf den Ring ins Meer. Hier aber verschlang ihn ein Fisch, der bald
darauf gefangen und Salomo gegeben wurde. In seinem Bauche fand sich
der Ring wieder, mit dessen Besitz der König die Herrschaft wieder erlangte.
Sandar wurde darauf ergriffen, und Salomo band ihm einen großen Stein
an den Hals und versenkte ihn in den See von Tiberias.
Der Lyder Gyges besaß einen Ring mit einem Steine, der ihn un¬
sichtbar machte, und mit dessen Hülfe er den König Kandaules des Thrones
beraubte.
Viel Aufregung rief im Mittelalter in einigen italienischen Städten die
Entdeckung des Trauringes hervor, mit welchem Sanct Joseph sich die Jung'
frau Maria vermählt hatte. Die Legende erzählt: Im Jahre 996 schickte
Judith, die Gemahlin des Markgrafen Hugo von Etrurien, den Goldschmied
Ranerius nach Rom, um Edelsteine für sie einzukaufen. Hier machte dieser
die Bekanntschaft eines Juweliers aus Jerusalem, der ihm beim Abschied einen
Ring mit einem Onyx oder Amethyst verehrte, welchen er ihm werth zu halten
empfahl, da er der Trauring Josephs und der heiligen Jungfrau sei. Nane-
rius aber mißachtete das Kleinod und warf es in einen Kasten mit werth¬
losen Dingen. Zur Strafe dafür ließ Gott ihm seinen zehnjährigen Sohn
sterben.-Als man das Kind zu Grabe trug, richtete es sich plötzlich im Sarge
auf und gebot den Trägern Halt zu machen, worauf es seinen Vater herbei¬
rief und ihm sagte, es sei durch die Gunst der Mutter Gottes vom Himmel
zurückgekehrt, um ihn auf den Schatz aufmerksam zu machen, den sein Haus
in ihrem Eheringe besitze. Er möge ihn sogleich holen lassen, damit ihm das
Volk die ihm gebührende Verehrung bezeigen könne. Die Kiste mit dem
Ringe und den werthlosen Sachen wurde dem Kinde gebracht, und dasselbe
fand jenen sofort heraus, obwohl es ihn nie vorher gesehen hatte. Nachdem
der Knabe ihn ehrfurchtsvoll geküßt und die Umstehenden desgleichen gethan,
während alle Glocken der Stadt von selbst dazu läuteten, wurde der Ring
dem Pfarrer des Kirchspiels übergeben, der Knabe aber legte sich wieder in seinen
Sarg und wurde begraben. Der Ring begann darauf allerlei Wunder zu
verrichten: er heilte schlimme Augen und Hüftweh, verhalf durch Elfenbein-
ringe, die mit ihm berührt worden, Kreisenden zu leichter Geburt, trieb Teufel
aus, versöhnte Eheleute, die sich gezankt hatten und was dergleichen erstaun¬
liche Leistungen mehr waren. Als 1473 die kleine Kirche von Musthiola, in
welcher diese Reliquie bis dahin verwahrt worden, verfallen war, brachte man
den Ring zu den Franeiscanern von Clusium. Hier wollte ihn ein deutscher
Mönch, Namen Wintherus, der ihn bei einer Gelegenheit dem Volke zu
zeigen hatte, in sein Vaterland entführen. Er entwendete ihn und machte
sich mit ihm davon, wurde aber auf dem Wege von einer plötzlichen wunder¬
baren Finsterniß überfallen, die erst wieder aufhörte, als er den Ring nach
Clusium zurückzubringen gelobte. Indeß gereute ihn das wieder, und noch
einmal versuchte er nach Deutschland zu kommen. Nach Perugia gelangt
und dort bei den Augustinern abgestiegen, sah er die Finsterniß sich aber¬
mals herabsenken, und dießmal dauerte sie zwanzig Tage, nach deren Verlauf
Wintherus sich entschloß, die Reliquie dem Volke zu zeigen. Man redete ihm
zu, dieselbe in Perugia zu lassen, und er willigte ein. Die Leute in Clusium
verlangten sie zurück, die von Perugia weigerten sich, sie auszuliefern, und
als jene die Entscheidung des Papstes anriefen, fiel dieselbe gegen sie aus,
und Perugia behielt das Kleinod, das noch heute in der dortigen Lauren-
tiuskirche aufbewahrt und alljährlich am Josephstage dem Volke gezeigt wird.
Schon unter den alten Griechen und Römern waren Zauberringe der
verschiedensten Art ein förmlicher Handelsartikel. Massen davon wurden,
namentlich in Athen, aus Holz, Knochen oder Horn fabricirt und das Stück
für eine Drachme verkauft. Im „Plutos" des Aristophanes sagt der Bieder¬
mann auf die Bedrohung des Sykophanten:
„Was kümmerst Du mich? Trag' ich hier doch diesen Ring,
Den ich dem Eudemos für zwei Drachmen abgekauft."
Wenn Karion dazu bemerkt: „Doch ist darin nichts gegen der Sykophanten
Biß", so haben wir anzunehmen, daß dieser Ring gegen das Gift im
Schlangenzahn und Scorpionenstachel helfen sollte. Ein römischer Ring, den
wir noch haben, zeigt ein Menschenantlitz, aus dem ein Elephantenrüssel her¬
vorwächst, welcher einen Dreizack schwingt, woraus vielleicht zu schließen, daß
der Ring gegen Scegefahr schützen sollte. Ein anderer römischer Amuletring
ist mit dem Bilde von drei Raben oder Krähen geschmückt, welche als Sym¬
bole ehelicher Treue dessen Bestimmung andeuten, und wieder ein anderer
umschließt einen Sardonyx, auf dem sich eine Sau befindet, die als Sühn-
opfer dargebracht wurde. In Rom waren ferner Altäre, die den Kabiren
von Samothrake, geheimnißvollen semitischen Gottheiten, geweiht waren,
welche der auf jener Insel betriebnen Fabrikation von eisernen Talismanen
in Ringform vorstanden. Ein Portrait Alexanders des Großen, in einen
goldnen oder silbernen Fingerring eingelassen, sicherte unter den späteren
Griechen dem Träger Wohlbefinden und Gedeihen. Als man Nero einst einen
Ring schenkte, auf dessen Stein der Raub der Proserpina eingegraben war,
galt dies für ein Omen, welches dessen Fall voraussagte. Als Hadrian
beim Beobachten des Vogelflugs am Neujahrstage ein Ring entfiel, der das
Bild des Kaisers trug, betrachtete man dies als Andeutung, daß er in diesem
Jahre sterben werde. Heliodor beschreibt einen Ring des Königs von
Aethiopien, der aus Bernstein bestand und einen Amethyst einschloß, auf
welchem ein Schäfer seine Heerde weidete, und bemerkt, dieser Ring habe vor
Vergiftung bewahren sollen. Philostratus berichtet, wie Chäriklea unversehrt
von dem Scheiterhaufen gestiegen sei, auf dem sie habe verbrannt werden
sollen, und schreibt ihre Rettung dem Umstände zu, daß sie den Ehering des
Königs Hydaspes bei sich getragen, „der mit dem Steine, welcher Pandarbes
heißt, besetzt war, auf welchem heilige Buchstaben" — eine Beschwörungsformel
gegen das Feuer — „standen." Marcellus, ein Arzt, der unter der Herrschaft
Marc Aurels lebte, räth dem Kranken, der Seitenstechen hat, Donnerstags
bei abnehmendem Monde einen Ring von Jungferngold, auf dem gewisse
griechische Buchstaben stehen, zu tragen. Derselbe mußte an einen Finger
der rechten Hand gesteckt werden, wenn die linke Seite schmerzte, und vice
versa. Trallian, ein Arzt des vierten Jahrhunderts, curirte Kolik und
Gallenleiden vermittelst eines achteckigen eisernen Ringes, auf welchem acht
Worte standen, welche der Gallenkrankheit geboten, eine Lerche zu befallen.
Er empfiehlt auch als ein gutes Mittel gegen steinbeschwerten das Tragen
eines kupfernen Ringes mit den Figuren eines Löwen, eines Halbmondes
und eines Sternes, und zwar mußte derselbe an den kleinen Finger gesteckt
werden. Endlich hilft nach ihm gegen Bauchweh ein Ring mit dem Bilde
des Hercules, der den nemäischen Löwen erwürgt. Galen gedenkt eines
Ringamulets des ägyptischen Königs Nechepsus, welches aus einem grünen
Steine bestand und die Gestalt eines von Strahlen umgebenen Drachen hatte.
Es sollte die Organe der Verdauung stärken.
Unter den verschiedenen Weisen, auf welche man während der Zeit der
Kaiser Valentinian und Valens zu erforschen suchte, wer der nächste Herrscher
sein werde, war auch die, daß man die Buchstaben des Alphabets einen
Kreis bilden ließ, in dessen Centrum man einen magischen Ring aufhing
und in Schwingung versetzte, von dem man glaubte, er werde durch Stillstehen
vor gewissen Buchstaben den Namen des zukünftigen Kaisers anzeigen.
Valens ließ einen gewissen Theodorus, einen angesehenen und beim Volke
beliebten Mann, hinrichten, weil das Ningorakel auf die beiden Anfangs¬
buchstaben von dessen Namen hingewiesen; es hatte aber Theodosius gemeint,
der wirklich der Nachfolger des abergläubischen und grausamen Imperators
wurde. Diese Befragung der Zukunft durch einen Ring war bei den Alten
überhaupt sehr beliebt. Der Ring wurde, bevor man ihn aufhing, einer
Art Beschwörung unterworfen. Die Person, welche ihn hielt, war in Lein¬
wand gekleidet, der Barbier hatte ihm auf dem Kopfe eine kleine Krone ge¬
schoren, und in der Hand trug er einen Stengel Eisenkraut.
Sehr viel kam auf die Steine der Ringe an, und andrerseits hatte auch
das Metall derselben seine Bedeutung. Plinius sagt, daß die Orientalen
den Jaspis vorzogen und ihn für ein Mittel gegen fast alle Uebel hielten.
Seine Kraft wurde verstärkt, wenn er in Silber gefaßt wurde. Galenus
empfiehlt einen Ring mit einem Jaspis, auf dem sich die Figur eines Mannes
befand, der ein Bündel Kräuter um den Hals trug. Ein goldner Siegelring
Mit einem blassen Sapphir, in den eine Seejungfer mit einem Spiegel und
einem Zweige in der Hand eingegraben war, ließ seinem Träger alle Wünsche
w Erfüllung gehen. Ein Ring, auf dem ein Pflüger und darüber ein Stern
dargestellt war, schützte die Saatfelder seines Besitzers vor Gewittern. Mit
einem Ringe von Blei, in welchen ein Diacordius eingelassen war, auf dem
steh ein Mann mit einem Obolus in der einen und einer Schlange in der
andern Hand, über ihm eine Sonne, unter ihm ein Löwe und hinter ihm
Wermuth und Bockshorn befanden, konnte man, wenn man mit ihm an
einen Fluß ging, Geister beschwören, die einem jede Frage beantworteten.
Wenn man sich einen Blechring machte und in denselben einen Carneol ein¬
setzte, auf dem die Gestalt eines bärtigen Mannes war, so konnte man damit
jedermann, sobald er mit ihm berührt wurde, zwingen, zu thun, was man
von ihm verlangte; doch mußte der Ring beim Mondwechsel, an einem Frei¬
tag, der auf den 1. oder 8. des Monats fiel, angefertigt werden. Ein
Goldring mit einem Feuerstein, in welchen ein mit einem Schwerte um-
gürteter Reiter eingegraben war, der in der einen Hand den Zügel, in der
andern einen Bogen hielt, machte unbesiegbar in der Schlacht, und wer ihn
in Moschusöl tauchte und sein Gesicht mit diesem Oele einrteb, wurde für alle
seine Feinde ein unwiderstehlicher Schrecken. Aehnliche Kraft besaß ein eiserner
Ring mit einem aufrechtstehenden Manne, der einen Helm auf dem Kopfe
und ein blankes Schwert in der Hand trug. Ein Steinbock auf einem
Carneol, in einen silbernen Ring gefaßt, machte seinen Träger fest gegen
alle Waffen, gegen Diebe, gegen Bezauberung, und sicherte ihn vor unge¬
rechten Richtersprüchen.
Häufig waren aus solchen Ringamuleten auch die Planeten dargestellt,
die man sich als zu den Steinen oder Metallen derselben in Beziehung stehend
dachte. Der Zauberer Apollonius von Tyana in Kappadocien, der im ersten
Jahrhundert nach Christus lebte, trug jeden Tag der Woche einen verschiedenen
Ring, der immer mit dem Planeten des Tages geschmückt war. Er wollte
diese sieben Ringe von Jarchas, dem indischen Philosophen, zum Geschenk
erhalten haben. Am Sonntage mußte man goldne Ringe mit gelben Steinen,
am Montage Ringe mit Perlen oder weißen Steinen, am Dienstage, der
dem Mars gehörte, solche mit rothen, am Mittwoch, dem Tage Mercurs,
solche mit blauen Steinen, am Donnerstage, der dem Jupiter geweiht war,
solche mit Amethysten, am Freitage, dem Tage der Venus, solche mit grünen
Steinen, am Sonnabend endlich, den Saturn regierte, Ringe mit Dia¬
manten tragen.
Es gab ferner im Alterthume und im Mittelalter Ringe, welche die
Kraft besaßen, unwiderstehlich anzuziehen. Nach französischer Sage war Karl
der Große in seiner Jugend sterblich verliebt in ein schönes Mädchen, so daß
er über dem Vergnügen, in ihrer Gesellschaft zu sein, die Angelegenheiten
des Staates vernachlässigte. Als sie plötzlich starb, war der König untröstlich
und wollte sich von ihrer Leiche nicht trennen. Da kam der Erzbischof von
Köln hinzu und sah sogleich, was die Ursache war. Er öffnete der Todten
den Mund und nahm einen Ring heraus, worauf der König sich ohne Ver¬
zug beruhigte; denn das war der Talisman gewesen, der ihn aufgeregt und
festgehalten hatte. Die Leiche wurde nun begraben, den Ring aber warf
der Erzbischof in einen Teich bei Aachen, wo er seine Anziehungskraft indeß
nicht verlor; denn der Monarch fühlte sich jetzt alle Tage nach dem Ufer
des Teiches hingelenkt und gewann die Stelle so lieb, daß er ein Schloß
dahinbaute und es zu seiner Residenz machte.
In einer persischen Erzählung gewinnt eine Zauberin durch einen Ring
die Gestalt der Gemahlin eines Königs, und er bricht den Zauber, indem
er ihr die Hand abhaut, worauf sie als abscheuliche Hexe vor ihm steht.
Bekannt ist die bedeutende Rolle, die in den Märchen von „Tausend und
eine Nacht" der Ring Aladdins spielt. Die Romanzen und Epen des Mittel,
alters gedenken an vielen Stellen der geheimnißvollen Kräfte wunderthätiger
Ringe. In der Geschichte von „OZier 1<z vümois" giebt die Fee Morgana
diesem Helden einen Ring, der ihn, obwohl er bereits hundert Jahre alt ist,
wie ein Dreißiger aussehen läßt. Nach Verlauf von zweihundert Jahren
erscheint Ogier am französischen Hofe, wo die alte Gräfin von sentis das
Geheimniß seiner Verjüngung erräth und ihm unbemerkt den Ring vom
Finger zieht, worauf sie ihn sich ansteckt. Sie wird dadurch sofort zu einer
jugendfrischem Schönheit, wogegen der Beraubte sich in einen gebrechlichen
Urgreis verwandelt. In Chaucer's „Fguires 1g>Is" ist an einen Ring, den
die Tochter des Königs Cambusean besitzt, die Gabe geknüpft, die Sprache
der Vögel zu verstehen und die Kräfte aller Pflanzen zu erkennen. In dem
Roman „?^g,in s,na Ga^aus", der unter Heinrich dem Sechsten verfaßt zu
sein scheint, befreit eine Dame den Ritter aus dem Kerker und schenkt ihm
einen Ring, der ihn vor allen Gefahren schützen und unsichtbar machen soll.
In den „6estl>. Romanorum" giebt ein Vater, der im Sterben liegt, seinem
Sohne einen Ring, der seinen Träger bei allen Menschen beliebt macht. In
derselben Sagensammlung heirathet der Kaiser Vespasian in fernem Lande
ein Weib, die sich weigert, ihm nach Rom zu folgen, und sich zu tödten droht,
wenn er sie verlasse. In diesem Dilemma läßt der Kaiser zwei Ringe mit
wunderbaren Eigenschaften machen, von denen der eine auf einem kostbaren
Steine die Figur der Vergeßlichkeit, der andere die der Erinnerung zeigt.
Jenen schenkt er der Kaiserin, diesen behält er für sich. Ebendaselbst vererbt
Darius seinem jüngsten Sohne einen Mantel, ein Halsband und einen Ring;
der Mantel versetzt seinen Besitzer dahin, wohin er sich wünscht, das Halsband
verschafft ihm alles, wonach sein Herz begehrt, der Ring endlich gewinnt ihm
die Liebe und Gunst aller Menschen.
In der Geschichte von der schönen Melusine giebt diese, als sie das
Haus ihres Gatten verläßt, ihm zwei Ringe, die ihn unüberwindlich in der
Schlacht und im Rathe und gefeit gegen alle Waffen machen. Einen ähn¬
lichen Ring schenkt im „Kleinen Rosengarten" Dame Sinne ihrem Bruder
Dietlieb. Orlando's „InÄmorats." erzählt von einem Ringe, der Angelica,
als sie ihn küßt, vor Rogeros Blicken verschwinden läßt. In „I'Joll'ö et
vlMeeSor" sagt die letztere zu ihrem Geliebten, indem sie ihm einen Ring
überreicht: „Floire, nimm dieß als ein Zeichen unsrer gegenseitigen Liebe hin,
sieh ihn jeden Tag an; wenn du findest, daß sein Glanz erblichen ist, so ist
es eine Andeutung, daß mein Leben oder meine Freiheit in Gefahr ist."
Und in derselben Dichtung empfängt der Held von seiner Mutter einen Ring,
der ihn, so lange er ihn an sich trägt, vor dem Ertrinken, dem Verbrennen
und der Verwundung durch Waffen schützt. In einer altenglischen Ballade
vom Verräther Douglas läßt eine Zauberin Mary den Diener Earl Percys,
James Swynard, durch einen Ring hindurchsehen, wo er dessen Feinde im
Felde gewahr wird.
Häufig finden wir im Mittelalter den Bischofsring als Symbol einer
Vermählung mit der Kirche aufgefaßt. Ebenso galt der Eintritt ins Kloster
als Verheirathung der angehenden Nonne mit Jesus, weshalb man derselben
einen vom Bischof geweihten Ring ansteckte, der in der Regel einen Sapphir
enthielt. Hieraus haben sich eine Menge sonderbarer Vorfälle, Fabeln und
abergläubischer Meinungen und Gebräuche entwickelt. Auch Weltleute ver¬
mählten sich mit himmlischen Personen, die Frauen mit Jesus, die Männer
mit der Jungfrau Maria oder einer Heiligen, wobei wunderbare Ringe eine
Rolle spielten.
Edmund Rich, der 1234 zum Erzbischof von Canterbury geweiht wurde,
that als junger Mann das Gelübde ewiger Keuschheit, und um im Stande
zu sein, es zu halten, verheirathete er sich in aller Form mit der Mutter
Gottes. Er ließ sich zwei Ringe machen, welche beide die Inschrift „^.vo
Nari^" trugen, und steckte den einen einer Bildsäule der heiligen Jungfrau
an, die in einer Kirche zu Oxford stand, während er den anderen selbst trug.
Um dieselbe Zeit hatte der heilige Hermann von Köln ein Traumgesicht, in
welchem die Mutter Gottes vom Himmel herabstieg und ihm einen Ring
ansteckte, worauf sie ihn zu ihrem Gemahl erklärte. Er bekam darauf von
der Bruderschaft, der er angehörte, den Namen Joseph. Home erzählt in
seinem „Lvöi^Zg.^ Look" folgende seltsame Geschichte von der heiligen Anna.
Ein Priester, welcher einer dieser Heiligen geweihten Kirche vorstand, hatte
große Lust zu heirathen. Er erbat sich die Erlaubniß des Papstes hierzu,
und dieser gab sie ihm und zugleich einen Smaragdring, wobei er ihm sagte,
er solle sich mit seinem Verlangen an das Bild der Patronin seiner Kirche
wenden. Der Priester that dieß, und das Bild streckte ihm den Finger hin.
Er steckte den Ring darauf und das Bild zog den Finger wieder zu¬
rück und bog ihn krumm, so daß er nicht wieder abging, worauf der Priester
Junggeselle bleiben mußte. Aehnlich erging es einem Ritter, der, im Be¬
griffe, Ball zu spielen, sich durch einen Ring am Finger behindert fand. Er
zog ihn ab, und steckte ihn der Sicherheit halber einem in der Nähe befind¬
lichen Marienbilde an den Finger. Als er ihn sich wiedernehmen wollte,
hatte das Bild die Hand geschlossen, und so behielt es den Ring. Der
Ritter aber betrachtete sich fortan als den Gemahl Mariens und trat in
ein Kloster.
Sehr oft kommen in Legenden Verlobungen mit Jesus vor. In einer
derselben liegt Sanct Catharina schlafend auf ihrem Bette, als ihr plötzlich
die Himmelskönigin in Begleitung ihres göttlichen Sohnes und einer großen
Schaar von Heiligen und Engeln erscheint. Und Maria stellt Catharina
dem Herrn der Herrlichkeit vor, indem sie sagt: „Siehe, sie ist getauft worden,
und ich selbst bin ihre Pathe." Da lächelt der Herr ihr zu. streckt seine Hand
nach ihr aus, verlobt sich mit ihr und steckt ihr zum Zeichen dessen einen Ring
an den Finger. Und als Catharina erwacht und sich des Traumes erinnert,
siehe da, so hat sie den Ring noch an ihrer Hand.
Kehren wir wieder auf das Gebiet der Geschichte zurück, so begegnen
Wir Eleanoren, der Tochter des englischen Königs Johann, die beim Ableben
'bref Gemahls, des Carl of Pembroke, in der ersten Hitze ihres Kummers
öffentlich und in Gegenwart des Erzbischofs von Canterbury das Gelübde
ablegt, nie wieder zu heirathen, und die als Symbol ihrer damit zusammen¬
hängenden Verlobung mit Christus einen Ring empfängt. Indeß gereute
sie dieses vorschnelle Versprechen später, und sie heirathete Simon von Mont-
fort. Die englische Geistlichkeit aber nahm dieß sehr übel auf. da sie die An¬
nahme jenes Ringes für ebenso bindend ansah wie wenn die Prinzessin den
^onnenschleier genommen hätte.
Wenden wir uns wieder den Ringen zu, die als Talismane und Amu-
lete dienten, so finden wir. daß dieselben im Mittelalter häusig heilige Bilder
Und Zeichen gemischt mit kabbalistischen oder gnostischen Figuren und Worten
^ugen. Ein goldner Ring, der 1802 im Coventry Park gefunden wurde,
Zeigt auf der Außenseite den auferstehenden Christus und im Hintergrunde
Hammer, Nägel, Schwamm und andere Embleme der Passion. Links davon
^se die Seitenwunde dargestellt, neben der man die Worte „Brunnen des
ewigen Lebens" liest, und weiter hin kommen die beiden Hand- und die beiden
Tußwunden, die als „Brunnen des Erbarmens". „Brunnen der Gnade" ze.
^zeichnet sind. Spuren von Farbe zeigen, daß die Gestalt des Heilandes
Und alle Buchstaben mit schwarzem, die Wunden und die daneben befind¬
lichen Blutstropfen mit rothem Farbstoff ausgefüllt gewesen sind. Die In-
"erhelle des Ringes aber trägt die Inschrift: „Vuluera yuiiuzlue vel sunt
'Neclieiyg, moi, xis, crux et Mssio Xi sunt meäieiua. midi, Caspar, Neleliior,
^t»,8ki- kwanvüaxta tötragramwatou." Ringtalismane aus dem fünfzehnten
^hrhunderte enthalten augenförmig geschnittne Steine, in denen das
"Wische Wort „Held" zu lesen ist, welches ein geheimer Name Gottes war.
^'ne Regel aus dem vierzehnten Jahrhundert lautet: „Gegen die fallende
^naht hilft ein Ring, auf dessen Außenseite man 1- on edebat gut guthani
und auf dessen innere Seite man '1- cri gerari schreibt." Die heiligen Namen
Jesus, Maria und Joseph auf Ringe eingegraben galten als Schutzmittel
gegen die Pest. Ringe mit dem Ramen der heiligen Barbara sicherten ihren
Träger vor Blitzschlag, und solche mit Se. Christophorus und dem Jesus¬
kinde auf seinen Schultern schützten vor dem Ertrinken. Ein Amulet gegen
den Veitstanz glaubt man in einem in der Londesborough Sammlung be¬
findlichen, seiner Arbeit nach aus dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts
stammenden Ringe von Silber zu besitzen. Derselbe zeigt drei große Buckel,
zwischen denen sich sechs kleinere befinden. Auf jenen stehen die Buchstaben
8. U. V- (Laneta Naria Virgo). In derselben Collectio» wird ein sehr
großer aus einer Mischung verschiedener Metalle bestehender Daumenring
aufbewahrt, welcher die Gestalt eines Taues hat, und dessen Platte, rechts
und links mit großen Steinen eingefaßt, einen Affen zeigt, der sich in einem
Handspiegel besieht. Aus der einen Seite befindet sich unter der Platte das
mystische Wort „Ananyzapta", und zu beiden Seiten desselben sind ein Kreuz
und das heilige Monogramm eingegraben. Ein Goldring, der 1842 im
Rockingham Forest gefunden wurde, trug auf der Außenseite die unerklär¬
barer Worte: „Guttv: Gutta: Madros: Atros", während auf der innern
„otros: udros: edebat" stand. Auf einem 1741 zu Newark ausgegrabenen
dünnen Goldreife steht: „Agta: Tyalcvt: Calcvt: Cattama." Das mystische
Wort oder Anagramm „Agta" welches wir auf einem silbernen Ringe er¬
blicken, der 1846 an der Stelle ausgegraben wurde, wo früher der Kirchhof
von Se. Owen gewesen, bezeichnete im Morgenlande einen Amtsstab. Sehr
häusig kommt auf Amuletringen das Wort oder der Name „Abraxas" oder
„Abrasax" vor, welches zuerst von der gnostischen Seete der Basilidianer
gebraucht wurde und das Ausströmen oder die Offenbarung des Urwesens in
die Geisterreiche bezeichnete, deren unterstes mit seinen sieben Engeln die Welt
erschaffen haben sollte.
Die Namen der „drei Könige von Cöln", wie man die drei Weisen aus
dem Morgenland von ihrem zu Cöln befindlichen Grabe bezeichnete, galten
im Mtttelalter und hier und da bis in unsere Zeit herein als kräftige Talis¬
mane gegen Krankheit und Behexung, und wie man sie daher vielfach «n
Thüren, Giebeln, Hausgeräthen und Gefäßen anbrachte, so grub man sie
auch in Ringe ein. Einer von diesen Ringen, die namentlich in Cöln selbst
angefertigt wurden, wurde vor einigen Jahren in Dunwich gefunden und
trägt die Hexameter:
„.lALxer kort in^rrllgm, eins Uolebior, LaltliMlu- n,in um,
Ilaov ti'la <zal secum poi-lndit nomin^ tlo^um,
Kolvitm' -5 morbo, «in'iÄi z,lok:>,de!, o-ulnvo."
In der alten Thierfabel von Reinhard dem Fuchse sagt der Held der¬
selben, indem er den Schatz beschreibt, den er für das Königspaar entdeckt
haben will: „Ein Stück darunter war ein Ring von feinem Golde, und in
dem Theile zunächst dem Finger waren Buchstaben eingegraben, ausge¬
füllt mit brauner und blauer Farbe, und darunter befanden sich drei hebräische
Namen, die ich nicht lesen oder buchstabiren konnte; denn ich verstehe diese
Sprache nicht; aber Meister Avryon von Trier, der ist ein weiser Mann,
der sich auf allerhand Sprachen und die Kraft von allerhand Kräutern ver¬
steht. Und er glaubt nicht an Gott, er ist ein Jude und kennt besonders
die Kraft der Steine. Ich zeigte ihm den Ring, er sagte, es wären die drei
Namen, die Seth aus dem Paradiese mitgebracht, als er seinem Vater Adam
das Oel der Barmherzigkeit geholt hätte. Und wer diese drei Namen an sich
trüge, der würde nie vom Donner und Blitz beschädigt werden, keine Hexerei
Hürde Macht über ihn haben, er würde nie versucht werden, Sünde zu thun,
"und würde ihm niemals Kälte schaden, wenn er auch drei lange Winter¬
nächte draußen im Felde läge und es noch so schlimm schneite, stürmte und
fröre, so große Gewalt hätten diese Worte."
Während die Namen von Heiligen auf Ringen das moralische und
körperliche Wohl beschützen oder fördern sollten, bediente sich der Aberglaube
derjenigen von Teufeln und Dämonen zur Schädigung Anderer. So lesen
Wir in Monstrelets Chronik, daß der Herzog von Burgund 1407 den Herzog
Louis von Orleans anklagte, dem König von Frankreich durch Zauberkünste
Nach dem Leben getrachtet zu haben. Unter Anderm hatte er sich dabei
^nes Rings im Namen von Teufeln bedient. Ein Mönch unternahm dies,
»Welcher in der Nähe eines Busches allerlei abergläubische Dinge mit Teufels-
deschwörungen trieb." Zwei böse Geister erschienen ihm in Gestalt von
Zwei Männern, von denen einer den auf den Boden hingelegten Ring ergriff
"ud damit verschwand. Nach einer halben Stunde kam er wieder, gab den
^'ug, „der jetzt roth, fast wie Scharlach aussah", dem Mönche und sagte:
»Du wirst ihn in der dir bekannten Weise einem Todten in den Mund
stecken", worauf er verschwand. Der Mönch folgte dann dieser Anweisung.
«Mdem er damit den König, unsern Herrn, zu verbrennen gedachte."
Eins der seltsamsten Stücke der Londesborough Sammlung ist ein wahr-
scheinlich aus Deutschland stammender kabbalistischer Ring, dessen Außenseite
^t einem Rubin und einem Amethyst besetzt, sonst aber ganz einfach und
^Mucklos ist. Drückt man jedoch auf einen jener Steine, so läßt eine
^pringfeder den Ring sich auseinanderthun, und man hat einen innern und
^en äußeren Reif vor sich, die mit magischen Zeichen und Namen bedeckt
^d. unter welchen letzteren sich die der Geister Asmodiel, Nachiel und Zamiel
befinden. Diese Einrichtung hat offenbar dazu gedient, Profanen die eigent¬
liche Natur des Ringes als eines Zaubermittels zu verbergen.
Das Horn des Narwal, welches im Mtttelalter für das des fabelhaften
Einhorns galt, wurde als ein Mittel angesehen, mit welchem sich Gift ent¬
decken und unschädlich machen ließ. Man verarbeitete es daher zu Ringen,
die man in Wasser tauchte, welches dann getrunken gegen Vergiftung gut
sein sollte. Michaelis, ein Leipziger Arzt, wendete bei allen Krankheiten ohne
Unterschied einen derartigen Ring an.
Sehr geschätzt waren einst und sind in manchen deutschen Gegenden,
z.B. in Tirol, sowie in England noch heutigen Tages Ringe mit sogenannten
Krötensteinen (dieselben sind fossile Zähne einer Rochenart). Sie schützen
neugeborne und noch umgetaufte Kinder vor den Nachstellungen der Zwerge,
sie heilen (in England) Nierenkrankheiten und (in Tirol) Wunden. Kommt
Gift in ihre Nähe, so zeigen sie es durch Veränderung ihrer Farbe oder
durch Schwitzen an. Der Krötenstetn sitzt nach tiroler Volksglauben im Kopfe
der männlichen Kröte und wird nur auf dem Wege gewonnen, daß man das
Thier in einem irdenen Topfe in einen Ameisenhaufen steckt. Nach Andern
kann man ihn auch von dem lebenden Thiere erlangen, wenn man es auf ein
Stück rothes Tuch stellt. Da schüttelt die vor Vergnügen herumspringende
Kröte ihn heraus, doch muß man flink sein, und ihn heimlich wegnehmen,
weil sie ihn sonst sogleich wieder verschluckt. Die wiederholt erwähnte Lon-
desborough Sammlung besitzt zwei von den mit diesem Aberglauben in Ver¬
bindung stehenden Ringen. Der eine ist von gemischtem Metall, vergoldet
und mit der Figur einer Kröte geschmückt, die eine Schlange verschlingt. Der
zweite enthält in seinem Steine das Bild einer Kröte und darunter den
echten Krötenstein.
Die Steine, welche orthodoxe Muselmänner zu Talismanringen ver¬
wenden, sind Blutstein, Achat, weißer und rother Karneol und Chalcedon.
Das Metall derselben ist stets Silber, da alle andern Metalle, edle wie un¬
edle durch die mündlichen Vorschriften des Propheten verboten sind. Als
Muhammed eines Tages einem Manne begegnete, der einen Ring von Erz
am Finger trug, rief er: „Dieser Ring riecht nach Götzendienst." Bei einer
andern Gelegenheit, wo einer seiner Anhänger mit einem eisernen Ringe in
seine Nähe kam, sagte er zornig: „Dieß ist das Zeichen der zu den ewigen
Flammen verdammten Seelen." Ein drittes Mal, als er jemand auf sich
zukommen sah, der einen Goldreif anstecken hatte, machte er ein finsteres Ge¬
sicht, drehte sich um und spie aus, als ob er einem Hunde oder einem Un¬
gläubigen begegnet wäre. Für die wirksamsten Amuletringe gelten die, welche
auf einem weißen Achat die Abbildung des Maales zeigen, welches Muhammed
der Sage zufolge von der Hand Gottes als Besegelung seines Propheten-
thums zwischen die Schultern gedrückt worden war.
Bekannt ist der Aberglaube, daß ein neidisches Auge dem von ihm An¬
gesehenen schaden kann, oder daß es gewisse Menschen giebt, welche Andere
durch den ihnen angebornen bösen Blick krank oder sonstwie unglücklich zu
machen vermögen, und auch gegen solchen Zauber gab es im Alterthum wie
im Mittelalter Ringe. Auf dem einen befand sich die Inschrift: „Mögest Du
behütet sein vor dem bösen Auge." In einen andern war ein steinernes Auge
eingesetzt, das sich bewegen ließ. Wieder ein anderer zeigte die Figur eines
Rehböckchens, das aus einer Muschel herausspringt. Ganz besonders wirksam
aber waren zur Abwendung des bösen Blickes Ringe mit dem Bilde des
Basilisken, jenes drachenartigen Thieres, welches der Aberglaube aus dem
Et entstehen läßt, das der vollkommen schwarze Hahn legt, nachdem er sieben
Jahre alt geworden ist. Der Basilisk tödtet durch seinen Blick; wenn man
ihn also als Amulet gegen das böse Auge auf Ringe setzte, so war das ein
homöopathischer Aberglaube. Dryden sagt:
„Nisoliisks al'<z lito elf oooK^trivL's e^o,
Ik tus^ Los ürst, tllez-- I:1it, ik Sohn ello/ als."
Nur kurz erwähnen wir, daß silberne Ringe mit einem Feuerstein, auf
dem sich eine Taube mit einem Oelzweig im Schnabel befand, dem Träger
derselben allenthalben gastliche Aufnahme sicherten, daß goldne Ringe, in
die ein Stück Eselshuf eingelassen war, vor der Epilepsie schützten, und daß
gegen diese Krankheit noch jetzt in Ostfriesland silberne Ringe am Finger
getragen werden. In England müssen dieselben aus Silbermünzen bestehen,
welche zwölf Jungfern gesteuert haben, oder aus fünf Sixpences, die von
ebenso vielen Junggesellen durch einen Junggesellen eingesammelt und von
einem Schmied, der ebenfalls Junggesell ist, in einen Ring umgeschmiedet
worden sind. In Berkshire muß der Ring aus Stlbermünzen verfertigt sein,
die bei der Communion am Ostertage eingesammelt worden sind. In De-
vonshire bedarf es des Silbers nicht. Man macht hier den Ring aus drei
Nägeln oder Schrauben, mit denen ein Sargdeckel befestigt worden ist. Ganz
demselben Aberglauben begegnen wir in Deutschland, namentlich in Schwaben
und Hessen. Man schmiedet hier in der Mitternachtsstunde aus Nägeln ver¬
witterter Särge Ringe, die, am Finger oder auf der Brust getragen, gegen
Krampf und Gicht schützen oder diese Krankheiten heilen. Die Nägel müssen
aber nicht gesucht, sondern zufällig gefunden sein und dürfen nicht mit der
bloßen Hand aufgehoben werden, weil sonst ihre Kraft verloren geht. Man
vergleiche damit, daß nach Plinius bei den Alten Nägel, aus einem Grabe
genommen und auf die Schwelle einer Schlafkammer gelegt, in der Nacht
gegen Gespenster sichern sollten.
In England herrschte im Mittelalter der Aberglaube, daß die Könige
des Landes Ringe segnen könnten, die gegen tonische Krämpfe und die fallende
Sucht gut seien, welche letztere deshalb „das Uebel des Königs" hieß. Die¬
selben wurden von ihnen am Charfreitage geweiht und bestanden aus dem
Metall der Opfergabe, welche der Monarch an jenem Tage auf den Altar
legte. Die segnende Kraft stammte der Ueberlieferung zufolge von einem
Sapphir in der englischen Krone, der Eduard dem Bekenner gehört hatte.
Die Ceremonie der Weihung, nachweislich noch unter Heinrich dem Vierten
vollzogen, unter Eduard dem Sechsten abgeschafft, später aber von der Königin
Maria wieder geübt, begann mit Absingung des Psalms: «vsus misörLÄtur
u08tri". Dann folgte ein Gebet, welches die Hülfe des heiligen Geistes an¬
rief und darauf die Weihe der in einem Becken liegenden Ringe, aus deren
Worten wir ersehen, daß sie „alles Schlangengift austreiben" sollten, und
bei der unter Anrufung des Gottes Abrahams, Jsaaks und Jakobs ein
Kreuz über sie gemacht wurde, dann kam ein Psalm voll Segensworte und
ein Gebet gegen die Arglist der Teufel, Darauf rieb der König die Ringe
zwischen den Händen, wozu er sagte, die Kraft des heiligen Oeles, mit dem
er gesalbt worden, möge sich in deren Metall ergießen und sie durch Gottes
Gnade wirksam machen. Der Glaube an die Heilkraft derartiger Ringe
war auch unter Vornehmen verbreitet. 1618 erbittet sich Lord Berners, der
britische Gesandte am Hofe Karls des Fünften, von Saragossa aus bei dem
Lordkanzler eine Anzahl Krampfringe, und 1S29 empfängt Gardiner in Rom
einige, um sie unter die Mitglieder der dortigen englischen Gesandtschaft
zu vertheilen."
Weit verbreitet in Deutschland und England ist der Glaube, daß ein
goldner Trauring schlimme Augen und besonders das sogenannte Gersten¬
korn heile, wenn die leidende Stelle damit berührt werde. Ja in Sommer-
setshire heilen Wunden schon, wenn sie nur mit dem Ringfinger bestrichen
werden. In Rußland herrscht die Sitte, den Regen, der während eines Ge¬
witters fällt, in einer Schüssel aufzufangen, auf deren Boden ein Ring ge¬
legt worden ist. Das Wasser erlangt dadurch Heilkraft. Im Gouvernement
Riäsan gilt Wasser, das durch einen Trauring gegossen worden ist, für ein
Waschmittel, welches eine zarte Haut erzeugt. In Kleinrußland giebt bei
Hochzeiten die Braut dem Bräutigam aus einem Glase oder einer Tasse, in
welcher ein Ring liegt, Wein zu trinken.
Ein Trauring, der zerbricht oder verloren geht, bedeutet ein nahes Un¬
glück oder den Tod des andern Gatten. Viele Frauen in Deutschland und
anderwärts trennen sich auch beim Waschen oder andern Gelegenheiten nicht
von ihrem Eheringe, indem sie fürchten, andernfalls ihren Mann zu verlieren.
Bekannt ist, wie oft in deutschen Volksliedern Ringe dadurch, daß sie zer-
springen oder sonst auf eine Weise anzeigen, daß entfernte geliebte Personen
die Treue gebrochen haben. In einem russischen Liede aber heißt es:
„Fliegt nicht ein Falke über den Himmel, verstreut nicht ein Falke blaue
Federn? Nein, ein tapfrer Jüngling jagt die Straße dahin, und aus seinen
hellen Augen strömen bittere Thränen. Er hat sich von seiner Liebsten ge¬
trennt und reitet auf dem Thalweg hin, durch welchen in all ihrer Schön¬
heit Mutter Wolga fließt. Er ist geschieden von dem holden Mädchen, und
er hat ihr ein Andenken hinterlassen, einen strahlenden Diamantring, und
von ihr dafür einen goldnen Verlobungsring erhalten. Und wie sie die
Gaben tauschten, hat er gesprochen: „Vergiß mein nicht, meine Liebe, vergiß
mein nicht, geliebte Gefährtin. Oft, oft blick auf meinen Ring, oft, oft will
ich Dein Ringlein küssen und es an mein klopfendes Herz drücken. Deiner,
Liebste, gedenkend. Wenn ich je an eine andere Liebe denke, wird das goldne
Ringlein zerspringen; solltest Du aber einem andern Freier dich hingeben, so
wird der Diamant aus dem Ringe fallen."
Die Wittwe des berühmten Claverhouse wurde in Kilsyth von William
Livingstone umworben. Derselbe schenkte ihr einen Ring, den sie schon am
nächsten Tage verlor. Dieß erweckte trübe Ahnungen in Betreff der Zukunft
der Dame, und seltsam genug, dieselben trafen ein, indem sie, die inzwischen
ihren Freier geheirathet hatte, nach einigen Jahren von einem einstürzenden
Hause erschlagen wurde. Der Ring aber wurde 1796 von dem Inhaber des
Gartens, in dem er verloren gegangen war, beim Kartoffelnausgraben
wiedergefunden. Als der Königin Elisabeth von England der Krönungsring,
den sie seit ihrer Erhebung auf den Thron nie abgelegt hatte, ins Fleisch ge¬
wachsen war und abgefeilt werden mußte, wurde dieß allgemein als übles
Omen betrachtet und nicht am wenigsten von der Königin selbst, die, sonst
bekanntlich eben keine schwache Seele, ziemlich abergläubisch war. Als Friedrich,
der erste König von Preußen, sich mit Sophie Charlotte von Hannover ver¬
mählte, zersprang ihm während der Hochzeitsfeierlichkeiten ein Ring, der ein
Andenken von seiner ersten Gemahlin Elisabeth Henriette von Hessen-Cassel
war und über zwei verschlungnen Händen das Motto „g. jamais" zeigte, und
die Meinung der Leute vom Hofe, daß auch diese zweite Ehe nun nicht
sehr lange Dauer haben werde, bestätigte sich: der König heirathete
nach einigen Jahren in Sophie Louise von Mecklenburg - Grabow die
dritte Frau.
Wir schließen mit einer Betrachtung der englischen Sitte, den Trauring
in Verbindung mit dem Hochzeitskuchen zu Liebesorakeln zu benutzen, und
einigen damit verwandten englischen Gebräuchen. Nach jenem alten Her¬
kommen, welches namentlich im Norden Englands, aber auch in manchen
andern Gegenden noch gilt und selbst in Nordamerika geübt wird, schneidet
man den Hochzeitskuchen zuletzt in dünne Streifen, wirft diese über die Köpfe
von Braut und Bräutigam und schiebt sie dann durch den Ring, mit dem
jene diesem angetraut worden ist. In manchen Orten Muß dieses Durch¬
stecken neunmal geschehen. Junge Leute, welche sich diese Kuchenstreifen des
Nachts unter ihr Kopfkissen legen, sehen im Traume ihren Schatz.
In der Nachbarschaft von Burnley ist es Gebrauch, den Trauring in
Molken von ungehopstem Bier zu legen. Welche unverheirathete Person dann,
wenn die Molken ausgeschenkt werden, den Ring in ihrem Trinkgefäße findet,
ist diejenige von der Gesellschaft, die zuerst heirathet.
Ein anderes Ringorakel im Norden Englands findet am Tage der
heiligen Fetes, englisch Saint Faith, dem 6. October statt und besteht in
folgendem Verfahren. Drei Mädchen kommen zusammen und kneten sich
einen Kuchen aus Mehl, Zucker, Salz und fließendem Wasser, wobei jede bei
der Mengung gleichviel beitragen und thun muß. Der Kuchen wird dann
in einem Ofen gebacken und dabei von jedem der drei Mädchen dreimal um¬
gewendet, was alles schweigend gethan werden muß. Ist das Gebäck fertig,
so wird es in drei gleiche Theile zerschnitten, und jedes der Mädchen zer¬
theilt ihr Stück wieder in neun Streifen, die nun nach einander durch einen
Trauring geschoben werden, welchen man sich von einer sieben Jahre ver-
heiratheten Frau zu leihen hat. Darauf entkleiden sich die drei Zaubei-
schwestern, indem sie dazu ihre Kuchenschnitten verspeisen und die folgende
Beschwörung nach einander hersagen:
„O AvoÄ Kant ?s.nil, hö Icincl to ni^i>t
^un KrinA to me in)? IiEÄi't's Äelixlit,
I^et in^ kuturo liusbancl vivo,
^ita inzs visions eliaste ann druf."
Alle drei müssen sich dann in ein Bett zusammenlegen, über dem sie den
Ring an einem Bindfaden aufgehangen haben. Sie werden dann im Traume
sehen, was für einen Mann ihnen das Schicksal beschieden hat.
Eine sehr eigenthümliche Befragung der Zukunft, die in England im
Erntemonat vorgenommen zu werden pflegte, war nach einem alten Volks¬
küche, das wie unsere „Haimonskinder" oder unsre „Schöne Melusine" auf
Märkten verkauft wurde, folgende:
„Wenn Du zu Bett gehest, so lege Dir ein Gebetbuch unter den Kopf,
welches bei der Stelle des Trauungsrituals: „Mit diesem Ringe vermähle
ich mich mit Dir" aufgeschlagen ist. Lege darauf einen Schlüssel, einen Ring,
eine Blume, einen Weidenzweig, einen kleinen Kuchen in Form eines Herzens,
eine Kruste Brot und die folgenden Karten: die Zehne von Treffle, die
Neune von Herz, das Aß von Pique und das Aß von Carreau. Winkle alles
dieses in ein dünnes Tuch von Gaze oder Musselin, steige in Dein Bett, falte
die Hände und sage:
I^ung., everz? vomMg trionÄ,
1o ins tlizs Kooänesg vonäesesnä,
I^et mo this niZIit in vlsions hev
Lmdlems ok mz^ äestin^.
Wenn Du dann von Stürmen träumst, so wird Dich Unheil treffen;
wenn der Sturm mit schönem ruhigem Wetter endigt, so wird es mit Deinem
Schicksal sich ebenso gestalten; träumst Du von einem Ringe oder vom Car¬
reau-Aß, so besagt das baldige Heirath; siehst Du im Traume Brot, so heißt
das für die Zukunft fleißiges Leben; Kuchen bedeutet gutes Fortkommen und
Gedeihen, eine Blume Vergnügen und Freude, eine Weide Täuschung und
Verrath in Liebesangelegenheiten, Pique den Tod, Treffle ein fremdes Land,
Carreau Geld, Herz schlechte Kinder, Schlüssel, daß Du eine Stellung er¬
langen wirst, wo Du viel Vertrauen genießest, großer Macht Dich erfreust
und nie Mangel kennen lernst, Vögel besagen viele Kinder, Gänse aber, daß
Du Dich mehr als einmal verheirathen wirst."
Wir fügen noch hinzu, daß im südwestlichen Irland die Meinung herrscht,
eine Trauung ohne goldnen Trauring sei ungültig, und daß deshalb manche
Gemeinden, wo der Einzelne zu arm ist, um für seine Braut einen solchen
zu kaufen, einen gemeinschaftlichen Ehering haben, der vom Geistlichen ver¬
wahrt und jedesmal, wenn er seinen Dienst gethan hat, von diesem wieder auf¬
genommen wird. Endlich aber sei bemerkt, daß der größere Theil des Materials
unsres Artikels auszugsweise einem soeben erschienenen Buche — ?inAer-Il,MA-
I^ors von William Jones — entnommen ist, welches noch mancherlei andere
interessante Mittheilungen über den Ring in der Culturgeschichte enthält.
Die Abenteuer Tom Sawycrs. Ins Deutsche übersetzt von Moritz Busch.
Leipzig, Verlag von Fr. W. Grunow 1877.
.Wenn uns Mark Twain als der bedeutendste unter den amerikanischen
Humoristen erscheint, deren Werke die Grunowsche Buchhandlung bis jetzt
in deutscher Uebersetzung veröffentlicht hat, so möchten wir wiederum unter
seinen in dieser Sammlung enthaltenen Schriften der obengenannten den
ersten Rang anweisen. Jedenfalls ist sie ein Buch, welches mehr wie viele
andere übersetzt zu werden verdiente, reich an guter Laune, voll von hoch-
komischen Situationen und Ereignissen und zugleich ein vortreffliches Sitten¬
bild aus dem amerikanischen Leben. Neben jenen humoristischen Schilderungen
fehlt auch der Ernst nicht, und in einigen Kapiteln folgen wir mit der
höchsten Spannung, mit leisem Tritt und angehaltnem Athem der Entwicke¬
lung der unheimlichen Dinge, die uns .der Verfasser mit Meisterschaft erzählt.
Alle Figuren leben und treten plastisch vor uns hin, und allenthalben um¬
giebt sie die rechte Stimmung. Stoßen wir hier und da auf Dinge, die uns
unwahrscheinlich vorkommen, fo ist zu bedenken, daß wir uns hier in einem
kleinen Städtchen im Hinterwald am Mississippi befinden, und daß die Jahre,
in welchen unsere Geschichte spielt, der Zeit angehören, wo in dieser Gegend
in der Natur wie in der Menschenwelt noch halbe Wildniß und in Folge
dessen Vieles möglich, ja fast gewöhnlich war, was jetzt unglaublich erscheint.
Sodann aber haben wir uns zu erinnern, daß die amerikanische Jugend den
Eltern und den Erwachsenen überhaupt viel selbständiger und ungebundener
gegenübersteht, als die unsrige, und daß sie weit früher reif, weltklug und
unternehmungslustig wird als in der Regel die Knaben und Mädchen in
Deutschland.
Aus dem Gesagten wird man bereits ersehen haben, daß „die Abenteuer
Tom Sawyers" ein Abschnitt aus dem Leben eines Knaben sind, der in einem
kleinen Orte im amerikanischen Westen lebt und hier mit seinen Freunden
allerlei Dinge treibt, die wir „tolle Streiche" zu nennen geneigt sind. Und
so ist es in der That. Tom, der bei einer Tante wohnt, welche sich zwar
der Pflicht bewußt ist, ihn gut zu erziehen, aber nicht recht dazu kommen
kann, da ihr entweder seine Possen in die Quer fahren und sie vor Lachen
nicht strafen kann oder sein im Grunde braves und nicht selten großherziges
Wesen sie rührt, ist in seiner Art ein kleiner Held und zugleich ein kleiner Schlau¬
kopf, voll Kinderei und voll Aberglauben, thöricht und unbesonnen bis zur
Tollkühnheit und Rücksichtslosigkeit, und doch wieder gewandt in der Aus¬
führung seiner klugberechneten Pläne, die ihm auf diese Art fast immer gelin¬
gen, ehrlich, nobel und ein gutes aufopferungsfähiges Herz. Zu welchen komischen
Situationen und Auftritten diese Eigenschaften führen, zeigt gleich das erste Kapitel,
wo Tom der ihm für Näscherei im Speisekämmerchen der Tante Polly zuge¬
dachten Strafe entwischt, und die alte Dame, mit gelindem Lachen ihm
nachsehend, in folgenden Monolog ausbricht: ,
„Zum Henker mit dem Jungen! Lerne ich denn aber auch gar nichts?
Hat er mir denn noch nicht Streiche genug gespielt, daß ich mich endlich vor
ihm in Acht nehme? Aber Du meine Güte, niemals spielt er zweimal den¬
selben Kniff aus, und wie soll eins wissen, was kommt? Weiß Gott, ich thue
meine Pflicht nicht gegen den Jungen. Schone die Ruthe und verdirb das
Kind, wie die heilige Schrift sagt. Ich häufe Sünde und Trübsal für uns
beide auf. Er steckt voll Satanspossen, aber guter Gott, er ist meiner lieben
verstorbenen Schwester Kind — der arme Kerl — und ich habe nicht das
Herz ihn durchzuwichsen. Jedesmal, wo ich ihn laufen lasse, schlägt mir das
Gewissen wer weiß wie sehr, und jedesmal, wo ich ihn haue, will mir fast
mein altes Herz brechen. Er wird diesen Nachmittag hinter die Schule laufen,
Und ich werde ihn morgen zur Arbeit anhalten müssen, damit er seine Strafe
kriegt. Es ist fürchterlich hart, ihn Sonnabends arbeiten zu lassen, wo alle
Jungens freie Zeit haben, aber ich muß meine Pflicht wenigstens einigermaßen
gegen ihn thun, sonst richte ich das Kind zu Grunde."
Tom läuft wirklich hinter die Schule und wird wirklich bestraft: er muß,
während seine Freunde spielen, seiner Tante einen Zaun anstreichen, weiß
sich aber -auf köstliche Weise zu helfen, indem er den sich um ihn sammelnden
Bekannten seine Arbeit als Ehre und Kunst darstellt und sie auf diese Weise
bewegt, ihm das Anstreichen nicht nur abzunehmen, sondern auch noch dafür
zu bezahlen. Das Resultat ist, daß der Zaun rasch fertig wird und Tom
die dadurch ersparte Zeit zum Vergnügen verwenden kann, und daß er, der
am Morgen noch arm wie eine Kirchenmaus gewesen ist, sich buchstäblich in
Reichthum wälzt, indem er jetzt außer andern Schätzen zwölf Marmorkugeln,
ein paar Kaulquappen, ein Stück blaues Flaschenglas zum Durchguken. einen
Theil von einer Maultrommel, einen Zinnsoldaten, sechs Feuerschwärmer,
eine messingne Thürklinke und einen Schlüssel, der nichts ausschließt, sein
nennen darf.
Allerliebst ist in den ferneren Kapiteln die Scene in der Sonntagsschule,
wo Tom, der in Wahrheit ein fauler und nur schwer lernender Schüler ist,
die Prämienbibel davon trägt, die derjenige bekommt, welcher nachweisen kann,
daß er eine gewisse Anzahl Bibelsprüche auswendig kann. Er hat sich mit
jenen Schätzen von den Kameraden die Beweise gekauft und erntet ein un¬
verdientes Lob, dem aber eine schlimme Beschämung folgt, indem er, von
einem angesehnen Gaste bei der Feierlichkeit nach den Namen der beiden
ersten Jünger Jesu gefragt, nach einigem Zögern antwortet: „David und
Goliath." Ebenfalls sehr drollig ist der unmittelbar darauf folgende Schwank, wo
der gottlose Junge den Pfarrer in einer ergreifenden Schilderung des jüngsten
Gerichts unterbricht, indem er einen Kampf zwischen einem von ihm mitge¬
brachten Hirschkäfer und einem Pudel veranlaßt, der sich in die Kirche einge-
schlichen hat. Höchst komisch sind die Abschnitte, welche uns Tom in der
Schule zeigen, ferner die Geschichte seiner bald glücklichen, bald unglücklichen
Liebe zu seiner Mitschülerin Becky Thatcher, dann seine Begegnung mit Huckel-
berry Finn, dem Paria des Städtchens, einem vagirenden Bettelknaben, mit
dem niemand von den Kindern umgehen soll, und mit dem in Folge dessen
jedes und namentlich Tom insgeheim so viel als möglich verkehrt.
Die Bekanntschaft mit Huckleberry führt zu einer ernsten Episode. Der
Bettelknabe theilt Tom mit. daß er im Begriffe steht, demnächst Mitternachts
auf dem entlegnen Kirchhofe des Ortes den Teufel zu citiren. Tom bittet,
ihn dazu mitzunehmen, entwischt in der betreffenden Nacht durch's Fenster
und begiebt sich mit seinem unten wartenden Freunde, der ihm durch Miauen
das verabredete Zeichen gegeben, wirklich nach dem Kirchhofe. Dort werden
die Knaben ungesehen Zeugen zunächst eines Leichendiebstahls, dann eines
Mordes, den einer der Leichenräuber, ein verrufener Bösewicht, der „Indianische
Joe", aus Rache an dem jungen Arzte begeht, für welchen die Leiche aus'
gegraben worden ist. Ein späteres Kapitel erzählt uns dann, wie Tom trotz
seiner Furcht vor dem grausamen Schurken, und trotzdem, daß er sich Huckle¬
berry mit einem blutgeschriebenen Eide zum Schweigen verpflichtet, gewissen¬
haft und voll Mitleid vor Gericht in der Sache Zeugniß ablegt und dadurch
einen unschuldig Angeklagten vom Galgen rettet.
Wieder im komischen Fahrwasser sind wir mit dem Abschnitt, wo Tom,
von Weltschmerz und unglücklicher Liebe geplagt, zu siechen beginnt und von
seiner besorgten Tante allerlei Kuren unterzogen wird, bis er ihr endlich da¬
durch, daß er der Hauskatze die Medicin eingiebt, mit der sie ihn zuletzt ge¬
peinigt hat, die Augen über ihr thörichtes Treiben öffnet. Die Katze rast
wie toll durch das Haus, wirft Blumentöpfe um und fährt zum Fenster
hinaus. Die Tante schilt ihn darüber aus, zieht ihn „an dem gewöhnlichen
Henkel — seinem Ohre — zu sich herauf" und giebt ihm einen tüchtigen
Klaps mit ihrem Fingerhute auf den Kopf. „Na, Junge, warum mußt
Du das arme unvernünftige Thier so behandeln?" — „Ich hab' es aus
Mitleid mit ihm gethan — weil es keine Tante hat." — „Keine Tante hat
— Du Dummkopf? Was hat das hiermit zu schaffen?" — „Ungeheuer
viel. Weil, wenn Peter eine Tante gehabt hätte, sie ihm die Eingeweide
selber verbrannt haben würde, ohne dabei mehr zu fühlen, als wie wenn er
ein Mensch gewesen wäre." Die Tante fühlt den Stich: was eine Grau¬
samkeit gegen eine Katze ist, kann auch eine Grausamkeit gegen einen
Knaben sein.
Im nächsten Kapitel folgt wohl ausgeführt und überaus belustigend eins
der Hauptabenteuer des Buches, die Geschichte, wie Tom in seinem Welt¬
schmerz und mit seinem gebrochenen Herzen in Gesellschaft seines gleichge-
sinnten Freundes Joe Harper und Huckleberrys den Entschluß faßt und aus¬
führt, Seeräuber zu werden, zu welchem Zwecke die drei Schlingel sich mit
gestohlenen Proviant auf eine Insel des Mississippi begeben, nachdem sich
jeder einen Schauernamen beigelegt hat, sodaß Tom fortan der schwarze Rächer der
Spanischen See, Joe der Schrecken der Meere und Huckleberry Huck Finn
mit der rothen Hand heißt. Sie vertreiben sich hier die Zeit auf die ver¬
gnüglichste Weise, baden, schwimmen, fischen, spielen, während man sie im
Städtchen vermißt, sucht und, als sie sich nicht finden, betrauert. Tom ver¬
schwindet in einer Nacht, um das Haus seiner Tante aufzusuchen und ihr
ein schriftliches Zeichen zu hinterlassen, daß er noch am Leben, und ist dabei
ungesehen Zeuge ihres Schmerzes und Grames um ihn, giebt aber den Ge¬
danken mit dem Zeichen auf, da ihm ein guter Spaß einfällt, der dadurch
unmöglich werden würde. Tags darauf zurückgekehrt auf die Räuberinsel,
versucht er sich mit Joe Harper in der Kunst des Rauchers und erleidet
dabei Unsagbares. In der Nacht überfällt die Knaben ein entsetzliches Ge¬
witter, welches mit den lebhaftesten Farben geschildert wird. Langsamer,
aber wirksamer folgt diesem ein andrer Feind ihres Lebens in der Wildniß
das Heimweh. Zuerst giebt Joe, dann Huck mit der rothen Hand der
Sehnsucht, die ihn nach Hause führen will, nach. Tom als eherner Charakter
wehrt sich stolz und versucht auch die weicheren Freunde zum Bleiben zu be¬
stimmen. Aber sie lassen sich nicht halten, und schon sind sie im Begriff,
die Insel zu räumen, als Tom sie durch Mittheilung seines Planes, der
darin besteht, daß sie sich am nächsten Tage, wo ihnen die Leichenpredigt ge¬
halten werden soll, unvermerkt in die Kirche schleichen und den Sermon mit
anhören, dann aber Prediger und Gemeinde durch ihr plötzliches Erscheinen
überraschen wollen, sofort bewegt, noch eine Nacht zu warten.
Dieser ruchlose Plan gelingt vollständig. Der Geistliche predigt über
den Text: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Er „entwarf im Ver
lauf seiner Rede ein solches Bild von dem anmuthigen, gewinnenden Wesen
und den vielverheißenden Fähigkeiten der verschollenen Knaben, daß alle Welt
in der Kirche in dem Glauben, in diesen Bildern die Verstorbenen wiederzu¬
erkennen, Gewissensbisse empfand, indem man sich erinnerte, daß man sich
vorher hartnäckig vor ihnen verblendet und ebenso hartnäckig in den armen
Knaben nur Fehler und Mängel gesehen hatte. Der Geistliche erzählte viele
rührende Züge aus dem Leben der Hingeschiedenen, welche ihr holdes, edel-
Müthiges Wesen zeigten, und die Leute konnten jetzt leicht sehen, wie edel
und schön diese Episoden waren, und erinnerten sich mit Bekümmerniß, daß
ste ihnen zu der Zeit, wo sie passirt, als wüster Unfug erschienen waren,
der den Ochsenziemer verdiente. Die Gemeinde wurde im Fortgang der
Pathetischen Erzählung immer gerührter, bis zuletzt die ganze Gesellschaft zu¬
sammenbrach und sich den weinenden Leidtragenden in einem Chorus schluchzen¬
der Seelen voll Betrübniß anschloß und selbst der Prediger, seinen Gefühlen
freien Lauf lassend, auf offner Kanzel weinte.
Da ließ sich ein Rascheln auf der Galerie hören, und einen Augenblick
später quietschte die Kirchenthür. Der Geistliche erhob seine thränenüber¬
strömtem Augen von seinem Taschentuche und stand da, wie vom Donner
gerührt. Zuerst folgte ein Paar Augen, darauf ein anderes dem Blicke des
Predigers, und dann erhob sich, fast wie auf einen Antrieb hin, die ganze
Gemeinde und machte große Augen, während die drei todten Knaben den
Mittelgang heraufmarschirt kamen — Tom an der Spitze, dann Joe, der
Schrecken der Meere, zuletzt Huck, eine wandelnde Ruine herunterhängender
Lumpen, die mit einem Schafsgesicht hinterherschlich. Sie hatten sich in der
nicht mehr benutzten Emporkirche aufgehalten und ihrer eignen Leichenpredigt
zugehört. Plötzlich rief der Geistliche, so laut er konnte: Preiset Gott, von
dem aller Segen kommt! singt und legt euer ganzes Herz hinein. Und
so geschah es. Old Hundred schwoll mit triumphirendem Gefühlsausbruch
empor, und während es dröhnte, daß die Dachbalken zitterten, sah Tom
Sawyer, der Pirat, sich unter den ihn bereitenden Jünglingen in seiner
Umgebung um und gestand sich in seinem Herzen, daß dies der stolzeste
Augenblick in seinem Leben war."
Ungewöhnlich hübsch ist die Scene, wie Tom sich mit seiner schmollenden
Geliebten nicht zu versöhnen im Stande ist und sich trotzdem für sie opfert,
indem er eine ihr von Rechtswegen drohende Tracht Prügel tapfern Sinnes
auf seinen Rücken ablenkt, eine Heldenthat, für die ihm Becky natürlich wieder
gut werden muß. Ebenfalls ein sehr hübsches Kapitel ist das Examen in
der Schule mit seinen sentimentalen Vorträgen in Versen und Prosa und
dem Schlußtableau, wo, während der strenge Schulmonarch, ein wenig an¬
getrunken, sich bemüht, eine Karte auf die schwarze Tafel am Katheder zu
zeichnen, plötzlich eine Katze durch einen Schieber in der Decke herabgelassen
wird, ihm die Perrücke vom kahlen Schädel zieht und mit derselben wieder
nach oben verschwindet. Es ist. die Rache einer Verschwörung unter den
Knaben. Während der grimme Schulmeister sich erst mit ein paar schnapsen,
dann mit einem Schläfchen auf den feierlichen Abend des Examens vorbereitet
hat, hat sich der Sohn des Zimmermalers, bei dem er wohnt, leise hinter
ihn geschlichen und — ihm die Glatze vergoldet.
Wir müssen eine Anzahl anderer hochkomischer Episoden übergehen und
erwähnen nur noch die wiederum ernste Geschichte, wie Tom und Huckleberry
zu einem großen Schatze kommen. Die Knaben machen sich eines Tages ans
Schatzgräber. An der ersten Stelle, wo sie suchen, mißlingt es ihnen. Sie
wollen es dann mit einem einsam gelegenen Hause versuchen, in dem es
spuken soll. Plötzlich kommen aber zwei Leute, vor denen sich die Knaben
im ersten Stock des Hauses verstecken. Sie hören darauf dem Gespräch der
Beiden zu und sehen, wie dieselben, im Begriffe selbst Geld zu vergraben,
eine Kiste mit Goldmünzen finden. Der Eine ist der Indianische Joe, der
bei jener Gerichtsverhandlung entsprungen ist. Die Knaben sind glücklich,
als sie in ihrem Versteck sehen, wie derselbe beide Schätze hier einscharren
will. Todesschrecken aber ergreift Tom, als der Räuber die Hacke und
Schaufel bemerkt, welche die Knaben im Parterre des Hauses in der Eile
zurückgelassen haben. Zwar wird das Vorhaben Joe's, hinaufzusteigen und
nach den Besitzern jener Werkzeuge zu suchen, durch Zusammenbrechen der
Morschen Treppen unter seiner Last vereitelt. Aber auch der Schatz ver¬
schwindet jetzt. Die Räuber nehmen ihn mit, und die Knaben wissen nur,
daß Joe ihn „in Nummer Zwei" niederlegen will. Darauf hin suchen sie
ihn später in einem mit Nummer Zwei bezeichneten Zimmer des einen Gast¬
hauses der Stadt, finden aber zunächst nur Joe, der hier betrunken am Boden
liegt. Sie stellen dann dieser Nummer Zwei weiter nach, und Huckleberry
Finn, der in der Nacht vor dem Hause Wache hält, sieht eines Abends den
Indianischen Joe und den Andern heraustreten, wobei jener ein Bündel
unter dem Arm trägt, welches der Knabe für den Schatz hält. Er folgt
den Beiden deshalb. Sie gehen auf einen Hügel, wo fern von den übrigen
Häusern der Stadt die reiche Wittwe Douglas ihre Villa hat. Dieselbe hat
noch Licht, und die Räuber machen Halt, wo Huckleberry ein Gespräch der¬
selben anhört, aus dem sich ergiebt, daß der Indianische Joe, bevor er mit
dem Schatze nach Texas geht, hier noch eine Rachethat auszuführen gedenkr.
Der verstorbene Mann der Wittwe hat ihn einmal schlecht behandelt, dafür
will Joe nach Jndianerart ihr jetzt Nase und Ohren abschneiden. Das
Bündel enthält aber nicht den Schatz, sondern Einbrecherwerkzeuge. Entsetzt
entflieht der Knabe und rettet die Wittwe, indem er den nächsten Nach¬
bar mit dessen Söhnen herbeiholt. Der Indianische Joe entkommt zum
Zweiten Mal.
Inzwischen hat Tom mit Becky und einer Anzahl anderer junger Leute
einen Ausflug nach einer großen und vielverzweigten Höhle am Mississippi,
einige Meilen von der Stadt gemacht. Man hat die Gänge der Höhle durch¬
streift und sich dabei sehr vergnügt. Ermüdet kehrt die Gesellschaft am
Abend nach dem Dampfer, der sie hergebracht hat, und auf diesem nach dem
Städtchen zurück, ohne zu bemerken, daß Tom und Becky fehlen. Erst am
andern Tage vermissen sie ihre Angehörigen, man nimmt an, daß sie sich in
der Höhle verirrt, und trifft Anstalten, sie zu suchen. Dieselben haben keinen
Erfolg. Tage vergehen, keine Spur von den Kindern ist aufgefunden worden,
und schon hält man sie für verhungert, als sie wieder erscheinen. Sie haben sich
wirklich in der Höhle verirrt — die Beschreibung ihrer Wanderung, ihrer
Angst, ihres Verzagens ist von außerordentlicher Schönheit — sind eine Zeit
lang ohne Licht und dem Verhungern nahe gewesen, Tom hat bei einem
seiner Versuche einen Ausgang zu finden, mit Entsetzen die Gestalt des
Indianischen Joe an sich vorbeihuschen sehen und hat endlich, fünf englische
Meilen vom Haupteingang in die Höhle, einen Ausweg aus dieser unter¬
irdischen Welt mit ihren unheimlichen Tropfsteingebilden, Seen, Quellen und
Gruben wie einen Stern der Erlösung sich entgegenleuchten sehen. Derselbe
mündet am Ufer des Mississippi, und vorüberfahrende Fischer bringen die
wieder ans Licht Gelangten nach Hause. Tom hat aber dabei noch mehr
gesehen — die Stelle in der Höhle, wo der Schatz des Indianischen Joe
niedergelegt ist. Einige Zeit nachher geht er mit seinem Freunde Huck hin
und hebt ihn nach einigen Schwierigkeiten. Als das Geld zur Wittwe
Douglas gebracht und gezählt wird, sind es etwa zwölftausend Dollars, da¬
mals eine ungeheure Summe in dem Hinterwaldstädchen.
Aber noch besser als dieser Reichthum hat den Knaben die Höhle ge¬
fallen. Sie eignet sich ganz vorzüglich zu einer Räuberhöhle, und „das
Geld", sagt Tom zu Huckleberry, „soll mich nicht verhindern, Räuber zu
werden." Das Handwerk ist, wie er ausführt, gar zu schön und nobel.
Freund Huck, der inzwischen von der Wittwe Douglas in deren Haus ge¬
nommen und mit Versuchen, ihn zu einem gesitteten Menschen zu machen
drangsalirt worden ist, dann aber sich wieder in sein Vagabundenleben und
die Zuckertonnen, die ihm Nachtherberge gaben, zurückgeflüchtet hat, ist gleicher
Ansicht. Aber Tom. der ihn der Wittwe und der Civilisation bis auf Weiteres
erhalten zu sehen wünscht, erklärt, ihn nicht in seine Bande ausnehmen zu
können, da er nicht respectabel sei.
„Ihr könnt mich nicht eintreten lassen, Tom?" fragt Huck. „Ließe ihr
mich denn nicht bet den Seeräubern mitmachen?"
„Ja, aber das ist ganz was Anderes. Ein Räuber zu Lande ist in der
Regel vornehmer als ein Seeräuber. In den meisten Ländern stehen sie
furchtbar hoch auf der Stufenleiter des Adels — Herzöge und dergleichen
sind darunter."-
„Aber, Tom, bist du nicht immer freundlich gegen mich gewesen? Du
wirst mich doch nicht ausschließen — nicht wahr nicht, Tom? Du wirst
mir doch so was nicht anthun, Tom."
„Huck, ich würde das nicht, aber was sollen die Leute dazu sagen? Hin,
werden sie spotten, Tom Sawyers Bande! Ziemlich ordinäres Volk darunter!
Damit werden sie dich meinen, Huck. Dir würde das nicht gefallen und
mir auch nicht."
Huck schwieg eine Weile. Er kämpfte mit sich. Dann sagte er: „Gut,
ich will auf einen Monat zu der Wittwe zurückkehren und sehen, ob ich da¬
hin kommen kann, daß ich's aushalte, wenn du mich zur Bande gehören
lassen willst, Tom. Und wenn ich einmal ein richtiger Haupthahn von einem
Räuber werde, und alle Welt davon redet, so wird sie, glaube ich, stolz
darauf sein, daß sie mich aus dem Drecke gezogen hat."
Wir sahen, wie Lazarus auf dem dynamischen Boden Kant's steht, wie
er über ihn hinausgeht, da er das Ich als das in Denken. Fühlen und
Wollen sich einheitlich bethätigende Selbst begriff. Die Folge dieser einheit¬
lichen Erfassung der Seele zeigt sich sofort darin, daß Lazarus die Ehre zu
^nem unmittelbaren Wesensbestand der Seele macht. Nur zu wahr sagt
Lazarus S.^ 129: „Die ältere Psychologie hat nichts weiter über die Ehre
gelehrt, als daß sie ein Gefühl sei; im Capitel über die Gefühle wurde auch
das Ehrgefühl aufgezählt, man wies ihm einen Ort an und das war
Alles." Diese Geringschätzung der Ehre war eine Folge jener antiken Vor¬
stellung, daß die Gottheit reine Intelligenz sei. Wie die Gottheit, so wird
auch ihr Ebenbild die Seele gedacht; man faßte auch diese blos als reine
Intelligenz auf und meinte, Selbstgefühl. Selbstbewußtsein, Wollen, Empfin¬
den seien eine Folge des Einflusses der irdischen Endlichkeit, durch welche die
Seele beschränkt und aus der harmonischen Ruhe der reinen Intelligenz her¬
ausgerissen würde, so daß nun die Seele als ein Einzelwesen sich fühle und
^löse, und in diesem Selbstbewußtsein unter dem Einfluß der trübenden Sinn¬
lichkeit sich der Unruhe des Wollens wie dem leidenschaftlichen Thun und
dem verwirrenden Irrthum hingegeben sehe. Plato und Aristoteles hofften
daher, mit dem Tode bet der Rückkehr in die reine Intelligenz von der ver¬
achteten Schranke des Selbstbewußtseins befreit zu werden. Eine Rückkehr
welche eigentlich denselben Erfolg haben muß, wie die Rückkehr ins nirvana
von welcher Kant sagt, es sei ein Ungeheuer von System zu denken, daß
'nan durch Zusammenfließen mit der Gottheit, also durch Vernichtung seiner
Persönlichkeit, sich mit der Gottheit verschlungen fühlen könne.
Die biblische Vorstellung vom persönlichen Gott brachte andere Vorstel¬
lungen über den Menschen. Sie weckte wie gesagt die Vorstellung, daß der
Einzelne seinen Werth in der Menschheit besitze und ^damit galt das Selbst¬
bewußtsein selbst als ein berechtigter und sogar wesensnothwendiger Bestand
der Seele; dann aber erschienen auch Denken, Fühlen und Wollen in ihrer
Gleichwerthigkeit als gleichzeitige Bethätigungen eines einheitlichen Wesens.
Leider aber hat der Mann, welcher vom Hellenismus zum Christenthum über¬
gegangen, die lebendige Persönlichkeit Gottes begründen, und die dreifachen
Functionen des Geistes als gleichwerthig und coordinirt aufzeigen wollte,
Augustin, gemeint, die drei Functionen des Geistes als drei Personen,
festhalten zu müssen; und er wurde dadurch grade die Veranlassung, daß
man in der Philosophie seit dem Untergang des Mittelalters, also grade
seit Aufkommen des Individualismus, die Persönlichkeitsidee sowohl bei der
Vorstellung von Gott, wie bei seinem Ebenbild, dem menschlichen Geist für
verfehlt ansah und noch ansieht. Man verwechselt dabei die morphologisch
beschränkte Person, die individuelle sinnliche Erscheinung der Persönlichkeit
mit der dynamischen Natur oder dem Wesen derselben, und verkennt, daß sie
als eine Kraft der Selbstbestimmung und des Vermögens aus inneren Prin¬
cipien zu handeln Herr und Meister ihres Thuns und Daseins ist. und daß
sie somit die Idee der höchsten menschlich denkbaren Kraft ist. Verharrend
aber in der morphologischen Bestimmung fährt daher die Psychologie nach
den Vorstellungen der Griechen fort, die Persönlichkeit als eine Schranke des
Unendlichen zu betrachten. Das Denken, vom Ich höchstens begleitet, steht
dem Wollen und Empfinden dualistisch und gar verächtlich gegenüber, und
selbst Schopenhauer und Hartmann kommen aus dem Dualismus nicht
heraus, denn ihrem Willen als dem Princip der Dummheit und des Unbe¬
wußten steht die Vorstellung als Leuchte zur Seite.
Natürlich daß für alle solche Anschauungen der Begriff der Ehre als
ein Luxus erscheint, den man vielleicht bei Soldaten, Studenten, Polytech-
nikern für eine eingebildete Nothwendigkeit ansieht, der aber im Uebrigen nur
als zufälliges Moment im Leben der Seele erwähnt wird. Kein kleines Ver¬
dienst, vielmehr eine bedeutende That für den Fortschritt im Begreifen der
Seele ist es daher, wenn Lazarus die Ehre als einen Wesensbestandthetl der
Seele hinstellt. Dabei wollen wir es ihm Dank wissen, daß er der ein
größeres Publicum, als blos die Fachphilosophen im Auge hatte, sich nicht
einließ in die abstracten schwierigen Begriffszergliederungen dessen, was Per¬
sönlichkeit sei, daß er vielmehr wie ein Naturforscher sich einfach an das in-
ductiv Gegebene hält, und das ist eben dies, daß jeder Mensch sich als Ich oder
Selbst fühlt!, denkt und weiß und erhalten will. Und da die meisten Men¬
schen wohl in ihrem Fühlen, Empfinden, Wünschen, Hoffen, Leiden eine
reichere Welt in sich erbaut haben, als im Wissen und Denken, so werden sie
um so wohlthuender angemuthet werden von Laznrus, der mit dem Ehrge-
fühl dem Wünschen und Wollen des Selbst sehr hohe Berechtigung zuschreibt;
ste werden wie der am Ostertag seiner Studirstube unter das fröhliche Volk
entronnene Faust rufen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein! Bei der
anderen in der Studirstube erträumten' Seelenlehre, da sie das Gefühl
verachten oder doch mit Hegel sagen, das Gefühl ist ein untergeordnetes, im
Wissen aufzuhebendes Moment der Entwicklung, muß man sich dagegen
eigentlich schämen ein Mensch zu sein, weil man fühlt und liebt und haßt.
L. beginnt seine Darstellung mit einer poetischen Schilderung von der
Macht der Ehre, und anknüpfend an Falstaff's Definition sucht er zu zeigen,
was Ehre sei. Das Ehrgefühl (131) erweist sich als Erfolg, ja als bloßer
Theil oder besondere Erscheinungsweise des Selbstgefühls und, in dessen
weiterer Entfaltung, des Selbstbewußtseins. Schon der Sprachgebrauch setzt
Ehr- und Selbstgefühl in nahe Verbindung, so daß beide Worte oft stell¬
vertretend gebraucht werden; denn als wer und was Einer sich selbst fühlt,
als solcher will er auch geehrt sein; das Selbstgefühl drückt nur das Maaß
für das Ehrgefühl aus. Der Mensch (132) denkt und fühlt sein Selbst,
seine — als ein Ganzes geschlossene — Existenz in diesem gesammten In¬
halte seiner Persönlichkeit und seiner Lebensverhältnisse (ich, der ich diese
Bildung besitze, diesem Stande, dieser Familie angehöre, diese Pflichten,
Pläne zu erfüllen habe u. s. w.); jede Vorstellung, jeder Wille ist nicht
blos Eigenthum, sondern ein Theil seines Selbst, in welchem er Sich,
^ h- sein Ich wiederkennt. In dem Selbstgefühl oder Selbstbewußtsein
liegt aber (S. 133) außer diesem Fühlen, inneren Wahrnehmen und Erfassen
seines Selbstinhalts noch ein zweites Moment, nämlich die Schätzung des¬
selben. Denn im Wesen der Persönlichkeit liegt es sich als ein Zwiefaches
ZU unterscheiden, als Subject und Object, als das Ich, das sich anschaut
Und als das, welches eben geschaut wird. Der Mensch, der sein Thun von
gestern beurtheilt, unterscheidet sich von seinem gestrigen Ich, ist damit zu¬
frieden oder unzufrieden; er als Subject urtheilt über sich als Object.
Nun ist gewiß (13ö), das Alles was der Mensch unmittelbar in seinem
Selbstbewußtsein hat. Alles, was er innerlich ist und thut und genießt,
"ur Vorstellungen und Gedanken sind. Zwar sind materieller Reichthum,
übliche Kraft sicherlich reale Dinge, aber die Freude der Seele darüber ist
doch noch eine über die V orstellung von Ihrem Besitze. Alles Materielle
verwandelt also der geistige Mensch in Gedanken und Vorstellungen und
wacht es zu seinem inneren Eigenthum, worauf der Geist sich in aller Weise
bezieht. Alle objectiven Verhältnisse, materielles Vermögen, reale Kräfte, Stand,
Stellung u. s. w. sind demnach für das Selbstbewußtsein und Selbstgefühl
"»r Vorstellungen, welche zum Inhalt der objectiven Persönlichkeit (136)
eines Menschen gehören; Vorstellungen, an denen es natürlich nicht gleich-
gültig sein kann, ob sie einer Realität entsprechen und entspringen, oder
nicht. Aller Genuß, alles Streben ist nur darauf gerichtet, das eigene innere
Leben mit solchen realistrten Vorstellungen zu erfüllen; sie zum Inhalt der
eignen Persönlichkeit zu rechnen, die eigene Existenz in ihnen und durch sie
zu erweitern.
Ehre und Ehrgefühl ist nun eine solche Erweiterung des Selbst¬
gefühls in Anderen und durch sie. Daß ich auch in dem Vorstel¬
lungskreise eines Andern und nicht blos in meinem eigenen Existenz
habe, daß meine Handlungen nicht nur von mir, sondern auch von Andern
gedacht und geschätzt werden, ist das Wesen der Ehre.
Bet der Scheidung in Subject und Object kann diese Selbsterweiterung
eine zweifache, eine subjective und objective sein; jenes indem die Andern,
wie wir selbst, uns denken und schätzen, dieses, indem die Andern unsern
Gedanken und Thaten nachdenken und nachthun, sie zu ihrer objectiven
Persönlichkeit machen; wobei sogar ihr Bewußtsein, daß sie von uns
stammen, gleichgültig werden kann.
Das Gesagte zeigt (137), wie lächerlich es ist, die Ehre blos zu den
Gefühlen und Begierden zu rechnen. Sie hat einen geistigen Inhalt und
das Denken desselben ist von einem bestimmten Zustand der Seele, begleitet
den wir als Gefühl bezeichnen, und wo dieser Vorstellungskreis nur erst
gedacht und seine Realisirung gewünscht wird, macht er den Gegenstand einer
Begierde aus.
Bei der Entwicklungsfähigkeit der Seele giebt es verschiedene Stufen
und Arten des Ehrgefühls, die unter dem Gesichtspunkt der Selbsterweiterung
Lazarus jetzt näher ins Auge faßt. Die erste Stufe (138) ist das im Selbst¬
gefühl keimende Streben auch in Andern als ein Selbst gedacht zu werden,
der Wunsch von Andern beachtet zu werden. Es ist die Ehre des Kindes
die sich in diesem Streben kund, aber die meisten Menschen sind den je höheren
Ständen gegenüber wahre Kinder und empfinden Freuden von höheren ge¬
kannt, gegrüßt, beachtet zu werden, Kinder können unartig sein um sich be¬
merklich zu machen; Erwachsene scheuen sogar den Herostratusruhm nicht.
Aus dieser ersten Stufe der Selbsterfassung und Wahrnehmung entspringt die
zweite als S e ib se sah ätzun g. Diese ist der mittlere und durchschnittliche
Begriff der Ehre; der Mensch will dabei nicht blos beachtet, sondern ge¬
achtet sein; mit dem Werth den er in seinem Selbstgefühl sich selbst bei¬
legt, will er auch in der Seele des Andern existiren, gedacht und geschätzt
werden.
Ich übergehe die Darstellung der verschiedenen Formen, welche diese Stufe
im Jüngling, im Mann annimmt, die Gründe, warum grade bei Studenten,
beim Adel und Militär ein so viel reicherer Ehrtrieb vorhanden ist, auch die
trefflichen, sittlich ernsten Bemerkungen über das Duell, indem ich hierbei auf
die Schrift selbst verweise, ich gehe weiter mit der Familten-Namen-National-
Künstler-Standesehre, worin Lazarus die Stufe der objectiven Ehre be¬
spricht.
In all diesen Verhältnissen (186) bezieht sich das Selbstgefühl nicht auf
das eigne Selbst nach seinem individuellen Inhalt, seiner Bildung, Leistung.
Stellung, sondern es faßt sich als ein Glied einer dieser Gesammtheiten auf,
seine Ehre ist die der Gesammtheit und umgekehrt. Die Schranke der Nation
aber wird durchbrochen von der Verbindung der Menschen durch die Religion
(190); es giebt eine Ehre des Christen, Juden. Muselmanns, Buddisten;
aber die höchste Ehre ist die der Menschheit.
Hier nun möchte ich ergänzend hinzufügen, die Ehre des Christen,
Juden u. s. w. ist die Ehre der Confessionen, als der Gemeinschaften, von
welchen religiöse Ideen in einer mehr oder weniger vollkommenen Bestimmt¬
heit und Darstellung, als ihre Verwirklichung angenommen und bekannt
werden. Die höchste Ehre, die der Menschheit, aber wurzelt ebenfalls in
der religiösen Idee, und zwar in der höchsten, in der Gottesidee. Nicht die
Griechen haben den Gedanken der Ehre der Menschheit erdacht; durch ihre
Localgötter geschieden kannten sie nichts höheres als die Ehre der Nation,
die ihre Gottheit verherrlichte. Erst der Gedanke der Kindschaft Gottes, daß
Gott der Vater aller Menschen sei. von denen keiner verloren gehen solle,
daß der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen sei. läßt die Vorstellung
reifen, daß die Ehre der Menschheit zu erringen sei, daß es genüge, Mensch
zu sein. Aber freilich, man möchte sagen, daß auch hier noch der morpho¬
logische Gesichtspunkt, der Blick auf den Wirbelthiertypus, das Vorher¬
herrschende sei. Noch ahnt man kaum, daß in der geistigen Kraft
die Ebenbildlichkeit mit Gott liegt, daß die allseitige Entfaltung des
geistigen Vermögens die Verwirklichung^des menschlichen Wesens ist. Mit
Recht sagt Lazarus 190: „Dies ist die wunderbare und eben darin heilige
Natur des Menschen, daß er auf der untersten Stufe seines Daseins und
seiner Entwicklung schon Mensch ist und sein muß. um zur Entfaltung
gelangen zu können, und daß er auf der höchsten wieder nur Mensch sein
kann und soll: Mensch zu sein ist das niedrigste, was man von Jedem
fordern, das Höchste was Einer leisten kann, die geringste Ehre, die er an¬
sprechen, die höchste, die er ansprechen kann."
Diese objective Ehre des Standes, der Familie, der Menschheit u. s. w.
erbt oder erwirbt (190) der Einzelne; die höchste objective Ehre aber ist die.
welche der Einzelne sich schafft, indem er der Gesammtheit den Character
und die Vorzüge erst selbst verleiht.
In etwas anderer Form möchte ich diesen Gedanken wiederholen. Die
objective Ehre quillt dem Einzelnen aus der Vorstellung von dem idealen
Inhalt und Werth der Familie, der Menschheit u. s. w. und diesen Ehre
gebenden idealen Inhalt erbt oder erwirbt er, aber die höchste Ehre wird
ihm, wenn er diesen idealen Inhalt mit seiner geistigen Kraft reiner und
reicher und tiefer erfaßt, und wenn er dann diese reicheren geistigen Schätze
zum Besitz der Gesammtheit zu machen weiß.
Das Streben nach dieser Ehre geht (192) dahin, nicht blos von den
Andern und durch sie, sondern in den Andern geachtet zu sein; nicht
Abbild der Gesammtheit, sondern Vorbild will er sein. Wenn Andere, was
sie thun, durch mich und nach mir thun, dann thue ich es in ihnen und
durch sie; sie sind mit diesem Thun Theile meiner Selbst, meiner durch
sie erweiterten Persönlichkeit. So ist es der Fall bei Stiftern von Ge¬
meinschaften, so auch bei Lehrern, Feldherrn, Königen. Eine Verkehrung in
Selbstsucht ist dabei möglich und erfahrungsmäßig, deshalb ist das Kriterion
(196) wahrer und falscher Apostel, patriotischer Helden und selbstsüchtiger
Eroberer eben dies, ob sie durch sich die Natur, oder durch die Natur sich
selbst erheben wollen.
Diese höchste Stufe führt (196) wie in unserer Betrachtung, so auch im
Leben zum Ruhm; denn Ruhm ist Ehre, ist Erweiterung des eignen Selbst¬
gefühls. Ehre aber leitet (197) unsere Handlungen nur vor denen und wird
verlangt von denen die uns kennen und bekannt sind; Ruhm dagegen ist das
Andenken und die Anerkennung ohne Grenzen des Raumes und der Zeit.
Die Ehre versetzt sich (198) in das Urtheil des Andern und will es erfüllen,
der Ruhm will es übertreffen. Die Ehre kann man (200) mit Andern zu¬
gleich erstreben und genießen, Ruhm schließt diese Gemeinschaft aus. Ehre
gründet die Republik im Reiche des Gemüths und der Sittlichkeit. Ruhm
die Despotie. Daraus folgt denn die unendlich größere Triebkraft des
Ruhmes, oft neben geringerem sittlichem Werth, die Größe der Kraft und
des Erfolges auch ohne Hoheit und Würde der Gesinnung. Dieser Erklärung
kann man, insofern bei der Ehre vorzugsweise ein sittliches Empfinden und
Fühlen thätig ist, hinzufügen, daß die Alten mehr den Ruhm erstrebten,
während die Ehre erst als germanisches Princip zur Verwirklichung kam.
Lazarus spricht nun (201) von der Schande als der Nachtseite der Ehre,
als Vernichtung des Selbstgefühls. Dabei zeigt sich wie das Ehrgefühl allein
das Leben lebenswerth macht; mit der Schande, als der Vernichtung der
eignen Werthschätzung, mag sie aus berechtigter oder unberechtigter Vorstellung
empfunden werden, tritt Verzweiflung, Unlust am Dasein, oft Selbstmord ein.
Lazarus spricht nun von den Vorwürfen, die man dem Streben nach
Ehre macht. Wir brauchen ihm dabei nicht zu folgen, denn unser Lob
darüber, daß Lazarus die Ehre als Wesensbestandtheil der Seele auffaßt,
quillt eben daraus, daß wir mit Lazarus (S. 207) sagen: das Streben nach
Ehre ist eine sittliche Pflicht. Sie zu erstreben liegt ja auch im Wesen des
Menschen, der gar nicht anders kann, als von der Umgebenwelt sich zu unter¬
scheiden, sich dabei zugleich zu beurtheilen und in Vergleich und Schätzung mit
den Uebrigen zu setzen. Daß hierbei fasche Schätzung vorkommen kann ist
richtig, aber nichts Edles lebt , das bei der Freiheit des Menschen nicht ins
Gegentheil verkehrt werden könnte und so ist auch die Möglichkeit des Ehr¬
geizes, der Eitelkeit, des Hochmuthes u. s. w. kein Grund die sittliche Pflicht
des Strebens nach Ehre zu unterdrücken. Lazarus citirt (208) den schönen
Schluß des Simplicissimus: „Ich nahm meine Ehre in Acht nicht ihrer selbst
sondern meiner Erhöhung wegen." Und dies in der That ist das Kriterium
wahrer Ehre, daß sie die sittliche Natur der Gemeinschaft nicht aufgiebt,
daß darin der Einzelne sich zu veredeln, und durch Werke zu glänzen strebt
nicht seiner selbst, sondern der Gesellschaft, der Nächsten wegen mit denen
er lebt.
Hiermit aber stehe ich wieder vor der Gottesidee. Denn über der Ge¬
sellschaft steht die Menschheit und diese erblickt die Bestimmung ihres Wesens
in Gott, dessen geistiges Ebenbild der Mensch sein soll, d. i. als dessen Eben¬
bild er sich verwirklichen soll. Letzten Endes quillt daher der geistige Inhalt,
der in dem wahren Streben nach Ehre bethätigt werden soll, aus der Idee
Gottes. Sie ist es, deren Nacheiferung dem reinsten Trieb nach reinster Ehre
Leben ertheilt, und sie ist es, die- im Streben nach wahrer Ehre bewußt oder
unbewußt als Maßstab der Schätzung zu Grunde liegt, sie ist es zugleich,
die der Ehre den vollsten Charakter der Sittlichkeit giebt, denn wer nach ihr
sein Thun bestimmt, bestimmt es nicht nach menschlichen äußeren Rücksichten
nicht nach dem Anstand und der Schicklichkeit, sondern nach den Ideen des
ewig Wahren, Guten und Schönen, und er weiß, daß der Werth seines
Thuns sich bestimmt nach der Ehre welche dem ewig Unvergänglichen, welche
Gott in der Höhe dabei gegeben wird, nicht aber nach dem Ruhm oder
dem Lohn, den seine Selbstsucht dabei gewinnt.
Ich bin daher nicht ganz einverstanden, wenn Lazarus 211 sagt, „daß
die religiöse Moral und namentlich die des Christenthums sich von je oft
und stark gegen die Triebfeder des Ehrgefühls gewendet habe." Denn was
die engherzige Moral sagt, kann Lazarus gleichgültig sein, da, wie der ideale
Schwung seiner Anschauung zeigt, er auf auf dem freieren, reicheren Boden
der Sittlichkeit steht. In Betreff der Religion freilich ist es richtig, daß
insofern sie das Verhalten des Menschen zu Gott ist, in ihr der Mensch sich
oft in seiner Kleinheit und Niedrigkeit fühlt; aber sie ist ja grade wieder
eine erhebende Kraft, sie ist der Ort, wo der Mensch wieder seinen Werth
empfindet, wo er seine Ehre wieder gewinnt, wenn ihn die Zuversicht erfüllt,
daß auch der Kleinste und niedrigste ein Gegenstand der Liebe und der Ehre
Gottes sei. Auch nicht das Christenthum wendet sich gegen die Triebkraft
der wahren Ehre, sonst wäre es unbegreiflich, daß erst seit der christlichen
Zeit und nur in christlichen Ländern eine Lebens- und Naturfreude, ein frei-
hätiger Individualismus erwachte, wie er anderwärts nie lebendig war. Nicht
das Christenthum, sondern nur die mittelalterliche Form desselben, nur
die unvollkommnen Formen der Kirchen eiferten dagegen. Solche Verzerrungen
der Idee der Kleinheit des Menschen gegenüber dem Unendlichen, solche Mi߬
erscheinungen, wie die Entehrung des menschlichen Selbst in mittelalterlichen
Kasteiungen und Peinigungen, solche Carricaturen der Demuth wie sie ein
Pietismus gebar, kommen allerwärts vor, und finden sich noch gräßlicher in
orientalischen Religionen, namentlich den indischen. Und wenn im Hinblick
auf solche Verzerrungen Hartmann, Büchner und andere Christenthumsver¬
ächter sagen, die Ehre die das Christenthum gebe, indem es jedem Einzelnen
Fortdauer verspreche, erzeuge nur Hochmuth, und es sei vernünftiger und
sittlicher, sich demüthig zu bescheiden und des Aufhebens nicht werth zu achten,
sondern mit dem Nachruhm sich zu begnügen, so erscheint mir diese Demuth
noch widriger wie die des Pietismus, denn es ist eine Demuth hinter welcher
sich nur die Schriftstellereitelkeit verbirgt.
So wenig nach seinen idealistischen Vertretern der Materialismus, so
wenig ist nach seinen materialistischen Vertretern das Christenthum zu be¬
urtheilen. Ueber aller historisch gewordenen Wirklichkeit stehen als treibende
Mächte die Ideen, nach deren vollkommnerer Verwirklichung gerungen wird.
Ehre dem Menschen, der seine Ehre findet in der möglichst reinen Verwirk¬
lichung des Idealen! Ehre aber vor Allem unserem Lazarus, weil er die
sittliche Natur der Ehre nachwies, weil er sie als Wesensbestandtheil der
Seele erkannte und weil er hinwies, daß der Mensch erst zum Menschen
wird, wenn er mit seiner Ehre eine bleibende Werthschätzun g sicherringt!
Die Jngenieurwissenschasten haben mit der gewaltigen Entwickelung
aller übrigen Wissenschaften stetig Schritt gehalten. Die Fortschritte welche
besonders auf dem Gebiete der Physik und Chemie in den letzten fünfund¬
zwanzig Jahren gemacht wurden, befähigen den Ingenieur, die Lösung von
Fragen und Aufgaben zu versuchen, welche noch vor wenigen Jahrzehnten
für unlösbar angesehen wurden. Die Aufhebung aller Entfernungen durch
das Legen unterseeischer Kabel ist schon ein längst überwundener Standpunkt,
das Durchbrechen der Alpen für Schienenwege ist nicht mehr eine Frage
des Gelingens, nur noch eine Frage des Kostenpunktes. In jüngster Zeit
hat die Ingenieurkunst besonders auf dem Gebiete des Wasserbaues Bedeutendes
erreicht. Der Suezkanal ward durch eine Wüste gegraben; die Gefahren der
Donauschifffahrt wurden beseitigt; und eine der erfolgreichsten solcher Arbeiten
ist leider bisher wenig genannt und bekannt, wir meinen die Aarcorreetion
oberhalb des Brienzer Sees gegen Meiringen. Die meisten dieser Arbeiten
wurden mit dem Spaten und der Schaufel bezwungen, die gewaltigen Wasser
eingedämmt mit Faschinen und Dämmen; sie waren fast alle oberirdische
Werke, die Sonne leuchtete den fleißigen Arbeitern, dem umsichtigen Auge
des leitenden Ingenieurs.
Auf ganz andere Weise mußte an die Lösung des eben jetzt bewältigten
Kroßen Problems, der Beseitigung der Gefahren im Hell Gale bei New-York
geschritten werden.
Die Stadt New-York liegt bekanntlich auf der langgestreckten Insel
Manhattan, nach Westen begrenzt vom Hudson, im Süden von der
New-York Bay. im Norden von einem Arm des Hudson, Spuyten Devil oder
Harlem River, der sich in die Bucht des langen Sundes ergießt, welcher die
Stadt im Osten begrenzt, den sogenannten Gast River. Dieser East River
in einer Breite von 1000 bis 8000 engl. Fuß trennt Manhattan Island
von Long Island und damit auch die Tochterstadt Brooklyn von New-York.
Nordöstlich von Brooklyn am Ufer des East River und immer noch New-
Äork gegenüber liegen nach einander die Ortschaften Green Point. Long-
Jsland City. Astoria. Zwischen diesen Ortschaften und der Stadt New-York
erweitert sich der East River zu seiner größten Breite, ist aber fast in der
Mitte durch die Inseln Blackwell und Ward in zwei ziemlich gleich breite
Arme getheilt. Dem nordöstlichen Ende von Ward Island gegenüber liegt
auf Long Island (in der Nähe von Astoria) die Landspitze Haltet's Point,
^"d zwischen Ward Island. Haltet's Point und Astoria liegt, oder besser
!»K das berüchtigte Hell Gale. ein wirkliches „Höllenthor" für die Schiffer,
es zu Passiren hatten.
Die Einfahrt in die herrliche Rhede. den schönen Hafen von New-York
ist eine ziemlich schwierige, welche erst durch Erbauung vieler Leuchtthürme
Und die Aufstellung vieler Tageszeichen verhältnißmäßig gefahrlos gemacht
^vurde. Die Haupteinfahrt ist bisher bei Sandy Hook gewesen, wo sich der
Hudson in den Ocean ergießt und dort, gegen die Wellenbrandung des Meeres
ausströmend, seine Sand- und Kiesgeschiebe fallen läßt. Diese bilden eine
Masse von Sandbänken, zwischen welchen sich in vielen Windungen der Haupt-
schifffahrts-Canal hinzieht. Derselbe ist stellenweise sehr schmal und an der
seichtesten Stelle, der sogenannten Sandy Hook Bar, nur 21 Fuß tief bei
Ebbe. Die großen Kriegsschiffe, der Great Eastern, ja manche See-Passagier-
Dampfer mußten oft stundenlang vor dieser „Bar" warten, bis die Höhe
der Fluth ihnen ein gefahrloses Einlaufen gestattete.
Die Tiefe der Bay von New-Uork, sowie der den Hafen bildenden Flüsse
Hudson und East River, ist fast überall über 60, ja stellenweise über 100
Fuß. Auch der Verbindungsarm des East Rivers mit dem Long Island
Sourd (dem Sund, der die Lange Insel vom Continente trennt) hat eine
Tiefe, die nirgends unter 50 Fuß herabgeht, er war aber bisher an der Enge
zwischen Ward Island und Haltet's Point durch die Felsengruppen des Hell
Gale so gut wie gesperrt. See-Dampfer versuchten niemals durch das Höllen-
thor zu fahren. Selbst die großen flachgehenden Passagier-Dampfer, welche
den lebhaften Verkehr New-Uorks mit New-Haven, New-London, Stonington,
Providence, Newport und Boston vermitteln, kamen in dieser gefährlichen
Enge oft in sehr schlimme Lagen; einige scheiterten dort. Die Kriegsschiffe
durften am wenigsten wagen, das Höllenthor zu passiren. Die Erinnerung
an den Untergang einer englischen Fregatte während des Unabhängigkeits-
Kriegs der Colonien lebt noch heute im Gedächtniß der Leute. Daß es aber
für die Regierung von größter Wichtigkeit sein mußte, einen Tiefwafseraus-
gang aus dem Hafen New-Uork's zu besitzen, dessen Brauchbarkeit nicht durch
Ebbe und Fluth in Zweifel gestellt werden konnte, lag auf der Hand. So
bildete die Beseitigung der Felsen des Hell Gale schon seit Jahrzehnten den
Gegenstand des Nachstnnens fast aller in New-Uork stationirten Genie- und
Marine - Officiere der Vereinigten Staaten. Es kamen die wunderbarsten
Vorschläge, Versuche und Experimente zur Ausführung, deren Erfolglosigkeit
klar vorauszusagen gewesen wäre, bis endlich, aufgemuntert durch die erfolg¬
reiche Sprengung des „ZZIossoin Il,ooK" (Knospen-Felsen) am Eingang zum
Hafen von San Francisco, durch den in Karlsruhe geschulten Ingenieur
Karl Hofmann, General Newton (der sich den tüchtigen deutschen Ingenieur-
Officier aus San Francisco als Subalternen zukommandiren ließ) ebenfalls
wagte, den Felsen und Riffen des Hell Gale's von unten, aus der Tiefe des
Meeres, beizukommen, während alle bisherigen Versuche darauf abgezielt hatten,
die Felsen von oben aus zu verkleinern oder umzustürzen. Die Erwartungen,
welche von dem großen Publikum an die projectirten Arbeiten geknüpft wurden,
waren der mannigfaltigsten Art. Den Laien, d. h. der Masse des Volkes, konnte
man es nicht übel nehmen, daß sie für das „neu zu versuchende System" sich
nicht erwärmen konnten. Hatten sie doch seit mehr als fünzig Jahren gar
Manches „neue System" anfangen, und, nachdem Hunderttausende ausgegeben
waren, nicht den geringsten Nutzen davon gesehen. Die Techniker waren
sehr getheilter Meinung. Manche fürchteten im zerklüfteten Boden Sand¬
adern, in denen das Wasser so stark zuströmen würde, daß Alles in
Frage gestellt würde. Wieder andere befürchteten, daß die zu schaffenden
Höhlen einstürzen würden, bevor der Meeresboden erreicht sei. Noch andere
üblich fürchteten, daß die ungeheure Explosionsmasse, die nöthig sei, das
ganze Felsenriff loszureißen, eine solche Erschütterung erzeugen werde, daß
alle Gebäude auf Ward. Blackwell Island, sowie in Astoria und New-York
in einem gewissen Umkreis einstürzen würden und so der erlangte Nutzen in
keinem Verhältniß stehen würde zu dem Schaden, ja zu dem Menschenverlust,
der mit der Lösung des Problems erfolgen müsse. Trotz dieser wogenden
Meinungen, die nach gut republikanischer Sitte sich in allen Zeitungen breit
wachten, beharrten Newton und die Regierung fest und unverrückbar an ihrer
bestimmten Operationsart und erklärten wiederholt, daß die beabsichtigte
Sprengung nur auf ganz kurze Entfernung eine zerstörende Erderschütterung
erzeugen könne.
Das anzuwendende System bestand darin, daß man beabsichtigte, gleich
bei Haltet's Point einen Schacht so tief in die Erde zu senken, daß man
von dessen Boden aus unter dem Meeresboden des Hell-Gale-Riffs, Tunnel
oder Höhlen ausheben könne, welche so zu legen seien, daß zwischen dem
Gewölbe-Scheitel der Tunnel und dem Felsengrunde überall 10 Fuß Gestein
übrig bleibe.
Der Hauptschacht bei Haltet's Point wurde im October 1869 begonnen
und 73 Fuß senkrecht abwärts in den sehr bald unter der Oberfläche der
^nsel erreichten Gneiß gesenkt. Von dort aus wurde ein Stollen 14 Fuß
Weit, 22 Fuß hoch nach dem Riff zu getrieben, dessen Boden vom Einstetge-
schacht aus noch um circa 10 Fuß fiel. In einer Entfernung von ungefähr
^0 Fuß wurde im rechten Winkel zu diesem Stollen ein Quer-Stollen ge¬
geben , von den gleichen Dimensionen wie die des ersten. Von den Quer-
^tollen wurden 10 Hauptgänge unter das Riff getrieben und zwar so, daß
deren lichte Höhe am Ausgang aus dem Querstollen 22, an deren Ende
^raa 7 Fuß war, so daß allenthalben zwischen der Decke der Gänge und
dem Boden des Riffs oberhalb noch circa 10 Fuß Felsenmasse sich befanden,
^lese 10 Hauptgänge wurden durch 31 Nebengänge, die je 30 Fuß von ein¬
ander entfernt waren, rechtwinklig gekreuzt. Zwischen den Haupt- und Quer-
ga'ngen blieben Felsenpfetler von 30 Fuß im Quadrat Mächtigkeit stehen, welche
"tho das Felsenband, d. h. das ganze Riff und die Wasser des Oceans darüber
trugen. Das Ganze sah aus, wie eine unterirdische Stadt mit 10 Haupt- und
31 Querstraßen, alle von 14 Fuß Breite*). Aus diesen Gängen und Stollen
wurden im Ganzen über 7S000 Cubikyards (circa 70000 Cubikmeter) Gestein zu
Tage gefördert. Die Felsen-Pfeiler waren, je nach der Härte des Gesteins,
wieder in kleinere Abtheilungen getheilt worden, welche in diese Pfeiler thon- .
ähnliche Oeffnungen schufen, während der obere Theil der Pfeiler massiv
blieb. So entstanden mit der Zeit im Ganzen 1730 Felsenpfeiler, welche die
310 Hauptpfeiler der großen unterseeischen Mine und mit ihnen das ganze
Riff Hell Gale trugen. — Die Hauptgänge hatten, von dem Querstollen
aus gemessen, eine Länge von 185 bis 300 Fuß; die Nebengänge hatten eine
durchschnittliche Länge von 160 Fuß. Vor dem Beginne der Bohrungen
wurde von der ganzen Ausdehnung des Riffs eine genaue Aufnahme gemacht, so
daß man dann im Stande war, die Gänge so anzulegen, daß sie die sämmt¬
lichen gefahrdrohenden Felsen und Klippen über sich hatten. Durch Spreng¬
ung der 1730 Felsenpfeiler, welche das Riff in dem unterhöhlten Raume
trugen, sank natürlich das Felsenband über denselben zusammen, riß die
sämmtlichen Felsen und Klippen mit hinab in die Tiefe und machte so die
Wasserenge für die Schifffahrt frei. — Zu diesem Zwecke wurden in die
1730 Pfeiler zusammen etwas über 7000 Bohrlöcher gebohrt, welche 3^/z
Zoll im Durchmesser und 9 bis 24 Zoll tief waren. Sie wurden mit
Sprengpatronen geladen, zu welchen Nitro-Glycerin, Dynamik und Ntesen-
pulver verwandt wurde. Es wurden hierbei etwa 40000 Pfund Dynamik,
10000 Pfund Pulver und 8000 Pfund Nitro-Glycerin verbraucht. In jedes
Bohrloch setzte man hierauf einen Zünder in der Gestalt eines mit Dynamik ge¬
füllten kupfernen Zündhütchens größerer Dimension. Dieses wieder wurde
mit einem, mit Quecksilberpräparat überzogenen Kupferdraht verbunden,
welcher über die Oeffnung des Bohrloches herausragte. Die Oeffnung wurde
dann mit Guttapercha wasserdicht geschlossen. Die sämmtlichen Kupferdrähte
wurden endlich gruppenweise verbunden und mittels eben solcher Kupfer¬
drahtleitungen mit der electrischen Batterie vereinigt, welche zuletzt die sämmt¬
lichen Ladungen gleichzeitig entlud.
Auf Sonntag den 24. September d. I. 2,jz Nachmittags war das
Ereignis? der Sprengung, auf welches hin sieben Jahre unermüdlich gearbeitet
worden war, angekündigt. Einladungen von Seiten der Regierung und der
Handelskammer von New-Uork an hervorragende Persönlichkeiten, Ingenieure
wie Laien, hatten Hunderten bevorzugte Plätze zur Anschauung des großar¬
tigen Experiments verschafft. Tausende und aber Tausende, (die amerikanischen
Zeitungen sprechen von 200000 bis 230000 Zuschauern) hatten vom frühen
Morgen an alle hochgelegenen Punkte der Umgegend, zurück bis zum Cen-
tralpark, alle Fenster der auf den Fluß sehenden Häuser New-Uorks. Astorias
u. s. w. besetzt, ja auf den Dächern harrten Tausende der kommenden Er¬
eignisse. Trotz triefenden Regens, der den ganzen Tag, von einem heftigen
Nordoststurm getrieben, unerbittlich fiel, harrten die Tausende mit und
ohne Regenschirm unermüdlich aus. Der Fluß war durch die Polizeivovte
auf weite Entfernung vom Riffe abgesperrt; hinter der Demarkationslinie
aber lagen Hunderte von Booten aller Arten und Größen, von denen auch
wieder jedes von einem dichten Menschenknäuel gefüllt war.
Um die erschütternden Wirkungen der Explosion abzuschwächen, hatte
man mittels einer 24 zölltgen Zuflußröhre am Tage vor der Sprengung
Wasser in die Mine gelassen. Diese war infolge dessen um 10 Uhr am
Sonntag Morgen mit Wasser angefüllt.
Um halb drei Uhr sollte die erste Alarmkanone losgeschossen werden,
welche 15 Minuten vor der Sprengung das Zeichen geben sollte, daß alle
Menschen die Nähe des Zerstörungsheerdes sofort verlassen mußten. Als sie
erscholl, war sie als Warnung nicht mehr nöthig, denn schon seit Stunden
waren die Menschenmassen über die „Polizeilinie" nicht mehr hinausgegangen.
Um 2,zö ertönte der zweite Stgnalschuß, und wenige Sekunden, nachdem
zur verabredeten Zeit der dritte und letzte Schuß gefallen war, verspürten die
Tausende von Zuschauern ein Gefühl, als ob die Erde unter ihnen bei
donnerähnlichem Getöse wanke, und sogleich erhob sich über dem Riff eine
schneeweiße Wasser- und Schaum-Säule bis zur gewaltigen Höhe von 100
Fuß an den Rändern und circa 150 Fuß in der Mitte. Dem Wasser
folgten Felsstücke, dann die ganze Spundwand, welche die gefährlichsten Punkte
umgeben hatte, in Atome zerrissen, hinauf in die Lüfte; hierauf erhob sich
eine gewaltige Wolke gelblicher Gase, welche aus dem Rachen des Schlundes
(in Folge der Explodirung so bedeutender Massen Sprengstoffs) hervorquoll,
um sich langsam über die wilden unruhigen Wasser zu verbreiten und all¬
mählich zu verschwinden. Dann noch wenige Sekunden ein Brausen. Zischen
und Gurgeln über der Stelle, wo die Felsen des Hell Gale bis dahin
schwarz und unheimlich erglänzten — und Alles war vorbei! — Die Wasser
Wurden ruhig, und wenn die Felsen des Hell Gale nicht verschwunden gewesen
Wären, man hätte denken können, es sei nichts geschehen.
Das große Werk war gelungen! Nach nur sekundenlangem Schweigen
ergriff dieser eine Gedanke die Tausende und aber Tausende der ängstlich
Harrenden, dann meldete ein brausendes Hurrahrufen, daß sie alle gleich-
Zeitig die freudige Wahrheit des eben Geschehenen begriffen.
Das Felsenjoch des Hell Gale, des lang gefürchteten, war gesprengt,
und kein Menschenleben, kein einziges eingestürztes Haus, ja kaum hundert zer¬
brochene Fensterscheiben waren zu beklagen. — Die Welt ist um einen großen
Erfolg ausdauernden Fleißes und umsichtigen Schaffens reicher. — Noch ein
Jahr lang wird die Arbeit dauern, die losen Felsentrümmer des früheren
Höllenthors aus der Tiefe zu winden und ganz zu entfernen, so daß vielleicht
schon nach einem Menschenalter von den Schrecken Hellgates nur noch wie
von einer Sage längst vergangener Zeiten gesprochen werden wird.
An die Ereignisse des Jahres 1849 anknüpfend, schildert dieses Buch
(833 Seiten stark) Preußen, wie es sich bis zu jenem Jahre im Innern ge¬
staltet hatte, sein Culturleben, seine politische Verfassung, sein Verhältniß zu
Deutschland und seine Aussichten in die Zukunft. Jenes Jahr war ein
epochemachendes, indem während desselben die Annahme der octroyirten Ver¬
fassung dem Staate ein neues Fundament gab, und indem die Dynastie durch
das königliche Wort vom 15. Mai offen und ausdrücklich die Verpflichtung
übernahm, nach einem deutschen Einheitsstaats zu streben. Es brachte nach
langjährigem Sehnen und Ringen eine konstitutionelle Verfassung und
eröffnete dadurch zugleich für ganz Deutschland einen neuen Zeitabschnitt mit
anderen Kämpfen und Zielen als den bisherigen. Die Parteibestrebungen
der Gegenwart sind wesentlich andere als die vor einem Vierteljahrhundert,
die Parteileidenschaften von 1849 haben sich längst beruhigt, und so hat der
Verfasser Recht, wenn er meint, daß eine objective Auffassung des damals Er¬
strebten und Geschehenen jetzt möglich sei. Dieser objectiven Auffassung be¬
gegnen wir denn in seiner Darstellung der Dinge und Menschen allenthalben,
und wenn sein Buch selbstverständlich eine Anzahl von Vorgängen, die ihre
Wurzeln in den höheren Sphären des Hofes und der Diplomatie haben, un¬
aufgeklärt läßt, so ist es doch eine sehr dankenswerte Erinnerung an die-
jenigen, welche sich außerhalb jener Sphären abspielten, und von denen
manches Bedeutungsvolle schon jetzt dem Gedächtnisse der Zeitgenossen zu
entschwinden und so für die Zukunft verloren zu gehen droht. Der Geist,
in dem der Verfasser schreibt: streng nationale Gesinnung und ein maßvoller
Liberalismus, der im Stande ist, die Fehler und Mängel der damaligen
Liberalen zu sehen und ausdrücklich anzuerkennen, sowie andrerseits das Gute
und Rechte im Streben und Thun der Gegenpartei heraus zu finden, be¬
fähigen ihn in ungewöhnlichem Maße zu seinem Unternehmen. Weniger
wohnt ihm das künstlerische Geschick bei, seinen Stoff wirksam und in über¬
sichtlicher Aufeinanderfolge zu gruppiren. So kommt es zu Wiederholungen;
was wir zu Anfang erwarten, folgt erst später und umgekehrt, und manche
Kapitel stehen neben einander wie einzelne Abhandlungen statt wie die Glie¬
der eines Ganzen. Die ersten vier Abschnitte behandeln die Ereignisse vom
Nevolutionsjahre 1848, von der Auflösung der Nationalversammlung, der
Octroytrung der Verfassung und den Vorgängen in den neuen Kammern bis
zu den Aufständen in Breslau, Elberfeld, Iserlohn, Hagen und Prüm, wo¬
bei außer einer Rundschau über die Verhältnisse im Innern Preußens unter
dem Ministerium Manteuffel auch eine Rundschau über die Lage der andern
deutschen Staaten bis zu den Aufständen in Dresden, Baden und der Pfalz
eingeflochten ist. Dann folgt ein lehrreiches Kapitel über statistische und
kulturhistorische Verhältnisse der damaligen Entwickelung in den alten und
neuen Provinzen Preußens. Ein weiterer Abschnitt bespricht das Ver¬
einsleben und die kirchlichen Streitigkeiten, ein fernerer die Presse. Dann
wendet sich der Verfasser dem Verhalten der Regierung in der ersten Reac¬
tionszeit zu, die mit Waldecks Verhaftung und Freisprechung gipfelte. Das
achte Kapitel beschäftigt sich mit der oetroyirten Wahlverordnung und dem
städtischen und ländlichen Proletariat, das neunte mit der deutschen Natio¬
nalversammlung, das zehnte und elfte mit den Unionsversuchen von 1849
und der Dreiköntgsverfassung, das zwölfte mit der Gothaer Zusammenkunft.
Die drei nächsten Abschnitte behandeln weitere reactionäre Maßregeln des
wahres, Beschränkungen der Presse und der Vereine, Disciplinarverordnungen
Und den badisch.pfälzischen Krieg. Das folgende Kapitel giebt eine gute
Uebersicht über den Stand der Schleswig-holsteinischen Verhältnisse vor 1848
und den Kampf mit Dänemark in diesem und dem folgenden Jahre. Dann
werden wir vor die preußischen Wahlen vom Juli 1849 geführt. Hierauf
^spricht unser Buch noch die Verhältnisse in Frankfurt, die Verhandlungen
^u Teplitz und das Interim; dann folgt eine Rundschau über die Lage
Dinge zu Ende des Jahres, und den Schluß bildet ein Blick auf Preußens
^schichte vom culturhistorischen, politischen und nationalen Standpunkte.
Diese Schrift beginnt eine Reihe „Langobardischer Studien", die sich
dem Verfasser bei den Vorarbeiten zur Geschichte und Verfassung der Lango¬
barden in der Gesamtdarstellung des germanischen Königthums nothwendig
gemacht haben, und trägt einen vorwiegend polemischen Charakter. Die bis¬
herige Forschung über Paul schloß mit den Aufsätzen Bethmann's in Pertz'
Archiv ab. Auch unsere Abhandlung geht von ihnen aus, gelangt aber in
vielen Einzelnheiten zu andern Ergebnissen, wie sie denn z. B. für eine große
Anzahl der von Bethmann dem Paulus zugeschriebenen Schriften die Uner-
weislichkeit der Verfasserschaft darthut. Die vorliegende Untersuchung weicht
zunächst darin von der Bethmann'schen ab, daß sie den Begriff „Quellen"
anders als diese versteht, d. h. nicht der Methode folgt, „späte, durch Jahr¬
hunderte von Paul getrennte Ueberlieferungen als Quellen zu verwerthen,
während sie doch nur eine durch Sage, Gelehrtenfabel und Localpatriotismus
bewußt und unbewußt getrübte Literatur heißen dürfen. Was im dreizehnten
Jahrhundert Alberich, im zwölften Sigebert, zu Ende des zehnten der Saler-
nitaner über Paul schrieben, hat keine größere Glaubwürdigkeit, als was
die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts aussagt; denn an mündliche ge¬
schichtliche Ueberlieferung neben den gleichzeitigen Schriftquellen ist nicht zu
denken; das Mündliche wird schon Mitte des neunten Jahrhunderts Sage
und Dichtung, mit den gleichzeitigen Zeugnissen endigen die „Quellen." Der
zweite Fehler Bethmann's bestand darin, daß er bei Ueberlieferungen der
Sage oder Kunstdichtung nach Abzug des gar zu handgreiflich Erfundenen
und Abenteuerlichen den Rest für Geschichte ansah, und auch gegen dieses
Verfahren hatte die vorliegende Abhandlung Einspruch zu thun und seine
irrthümlichen Ergebnisse als solche zu bezeichnen. Häufig mußte es bet dieser
bloßen Negation der Annahmen Bethmann's bleiben, weil die Quellen nichts
Positives ergeben. Aber es wäre willkommen zu heißen gewesen, wenn der
Verfasser am Schlüsse seiner Untersuchung aus dem, was wirklich über den
Geschichtschreiber der Langobarden feststeht, ein Bild zusammengestellt hätte.
Wie die Sache steht, liegen die Materialien zu einem solchem zu weit aus¬
einander. Dankenswert!) ist der die Schrift beschließende Abdruck der kleinen
Gedichte und Briefe von und an Paul, die bisher nach allen Richtungen hin
zerstreut waren.
Zur richtigen Würdigung der Gegenwart gehört die Kenntniß der Ver¬
gangenheit. Daher mögen diejenigen, welche in unserer jetzigen Rechtspflege
Kur Mängel und UnVollständigkeiten sehen, auf unsere Vergangenheit zurück¬
blicken. Auch wir sind ja noch entfernt von dem Ideal einer Deutschen
Rechtspflege. Wie groß aber die Fortschritte sind, welche unsere Rechtspflege
gemacht hat, das ergiebt die Begleichung mit unserer Vergangenheit-. Zu
solcher bietet der Inhalt der Schleswig-Holsteinischen Akten des Reichskammer¬
gerichts, welche der Oberappellationsgerichtsrath Brinkmann veröffentlicht
hat, den reichsten Stoff.
Diese Mittheilungen beginnen mit einem im Jahr 1499 anhängigen
Prozeß. Erst vier Jahre vorher hatten Kaiser und Reich den allgemeinen
^d ewigen Landfrieden verkündigt. Nun sollte das Kaiserliche Kammer¬
gericht dem Fehdewesen ein Ende machen. An die Stelle der eigenen Faust,
^t welcher sich jeder, der dazu die Gewalt zu haben glaubte, Recht nahm,
sollte die Macht und das Ansehn eines höchsten Deutschen Gerichtshofes
treten. Denn werden die vom Gesetz angedrohten hohen Strafen nicht rasch
^ud ohne Ansehen der Person vollstreckt, so bleiben sie ein todter Buchstabe.
Wir werden sehen, wie wenig das Reichskammergericht seinem hohen
Beruf entsprochen hat, wie wohl begründet noch Jahrhunderte nach dessen
Errichtung das noch bis heute gebräuchliche Sprüchwort war: Traue dem
Landfrieden nicht.
Dies hatte aber sehr verschiedene Ursachen. Daran war in erster Linie
Schuld: die mangelhafte Organisation des Neichskammergerichts. Dessen
26 Beisitzer wurden nämlich von den Reichsständen gewählt, welche auch die
Ausgaben zu bestreiten hatten. Wie bei allen Reichsgeschästen, so kamen
"und bei den Wahlen der Beisitzer des Neichskammergerichts die Reichsstände
schwer zu einem bindenden Beschluß. So blieben oft Stellen lange Zeit
unbesetzt. Noch lässiger waren aber die Stände bei Zahlung der zur Er¬
haltung des Reichskammergerichts nöthigen Beiträge. So berichteten z. B.
am 18. Dezember 1713 die Visttatoren des Reichskammergerichts, daß die Noth
unter den Angehörigen des Reichskammergerichts, insonderheit der Kanzlei¬
verwandten, so groß geworden sei, daß sich die Visttatoren auf vielfältig be¬
wegte Vorstellung der letzteren gemüßigt gesehen hätten, um deren gänzliches
Verderben zu verhüten, den nothdürftigen einen vierteljährlichen Sold aus
den dem Reichskammergericht anvertrauten und gerichtlich niedergelegten
Geldern(!) vorschießen zu lassen. Auch zeigen sie an, daß das Gerichtsgebäude
im höchsten Grade baufällig, und außer dem untersten Stock von Holz und
Lehm errichtet sei. Sichere Gewölbe zur Unterbringung der Akten fehlten
gänzlich. Der jetzige Aufbewahrungsort sei so mangelhaft, daß viele Akten
bereits vermodert aufgefunden seien. Es ist deshalb erklärlich, daß der von
den Ständen gefaßte Beschluß: Die Zahl der Beisitzer des Reichskammer¬
gerichts auf SO zu erhöhen, niemals ausgeführt wurde, obgleich man sich
allseitig überzeugt hatte, daß die vorhandene geringere Zahl nicht im Stande
war, die von Jahr zu Jahr zunehmenden Reste auszuarbeiten.
Ein weiterer Grund der Unwirksamkeit des Reichskammergerichts lag in
dem schwerfälligen Prozeßverfahren.
Während bis dahin der Streit auf Grund mündlicher und öffentlicher
Verhandlung entschieden wurde, setzte man sich beim Reichskammergericht über
dieses alte Herkommen hinweg. Von Anfang an war das Verfahren ein
heimliches und schriftliches. Man behielt nur den Schein eines mündlichen
Verfahrens bei. Es fanden wohl Audienzen statt. Bei ihnen saß der
Kammerrichter, so hieß der Präsident des Neichskammergerichts, als Vertreter
des Kaisers, der bis dahin selbst zu Gericht gesessen hatte, zwar unter eine«
Thronhimmel. Außerdem war aber nur noch ein Beisitzer zugegen, welcher
auch genügte, weil diese mündlichen Vorträge sich nur auf unwichtige,
zur Prozeßleitung dienende Handlungen erstreckte. Alle diejenigen Behaupt¬
ungen und Ausführungen, welche den zu entscheidenden Streit selbst betrafen,
wurden schriftlich übergeben, ohne haß der Inhalt mündlich wiederholt wurde.
Die Entscheidung erfolgte später in den besonderen Senaten.
Um nun den im Senate sitzenden Richtern von dem Inhalt der gewechselten
Schriften Kenntniß zu geben, schlug man zuerst den möglichst schwerfälligen
Weg ein. Man las sämmtliche Schriftstücke Wort für Wort vor. Dies
Verfahren erwies sich aber so zeitraubend und ermüdend, daß man später
einen Referenten ernannte. Dieser hatte aber nicht die Aufgabe, dem Senate
den Inhalt der Akten mündlich, oder auf Grund einer vorher angefertigten
Relation vorzutragen, sondern er mußte diese Relation in Gegenwart des
Senats einem Schreiber dictiren. Dieses Dictiren nahm natürlich soviel Zeit
in Anspruch, daß in irgend erheblichen Sachen mehrere Sitzungen zum Dictiren
nöthig waren. Oft vergingen Jahre, ehe der Referent mit dem Dictiren
fertig war. Denn erst kam es zum Vorlesen der ganzen Relation, So
konnte Häberlin in seinem Handbuche des Deutschen Staatsrechts am
Ende des vorigen Jahrhunderts sagen: „Es ist ein eben solches Glück,
K>cum man ein Urtheil beim Reichskammergericht in einer nicht ganz
vorzüglich privilegirten Sache erhält, als wenn man eine Terre im Lotto
gewinnt."
Natürlich nahmen die Parteien nun zu allen möglichen Hülfsmitteln
ihre Zuflucht, um einen beim Reichskammergericht anhängig gemachten Pro¬
zeß in Gang zu bringen und zu Ende zu führen. Sie wendeten sich an
mächtige Herren, auch angesehene Frauen, damit diese die Beschleunigung
beim Kammerrichter, den Präsidenten der Senate oder den Beisitzern be¬
fürworteten.
Schon als sich das Reichskammergericht noch in Speier befand, hatte
dieses Solicitiren überHand genommen. Nachdem aber die Franzosen Speier
verwüstet hatten, und deshalb das Reichskammergericht auf das rechte Rhein¬
ufer nach Wetzlar verlegt war, wurde das Solicitiren zu einer Nothwendig¬
keit. Zu diesem Zwecke reisten die Parteien entweder selbst nach Wetzlar, oder
wan sendete besondere, möglichst angesehene Leute als Solicitatoren dahin.
Dazu ließ sich z. B. auch Pütter, der angesehenste Staatsrechtslehrer seiner
Zeit, gebrauchen. Doch erschienen, wie Häberlin sagt, Solicitatoren auch zu
dem Zwecke, um die Streitsachen zu verzögern oder ganz ins Stocken und in
Vergessenheit zu bringen. Und das war weniger schwer zu erreichen. Hatte
aber endlich das Reichskammergertcht eine Entscheidung getroffen, so war
diese noch keineswegs endgültig. Dagegen war noch das Rechtsmittel
der Restitution und die Klage wegen unheilbarer Nichtigkeit zulässig. Das
allerschlimmste Rechtsmittel war aber dann noch die Revision. Ueber die
Revision erkannte nämlich diejenige Kommission, welche abgeordnet wurde,
um eine Visitation des Reichskammergerichts vorzunehmen. Solche Visitationen
erfolgten in den Jahren 1556 bis 1588 alljährlich. Dann hörten sie aber
ganz auf. Später wurden wieder außerordentliche Visitationen angeordnet,
sie fanden aber selten statt. Nun hemmte aber früher die Revision auch die
Vollstreckung des vom Reichskammergericht gesprochenen Urtheils. Erst im
Jahr 1665 wurde die Revision auf Prozesse zum Werthe von 2000 Thaler
beschränkt, und der Revision die Kraft benommen, die Vollstreckung der Er¬
kenntnisse zu hindern.
Als letztes Verzögerungsmittel diente endlich aber auch noch der Recurs
an den Reichstag.
Es gehörte mithin ein sehr langes Leben, eine unermüdliche Geduld und
eine unausgesetzte aufmerksame Thätigkeit dazu, um vom Reichskammergericht
eine endgültige Entscheidung zu erreichen, wenn der Gegner die ihm so reich¬
lich zu Gebote stehenden Mittel benutzte, um die endgültige Entscheidung
hinauszuschieben.
So erklärt es sich, daß die meisten der Schleswig-Holsteinischen Sachen
des Reichskammergerichtes endigen, ohne daß dasselbe irgend eine endgültige
Entscheidung getroffen hat.
Die folgenden Streitsachen schildern aber nicht blos den damaligen
Zustand der Rechtspflege, sondern sie geben zugleich das anschaulichste Bild
der damaligen sittlichen Zustände. Wir finden die schamloseste Rohheit, die
offenbarste Mißachtung der öffentlichen Gewalt an der Tagesordnung,
Solche Zustände äußern auch ihren Einfluß auf die Richter. Die Rich¬
ter sind auch Kinder ihrer Zeit. Wir dürfen es daher nicht so scharf tadeln,
wenn sie die Gewaltthätigkeiten und Widersetzlichkeiten nicht so hart oder
auch wohl gar nicht rügten.
1) Der älteste Rechtsfall vom Jahre 1499 betraf die Appellation gegen
ein Erkenntniß, welches gleich im ersten Audienztermin durch die Herren
Johann König von Dänemark und Friedrich Herzog zu Holstein gesprochen
und von Herrn Nikolaus Krummendiek sogleich mündlich verkündet ist.
Dabei waren die Herren in Rüstung, auch gestiefelt und gespornt, um hin-
wegzuziehn.
Die Appellation stützte sich hauptsächlich darauf: 1. Das Urtheil sei
ohne Vorberathung und eilfertig gesprochen, denn König und Herzog hätten
desselben Tages, als sie gerüstet und reisefertig gewesen, das Urtheil ohne
Weiteres verkünden lassen, — 2. der größere Theil der Mannen sei dabei
nicht gegenwärtig gewesen, — 3. Ihre fürstliche Gnaden sowohl als derjenige,
welcher das Urtheil eröffnet, hätten gestanden, seien auch gerüstet und ange¬
legt gewesen, als das Urtheil eröffnet worden, da doch ein Richter, wenn er
ein Urtheil giebt, sitzen und nicht stehen soll. — 4. Das Urtheil sei nicht,
wie es sich gehöre in Schriften gefaßt, auch nicht von einem Notarius
eröffnet.
Dies Erkenntniß war also nach altem deutschen Brauche von den Fürsten
selbst unter Zuziehung ihrer Mannen gesprochen. Auch vor Errichtung des Reichs¬
kammergerichts hatte der Kaiser an seinem jedesmaligen Hoflager unter Zuziehung
Reichsunmittelbarer die an ihn gediehenen Streitigkeiten mündlich entschieden.
Als jedoch das Reichskammergericht, an seine Stelle tretend, ein schriftliches Ver¬
fahren einführte, untergrub es das mündliche Verfahren der anderen deutschen Ge¬
richte, wie gerade dieser Prozeß beweist. Denn vor allen Dingen verlangte das
Reichskammergericht Beibringung der Akten der vorigen Instanz. Hierüber wurde
acht Jahre lang verhandelt. In der That gab es gar keine Schriften erster In¬
stanz, denn es hatte vor den Fürsten eben nur eine mündliche Verhandlung
stattgefunden. Die Appellanten konnten deshalb nur einen von den beiden
Landesherrn ausgefertigten Brief beibringen, in welchem bezeugt wurde, wie geklagt
und was erkannt worden. Bereits damals herrschte aber beim Reichskammergericht
die Ansicht, daß ohne ordentliche schriftliche Vorakten eine Entscheidung des
Reichskammergerichtes ein Ding der Unmöglichkeit sei. Die Appellanten baten
zwar, eine Kommission zu ernennen, damit vor derselben durch Zeugen und Eid das
in erster Instanz Verhandelte festgestellt würde. Darauf hat das Reichskammer¬
gericht aber keine Entscheidung getroffen. So blieb der Streit über die Beibrin¬
gung der Vorakten sowohl als in der Hauptsache unentschieden.
Dieser Fall beweist aber auch, daß zuerst das Reichskammerzericht einen Theil
des Kaiserlichen Hoflagers bildete, und mit dem Kaiser umherzog, denn die
Ladung erfolgte erst aus Augsburg, dann aus Nürnberg und zuletzt aus
Regensburg. In der nächsten Sache erging die Ladung erst aus Speier,
dann aus Worms.
Die obige Rüge, daß die richtenden Fürsten nicht, wie es sich gebührt,
gesessen haben, erinnert an die Vorschrift des Soester Stadtrechts: „Es soll
der Richter auf seinem Stuhl sitzen als ein griesgrimmender Löwe, den
rechten Fuß über den linken geschlagen, und wenn er aus der Sache nicht
könne herausfinden, so soll er dieselbe 123 mal überlegen." Die richtige Lese¬
art der Zahl ist natürlich 1, 2 und 3 mal. 123 mal wäre doch etwas
zu viel.
2) Herzog Heinrich der Jüngere von Lüneburg hatte den Kaufleuten der
Stadt Lübeck sicheres Geleit für Leib, Habe und Güter versprochen. Als
aber im Jahre 1513 einige Lübecker Kaufleute auf mehreren Wagen Güter
durch sein Land führten, hatte er diese Güter angehalten und auf sein Schloß
Celle bringen lassen. Es geschah dies auf Ansuchen des Kurfürsten
Joachim von Brandenburg, bei welchem Paul Blankenfeld, ein Berliner,
dies beantragt hatte, indem er behauptete es ständen ihm Forderungen an
die Lübecker Kaufleute zu.
Nun erhoben nicht die Eigenthümer der Waaren, sondern die Stadt
Lübeck selbst wegen Verletzung des gemeinen Landfriedens Klage beim Reichs¬
kammergericht, welches denn auch an Blankenfeld ein Mandat erließ: daß er
sich an der von den Lübeckern erbotenen Bürgschaft und an dem Wege
Rechtens solle begnügen und deren Habe und Güter ohne Entgeldniß und
Verhinderung solle folgen lassen, und solches zu thun einwilligen und darin
uicht widerspenstig oder säumig sein. Dies Mandat erging bei Androhung
der Ungnade, Strafe und Buße, namentlich der Pön des gemeinen Land¬
friedens d. h. bei Strafe der Acht.
Paul Blankenfeld aber, weit davon entfernt dem Mandate zu gehorchen,
sendete der Stadt Lübeck einen offenen Fehdebrief, in welchem er den Lübeckern
erklärt: er wolle ihnen mit allen seinen Helfershelfern, und mit derselben Helfern
und Helfershelfern ein öffentlich abgesagter Feind sein, und ob er ihnen
Schaden zufügen würde mit Mord, Nahme, Raub und Brand oder in irgend
einer anderen Weise, so wolle er seine und seiner Helfershelfer Ehre durch
diesen Fehdebrief bewahren.
Dieser Fehdebrief veranlaßte die Stadt Lübeck zu einer neuen Klage.
Es erging auch eine neue Forderung an Blanckenburg. Der Kammerbote
fand aber den Verklagten nicht anwesend. Er verkündigte deshalb der Haus¬
frau desselben -die Ladung.
Blankenfeld hat sich aber niemals vor dem Reichskammergericht vernehmen
lassen. Nur seine Ehefrau bat, den Rechtsweg so lange einzustellen, bis die
Ladung ihrem Ehemanne verkündigt sei. Wieder ist auf beide Klagen gar
keine Entscheidung des Reichskammergerichtes ergangen. Zwar klagte der An¬
walt der Stadt Lübeck den Verklagten des Ungehorsams an. Er wurde auch
für ungehorsam erklärt, aber eine Folge des Ungehorsams ist niemals aus¬
gesprochen. So blieb die Sache liegen!
3) Im Jahre 1533 hatte das Reichskammergericht einen Executorialbrief
auf Zahlung von 30 si. gegen Dietrich Blome erlassen. Der Kammerge¬
richtsbote war mit dem Zahlungsbefehle von Hamburg zu Pferde bis zum
Rittersitze des Blome gekommen, und ließ sich bei ihm anmelden. Darauf
kam ein Diener heraus und fragte: Was bringst Du für gute Zeitung? Als
aber der Bote sein Vorhaben kurz erklärt, rief der Diener: Das muß Dich
Mutter Gottes schänden, Du Bösewicht, Du mußt sterben. Zugleich brachen
vier Diener mit Spießen schreiend hervor, und schlugen den Boten mit den
Spießen so auf den Kopf, daß er nur noch im Sattel hing. Sie liefen
ihm nach, als er floh, und jagten ihm nach seinem Berichte einen solchen
Schreck ein, daß er „vor großer Dummelheit den Brief dort nicht von sich
werfen konnte".
Das Reichskammergericht that jedoch nichts, um diese Mißhandlung seines
Boten zu rügen. Es verfügte nur: Weil kein freier Zugang zu dem Junker
Blome sei, möge der Exekutorialbrief in Lübeck, Adelslohe und Itzehoe öffent¬
lich angeschlagen werden.
4) Ein besonders schauerliches Bild von den Sitten und der Rechts¬
pflege jener Zeit giebt der im Jahr 1844 angestellte Proceß der 48 Regen¬
ten des Landes Dithmarschen wider Wiebe Peters.
Wiebe Peters, in Dithmarschen wohnhaft, wurde daselbst zur Zahlung
von 40 si. in allen 3 Instanzen verurtheilt. Unvermögend die Zahlung zu
leisten, verließ er Weib und Kind, und begab sich in das Stift Bremen.
Er erblickte in seiner Verurtheilung ein ihm widerfahrenes Unrecht, das er an
allen Insassen des Landes Dithmarschen zu rächen suchte. Er ließ ihnen trotz
des wiederholt unter Androhung der Reichsacht verkündeten Landfriedens
verkünden: er werde sie an Leib und Gut, Haus und Hof verderben und
verbrennen. Er kam nun nächtlicher Weise ins Land, und raubte viele
Pferde, Vieh und alles was er bekommen konnte. Er drang in die Schiffe
der Dithmarscher, verwundete die Menschen, raubte und plünderte was aus
den Schiffen zu nehmen möglich war. Er hieb die Bierfässer auf, und ließ
das Bier in die Elbe laufen. Zuletzt fiel er mit zwölf Mordbrennern in
Dithmarschen ein, und sendete zwei Gesellen zu einem armen Insassen, welche
diesen um Gottes Willen um Herberge baten. Sie erhielten dieselbe, sowie aus
Mitleiden auch Speise und Trank. Nachdem aber der Hauswirth sich mit
Weib und Kind schlafen gelegt, öffneten die beiden Gesellen das Haus, und
ließen Wiebe Peters mit den anderen Gesellen ein. Nackt und bloß wurde
nun der Hauswirth an Händen und Füßen gebunden, dessen Weib und
Kind aber in einen Backofen gestoßen, und dieser fest zugemacht. Darauf
raubten sie, was sie fanden, zündeten das Haus und noch andere Häuser an,
so daß viel Pferde, das Vieh und alle fahrende Habe verbrannte. Von den
Männern, Weibern und Kindern blieben viele, welche aus den brennenden
Häusern gelaufen waren, todt auf dem Felde liegen. Wiebe Peters kehrte
aber mit seinen Gesellen wieder in das Stift Bremen zurück.
' Endlich gelang es den Dithmarschen den Friedensbrecher im Holsteini¬
schen zur Haft zu bringen.
Von einer Auslieferung an das Gericht zu Dithmarschen, wo die Ver¬
brechen begangen waren, scheint keine Rede gewesen zu sein, denn König
Christian III. zu Dänemark überwies die Entscheidung an das Blutgericht
zu Rendsburg. Die Dithmarschen wollten dies Gericht, worin die im Amte
Rendsburg angesessenen Bauern unter Vorsitz des königlichen Amtmanns das
Urtheil fanden, nicht annehmen, weil sie von den ihnen feindlich gesinnten
Bauern keinen gerechten Ausspruch erwarteten. Als dennoch das Bauernge¬
richt das Verfahren fortsetzen wollte, verwahrten sich dagegen die Dithmarscher
Verordneten und zogen von dannen.
Wie gerechtfertigt diese Befürchtung war. das bewies das demnächst vom
Blutgericht gefällte Urtheil, denn es sprach den Wiebe Peters nicht nur von
der angestellten peinlichen Klage frei, sondern es verurtheilte zugleich die
Landschaft Dithmarschen, ihm alle durch das Gefängniß verursachte Schäden
abzutragen.
Nachdem Wiebe Peters, der landkundige Friedensbrecher, auf diese
Weise nicht nur freigesprochen, sondern ihm auch noch die Forderung von
Schadenersatz zugesprochen war, begann er wieder die Dithmarschen arm-
greifen, .wo er sie in der Fremde traf. In das Land wagte er sich doch
nicht mehr hinein. So überfiel er im Stifte Bremen zwei Dithmarscher, schlug
sie und führte sie gefangen fort. Mitten in Holstein überfiel er drei andere
Dithmarscher und nahm ihnen über 500 M. ab.
Mit diesem Gelde machte er sich nach Speier, um beim Reichskammer¬
gericht seinen Schädenanspruch zu verfolgen. In der That erließ dasselbe auf
Grund des Rendsburger Urtheils an die 48 Hauptleute und Regenten des
Landes Dithmarschen ein Mandat: daß sie bei 50 M. Goldes den Wiebe
Peters zufrieden stellen und unklaglos halten, auch gegen ihn und dessen
Habe keine Gewaltthaten vornehmen sollten, — daß sie aber, falls sie deshalb
beschwert zu sein rechtmäßige Ursache zu haben vermeinten, selbige vor dem
Erzbischof zu Bremen als kaiserlichem Kommissar auszuführen hätten.
Das Verfahren vor dem Kommissar hatte aber keinen Erfolg, denn der
Erzbischof von Bremen hatte, weil er vorgab, mit anderen wichtigen Ge¬
schäften beladen zu sein, zur Verhandlung und Entscheidung dieser Sache
zwei seiner Räthe bestellt. Das wollten sich aber wieder die Dithmarscher
nicht gefallen lassen.
Die 48 Regenten von Dithmarschen appellirten aber nicht blos gegen
das an sie erlassene Mandat, sondern sie brachten auch eine neue Klage
wegen Bruchs des Landfriedens gegen Wiebe Peters beim Reichskammergericht
an. Das Reichskammergericht erließ auch die erbetene Ladung.
Des ungeachtet fuhr Wiebe Peters in seinen Feindseligkeiten fort. Er
rüstete mit seinem Bruder zwei Schiffe mit Büchsen und Munition aus und
plünderte das Dorf Groden, führte auch Einen aus dem Dorfe gefäng-
lich fort.
Nun erst beschlossen die Dithmarscher Gewalt mit Gewalt zu vertreiben.
Sie bemannten etliche Schiffe mit Kriegsvolk, ließen sie auf Wiebe Peters
und seine Helfershelfer streifen, und gaben den Befehl, die Missethäter zu
fangen und umzubringen. Diese Schiffe trafen denn auch den Wiebe Peters
mit seinen Helfern aus der See. Sie jagten ihnen nach, bis die Missethäter
auf Helgoland in eine alte baufällige Kirche getrieben wurden. Wiebe Peters
wehrte sich mit den Seinigen, aber sie unterlagen. Wiebe Peters nebst seinem
Bruder und mehrere Andere wurden im Gefecht getödtet. Die Uebrigen
wurden mit Wiebes Leichnam nach Dithmarschen gebracht und zur wohlver¬
dienten Strafe gezogen. Des Wiebe Peters Haupt wurde - aber noch auf
ein Rad gesetzt, wie es bei schweren Verbrechern in Dithmarschen gebräuch¬
lich war.
Damit waren jedoch die beim Reichskammergericht schwebenden beiden
Klagen nicht erledigt. Auch Wiebes Erben verfolgten dessen Anspruch aus
Schadensersatz und verlangten z. B. für die Schmach und Schande, welche dem
Wtebe Peters durch die Anklage in Rendsburg zugefügt worden, 80,000 si.
Mit langen Unterbrechungen wurde der Rechtsstreit bis zum Jahre 1869
fortgesetzt, bis der Anwalt der Dithmarscher, um ein Fristgesuch zu begründen,
anzeigte, er habe seit einem Jahre keine Nachricht von seinen Machtgebern
erhalten. Damit schließen die Akten. Eine endgültige Entscheidung des
Streites ist gar nicht erfolgt.
5) In der Charwoche des Jahres 1567 überfiel Benedikt von Alefeld
mit fünf Dienern den Hof Wirsing, welcher seinem Bruder Wulf gehörte. Weil
er diesen nicht traf, mißhandelte er dessen Vogt nebst Frau, so daß ste ent¬
flohen, nachdem sie hatten schwören müssen: sie wollten sich niemals auf
dem Hofe betreten lassen. Bald folgte ein gleicher Ueberfall mit achtzehn
Dienern. Doch wieder war der Bruder abwesend, und es wurde Alles nach
Möglichkeit zerstört.
Nun erhob Wulf von Alefeld Klage beim Retchskammergericht und be¬
antragte die Verurtheilung seines Bruders wegen Landfriedensbruchs. Der
Prozeß nahm seinen Lauf, aber auch Benedikt setzte seine Angriffe fort.
Wulf erhob deshalb eine zweite Anklage beim Reichskammergericht, und
Benedikt erhielt eine neue Ladung nebst Strafbefehl gegen fernere
Störungen.
Dies hatte nur die Folge, daß nun Wulfs Ehefrau gegen Benedikt
rüstete. Sie warb Leute zu Roß, Schützen und Landsknechte. Damit ver¬
einigte sie ihre eignen Vögte, Diener, Bauern und Leute in großer Menge,
alle gewaffnet. Sie hatte auch einiges Geschütz, das auf Wagen geführt
wurde. Mit solcher Macht fiel sie im Juni 1S70 in den Butendik ein. wo
Wulf Pferde, Kühe und Ochsen, auch etliches Vieh seiner Leute weiden ließ.
All dieses Vieh nahm ste fort.
Am 22. Juli 1570 um Mitternacht überfiel aber auch Benedikt selbst
wie vierzehn Mann seinen Bruder auf dessen Gute Haselbau. Wulf wehrte sich
indessen so tüchtig, daß das Unternehmen mißlang.
Aehnliches wiederholte sich in den folgenden Jahren.
Die Prozesse beim Reichskammergericht behielten dabei ihren ruhigen
Fortgang, hatten aber freilich nicht den mindesten Erfolg. Auch nach Wulfs
Ableben wurden sie, obgleich lange unterbrochen, bis zum Jahre 1579 fort¬
gesetzt. Dann blieben sie liegen.
6) Friedrich von Brockdorf. Herzoglich Holsteinischer Amtmann zu Stein-
Horst hatte einen angesehenen Hamburger Bürger. Hans Hartmann, mit
Geldgeschäften in den Niederlanden betraut, und glaubte von ihm dabei um
1V00 si. verkürzt zu sein.
Anstatt aber in Hamburg vor Gericht seinen Anspruch geltend zu
machen, ersah er die Gelegenheit, seinen Schuldner im Lande Holstein zu
fassen. Nachdem er erfahren, daß Hartmann mit seinen Verwandten am 3.
Juli 1564 nach Neumünster in Holstein eine Lustfahrt machen wolle, begab
sich auch der Amtmann von Brockvorf mit seinem Amtschretber, seinem Jungen
und drei^Knechten, alle gerüstet und zu Pferde, auf den Weg dorthin. Er über¬
fiel die Gesellschaft nicht lange, nachdem sie Neumünster verlassen hatte, setzte dem
Hartmann die Feuerbüchse auf die Brust, und verlangte von ihm das Handgelöb-
niß, daß er sich auf Erfordern vor dem Herzog Adolf zu Holstein zu Recht
stellen wolle. Dies verweigerte Hartmann aller Drohungen ungeachtet.
Hartmanns Schwäger erboten sich vergebens, für die Zahlung zu haften,
wenn Brockdors, wie Hartmann begehrte, sein Recht vor Gericht in Hamburg
suchen wolle.
Hartmann wurde zur Rückkehr nach Neumünster gezwungen, die Seinigen
begleiteten ihn. Er verblieb aber bei seiner Weigerung, weil er sich vor dem
Holsteinischen Bauerngericht fürchtete. Wohl nicht mit Unrecht, wie wir in
dem oben erwähnten Fall bei Wiebe Peters gesehn haben.
Daß auch im vorliegenden Falle es dem Hans Hartmann nicht viel
besser gegangen wäre, als dort den 48 Regenten, das ergiebt die eidliche
Aussage einer Zeugin, welche mit zwei der Bauern gesprochen hatte, welche
zum Gericht über Hartmann berufen gewesen waren. Auf die Frage der
Zeugin: aus was für einer Ursache sie zu Gericht gefordert wären? gaben
die Bauern zur Antwort: daß sie den Hamburger Kerl vorfinden sollten.
Befragt: Was sie da finden sollten? antwortete der eine Bauer: dieweil
Hartmann seinem Herrn von Brockdorf nicht treu gewesen: so sollten sie ihn
vorfinden an dem lichten Galgen. Der andere sagte: So der Hamburger Kerl
seinem Herrn 1000 si. gebe, so soll er des Rechtens los sein. Da sie solch
Recht nicht finden würden, wie ihre Vorfahren vor 100 Jahren gefunden
hätten, so müßten sie ihrem Herrn 100 Mark geben.
Als nun aber auch in Neumünster Hartmann sich durch alle Drohungen
nicht zu dem verlangten Handgelöbniß herbeiließ, ließ ihn Brockdorf durch
seine Gewaffneten festhalten und erwirkte vom Amtmann zu Kiel den Befehl
an den Vogt in Neumünster: dieser solle den Hartmann gefänglich einziehen-
Dies geschah, und Hartmann wurde sogar in Eisen geschlagen. Einige Zeit
nachher wurde derselbe in Ketten nach Kiel gebracht, und mit Ketten an den
Block geschlossen. Als ihn dort seine Ehefrau besuchte, lag er am Block ge-
schlossen mit dem Haupte auf der Erde und die Füße in die Höhe. Die
Frau bat vergeblich um eine gelindere Behandlung.
Man erwäge: Ein Justiz- und Verwaltungsbeamter überfällt mit ge-
waffneter Hand einen Hamburger Bürger auf offener Landstraße. Ohne
seinen angeblichen Anspruch auch nur bescheinigt zu haben, erreicht er bei
dem herzoglichen Amtmann die Einkerkerung, und dort behandelt man den
Gefangenen wie einen gefährlichen Verbrecher; und doch war Hartmann ganz
'n seinem Recht, wenn er sich weigerte, vor einem unzuständiger Gerichte sich
auf einen Prozeß einzulassen.
Auf Brockdorfs Ansuchen berief der Herzog demnächst die Dingbauern
zum Gerichte nach Neumünster. Schon war Hartmann dahin aus seinem
Gefängnisse geführt, als es seinen Verwandten gelang, beim Herzog zu er¬
reichen, daß das Bauerngericht noch ausgesetzt wurde. Aber die Beschickungen
des Raths zu Hamburg um dem gefangenen Hamburger die Freiheit zu ver¬
schaffen, waren ohne Erfolg. So saß Hartmann drei Monate lang in Fesseln,
bis es ihm gelang aus dem Kerker zu entfliehen.
Freilich hatte seine Ehefrau schon vor diesem Entfliehn eine Klage wegen
Landfriedenbruchs beim Reichskammergericht angebracht. Hartmann selbst
setzte auch den Prozeß nach seiner Befreiung fort; der Rechtsgang hatte dann
auch seinen Fortgang bis zum Zeugenverhör. Nachher ist aber der Prozeß ins
Stocken gerathen, und so liegen geblieben.
Einen ganz eigenthümlichen Gang nahm auch der folgende Injurien-
Prozeß.
7) Adrian Cornelius, der Sohn eines angesehenen Kaufmanns und Schöffen
W Leyden, war bis zum Jahre 1604 als Kaufgeselle im Geschäft bei Simon
Azuardo, auch Hasenwart genannt, in Hamburg thätig gewesen. Cornelius
veruneinigte sich aber mit Azuardo, verließ dessen Dienst, und nun kam dem
letzteren das Gerücht zu Ohren: Cornelius habe sich berühmt, daß er mit
der Schwester Azuardo's, Susanna, vertraulichen Umgang gepflogen und
bei ihr geschlafen habe.
Anstatt nun deshalb in Hamburg Klage zu erheben, erwirkte Azuardo
einen Befehl des Grafen Ernst zu Holstein-Schaumburg an dessen Amtmann
^ Pinneberg: er solle den Cornelius verhaften und gegen selbigen verfahren,
im Falle derselbe sich in der gräflichen Gerichtsbarkeit betreten ließe.
Es gelang auch wirklich den gräflichen Dienern, den Cornelius in
Altona zu fangen, als er sich dorthin ganz arglos zum Gottesdienste be¬
geben hatte, und aus der Kirche heraustrat. Man band ihn so hart, daß das
Blut aus den Nägeln hervortrat, führte ihn in die Beste nach Pinneberg und
legte ihn dort in Ketten.
Nun erst klagte Azuardo als kriegerischer Vormund seiner Schwester
Susanne in Pinneberg, weil Cornelius aus vorgesetztem Muthwillen aufge¬
schrien und sich berühmt habe, daß er bei Susanna Hasenwart geschlafen
habe. Dies sei aber ein ganz verwegenes leichtfertiges Stück, da er Azuardos
Diener gewesen, und dieser ihm alles Gute gethan habe.
Vergebens wendete sich Cornelius an den Rath zu Hamburg, um zu
bewirken, daß er der Haft entlassen, und vor seinem zuständigen Gericht in
Hamburg belangt werde. Gleichfalls ohne Erfolg bestritt er die Zuständigkeit
des Gerichts, und wie es jedenfalls unerhört sei, daß man ihn gefangen setze,
ehe er verurtheilt sei. Aber aus Leyden kam ihm ein Schwager zu Hülfe.
Er überbrachte dem Grafen ein Schreiben der Staaten der Vereinigten Nieder¬
lande. Dies führte dahin, daß Cornelius, nachdem er zwei Bürgen bestellt,
welche in des Grafen Lande angesessen waren, der Haft entlasten wurde.
Nach einiger Zeit stellte aber Azuardo dem Grafen wieder vor: Cornelius
habe sich gegen ihn in Hamburg und an öffentlicher Börse ganz freventlich,
frech und muthwillig mit Hohnsprechen, Anlaufen, Ausspotten und anderen
leichtfertigen Ueppigkeiten vergriffen. Auf dieses einseitige Vordringen ver¬
fügte der Graf die Verstrickung der Bürgen.
Demzufolge wurden die zwei Bürgen in ein Wirthshaus gebracht, wo sie
bleiben und die Zeche bezahlen mußten. Diese belief sich aber immer sehr
hoch, weil es Sitte war, sich den Besuch von Freunden und Verwandten ge¬
fallen zu lassen, und dieselben freizuhalten.
So sah sich Cornelius genöthigt, in das Gefängniß zurückzukehren, indeß
wurde er nicht wieder in Fesseln gelegt.
Der Prozeß in Pinneberg erhielt aber eine günstigere Wendung für
Cornelius, welcher überdies stets den Inhalt der Klage bestrttten hatte, nach¬
dem Cornelius in Erfahrung gebracht und der Kläger hatte zugestehen müssen,
daß seine Schwester Susanne bereits vor etzltchen Jahren von einem Anderen
ein Kind gehabt habe.
Die Juristenfakultät zu Marburg sprach sich nun am 20. Januar 1605
dahin aus, daß der Verklagte der gefänglichen Haft zu entlassen sei. Nach
Vernehmung der vielen vom Kläger vorgeschlagenen Zeugen erkannte man
am 2. Mai 1606 in Heidelberg dahin: Daß der Angeklagte von der Anklage
zu entbinden, Ankläger auch schuldig sei, demselben wegen gefänglicher Ein¬
ziehung und zugefügter Schmach und Schaden Abtrag zu thun.
Wider dieses Urtheil wandte Hasenwart die Appellation beim Reichs¬
kammergericht ein. Zu dem Zwecke mußte eine vollständige Abschrift der
Akten erster Instanz eingereicht werden. Diese bestand aber aus 726 Blättern!
Die Beweisantretungsschrift allein hatte 145 Blätter. So schreibselig waren
damals die Rechtsverständiger!
Das Reichskammergericht entschied aber am 16. November 1608: Daß
diese Sache durch die vorgenommene Apellation nicht an das Reichskammer¬
gericht erwachsen sei. Auch der Graf hatte nämlich bei Einsendung der
Akten mit Recht die Zuständigkeit des Reichskammergerichts bestritten, weil
in der als peinlich behandelten Sache eine Appellation an das Reichs-
kammergericht nicht zulässig war.
Azuardo hat gegen dies Erkenntniß zwar auch noch die Revision ein¬
gelegt. Es ist über dieselbe auch verfahren, eine Entscheidung auf dieselbe
aber nicht gegeben worden.
Diese Beispiele werden genügen, um uns ein recht anmuthiges Bild der
guten alten Rechtspflege zu verschaffen.
An einem Sommerabend voll campanischer Wärme, Farbengluth und
Duftschwere kehrte ich aus den Weingeländen, die den Fuß des Vesuv um¬
säumen, nach einer ermüdenden Wanderung über seine Lavafelder zurück.
Zwischen den schwarzgrauen, aus Lava und vulkanischen Schlacken errichteten
Mauern, welche die Gärten einschließen, lenkte ich meinen Schritt nach den
Ruinen von Pompeji, die ich ruhig und ausgestorben vor mir liegen sah.
Es herrschte die tiefste Stille in der Landschaft. Kein Ton eines Vogels,
nicht das Zirpen einer Cicade, selbst nicht der langgezogene Gesang, den man
sonst von nah oder fern herübertönen hört, war zu vernehmen. Die Ei¬
dechsen, die im heißen Sonnenstrahl auf Mauern und Wegen hin und her
huschend Alles zu beleben pflegen, waren im Abendschatten verschwunden;
kein Luftzug berührte das dichte Laub der Simonen - und Lorbeerbäume und
der Weinreben, die schwerbeladen von Aesten und Mauern herniederhtngen,
ganz in den Schatten eingehüllt, den sie Mittags so lockend darbieten, und
nur die Berge ringsum und die ernsten hohen Wipfel der Pinien strahlten
Noch die Sonnengluth zurück.
Zuweilen schaute ich mich um, den Vesuv zu betrachten, der in bläuliche,
violette und rothe Farben getaucht war, die zwischen und über dem dunkeln
Grün aufleuchteten. Dann sah ich, daß die Rauchwolke, die während des
Tages leicht und weiß aufgewirbelt war, gleich einer Pinie den majestätischen
Gipfel krönend, jetzt sich gesenkt hatte, wie eine riesige feurige Schlange zur
Seite des Berges hinabwallte und mir den Anblick des Meeres und der
Inseln verbarg.
Ich erreichte den aus der ausgegrabenen Asche aufgehäuften Hügel, der
die alte Römerstadt überragt und setzte mich auf einem Steine nieder, die
seltsame Trümmerstätte und ihre entzückende Umgebung von dem erhöhten
Platze überschauend. Mir gegenüber lagen die malerischen Berge der Hir-
piner, an ihrem Fuße weißglänzende Ortschaften von dunkelm Grün umgeben,
und die schimmernde Bucht von Staviae. Sie hatten, wie die fernen Häupter
und Felswände der Apenninen, die gewohnten tiefen Farben der abendlichen
Beleuchtung. Nicht so die Stadt Pompeji selbst. Die dichte Rauchwolke des
Vesuvs hatte sich zwischen sie und die Sonne gewälzt, die nicht mehr hoch
über dem Meereshorizonte stand und warf eine Art von lichtem Schatten
oder von gedämpftem Licht über die Mauern, Straßen und Häuser der
untergegangenen Stadt, daß sie eingehüllt war wie von einem goldigen
Nebel. Ganz seltsam und geisterhaft erschien sie mir unter dieser Be¬
leuchtung, die mir, je länger ich sie anschaute, nicht matter, sondern immer
entschiedener und seltsamer zu werden schien, so daß ich das Auge nicht ab¬
wenden konnte.
Wie lange ich so, umgeben von tiefster Stille, gesessen habe, weiß ich
nicht mehr. Zuletzt erhob ich mich, um nach der Sonne zu sehen. war
nicht mehr da; aber das seltsame Licht war noch dasselbe. Ich schritt von
dem Hügel hinab und an den alten gestrüppbewachsenen Stadtmauern ent¬
lang, zuweilen einer riesigen Aloehecke ausweichend, zuweilen über einige
herabgestürzte Mauerquadern steigend.
Plötzlich hörte ich Geräusch, wie von Tritten und Stimmen. Ich that
noch einige Schritte bis zu einer Biegung der Mauer und blieb überrascht
stehen. Vor mir sah ich eine weite Thorwölbung, gleichfalls aus mächtigen
Quadern von schwarzgrauem Peperin errichtet, von einem bronzenen Vier¬
gespann gekrönt, und durch die Thoröffnung blickte ich in eine lange Straße
hinein, von -Menschen belebt, deren Stimmen ich deutlich hören, wenn auch
noch nicht verstehen konnte. — Die Straße kannte ich, war ich doch oft durch
ihre Einsamkeit gewandelt. Aber das Thor, ich wußte es mit größter Be¬
stimmtheit, hatte ich nie gesehen; es hatte überhaupt nicht existirt, denn die
Ausgrabungen waren auf dieser Seite der Stadt noch bei Weitem nicht bis
zur Umfassungsmauer gelangt. Ueberdies war es mit dem unfern befindlichen
Thurme so hoch, daß es jetzt über die Aschenmassen emporragte, und auch die
schöne Quadriga, deren vier Rosse ein Phoebus mit dem Strahlenkranze ohne
Zügel durch eine Bewegung seiner Rechten lenkte, ragte so hoch auf. daß
sie von allen Punkten der Stadt und der Umgebung sichtbar sein mußte.
Ich hatte nicht lange Zeit darüber nachzusinnen; denn ein bewaffneter
Krieger, der an dem äußeren Thorpfetler neben einer mit einem Götterbilde
geschmückten Mauernische lehnte, augenscheinlich der Thorwächter, wandte sich
jetzt nach mir um und rief mir in der Sprache Roms die Worte zu: „Eile
dich, Fremdling, einzutreten, wenn du anders zur Nacht in der Stadt bleiben
willst; denn die Zeit des Thorschlusses ist nahe!" — Ich zögerte nicht, der
Aufforderung Folge zu leisten, da die seltsamen Erscheinungen alle meine Ge-
danken in Anspruch nahmen, so daß ich weder daran dachte, wie ich zurück¬
kehren, noch wo ich die Nacht zubringen würde. Dabei fürchtete ich auch gar
nicht unter den Menschen, die ich in ungewöhnlicher Haltung, Beschäftigung
und Ausstattung die Straße beleben sah, Aufsehen zu erregen; es kam mir
vielmehr ganz natürlich vor, daß ich mich unter sie mischte und Alles be¬
obachtete.
Das Erste, was ich bemerkte, als ich den nach innen stark ansteigenden
Thorweg durchschritten hatte, waren mehrere gezäumte Maulthiere und Esel,
welche theils mit Körben und Krüger beladen, theils gesattelt wurden. Bei
ihnen standen vor den Thüren zweier langgestreckter Gebäude Gruppen von
Männern, die theils selbst Hand anlegten, theils sich mit lebhafter Stimme
unterhielten. Sie hatten das Aussehen von Landleuten und sprachen in einem
schwerverständlichen altlateinischen Dialekt.
„Mich soll es wundern, Fuscus", sagte ein untersetzter Mann, der mit
einem weißen wollenen Mantel, einem breitkrämpigen Hut und ledernen
stieselartigen Sandalen bekleidet war, „mich soll es wahrlich wundern, wenn
wir heute mit unserer Ladung glücklich nach Oplontiae kommen. Mir scheint,
der Maulesel ist so betrunken, wie ich. Sieh' nur, wie er mit dem Kopfe
schüttelt, wenn ihm Hortensius einen Sack nach dem Andern aufpackt. Wenn
wir den Weg verfehlen und in den Sarno fallen, so wird unser Mehl als
Mehlbrei nach Hause kommen. Ha, ha, das wäre lustig!"
„Lustig wäre es", erwiederte der Andere, der auf einer steinernen Bank
neben der Thür saß, aus welcher ein weißbestäubter Sklave die Säcke heraus¬
trug, um sie dem Maulthier auszuladen, „wenn ich deinen krebsrothen Kopf
in den Sarno tauchte, bis er wieder vernünftig geworden, du Weinschlauch!
^- Hast Du nicht sechs Becher von dem Vesuvwein in einer Stunde getrunken,
während ich mich mit den Knaben im Stalle und dem Spitzbuben von Müller
ärgern mußte?"
„Ruhig, ruhig, Brüderchen", sagte der Erste mit weinschwerer Zunge,
„ärgere dich jetzt nicht mehr. Was sagst du? Sechs Becher? — Ja, aber
du weißt doch, daß drei davon aus der Cisterne stammen, wenn die alte
Petronia sie verabreicht. Also bleiben drei Becher! Streiten wir nicht da¬
rüber; trinken wir lieber noch einen auf unsere Freundschaft und eine glück¬
liche Heimkehr!"
„He, Petronia", rief er, sich zur Thür der Schenke umwendend, in die
Stube hinein, aus welcher Stimmengewirr und Gläserklingen tönte; „he,
Alte, noch einen Becher Falerner, aber echten! Beim Bacchus! Du ver¬
trockneter Knoblauchstengel, vor deiner Thür kann man vor Durst um¬
kommen !"
Auf diesen Ruf erschien hinter dem steinernen mit bunten Marmor¬
platten bekleideten Schenktisch, der den vorderen Theil der Schenkstube ein¬
nahm, die Wirthin selbst, eine runzlige Alte mit beweglichen Augen und füllte,
durchaus nicht beleidigt, unter einer Fluth von launigen Redensarten einen
großen Pokal von graugrünem Glas mit fast schwarzem Weine.
„Kostet vier Aß, sogleich zu zahlen", sagte sie, das Glas hinausreichend
und den großen Thonkrug in die runde Vertiefung des Schenktisches zurück¬
stellend, aas dem sie ihn genommen. Doch schien sie es mit der sofortigen
Bezahlung nicht ernst zu nehmen, denn sie war schon in der Thür der Hinter¬
stube, in der sich Lärm erhoben hatte, verschwunden, als der Trinker das Glas
vom Munde absetzte und es seinem Gefährten reichte, indem er kopfschüttelnd
hinzufügte:
„Beim Merkurius, die Alte hat den Verstand verloren. Hat sie jemals
gesehen, daß ich sogleich zahle? — Und vier Aß für dieses Gemisch! Für
vier Aß trinkt man Chier und Lesbier; so hat mir Agatho erzählt, der gestern
mit des Felix Kornschiff von Byzanz gekommen ist. Vier Aß! Vier Aß!" —
Der robuste Landmann war in Gefahr, sich in wahre Entrüstung über
die Weintheuerung hineinzureden, als der Sklave ihm meldete, daß das Thier
beladen sei. Die beiden Männer erhoben sich, wechselten einige Abschieds¬
worte mit den in ähnlicher Weise Beschäftigten, lösten den Zaum des Maul-
thteres, der durch ein im steinernen Trottoirrande befindliches Loch gezogen
war und wandten sich dem Thore zu. —
Ich schritt weiter die Straße hinauf, welche von Wagen und Fußgängern
belebt war. Die Wagen, zwei- und vierrädrige, waren hoch mit Früchten:
Feigen, Nüssen, Mandeln, Kürbissen, Pinienzapfen u. s. w. oder mit riesigen
irdenen Wein- und Oelgefäßen beladen und mit Eseln und Pferden, auch
mit Ochsen bespannt, die die Lenker mit Geschrei antrieben. Die Straße ist
schmal, wie die meisten andern, so daß die Wagen sich nicht ausweichen
können, sondern der Fuhrmann, der in eine Seitenstraße einbiegt, einen lauten
Ruf erhebt, um die etwa Entgegenkommenden zu benachrichtigen. Wie viele
Wagen aber müssen schon über dieses aus großen Polygonen Lavablöcken zu¬
sammengesetzte Pflaster gefahren sein! Tiefe Gleise, stellenweise mehrere Zoll
tief, haben sich eingegraben. Dort an der Straßenecke sind Arbeiter, bis
zum Gürtel nackt, beschäftigt das Pflaster umzulegen, damit die allzusehr
aufgefahrenen Steine an andere Stellen versetzt werden. Hohe Trottoirs
fassen die Straße ein, mit festgestampfter Erde, Steinplatten oder Ziegelmosaik
belegt. Dort sitzen drei krausköpfige Knaben vor der Schwelle und spielen
so eifrig mit Würfeln, daß sie kaum den Ruf zweier Sklaven vernehmen,
welche daherkommen, an einer auf den Schultern ruhenden Stange eine ge¬
waltige weingefüllte Amphora tragend. — Vier andere kommen dort, gleich¬
falls Stangen auf den Schultern, die mit Tuchstoffen und Kleidungsstücken
behängt sind. Sie machen vor einem großen Hause Halt, aus dem andere
Sklaven heraustreten, die jenen die Gegenstände abnehmen, um sie hinein¬
zutragen. Durch den weiten Eingangsflur und den dahinterliegenden Hof
mit dem Wasserbecken kann ich in die Hinteren Räume des Hauses hineinsehen,
die aus einem säulenumgebenen freien Platz und mehreren um denselben
liegenden Arbeitszimmern bestehen. Es ist eine Wäscherei und Walkeret. wie
die an Stricken und Stangen aufgehängten nassen Stoffe und die vier großen
nebeneinanderltegenden Waschbassins zeigen, sowie die kleinen gemauerten
Mulden, in deren einigen noch Sklaven mit entblößten Beinen das Zeug zu
treten und zu walken beschäftigt sind. Die andern haben schon Feierabend
und belustigen sich nach des Tages Last mit neckischen Spielen. Zwei haben
einen Dritten unter ein käfigähnliches Gestell gesetzt, das sonst zum Aus¬
breiten der Tücher dient und hindern ihn, ihn ümtanzend, am Herauskommen.
Ein anderes Paar hat eben ein Tournier mit Schilfrohren ausgefochten; der
Eine liegt besiegt am Boden und Strecke die Hand empor; der Andere kniet
über ihm, hat ihm den Rohrstumpf an die Kehle gesetzt und schaut wie der
siegreiche Gladiator im Amphitheater zu den umstehenden Mitsklaven auf,
Mit dem Blicke fragend, ob er den Gegner schonen solle. Diese aber strecken
sämmtlich den rechten Daumen niederwärts, zum Zeichen, daß er ihm den
Todesstoß geben soll. — Der Besitzer der Walkerei muß ein wohlhabender
Mann sein; denn wenigstens zwanzig Sklaven erblicke ich dort in dem Hofe,
und andere treten soeben noch von der Straße ein, staubbedeckt, Ackergeräth
und Körbe voll Lattich und Rüben auf der Schulter. Wie es scheint, bringen
sie die Abendmahlzeit für die andern; denn bei ihrem Anblick verlassen diese
ihre Unterhaltung und eilen ihnen entgegen, worauf alle in einem der Zim¬
mer zur Seite verschwinden.
Ein Geräusch von schweren Tritten und von Waffenklirren läßt mich
Umschauen. Es ist ein Fechtertrupp, der daherzieht, von dem Lanista geführt.
Sie kommen aus der Richtung des Amphitheaters. Wie ich die Blicke dorthin
N>ende, erkenne ich das gewaltige länglichrunde Gebäude, auf dessen steinernen
Sitzstufen ich so oft als der einzige Theaterbesucher inmitten schweigender
^ete gesessen. Aber jetzt zeigt sich die Umfassungsmauer nicht kahl und ver¬
fallen. Bon Marmor glänzt der ganze Bau; Säulen schmücken die Treppen
Und Umgänge, auf denen eine dichte Menschenmenge sich zu drängen scheint.
Und zwischen Masten ausgespannt, breiten sich bunte Tücher wie Sonnen¬
schirme über den unbedeckten Raum. Offenbar hat eine Vorstellung stattge-
funden, wie man sie mit Vorliebe in den späten Nachmittagsstunden ver¬
anstaltet, weil dann die Sonne nicht so lästig und der Anblick der herrlichen
Landschaft, die man von den oberen Sitzreihen überblickt, der entzückendste ist.
Schweigend ziehen die Gladiatoren vorüber, die meisten ernsten und
düsteren Blickes; einige aber auch heiter um sich schauend und mit einander
scherzend.
„Wie lächerlich sah es aus", höre ich einen, zwei Schwerter in den Händen
wiegenden Burschen von keltischer Gesichtsbildung zu seinem Genossen sagen,
„als dem Prahlhans Umbricius die Helmkappe mitsammt dem Haarschopf
von des Bären Tatze heruntergerissen wurde. Er machte eine schöne Ver¬
beugung gegen die Augustuspriester."
„Ja, und die Vestalin Caprasia". erwiederte der Andere, .hatte verteufelte
Mühe, hinter dem Schleier ihr Lachen zu verbergen. Das beste aber war
doch die Hetzjagd, die Androgenus auf den Wicht, den Fulvus, machte, den
sein Herr zur Belustigung der Bürger in die Arena schickte. Dreimal jagte
er den Hasenfuß rings um den Platz, bis er ihn mit einem Capitalstoß von
hinten aufspießte." —
Die Gladiatoren waren verschieden bewaffnet. Manche waren vollständig
in Eisen gehüllt, mit schweren zum Theil kostbar ciselirten vergitterten
Helmen, eisenbeschlagenen Lederpanzern, Arm- und Beinschienen bekleidet und
mit langen Schwertern versehen. Andere trugen nur Helm, Schild und Schwert;
noch Andere waren ganz ohne Schutzwaffen und hatten nur ein kurzes
gerades Schwert und ein starkes Netz. Sie pflegten sich desselben zu bedienen
um es dem schwerbewaffneten Gegner, dem man sie gegenüberstellte, über¬
zuwerfen und den so wehrlos Gemachtem durch einen schnellen Stoß zu tödten.
— Alle waren staubbedeckt; die Rüstungen zeigten zahlreiche Beschädigungen,
und Manche waren leicht verwundet.
Siehe, da führt man hinter den Uebrtgen auch einen Schwerverwundeten
daher. Der Helm ist ihm durch einen Schlag mit einer Streitaxt zer«
schmettert worden, und aus einer schweren Kopfwunde rinnt das Blut trotz
dem Verbände über das Antlitz hinab. Der Mann hat eine herkulische Ge¬
stalt und trägt, obwohl er von zwei Genossen gestützt werden muß, das
Haupt hoch erhoben. Neben ihm her laufen halberwachsene Burschen, manche
auch, die noch die Knabenbulla am Halse tragen, als Vorläufer des Menschen'
Stromes. der vom Amphitheater herkommt und sich jetzt in alle Straßen er¬
gießt. Dann folgen einige Männer, unbedeckten Hauptes, aber durch die
Toga als Bürger, durch ihre großen schwieligen Hände als Handwerker
kenntlich, die gleichfalls den Verwundeten mit einem gewissen achtungsvollen
Interesse betrachten.
„Er hat zum vierten Male über den behenden Cachaunus gesiegt, und
er hätte ihm trotz des tüchtigen Schmisses da den Garaus gemacht, wenn das
Volk nicht gnädig gewesen wäre", sprach einer der Bürger.
„Vermuthlich wird man ihn freilassen", erwiederte ein anderer; „es war
sein zweiunddreißigster Kampf heute, und er hat die Ruhe wohl verdient.
Mag ihm nur der Schädelspalt noch nicht einen Platz an der Via Stabiana
verschaffen."
„Sei unbesorgt", sagte der Erste; „diese Thracier haben Hirndeckel wie
Elephanten und ein Leben wie eine Katze."
Immer mehr Volks kam mir entgegen, und fast Alle unterhielten sich
lebhaft über das stattgehabte Schauspiel. Es schien, daß alle Klassen der
Bevölkerung mit gleichem Interesse Antheil genommen und keine unvertreten
geblieben. Die Mehrzahl mochte dem wohlhabenden Bürgerstande angehören;
sie trugen die faltige wollene Toga, meist von ungefärbtem weißen Stoff,
über der linnenen Tunika, Sandalen mit Riemen und bronzenen Schnallen
und zum Theil wollene Kappen und Hüte. So mancher trug schwere goldene
Ringe «n den Fingern und ein feineres Gewand von ausländischem Stoff
und eleganter Arbeit. — Plaudernd und lachend kamen Sklaven daher, nackt
an Armen und Beinen, blos mit einer kurzen gegürteten Tunika bekleidet,
ihre Freude über den freien Tag und das gehabte Vergnügen nicht verbergend.
— Auch Frauen sah man, doch nur vereinzelt, die mit langsamen Schritten
und ohne umzublicken oder mit einander zu reden, ihrer Behausung zuschritten,
manche im Geleite ihrer männlichen Angehörigen, andere auch allein, aber
von Dienerinnen begleitet. Die letzteren trugen Kissen und Polster, die man
in das Theater mitnehmen mußte, wenn man nicht auf den Steinbauten
selbst sitzen wollte, sowie Sonnenschirme, deren die Frauen um so mehr be¬
durften, als sie auf den obersten Rang der Theater verwiesen waren.
Dort nähert sich eine geschlossene Sänfte, von vier Numidersklaven ge¬
tragen; vielleicht sitzt eine Priesterin der Vesta oder der Isis darin, die es
auch nicht verschmähen, an den Kämpfen der Arena die Augen zk weiden. —
Dort folgt eine andere noch kostbarere mit acht Trägern in weißen Tuniken
und rothen Mützen. Die Wände der Sänfte sind mit Bronzeplatten bedeckt,
die mit silbernen Figuren und Arabesken ausgelegt sind. Die Pfeiler sind
vergoldet und die Stäbe lausen in Greifenköpfe mit emaillirter Augen aus.
Das Innere ist mit purpurnen Polstern belegt, und es liegt darin, auf den
einen Arm gestützt, in der andern eine Schreibtafel, ein Mann von würdigem
Aussehen mit den Jnsignien der Duumvirn, der obersten Würdenträger in
Pompeji. Neben der Sänfte schreitet ein stutzerhaft gekleideter junger Mann
wie goldenen Ohrringen und gesalbten Haar, dessen Toga einen theatralischen
Faltenwurf hat. Tänzelnd setzt er die Fußspitzen zierlich auf und spricht im
Gehen mit seinem Gönner, dem er über ein Theaterstück Vortrag zu halten
scheint; denn er schaut hin und wieder auf ein Wachstäfelchen, das er in der
Rechten hält und recitirt bisweilen Verse mit erhobener Stimme, die Linke
gestikulirend dazu bewegend. —
Um dem Menschenschwarme auszuweichen, bog ich in eine der schmaleren
Seitenstraßen ein, die, wie ich schon gesehen, auffallend eng, bei Tage jedenfalls
durch ihre schattige Eigenschaft sehr angenehm und theilweise durch einen
vorgesetzten Stein für den Wagenverkehr gesperrt waren.
Die Häuser waren hier meistens im Erdgeschoß von Schenken eingenom¬
men. Die Vorderzimmer der Parterrelvkale hatten keine Wand nach der
Straße zu; den einzigen Abschluß bildete ein langer steinerner meist mit
bunten Marmorplatten oder Bruchstücken belegter Schenktisch, der neben sich
einen schmalen Eingang freiließ. Die Bretter, welche zum nächtlichen Verschluß
des Lokales dienen, lehnten im Innern an der Wand. Einige Buden waren
bereits geschlossen; andere schloß man soeben. Die Bretter wurden eins
nach dem andern, so daß sie eine Wand bildeten, in die in der Unter- und
Oberschwelle befindliche Rinne hineingeschoben und zuletzt die eisenbeschlagene
Holzthüre geschlossen, worauf die Besitzer, nachdem sie noch einmal die Festig¬
keit des Schlosses und der Riegel geprüft, den eisernen Schlüssel in der
Busenfalte der Tunika bargen und sich entfernten. Die meisten von ihnen
schienen in diesem belebten Stadttheile nur das Geschäftslokal zu haben und
in einer andern Gegend zu wohnen.
Die noch geöffneten Schenken konnte man von der Straße aus auf's
Bequemste übersehen. Meist bestanden sie aus einem einzigen Raum, der
angefüllt war mit Thonkrügen und Glasflaschen, die an den Wänden lehnten,
Töpfen und Gläsern, die auf Brettern an der Wand aufgereiht standen und
allerlei Eßwaaren, die man an der schwarzgeräucherten Decke ausgehängt hatte.
Hier pflegten die Trinklustigen nicht einzutreten, sondern einfach im Vorüber¬
gehen an dem Schenktisch ihr Glas zu leeren.
Es waren nur Sklaven, Landleute und Männer der niedersten Klasse,
wie auch einige Gladiatoren, die ich vor den Buden Halt machen oder ein¬
treten sah; die Männer des Bürgerstandes gingen sämmtlich vorüber. —
Wie verstohlen jedoch traten drei von den letzteren, jugendlichen Alters und
von lebemännischem Aussehen, in eine der größeren Schenken ein und ver¬
schwanden in einem Hinterzimmer, dessen Thür sich aber bald wieder öffnete,
um zwei blumenbekränzte und in bunte durchsichtige Gewänder gehüllte
Tänzerinnen einzulassen. Die Thür war halb offen geblieben, und ich konnte
sehen, wie die Weiber alsbald begannen ihre bacchantischen Tanzbewegungen
auszuführen, denen die jungen Männer mit lautem Beifallsruf und mit lau'
ter, durch den Wein immer gesteigerter Fröhlichkett zusahen.
Ihr Lärm aber wurde noch überboten durch den der Sklaven und
Gladiatoren, welche sich in der vorderen Schenkstube niedergelassen hatten.
Daß die Schenke vorzugsweise für die letzteren bestimmt war, schien das
Bild zu beweisen, welches mit bunten Farben auf den weißen Stuck des
Wandpfeilers gemalt war. Neben der als Wirthshausschild dienenden Figur
eines weinlaubbekränzten Bacchus war ein Paar fechtender Gladiatoren
dargestellt, allerdings nicht von künstlerischer Hand, denn die Gliederstellungen
waren zum Theil unmögliche. Dennoch sollten die Bilder wohl Porträts
sein, denn es waren die Namen darunter gemalt. — Die Trinker saßen auf
hölzernen Bänken und lehnelosen Sesseln, rohe hölzerne Tische vor sich, auf
denen irdene Schalen und gläserne Becher standen, aus denen sie lärmend
einander zutranken.
„Hoch der Duumvir Scaurus!" schallte es in dem Chor, „der so splendide
Fechtspiele giebt und das Sprühwasser nicht spart . . ."
„— Und der nicht knauserig ist mit der Anfeuchtung für die Fechter¬
kehlen", rief es von der andern Seite, „hoch Scaurus!"
„— Und nieder mit allen Aedilen, die uns Sklaven verbieten wollen,
einem braven Eisenfresser, wie dem Rapax, Beifall zu rufen!"
„Hüte dich, daß du nicht morgen sammt deinem Rapax, der gegen die
Regel gefochten, im Fußeisen steckst!" rief ein anderer Zecher, einen besorgten
Blick um sich werfend, ob nicht Einer da sei, der die unehrerbietigem Worte
den gestrengen Polizei meistern, den Aedilen, hinterbringen könnte. — Schon
aber trat der Wirth selbst heran und rief dem vorlauten Kritiker zornig
entgegen:
„Packe dich zum Henker, wenn du deiner Lästerzunge nicht gebieten
kannst! Ich will nicht deinethalb die Gunst des ehrenwerthen Rufus ver¬
lieren. Viel zu milde sind solche Aedilen für deinesgleichen." —
Der aufgebrachte Schenkwirth mußte wohl im Interesse seines Geschäftes
der Geneigtheit des Polizeivorstehers bedürfen, denn auf der Außenwand
seines Hauses war mit großen Lettern angeschrieben: „Dem ehrenwerthen
Aedilen A. Cornelius Rufus empfiehlt sich der Gastwtrth Pertinax nebst
seinen Gästen." Von anderer Hand war noch daneben geschrieben: „Heil
Und Gruß dem würdigen Rufus." —
Aehnlicher Aufschriften sah ich im Weitergehen noch eine große Zahl.
Alle waren mit einem Pinsel in langen rothen Buchstaben aufgemalt, so daß
stellenweise die Wand von ihnen ganz bedeckt war. Es waren Empfehlungen
an die Duumvirn und Aedilen, Wahlvorschläge, Begrüßungen und vielerlei
prosaische und poetische Herzensergüsse, unter den letzteren auch der folgende:
„Wundern muß ich mich, Wand, daß nicht du in Trümmer gesunken,
Da du so vieles Geschmier müssiger Schreiber schon trägst."
Neben der Eingangsthür eines Privathauses von vornehmem Aussehen
stand auf der Leiter ein Mann, soeben beschäftigt, dem schönen gelbweißen
Wandbewurf eine neue Inschrift einzuverleiben. An den jonischen Pfeiler
des Vestibulums gelehnt stand der Hausherr, ein beleibter kahlköpfiger Alter,
der Beschäftigung des Anstreichers zuschauend und in tiefes Sinnen ver¬
sunken . als ein anderer älterer Mann in der Toga. der die Straße herauf¬
kam, neben jenem stehen blieb, die neue Inschrift musterte und dem Ersteren
die Hand auf die Schultern legend, in Lachen ausbrach.
„Wunder begeben sich!" rief er aus und recitirte mit pathetischer Stimme
die soeben vervollständigten Worte der Inschrift: „„Den ehrenwerthen um
die Gemeinde wohl verdienten C. Minucius Priscus, den trefflichen Mann,
wählet — ich bitte euch — zum Duumvir; ihn empfiehlt Agathovorus
sammt seinen Gesellen!"" — Welcher Dämon hat dich erfaßt, Agathovorus,
daß du unsern alten Gegner Priscus den Bürgern empfiehlst. Hast du nicht
in der Versammlung, wenn die Männer sich über die öffentlichen Dinge unter¬
hielten, oft genug gesagt, die Römer thäten besser ihr eigenes Fett als das der
Pompejaner von solchen Rechtsverdrehern wie dem Priscus verzehren zulassen?
— Hat er nicht als Censor uns Goldschmieden sämmtlich übel mitgespielt
und dir die doppelte Steuer aufgelegt?"
„Wenn der Pfau König wird, müssen die andern Vögel seine Stimme
loben", sagte der Andere, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, während
er dem Anstreicher, der im Vorbeigehen ihn mit der Leiter anstieß, einen Schlag
in den Nacken gab. „Priscus wird auch ohne mich gewählt werden, und es
ist besser, wenn ich unterstütze, was ich nicht hindern kann. Ueberdies will
ich unter die Dekurionen kommen, wie du weißt. Gestern hat er seinen
Freigelassenen Perfikles zu mir gesandt. der so schön von Wahlunterstützung
und Dekurionenwürde geredet hat, daß ich mich habe bestimmen lassen. Was
thut man nicht für einen Sitz im Senat! Ist er gewählt, so reinige ich
meine Wand wieder. Bin ich Dekurio, so kümmere ich mich so viel um ihn
wie um eine Haselnuß."
„Nun, ich wünsche Dir Glück", sagte der Erste, „und mir selbst nicht
minder^ der ich dann einen Freund unter den Dekurionen haben werde.
Wenn sie mir auch kein Bisellium dekretiren werden, so wird mir auf deine
Verwendung vielleicht ehrenhalber der Begräbnißplatz geschenkt, wenn ich einst
an einer Melonen-Indigestion gestorben sein werde."
„Rede mir nicht von Begräbniß und Sterben!" rief der wohlgenährte
Goldschmied Agathodorus unwillig; „sondern tritt ein und laß uns gemein'
sam uns zu Tisch legen. Zwar meine Küche kann sich mit der deinen nicht
messen; aber einen Sicilianer und Lesbier kann ich dir vorsetzen, wie ihn die
Keller des Sadon nicht besser enthalten."
— „Dank, Freund, aber ich war eben gekommen, dich zur Abendmahl¬
zeit zu laden. Die langerwarteten Tarentiner Austern und die Muränen von
Gades sind bei mir eingetroffen und auch einen melischer Kranich habe ich
aufgetrieben, der sicher deinen Beifall haben wird."
„Einen melischer Kranich!" rief Agathodorus schmunzelnd; „beim Her¬
kules, der könnte mich dazu bringen, noch zwanzig Prisci zu Duumvirn zu
wählen! So gehen wir denn, Freund; aber erlaube, daß ich noch meine
Frau benachrichtige. Eutyche möchte es übel empfinden, wenn ich mich ohne
ihr Vorwissen entfernte."
Er rief einem Sklaven, der sich in einem engen niedrigen Raume neben
der Hausflur aufhielt und den Dienst des Thürhüters versah und gab ihm
den betreffenden Auftrag. Dann fügte er hinzu:
„Schließe sogleich die Hinterpforte des Peristyls und rühre dich nicht
von deinem Platze. Wenn wieder so ein Wicht von einem B^ttelvriester das
Haus betritt, so Hetze den Hund auf ihn; denn kommt noch ein Diebstahl
vor, so verkaufe ich dich schläfrigen Schurken in das Bergwerk. Um Mitter¬
nacht sende den Paulinus mit der Laterne zum Hause des Melissas."
Der Sklave versprach die Befehle auszuführen, und die beiden Männer
gingen, in ihre Mäntel gehüllt, mit langsamen Schritten die Straße
entlang.
Ich folgte ihnen und betrachtete im Vorübergehen die Häuser, welche
hier einen vornehmeren Anstrich annahmen. Die Mehrzahl zeigte breite
schmucklose Wände, weiß oder gelbgrau bemalt, nur in der Höhe von weni¬
gen schmalen Fenstern durchbrochen, deren einige mit Glasscheiben versehen
waren. Es fanden sich ein-, zwei- und auch dreistöckige; bei den letzteren
hatten die Obergeschosse größere Fenster; hie und da trat ein Balkon weit
in die Straße vor. Das Erdgeschoß war meist von Läden und Boutiquen
eingenommen, die bereits geschlossen waren; nur einige Schenken standen noch
offen, in denen brodelnde Töpfe über dem Holzfeuer des Herdes standen und wo
aus Mischkrügen ein süßer Duft von heißem Wein und Honig aufstieg. An
Stangen quer über dem Eingang hingen Schnüre von Nüssen, Mandeln und
getrockneten Felgen, Zwiebeln, Käse und getrocknete Fische. Auf stufenartigen
Etageren des Schenktisches standen kleine und große Trinkgläser aufgereiht,
und manche kleine Gruppe von Leuten aus dem Volke saß noch an den
Holzttschen bei einem warmen Abendtrunk. — Auch ein paar Handwerker¬
buden standen noch offen; halb entblößt saßen darin die Arbeiter beim Scheine
runder thönerner Oellämpchen und bearbeiteten das Büffelleder für San¬
dalen und Reiseranzen, oder hämmerten an Metallplatten für Gefäße und
Werkzeuge. —
Die beiden Männer hatten ein von der Straße etwas zurückstehendes
Haus erreicht und traten in dasselbe ein. Den Zugang bildete ein schmales
langes Vestibulum, dessen Fußboden nach innen sanft anstieg und mit schwarz¬
weißer Mosaik belegt war, in der sich ein Löwenkampf dargestellt fand. Am
Eingang waren zwei hohe Steinpfeiler mit reich ornamentirter Kapitalen,
über denen ein Architravbalken und ein reicher Karnies, mit Amorköpfen
und Blumen geschmückt, hervortrat, und oberhalb desselben befand sich ein
zierlicher Balken mit einer Einfassungswand und großen Fensteröffnungen,
hinter denen sich jugendliche Mädchengesichter zeigten.
Den eintretenden Männern nachblickend, konnte ich einen Theil des Innern
übersehen, das den Eindruck großer Pracht machte. Das Prothyron, dessen
Wände mit lebhaften Farben bemalt waren, mündete auf einen großen offenen
Hof oder vielmehr einen Saal, dessen Decke von vier sich kreuzenden Balken
getragen wurde und in der Mitte eine große viereckige Oeffnung hatte. Unter¬
halb derselben befand sich im Boden ein viereckiges mit Marmor ausgelegtes
Bassin, in welches aus acht Löwenköpfen das Regenwasser vom Dache ein¬
strömen konnte. An dem Bassin stand auf der Hinteren Seite ein Piedestal
von ägyptischem Granit und auf demselben die vergoldete Bronzestatue eines
Knaben, der einen Schwan umfaßt hielt. Aus dem Munde des letzteren
strömte ein Wasserstrahl, der über kleine Marmorstufen plätschernd in das
Jmpluvium fiel. — Der Boden des Atriums war mit Mosaik belegt, die
Decke mit ausgeschnitzten Kassetten versehen und die Wände mit Malereien
geschmückt, von denen aber in dem Halbdunkel nur einige nackte Einzel¬
gestalten von Göttern und Nymphen zu erkennen waren. Leichte Vorhänge
verschlossen die Gemächer, welche auf beiden Seiten des Hofes lagen.
Ein großes Zimmer, dem Eingange schräg gegenüber gelegen, zeigte sich
hell erleuchtet. Von der Decke hing eine Lampe hernieder, aus einer mit
Ranken- und Blätterwerk verzierten Schale bestehend, von deren Rande fünf
Lotosblumen hervorsprangen, deren Kelche die Flammen wie feurige Blüthen¬
fäden hervorsandten. Jeden der Blumenstengel hielt eine schöngearbeitete
eherne Kette; auf dem Deckel der Schale aber erhob sich eine silberglänzende
Sphinx.
Die Männer traten in dieses Gemach ein, in welchem schon einige
andere Personen versammelt waren und zwei Sklaven soeben die letzte Hand
anlegten, um die Tafel herzurichten. In der Mitte befand sich ein langer
steinerner Tisch, dessen Platte eine einzige schwarze Marmortafel mit einge¬
legten weißen Verzierungen bildete. Drei divanartige Gestelle umgaben den¬
selben in Hufeisenform, die vordere Seite freilassend, wo die Sklaven heran¬
traten und die Gefäße aufsetzten. Die Speisedivans, jeder für drei Personen
Raum bietend, waren von Holz, mit bronzenen Füßen und getriebenen Me-
tallverzierungen an den Ecken und den vorderen Flächen. Bunte Kissen
lagen darauf und auf jedem Platze noch ein Polster, um den Arm darauf zu
stützen. Auch ein bronzener Ofen in Gestalt eines großen viereckigen Kohlen¬
beckens, auf dem Pane und Genien gebildet waren, befand sich auf einem
Marmornen Untersatze in der Ecke des Zimmers. In dieser Jahreszeit aber
bedürfte man desselben nicht; vielmehr war die Thür wie das gegenüber¬
liegende große Fenster, durch das man in den Garten schaute, weit geöffnet,
und mehrere der Personen standen an dasselbe gelehnt, um den warmen abend¬
lichen Lufthauch, der die schwebende Lampe leicht bewegte, mit vollem Athem zu
genießen. — Bald aber trat der Hausherr, der Goldschmied Melissus, mit
einladender Geberde zu ihnen, und Alle ließen sich liegend auf die Polster
nieder, den linken Arm aufstützend, nachdem sie die Sandalen abgelegt, und
wie der Rechten von den Speisen nehmend, welche die Sklaven in großen
Schüsseln aufsetzten. Vor dem Hausherrn stand ein silberner Mischkrug, in
welchem er jetzt den edeln Wein mit wenigem Wasser vermischte, jedem der
Gäste es freilassend, ob er seines Bechers Gluth noch mehr kühlen wolle.
Die Sklaven reichten die Pokale herum und lobende Ausrufe schienen der
Ehre des Weines und des Gastgebers zu gelten. —
Noch immer war die Helle des Himmels, welche ein seltsames Licht über
Stadt verbreitete und alle Gegenstände mit gleicher Deutlichkeit erscheinen
ließ, nicht ganz gewichen, und ich konnte im Weitergehen die schönen Portale
der Häuser und selbst die mancherlei Embleme und Symbole, welche statt
anderen äußeren Schmuckes sich vorfanden, deutlich erkennen, auch noch manchen
^tick durch ein geöffnetes Vestibulum tief in das Innere werfen. An vielen
Häusern war über der Thür oder an dem Eckpfeiler als beliebtes Schutzmittel
K^gen Zauberei, ein steinerner Phallus, angebracht. An anderen befanden sich
^meme Tafeln mit rohen Reliefdarstellungen von Werkzeugen oder auch mit
°u»ten musivischen Mustern in Form von Sechsecken, Sternen u. dergl.
^Ach eine Kuh, eine Ziege, eine Mühle sah ich so in Stein gebildet neben
Thüren von Verkaufsladen, das Haus eines Milchhändlers, eines Müllers
Bäckers bezeichnend. Als Herbergsschild sah man einen bespannten
^ager, auch einen Elephanten mit der Beischrift: „Gasthaus zum Elephanten,
^ier werden Zimmer im oberen Stock vermiethet summt Speisesophas und
^chlafstätten."
An der Straßenkreuzung war ein Brunnen, der sich neben dem hohen
^Mauerten Pfeiler einer Wasserleitung befand. "Es war ein viereckiges mar¬
mornes Bassin, in welches aus einer eisernen Röhre das Wasser einströmte.
auf dem Rande befindliche würfelförmige Stein, aus dem die Röhre
kragte, war mit einer tragischen Maske verziert. Eiserne Stäbe dienten
die Wassergefäße aufzusetzen, und aus einer halbrunden Vertiefung im
Brunnenrande floß das überflüssige Wasser in den Kanal unter dem Straßen-
Pflaster ab.
Sklaven und Sklavinnen standen mit bauchigen Thongefäßen an dem
Brunnen oder saßen wartend auf dem Trottoirrande, munter mit einander
scherzend.
„Nun Statia", sagte ein fast kahlköpfiger Alter von sehniger Gestalt,
dessen Stirn mehrere Narben trug, zu einer vollbusigen schwarzäugigen Dirne,
„wie gefällt dir eigentlich dein neuer Mitsklave, das feine griechische Bürschchen,
das immer mit einem Turban einherstolzirt wie der Partherkönig? — Hat
er Gnade gefunden vor deinen wählerischen Augen?"
Forschend richtete das Mädchen, mit dem doppelhenkligen Kruge zum
Brunnen schreitend, die Augen auf den Frager und erwiederte kurz:
„Philemon braucht meine Gnade so wenig wie der Partherkönig."
„Aber vielleicht braucht er", versetzte der Alte mit Lachen, „eine geduldige
Lehrerin, die ihn in der römischen Sprache unterrichtet und die er dafür
lesen lehrt."
Das Mädchen sah schnell auf, während ein tiefes Roth über ihr Gesicht
flog und fragte verwirrt:
„Was meinst Du? Hat Philemon Dinge solcher Art gesagt?"
„Nein, beim Harpokrates, er wird sich hüten davon zu plaudern!" rief
jener, indem er sich triumphirend im Kreise umschaute. „Vielleicht hat er
auch nur eine Probe von der Schreibkunst geben wollen, mit der er seinem
gelehrten Herrn dient, als er die zärtlichen Worte an seine „Stesima" — er
liebt nämlich sich griechisch auszudrücken — auf die letzte Säule des Peristyls
kritzelte."
Lachend schauten die Andern auf das Mädchen, das jetzt in lieblicher
Verlegenheit den gefüllten Krug, so daß ein Theil des Wassers über ihr Ge¬
wand floß, auf die Schultern hob und stumm sich entfernen wollte, als der
Spötter ihr in den Weg trat und mit ironischer Zutraulichkeit sagte:
„Verweile ein wenig, damit ich dir sage, was der schöne Philemon mit
eiligen Zügen eingekritzelt hat, falls du noch nicht so viel Griechisch verstehen
solltest. ,,„O, Venus"", hat er geschrieben, „„welches Leid bringt mir dein
muthwilliger Knabe! Seit ich mit dir gesprochen habe, o göttliche Stesima,
ist mir das Herz verwandelt und grimmiger Kummer verzehrt meine Gebeine,
wenn du nicht Mitleid hast."" — Habe doch Mitleid und laß ihn nicht ver¬
gebens am Grabmal des Cerrinius warten!"
Die letzten Worte rief er unter dem Gelächter der Uebrigen dem Mädchen
nach, das sich verwirrt frei gemacht hatte und ohne ein Wort zu sprechen
sich eilig entfernte.
Ich wollte ihr folgen; aber schon nach wenigen Schritten trat sie in
das Posticum eines großen Hauses ein, dessen Erdgeschoß wiederum von
Läden und Werkstätten eingenommen war. Die Räume waren nach außen
völlig offen, und man konnte der emsigen Arbeit der Künstler und Hand¬
werker zuschauen und die fertigen Gegenstände, welche auf Tischen, Gestellen
und Wandbrettern ihren Platz hatten, bequem betrachten. Hier drehte ein
Töpfer seine Scheibe und reihte die Schalen und Töpfe auf einem Brette auf,
das ein Anderer dann in den Hinteren Raum trug, in dem man den Schein
des Feuers sah; dort waren Mosaikarbeiter beschäftigt, bunte Steine zu
schneiden und zu glätten und schöne Muster sowie Figuren aus ihnen zu¬
sammenzusetzen; dort rieb man den Marmor zu Staub, vermengte ihn mit
der Farbe und schlug Alles wohl durcheinander, um den feinen glänzenden
Stuck zu gewinnen, mit dem man Säulen und Zimmerwärter den schönen
und dauerhaften Schmuck gab.
So tief und schmerzlich immerhin der Eindruck des Wiener Friedens
(14. Oktober 1809) aus die Gemüther der deutschen Patrioten gewesen war
in der Befürchtung, statt der heiß ersehnten Befreiung nur neue, schwerere
Ketten eingetauscht zu haben: so hatten doch viele erhebende und glückliche
Momente des durch diesen Frieden beendeten Krieges das Prestige von Na¬
poleons persönlicher Unüberwindlichkeit gründlich gebrochen. Ueberall in
Deutschland und besonders w der preußischen Hauptstadt waren Stimmungen
thatkräftigen Hasses erwacht, der Keim eines gewaltsamen Widerstandes ve«
garn Wurzel zu schlagen, der kleinbehagliche, erschlaffende Zustand eines
^eltvürgerlichen Optimismus der vorausgegangenen Tage hatte einem Geiste
ermuthigter Zuversicht Platz gemacht, dessen Lebensathem mit frischem Zuge
^e schwachmütigen, aber wohldenkenden Seelen erfrischte.
In dieser Zeit eines freieren Aufathmens vereinigte der berühmte Gram¬
matiker Philipp Buttmann in Berlin, wo er bald darauf als Professor an
der Universität, als Bibliothekar an der Königlichen Bibliothek und als Re¬
dacteur der Hände und Spener'schen Zeitung wirkte, eine Gesellschaft von
hervorragenden Männern zu der sogenannten „gesetzlosen" Gesellschaft, welche
sich durch den feinen attischen Geist und durch die Fülle der Erudition und
Intelligenz weithin einen Namen gemacht hat. Was Berlin an bedeutenden
Männern seit dem Anfange dieses Jahrhunderts in Kunst, Wissenschaft und
öffentlichem Leben aufzuweisen hatte, gehörte Alles mit sehr wenigen Aus¬
nahmen zu dem Kreise der .Gesetzlosen", welcher um die Menge verschieden¬
artiger Bestrebungen ein dauerndes, belebendes und bildendes Band schlang.
Die Persönlichkeiten, die den Berein bildeten, sind die redendste Geschichte
desselben.
Im Gegensatze zu den durch bestimmte Gesetze und Formen pedantisch
beengten und beschränkten Gesellschaften, welche Berlin bereits seit einem Jahr¬
hundert besaß, trat am 4. November 1809 eine Vereinigung von vierzehn
Männern zusammen, welche die Gesetzlosigkeit auf ihr Banner schrieben, unter
dem sie sich an zwei Sonnabenden im Monat ohne wetteren äußeren Zweck
als den eines gemeinsamen Mahles versammelten.
Zu diesem ältesten Stamme der Gesellschaft gehörten u. A. der Staats¬
rath Alberti, der bekannte Jurist Göschen, der Astronom Ideler, der geheime
Kabinetsrath Müller, Schleiermacher, Spelding, Heindorf, der Botaniker
Wildenow und der Staatsrath Karsten. Das eigentlich belebende Element
dieser Vereinigung aber und deren Mittel- und Brennpunkt war und blieb
bis zu seinem Lebensende (1829) Philipp Buttmann, der erste „Tyrann" oder
„Zwingherr" der Gesellschaft, der er in „pragmatischen Statuten" nicht
trockene Gesetze, sondern in einem von Geist und Witz sprudelnden Entwürfe,
aus welchem wir später Einiges mittheilen werden, nur eine durch die Ver¬
hältnisse bedingte Directive in großen Zügen geben wollte.
Buttmann behandelt in diesen „pragmatischen Statuten" die gesetzlose
Gesellschaft wie eine unsichtbare Kirche, deren Glieder nicht eigent¬
lich von menschlicher Wahl und Aufnahme abhängig wären, sondern bloß
anerkannt zu werden brauchten, um die Mitgliedschaft wie einen enÄraetor
inäölebilis durch das ganze Leben an sich zu tragen. Entzog sich ein Mit¬
glied der schnell anwachsenden Gesellschaft, so hieß er ihn deshalb nicht
minder willkommen, wenn er wiederkam; und nur ein einziges Mal ließ er
einen solchen zur Strafe „am Ende des Tisches Quarantäne halten." Er
nannte solche Mitglieder in seiner witzigen Art des Ausdrucks „die Abge¬
wesenen, welche wieder zu sich und zu uns kommen."
Die Theilnahme an der „gesetzlosen Gesellschaft" sah er geradezu als
eine Art von Bedingung zu einem ruhigen Tode an, und schrieb deshalb
verwundert in der Mitgliederliste bei Ifflands Namen nach dessen Tode:
„kam nie und starb doch." Ja, er schien sogar zu glauben, daß diese un¬
sichtbare Gesellschaft, nachdem sie sich einmal sichtbar „gesetzt hatte", selbst
ihre Todten zu zählen berufen sei, und schrieb bei des Staatsrath Karsten
Namen: „der Gesellschaft bitter beweinter Erstling."
Von der richtigen Boraussetzung ausgehend, daß es die erste Aufgabe
einer erheiternden Geselligkeit sei, daß die wichtigeren Interessen des Lebens
in ihr sich im Spiegel des Scherzes und der Laune wiederholen, verstand
Buttmanns verständnißinnige Ironie alle einer scherzhaften Behandlung
nicht geradezu widerstrebenden Ereignisse mit parodistischer Laune in der „Ge¬
setzlosen" zu behandeln, welcher er, ihrem Namen entgegen, bürgerliche und
gesetzliche Formen zu geben bemüht war, wie wir dies beispielsweise schon in
den oben erwähnten „pragmatischen Statuten" gesehen haben. Er selbst
nannte sich stets nur den Tyrannen der Gesellschaft, deren Beschlüsse immer
mehr auf die „stille Majorität" als auf die „laute Minorität" zurückgeführt
wurden. Zwölf Wahlherren ernannte er aus der Gesellschaft als „Chur¬
fürsten". Ihre Gesammtheit bildete „den Wohlfahrtsausschuß." Sie voll¬
zogen die Wahl der neu aufzunehmenden Mitglieder, wozu Sttmmeneinheit
nothwendig war.
Am 29. März 1817 affiliirte der Tyrann Buttmann der gesetzlosen Ge¬
sellschaft eine Vereinigung höherer Militärs, welche bis dahin unter der Lei¬
tung des Majors von Eichler gestanden hatte, nachdem deren einzelne Mit¬
glieder „sich durch eine Reihe von Probemahlzeiten zur Gesetzlosigkeit heran¬
gebildet hatten." Unter dem Sitzungsprotokolle des gedachten Tages findet
sich von Buttmanns Hand der Vermerk: „?ar un mouvement sxontimv
wurden die Mitglieder der Eichlerschen Gesellschaft sämmtlich der gesetzlosen
einverleibt; sie wuschen vor aller Augen allen ihnen noch anklebenden Wust
von Gesetzlichkeit durch vielen Wein ab und beide Gesellschaften bilden nun-
mehro die Gesellschaft Leith ^Iliauee". Niemand widersprach, die Gesell¬
schaft nahm sich jedoch die gesetzlose Freiheit, sich nach wie vor die gesetzlose
zu nennen. Durch diesen Adoptionsakt wurden unter Andern die General¬
lieutenants von Schöler, von Lützow, von Hedemann, von Gerlach, von
Bardeleben, der Kriegsminister von Witzleben und der Generalstabsarzt von
Wiebel (Leibarzt Friedrich Wilhelm III.) Mitglieder der Gesellschaft der Ge¬
setzlosen, ebenso der Graf von Gneisenau und der Adjutant Blüchers, der
Graf von Nostitz.
Eine am 18. Juni desselben Jahres zur Feier der Schlacht von Belle-
Alliance im „Kemperhof" veranstaltete Feier, bet welcher im Freien gegessen und
Abends um ein Feuer Kaffee getrunken wurde. wiederholt sich in den folgenden
Jahren unter zahlreicher Betheiligung der immer mehr zunehmenden militärischen
Mitglieder. Auch diese anerkannten freudig Buttmann als unbeschränkten
Selbstherrscher und Zwingherrn und als das lebendige Gesetz der Gesetzlosen.
Es war aber nicht eine gefällige Gesellschaftsroutine, noch ein conventio-
neller Formenschliff, die dem Zwingherrn zu dieser siegreichen Gewalt ver-
halfen, auch nicht das Schonen der Schwächen seiner Freunde verschaffte ihm
die allgemeine Gunst: gerade das Gegentheil von Beidem, ein gewisser Cynis¬
mus, der aber niemals ohne Grazie war und ein schonungsloser aber immer
gutmüthiger Witz für diejenigen kleinen Schwächen, die ein Jeder in größerem
oder geringerem Maße in die Gesellschaft bringt, verlieh ihm jene stilleGewalt, die,
wie ein Zeitgenosse berichtet, manchen auch in den Jahren noch erzog , wo die Er¬
ziehung als längst vollendet betrachtet wird. So war er z. B. eng befreundet mit
dem Hofrath Aloysius Hirt (früherem Benedictiner), der sich auf seine hof-
männischen Allüren nicht wenig zu gute that, über die Buttmann wie er
sagte eigentlich „aus der Haut fahren mochte." Er nannte ihn im Disput
gern „verdammter Maledietiner" oder „du, dein eignes Correlat", sagte ihm
auch wohl „wenn du nicht kommen willst, lieber Hirt, dann müssen wir uns
mit vier Rädern durchkröpeln." Dem berühmten Anatomen Rudolphi,
der ihn einst in der „Gesetzlosen" wegen seiner überlauten Stimme mit
Recht zur Verantwortung zog, entgegnete Buttmann sofort mit metrischen
Pathos: (Zuiesev vesanum xeeus! (Ruh—toll—Vieh).
Aber weder durch seinen überreich sprudelnden Witz noch durch die Fein¬
heit seines ironischen Spottes, noch durch die behagliche Laune seiner
originellen Einfälle errang und sicherte sich Buttmann seine Stellung
in der Gesellschaft dieser auserlesenen Aristokratie der Geistreichen, son¬
dern durch die „frische, erquickliche und durch kein pädagogisches Messer
verkümmerte Eigenthümlichkeit seines Wesens", welcher der treffende und
stets schlagfertige Witz und das urbane gesellschaftliche Talent noch höheren
Reiz verliehen. So wirkte er durch die Ursprünglichkeit und Eigenartigkeit
seines Wesens im Kreise seiner Familie, seiner zahlreichen Freunde und
namentlich auch in der „Gesetzlosen" mehr als eine ganze Societät von
Menschen, die auf dem sogenannten Wege der Ehren von Examen zu Examen
immer mehr und mehr das verloren oder erstickt haben „was ihnen in andrer
Weise verliehen war als Anderen."
Der bekannte Historiker Rühs hat in einem am Stiftungstage der Ge¬
sellschaft 1817 zu Ehren Buttmanns vorgetragenen Festgedichte des Letzteren
Verdienste um die „Gesetzlose" in folgenden Worten gefeiert:
Jedoch das größte Werk, das seine Thaten krönet,
Wodurch sein Name noch zur fernsten Nachwelt donet,
Ist die Gesellschaft, die sein Genius gebar.
Und deren Solon er seit bald zwei Lustern war.
Im Kleinen zeigt in ihr sich vor den Augen Aller
Das Bild des Staats verjüngt, das Dabelow, von Haller
Und andre Weise mehr in Büchern kund gethan.
Die Freiheit, glaub' es Welt, ist nichts als Kinderwahn,
Den freche Bündler nur und Jakobiner nähren
Um ihre Schäfchen so methodischer zu scheeren.
Mit glatten Worten sah'n wir erst uns angekörnt,
Es sei gesetzlos hier, und jeder Zwang entfernt!
Die Konstitution bestand in wenig Sätzen;
Doch ach, sie schützte nicht vor souveränen Netzen.
Sie hatten uns umstrickt in sorgenloser Ruh:
Urplötzlich zog er sie mit schlauen Händen zu.
Wir mußten männiglich nach seiner Pfeife tanzen,
Traktate schloß er ab und neue Allianzen;
Die Konstitution ward jämmerlich verdreht,
Und übers Recht errang den Sieg die Majestät.
Kurz er war Souverän: Doch laßt uns hoch ihn rühmen
Und halten ihn getrost für einen Legitimen u. s. w.
Schleiermacher hatte auf einen bei derselben Gelegenheit dem Stifter
Buttmann überreichten Silberpokal folgende von ihm gedichtete Zeilen
graviren lassen.
Die Gesetzlosen ihrem Zwingherrn
4. November 1817.Witz steht auf dem Becher wenig;
Trink, so sind'se du drinnen viel:
Und nie fehlt Dir Witzbold-König
Unter uns ein würdig Ziel.
Die Zahl der Mitglieder hatte sich unter Buttmanns Tyrannis stark
vermehrt. Von den Vielen seien nur die bekanntesten Namen genannt.
Director Bernhardt (Tiecks Schwager), Bibliothekar Biester, Leopold von
Buch, Staatsminister von Eichhorn. Professor Erman, der alte Heim, Wil¬
helm von Humboldt, Jffland, der Staatsminister von Klewitz, Buchhändler
Reimer, Staatsrath von Stägemann, Zelter, Niebuhr, von Savigny, de Wette,
Böckh, Marheinecke, der Mineralog Weiß, Professor Solger, Woltmann,
Immanuel Bekker, Bischof Ritschl, General von Grolmann, Staatsrath
Körner (Theodor Körners Vater), General von Pfuel, Direktor Spilleke,
General Rüste von Lilienstern, der Botaniker Link, Generalstabsarzt Ruft,
Schinkel, Oberprästdent von Merkel, Staatsminister von Schön, Oberpräsident
Von Vincke, Justizminister von Muster, der Historiker Wellen, der Bildhauer
Rauch, Hegel, Seebeck, Präsident von Meusebach, Hofprediger Seel, Kammer¬
gerichtsrath E. T. A. Hoffmann, Geheimrath Sotzmann, Wirkt. Geh.-Rath
Beuth, Kriegsminister von Boyen, Professor Rösel, Kriminaldireetor Hitzig,
Generalauditeur Friccius, der Orientalist Bopp, General-Steuerdirector Kühne.
Professor Fr. v. Raumer, Professor von Bethmann-Hollweg, Professor Carl
Ritter. Professor Waagen, Professor Lachmann, General von Scharnhorst,
der Astronom Encke, Präsident Keßler. Director Meinecke. Professor Ho-
meyer u. A.
Diese Namen sind sicher der beste Kommentar zu dem in der gesetzlosen
Gesellschaft waltenden attischen Geist.
Buttmann starb am 21. Juni 1829, tief betrauert von den Mitgliedern,
die fast Alle zu ihm in ein näheres Verhältniß getreten waren. Sein Nach¬
folger in der Tyrannis war, aber nur wenige Monate lang, der Major von
Eichler, der Begründer der militärischen Gesellschaft, welche sich 1817 mit der
Gesetzlosen verschmolz. Diesem folgte Schleiermacher. welcher bis zu seinem
Tode (12. Februar 1834) die Leitung des Vereins ganz im Buttmannschen
Geiste, der dem seinigen so congenial war. fortführte. Schleiermachers Nach¬
folger war der Staatsrath von Stägemann, der deutsche Tyrtäus, bis zum
Jahre 1840; diesem folgte Lachmann in der Tyrannis, welcher bis zu
seinem Ende (13. März 1851) im Geiste des Gründers, dem er an Schärfe
des Witzes und satirischer Kraft kaum nachstand, das Zwingherrnamt
energisch übte.
Die Zahl der Mitglieder war bis zu Landmanns Tode um bedeutende
Kräfte vermehrt worden. Unter Andern waren hinzugetreten: Generaldirector
von Olfers, Geh. Oberbergrath Karsten. Bischof Neander, Unterstaatssekretär
Bode, Leopold Ranke, Professor Heffter, Generalprokurator Eichhorn, Pro¬
fessor Ed. Gerhard, Professor Tochter, Minister Uhden, Professor Trendelen¬
burg, Peter von Cornelius, Minister von Kamptz.
Nach Landmanns Heimgange fiel die Zwingherrnwahl auf den bekannten
Deutschrechtler Homeyer, dessen witzige und schneidige Kraft durch seine Jahre
und besonders durch seine hervorragenden pietistischen Neigungen zu erheblich
geschwächt war, um im Geiste seiner Vorgänger das Regiment der Gesetz¬
losen zu führen. Von seiner Zwingherrschaft an datirt der entschiedene Ver¬
fall der Gesellschaft, welche jetzt, nur noch wenig besucht, den traurigen Ein¬
druck einer langweiligen bureaukratischen Zweckesserei bietet. „Leider fehlt das
geistige Band", — und so ist der Marasmus Senilis in diese ursprünglich so
frisch und fast übermüthig sprudelnde Geselligkeit voller Geist, Witz und
Humor gekommen.
Unter allen Umständen bildet die gesetzlose Gesellschaft ein sehr bedeutungs¬
volles und höchst interessantes Stück Sittengeschichte nicht blos für Berlin,
sondern für das gesammte deutsche Culturleben: und aus diesem Grunde
haben wir den Lesern diese kurze Mittheilungen nicht vorenthalten zu sollen
gemeint, die wir aus einem als Manuscript für die Mitglieder der Gesell¬
schaft gedruckten Aufsatze des Professors Klenge und aus mündlichen Ueber¬
lieferungen jetzt noch lebender älterer „Gesetzlosen" zusammenzutragen bemüht
gewesen sind.
Ein Auszug aus den von Buttmann herrührenden „Pragmatischen
Statuten" möge den Schluß dieser Mittheilungen bilden.
„Die Gesellschaft setzte sich am 4. November 1809 vierzehn Personen stark.
Sie beschäftigte sich hierauf mit ihrer Vervollständigung und fuhr damit
fort so lange und so oft innere Regungen ihr kund thaten, daß in der großen
Welt außer ihr geborne Mitglieder der Gesellschaft seien, die nur noch nicht
anerkannt wären. Der Operation, wodurch diese Anerkennungen jedesmal
zum Durchbruch kamen, gab man die äußeren Formen von dem, was man
gemeinhin Vorschlag und Wahl heißt. Um auch möglichst vor Irrthümern
zu sichern, war festgesetzt, daß derjenige, den unter zwölf Mitgliedern Eines nicht
anerkenne, auch kein Mitglied sei. — Gesetzloser Gesellschaften können nicht
nur unendlich viele neben einander bestehen, sondern man kann auch unend¬
lich vieler solcher Gesellschaften Mitglied zugleich sein, aus dem einfachen
Grunde, weil kein Gesetz vorhanden ist, wodurch ein Mitglied verbunden
wäre, in irgend einer derselben zu erscheinen. Eben dieser Grund zerstört
daher auch jeden Einwand, warum irgend Jemand nicht Mitglied irgend
einer solchen Gesellschaft sein oder werden könne. Ja selbst das Nichtwollen
findet nicht statt und jedes Mitglied ist Mitglied, so wie die Uebrigen sich
überzeugt haben, daß er es ist.
So oft also die Mittheilung einer solchen Anerkennung an ein bis dahin
Noch unbekanntes Mitglied ergeht, so verbittet man sich von jedem die etwaige
Verweigerung, als eine baare Absurdität. Jeder hat von dem Augenblicke
an das Recht, alle vierzehn Tage an dem jedesmal von der Gesellschaft ge¬
wählten Ort mit so viel Gästen als er will zum Mittagsessen sich einzufinden.
kann dies jedesmal thun, er kann es immer unterlassen. —
Jede Anstalt, sie sei so gesetzlos als nur irgend denkbar, muß ein Ana-
^gon einer Gesetzgebung haben. nämlich ein Regulativ, bestehend aus einer
Anzahl von Angesehen, mit deren Haltung es Jeder halten kann wie er will.
muß ein Ort sein, wo man sich zum Mittagsmahle versammele. Dieser
ändert sich nach Belieben und durch' eine unsichtbare Lenkung. Es muß
°me Zeit sein, zu der man sich versäumte. Bis jetzt ist es immer derjenige
Sonnabend gewesen, der zwischen je zwei Sonnabenden liegt, an welchen sie
l^es nicht versammelte. Es geht ein Bote in der Woche jedes so bestimmten
Sonnabends herum mit einem Zettel, auf dem Zeit und Ort genannt sind,
^"f demselben sind zwei Kolummnen angelegt. Unter die Ueberschrift
^6rund (aäsruvtes) schreiben sich die. welche gemeint sind zu kommen, unter
^iäerullt (viäeruutLL) die, bei welchen sich diese Meinung noch nicht aus¬
bildet hat. -
Der Speisesatz ist zu 1 Rthlr. die Person. Alles Uebrige wird mit dem
Wirthe und der eignen Börse verabredet. —
Mehrere Mitglieder erscheinen äußerst selten. Der Natur unsrer Gesell¬
schaft nach ändert dies nicht nur nichts in ihren Rechten, sondern sie sind
auch die wenigen Male, da sie erscheinen, nicht minder von den Uebrigen
gern gesehen. —
Wer auf unbestimmte Zeit absagt, stimmt so lange bet keiner Stimmung
mit, als er diese Unthätigkeit dauern läßt. — Wer sehr lange Zeit nicht er¬
scheint, zu dem kommt der Bote nach Verlauf einer gewissen Zeit von selbst
wieder. Doch Alles dieses seinen Rechten gänzlich unbeschadet."
Bevor ich die Briefe vom Reichstag wieder aufnehme, muß ich wohl
der Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus gedenken, die am 27. October
vollzogen worden. Die Zahlenverhältnisse des neuen Hauses sind längst durch
die Zeitungen beleuchtet und mit annähernder Genauigkeit festgestellt. Das
vorige Haus zählte 68 Conservative, das neue ungefähr 73, da man die ge¬
wählten vier Minister doch den Conservativen zuzählen muß. Das alte Haus
zählte 175 National-Liberale, das neue 180, mit denen in der Hauptsache
wohl die 3 Angehörigen der ehemaligen „liberalen Reichspartei" stimmen
werden. Die Fortschrittspartei zählte im alten Hause 68 Mitglieder, im
neuen Hause ebensoviele, wobei man jedoch bedenken muß, daß der Abge'
ordnete Löwe-Calbe mit ungefähr 7 seiner näheren Freunde streng genommen
nicht mehr der Fortschrittspartei zuzurechnen ist. Endlich zählte das katholische
Centrum im alten Hause 88 Mitglieder, im neuen 87, denen als unbedingte
Opposition zuzuzählen sind 15 Polen und gegen 12 dänische und andere
Separatisten. Die Gesammtzahl der Abgeordneten beträgt jetzt 433, die ab¬
solute Majorität mithin 217. Es brauchen also nur zu den 73 conservativen
Stimmen 144 Stimmen der national-liberalen Partei zu treten, um die
absolute Majorität zu ergeben. Es können also 30 und mehr Mitglieder
der national-ltberalen Partei mit der Opposition stimmen, und die Regierung
kann immer noch die Majorität für sich haben. Erwägt man nun, daß
diejenige Gruppe der national-liberalen Partei, welche sich am leichtesten zu^
Opposition entschließt, bisher immer nur einige Stimmen betragen hat, w
denen sie bei den früheren Zahlenverhältnissen öfters der Opposition die
Majorität zuführte. so sieht man, daß dieses Verhältniß jetzt verändert ist,
und zwar verändert durch den zweifachen Umstand, daß einmal die Zahl der
konservativen Stimmen gewachsen ist und daß ferner innerhalb der national¬
liberalen Partei der sogenannte rechte Flügel, wie es den Anschein hat, mehr
gewachsen ist, als der linke. Man muß endlich noch den Umstand hinzu¬
nehmen, daß unter der konservativen Partei zwar noch Ungewißheit darüber
herrscht, ob die verschiedenen Elemente derselben eine oder mehrere parla¬
mentarische Gruppen bilden werden, aber keine Ungewißheit darüber, daß alle
Konservativen fest der Regierung zur Seite stehen wollen. Unter diesen Um¬
standen wird die Zuversicht der „Provinzial-Correspondenz" erklärlich, welche
am 1. November aussprach: Die Regierung dürfe hoffen, in dem neuen
Abgeordnetenhause die Stütze einer festen Mehrheit aus konservativen und
liberalen Elementen zu finden. Eine Voraussetzung ist freilich zu machen,
ohne welche diese Zuversicht sich nicht bewähren könnte: die Voraussetzung
nämlich, daß die große Mehrheit der national-liberalen Partei, oder wenn
man den Ausdruck zulassen will, der an Zahl weit stärkere rechte Flügel der¬
selben fortfährt, in derjenigen Haltung zu beharren, die er in der vorigen
Legislatur-Periode eingenommen. Während des Wahlkampfes schien es, als
werde die Zusammensetzung der Partei und damit auch die oraussichtliche
Haltung ihrer Mehrheit sich verändern. Diese Möglichkeit, die zuweilen schon
eine Wahrscheinlichkeit war, hat sich gleichwohl nicht erfüllt. Der Umstand,
daß in vielen Wahlkreisen, welche der Fortschrittspartei angehörten, die national¬
liberalen Wähler fest zu den fortschrittlichen Candidaten standen, hat un¬
streitig dazu beigetragen, daß die Fortschrittspartei mit unverändertem Be¬
stände aus dem Wahlkampf hervorgegangen. Dagegen hat sich die Befürchtung
nicht bewahrheitet, daß das Aufstecken einer gemeinsamen Firma für fort¬
schrittlich und national unter dem Namen „liberale Partei" dazu dienen
werde, der Fortschrittspartei neue Sitze zuzuführen. Der Versuch zur Aus¬
beutung der Firma in diesem Sinne ist gemacht worden, hat aber keine
Früchte gebracht. Alles kommt nun darauf an, ob die Mehrheit der national¬
liberalen Partei an ihrer Spitze die sichere Leitung und in ihrer Mitte die
geschlossene Einheit findet, um in den entscheidenden Fragen eine sichere
Stütze der Regierung zu sein. Daß die Regierung recht wohl weiß, welche
Partei oder vielmehr welcher Parteitheil in diesem Hause neben den Conser-
vativen ihr zur Stütze dienen und dazu gewillt sein kann, darf nicht bezweifelt
werden. Ebensowenig, daß sie dieser ihrer Stütze alle erdenkbare Rücksicht
zu schenken entschlossen ist. Die Dinge lassen sich sonach im Ganzen recht gut
und hoffnungsvoll an. Denn was in den letzten Jahren, die an gesetzgeberischer
Production so reich waren, zu Stande gekommen, das ist erreicht worden
durch die Vereinigung des rechten Flügels der National-Liberalen mit den
konservativen Elementen des Abgeordnetenhauses oder des Reichstages. Die
letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus scheinen doch der Ausdruck dafür zu
sein, daß die große Mehrheit im Lande, und namentlich die Mehrheit der
liberalen Wähler das Verhalten der national-liberalen Partei und insbesondere
des rechten Flügels derselben vollkommen billigt. Es scheint also aller
Grund vorhanden, daß die Partei grundsätzlich und mit bewußtem Bekenntniß
fortfährt das zu thun, was sie in der letzten parlamentarischen Zeit an¬
scheinend etwas wider ihren eigentlichen Willen, halb gezwungen und mit
verdrießlicher Miene gethan.
Das Hauptblatt der national-liberalen Partei erklärte in der vergangenen
Woche, indem es die Zuversicht der Provinzial-Correspondenz, daß die Re¬
gierung in dem neuen Abgeordnetenhaus eine feste Stütze aus konservativen
und liberalen Elementen finden werde, billigte: es habe bisher weit mehr
die Art der Behandlung wichtiger Fragen Anlaß zum Zwist gegeben, als
der Geist, in welchem man von beiden Seiten den Dingen gegenübertrat.
Nun, die richtige Art der Behandlung wird sich wohl endlich finden lassen.
Daß dieselbe bisher zuweilen verfehlt worden, wen trifft eigentlich die
Schuld? Wir denken, die Schuld kann nur in der Unsicherheit unserer par¬
lamentarischen Sitten gefunden werden, die wir noch immer bemüht sind,
nach fremden Mustern zu modeln, von denen wir doch wesentliche Theile
weder annehmen wollen noch annehmen können.
Man sagt, die Regierung solle sich bet wichtigen Vorlagen mit den be¬
freundeten Parteien vor der Einbringung verständigen. Soll nun der
Minister-Präsident jeden der 180 national-liberalen Abgeordneten vor der
Einbringung einer wichtigen Vorlage zu sich aufs Sopha laden und mit
jedem die Sache durchsprechen? Wenn der Minister-Präsident oder der be¬
treffende Fachminister den nöthigen Ocean von Zeit zur Verfügung hätte, so
wäre die Sache immer noch nicht gebessert, denn die Hälfte der betreffenden
Abgeordneten würde sich nicht bekehren lassen. Die Sache wäre sogar ver¬
schlimmert, denn die Unbekehrten würden unisono ausrufen: wir haben ja
vorher gesagt, daß wir die Vorlage nicht wollen.
Man vergißt bei jener Forderung einer der parlamentarischen Berathung
vorausgehenden Verständigung zwischen Ministerium und befreundeten Par¬
teien, daß eine solche Verständigung zur Voraussetzung hat die monarchische
Organisation der Parteien, wie sie in England, im höchsten denkbaren Grade
besteht. Keinem englischen Minister fällt es ein, sich mit allen Mitgliedern
im einzelnen zu verständigen, auf deren Stimmen er zählt, und welcher Mi¬
nister außer in Flachsenfingen hätte auch die Zeit dazu? Ein englischer
Minister verständigt sich mit den Parteihäuptern, und da er in der Regel
selbst zu den Parteihäuptern gehört, so bedarf es einer Verständigung nur
innerhalb des Ministeriums, außerhalb desselben höchstens mit einzelnen ange¬
sehenen Mitgliedern, deren Autorität bei der gerade vorliegenden Frage etwa
besonders in Betracht kommt. Am häufigsten erfolgt die Verständigung
zwischen dem Ministerium und der ministeriellen Partei durch den sogenannten
Einpeitscher — ntupper in — durch welchen das Ministerium nicht etwa
die Meinung der Partei einholt, sondern einfach die Meinung kund giebt,
daß es bei der und der Gelegenheit auf den zahlreichen Beistand der Partei
rechnet. In den meisten Fällen genügt es. daß der Führer der ministeriellen
Partei, der eine Stellung im Ministerium einnehmen muß. die ihn nach dem
technisch parlamentarischen Ausdruck zum Leiter des Unterhauses macht, sich
erhebt, um zu bewirken, daß die Partei ihm folgt. Zuweilen, aber äußerst
selten kommt es vor, daß der Parteiführer die älteren und angeseheneren
Parteimitglieder zu einer vertraulichen Mittheilung zusammenruft und die
Meinung der Mitglieder anhört. Aber niemals, auch bei diesen Gelegenheiten
nicht, macht sich der Führer zum Instrument der Partei. Kann er die Par¬
tei, d. h. die' angesehenen Mitglieder derselben nicht für seine Meinung ge¬
winnen, so kann es vorkommen, daß er die Führerstellung niederlegt, er kann
auch einmal einen Plan aufgeben oder vertagen, aber er wird sich nie zum
ausführenden Strategen eines zufälligen Mehrheitsbeschlusses machen, der in
einem anderen als seinem Haupte entsprungen. Was die Jüngeren. d. h.
die noch nicht auf eine lange parlamentarische Praxis und parlamentarische Ver¬
dienste sich stützenden Parteimitglieder betrifft, also die Mehrzahl der Partei,
so sind sie, um die Ziele der Parteipolitik kennen zu lernen, auf das angewiesen, was
sie in den Theegesellschaften aufschnappen: 0n Meters it trou tke tea-i-vous. —
Wir hegen auch nicht im allermindesten den Wunsch, die parlamentari¬
schen Sitten Englands mit ihren Voraussetzungen und Folgen bei uns ein¬
zubürgern. Eine englische parlamentarische Partei ist einfach eine Coterie, wir
Zollen nicht sagen, zur Ausbeutung des Staates aber doch zur Besetzung der
^egierungsgewalt; eine Coterie, von welcher der größere Theil Stimmsoldaten für
Lohn einer Regierungsversorgung sind, ein ganz kleiner Theil nur gouvernemen-
t»le Talente, die mit der Befriedigung ihres Talentes allerdings dem Besten des
Staates dienen, weil sie ohne das sich nicht in der Regierung behaupten und nicht
wieder zur Regierung gelangen könnten. Eine deutsche Partei ist ein himmelwett
^rschiedenes Ding. Eine deutsche Partei ist eine Vereinigung grundrecht-
sicher Männer, von denen aber auch jeder sein ganzes Gewissen bis auf den
^dem Bodensatz aller Tugenden, Launen und Vorurtheile in der Partei zur
Geltung bringen will. Daher das in England unbekannte Berather der
^actlonen. Mit einer solchen Partei kann man sich eben nur in einer
^vßen öffentlichen Berathung verständigen, wodurch immer wieder die Aus¬
übe sich erneuert, die Partei zusammenzuhalten. Was hülfe es, wenn der
Minister-Präsident mit v. Bennigsen oder mit Laster Rücksprache genommen
hätte? Diese hervorragenden Abgeordneten werden stets in der Lage sein,
wenn sie ihren individuellen Beistand zusichern, den Beistand ihrer Partei¬
genossen von dem erst zu ermittelnder Willen derselben abhängig zu erklären.
Der Hauptcharakterzug der deutschen Parteien, von denen einzig die kleri¬
kale Partei auszunehmen. ist, eine Genossenschaft, durch Grundsätze und Ge¬
sinnungen verwandt, aber ohne Führer zu sein. Mit solchen Parteien ist ein
für alle Mal keine vertrauliche Verständigung möglich. Die allein mögliche
Verständigung findet sich auf dem Wege der öffentlichen Berathung. Das
sollten wir endlich in Deutschland begreifen und nicht englische Sitten ver¬
langen, in deren Voraussetzungen bei uns kein Mensch sich schicken würde,
wenn es überhaupt anginge, einen ernstlichen Versuch damit anzustellen. —
Der am 30. Oktober eröffnete Reichstag hat in der vergangenen Woche
vier Sitzungen gehalten. Die Thronrede enthält den erwarteten Satz über
die auswärtige Politik und enthält ihn so, wie ihn die politisch Urtheils¬
kundigen ebenfalls erwartet hatten. Einen Anlaß zur Erörterung der aus¬
wärtigen Politik an dieser Stelle habe ich aus dem Satze nicht zu ent¬
nehmen, da ich hier dem Beispiel des Reichstags zu folgen habe. Es ist
eine unserer besten Eigenthümlichkeiten, daß unsere noch junge parlamentarische
Tradition darauf hinweist, die Erörterung der auswärtigen Politik nach
Möglichkeit zu vermeiden. Um einige gewundene und nichtssagende Phrasen
vom Ministertisch zu erpressen, wird in anderen Parlamenten durch solche Er¬
örterungen nicht selten das Interesse des Landes gefährdet.
Daß in den beiden ersten Sitzungen der Session der Reichstag wieder
nicht beschlußfähig war, soll heute ebenfalls keinen Anlaß geben, die schäd¬
liche Pedanterie der hohen Beschlußfähigkeitsziffer unserer Parlamente aufs
Neue zu tadeln. Die Sache wird doch einmal zur eingehenden Erörterung
kommen müssen, aber nicht in dieser Session. Auch der Umstand, daß der
bisherige zweite Vicepräsident, Herr Hänel, nicht mit seinen Collegen wieder¬
gewählt worden, soll nur berührt werden, da die Angelegenheit lediglich einen
persönlichen Charakter gehabt hat. Seltsam ist dabei nur, daß die national«
liberale Partei lieber das ganze Präsidium aus ihrer Mitte besetzen wollte,
als ein Mitglied der konservativen Partei betheiligen. So groß ist die Furcht
vor dem Anschein einer Schwenkung nach rechts, gegen den man sich dock
eben durch die Wahlbrüderschaft mit der Fortschrittspartei hinlänglich gewahrt
haben sollte.
Hoffen wir, daß trotz alledem das große Werk der Session, die Verein¬
barung der Justizgesetze, dadurch gelingt, daß die national-liberale Partei zu¬
sammen mit der konservativen Seite für die Annahme der auf wenig/ Punkte
beschränkten Regierungsforderungen eintritt. Die national-liberale Fraktion
des Reichstages wird damit in dem Geiste handeln, in welchem die preußischen
Wähler soeben die Wahlen zu ihrem Abgeordnetenhaus vollzogen haben.
Eine solche Haltung wird es erleichtern, daß die Reichstagswahlen in dem¬
selben Sinn ausfallen, und die Uebereinstimmung der parlamentarischen
Hauptkörper Deutschlands wird dadurch wiederum ermöglicht sein. Die her¬
gestellte Einheit des Gerichtsverfahrens aber wird ein Gewinn sein, welchen
die deutsche Nation nicht aufhören wird, seinen Schöpfern zu danken.
Frankreich und England in Nordamerika von Franz Parkman.
1. Bd. Die Pioniere Frankreichs in der Neuen Welt. 2. Bd. Das Arnim
Regime in Canada. Stuttgart, Verlag von A. B. Auerbach. 1876.
Der amerikanische Geschichtsschreiber Parkman hat sich die Aufgabe gestellt,
die Kämpfe zu schildern, welche Frankreich gegen England, mit andern Worten,
welche die absolutistische Monarchie, der Feudalismus und Romanismus gegen
die Republik, die Demokratie und den Protestantismus in Nordamerika um die
Oberherrschaft geführt haben. Er hat diese Aufgabe in fünf Werken verfolgt, die
sich chronologisch in nachstehender Weise aneinanderreihen: „Die Pioniere Frank¬
reichs in der Neuen Welt" — „Die Jesuiten in Nordamerika" — „Das Arnim
Regime in Canada" — „Die Entdeckung des großen Westens" und „Die
Verschwörung Pontiacs." In den „Pionieren" schildert der Verfasser die
Entdeckung und erste Colonistrung Canadas durch die Franzosen und die
rüstige Thätigkeit und den furchtlosen Heldensinn Champlains und seiner
Gefährten, wie sie in hartem Kampfe mit allerlei Mühen, Entbehrungen und
Gefahren den irokesischen Wilden das Land abringen, wie sie Quebec und
Montreal gründen und tief in das Jndianergebiet vordringen, und wie sie
endlich das sauer Erkämpfte den Jesuiten überlassen, die es zu einer Theokratie
gestalten. Im „Arnim Re'gine" führt er uns die Besitzergreifung der jungen
Colonie durch den aufstrebenden Absolutismus Ludwigs des Vierzehnten vor.
welcher die Jesuiten als Werkzeuge für seine politischen Pläne zu benutzen
wähnt, während er in Wirklichkeit von ihnen nur vorgeschoben und aus¬
gebeutet wird. Die Ausgangspunkte und Stützen der bourbonischen Politik
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts lassen sich in Canadas Wild¬
nissen viel leichter erkennen als in Europa. Ursache und Wirkung arbeiten
dort rascher, weil sie unvermittelter und unbeengter auftreten, und so bricht
auch die Katastrophe gewaltiger herein. In Neu-Frankreich steht nicht der
nach Weltbeherrschung strebende Despot vor uns, sondern der wohlwollende
König, der, von Eifer für das Aufblühen seines Landes erglühend, dieses
auch durch Colonien heben und diesen die ganze Fülle seiner Gnade zuwenden
will. Neu-Frankreich sollte das Muster einer väterlich von Oben gebildeten
Ansiedelung und aller Segnungen theilhaft sein, welche ein patriarchalisches
Regiment zu verleihen im Stande ist. Zu diesem Zwecke gründete der König
Kasernen und Kirchen, aber keine Schulen, sandte er den Colonisten sogar
ihre Frauen, setzte er Prämien auf frühe Ehen und zahlreiche Kinder, schrieb
er dem Handel seine Richtung vor und beförderte er nach seinem Gutdünken
die Industrie. Jeder Zug dieses französischen Patriarchalismus predigt ein¬
dringlich die Lehre, daß geistlicher und weltlicher Absolutismus wie Mehlthau
auf das von ihnen heimgesuchte Land fallen, daß sie ein Gemeinwesen, welches
sich ihre Einmischung in seine Angelegenheiten gefallen lassen muß, zu Stech-
thum und steter Schwäche verurtheilen. und daß sie trotz der besten Absichten
jedes natürliche Wachsthum zerstören müssen. Diese Wahrheit und noch
manche andere politische Lehre findet der Leser durch Beispiele erläutert fast
auf jeder Seite beider hier vorliegender Werke, namentlich aber im zweiten,
und zwar sind dieselben in ihrer natürlichen Entwickelung wohl geordnet, und
die sie belegenden Thatsachen werden in edler Sprache erzählt. Manchmal
allerdings schreibt Parkman unserm Geschmacke nach etwas gesucht, und
vorzüglich bei den häufig von ihm in die Erzählung der Abenteuer seiner
Helden eingestochenen Landschaftsschilderungen ergeht er sich in ungerechtfertigt
breiter dichterischer Ausmalung der Situation; indeß beeinträchtigt dies die
Gesammtwirkung nicht wesentlich. Wir verlieren die Empfindung, daß hier
etwas nicht in der Ordnung, bald und wenden uns wieder den streitbaren Männern
zu, die hier weiter streben. Die wilde Natur, in die der Verfasser uns ge¬
legentlich einführt, ist gewaltig und großartig; mit noch größerer Macht
aber öffnet sich vor uns eine wette geschichtliche Perspektive und mit ihr wächst
allmählich aus der Möglichkeit die Gewißheit hervor, daß diese Ritter und
Priester trotz aller persönlicher Tapferkeit und Hingebung doch für eine ver¬
lorene Sache kämpfen und nur für die ohne politische Zwangsjacke rüstig
arbeitenden Bauern und Bürger germanischer Abstammung den Continent
erobern helfen, dessen hundertjährige Freiheit und Unabhängigkeit man dieses
Jahr in der Union gefeiert hat.
Mehr als die meisten andern Thiere hat die Schlange schon in sehr
fruher Zeit den Menschen zu denken gegeben, und infolge dessen spielte sie
^reits in Glaube und Brauch, Mythe und Sage des Alterthums eine
^'adlige Rolle. Ihr Wohnen in der Erde, ihre Fortbewegung ohne Füße,
Gliederlosigkeit überhaupt, ihr stummes Züngeln und ihr ganzes laut-
^ses Wesen hatten etwas Geheimnißvolles. Ihre stete Verjüngung, als welche
^ Ablegung der alten Haut und die Ersetzung durch eine neue erschien, rief
Vorstellung hervor, daß sie Alter und Tod nicht kenne, und ließ heil¬
kundigen Sinn, heilbringende Kraft, dann überhaupt wohlthätiges Wissen
Vermögen bei ihr vermuthen. Man fand ihr leises Aufsteigen aus der
^efe dem Aufsprießen des Saatkornes, ihr Sichhinringeln den Windungen
Krümmungen der Quelle ähnlich, die ebenfalls aus dem Erdboden
dachte an deren befruchtende Eigenschaft und hatte den Eindruck, auch
'e Schlange müsse etwas davon haben. Andrerseits ließ ihr brütendes Da-
^en. ihr Schleichen, die Beobachtung, daß einige dieser Reptile sich mit dem
^orderleibe aufrichten und blitzschnell vorwärts springen können, und der Um-
!^o, daß andere ein verhängnißvolles Gift in sich tragen, das glatte, kalte
^ier als unheimliches, verschlagenes, tückisches Geschöpf der Nachtseite der
atur erscheinen. So wurde die Schlange immer als etwas Räthselhaftes.
^Weilen als etwas Heiliges, bisweilen als etwas Dämonisches aufgefaßt,
^ Wurde sie in der Phantasie der Völker zu einem Thiere mit menschlichem
^ übermenschlichem Verstände, zum Symbol, zum Attribut von Göttern,
^ guten Genius, zur Kinderfreundin und lieben Hausgenossin bei dem
^U, zum Höllengezücht, zur Verkörperung des bösen Prinzips bei dem
^Nvern Menschenstamme, endlich als Bewohnerin unterirdischer Räume zur
steril! von Schätzen geistiger und materieller Art in hundert Sagen bis
^ die Gegenwart.
In den Mythologien des Morgenlandes tritt uns die Schlange vor-
wiegend als Gestalt des Bösen entgegen. So in der persischen Zend-Religion,
wo Ahriman sich in ihr verkörpert, so in der biblischen Erzählung vom
Sündenfalle, und so in der Apokalypse, wogegen sie bei den alten Aegyptern
das Symbol des Gottes Kneph, des Sperbers der segensreichen Nilfluth und
des rinnenden Wassers im Allgemeinen, war und bei der christlichen Secte
der Ophiten als doppelsinniges Wesen sowohl verehrt als gefürchtet wurde.
Bei den Griechen erscheint die Schlange fast durchgehends als heiliges und
heilbringendes Thier, und ähnlich wird sie von deren Verwandten in Italien
angesehen. Sie dient als Symbol von Quellbächen und Flüssen. Sie ist
ein Attribut des Heilgottes Asklepios. Sie findet sich in der jüngeren For-n
des Hermesstabes. Sie wurde bei der orgiastischen Dionysosfeier um die
Arme und in die Haare geflochten. Mystische Beziehungen wurden durch
als in die Erde verschwindendes und aus ihr wieder emporkommendes und
als immer sich verjüngendes, auf die Wiederbelebung und Unsterblichkeit der
Menschen hindeutendes Thier versinnbildet. Nach Hesiod zog sich Kychreus,
der mythische Held von Salamis, eine Schlange auf, die später, von der Insel
vertrieben, von der Demeter aufgenommen wurde und fortan zu deren
Dienerinnen gehörte. Gewöhnlich bilden Schlangen den Vorspann am Wage«
des Triptolemos. Thebanische Sagen erzählten, daß Kadmos, in eine Schlange
verwandelt, zu den Encheleern in Jllyrien ausgewandert sei. Kekrops und
Erichthonios, die erdgebornen Urmenschen Attikas, waren nach alter UM'
lieferung ganz oder zur untern Hälfte Schlangen gewesen. Athene gab dein
letzteren, als sie ihn den Töchtern des Agraulos zur Erziehung überbrachte-
ein Schlangenpaar „als Lebenshüter" mit, eine Sage, der noch zu den Zeiten
des Euripides der Gebrauch ätherischer Mütter entsprach, ihren Neugebornen
kleine goldne Schlangen als Amulete anzuhängen. Häufig diente zu sin"'
bildlicher Vergegenwärtigung des Schutzgeistes eines Menschen oder einer
Familie das Zeichen der Schlange. Nicht selten werden von der griechische"
Sage Schlangen in Beziehung zu mythischen Propheten gebracht. Der Seher
Jarnos wird als Kind auf einer Veilchenflur von zwei Schlangen ernähr^
Der Argiver Polyidos, der den in einem Honigsasse ertrunkenen Sohn des
Königs Minos vermöge seiner Sehergabe wiedergefunden hat, soll denselben
wiederbeleben und wird, als er sich dessen weigert, mit dem Todten in dieselbe
Gruft verschlossen. Hier tödtet er eine Schlange, die an das Kind herankriecht-
Darauf kommt eine zweite Schlange mit einem Kraute, durch welches sie ^e
erschlagene wieder lebendig macht, und Polyidos bedient sich dann desselben
Mittels, um den Knaben er's Leben zurückzurufen. Melampus verdankt se'^
Prophetengabe Schlangen, die er vom Tode gerettet hat, und die ihm dafür
die Ohren aufgeleckt haben, so daß er die Sprache der Vögel versteht, eine
Erzählung, die sich in der Geschichte der Kassandra wiederholt. Tiresias be¬
dachtet am Kyllene zwei Schlangen, die sich begatten, und verwundet sie,
Korauf er zum Weibe und erst nach Jahren, als er von demselben Acte
Zeuge ist, wieder zum Manne wird.
Bei den Römern und wahrscheinlich auch bei den übrigen Jtalikern war
Schlange das Symbol des guten Hausgeistes, zugleich aber, wie der Wolf,
Fuchs und der Specht, ein weissagendes Thier. Sehr gewöhnlich war,
man sie sich in den Häusern und Schlafzimmern hielt. Plinius sagt des¬
halb, ihre Brut würde, wenn die Feuersbrünste ihr nicht Einhalt thäten,
den Menschen über den Kopf wachsen. Die Ehe der Eltern Scipios war
kinderlos gewesen, und sein Vater hatte schon die Hoffnung auf Nachkommen¬
schaft aufgegeben, als man, während dieser verreist war, eines Tages bei der
glasenden Mutter eine große Schlange liegen sah, worauf nach einiger Zeit
^eipio geboren wurde. Der Vater der Gracchen sah einst auf seinem Ehe¬
bette ein Schlangenpaar. Er befragte die Haruspiees deshalb und bekam die
Weisung, eine von beiden zu tödten, wobei ihm bemerkt wurde, der Tod des
Männchens werde seinen eignen, der des Weibchens aber den seiner Gattin
^°rnelia zur Folge haben. Er ließ die weibliche Schlange entschlüpfen, und
Mo darauf starb er. Im Haine des Tempels der Juno Sospita Mater
^gina befand sich eine Höhle, in welcher eine Schlange hauste, die ohne
Zweifel das Symbol jener Geburtsgöttin Latinas war. Dieser Schlange
Kurde in jedem Frühling von einer Jungfrau ein Opferkuchen dargebracht,
^obei das Mädchen mit verbundenen Augen in die Höhle geführt wurde,
^aß die Schlange von diesem Kuchen, so galt dieß als ein Zeichen, daß die
Opfernde rein sei und das Jahr ein fruchtbares sein werde. Bei der Pest im
^hre 291 v. Chr. gaben die sibyllinischen Bücher den Römern den Rath, den
^seulap von Epidauros nach Rom zu holen. Als die zu diesem Zweck nach
^er griechischen Stadt abgeordnete Gesandschaft dort ankam, führte man sie
" den Asklepiostempel und bat sie, zu nehmen, was ihrer Heimath frommen
^rde. Da soll sich die heilige Schlange des Gottes, deren Erscheinen stets Glück
beutete, zu den Füßen von dessen Bilde erhoben haben und den Gesandten
"res die Stadt nach dem Hafen und auf ihr Schiff gefolgt sein, um sich hier
dem Hinterdeck ruhig hinzulegen. Die Führer der Gesandtschaft ließen
^ hierauf von den Priestern des Ortes in dem Cultus dieser Schlange, in
sicher sie den Genius des Aeskulap erblickten, unterrichten und eilten dann
Einwärts. Als sie in Antium anlegten, schlüpfte die Schlange an's Land
^d ringelte sich in dem dortigen Haine des Apollo um eine Palme, an der
^ drei Tage verweilte, um dann auf das Schiff zurückzukehren. Als dieses
^r vor Rom anlangte, schwamm das Thier nach der Tiberinsel und wählte
>es dort sein Heiligthum, in dem sie noch in später Zeit verehrt wurde und
Opfer empfing. Die Pest war mit ihrem Eintreffen verschwunden, und noch
viele Jahre nachher bewirkte die Vertreterin des griechischen Heilgottes hier
wunderbare Euren von Kranken und Krüppeln. Ich erwähne noch den von
Plinius erwähnten Gebrauch der Römer, Schlangeneier mit vor Gericht
zu nehmen.
Die germanische Welt hat die Schlange im Allgemeinen immer als ein
böses und verabscheuenswerthes Gewürm angesehen. Doch fehlt es in unsern
Volkssagen nicht an Zügen, wo sie in freundlicherem Lichte erscheint, ja in
manchen erinnert sie lebhaft daran, daß die Schlange in Rom der gute Haus¬
geist war. Gehen wir in die älteste Zeit zurück, so begegnen wir in der
eddischen Midgardsschlange einem der drei Hauptwidersacher der Asen und
einem der drei Urheber des Weltunterganges. Schlangen benagen die Wurzeln
der Weltesche Agdrastl. In Nastrand. der nordischen Hölle, „ist der Saal
aus Schlangenrücken gewunden, und ihre Gtfttropfen träufeln durch das Ge¬
täfel." Mehrfach ist von Schlangenhöfen oder Schlangenthürmen die Rede,
in die man gefangene Helden wirft, damit sie umkommen. Wenn Gervasius
von Tilbury gewisser Frauen gedenkt, die sich in Schlangen verwandeln können,
wo sie dann „eine weiße Binde auf dem Kopfe haben", so spricht er unmittelbar
nachher von Wehrwölsen, und in der gleich darauf folgenden Melusinenge-
schichte ist die Wahrnehmung des Ritters Raimundus, daß seine Frau lo
Bade zur Schlange wird, als keine erfreuliche behandelt. Bei Saxo GraM-
maticus dagegen verleiht der Genuß einer Speise, die mit dem zwei schwarzen
Schlangen entfließenden Geifer bereitet ist, „alles Wissens Fülle, darunter auch
das Verständniß der Stimmen des Naubgethiers und der Heerden." Sigurd
versteht, nachdem er vom Fette des gebratenen Drachenherzens geleckt, die
Sprache der Vögel. Siegfried macht sich durch ein Bad im Blute des Lind¬
wurms unverwundbar.
' Sehr verschieden sind die Auffassungen der Schlange, welche den noch lo
Volksmunde lebenden Sagen, Meinungen und Liedern der alten Zeit zu Grunde
liegen. In einem holsteinischen Reime (bei Müllenhoff) sagt der Hartworw
(die Blindschleiche) von sich: „Kurn ik hören, kumm ik sehn, bieten wull ik
dar en Flintensteen." Ebenso meint man in der Gegend von Meran,
daß die Blindschleichen sehr giftig seien und, wenn sie sehen könnten, den
Leuten schnurgerade durch den Leib fahren würden. Das Gesicht aber haben
sie hier dadurch verloren, daß einst, als die heilige Jungfrau mit dem
Christkinde im Grase saß, eine Blindschleiche herzuschlich und sie steche»
wollte. Gewisse Leute in Tirol und in Schwaben wissen diese und andere
Würmer mittelst eines Segens in ein Feuer zu bannen, aber man muß dabei
auf seiner Hut sein; denn wenn unter den Schlangen eine weiße ist. so über¬
springt sie das Feuer und schießt dem Banner durch den Leib. Schlangen-
barrer im großen Stil waren Sanct Patrick in Irland und der Abt Hugo
im Canton Freiburg. Am Niederrhein nimmt man dieses Schlangenbannen
am Peterstage vor, indem der Hausherr bei Sonnenaufgang durch sein Ge¬
höft geht, und nachdem er mit einem Kreuzhammer an die Eckpfosten der
Häuser und Ställe geklopft, folgende Formel hersagt: „Herus! Herus! Herus!
Schlangen us Stall un Hus, Schlangen un Memöllen (Molche) hie nit
Herbergen söllen. Sant Peter un de liewe Frau verbiet und Hus un Hof
un An. Viemöll und Schlangen berus, über Land un Sand, durch Los un
Gras, durch Hecken un Strüch, in die diepen Küsten, da sollt ihr verfulen."
In westphälischen Dörfern (Kühn) vertreibt man die Schlangen , indem man
an demselben Tage „den Sunnevugel jagt", d. h. indem die Knaben umher¬
ziehen und mit Hämmern an die Thürpfosten klopfen. In der Neumark
heißt es, wenn man sich am Karfreitag die Schuhe putzt, so wird man von
keiner Schlange gestochen. Eine schwäbische Geschichte, die hierher gehört
und bei Meier steht, lautet:
In der Rohrhalde bet Kiebingen befand sich früher eine Meierei, in der
es viele Schlangen gab. Es waren Ottern, armsdick, aber nicht giftig. Sie
lagen im Hofe wie im Hause umher und sogen oftmals den Kühen die Milch
aus. Deshalb schickte man endlich nach einem Beschwörer, der sie fort¬
schaffen sollte. Der ließ zuerst die Bodenluke mit Bretern zunageln und
hierauf darunter ein Feuer anzünden. Dann ging er selbst auf den Boden,
und nachdem er sich hier in einen Kasten versteckt, machte er auf einer Pfeife
den Ruf des Schlangenkönigs nach. Sogleich kamen alle Schlangen der
Gegend herbeigeschossen, liefen in die Scheune und wollten durch die Luke
auf den Boden hinausspringen, von wo der Ruf herkam. Weil die Oeff-
nung aber versperrt war, fielen sie in das Feuer zurück und verbrannten.
Hätten sie den Mann bekommen, so würden sie ihn umgebracht haben.
Die Hausottern gelten in Tirol für harmlos, und wer eine davon
tödtet, der stirbt noch im nämlichen Jahre. In Oesterreich darf man (Zin-
gerle) den „Hausadern" nichts zu Leide thun, da sie Glück und Segen bringen
und die von ihnen von Zeit zu Zeit abgelegte fast silberweiße Haut eine
heilende Wirkung hat. Manchmal zeigen sie sich mit einer gelben Krone aus
dem Kopfe, und wer sich die verschaffen kann, der wird steinreich. Zu
Stockerau in Niederösterreich giebt es (Vernaleken) Nattern, die auf dem
Kopfe ein silbernes Kränzchen tragen. Sie sind aber sehr selten und haben
die Eigenheit, daß sie sich in jedem Jahre nur einmal baden und dann stets
in einer Quelle, aus der an diesem Tage noch kein Thier getrunken hat.
Sie legen dann ihr Kränzchen neben dem Wasser auf einen Stein, und wenn
sie die Quelle verlassen, so drücken sie nur den Kopf auf das Kränzchen, und
dasselbe wächst sogleich wieder fest. Ist jemand so glücklich, -es wegnehmen
zu können, während sie noch im Bade sind, so kann er damit nicht nur sein
Hab und Gut erhalten, sondern es auch vermehren; denn wenn er diesen
Schatz zu seinem Gelde thut, so kann er davon so viel ausgeben, als er will,
ohne daß es abnimmt, und wenn er das Natternkränzchen auf sein Getreide
wirft, so kann er davon so viel verkaufen, als er wegzufahren im Stande
ist, ohne daß er irgendwelchen Abgang bemerkt. Die Wirksamkeit des Kränz¬
chens hört mit dem Tode seines Besitzers nicht auf, es kann daher mit seinem
Segen auf einen Andern übergehen, der letzte Inhaber desselben aber wird
vom Teufel geholt.
Derselbe oder doch ein ähnlicher Glaube herrscht nicht blos in Oester¬
reich, sondern auch in den bayerischen und schweizerischen Alpen, in Schwaben
und Sachsen und in ganz Norddeutschland und ist Veranlassung zu einer
großen Anzahl von Sagen geworden, die sich mehr oder minder gleichen, und aus
denen ich im Folgenden einige auswähle. Der Kern derselben ist, wie man
leicht herausfindet, der Gedanke, daß einer Schlange eine Krone, ein Kränz¬
chen, oder überhaupt ein Schatz geraubt wird, gewöhnlich während sie zu
Wasser geht, bisweilen auch geschieht es zum Verderben des Räubers oder
wenigstens des Letzten, der den geraubten Schatz besitzt. Damit aber er¬
scheinen alle diese Schlangensagen als Nachklänge derjenigen, die uns erzählt,
wie Sigurd oder Siegfried auf der Gnitahaide die den Hort behütende Schlange
erschlägt, während sie vom Wasser kommt, und wie er dadurch den Schatz
gewinnt, der ihm und jedem folgenden Inhaber bis zum letzten nach einiger
Zeit den Tod bringt. Die Krone oder das Kränzchen der heutigen Sagen ist
nichts Anderes als der Ring des Zwergs Andwari. der diesem sein Gold vermehrt
hat, und an den Andwari den Fluch geknüpft hat, seinem Besitzer das Leben
zu kosten. Wenn hier und da das eine Glied fehlt oder die dichtende
Phantasie des Volkes Dieß oder Jenes umgebildet oder den und jenen Zug
hinzugeschaffen hat, so darf uns dieß nicht irre machen, da sich derselbe
Proceß bei allen Mythen beobachten läßt.
Die einfachsten Formen der Sage vom Raube der Schlangenkrone sind
folgende: In den Ruinen der Duborg bei Flensburg lebt eine Schlange von
blauer Farbe, die trägt eine Krone vom feinsten Golde. Sie läßt sich jeden
Tag nur einmal und zwar Punkt zwölf Uhr Mittags, sehen, und wer ihr
da die Krone rauben kann, der ist glücklich: der König bezahlt ihm sogleich
zwanzig tausend Thaler Courant dafür; denn wer sie besitzt, der ist unsterblich.
(Erinnerung an die Unverwundbarkeit Siegfrieds nach seinem Bad im
Schlangenblute.) — Einst fanden Dorfmädchen bei Niederselk im schleswig-
schen auf dem Felde einen Knäuel Schlangen, unter denen die größte, ihre
Königin, eine goldene Krone trug. Da band eine von den Mädchen ihre
Schürze ab und breitete sie auf den Boden. Alsbald kam die Schlange mit
der Krone herzugekrochen und warf sie auf die Schürze, worauf jene mit dem
Schatze davon lief. Als die Schlangenkönigin dieß sah, schrie sie so entsetzlich,
daß jene davon taub wurde. Die Krone aber verkaufte sie für vieles Geld.
(Wie das Vorige nach Müllenhoff.) — Im Bremmenstein bei Iserlohn be¬
wacht (nach Kühn) ein verwünschter Graf in Schlangengestalt seine Schätze.
Alle sieben Jahre um Mittsommer kroch früher der Wurm an drei auf¬
einanderfolgenden Tagen aus dem Berge hervor, um sich in einem damals
im Osten desselben befindlichen Teiche zu baden. Er trug dann jedesmal
eine Goldkrone auf dem Haupte, die er für den glücklichen Finder zurückließ.
(Hier fehlt der Raub, aber die Schlange ist ein Mensch gewesen, und sie geht
zum Wasser wie in der Fafnirssage.) — Ein Bauer aus dem schwäbischen
Dorfe Derendingen hatte in der Steinlach eine Schlange gesehen, die, bevor
sie in's Wasser stieg, die goldne Krone, die sie trug, am Ufer ablegte. Da
gelüstete es ihn nach der Krone, und eines Tages ritt er hin, stahl sie und
jagte davon. Die Schlange merkte den Raub und schoß hinter ihm her.
Der Bauer aber wich ihr bald rechts, bald links aus und gelangte auf diese
Weise glücklich vor seine Scheune, deren Thor er vorher hatte ausmachen
lassen. Rasch ritt er hinein, die Schlange aber, die ihm auf den Fersen
folgte, wurde von der Thür zerquetscht, die der Knecht dicht hinter seinem
Herrn zuschlug.
Zusammengesetzter erscheint dieselbe Sage im Meißnischen, wo man sie
folgendermaßen erzählt. Es war einmal ein Bauernbursche, der hatte ge¬
sehen, daß in dem Flusse bei seinem Dorfe eine Schlange mit einer Krone
badete. Er wußte, daß es die Schlangenkönigin und daß die Krone
vom reinsten Jungferngolde war, und er wußte auch, wie er sie kriegen
konnte. Er nahm ein rothes Tuch und einen Spiegel, setzte sich damit auf
ein Pferd und ritt an die Badestelle, wo er das Tuch auf den Boden breitete
und den Spiegel daraus stellte. Es dauerte nicht lange, so kam die Schlange,
sah das Tuch, kroch darauf zu, blickte in den Spiegel und legte die Krone da¬
rauf ab. Dann ging sie in's Wasser. Der Bauernbursch aber raffte Tuch
und Krone auf und ritt, so schnell er konnte, davon. Als die Schlange den
Diebstahl gewahr wurde, stieß sie einen Pfiff aus, und sogleich sammelte sich
um sie ein Heer von Schlangen, unter welchen auch fliegende waren, und
mit denen sie dem Reiter nachsetzte. Schon hatten sie ihn fast eingeholt, da
warf er seine Mütze ab. in die sich die Schlangen nun verbissen, bis sie sie ganz
Zerrissen hatten. Dann schössen und flogen sie ihm wieder nach, und zum
zweiten Male hatten sie ihn beinahe erreicht, als er seinen Mantel fallen
ließ, über den die Schlangen dann wieder herfielen, während der Bauernbursche
so rasch sein Pferd lausen wollte, weiter ritt. Noch einmal waren sie dann
dicht hinter ihm, und jetzt wickelte er die Krone aus dem Tuche und warf
dieses hinter sich, so daß die Schlangen noch einmal Halt machten, da sie
dachten, jetzt wäre die Krone gewiß darin. So entkam er mit dieser und
wurde dadurch ein reicher Mann. Sein Gold ist ihm aber nicht gediehen.
In einer kürzeren Sage aus Wildbach an der Nagold (bei Meier) stirbt der
Schlangenkönig aus Gram über seinen Verlust. In mehreren süddeutschen
Erzählungen wird er von seinem Volke todtgebissen. Zu Schnifis in Vor¬
arlberg mißlang der Diebstahl, indem der Verfolgte die Krone selbst, um
sich zu retten, wegwerfen mußte. Aehnlich erging es einem solchen Kronen¬
räuber aus Se. Georgen in Oberösterreich, der von den Schlangen auf seiner
Flucht eingeholt wurde und das ihn umringelnde Ungeziefer nur dadurch
wieder los werden konnte, daß er seinen Raub herausgab. Ganz unglücklich
lief der Versuch, sich der Krone zu bemächtigen, für den Räuber in einer
Geschichte ab, die ich wieder als charakteristisch und mehrfach an die Ursage er¬
innernd mittheilen will.
Bei einem Dorfe an der ungarisch-steierischen Grenze ist (nach Vernale-
ken) ein großer Sumpf, in welchem sich früher viele Schlangen aufhielten,
die unter der Herrschaft einer Königsschlange standen. Diese war ein großes
schön geflecktes Thier, welche auf dem Kopfe eine Krone von Gold hatte, die
sie ablegen und wieder aufsetzen konnte, und welche die Eigenschaft besaß,
daß der Gegenstand, zu dem man sie legte, nie weniger wurde, wenn man
auch noch so viel davon wegnahm. (Gleich dem silbernen Natternkränzchen
in Stockerau und gleich Andwaris Ring.) Dieß war im Dorfe bekannt, und
so gedachte sich ein dortiger habsüchtiger Bauernjunge, koste es, was es wolle,
in den Besitz der Krone zu setzen. Zu diesem Zwecke stellte er in der Nähe
des Sumpfes einen Tisch auf, breitete ein weißes Tuch darüber und setzte
einen Topf mit Milch darauf. Dann versteckte er sich hinter einem Busch
in der Nähe, wo er ein schnelles Pferd bereit hatte. Nach einer Weile kam
die Königsschlange, kroch auf den Tisch zu, legte ihre Krone auf das Tuch
ab und begann die Milch zu verzehren. Als der Bauernjunge dieß sah, schlug
er das Tuch zusammen und lief mit diesem und der Krone nach seinem Pferde,
mit dem er aus sein Haus zujagte. Die Schlange rief durch ein lautes
Pfeifen Hunderte von Ihresgleichen aus dem Sumpfe, mit denen sie dem
Reiter mit fürchterlichem Zischen nachsetzte. Als der Junge vor seinen Hof
kam, schrie er laut, worauf ihm der Knecht das Thor öffnete und es dann
gleich wieder verschloß. Der Reiter stieg ab und dachte, er wäre jetzt in
Sicherheit, als er aber seinem schweißtriefenden Pferde mit der Hand über
den Rücken strich, sprang eine von den Schlangen, die sich im Schwänze des
Pferdes verborgen hatte, auf ihn zu und biß ihn in die Brust. Auf sein
Geschrei eilte der Knecht herzu und tödtete die Schlange mit einem Messer.
Dem jungen Bauer aber half das nichts, er starb bald nachher unter großen
Schmerzen. Der Knecht nahm jetzt die Krone und legte sie zu seinem Golde,
er wurde dadurch immer reicher, aber auch immer geiziger, und so vergrub
er, als er sterben wollte, sein Geld sammt der Krone in einem Walde, der
davon außerordentlich wildreich geworden sein soll.
Noch deutlicher wie hier erkennen wir in einer andern österreichischen
Sage in der Schlangenkrone oder dem Natternkränzchen den das Gut seines
jedesmaligen Eigenthümers vermehrenden, ihn aber schließlich verderbenden
Zwergenring der Edda. Ein Bauer stiehlt ein Natternkränzchen, flieht, von
den Schlangen verfolgt, zu einem Heiligenbilde, wird von einer alten Frau,
die solch Ungeziefer bannen kann, gegen das Versprechen gerettet, ihr das
„silberne Ringlein" zu geben, hält dann seine Zusage nicht und benutzt da¬
rauf das Kränzchen mit bestem Erfolg: seine Getreideböden sind immer ge¬
füllt, und sein Geld geht nie zu Ende, bis ihm die Alte eines Tages das
Kränzchen wegnimmt und seine Kraft nun ihrerseits ausbeutet, indem sie den
Silberring auf ihren Schüttboden trägt. „Nachdem er hier eine Zeit lang
ihr Korn gemehrt, versah sie's einmal und raffte ihn mit dem Getreide in
den Sack, mit dem sie zur Mühle ging. Der Müller schüttete das Korn
in die Gosse, als aber das Kränzchen mit hineinfiel, wollte sie gar nicht mehr
leer werden. Der Müller wartete ein paar Stunden, als aber schon alle
Säcke in der Mühle mit Mehl gefüllt waren, das Korn in der Gosse aber
Koch immer nicht abgenommen, hob er sie ab und sah nach. Er fand dabei
das silberne Ringlein, erkannte, daß es ein Natternkränzchen war und that
^ zu seinem Gelde. Als die Alte kam und ihr Kränzchen haben wollte,
^Ugnete er, etwas der Art zu haben, worauf die Frau fortging und vor
Kummer und Verdruß starb. Der Müller wurde nun reicher und immer
sicher. Da kam ihm der Gedanke, seinen Silberring statt zu seinem Gelde oder
bus den Schüttboden lieber in die volle Gosse zu legen und zu mahlen. Das
^ng ein paar Tage ganz gut, und er wußte kaum, was er mit dem vielen
^edle anfangen sollte. Endlich aber kam das Kränzchen an die Oeffnung
der Gosse, und auf einmal war es zwischen den Mühlsteinen, die es zu Staub
trieben. Sogleich war die Gosse leer, und gleich nachher zog ein Gewitter
^rauf. und der Blitz schlug in die Mühle, die mit sammt dem Müller
Abrannte."
An die oben angeführte Erzählung von den Eltern Scipios erinnert eine
^age vom Pillersee im nordöstlichen Tirol. An dessen Ufer setzte sich einst
"N Bauer hin, um auszuruhen. Er machte sich dabei allerhand Gedanken,
^°bei ihm unter Anderm auch das Unglück durch den Kopf ging, daß er
^ne Kinder hatte. „Ach", seufzte er, „wenn mir doch der liebe Gott diesen
^dem vom Herzen nehmen wollte, wie froh wäre ich da." Da kamen zwei
Ottern aus dem See, und die eine gab dem Bauer ein weißes, die andere
ein rothes Krönlein. Das weiße sollte er, sagten sie, seiner Frau bringen,
dann würde sein Wunsch erfüllt werden. Der Mann that, wie ihm geheißen,
und nun bekamen die beiden Leute mit der Zeit mehrere Kinder und waren
glücklich ihr Leben lang.
Auch in der folgenden Sage ist bei der geschenkten Krone vielleicht an
Kindersegen zu denken. Vor alten Zeiten lebte zu Bützberg im Kanton
Bern ein Bauer, der seine Magd alle Tage nach einer Matte schickte, um die
Kühe zu melken, und da kam immer eine große Schlange zu ihr und wollte
von der Milch trinken. Die Magd erlaubte ihr das. Sie wurde dafür be¬
lohnt; denn als sie sich verheirathete, kam, während sie beim Hochzeitsmahle
saß, die Schlange langsam zur Thür herein und legte ihr eine prächtige
goldene Krone vor die Füße.
Ganz dieselbe Auffassung wie die, nach welcher man die Hausschlangen
in Rom in Stube und Kammer gewähren ließ, liegt der folgenden kleinen
Geschichte zu Grunde, welche unsere Großmutter (sie stammte aus einem Dorfe
bei Delitsch zwei Meilen nördlich von Leipzig) zu erzählen pflegte, und die nach
Meier in Schwaben an mehreren Orten (Nagold, Rotenburg a. N. und Thie-
ringen) localisirt ist. Eine Mutter gab ihrem kleinen Kinde Semmelmilch
zu essen und ließ es dann mit seiner Schüssel in der Stube allein, um in
der Küche etwas zu besorgen. Nach einer Weile wollte das Kind mehr haben,
und als die Mutter hineinsah, fand sie, daß die Milch aus der Schüssel ver¬
schwunden war, während von der eingebrockter Semmel noch verschiedene
Stücke übrig waren. Als sie darüber schalt, sagte das Kind, ein Vögelchen habe
ihm essen geholfen. Die Frau gab ihm nun andere Milch und ging wieder
in die Küche. Bald nachher hörte sie das Kind in der Stube reden, und als
sie durch die Thürspalte lauschte, sah sie eine Schlange aus der Milchschüssel
trinken. Das Kind aber schlug das Thier mit seinem Löffel auf den Kopf
und sagte: „Du mußt nicht immer Lappei essen, du mußt auch Brocket
essen." Die Schlange aber that dem Kinde nichts zu Leide, und so ließ si^
auch die Mutter zufrieden.
Eine Verschmelzung dieser Geschichte mit Zügen aus der von der Schlangen'
kröne ist die Stuttgarter Sage, wo nicht die Mutter, sondern der Vater dem
Kinde und der Schlange vor der Milchschüssel zusieht. Die Schlange trägt
hier eine goldne Krone, und der Mann erbeutet dieselbe, indem er sich ^
einem Beile herzuschleicht und das Thier todtschlägt.
Auch die Czechen haben Hausschlangen, die bisweilen Kronen tragen,
und denen man von Rechtswegen nichts zu Leide thun darf. Eine Frau a»
Scheibradaun bei Neuhaus erzählte Vernaleken: AIs ich noch ein Kind war,
mußte ich jedesmal nach dem Melken die Milch in den Keller tragen, aber wenn
ich sie dann wieder heraufholen wollte, war immer die Hälfte von der M
unsrer besten Kuh verschwunden, und Niemand im Hause wußte, wo sie hin¬
gerathen war. Das ging eine Weile so fort. Da kam ich eines Tages
Wieder in den Keller, und als ich die Thür aufmachte, sah ich, wie eine große
Weiße Schlange sich nach dem Sims, auf dem die Milchäsche standen, hinauf.
Wand, das Bret, mit welchem wir den mit der fettesten und süßesten zugedeckt
hatten, in die Höhe hob und von der Milch trank. Als sie mich gewahr
wurde, entfloh sie in ein Loch. Erschrocken lief ich zu meinem Vater und
erzählte ihm, was geschehen. Er durchsuchte das ganze Haus nach der
Schlange, konnte aber keine Spur von ihr entdecken, und man sah sie über¬
haupt nicht mehr, auch fehlte von jetzt an nie mehr ein Tropfen Milch.
Ein alter Mann aber, dem mein Vater den Vorfall mittheilte, sagte, das
wäre die Hausschlange gewesen, von denen jedes Haus eine hätte. Andere
alte Leute des Ortes wußten noch Folgendes. Wenn eine Hausschlange sich
zehn Jahre bei einer Familie aufhalten kann, ohne beleidigt oder erschlagen
zu werden, so wächst ihr auf dem Kopfe eine goldene Krone, die aus den
Blumen entsteht, welche die Schlange in dieser Zeit gefressen hat. Dieselben
verwandeln sich im Leibe des Thieres zu Gold, und daraus macht sich dieses
die Krone selbst. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang kommt es aus seinem
Loche hervor und wartet, bis die Sonne einen kleinen Fleck bescheint. Auf
diesen legt die Schlange die angefangne Krone und arbeitet so lange daran,
bis die Sonne ganz aufgegangen ist. Dann kriecht sie mit der Krone in die
Erde zurück, weil sie den Tag nicht vertragen kann. Hat nun eine Schlange
ihr zehntes Jahr erreicht, so ist auch ihre Krone fertig, und nun fliegt sie
!Uit derselben er die Hölle. Wer sie ihr aber an diesem Tage vor ihrer
Munde abnehmen kann, der hat sein ganzes Leben hindurch Glück.
Eine Schweizersage bringt die gekrönte Schlange mit der wilden Jagd
Verbindung. Wenn diese im Seethal von Hation erscheint, um mit ihren
gespenstischen Menschen und Hunden die Wälder und Felder zu durchbrausen
Und zuletzt sich in den Bachtobel des Häfniloches zu stürzen und zu verschwinden,
wissen es die dort an der Bergstraße wohnenden Leute immer voraus; denn es hat
steh dann am Tage zuvor unten am Seeufer eine große Schlange mit einem Gold-
^suchen auf dem Kopfe sehen lassen. Man sagt auch, daß hier ein Schloß von
Erde verschlungen worden sei, und daß sich an der tiefen Grube, in die es
^rsunken. bisweilen ein Schatz „sonne", der von einem schwarzen Manne ge¬
hütet werde und von einem Frohnfastenktnde gehoben werden könne. Eine
andere Schweizersage, wie jene von Rochholz mitgetheilt, läßt eine Schlange
Gewitter voraussagen. An sehr heißen Sommertagen -zeigt sich am Wiß-
tNaidli-Brunnen bet Obersachs im Aargauischen eine Schlange, die Augen wie
Baumnüsse und einen zundelrothen Kamm hat; bemerkt man sie, so giebt es
bald Blitz und Donner. Wer sie sieht, bekommt böse Augen, sie ist ein ver-
wünschtes Fräulein, welches Schätze zu verschenken hat. wenn man sie erlöst.
Dieß kann aber nur dadurch geschehen, daß man der Schlange einen Nagel
durch den Kopf schlägt und ihr die Haut abzieht wie einem Aal.
Häufig sind in den deutschen Sagen solche Jungfrauen in voller oder
halber Schlangengestalt, welche Schätze bewachen und auf die oder jene Weise
erlöst sein wollen. Dahin gehört die niesende Schlange bei Meier, von der
man in Heubach Folgendes erzählt. Im Walde zwischen Heubach und dem
Dorfe Lauterburg traf ein Glaser, der oft in letzterem zu thun hatte, wieder¬
holt eine bunte Otter, die nieste jedesmal, wenn er vorbeikam, wie ein Mensch,
und zwar immer drei Mal. Stets fand er sie an derselben Stelle bei einer
Eiche, niemals aber getraute er sich zu dem dreimaligen Niesen etwas zu
sagen. Endlich erzählte er die Sache seinen Kameraden, und die meinten,
das sei wohl keine gewöhnliche Otter, er solle doch den Pfarrer fragen, was
hier zu thun sei. Er ging denn auch zu dem und erhielt den Rath, wenn
er die Schlange wieder niesen höre, „Gott helf!" zu sagen. Nun machte er
sich eines Tages mit mehrern Begleitern auf den Weg nach dem Platze, wo
er der Otter gewöhnlich begegnet war, und als sie noch ein Stückchen bis
dahin hatten, blieben seine Gefährten zurück und ließen ihn allein weiter
gehen. Als er der Schlange ansichtig wurde und sie niesen hörte, sagte er:
„Gott helf!" Sie nieste wieder, und abermals wünschte er ihr Gottes Hülfe.
Sie nieste nun nochmals, aber als ihr der Glaser darauf wieder „Gott helf!"
zugerufen, kam sie ganz feurig am Leibe mit großem Gerassel auf ihn zuge¬
schossen und jagte ihm damit eine solche Furcht ein, daß er davon lief. Die
Schlange fuhr hinter ihm her und rief: „Ich thue Dir nichts zu Leide,
nimm mir nur das Schlüsselbund ab, das ich an der Kette da am Halse
trage, doch thue es nicht mit bloßer Hand. Hernach folge mir, ich werde
Dir den Weg zu einem großen Schatze zeigen und Dich glücklich machen."
Allein er ließ sich nicht halten. Und als seine Kameraden ihn laufen sahen,
flohen sie ebenfalls über Hals über Kopf. Darauf sagte die Schlange traurig'
„Ach, jetzt muß ich noch so lange schweben, bis jener kleine Eichbaum groß
geworden und eine Wiege aus seinem Holze gemacht ist! Erst durch das
Kind, welches man da hineinlegt, kann ich erlöst werden." Der Pfarrer
tadelte den Glaser, daß er sein Erlösungswerk nur halb vollendet und nicht
auch die Schlüssel genommen habe. Uebrigens starb der Mann vier Wochen
später. Der kleine Eichbaum ist aber inzwischen groß und stark geworden,
da er indeß noch nicht umgehauen ist, wird der Geist wohl noch umgehen
müssen.
In dieselbe Klasse von Erzählungen gehört die von Rochholz nach einer
alten Chronik mitgetheilte Geschichte von der Schlangenjungfrau im Heiden¬
loche zu Angst oberhalb Basel, die oben Weib und unten Wurm ist und in
einem Berge wohnt, dessen Eingang nur ein reiner Junggesell findet (man
erinnere sich an das Opfer der Jungfrau in der Höhle der Schlange im
Hain der Juno Sospita). Wenn er sie drei Mal küßt, so ist sie erlöst und
der ihr anvertraute Schatz sein eigen. Im Jahre 1520 sei, so erzählen die
Chroniken, ein einfältiger stammelnder Schneider an« Basel. Namens Linni-
mann. mit einem geweihten Wachslichte in die Höhle hineingegangen und
weiter gekommen als jemals einem anderen Menschen möglich gewesen. Der
habe dann von wunderlichen Dingen, die ihm begegnet, zu reden gewußt.
„Erstlich habe er eine eiserne Pforte angetroffen und darnach aus einem Ge¬
wölbe in das andere und endlich durch etliche schöne gar lustig grünende
Gärten gehen müssen. In der Mitten sei ein herrlich und wohl gebautes
Schloß oder Fürstenhof gestanden, in welchem eine gar schöne Jungfrau mit
menschlichem Leibe bis unter den Nabel gewesen, welche auf ihrem Haupte
eine Krone von Gold getragen und ihre Haare fliegen lassen. Unter dem
Nabel habe sie wie eine greulige Schlange ausgesehen, sie habe ihn bei der
Hand genommen, zu einem eisernen Kasten geführet, auf welchem zween
schwarze bellende Hunde gelegen, vor welchen niemand zu dem Kasten gehen
dürfen. Die Jungfrau aber habe dieselbigen also gehenket, daß er ohne alle
Hinderniß hinzutreten können. Nach diesem habe sie ein Bund Schlüssel, die
sie am Hals getragen, abgenommen, den Kasten aufgeschlossen, allerlei güldene,
silberne und andere Münzen darausgenommen, von welchen sie ihm aus
sonderbarer Freigebigkeit ziemlich viel geschenkt, welche er auch mit sich aus
der Kluft gebracht, wie er denn dieselbigen gewiesen und sehen gelassen. Die
Jungfrau hat ihm gesagt, sie wäre aus königlichem Stamm geboren und in
ein solches Ungeheuer verflucht worden; sie hätte auch keine andere Hoffnung,
erlöst zu werden, als wenn sie von einem Jüngling, der seiner Jungfrauschaft
halben unverletzt wäre, dreimal geküsset würde. Alsdann würde sie ihre
vorige Form und Gestalt wiederum erlangen, und wollte sie hingegen zur
Dankbarkeit den ganzen selbiger Orten verborgenen Schatz dem, der sie er¬
löste, geben und überantworten. Er sagte auch, er hätte die Jungfrau all-
bereits zweimal geküßt, darüber sie sich beidemal vor großer Freude und ge¬
faßter Hoffnung der Befreiung von dem über ihr schwebenden Fluche mit so
greuligen Geberden erzeiget, daß er sich gefürchtet, sie werde ihn lebendig
zerreißen. Inzwischen (d. h. zwischen dem zweiten und dritten Besuche und
Kusse) habe sich begeben, daß ihn etliche seiner Gespane mit sich in ein
Frauenhaus genommen, in dem er sich mit einem Weibe in solcher Weise
eingelassen, daß er nachgehends den Eingang dieser Kluft nicht mehr finden,
viel weniger in dieselbe wiederum hinein kommen können, welches er zum
oftermai mit Weinen geklaget."
Ich lasse nun zunächst noch zwei schwäbische Sagen aus Meiers Samm¬
lung folgen. von denen uns die erste die Schlange in der etwas seltsamen
Rolle einer Wächterin bei dem dritten Gebote zeigt, während von der zweiten
nur zu sagen ist. daß sie auch in Sachsen erzählt wird.
Etwa drei Stunden von Stein an der Donau wohnte eine reiche Bauers¬
wittwe, die bei den dortigen Leuten in sehr schlechtem Rufe stand. Einst
schickte sie am Pfingstmontage ihre Magd auf die Wiese, um Gras für da«
Vieh zu holen. Kaum aber hatte diese zu grasen angefangen, so erschien vor
ihr eine große Schlange, die ihr befahl, sogleich nach Hause zu gehen, da
man an einem Feiertage keine Dienstbotenarbeit verrichten dürfe. Als die
Magd dieß hörte, lief sie eilends in das Haus und erzählte es ihrer Frau.
Diese aber schalt sie eine faule Dirne, die ihr etwas vorlüge, weil sie nichts
thun wolle, und sagte dann, sie werde mit ihr nach der Wiese zurückkehren,
damit sie ihre wunderbare Schlange auch sehe. So gingen sie denn mit¬
einander auf die Wiese, und die Bäuerin fing an, Gras zu schneiden. Da
aber war augenblicklich die Schlange wieder zur Stelle und gebot ihr, aufzu¬
hören, wo nicht, so solle sie schwer zu büßen haben. Als jene diese Drohung
hörte, wurde sie zornig und wollte mit der Sichel nach der Schlange hauen.
Kaum aber hatte sie dazu ausgeholt, so sprang ihr der Wurm an die Brust
und ringelte sich ihr um den Hals. Jetzt war die Bäuerin voll Angst und
Schrecken und versprach, das Weitergrasen sein zu lassen und nach Hause zu
gehen. Die Schlange aber antwortete: „Jetzt ist es zu spät. Du mußt mich
hinfort sieben Jahre am Halse tragen." So geschah es denn auch, und die Frau
mußte sich in ihr Schicksal fügen. Als die sieben Jahre aber bald um waren,
erkrankte sie, und am Morgen des Pfingstmontags war sie todt. Von der
Schlange aber war nichts mehr zu sehen.
Im vordern Schwarzwalde war eine Magd, die hatte beim Wasser¬
trinken eine ganz kleine Schlange verschluckt, (in Sachsen ist sie ihr, als sie
beim Grasmähen auf einem Heuhaufen schlief, in den offenstehenden Mund
gekrochen) wovon ihr der Leib allmählich sehr anschwoll; denn die Schlange
blieb bet ihr und wurde immer größer. Mittags aber, wenn die Magd die
Kühe moll, überfiel sie jedesmal eine solche Müdigkeit, daß sie eine Weile
die Augen schließen und schlafen mußte. Dann kam die Schlange aus ihrem
Munde heraus, trank von der warmen Milch im Eimer und kroch, wenn sie
genug hatte, wieder in das Mädchen hinein, worauf diese alsbald erwachte.
Endlich merkten die Hausleute, wie die Sache sich verhielt, paßten auf und
schlugen die Schlange todt, und die Magd verlor nun sogleich ihren
starken Leib.
Ich schließe mit einigen Nachträgen. Im kärnthener Lesachthale glaubt
man. die Königsschlange lege ihr Krönlein auf ein rothes Tuch ab. das
man mit frischem Brote an ihrer Badestelle hinbreite. Zu Veltheim im Aargau
schütten die Schlangen, bevor sie in's Wasser gehen, ihr Gift auf einen Stein
am Ufer aus. und nimmt man es ihnen dort weg, so müssen sie sterben.
Zu Vouvry im Kanton Wallis gab es eine fliegende Viper, die sich in die
Fässer der Keller hineinbohrte und den Leuten ihren rothen Wein austrank.
Als sie einmal an der Rhone schlief, stahl ihr ein Bauer den Edelstein, den
sie im Kopfe trug. Zuvor hatte er daheim ein Faß inwendig mit Nägeln
ausgeschlagen, und als ihn die Schlange nach dem Raube verfolgte, lief er
auf dieses Faß zu, in welches jene, da es Wein enthalten hatte, hineinschoß
und sich an den Spitzen der Nägel verblutete. Nach einer von Stöber mit¬
getheilten elsässischen Sage hat die Juraschlange im Auge einen Karfunkel.
Selbst die Lappen kennen nach Castre'n den Schlangenstetn, und merkwürdiger
Weise hat er bei ihnen eine Eigenschaft, welche die oben erwähnten Schlan¬
geneier bet römischen Processen gehabt zu haben scheinen. Alljährlich einmal
versammeln sich die Schlangen mit ihren Häuptlingen zu einem Thing, bei
dem^ jeder Unterthan Anträge stellen kann und die Häuptlinge Recht sprechen.
An der Stelle des Things aber findet man dann den sogenannten Gerichts¬
stein, der dem Finder bei Klagen vor dem Richter gute Dienste leistet. Sagen
von verwünschten Jungfrauen, die in Schlangengestalt Schätze hüten und
auf Erlösung harren, giebt es im Harz und in Westphalen, in Sachsen,
Thüringen und Hessen an vielen Orten.
In der Mark heißt es, wer eine Schlange mit in's Bett nimmt, wird viel
Glück haben. Wer in Tirol einen Bltndschleichenkopf mit in sein Gewehr ladet
und in die Luft schießt, trifft alles Wild, das ihm aufstößt. Nach dem Glauben
des Volkes in Tirol wohnt, wie Zingerle berichtet, unter den Haselnußsträuchen,
auf denen eine Mistel wächst, eine kleine weiße oder buntfarbige Schlange,
der Haselwurm, er nährt sich von den Haselblättern, in die er die kleinen
Löcher beißt, die man auf ihnen antrifft. Wer ihn fängt und von ihm ißt,
oder ihn bei sich trägt, der erwirbt sich allerhand Zauberkräfte: er kann sich
unsichtbar machen, kann Schätze finden und heben und die Kräuter davon
reden hören, wozu sie gut sind. In Ostpreußen lautet ein Spruch, mit welchem
Man Leute beschwört, die von einer giftigen Schlange gebissen worden sind:
»Du Schlange, Du Otterschlange, von wannen bist du geworden? Von
einer Weide. Zu einer Weide sollst du wieder werden. Ich will ja beißen
nicht mit meiner Macht, sondern mit Gottes und Christus des Herrn Macht,
daß es dir nicht soll schaden vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenunter-
Sang, im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.
Amen."
Meine Aufmerksamkeit lenkte sich nun auf eine Werkstätte, aus der ich
Gesang und griechische Laute hörte. Ich trat näher und sah über eine
niedrige marmorne Brüstung in ein großes Zimmer, das erhellt wurde durch
eine Anzahl hängender Lampen und dessen Wände ganz verdeckt waren durch
eine Menge von Metallarbeiten, welche theils tiefdunkel sich von dem hellen
Hintergrunde abhoben, theils im Scheine der Lichter flimmerten und blitzten.
In dem Zimmer aber arbeiteten zwei junge Männer, deren edel-schönen Zügen
man. auch ohne die griechischen Laute zu vernehmen, angesehen hätte, daß
sie hellenischen Stammes, und auch, daß sie nicht blos geschickte Handwerker,
sondern begeisterte Künstler waren.
Der Eine stand im Hintergrunde des Zimmers über einen Ambos ge¬
beugt und hämmerte feine Blättchen blinkenden Silbers, die er zuweilen
prüfend auf einen vor ihm stehenden schön geschwungenen Dreifuß legte, um
zu beobachten, wie sie sich, in denselben eingelegt, ausnehmen würden. Er
fang ein Anakreontisches Liebeslied vor sich hin, in dem er sich zuweilen unter¬
brach, um ein paar scherzende Worte an seinen Gefährten zu richten, die
dieser gewöhnlich nur halblaut und mit geringer Aufmerksamkeit erwiederte.
Der Zweite der Künstler stand an einem Werktisch in der Mitte, der
von einer Hängelampe hell beleuchtet wurde. Vor ihm stand ein Werk, an
das er jetzt die letzte Feile anzulegen schien. Er hielt einen Griffel in der
Hand, mit dessen Spitze er zuweilen einen leichten Strich an der Figur aus¬
führte, worauf er die Rechte wieder sinken ließ, mit der Linken das Werk
aufhob oder wendete und es sinnend betrachtete, wobei ein Strahl von
freudiger Genugthuung seine feinen Züge und das tiefe dunkle Auge er¬
hellte. — Jetzt stellte er das Bild in die Mitte des mit Werkzeugen bedeckten
Tisches, so daß es voll beleuchtet ward, trat einige Schritte zurück, um es zu
überschauen, und rief aus:
„Dank sei der Athene und den Chariten; es ist vollendet und mich
dünkt, es ward nicht übel! — Schau' her, Hegesistratos! Meinst du, daß der
alte Clodius zufrieden sein wird?"
Der Gerufene warf eilig Hammer und Grabstichel bei Seite, trat neben
seinen Gefährten und rief, nachdem er einige Zeit in staunender Bewunderung
gestanden, mit leuchtenden Augen aus:
„Bei der großen Mutter der Götter! Dergleichen ist in Pompeji noch
nicht gefertigt worden, und du bist der Athene ein feistes Böcklein schuldig,
Mnesias! — Wenn aber Clodius jetzt nicht zufrieden ist, so verdient er
nichts mehr von deiner Hand zu sehen! Wahrlich, der jugendliche Dionysos
selbst scheint es zu sein, den du auf den nysäischen Auen belauscht hast." —
Es war in der That ein Kunstwerk von wunderbarem Liebreiz, das aus
^r Hand des athenischen Künstlers hervorgegangen war: die Statue eines
lugendlichen Faunes. der in lauschender Stellung dastand. Aus Bronze ge¬
bildet und kaum zwei Schuh hoch zeigte der unbekleidete Körper in Haltung.
Formen und Linien eine unübertreffliche Anmuth, und das kunstvolle Spiel
^r Glieder ließ ihn. wenn ein leichtes Flackern der Flamme einen Schatten
über ihn gleiten ließ, fast lebend erscheinen. Der Künstler hatte ihm nicht
^e Stirnhörnchen. die zugespitzten Ohren oder andere Kennzeichen der wald¬
durchstreifenden Faune gegeben; er hatte ihn wie einen schönen Jüngling
^ der zarten Blüthe des Ueberganges aus dem Knabenalter gebildet, in
welchem etwas weiblich Zartes und Weiches in den Formen noch der Ueber¬
windung durch männliche Kraftentwickelung harrt, aber doch schon die Männ¬
lichkeit sich ahnen läßt. Nur ein Epheukranz schlang sich durch sein kurz-
eckiges Haar, und über der linken Schulter hing ein Ziegenfell. Die linke
^ut war in die Hüfte gelegt, die rechte aber mit ausgestrecktem Zeigefinger
^hoben und das Haupt nach dieser Seite leise geneigt, wie bei Einem, der auf
^ne Töne horcht. So war der ganze Körper leicht nach rechts gesenkt. Der
^"e Fuß war vorgestreckt, wie wenn der Lauscher plötzlich den Schritt ge-
^Amt hätte.
^ Ist es die klagende Stimme der Echo, der er so selbstvergessen lauscht?
^se es der Thyasus des Dionysus oder der Gesang und das fröhliche Lachen
^ Nymphen? — Liebliche Töne müssen es sein; denn er hat alles Andere
^Hessen, und seine ganze Seele ruht jetzt in dem Ohr. Die Züge des lieb¬
ten Antlitzes wie die Haltung des reizenden Körpers drücken nur reine
^gelbe an den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit aus. — Dazu sind die
^°rnen so zart und elastisch gebildet, die Oberfläche des Körpers so durch-
Htig, die Linien so graziös geschwungen, so fließend und voller Bewegung,
man fast irre daran wird , daß die Gestalt aus dunkelm Erze gebildet
solle. -
Lange beschauten die beiden Künstler prüfend das Werk von allen Seiten;
^ sie fanden nichts mehr zu ändern und zu bessern.
. „Willst du den Proconsul noch diesen Abend überraschen, Mnesias?"
bgte der Jüngere. „Ich brenne vor Begierde zu wissen, ob er nun besser
°" der Kunst in Pompeji denken und aufhören wird, uns die Herkulanen-
^r- Bildner als unerreichbare Muster zu rühmen."
, »Ich wünschte vor Allem", entgegnete der Andere, „daß er mein Werk
^dig fände, neben der herrlichen Nymphe des Praxiteles zu stehen, die er
aus Ephesus mitgebracht und die er als den Gipfel der Kunst preist, — Auch
die schöne Clodta (hier warf der Sprecher einen schalkhaften Blick auf seinen
Freund), die letzthin mit dem Vater in Kleinasten gewesen, ist dieser Meinung,
und da es darauf ankommt sie umzustimmen, so solltest du statt meiner der
Ueberbringer sein/'
„Damit ihre Spötterzunge deinem Werke einen Makel anhänge, weil sie
glauben wird, es sei das meine!" fiel Hegeststratos schnell ein. „Hat sie
nicht, wie der Alte, behauptet, die pompejanische Kunst gehe immer leihen
bei der griechischen und könne keine selbständige Idee oder Form mehr her'
vorbringen? Hat sie mir nicht, als ich ihr das letzte Schmuckkästchen mit
einem Gedichte brachte, gesagt, der gute Anakreon habe gewiß nicht geahnt,
daß sein Liedchen von der attischen Biene noch einmal auf campanisches
Wachs werde geschrieben werden? — O, spröde Clodia, wir Dichter und
Künstler vom „schilfumsäuselten Sarno" haben nicht nöthig, den Alten etwas
zu entwenden!"
„Gemach, gemach!" fiel Mnestas lächelnd ein; „ich kenne Einen, der dein
alten Clodius noch heute sein reizendstes Besttzthum entwenden würde!
Und auch von den alten großen Meistern müssen wir nachgebornen entlehnen,
mögen wir wollen oder nicht. Meinst du, daß mein Faun geworden wäre,
wenn ich nicht des Praxiteles ambrosische Gestalten gesehen, wenn mir nichts
sein Eros und Dionysos, sein Himeros und Apollon wechselsweise vor
Seele geschwebt hätten?"
„Wohl", entgegnete der Gefragte; „aber dennoch ist dein Faun nicht den>
Praxiteles entlehnt, sondern er ist ein neues Werk deines Geistes, wie wei"
Gedicht aus meinem Geiste war, und weder der alte Clodius, noch seine
stolze Tochter sollen mir diesmal die Alten über die Neuen stellen. ohne
daß ich ihnen wie ein Athener die Wahrheit sage! — Machen wir uns als"
auf den Weg. Er wird gerade beim Abendessen sein und ladet uns vielleicht
noch zu einem Becher Chiers."
„Oder zu einem Spaziergange im Garten, von wo man auf den solle^
der Frauen hinausblicken kann, was noch weit über eine ganze Arnpho^
des besten Chiers geht", fügte Mneflas mit neckendem Gelächter lM"'
„Nun so gehen wir denn. Aber hüte dich zu verrathen, daß das Werk aU^
unserer Werkstatt ist. Ein Freund hat es aus Athen mitgebracht; es starr^
aus des Praxiteles oder Skopas Schule. Wie werden wir über den Alte"
mit ihm selbst und der schönen Clodia lachen, wenn er uns dann wieder
bewiesen haben wird, daß solches Werk nur „die braven seßhaften Alten
fertigen konnten!" .
„Heute zeigen wir ihm", rief mit blitzenden Augen Hegesistratos, n>a
das „wandernde Volk" vermag, und daß die Kunst nicht an Zeit un
Stätte gebunden ist. Ha, das wandernde Künstlervolk wird sich heute über
den Prokonsul Clodius lustig machen!"
Während dieses Gespräches hatte Mnesias seine Statuette auf dem
niedrigen schön geformten Piedestal vollends befestigt und bereitete jetzt breite
Streifen Bastes, um die Figur darin einzuhüllen, während sein Gefährte be¬
gann, die Lichter in der Werkstätte zu löschen.
Nur noch einen flüchtigen Blick konnte ich deshalb auf die zahlreichen
anderen Gegenstände werfen, welche dieselbe erfüllten. Im Hintergrunde
standen hohe Kandelaber mit zahlreichen Armen, deren jeder in anderer
Weise verziert war, ohne daß doch die Harmonie gestört wurde; schöne Drei¬
süße mit allerlei Thierbildern ausgeziert, und bronzene Tische, Sessel und
Lagerpfosten, von zierlichen Ornamenten ganz bedeckt. An der einen Seite
sah man eine Reihe von getriebenen Büsten berühmter Männer, auch andere,
Kelche Porträts von Lebenden zu sein schienen. Darüber hingen an der
Wand die zierlich gearbeiteten kleinen Oellampen-von der gleichen Form, wie
die mehr üblichen thönernen, aber jede in anderer Art mit Geschmack und
künstlerischem Sinne ausgeschmückt, wenn mein schneller Blick sich nicht
buschte. Derselbe künstlerische Geschmack ward auch an den Hausgeräthen
dicht vermißt, die in großer Zahl aus der andern Seite, auf Wandbrettern,
^uf dem Boden und auch noch auf dem Verkaufstisch am Eingange sich be¬
enden. Da sah man gehenkelte Eimer, Töpfe und Schüsseln mit ciselirten
^ante, Becher, Weinkrüge und Kannen der verschiedensten aber stets an-
^uthigen Form, Trinkschalen mit erhabenen Bildern und Rankenverzierungen
Und Spiegel mit eingravirten Zeichnungen. Selbst Beschläge für Thüren,
Lagergestelle und Truhen; Kochmaschinen, Löffel und Teller; große und kleine
Waagen, ärztliche Instrumente, Spielwürfel, Thürgriffe, Schlösser u. s. w.
Alles war mit sinniger Anwendung schöner Formen und Ornamente zu
Kunstwerken gemacht worden. Wohl haben die Künstler Recht, — dachte
^ bet mir — wenn sie auf die Kunst Pompeji's stolz sind, denn sie hat es
Erstanden, an den kleinen Gegenständen des täglichen Gebrauches alle die
^sum Elemente der hellenischen Kunst in den bescheidensten Haushalt
Anzuführen.
Das letzte Licht verlosch in der Werkstätte; die beiden jungen Männer
traten auf die Straße und wendeten sich der Richtung zu, aus der ich her¬
kommen war. Noch kurze Zeit vernahm ich ihr lebhaftes Gespräch; dann
^ar Alles wieder still um mich, so daß ich schneller weiter eilte, um wieder
wichen des Lebens zu begegnen.
Aber bald ward mein Schritt von Neuem gehemmt, und zwar durch
eine Scene, die in der Schweigsamkeit, mit der sie vor sich ging, während
schon die ganze Stadt in die Ruhe des Abends versank und kein Laut
aus der Umgegend hereintönte, einen feierlichen und fesselnden Ein¬
druck machte.
Ein rother Lichtschein leuchtete mir entgegen, als ich in eine breite
gerade Straße einbog, und ich sah eine nicht geringe Gruppe von Personen
schweigend um ein flackerndes Feuer stehen. Dasselbe brannte auf einem am
Straßenrande befindlichen Altar, über und neben welchem auf der Hauswart
Gemälde angebracht waren, wie ich sie schon mehrfach bemerkt, und den ein
kleines Wetterdach überragte. Unten war auf beiden Seiten je eine mächtige
gelbbraune Schlange gebildet, die in großen Windungen sich auf den Altar
zuringelten und die Köpfe züngelnd nach demselben erhoben. Die schuppigen
Hälse und die mit einem rothen Kamm ausgezeichneten Köpfe waren erhaben
gebildet und mit Gold überzogen, das im Scheine des Feuers blitzte. In
der Flamme lag ein vielschuppiger Ptnienzapfen, der knisternd brannte, nebst
zwei Eiern sowie einer Handvoll kleiner Früchte wie Nüsse, Mandeln u. tgi.,
und soeben ward von einem Manne, der mit hinterwärts verhülltem
Haupte vor dem Altar stand, eine Spende dunkeln Weines aus einer ehernen
Schale darüber ausgegossen, so daß die Asche zischend aufflog.
Drei andere Männer in Amtstracht und eine Anzahl anderer Personen
standen in andächtiger Theilnahme in der Nähe, und auch wer sich zufällig
näherte, blieb schweigend stehen. Die Viermänner, welche die Aufsicht über
die Wege und den Straßenverkehr führten, brachten den I-g-rss eomxl-
t,g,1kL, den Schutzgeistern der Straßen, ein Opfer dar. — Die Bilder der Laren
befanden sich oberhalb des Altars gleichfalls in bunten Farben auf die
Wand gemalt: Zwei Jünglinge in kurzer gegürteter Tunika, Stiefel an den
Füßen, das Haupt bekränzt, in der einen Hand den Eimer, in der andern
das Trinkhorn.
Als die Flamme niedergebrannt war, entfernten sich Alle, indem sie
Segensspruche mit einander wechselten, und die Diener der Biermänner trugen
die gesammelte Asche in einem Kruge davon. —
Es war stiller geworden in den Straßen. Nur zuweilen begegnete mir ein
einzelner von der Arbeit heimkehrender Mann, ein eiliger Sklave, der wohl
einen Botengang that, oder eine verhüllte weibliche Gestalt, die flüchtig im
Schatten der Häuser entlang huschte. — Im Innern der Wohnungen war es
belebter. Aus den Fenstern der oberen Stockwerke, die unverschlossen und
vielfach unverschließbar waren, hörte ich muntere Frauenstimmen; auch ließ
sich manches dunkelumrahmte Gesicht an den Oeffnungen sehen. Aus vielen
Häusern auch tönte Gesang und Saitenspiel, ohne daß man in das abge¬
schlossene Innere einen Blick hätte werfen können. —
Ein junger Sklave schritt eilends vor mir her und trat, nachdem er
einen spähenden Blick um sich geworfen, in die schmale Hinterpforte eines
großen Hauses, durch die man in den Garten blicken konnte. Bald darauf
hörte ich Geflüster und vernahm, indem ich Halt machte, um die Sprechen¬
den nicht zu stören, die von einer weiblichen Stimme gesprochenen Worte:
„Warum kamst du gestern nicht, Creseens? Ich habe dich erwartet, bis
Orion hinter der Jupitercella verschwunden ist."
„Erschrick nicht, Antonia", ließ die andere Stimme sich vernehmen, „daß
nicht der Erwartete vor dir steht. Creseens sendet mich, dir zu sagen, daß
er der unglücklichste der Menschen ist, da er weder heute noch morgen dich
zu sehen Hoffnung hat. Der Herr hat ihn gestern im Arbeitszimmer ertappt,
wie er des Theokritos Gedichte las und hat ihn zur Strafe für drei
Tage in die Mühle geschickt, wo der Arme bis Mitternacht den Stein
drehen muß."
„O, der Grausame!" rief das Mädchen fast schluchzend. „Möchte es
doch wahr werden, daß Capella den Creseens an meine Herrin verkauft.
Hier könnte er beim Abschreiben die griechischen Dichter lesen , so viel ihm
beliebt. — Aber sehen will ich ihn doch. Sage ihm, daß er komme, sobald
er die Mühle verlassen; er findet mich im Garten am Lararium. Dank dir,
Fumialus, du hast dich wohl um uns verdient gemacht."
Was weiter gesprochen ward, entging mir, da die Stimmen gedämpft
wurden. Der Zufall wollte, daß ich weitergehend mich bald überzeugen
konnte, daß die Sache sich verhielt, wie der junge Sklave angegeben. Ich ge¬
langte zu einem großen marmorartig bemalten Hause, in dessen unterem Ge¬
schoß sich mehrere Werkräume und Läden zeigten, während das obere Stock¬
werk mit Balkonen und kleinen jetzt hell erleuchteten Glasfenstern versehen
war. Zahlreiche auf die Mauer gemalte Inschriften, in denen sich der Name
des Caecilius Capella wiederholte, gaben mir die Gewißheit, daß ich dessen
Besitzung vor mir habe, und auch den Sklaven Creseens erblickte ich bald,
einen jungen Mann von wenig kräftigem Körperbau und feinen blassen Ge¬
sichtszügen, den die harte Arbeit offenbar aufs Aeußerste anstrengte. In
einem kleinen Hofe, dessen Hintergrund ein Backofen bildete, befanden sich auf
flachen cylinderförmigen Postamenten drei steinerne Mühlen, deren zwei von
je einem Esel, die dritte von dem Sklaven in Bewegung gesetzt wurde, was
bei der Einrichtung der Mühlen nicht ohne starken Kraftaufwand möglich
war. Auf dem Unterbau nämlich befand sich ein Kegel aus Lavastein, über
welchen ein genau anschließender beweglicher Doppeltrichter, gleichfalls aus
Lava, gesetzt war. In die obere Oeffnung war das Getreide eingeschüttet,
das nun langsam abwärts glitt und zwischen der Wand des unteren Hohl¬
kegels und dem feststehenden Steine zermalmt wurde. Der obere Stein hatte
zwei viereckige durchbohrte Ansätze, in welche eine Zugstange eingelassen war,
und an dieser drehte nun, im Kreise schreitend wie die Thiere, der Sklave den
knirschenden Steintrichter, und sein Gewand und Antlitz wurden bestäubt von
dem auffliegenden Mehle. —
Lauter Jubel ertönte vom Ende der Straße her. Mit Laternen und
Fackeln erschien ein Trupp von Sängern, Tänzern und Tänzerinnen, die
letzteren hochaufgeschürzt. alle in bunten Gewändern, Blumen im Haar und
mit Saiten- und Blasinstrumenten versehen, denen sie unter lautem Gelächter
und Stimmengewirr schrille Töne entlockten. Sie zogen vorüber und traten
in ein unfern gelegenes Haus ein, über dessen Thür eine riesige Marke
zwischen zwei bunten Laternen hing, die im Luftzuge schaukelten.
Die Thür hatte sich wieder geschlossen, und ich stand vor der Schwelle,
die Buchstaben betrachtend, welche in bunter Mosaik in das Trottoir ein¬
gelegt waren und sich hell von dem dunkeln Boden abhoben. Sie bildeten
das Wort Ilavs — Sei gegrüßt — und die Eintretenden hatten, es er-
blickend, sich scherzend laut diesen Gruß zugerufen.
Plötzlich fühlte ich mich leicht an der Schulter berührt, und vor mir
stand ein Greis von hoher Gestalt, in eine weiße purpurgesäumte Toga ge¬
hüllt, der zu mir sprach:
„Sei gegrüßt, Fremdling, und tritt ein in mein Haus. Die Penaten
werden dich willkommen heißen an meinem Herde. Aber schweige, denn der
Mund des ägyptischen Knaben ist bereit sich zu öffnen."
Ohne zu wissen, was die letzten Worte zu bedeuten hatten, folgte ich
meinem Führer, der mir auf der Straße voranschritt bis zu einer zweiten
größeren Pforte desselben Hauses, die von zwei mächtigen granitnen Säulen
eingeschlossen und mit ehernen Nägeln dicht beschlagen war. Auf eine leichte
Berührung seinerseits sprang sie auf, und wir standen in einer hellerleuchteten
Hausflur, in deren Fußboden wiederum das Wort Havs zu lesen war,
während an den Wänden seltsame Bilder und Hieroglyphen eingegraben waren.
Auch das Atrium war fast tageshell erleuchtet. Ein bronzener Sessel
stand am Eingange unterhalb einer Wandnische, in der eine rohe thönerne
Figur stand, deren bizarre Formen seltsam mit der übrigen reichen und ge¬
schmackvollen Ausstattung contrastirten.
Durch einen stummen Wink lud der Greis mich ein auf dem Sessel
auszuruhen, während er sich entfernte.
An der anderen Seite des Eingangs stand ein altarförmiger Bau mit
einem zierlich geschweiften Dach, welches von vier Säulen getragen wurde.
Unterbau wie Säulen waren in grellen Farben bemalt, und unter dem
Dache stand ein mit der Vorderseite mir zugewendetes Steinbild, bei dessen
Anblick mir der Sinn der vorher gehörten Worte klar wurde. Es war die
Gestalt des ägyptischen Gottes Harpokrates. der da stand im faltigen Gewände,
mit zusammengeschlossenen Füßen, den rechten Zeigefinger aus dem Munde.
Er schien mich anzuschauen, mit der Aufforderung die Lippen nicht zu öffnen.
Andere ägyptische Götter und phantastische Thiergestalten waren rund
herum am Sockel der Wände gemalt, während die Mittelständen von großen
Landschaften eingenommen wurden, die gleichfalls an das Nilland gemähnten.
Hohe Mauern umschlossen weite mit einfarbigen Gebäuden erfüllte Plätze.
Tempel erhoben sich darin mit mächtigen Pylonen und kurzen dicken Säulen,
zwischen denen steinerne sitzende Figuren gebildet waren. Reihen von Sphinxen
führten zu den Eingängen der Tempel und hundsköpfige Götter bewachten
die Pforten. Palmen und Schilfrohr spiegelten sich in Gewässern, in denen
hochbeinige Vögel herumwateten.
Ein heiserer Laut ließ mich nach der Mitte des Atriums schauen, und
überrascht erblickte ich einen dieser Vögel mit schwarzem Gefieder und rothen
Beinen, der in dem marmornen Wasserbassin stand und aufmerksam um sich
schaute. Breitblättrige Wasserpflanzen mit weißen schwimmenden Blumen
umgaben dasselbe und verdeckten fast den Wasserspiegel, in dem es unsichtbar
rauschte und sprudelte. Vier hohe Säulen von schwarzem glänzendem Stein
standen an den vier Ecken des Jmpluviums, trugen auf glockenförmigen
Kapitalen das marmorne Dach und schienen sich in den dunkeln Sternen¬
himmel hinauf fortzupflanzen. Am oberen Ende des Bassins stand ein
Marmortisch, von geflügelten Sphinxen mit Jungfrauenköpfen und Löwen¬
füßen getragen, und auf demselben ein vergoldetes Bild des Serapis, von
Vasen mit Lotosblumen umgeben.
Die Gemächer, welche auf beiden Seiten des Atriums lagen, waren
durch schwere Vorhänge, in die Blumen und Thiere zwischen mäandrischen
Windungen eingestickt waren, geschlossen. Nur das letzte Zimmer auf jeder
Seite war offen, und hier waren Wände, Decke und Fußboden wiederum mit
Malereien in ägyptischer Weise geschmückt. Im Boden des einen Zimmers
war der Nil gebildet mit schwimmenden Blumen, Wasservögeln, Jchneumonen
und Krokodilen, gegen welche braune Männer mit Speeren einen Kampf be¬
standen; im andern zeigte sich eine Stadt des Nillandes mit niedrigen
Häusern, hohen Tempeln und Pyramiden, Altären und Götterbildern. An
den Wänden sah man Opferscenen im Innern der Tempel, Kämpfe ägyptischer
Krieger gegen schwarzfarbige Feinde, Könige in der Anbetung des heiligen
Stieres Apis und die geheimntßvollen Herrscher der Unterwelt auf ihren
Richterstühlen. — Doch enthielt das eine dieser Gemächer auch einen Schmuck
von ganz anderem Charakter. Im Hintergrunde befand sich ein Schrank
von dunkelm Holze, dessen Thüren weit offen standen, und in welchem mehrere
Reihen von Porträtmahlen aufgestellt waren. Dieselben waren aus Wachs
gefertigt, zeigten sämmtlich die strengen ausdrucksvollen an das catonische
Römerthum erinnernden Züge, welche ich schon an einigen Marmorstatuen
der Straßen bemerkt hatte, und schienen mir in einem gewissen Zuge mit
dem greisen Hausherrn Ähnlichkeit zu haben. Ohne Zweifel war es die
Reihe seiner Ahnen, die er hier in den wohlgeordneten und werthgehaltenen
imaginss aufgestellt hatte. — In der gegenüberliegenden Aula stand an
derselben Stelle eine wohlverschlossene eisenbeschlagene Holzkiste, festgenietet
an einem Block von Travertinstein, der ihr als Postament diente. Es ist
die Schatzkiste, welche die baaren Geldvorräthe wie auch andere Werthsachen
enthält.
Noch ein großes Gemach liegt auf der Rückseite des Atriums, dem Ein¬
gange gerade gegenüber, und es ist mir. als höre ich leise Stimmen darin.
Ich weiß, es ist das Tablinum, das specielle Cabinet des Hausherrn, das dem¬
gemäß am würdigsten ausgestattet zusein, und auch die Dokumente, Schriften
und Lieblingskunstwerke zu enthalten pflegt. Die Vorhänge zwischen den
Frontpfetlern sind ein wenig zurückgeschlagen, aber es herrscht Dunkelheit in
dem Raume, und ich kann nichts als die beiden Marmorstufen des Einganges
erkennen. Noch stehe ich betrachtend davor, als ich wiederum wie vorher eine
Hand auf meiner Schulter fühle und umblickend den Hausherrn erkenne, der
meine Hand ergreift und stumm mich in das Tablinum führt. Hinter dem
ersten Vorhang befindet sich ein zweiter, und als wir diesen durchschritten
haben, stehen wir in einem schwach erleuchteten Gemach, in dem schon mehrere
Männer, anscheinend Gäste, in stummer Erwartung versammelt sind. Mein
Führer deutet auf einen Lehnsessel und verläßt mich ohne ein Wort zu
sprechen.
Die Hintere Seite des Zimmers war gleichfalls durch einen Vorhang
abgeschlossen. Auf schwarzem Grunde waren goldene Sterne gestickt und in
der Mitte ein Todtenkopf gebildet, von einem Pentagramm umgeben. Der
Boden war mit Teppichen bedeckt. Am Sockel der beiden Wände waren in
Mosaik die Gestalten des Horus und der Neith abwechselnd mit Obelisken
und Hieroglyphentafeln angebracht, und in ihrer Mitte befand sich je ein
großes Gemälde, oberhalb deren in zierlichen Gestellen von Ebenholz eine
Menge von beschriebenen Papyrusrollen, um Elfenbeinstäbchen gewickelt, auf¬
gestellt waren.
Das eine der Bilder stellte den Gott des Niles dar, wie er die viel¬
duldende Jo der Göttin Isis zuführt. Unter den Füßen der Göttin lag
ein Krokodil; in der Hand hielt sie die Schlange; ein weißes gürtelloses Ge¬
wand umwallte sie, und auf ihrer Stirn ragte die Lotosblume. Unten saß
Harpokrates, den Zeigefinger auf den Lippen, eine Schlange neben sich, die
aus einem Gefäß sich hervorringelte. Zwei Dienerinnen im Hintergrunde
mit dem Sistrum, dem helltönenden Musikinstrumente des Isisdienstes, voll¬
endeten die Darstellung. — Auf dem andern Bilde sah man die Nilbarke
Und die geheimnißvolle Lade des Horus, sowie den Serapis auf seinem
Throne, die Rechte auf den dreiköpfigen Hund stützend, dessen Hals von einer
Schlange umschlossen war. — Den oberen Theil der Zimmerwände umzog
ein zierlicher vergoldeter Karnies und unter demselben eine Reihe von heiteren
Miniaturdarstellungen, in denen man Amoretten zu Roß und zu Wagen,
Genien mit Jagd und Vogelfang beschäftigt und Pygmäen mit Kranichen
und Schildkröten kämpfen sah. Ueber der Mitte der Hinteren Wand befand
sich ein bronzener Rabe, welcher die Schnüre des Vorhanges in seinem
Schnabel zusammenzuhalten schien.
Meine Augen waren der unterhaltenden Bilderreihe gefolgt und zu dem
schwarzen Vorhange zurückgekehrt, dessen seltsame Verzierung jetzt wie von
rothem Feuer durchglüht erschien. — Plötzlich ertönte ein donnerndes Ge¬
räusch wie von Pauken und zusammengeschlagenen Metalldecken, untermischt
mit Jauchzen und Jubelrufen; der Vorhang riß auseinander, und das
Peristyl des Hauses lag vor meinen Blicken, glänzend erleuchtet durch rothe
Flammen, welche in Metalldecken brannten, und von einer phantastisch ge¬
kleideten Menge erfüllt, die wie in Verzückung jubelnde Rufe ausstieß und
die Blicke nach dem Hintergrunde des Gartens gerichtet hatte.
Der breite Säulengang auf beiden Seiten war vollständig von ihnen
erfüllt. Die Säulen waren mit Lampenschnüren umwunden und zwischen
ihnen hingen die Feuerbecken herab. Der mittlere unbedeckte Gartenraum
War frei gelassen. Aus dem runden Wasserbassin in seiner Mitte stiegen
glitzernde Wasserstrahlen, wie eine Lotusblume geformt, in die Höhe und er¬
gossen einen sprühenden Regen über die Palmen und die Tamariskensträucher,
welche sie umgaben.
Dies Alles überflog ein schneller Blick, der dann im Hintergrunde des
Gartens haftete. Dort blickte man in den Oenus, den säulengeschmückten
Familiensaal, der jetzt durch Draperien und Eheraten in eine Art von Heilig¬
tum umgewandelt war. Zur Linken sah man einen kleinen kapellenartigen
Holzbau mit niedriger Eingangsthür, dessen Wände mit Götterfiguren be¬
walt waren, zur Rechten ein mannshohes ehernes Wasserbecken, in dem es
Wie in einem Strome wallte und rauschte. Jünglinge und Jungfrauen, be¬
kränzt und Sistren in den Händen, knieten auf dem Boden des Gemaches.
Im Hintergrunde war zwischen den beiden Säulenreihen eine Estrade errichtet,
in welcher neun Stufen hinaufführten. Auf derselben stand auf einem altar-
svrmigen Postament ein Bild der Göttin Isis, das man mit glänzendem
Goldschmuck behängt hatte. Das faltige mit langen zottigen Fransen be-
^ste Gewand der Göttin war nicht gegürtet; die Enden waren über die
^use heraufgezogen, so daß das Kleid fest an den Körper anschloß. In der
Achten hielt sie ein Sistrum, in der Linken den Schlüssel der Unterwelt. —
In einer Nische der Wand stand auf einem Basaltblock eine Statue des
Harpokrates, auf's Genaueste derjenigen gleichend, welche ich im Atrium ge¬
sehen, aber mit natürlichen Gewändern bekleidet, so daß man nicht zu er¬
kennen vermochte, aus welchem Stoffe sie bestehe. Vor ihr befand sich ein
kleiner Altar,,von welchem ein Rauch aufstieg, der das Zimmer in leichten
Duft hüllte. Neben dem Altar standen zwei Ibis; ebenso zur Seite der
Tempeltreppe, an deren Fuß zwei Sphinxe lagen. Hinten erhoben Palmen
ihre breitschattenden Häupter, und Schlangen ringelten an ihren Stämmen
sich empor. —
Ein Priester stand vor dem Altare und warf Räucherwerk in die Flamme,
indem er eintönige Worte murmelte. In dem Augenblick, in welchem sich die
Scene mir zuerst gezeigt und der Jubelruf der Versammelten die Stille
unterbrochen hatte, war es mir erschienen, als wenn die erhobene Hand des
Harpokratesbildes sich bewegt und der Finger des Gottes sich von den Lippen
entfernt habe. — Jetzt verstummte das murmelnde Gebet des Priesters; eine
stärkere Rauchwolke wallte von dem Altar auf; Paukenschlag und der Klang
metallener Klappern ertönte, und durch den Lärm hörte man eine dumpfe
Stimme, die von dem Platze des Harpokrates her und zwar von seinen
Lippen, die er wieder von dem Finger befreit hatte, zu kommen schien.
Neues entzücktes Jubelrufen folgte diesem Ereigniß. Zwei Priester,
die bisher zu Seiten des ersteren gekauert hatten, erhoben sich und traten
mit aufgehobenen Händen zu der kleinen Schaar der Jünglinge und Jung¬
frauen vor, welche die geheimnißvollen Weihen empfangen sollten. Die Priester
waren ohne Kopf- und Fußbedeckung. Ihr Haar war geschoren, und ein
weißes schleierartiges Gewand umhüllte sie bis zu den Füßen. In dem einen
erkannte ich ohne Mühe meinen greisen Führer. Er winkte den Neophyten
und trat mit ihnen an das eherne Wasserbecken heran. Jene beugten die
Häupter über den Rand desselben, so daß die langen Haare der Jungfrauen
in das Wasser niederwallten; er schöpfte mit der hohlen Hand von demselben
und goß es, Gebete murmelnd, über dieselben aus, worauf plötzlich das
Wallen und Rauschen in dem Becken aufhörte. Jetzt trat der andere Priester
herzu, dessen Gewand von einer schwarzen Schärpe um Schulter und Leib
umschlossen war, und winkte den Getauften sich umzuwenden. Er schritt
ihnen voraus zu der gegenüber befindlichen Kapelle und berührte mit der ni
sein Kleid gehüllten Hand die niedrige Pforte. Sie sprang mit Krachen
auf; gebückt schritt er hindurch, und die Andern folgten ihm; dann schloß
die Thür sich wieder wie von selbst.
In demselben Augenblick erloschen die Feuer, welche den Garten und das
Tempelgemach erhellten. Nur die Gestalt der Göttin Isis blieb in einem
bläulichen Lichtschimmer sichtbar , aber ein dünner Vorhang trennte sie'von
dem vorderen Raume.
Ein langgezogner Gesang erhob sich, man wußte nicht zu sagen woher.
Auf der mittelsten der neun Stufen stand ein Priester, das Weihrauchfaß
schwingend, zuweilen mit einem Kniefall sich gegen die Göttin umwendend.
Auch die Versammelten lagen theilweise auf den Knieen und stimmten, die
Hände auf die Brust gelegt, in den Gesang ein oder murmelten mit leiser
Stimme Gebete. Die Sichel des Mondes stand gerade über dem Hause und
gab den weißen Gewändern einen geisterhaften Schein.
Plötzlich dröhnten drei starke Schläge von außen an die Hofthüre. Der
Priester trat an die Brüstung des Saales vor, erhob die Rechte nach jener
Richtung und rief:
„Fern sei der Frevel, nahe das Heil! Wer stört die Gnade des gött¬
lichen Kindes?"
Alle die Andächtigen hatten sich erhoben und lauschten gespannt dem
Vorgänge. Die drei Schläge wiederholten sich, und eine mächtige Stimme
antwortete von draußen:
„Fern ist der Frevel, nahe das Heil! — Uns ward die Gnade der gött¬
lichen Mutter!" —
„Fern ist der Frevel, nahe das Heil! — Uns ward die Gnade der gött¬
lichen Mutter", — wiederholte mit lautem Rufe der Priester. In demselben
Augenblick flog die Thür der Kapelle auf, und mit demselben Rufe stürzten
die Neophyten heraus, mit zerrissenen Gewändern und aufgelösten Haaren,
Hilde Begeisterung im Blick und mit den Händen die Brüste schlagend. Der-
selbe Ruf wiederholte sich in der Menge, und hinein mischte sich von neuem
^r betäubende Lärm der Pauken und Becken, der auch von draußen herein-
tönte, und der immer mehr anschwellende Gesang der Verzückten.
Zum dritten Male erschallten die Schläge an der Hinterthür. Dann
in>g dieselbe auf, und man sah die Straße erfüllt von der gleichen festlich
^kleideten Menge, von begeisterten Neophyten, von Priestern und Opfer-
Wienern. Zugleich sank der Vorhang vor dem Bilde der Isis, und die Göttin
^igte sich mit prachtvollem Gewände und Schmuck bekleidet.
Die Priester traten herzu und hoben das Bild herab. Unter Vorantritt
Paukenschlägern und Flötenbläsern wurde es hinausgetragen, und hinter
it?in strömten die Andächtigen auf die Straße hinaus, so daß in einem Nu
^ Garten völlig geleert war.
Auch ich befand mich — ich weiß nicht wie — plötzlich wieder im Freien
^d mitten unter den Festtheilnehmern, die sich gegenseitig umarmten und
^) zu dem Bilde der Göttin drängten, um den Saum ihres Gewandes zu
'üssen oder wenigstens die Gewänder der Priester zu berühren, welche das
Bild trugen. Die Zahl der Hinzugekommenen, unter denen gleichfalls zahl¬
reiche tonsurirte Priester, Opferdiener und Neugeweihte sich befanden, war
noch größer, als die der vorher Versammelten. Jetzt ordnete sich die Menge
einigermaßen, und in Procession zog man die Straße entlang, voran die
lärmende Musik, dahinter die begeisterte Schaar der Geweihten, denen die
Priesterschaft mit dem Bilde der Göttin folgte, und endlich die Menge der
Andächtigen, die wie ein Strom brauste und wogte. Dieselbe vermehrte sich
auf ihrem Zuge unablässig, indem aus allen Gassen und Straßen neue Theil-
nehmer zuströmten. Mehrmals auch machte der Zug vor einer verschlossenen
Hauspforte Halt, der oberste Priester that mit einem Sistrum die drei Schläge
an die Thür, und es wiederholte sich die Scene, welche ich schon gesehen, und
welche neue Genossen herbeiführte.
So gelangte der Zug an das Triumphthor, welches den Zugang zum
Forum von Pompeji bildet. Ueber der Wölbung leuchtete in bläulichen
Flammen eine Hieroglypheninschrift. In den Nischen der Pfeiler standen
Bildsäulen des Horus, wunderbar anzusehen, Schalen in den Händen, aus
denen Wasser in marmorne Becken strömte.
Die Procession zog durch das Thor, und ein Jeder tauchte die Hand in
eins der Bassins, um Stirn, Lippen und Brust mit dem Wasser zu berühren.
Dann schwieg jede Stimme, und lautlos betrat man den weiten mit Stein¬
platten belegten Platz.
Derselbe war völlig leer und still. Im Mondlichte glänzten die weißen
Säulen, die ihn umgaben, und auf den Marmorgebäuden, die rings herum
sich ausdehnten, wechselten scharfe schwarze Schatten mit den silbernen
Lichtflächen.
Ernst und hehr ragte auf seiner Nordseite ein Tempel empor. Der
mächtige Unterbau, er allein schon von doppelter Mannshöhe, trat völlig
aus dem Umkreise des Platzes hervor, so daß das Gebäude von allen Seiten
sichtbar war. Achtzehn Marmorstufen führten von Süden hinaus zu seiner
Vorhalle, die von zwölf hohen korinthischen Säulen gebildet ward, und hinter
welcher die weiß schimmernde Tempelcella lag. — Es war der Tempel des
höchsten Gottes, des Jupiter, der beherrschend über alle andern Tempel und
Prachtgebäude des Forums emporragte, wie wenn der Gott den Platz und
die umliegende Stadt beständig unter seinen Augen und seiner schützenden
Hand haben wolle.
Schweigend umschritt der seltsame Zug das ganze Forum und machte
vor der gewaltigen Treppe des Jupitertempels Halt.
Die Priester, welche das Bild der Isis trugen, sammt den Geweihten schrit¬
ten hinauf. Zwei Opferdiener traten zu dem Altar, welcher in der Mitte
des Treppenplanes stand und entfachten ein Feuer auf demselben. Als es
hoch aufloderte, trat der Oberpriester herzu und goß den Inhalt einer herz¬
förmigen Schale hinein. Eine Dampfsäule stieg auf, und ein rother Licht¬
schein übergoß die ganze phantastische Menge und den weißglänzenden Tempel,
mit dem bleichen Lichte des Mondes sich mischend.
Jetzt hoben die Geweihten, welche zu beiden Seiten des Altars standen,
einen Gesang an. Die Priester und Priesterinnen, letztere in weißen Kleidern
mit dunkeln Ueberwürfen, schritten wieder die Treppe hinab und stellten sich,
zwei Reihen bildend, zur Seite auf den Stufen auf. Auch die Menge am
Fuße der Treppe theilte sich, so daß ein breiter Zwischengang bis zu dem
großen inmitten des Forums stehenden Brandopferaltare des Jupiter frei
blieb, und aus der Tiefe herauf schritt, während hinter ihm gleichfalls eine
Opferflamme aufloderte, ein in ein violettes und weißes Kleid gehüllter
Priester auf den Tempel zu. Seine Hände waren in das Gewand geborgen.
An die Brust gedrückt hielt er in ihnen ein verschlossenes Metallgefäß in
Form einer cylindrischen Büchse, auf das er unverwandt die Augen heftete.
Ihn begleiteten Priesterinnen, in der rechten Hand das Sistrum, in der
Linken einen ehernen Eimer haltend; Männer und Frauen mit Tymvanen,
Flötenbläser und Mädchen mit metallenen Becken. Ein Schwertträger
von schwarzer Hautfarbe, bis zum Gürtel unbekleidet, machte den Beschluß.
An den Fuß der Freitreppe gelangt, blieb die gesammte Begleitung
dort stehen; nur der Priester schritt hinauf zu dem Altar. Er hielt das
Gefäß mit den verhüllten Händen in die Flamme — die Flamme erlosch.
Dann wendete er sich wieder zu der versammelten Menge um, trat in die
Mitte der Treppe und hob das unversehrte Gefäß hoch empor. In diesem
Augenblick sprangen die Thürflügel des Tempels auf, und man sah im
Hintergrunde der dunkeln Cella die riesige marmorne Statue des höchsten
Gottes.
Wie ein zurückgehaltener Sturm brach jetzt der Freudenruf der An¬
dächtigen wieder los. Die Flöten. Tympanen und rasselnden Becken ertönten,
die Sistren schlugen klappernd an einander, die neugeweihten erhoben, um
den Altar knieend, einen begeisterten Gesang, und die Menge begann in
Verzückung einen Tanz, der mit dem Getöse der Instrumente immer wilder
und verwirrender wurde, und machte Miene in voller Aufregung die Stufen
hinaufzustürmen. Aber auf der ersten derselben stand der schwarze Hüter
mit dem langen bloßen Schwert, und wer sich ihm genaht hatte, fuhr scheu
wieder zurück.
Jetzt erhoben die Priester das Bild der Isis und trugen es langsam
dem Eingange des Allerheiligsten entgegen. Der Priester mit dem heiligen
Gesäße folgte, und ihm schlössen die neugeweihten sich an, während der Ober¬
priester in der Vorhalle stehen blieb.
Jene überschritten die Schwelle der Cella, und man sah, wie das Bild
der Isis sich schwebend vor der Jupiterstatue erhob, so daß sie diese ver¬
deckte. Zugleich erdröhnte ein erschütternder Schlag, und die noch im rasenden
Tanze begriffenen Frommen lagen auf den Knieen, mit der Stirn den Boden
berührend. Der Oberpriester trat an den Rand der Treppe vor. streckte das
Sistrum mit der Rechten weit vor und rief mit einer über den ganzen Platz
vernehmlichen Stimme:
„Die Stunde ist vorüber; die Heilige entläßt den Lichtwandelnden; eilet
von hinnen!"
In einem Augenblick waren die Knieenden sämmtlich aufgesprungen und
zerstoben nach allen Seiten über das Forum. Ein dichter Rauch hüllte die
Treppe und die Vorhalle ein, aus dem nur das geschwungene Schwert des
Schwarzen hervorblitzte. Das Licht erlosch. Donnernd schlugen die Thüren
des Tempels zu, und als ich um mich schaute, war der Platz völlig geleert.
Ein leichter Nebel schwebte, seltsame Gestalten bildend, vor den Gebäuden
und Säulen, den Thorbogen und den hohen Postamenten. Ich schritt die
Treppe des Tempels hinauf zu der Vorhalle; auch sie war leer. Die Cella
stand offen und unbedacht, ihre Mauern waren ohne Bekleidung und Schmuck,
die Säulen verwittert, zum Theil gestürzt und gebrochen.
Ich wandte mich um und schritt über das Forum. Es war, wie ich es
oft gesehen, groß und gewaltig, aber in Trümmern, öde und einsam. Die
Säulen lagen am Boden, die Wände der Prachtgebäude waren nackt und
grau; von Bogen und Treppen fehlte die schimmernde Bekleidung. Der
Mond stand hoch darüber und übergoß Alles mit magischem Schimmer. —
Er leuchtete mir, als ich durch Straßen, ebenso einsam und trümmevhaft,
zum Thore zurückkehrte. Kein wachhaltender Krieger stand mehr dort; kein
Thorflügel schloß das weite Gewölbe, und zertrümmert lagen zu beiden
Seiten, von Erdreich bedeckt und von Gestrüpp überwachsen, die schwarzgrauen
Quadern der uralten Mauer. —
Noch oft bin ich an sonnigen Abenden und in Mondnächten nach Pom¬
peji gewandert, aber ich habe das alte Leben in den Straßen der Römerstadt
nicht mehr aufleben sehen.
Am 7. November d. I. wird die diesjährige Präsidentenwahl in den
Vereinigten Staaten entschieden werden. Nach allen Nachrichten, die in
jüngster Zeit über den Ocean zu uns gekommen sind, ist der Wahlkampf
ein äußerst hartnäckiger, zum Theil erbitterter. Die demokratische Partei giebt
sich die größte Mühe, sämmtliche Südstaaten, d. h, die früheren Sklaven¬
staaten, für sich zu gewinnen. Zu dem Ende werden die alten Leidenschaften,
die in früheren Zeiten den Norden und Süden der Union gegen einander
hetzten, von Neuem wieder angefacht, wenn auch in etwas veränderter Gestalt.
Ein Rundschreiben, welches durch die Anhänger der demokratischen Präsident¬
schaftskandidaten . Tilden und Hendricks, an die Führer der südlichen De¬
mokraten kürzlich erlassen worden ist, wirft ein eigenthümliches Licht auf die
demokratische Partei. Bekanntlich hat die Unionsregierung energische Ma߬
regeln getroffen, um das bedrohte Wahlrecht in den Südstaaten zu schützen,
nöthigenfalls mit gewaffneter Hand. Dem gegenüber heißt es nun in dem
besagten Rundschreiben: „Jeder südliche Staat muß auf jede Gefahr hin
(g.t, nit Jm.xuräs) für die demokratischen Präsidentschaftskandidaten gewonnen
werden. Es giebt nicht Bundestruppen genug, um alle Wahlurnen im
Süden zu bewachen. Der Preis, um den es sich am Dienstag, 7. November,
handelt, ist der Besitz der Regierung, und dieser Preis kann errungen
werden. Aber es dürfen vorher keine unvorsichtigen Reden geführt
werden (dut, ein;r« must, d<z ne> looss tlM bötor<z1in,mal). Gebt uns ein ge¬
schlossenes südliches Votum »olla Lmitw'rü volo) unter allen Um¬
ständen, und Alles wird gut gehen. Ohne ein solches Votum ist unsere
Aussicht auf Sieg dahin und unser Erfolg mehr als zweifelhaft."
Aus diesen Worten geht ziemlich deutlich hervor, daß die demokratische
Partei kein Mittel, mag es gesetzmäßig sein oder nicht, scheut, um die Re¬
publikaner in der diesjährigen Nationalwahl zu besiegen, nur soll dabei mit
gehörigen Vorsicht zu Werke gegangen werden. Auch ist in dem Rund¬
schreiben von „Reform" nicht die Rede; „der Besitz der Regierung" wird
offen als das Ziel hingestellt, wonach die Demokraten streben. Wenn dies
Ziel erreicht ist, scheint es mit den in öffentlichen Reden so heilig versprochenen
Reformen nicht viel auf sich zu haben.
Die Aufforderung aber, „auf jede Gefahr hin" in den Südstaaten die
demokratischen Kandidaten zu erwählen, hat bereits ihre Früchte getragen.
Die in Aussicht gestellte Befriedigung der lange gehegten Begierde, wieder
einmal die Zügel der Herrschaft zu erfassen, siegreich in's „weiße Haus" ein-
zuziehen und, nach dem von Demokraten erfundenen Grundsatz, daß den
Siegern die Beute gehört, Besitz von den fetten Bundesämtern zu nehmen,
die so lange von den Republikanern verwaltet wurden. — diese verlockende
Aussicht hat an vielen Orten des Südens die Demokraten verführt, die ihnen
angerathene Vorsicht zu vergessen, die Maske des Friedens abzuwerfen und
das alte beliebte Mobregiment, wie es in den Zeiten der Sklaveret im
Schwunge war, von Neuem einzuführen. Amerikanische Blätter bringen fast
täglich ausführliche Berichte über gesetzwidrige Einschüchterungen und Gewalt¬
thaten, womit die südlichen Demokraten die Freiheit der Rede und das freie
Stimmrecht gefährden.
Unterdessen haben die Staatswahlen in den Einzelstaaten Jndiana
und Ohio stattgefunden, welche für die kommende National Wahl von
höchster Bedeutung sind. In Jndiana trugen die Demokraten, in Ohio die
Republikaner den Sieg davon; so meldete der Telegraph. Ausführlichere
Nachrichten liegen über diese Wahlen noch nicht vor. Sehr gespannt darf
man auf den Ausfall der demnächst bevorstehenden Staatswahl in New-Nork.
dem bevölkertsten Staate der Union, sein. Die Partei, welche in New-Nork
die Majorität erlangt, hat unter den obwaltenden Umständen alle Chancen
des Sieges in der Nationalwahl für sich. Der erfolgreiche Präsidentschafts¬
kandidat muß 185 Elektoralstimmen für sich haben. Die 16 Südstaaten
(West-Virginien mit eingeschlossen) haben 138 dieser Stimmen. Wenn nun
die Demokraten den ganzen Süden für sich gewonnen, so bedürften sie, um
in der Präsidentenwahl zu siegen, im Norden der Union nur in so vielen
Staaten des Sieges, daß sie 47 Stimmen zu den genannten 138 hinzuge¬
wönnen. Und nach dem oben erwähnten Rundschreiben hoffen sie in der
That, in den drei Pacific-Staaten die Majorität zu erringen und damit die
6 Stimmen von Californien und die je 3 Stimmen in Nevada und Oregon
zu erhalten. Im Osten der Union aber rechnen sie auf Connecticut mit 6,
auf New-Jersey mit 9 und auf New-Nork mit 35 Stimmen, so daß sie in
den südlichen, in den östlichen und in den Pacific-Staaten zusammen 200
Stimmen, mithin 15 Stimmen mehr, als zur Wahl nothwendig sind, erhalten.
Es fragt sich nun aber sehr, ob diese Rechnung richtig ist. Zunächst darf
bezweifelt werden, daß sie im ganzen Süden der Union siegreich sein werden;
sehr wahrscheinlich stimmen Süd-Carolina und Florida, vielleicht auch Louisiana,
für die republikanischen Präsidentschaftskandidaten Hayes und Wheeler.
New-Nork und Californien sind mindestens sehr zweifelhaft; die republikanische
Partei hat in beiden Staaten oft genug den Sieg davon getragen.*)
Sehr komisch ist es, wenn konservative Blätter in Deutschland die Par¬
tei der Nationalliberalen mit der republikanischen Partei in den Vereinigten
Staaten vergleichen, weil beide ausgezeichnet organisirt, aber auch äußerst
gewissenlos seien. Allerdings besteht eine gewisse Aehnlichkeit zwischen den
genannten Parteien, ebenso wie zwischen den Demokraten in Amerika und
den Ultra-Conservativen und Orthodoxen in Deutschland. Die Republikaner
sind die entschiedensten und treuesten Freunde der Union, sie bekämpfen alle
secessionistischen Gelüste, welche die Einheit der Union gefährden; die Demo¬
kraten aber zählen nicht nur alle Secessionisten, alle Feinde der Union zu
ihren Freunden und Anhängern, sondern auch die Ultramontanen. Es ist
deshalb einfach lächerlich, die Demokraten weniger gewissenlos zu nennen,
als die Republikaner. Wohl aber erklärt sich die Sympathie unserer Con-
servativen für die amerikanischen Demokraten. Beide begünstigen den Par¬
tikularismus, beide hassen den Kulturkampf und verbünden sich im Nothfall
Wit den Ultramontanen, die ebenso wenig die Union lieben, wie ein einiges
Und freies Deutschland.
Kürzlich wies die einflußreiche und vielgelesene „New-LorK Iridune"
auf die Thatsache hin, daß die demokratische Partei seit den Zeiten der süd¬
lichen Rebellion die Deutschen gründlich hasse, denn die ,,«Zg.an<za Outeli"
kämpften in ihrer überwiegenden Mehrheit für die Erhaltung der Union
Und gegen die demokratischen Secessionisten. Die „?ribuuk" erinnerte ferner
daran, daß während des Secessionskrieges die Sympathien der deutschen
Nation in Europa für den republikanischen Norden und für die Erhaltung
der Union gewesen seien, während Frankreich und England die demokratische
Rebellion begünstigte; ebenso gedenkt sie des Umstands, daß die republikanische
wartet in ihrer großen Mehrheit während des deutsch-französischen Krieges
auf Seiten Deutschlands stand und die Wiedererstehung des deutschen
Reiches mit Jubel begrüßte, während die demokratische Partei Frankreich den
^>eg wünschte.
In jüngster Zeit müssen übrigens die Zustände in manchen Südstaaten
Union wirklich sehr beklagenswerth gewesen sein. Nicht genug, daß der
Parteifanatismus der südlichen Demokraten das Gesetz mit Füßen trat und
^n Mobregiment, wie im Jahre 1860. in's Leben rief, noch ein schrecklicherer
Umstand trat hinzu — das gelbe Fieber ist mit einer furchtbaren Wuth
Un Süden ausgebrochen und, wie amerikanische Blätter von Ende September
"Ad Anfangs Oktober melden, nahm diese Seuche um jene Zeit in verheeren-
Weise zu. In Savannah z. B. waren mehr als 2000 Menschen davon
^faßt. in Brunswick im Staate Georgia nicht weniger als 600. Die meiste
Hoffnung auf Rettung setzte man auf das baldige Eintreten der kühleren
Jahreszeit. Ein schöner Zug aber zeigte sich bei dieser Gelegenheit,
^e republikanischen Blätter, welche mit Erbitterung die demokratischen
Südländer bekämpften, appellirten einstimmig an das Humanitätsgefühl des
republikanischen Nordens und Ostens und forderten ihre Parteigenossen ein
dringlich auf, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln den Leidenden und
Kranken im Süden zur Hülfe zu eilen. Solche Züge echter Menschlichkeit
versöhnen mit manchen Auswüchsen des amerikanischen Parteilebens.
In den Sitzungen vom 3. und 7. November hat der Reichstag sich
schlüssig gemacht über die Behandlung der Reichsjustizgesetze, der wichtigsten
Aufgabe der diesmaligen Session. Diese Gesetze, bestehend in einem Gesetz
über die Normen der Gerichtsverfassung, einer Civil-Prozeßordnung, einer
Strafprozeßordnung und einer Concursordnung wurden am 24. November
1874 seitens der Bundesregierungen dem Reichstag vorgelegt. Am 25. No¬
vember 1874 beschloß der Reichstag, die drei ersten dieser Gesetzentwürfe einer
Commission von 28 Mitgliedern zur Vorberathung zu überweisen. Durch
ein Reichsgesetz vom 23. Dezember desselben Jahres wurde diese Commission
ermächtigt, ihre Arbeiten über die laufende Session hinaus fortzusetzen. Jo
Herbst 187S, als der Reichstag wieder zusammentrat, hatte indeß die Com¬
mission ihr Werk noch nicht vollenden können. Das Mandat derselben
wurde daher vom Reichstag sofort erneuert. Da indeß vorauszusehen war,
daß die Zeit zur Vollendung des Werkes während der Reichstagsession sich
nicht finden könne, so wurde der Commission durch ein weiteres Reichsgesetz
vom 1. Februar 1876 abermals die Befugniß ertheilt, ihre Arbeit über die
laufende Session hinaus zu erstrecken. Jetzt liegt diese Arbeit vollendet vor
in den Abänderungsvorschlägen, welche die Commission zu jedem der drei
Gesetzentwürfe beschlossen hat. Zur Begründung der Abänderungsvorschläge
wird jeder der Gesetzentwürfe durch einen besonderen Bericht eingeleitet.
Der Bericht zu dem Gesetzentwurf über die Gerichtsverfassung ist von den
Commissionsmitgliedern Miquel und Hauck erstattet. Diesem Bericht geht
auch der Bericht über die Thätigkeit der Commission im Allgemeinen voran-
Der Bericht über die Civilprozeßordnung ist von den Commissionsmitgliedern
Becker und v. Forcade de Biaix erstattet; der Bericht über die Strafprozeß'
ordnung von den Commissionsmitgliedern Dr. v. Schwarze und Klotz.
Vorberathung der Concursordnung war eine besondere Commission gewählt
Worden, welche durch den Abgeordneten v. Vahl mündlichen Bericht erstattet
hat, so daß von Seiten dieser Commission nur die Abänderungsbeschlüsse zur
Coneursordnung vorliegen.
Der Reichstag wäre demnach in der Lage gewesen, auf Grund der vor¬
liegenden Commissionsarbeiten sofort in die zweite Berathung der Justiz¬
gesetze einzutreten. Der Präsident des Reichstages erklärte indeß als noth¬
wendig, für die laufende Session wiederum eine Justizcommission zu bilden
Zur vorbereitenden Ausgleichung der Differenzen zwischen den Beschlüssen der
bisherigen Commission einerseits und den Wünschen des Bundesraths andrer¬
seits. Es hatte nämlich die Commission das Ergebniß ihrer Arbeiten dem
Bundesrat!) bereits Mitte des vergangenen Sommers vorgelegt. Der
Bundesrath hatte die Commissionsarbeiten seinem Justizausschuß überwiesen,
und zu den Anträgen dieses letzteren kamen die Anträge einzelner Bundes¬
regierungen, aus welchen beiden Reihen von Anträgen der Bundesrath nun¬
wehr ein Ganzes zu machen hatte, um dasselbe vor dem Reichstag gegenüber
der Commission zu behaupten. Es war vielfach der Erwartung Ausdruck
gegeben worden, es möge dem Bundesrath gelingen, vor dem Eintritt des
Reichstags in die zweite Lesung der Justizgesetze ein völliges Einvernehmen
wie der Commission herbeizuführen, dessen Ergebniß der Reichstag alsdann
Wohl unverändert gut geheißen haben würde. Allein um diesen Punkt zu
^reichen, hatte die Zeit bis zum Zusammentritt des Reichstags nicht aus¬
gereicht. Als nun am 3. November der Präsident des Reichstags die
Bildung einer Justizcommission für die laufende Session vorschlug, wurde
aus dem Reichstag sogleich der Wunsch laut, einerseits das Mandat der
bisherigen Commission zu erneuern, andrerseits eine Zusammenstellung der
bon Bundesrath gegenüber den Commissionsbeschlüssen behaupteten Ab¬
weichungen zu erhalten. Diese Zusammenstellung sollte dann der Commission
Basis eines Ausgleichungsversuches dienen, welchen sie zwischen ihren
^gelten Beschlüssen und denen des Bundesrathes dem Reichstag vor dem
Eintritt in die zweite Berathung vorzulegen hätte. Dieses Verfahren konnte
^deß nicht eingeschlagen werden ohne die Zustimmung der Bundesregierungen.
Denn die letzteren waren nicht verpflichtet, ihre Abweichungen von den Com-
Wissionsbeschlüssen anders darzulegen, als im Laufe der paragraphenweisen
Durchberathung der einzelnen Gesetze. Der Bundesbevollmächtigte und
preußische Justizminister Dr. Leonhardt sagte indeß die vorläufige Mittheilung
gesammten Abweichungen des Bundesrathes zu, wobei er bemerkte, daß
^«sichtlich der Coneursordnung die Regierungen sich im völligen Einver¬
nehmen mit den Beschlüssen der betreffenden Commission befänden. Hinsichtlich
ber übrigen Gesetze bemerkte der Bundesbevollmächtigte, daß die Regierungen
zwar bereit seien, den Wünschen des Reichstags durch die vorläufige Mit-
theilung aller Abweichungen zu entsprechen, jedoch mit dem zweifachen Vor¬
behalt, daß einmal aus diesem für die parlamentarische Action der Bundes¬
regierungen nicht günstigen Verfahren kein Präeedens hergeleitet werde für
künftige ähnliche Fälle, und daß zweitens sowohl für die Gesammtheit der
Bundesregierungen als für jede einzelne derselben das Recht unbeschränkt
bleibe, bei der zweiten und dritten Lesung ihre Bedenken gegen einzelne
Punkte geltend zu machen, gleichviel ob diese Punkte schon in der vorläufigen
Gesammtübersicht beanstandet worden, oder nicht.
Am 7. November nun stand die geschäftliche Behandlung der Justiz¬
gesetze bei der zweiten Berathung als besonderer Gegenstand auf der Tages¬
ordnung, während am 3. November nur gelegentlich, aus Anlaß der zu
bildenden besonderen Commissionen davon die Rede gewesen. Der Abgeord¬
nete Miquel schlug namens der Justizcommission vor, eine Anzahl Punkte
aus den Gesetzentwürfen als nicht geeignet für eine weitere Behandlung
durch die Commission sofort zur Berathung im Plenum zu bestimmen.
Nach einer kurzen Verhandlung fand dieser Antrag indeß nicht die Zustim¬
mung des Reichstags. Statt dessen wurde beschlossen, alle Anträge des
Bundesrathes an die Commission zu verweisen, dieselbe jedoch gleichzeitig
zu ermächtigen, diejenigen Differenzpunkte, zu denen sie neue Erledigungsvor¬
schläge nicht glaubte aufsuchen zu sollen, ohne nochmalige Berathung sofort
dem Plenum vorzulegen. Die Commission glaubt nach den seitdem ange¬
stellten Erwägungen, ihre neue Ausgleichungs- und bezw. Nichtausgleichungs-
arbeit soweit beschleunigen zu können, daß der Reichstag am 16. November
in die zweite Lesung einzutreten im Stande ist.
Neben dem Interesse an dem großen Werke der Justizgesetze verschwinden
alle anderen Gegenstände der diesmaligen Reichstagsarbeit. Am 3. November
begann die erste Berathung des Reichshaushalts für die Zeit vom 1. Januar
bis 31. März 1877. Die Feststellung eines Haushaltplanes, der nur drei
Monate umfaßt, ist bekanntlich zur Nothwendigkeit geworden, weil das
Haushaltsjahr künftig mit dem 1. April beginnt und weil mit dieser Jahres-
eintheilung am 1. April 1877 der Anfang gemacht wird. Der erste Haus¬
haltsplan nach der neuen Eintheilung wird von dem neu zu wählenden
Reichstag in seiner ersten Session zu Anfang des Jahres 1877 festgestellt
werden. — Daß die Haushaltsberathungen zum Tummelplatz unberufener
Kritik gemacht werden, die sich ohne Zusammenhang an alles mögliche und
unmögliche heftet, ist eine eingebürgerte Gewohnheit der meisten Parlamente.
Nach den derzeitigen Parteiverhältnissen des deutschen Reichstages sind es
die Ultramontanen, welche sich aus diesem Tummelplatz hervorthun. Es wäre
jedoch ohne Nutzen, an dieser Stelle allen guten und schlechten Scherzen,
allen scheinbaren und unscheinbaren Quängeleien, man verzeihe den Ausdruck
einer Opposition yuanä mLms zu folgen. — Am 6. November wurde ein
Gesetzentwurf über die Untersuchung von Seeunfällen vorgelegt, der einer
Commission von 14 Mitgliedern überwiesen ward. — Die Haushaltsberathung
gelangte zu den Ausgaben des Auswärtigen Amtes, wobei die Ultramontanen
einen mißglückter Versuch machten, die Haltung der deutschen Politik in der
schwebenden Orient-Krisis irgend wie zu verdächtigen oder zu compromittiren
oder die Leiter derselben auf's Glatteis zu locken. Genau wußten die Herren
Wohl selbst nicht, was herauskommen könne, aber sie hofften, es werde etwas
der Leitung der deutschen Politik Unangenehmes oder Schädliches heraus¬
kommen. Aber es kam Nichts heraus, oder vielmehr, es kam etwas für die
Ultramontanen Unangenehmes heraus, nämlich ein Vertrauensvotum für die
Leitung der auswärtigen Angelegenheiten des deutschen Reiches. —
Am 7. November gelangte die Haushaltsberathung zu den Ausgaben
des Reichskanzleramtes. Seitdem dieses Amt gleichzeitig mit dem norddeut¬
schen Bund gegründet worden, sind bereits eine ganze Anzahl selbständiger
Reichsverwaltungszweige aus dem Anfangs einzigen Amt herausgewachsen.
Zuerst das Auswärtige Amt, diesem sind gefolgt: das Marineamt, das Eisen¬
bahnamt, das Generalpostamt. Immer noch vereinigte das Kanzleramt eine
Reihe verschiedener Zweige der inneren Reichsverwaltung. Das ging jedoch
nur an, so lange Delbrück mit seiner das gewöhnliche Maß weit übersteigen¬
den Arbeitskraft und mit seiner ebenso ungewöhnlichen administrativen Viel¬
seitigkeit dem Reichskanzleramt prästdirte. Allein auch Delbrück konnte zuletzt
nicht mehr durchkommen, und dieser Umstand, verbunden mit dem natür¬
lichen Unbehagen an einer Arbeitstheilung mag ein Hauptgrund seines Rück¬
tritts gewesen sein. Für den Nachfolger Delbrücks war die wettere Theilung
des Kanzleramtes die Vorbedingung zum Antritt der Führung desselben. Es
werden daher jetzt aus dem Reichskanzleramt ausgeschieden: das Amt für
Elsaß-Lothringen, welches als eigenes Reichsamt unter dem Kanzler einen
Unterstaatssekretär erhält, und das Justizamt, welches zum Leiter einen
Staatssekretär erhält, ohne darum dem Kanzler weniger untergeordnet zu
sein. Das Reichskanzleramt umfaßt nun nur noch eine Centralabtheilung und
eine Finanzabtheilung. Der oberste Chef ist der Kanzler, unter diesem der
Präsident, unter diesem ein Unterstaatssekretär, welcher zugleich SpezialVor¬
stand oder Direktor der Centralabtheilung ist; an die Spitze der Finanzab¬
theilung tritt ein Direktor. Vielerseits hat man befremdete Augen zu dieser
Eintheilung der Reichsverwaltung und ihren verschiedenen Rangstufen gemacht.
Die Zweckmäßigkeit liegt aber doch wahrlich nicht tief verborgen. Ich halte
sonst viel von der Schablone, auf die alle Welt schimpft. Allein hier die
Schablone eines sogenannten konstitutionellen, collegialischen Reichsministeriums
auf die Bedürfnisse der Reichsverwaltung anzuwenden, wäre offenbar die helle
Thorheit gewesen. Man braucht eine besondere Verwaltung für Elsaß-Loth¬
ringen, weil dieses Reichsland von Reichswegen verwaltet werden muß. Aber
diese Verwaltung ist nicht umfangreich und in die gesammte innere Reichs¬
verwaltung nicht eingreifend genug, um ein Ministerium daraus zu machen.
Man begnügt sich höchst verständigerweise mit einem Unterstaatssekretär als
Vorstand dieser Verwaltung. Die Vorstände des Auswärtigen Amtes, des
Marineamtes, des Postamtes, des Eisenbahnamtes, des Justizamtes und des
Reichskanzleramtes haben verschiedene Titel; zwei heißen Staatssekretäre, einer
heißt Admiralitätsches, einer Generalpostmeister, zwei heißen Präsidenten. Dies
sind aber alles Ministerstellungen und dem Range nach als solche gekenn¬
zeichnet, auch sind der Präsident des Reichskanzleramtes und der Staats¬
sekretär des Auswärtigen Amtes in diesem Sommer zu preußischen Staats¬
ministern mit Sitz und Stimme im Gesammtministerium ernannt worden.
Welche Ausstellung läßt sich nun verständigerweise an der jetzigen Organi¬
sation des Reichsdienstes machen? Man wundert sich, daß das Reichsamt
für Elsaß-Lothringen in seinem Vorstand mit keinem höheren Rang bedacht
worden; wir haben den durchaus einleuchtenden Grund schon angegeben.
Man wundert sich, daß die Finanzabtheilung des Reichskanzleramtes noch
nicht als selbständiges Neichsamt mit einem Staatssekretär oder Minister
organisirt worden. Es liegt aber wirklich nicht fern zu vermuthen, daß,
wenn der Kanzler die innere Reichspolittk fest in der Hand behalten will,
er vor Allem Chef der Finanzverwaltung bleiben muß. Die Uebelstände
der Trennung oder vielmehr der ebenbürtigen Stellung der Finanzverwaltung
neben der Centralstelle hat der Reichskanzler als preußischer Ministerpräsident
auf das Peinlichste durchkosten müssen. Weil 1866 der Finanzminister v.
Bodelschwingh den Krieg mit Oesterreich nicht wollte, hat der Staat Millionen
verlieren müssen, und dieser Verlust war noch als das blaue Auge zu be¬
trachten, mit welchem der Staat davon kam. Später bereitete dem Minister¬
präsidenten die Schwerfälligkeit des Ftnanzministers v. d. Heydt bei dem
besten Willen des Letzteren große Ungelegenheiten, und man kann ohne
eingeweiht zu sein, vermuthen, daß auch das jetzige Verhältniß in Preußen
nicht ohne Schwierigkeit ist. Der Kanzler wird daher sehr gut wissen, warum
er keinen Minister oder Staatssekretär der Reichsfinanzen als Vorstand einer
selbständigen Verwaltung haben will. In schöpferischen Perioden des Staats¬
lebens muß der Finanzminister Ministerpräsident oder der Ministerpräsident
Finanzminister sein, wie es Cavour in der Epoche der Schöpfung des italieni¬
schen Staates war. Sonst können die Dinge entweder gar nicht vorwärts
gehen oder mit kostspieligen Hindernissen. Die collegialischen Ministerien
passen nur für träge, fertige Zustände.
Im deutschen Reich kommt nun noch eine ganz besondere Schwierig¬
keit zu den allgemeinen Uebelständen der collegialischen Ministerverfassung.
Diese Schwierigkeit ist früher hier schon ausgeführt worden, und es ist er¬
freulich, daß man allgemein jetzt anfängt dahinter zu kommen. Auf dem
Reichskanzler liegt als Vorsitzenden des Bundesrathes die Riesenaufgabe, aus
dem Collegium des Bundesrathes eine ^im Handeln continuirliche Einheit zu
machen. Das Reich würde bald in tausend Stücken gehen, wenn der Bun¬
desrath heute mit Stimmenmehrheit einen Beschluß faßte und morgen einen
zweiten, der zum ersten wie die Faust auf's Auge paßte. Es übersteigt aber
die Kräfte selbst desjenigen Mannes, der hundertfache Männerkraft in seinem
Geist vereinigt, den Bundesrath unter Einen Hut zu bringen und nachher
noch einmal ein collegialisches Ministerium, in jedem Collegium die Stetig¬
keit und in beiden die Harmonie zu erhalten und dann auch noch den Reichs¬
tag nachzuziehen. Wer die unzweckmäßige Liebhaberei für collegialische Mi¬
nisterien hat, muß erst den Bundesrath beseitigen, d, h. aus dem deutschen
Reiche einen Einheitstaat machen. Nun kann Jemand den Einheitstaat
auf das Lebhafteste ersehnen und doch verständig genug sein, die loyale Be¬
obachtung der Reichsverfassung für ^das höchste Gebot der deutschen Politik
zu halten. Wer so verständig denkt, der kann das Drängen auf das collegia¬
lische Reichsministerium, das heißt nach dem treffenden Wort des Fürsten
Bismarck: das Hineintragen des Bundesraths in das Ministerium, dadurch,
daß die Reichsverwaltungszweige in coordinirte Bundesstaaten verwandelt
werden, nur für den Gipfel des Unverstandes erkennen.
Am 7. November waren es die Ultramontanen, welche das collegialische Reichs-
winisterium verlangten, die Ultramontanen, welche nach der erst kürzlich erneuer¬
ten Erklärung ihres Führers Windthorst diejenige Fraction sind, die sich die Er¬
haltung der Einzelstaaten zum Ziele gesetzt hat! War dies nun Kurzsichtig¬
st, Heuchelei oder einfach das Bedürfniß, Lärm und Aufenthalt zu verursachen,
ohne die Lärmparole weiter als für den einmaligen Lärm benutzen zu wollen?
Die Herren vom Centrum wissen das vielleicht selbst nicht, oder sie denken
auch Einer anders über die Sache als der Andere. Sehr löblich aber war
°s, daß die Fortschrittspartei diesmal ausdrücklich ablehnte, auf den ultra-
wontanen Leim zu gehen. Herr Richter-Hagen meinte: durch die Beanstand¬
ung der betreffenden Ausgaben für den Retchsverwaltungsdienst wären die
verantwortlichen Ministerien doch nicht zu erlangen, die Fortschrittspartet
hüte sich vor solcher Beanstandung, weil das von der Neichsregierung adop-
tirte System bereits am Rande des Bankerotts stehe. Das war wohl nur
kräftiger Ausdruck zur Deckung des Rückzugs. Wir wären begierig, den
Nachweis des Bankerotts aus dem Munde des Herrn Richter zu vernehmen.
Der Abgeordnete Bamberger gab seiner Sympathie für den Einheitsstaat
ziemlich ungenirter Ausdruck, was wir ihm nicht verargen, ohne irgend
einen Nutzen davon einzusehen.
Die Klagen elsässischer Ultramontanen, daß durch das selbständige Reichs¬
amt für Elsaß-Lothringen die dortige Verwaltung abhängiger vom Reichs¬
centrum werde als bisher, sind eitel Wind. Bisher unterstand die Verwal¬
tung Elsaß-Lorhringens dem Reichskanzler, dem Präsidenten des Reichskanzler-
amtes, dem Director der Abtheilung im Reichskanzleramt für Elsaß-Lothringen.
Jetzt untersteht dieselbe Verwaltung dem Reichskanzler, dem Unterstaarssekre¬
tär für Elsaß-Lothringen. Das lokale Centrum ist also im Reichscentruin
eine Instanz los geworden. Wie kann man das verstärkte Centralisation
nennen, es sei denn, daß man der Ansicht wäre, eine zweifache Oberinstanz
müsse drückender sein als eine dreifache? Die Separatisten in Elsaß-Lothringen
möchten freilich am liebsten die völlige bundesstaatliche Autonomie für ihre
Provinz, um mittelst derselben desto bequemer in die Arme der französischen
absoluten Centralisation zurückzufallen. Dieser Wunsch kann wenigstens nicht
durch den deutschen Reichstag erfüllt werden, von welchem man so naiv war,
das Mittel dafür zu verlangen.
Am 8. November gaben die Ausgaben für die Münzreform dem Abge¬
ordneten Bamberger Anlaß, vorzubringen, was er gegen die Durchführung
dieser Reform auf dem Herzen hat. Da kein an der betreffenden Arbeit be-
theiliftter Regierungsvertreter anwesend war, die Beschwerden zu beantworten,
so lassen wir dieselben einstweilen auf sich beruhen. In derselben Sitzung
gaben die Ausgaben für die Post und für die Telegraphenverwaltung Anlaß
zu dem mit einer zufälligen Majorität gefaßten und ob zwar folgenlosen,
doch bedauerlichen Beschluß, für die Telegramme das Unwesen der verschiedenen
Bibliothek der deutschen Nationalliteratur des achtzehnten und
neunzehnten Jahrhunderts. L9. Bd. Werner: Martin Luther oder:
Die Weihe der Kraft. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1876.
Werner's Stück selbst wird den Lesern bekannt sein, obwohl es wie
manches Andere aus den Kreisen der Romantiker eigentlich nur noch der
Literaturgeschichte angehört und denen, die es ungelesen lassen, kaum Un¬
bildung vorzuwerfen sein wird. Indeß ist es das Bedeutendste, was dieser
wüste und unklare Geist geschaffen hat, und so mag man es mit der Ein¬
leitung, die Julian Schmidt dazu geschrieben hat, und die es aus den (Nah¬
rungen der Zeit vor siebzig Jahren erklärt und es in seinen historischen
Scenen der Schule Schillers zuweist, immerhin seiner Bibliothek einverleiben.
Es wird dort aber den geeignetsten Platz unter den Schriften einnehmen, die
sich mit Beiträgen zur Pathologie beschäftigen. Besser wäre, wenn man
etwas aus Werners Dichtungen bringen mußte, sein „Vierundzwanzigster
Februar" gewählt worden, da er der Vater der Schicksalstragödie geworden
ist und somit eine ganze Classe von Dramen bezeichnet, welche ihre'Zeit ge¬
habt haben.
In der ersten Woche des November im Jahre 1492 entdeckte Columbus
Amerika und zugleich die ersten Raucher. Zwei Seeleute, die er an's Land
^schickt, um das vor ihm liegende Guanahani zu erforschen, erzählten ihm,
u»es den Schiffen zurückgekehrt, unter andern wunderbaren Dingen, daß sie Ein-
Teborne getroffen, die an einem glimmenden Stengel gesaugt und den Rauch
^Ares die Nase wieder von sich gegeben hätten. Offenbar hätten sie sich da-
^it inwendig räuchern oder Parfümiren wollen, fügten die naiven Matrosen
^um. Als man diese eigenthümliche Gewohnheit der wilden Leute dann
^her untersuchte, fand sich, daß der Stengel ein Röllchen getrockneter Blätter
von einer mit unserm Bilsenkraut verwandten Pflanze war, die man in
Naisblätter gewickelt hatte.
Diese Urcigarre war den Spaniern etwas Neues, dem von ihnen ent-
eckter, rothhäutigen Westvolke aber in allen seinen Stämmen von der Kette
^ großen Seen bis über den Isthmus hinab und nach Mexiko hivein eine
Freundin, eine liebe Gewohnheit von unvordenklichen Zeiten her, und es
»ab bereits verschiedene Methoden, das Kraut, welches bei den Karaiben Ko-
hieß, zu genießen. Die Kaziken von Hispaniola zündeten nach Oviedo,
ersten Schriftsteller. der die Sitte klar und deutlich schildert, ein Feuer
legten Kohibablätter daraus und athmeten dann den hiervon aufsteigenden
^ampf vermittelst eines hohlen gabelförmigen Instrumentes ein, das auch mit
nem V verglichen werden konnte, und dessen Zinken in die Nasenlöcher ge¬
lackt wurden. „Eine üble Gewohnheit, eine gefährliche Sitte", sagt Oviedo,
"°cum das Einathmen des Dampfes macht sinnlos betrunken." Der Apparat
"ber wurde mit dem Namen Tabako bezeichnet. Auch das Schnupfen war
damals schon bekannt. In dem Bericht über die zweite Fahrt, die Columbus
1494 nach Amerika unternahm, erzählt dessen Verfasser, der Mönch Roman
Pane, daß die Wilden das Kraut, welches er Kogiaba nennt, zu Staub zer¬
rieben und durch ein Rohr von einer halben Elle Länge, das in die Nase
gesteckt wurde, einathmeten, „was sie sehr reinigte." In Brasilien, wo die
Pflanze Petun hieß, wurden ihre Blätter, wie uns De Bry in seiner 1590
erschienenen „Ilistoria, Lrasiliana," berichtet, von den Eingebornen aus Pfeifen
geraucht, die nach der Beschreibung und Abbildung, welche dieses Buch giebt,
in fast allen Stücken dem türkischen Tschibbuk glichen und ebenso wie dieser
gebraucht wurden. Francisco Lopez de Gomara, der Cortez 1519 während
des Eroberungsfeldzugs in Mexiko «is Kaplan begleitete, spricht von dem
Tabakrauchen als einer dort allgemein verbreiteten Sitte, und Bernal Diaz
erzählt, daß der Großkönig Montezuma, nachdem er gespeist, eine Pfeife
rauchte, die ihm von der vornehmsten Dame seines Hofes mit großer Feier»
lichkeit gebracht wurde.
Endlich scheint der Gebrauch des Tabaks auch im Norden der trans¬
atlantischen Welt in sehr alte Zeiten zurückzureichen. Harriot, der an der
Expedition Sir Walter Raleighs, des Entdeckers von Virginien, theilnahm,
berichtet, daß die dortigen Indianer den Tabak als eine Gabe des Großen
Geistes ehrten und ihn aus „Thonpfeifen rauchten, was ihnen Kopf und
Magen von Schleim und groben Feuchtigkeiten reinigte, alle Poren und Gänge'
des Körpers öffnete und so denselben vor Verstopfungen bewahrte, so daß
sie viele schlimme Krankheiten nicht kannten, mit denen wir in England ge¬
plagt sind." Sie glaubten ferner, «daß ihre Götter den Uppowok sehr
liebten, weshalb sie Opferfeuer anzündeten, auf die sie Pulver davon streuten."
Ueberfiel sie ein Sturm auf dem Wasser, so warfen sie Tabak in den be¬
treffenden Strom oder See, bauten sie ein Wehr zum Fischfang, so weihten
sie es durch ein ähnliches Opfer, und waren sie einer Gefahr entgangen,
ließen sie Tabak in die Luft fliegen. „Alles das aber wurde mit seltsamen
Geberden, Aufstampfen, Tanzen, Händeklatschen, Emporstrecken der Arme und
Hinaufstarren gen Himmel begleitet, wozu sie sonderbare Worte plapperten
und allerlei Geräusch machten." Ferner hat man neuerdings in indianischen
Grabhügeln des Mississippithales, deren hohes Alter durch vielhundertjährige
Bäume, die auf ihnen wuchsen, bezeugt wurde, eine Menge von kunstvoll
aus Stein gearbeiteten Pfeifenköpfen gefunden, welche menschliche Häupter
und Figuren von Thieren der dortigen Gegenden, aber auch südlicher gelegener
Landstriche darstellen. Wohlbekannt ist endlich die Kriegs- und die Friedens¬
pfeife der noch jetzt existirenden Rothhäute, dieses unvermeidlich nothwendige
Zubehör zu allen ihren diplomatischen Verhandlungen.
Der Genuß des Tat»ks ist der alten Welt also mit der Pflanze aus
der neuen jenseits des atlantischen Meeres zugekommen, nur war er dort
weniger ein Genuß, als ein religiöser Gebrauch, ein Opfer, ein Mittel zur Ver¬
setzung des Rauchers in fromme Ekstase und daneben eine Arzenei. Die
Behauptungen, daß er schon vor der Entdeckung Amerikas, ja schon dem
grauen Alterthum bekannt gewesen sei, sind sämmtlich unhaltbar. Die „Ueber¬
lieferung" der griechischen Kirche, daß Noah sich mit Tabaksrauch berauscht,
ist selbstverständlich ein Product desselben unbewußten Humors, der den
Raskolnicken die Pfeife versagt, weil gewisse Stellen des Neuen Testaments
ste verbieten sollen. Wenn man gesagt hat, in China und Japan sei lange
vor Christi Geburt schon geraucht worden, so ist das möglich, ja wahrscheinlich,
Wenn man dabei an andere medicinische Pflanzen denkt, sonst aber sehr un¬
wahrscheinlich, weil sich in diesem Falle die Sitte bald über die benachbarten
Völker und von diesen über den Westen verbreitet haben würde. Wenn
endlich ein Engländer, der Dr. Aales, in einem altägyptischen Grabe die
Darstellung einer rauchenden Gesellschaft entdeckt haben will, so hat er ent¬
weder Glasbläser für Raucher gehalten oder sich von einem Kisselak täuschen
lassen, der den schlechten Geschmack hatte, gewissen Mizraimiten der Pharaonen-
Zeit die Tabakspfeife des neunzehnten Jahrhunderts an den Mund zu malen.
Zu welcher Zeit die ersten Tabakspflanzen nach Europa gelangt sind,
ist ungewiß. Gonzalo Hernandez de Toledo soll den ersten Samen nach
Spanien gebracht haben, wo der Tabak Anfangs nur als Zierpflanze an¬
gebaut wurde. Später pries ihn Nicolo Menardez als Arzenei an, die man
schnupfen sollte, und so entstand zu Sevilla eine Schnupftabakfabrik, die den
berühmten Spaniol lieferte.
Nach Frankreich soll das Kraut durch Andr6 TH6vet d'Angoul6me ge¬
kommen sein, und zwar im Jahre 1336. Bekannter aber wurde es hier
durch A>an Nicol de Villemain, der 1339 als Gesandter von Paris an den
portugiesischen Hof ging und in Lissabon von einem vlämischen Kaufmann, der
"us Florida kam, eine Quantität Tabakssamen kaufte. Er schickte ihn dem
^roßprior von Frankreich, weshalb die Pflanze eine Zeitlang «Herbe an
^rana krieur" hieß. Andere nannten sie „Herde ^ l'^mbasLei-deur." Als
^leve 1361 nach Paris zurückkehrte, brachte er der Königin Marie de Me-
dicis einige Pflanzen mit, und so verwandelte sich der bisherige Name des
^als im Munde der Höflinge, dann auch im Sprachgebrauch des Volkes
^lant und ehrerbietig in „Herbe ^ 1a Reine" oder «Herbe NeÄieSe«,
Ehrenb die Wissenschaft ihn nach Nicol „Meotiang, herba" nannte. Die
^tztere schrieb dem Kraute auch hier heilsame Eigenschaften zu, und auch hier
^urbe es im Hinblick darauf zunächst blos geschnupft. Zuerst nur als bestes
Mittel gegen Migräne empfohlen, sollte es später so ziemlich alle Krankheiten
heilen, und zu gleicher Zeit wurde es in der Form von Schnupftabak in weiten
Kreisen zum Gegenstand des Genusses. Nicht blos in Apotheken, sondern
auch in gewöhnlichen Kaufläden war jetzt der nun auch im Lande selbst an¬
gebaute Tabak zu bekommen, und zwar führte er gegen das Ende des sech-
zehnten Jahrhunderts außer den genannten Namen noch eine große Anzahl
anderer, z. B. «klsrds saints", „lZuZlosss g>reg,rstiyus (südliche Ochsenzunge)",
„?g.ng>ess Äutgretiyus", „^usquig-ums us ?el'on (peruvianisches Bilsenkraut)",
„Ilsrbs as ^ourbauou" und „Herds 6s Le. lüroix", bis endlich hier wie
anderwärts der spanische Name Tabaco alle andern verdrängte.
Etwas später als nach Frankreich gelangte der Tabak nach Italien, wo
Rom durch den Kardinal Prosper Santa Croce, der ihn ebenfalls von Portugal
her erhalten, mit ihm bekannt wurde, während der Norden das Kraut durch
den französischen Gesandten Tourbanon erhielt. Nach diesem hieß es hier
„I'ornudollg.", nach dem Cardinal aber „lZrbg, Laura Lroes". Auch hier fand
es als Heil- wie als Genußmtttel rasch viele Freunde, und so wurde es im
Toscanischen bereits 1574 angebaut. Wie in Frankreich und Spanien wurde
es hier zuerst nur geschnupft, und zwar bald so allgemein, daß Venedig von
16S7 bis 1662 aus der Verpachtung der Fabrikation und des Verschleißes
von Tabak die erhebliche Summe von vierzigtausend Ducaten gewann.
Deutschland lernte das Wunderkraut 1565 durch den Augsburger Stadt-
physteus Adolf Occo kennen und baute es von 1660 an in der Rheinpfalz
im Großen. Nach der Schweiz brachte es um 1550 Konrad Gesner. Hier
wie in Deutschland und anderwärts wurde es von den Aerzten (z. B. von
I)r. Neander von Bremen in seiner 1622 erschienenen „'l^bueslogia") als
Panacee bei fast allen Leiden des Kopfes und der Brust, namentlich aber
auch als Pflaster für Wunden und Ausschläge empfohlen und angewendet.
Rauchen sah man zuerst in Spanien, wohin die Sitte durch Seeleute gelangte,
welche sie den Indianern der neuen Welt abgelernt hatten und in der Hei¬
math rasch viele Nachahmer fanden. Nächst den Spaniern scheinen die Eng¬
länder die erste Nation Europas gewesen zu sein, die am Tabaksgenuß in
dieser Form Gefallen fand. Die Pflanze kam den Einen zufolge „lo
zwanzigsten Jahre der Königin Elisabeth«, also 1677, Andern zufolge «der
schon 1665 nach England. Die Sitte, ihre Blätter zu rauchen aber gelangte
hierher durch Ralph Laue, den 1586 in die Heimath zurückkehrenden Gou¬
verneur von Virginien, und wurde durch den Entdecker Walter Raleigh, der
selbst ein starker Raucher war. so daß er später mit der Pfeife im Munde
der Enthauptung seines Freundes Essex zusah und bis wenige Minuten vor
seiner eignen Hinrichtung herzhaft dampfte, als gesund empfohlen.
Zuerst scheint hier der Tabak in der Pfeife auf Manche abstoßend gewirkt
zu haben, wie u, A. die folgende Anekdote von Dick Tarlton andeutet-
Dieser berühmte Witzbold, der 1388 starb, rauchte nur, weil es Mode war.
Eines Tages aber saß er mit einer Gesellschaft, von der einige zu tief in's
Weinglas gesehen hatten, die Pfeife im Munde am Tische, als jene, die von
derartigem Vergnügen noch nichts gehört, beim Anblick der ihm aus der
Nase quellenden Dampfwolken plötzlich aufsprangen, „Feuer! Feuer!" riefen
und ihm ein Glas Wein in's Gesicht gossen. „Laßt nun den Lärm", sagte
Tarlton, „das Feuer ist gelöscht. Wenn die Sheriffs kommen, wird es eine
Geldstrafe geben, wie es Gebrauch ist." Damit schmauchte er weiter. Von
denen, die gelöscht hatten, rief darauf einer: „Pfui, Teufel, was für einen
Gestank es macht, mir ist, als wäre ich vergiftet." „Wen'es ärgert", er¬
widerte Tarlton, „der möge selber ein paar Züge thun, so wird der üble
Geruch bald vergehen." Aber sein Qualmen machte, daß sie davon liefen
und ihn die Zeche bezahlen ließen.
Mit der Zeit jedoch eroberte sich die Mode mehr Terrain, und nach
etwa zehn Jahren rauchte trotzdem, daß die Satiriker ihre besten Pfeile nach
dem „giftigen Kraute" und seinen Verehrern abschossen, fast alle Welt mit
Einschluß nicht weniger Angehörigen des schönen Geschlechts. Zu derselben
Zeit aber galt der Tabak wie im übrigen Europa auch den Engländern als
ein Mittel gegen alle möglichen Gebrechen, und selbst die Dichter waren
seines Lobes voll. Spencer feiert ihn in seiner (Zuosv" als „göttlich",
und William Lilly, der Hofpoet Elisabeths, nennt ihn „unser heiliges Kraut."
Die Aerzte aber, bei denen er „Lang, Sanct-z. Inävrum" hieß, mischten ihn bei¬
nahe unter alle ihre Recepte.
Von England drang das Rauchen nach allen germanischen Ländern vor.
Wohl schon 1580, jedenfalls noch im sechzehnten Jahrhundert, verpflanzten
englische Studenten es nach Leyden, von wo es sich rasch über ganz Holland
verbreitete, und wo man schon von 1613 an Tabak baute. Um 1620 brachten
englische Truppen, die dem König Friedrich von Böhmen zu Hülfe zogen, die
Sitte nach Deutschland, wo sie die kaiserlichen wie die schwedischen Heere von
Drt zu Ort weiter trugen, und wo u. A. der Friedländer ihr huldigte. Eng¬
lische Seeleute waren es, die um 1650 die Tabakspfeife in Schweden ein¬
heimisch machten, englische Kaufleute endlich führten sie unter den fernen
Moskowitern ein. Lange vor diesen, um 1601 bereits, rauchte der Türke am
Bosporus und am Nil vergnügte Tschibbuks. Vier Jahre später fingen die
Muselmänner im Reiche des Großmoguls an, es ihm nachzuthun, und un¬
gefähr in derselben Zeit, nach Andern erst 1617, begannen, von Portugiesen
gebracht, auf Java die ersten Tabakspfeifen zu glimmen. Zu Anfang der
ätzten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts hatte der Tabak die gesammte
damals bekannte Welt erobert: Amerika genoß seine Pfeife wie vor Alters,
Europa rauchte und schnupfte von einem Ende bis zum andern, Afrika und
Asien thaten desgleichen von den Säulen des Herkules bis zur chinesischen
Mauer. Es war damit gegangen wie mit der Wolke des Propheten Elias:
zuerst war sie nicht größer als die Hand eines Mannes, und binnen Kurzem be¬
schattete sie das Antlitz der ganzen Erde.
Diese weite Verbreitung des Tabaksgenusses in verhältnißmäßig kurzer
Zeit giebt zu denken und ist um so merkwürdiger, als das Kraut Nieots im
ersten Jahrzehnt nach seiner Herüberkunft nach Europa „mit Silber aufge¬
wogen" wurde und auch später noch viel theurer als heutzutage der beste
Rauchtabak war, und als es neben vielen Freunden auch einflußreiche und
mächtige Feinde fand. Die Kirche wie eine ziemlich große Anzahl von
Fürsten und Obrigkeiten erhoben ihre Stimme gegen die Sitte als gegen
einen Unfug, und in nicht wenigen Ländern wurden die Raucher und
Schnupfer wie schwere Verbrecher bestraft. Der Papst und der Sultan, der
Großfürst von Moskau und der Großmogul in Delhi, selbst die damals
nichts weniger als „freie" Schweiz zogen mit Edicten und harten Strafen
gegen das uns so harmlos, wenigstens nicht, wie ihnen als gottlos er¬
scheinende Rauch- und Schnupfkraut zu Felde.
Am mildesten noch sah man die Sache in Frankreich an, wo Ludwig der
Dreizehnte den Verkauf dieser Drogue Allen mit Ausnahme der Apotheker bei
Strafe von achtzig Livres verbot. Schlimmer schon verfuhren mehrere Päpste,
die den Sündern mit der Dose, welche damit in der Kirche erschienen —
Priester hatten sich nicht entblödet, während des Messelesens zu schnupfen —
mit Excommunication drohten, was 1624 von Urban dem Achten und noch 1690
von Innocenz dem Zwölften geschah. In Toskana wurde der Anbau von
Tabak auf bestimmte Districte beschränkt. In Bern ergingen 1660 und
1661 scharfe Mandate gegen das Rauchen, auch wurde ein eignes Gericht,
die „Lug.inbrk 6u ?g,da.e" zur Aburtheilung der Raucher und Schnupfer
niedergesetzt, welches bis um die Mitte des letzten Jahrhunderts bestand. In
Glarus und Appenzell ging man mit ziemlich hohen Geldstrafen gegen die¬
jenigen vor. welche der verbotnen Pfeife oder Dose huldigten. In Ungarn
ahndete man das Rauchen ebenfalls mit Geldbußen, und der Anbau der
Tabakspflanze sollte mit Einziehung des Grundbesitzes des Betreffenden be¬
straft werden. Nach der Berliner Polizeiordnung von 1661 stand das
Rauchen ungefähr dem Ehebruch gleich, und noch 1675 war es mit Gefäng¬
niß und Pranger bedroht. Im Lüneburgischen sollten nach einer Verordnung
von 1695 solche, die sich „mit dem liederlichen Werke des Tabakstrinkens" be¬
faßten, sogar hingerichtet werden.
Kam das in deutschen Landen vor, so darf man sich nicht zu sehr
wundern, wenn der barbarische Osten den Tabaksgenuß mit den grausamsten
Mitteln auszurotten bemüht war. In Rußland wurde bis auf Peter den
Großen eine Prise mit Amputation der Nase durch den Henker geahndet.
Gesandte des Herzogs von Holstein, die im Jahre 1634 Moskau besuchten,
sahen hier an einem und demselben Tage acht Männer und eine Frau öffent¬
lich knuten, weil sie Branntwein und Tabak verkauft hatten. Wer über diesem
Vergehen das zweite Mal betroffen wurde, verlor den Kopf und zwar nicht
etwa figürlich. In Konstantinopel, wo namentlich Sultan Murad der Vierte
die Raucher mit frommer Wuth verfolgte und eine große Menge derselben
köpfen ließ, sah der englische Reisende Sandys im Jahre 1610 einen unglück¬
lichen Türken, der sich unvorsichtig den Tschibbuk hatte schmecken lassen, auf
einem Esel durch die Straßen führen, nachdem man ihm die Nase durchstochen
und das Pfeifenrohr quer hindurchgezogen hatte. Ein wenig glimpflicher ver¬
fuhren im Allgemeinen in Persien Schah Abbas der Große, der aber doch
einst einen Kaufmann auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen befahl, welcher
aus dem von ihm in's Lager eingeschmuggelten Tabak bestand, und der Kaiser
Jehan Gir, der den Rauchern die Lippen, den Schnupfern die Nase abzu¬
schneiden gebot.
Gelinder ließ Jakob der Erste (weil er nicht strenger sein durfte) seinen
Ingrimm gegen die Verbreitung des „stygischen Qualmkrautes" in England
aus, auf welches wir jetzt, Fairholts soeben erschienener Geschichte des Tabaks
in Auszügen folgend, eingehender zu sprechen kommen*). Mit dem Beginn
des siebzehnten Jahrhunderts war in England das goldne Zeitalter für den
Tabak angebrochen, er war hier die Leidenschaft aller Stände geworden.
Man rauchte nicht nur während der Vorstellungen im Theater, sondern die
Theater verkauften auch Tabak. Beliebte Schriftsteller priesen „den göttlichen
Rauch des himmlischen Krautes" sogar der Damenwelt an, die sich das
nicht zweimal sagen ließ, so daß man ihnen im Schauspielhause „statt der
Aepfel, die bis dahin ihre hauptsächliche Erfrischung gewesen waren, die
Tabakspfeife anbot/ Gardiner, der 1610 gegen den Tabak schrieb, klagt:
»Das Erbe vieler junger Herren ist ganz erschöpft und rein verschwunden
mit diesem rauchigen Qualm und dem Besitzer auf die schändlichste und
viehischste Weise zur Nase hinausgeflogen." (Acht Unzen Tabak bezahlte
Man noch im Jahre 1628 mit fünf Schillingen, und es kam in dieser Periode
vor, daß Leute in einem einzigen Jahre drei bis vierhundert Pfund Sterl.
verrauchten.) „Manche verbringen ganze Tage, Monate und Jahre mit
Tabakrauchen und legen die Pfeife nicht einmal im Bette aus der Hand."
Nich, ein anderer Gegner der Uebertreibung des Tabaksgenusses, sagt in einem
Sittengemälde aus dem Jahre 1614: „Kein Reitknecht, der in ein Bierhaus
kommt, um sich einen Krug zu bestellen, ist so gering, daß er nicht seine
Pfeife Tabak haben müßte; denn es ist eine Bequemlichkeit, die man jetzt
in jeder Schenke, wo es Wein und Bier giebt, haben kann, und in Apo¬
thekerläden, Gewürzhandlungen und Mctualienbuden ist man nie ohne Ge¬
sellschaft, die vom Morgen bis in die Nacht Tabak qualmt. Daneben aber
giebt es eine Menge Leute, die Häuser und offne Läden haben und von
nichts anderem als vom Tabaksverkauf leben." Nach demselben Autor gab
es in London, welches damals noch lange keine Million Einwohner hatte, über
sieben tausend Tabaksgeschäfte, und das hier jährlich in Rauch aufgehende Geld
wird von ihm aus 319,373 Pfund veranschlagt. Es war daher nicht, wie Fairholt
meint, bloße Querköpfigkeit, als König Jakob der Erste schon bald nach seiner
Thronbesteigung dem Tabak den Krieg erklärte und ihn später als Schrift¬
steller und zuletzt als gebietender Herr in den Bann that. Wenn er dabei
durch übergroßen Eifer vor der Nachwelt eine komische Figur spielte, so mag
ihm zunächst der Ton seiner Zeit, die Grobheiten noch nicht für unschicklich
hielt, sein Haß gegen Naleigh, der das Tabakrauchen durch sein vornehmes
Beispiel in die Mode gebracht hatte, und der Umstand, daß seine ersten Aus¬
lassungen in Sachen des Tabaks nicht nur nichts halfen, sondern von dreisten
Unterthanen mit Lobpreisungen des garstigen Krautes erwidert wurden, die
man ihm bei verschiedenen Gelegenheiten in's Gesicht sagte, einigermaßen
zur Entschuldigung dienen. 1603 veröffentlichte der König seinen „(Gunter-
blast« to lobaceo", in welchem er das Rauchen als „eine Sitte ekelhaft für
das Auge, schädlich für das Gehirn, gefährlich für die Lunge und mit ihrem
schwarzen stinkenden Qualme dem entsetzlichen Rauche der unergründlichen
Hölle gleichend", verdammte, und 1605 mußte er erleben, daß bei der von
der Universität Oxford in seinem Beisein abgehaltenen Disputation der Dr.
Cheynell mit der Pfeife in der Hand auftrat, um die Tugenden des argen
Krautes auf's Höchste zu rühmen und es über alle anderen Heilmittel zu erheben.
Einige Jahre später folgte aus der Feder des Königs dem „Gegenwind
gegen den Tabak" der „NisoeaMus", der Rauchfeind, der in wenig logischer,
aber um so ungestümerer Weise darthat, daß der Tabak „in seinem ganzen
Wesen der Hölle gleicht, da er ein stinkendes, ekelhaftes Zeug ist", und im
Jahre 1621 sang man ihm im Theater bei der Aufführung von Barton
Holidays „Heirath der Künste" von der Bühne ein Lied entgegen, welches
den Tabak als Musiker, Sachwalter, Arzt und Reisenden pries und viermal
in den Refrain ausbrach:
„IIo do^s, sounÄ I louälz^
Dartb. ii<z'el' ain breoä
Luon ^ jovial voeä,
Mbei-Lot to boast so xrouäl^."
Allerdings fanden sich Dichter wie Josua Sylvester bereit, ihre Harfen
nach dem Willen des königlichen Rauchfeindes zu stimmen und ihm mit
Versen zu secundiren, in denen der Tabak „jener indianische Tyrann, Eng¬
lands einzige Schande" geschmäht wurde, und die Geistlichkeit rückte mit
'hrern schweren Geschütz neben Sr. Majestät aus. Aber die Vertheidiger des ange¬
griffnen Krautes waren zahlreicher und meist witziger als jene, und die Ar-
wee des Königs wurde in Versen und Prosa geschlagen. Dr. Barclai durfte
sein 1614 erschienenes Gedicht „Von den Tugenden des Tabaks", in welchem
er diese Pflanze „die Fürstin unter allen" nennt und mit Begeisterung von
Amerika als dem „Lande, welches Gott mit diesem glückbringenden und
heiligen Kraute geehrt und gesegnet hat", spricht, dem Bischof von Murray
""denen. Er vergleicht sich darin mit Hercules, der nur mit einem Sack
und einer Keule in den Krieg gegangen sei. und sagt: „Ich habe mich mit
ewem Kasten statt mit einem Sacke und einer Pfeife statt einer Keule be¬
waffnet, mit einem Sacke, um meinen Tabak aufzubewahren, und mit einer
pfeife, um mich ihrer zu bedienen; mit diesen beiden werde ich, so Gott will,
^ele Krankheiten überwinden." Selbst die Geistlichkeit wankte und rauchte
^erst im stillen Kämmerlein, später öffentlich, indem sie vermuthlich zu der
Ueberzeugung gelangt war, welche der Dichter Wieder in dem noch jetzt be-
ebten Liede „T'obaeeo is an I»Äig.u plant" ausspricht, wo es u. A. heißt:
„l'Iio pixo, etat is so lilz? ^uno,
Mlieroin so wall? es.Kö äoliAut,
Is brolco vieil g, touou — mali's lito 1s suoU —
l'denk: ok tuis, wuou ^on swolco tod^ovo.^tlo pivo, etat is so tout ^oleum,
LIuzvs Iiov in»,n'3 soul is stainsÄ vieil sin;
l'o xur^o vieil uro it äoos ro<iuiro —
1'Juni: tuis, vilen z^on smoko todavoo.I^-rstl^, tuo »s^os 1oK döliinä
naz^ äailx sorve, to wovo tuo mira,
l'dat to Äslies Alla Aust i-eturn vo must —
1?IiinK ok tuis, vliorl z^on smolco todavoo."
^ D'Avenant spricht 1634 vom Rauchen als einer so allgemein gewordnen
^ohnheit, daß er glaubt, nächstens „werde man den Kindern zur Erleich-
^Uvg des Zahnens, statt wie bisher Korallen, zerbrochn- Thonpfeifen in
^ Mund geben." Und dabei hatte König Jakob es nicht bei Ermahnungen
Drohungen bewenden lassen, sondern den Einfuhrzoll auf Tabak von
^ Pence per Pfund auf die ungeheure Summe von sechs Schilling und
)U Pence erhöht und damit noch nicht zufrieden, Raucher geringen Standes
ergreifen und stäupen, vornehmen den Bart abscheeren und sie aus dew
Lande jagen lassen. Es wiederholte sich nach allen Richtungen die Bethätigung
des alten Verses: „MtuiÄM vxx«IIg,8 turea,, wmvu us^us recurrot"; das
Rauchen war allerdings nicht eben etwas Natürliches, aber den Engländern
zur andern Natur geworden. Wenn der Absolutismus unnöthige und un¬
billige Gesetze macht, so denkt das Volk naturgemäß an Wege zur Umgehung
derselben. Da Jakobs Einfuhrzoll einer Unterdrückung der Einfuhr nahe
kam, fingen die englischen Farmer an, auf ihrem eignen Boden Tabak z»
bauen, und als der „schottische Salomo" darauf hin ein Verbot gegen diesen
„Mißbrauch des Bodens unseres fruchtbaren Königreichs" erließ, erinnerte
man sich, daß nur die Einfuhr des virginischen Tabaks mit jenem exorbitan¬
ten Zoll belegt war, und bezog sein Rauch- und Schnupfmaterial mit der
alten wohlfeilen Abgabe von den spanischen und portugiesischen Nieder¬
lassungen in Amerika. Jakob verbot darauf jeden Tabakshandel in England,
der nicht auf Grund eines von ihm um schweres Geld zu lösenden Patents
betrieben wurde. Aber es gelang ihm durch diese Monopolisirung nur, die
Londoner Gesellschaft der mit Virginien handelnden Kaufleute zu ruintren
und — seine Taschen mit Geld zu füllen; denn der Tabaksgenuß
florirre fort.
Karl der Erste theilte den Abscheu seines Vaters gegen den Tabak, be¬
handelte wie dieser den Verschleiß desselben als Monopol und ließ alle Vor-^
Stellungen der dadurch geschädigten virginischen Pflanzer unbeachtet. Unbillig
zwar und unartig, aber erklärlich ist's daher, wenn Leute sich freuten, daß
die Soldaten Cromwells ihm, als er in den Tagen seines Unglücks in
der Wachtstube von Westminster saß, den Qualm ihrer Pfeifen in's Gesicht
bliesen.
Auch die Herrschaft der Puritaner war dem Tabak nicht hold. CroM-
well war zwar selbst ein starker Raucher, wollte aber so wenig wie Jacob
den Anbau des Tabaks in England dulden und schickte daher seine Truppe"
aus, um da, wo das Kraut gepflanzt worden, die Ernten niederzutreten.
Karl der Zweite bestätigte nach der Restauration die alten Verbote des
Anbaus von Tabak in England, dehnte sie auf Irland aus und setzte eine
Geldstrafe von 40 Schillingen, die später auf 10 Pfund Se. erhöht wurde,
auf jede Ruthe mit Tabak bepflanzten Landes. Auch untersagte er den
Mitgliedern der Universität Cambridge außer dem Tragen von Perücken und
dem Ablesen ihrer Predigten das Rauchen. Ihm so wenig wie seinen Ab¬
gängern am Ruder der Regierung gelang es, den Genuß des Tabaks Z"
unterdrücken oder auch nur erheblich einzuschränken. Der französische Reiset
de Nochefort, der unter ihm England besuchte, berichtet, daß dort Frauen
ebensowohl wie Männer rauchten, ja daß die Kinder von ihren Mütter"
gestopfte Pfeifen im Bücherbeutel mit in die Schule nahmen, die sie statt
eines Frühstücks genossen, und in deren Gebrauch und Behandlung sie der
Lehrer unterwies.
Sehr komisch lautet der aus dieser Zeit stammende Trostbrief Tom
Brorvns an eine alte Dame, die rauchte. Es heißt darin: „Obwohl die
schnöde Welt Sie tadelt, weil Sie rauchen, so möchte ich ihnen doch nicht
rathen, ein so harmloses Vergnügen aufzugeben. Erstens ist es gesund und,
wie Galen (!) ganz richtig bemerkt, ein vortreffliches Mittel gegen Zahn¬
schmerz, den unaufhörlichen Verfolger alter Damen. Zum Zweiten verhilft
Tabak, obwohl er einen heidnischen Namen trägt, zu christlichen Ve¬
rachtungen, was vermuthlich der Grund ist, der ihn unsern Pastoren em-
pstehlt, von denen die Mehrzahl ebenso wenig ohne Pfeife im Munde als
ohne Concordanz in der Hand eine Predigt zu verfassen im Stande ist.
Ueberdieß kann jede Pfeife, die Sie zerbrechen, Ihnen in's Gedächtniß zurück¬
rufen, von was für unbedeutenden Zufälligkeiten das Menschenleben abhängt,
^eh kenne einen nicht zur Kirche gehörigen Geistlichen, der an Festtagen ein
gutes Stück Rindslende verspeiste, weil es ihn daran erinnerte, daß alles
Tletsch wie Heu ist, aber ich bin überzeugt, daß man vom Tabak viel mehr
lernen kann. Er kann uns lehren, daß Reichthum, Schönheit und alle Herr¬
lichkeiten der Welt wie eine Rauchwolke verschwinden. Drittens ist eine Pfeife
°'r> hübsches Spielzeug. Zum Vierten und Letzten aber ist sie Mode, oder
doch auf dem besten Wege, es zu werden."
Als die Pest London 1665 furchtbar heimsuchte, wurde (wie wir aus
Abraham a Sancta Clara ersehen, geschah dieß auch in Wien und vermuth¬
lich in ganz Deutschland) Tabak angelegentlich als Schutz- und Heilmittel
^gegen empfohlen und eifrig angewendet. Die Aerzte, die Krankenpfleger
^d die, welche mit den Todtenkarren umherfuhren, ließen die Pfeife nicht
Ausgehen, und man glaubte allgemein, daß Tabakshändler sammt ihren
^»mitten vor jeder Ansteckung sicher seien, Ein Gedicht, welches 1670 unter
dem Titel „Nieotmnas Lneomiuin" erschien, nennt den Tabak wie die alten
französischen Aerzte bei seinem ersten Bekanntwerden in Paris eine Panacee
""d sagt mit Bezug auf die Pest:
ello LuKbe-u- loaÄ, tuo riaguo, ?<z koar,
I^o! unäer 6va ^our kmtiäore- is Iioro."
Das Tabakkauen kam durch Seeleute nach England und wurde auf
General Monts Vorgang hin eine Zeit lang auch von Leuten der bessern
stände betrieben, drang aber nicht wie in Amerika allgemein durch. Da¬
nger verbreitete sich das Rauchen unter der Königin Anna noch mehr als
6her, nachdem es schon unter Wilhelm dem Dritten, dem gebornen Hollar-
der, sich des Wohlwollens von oben her erfreut hatte. Zwar sah es noch
gelegentlich einen Schriftsteller mit einer Jeremiade gegen sich auftreten, der
ungefähr wie 1703 Lawrence Spooner in seinem „I^ooKing (?1ass lor Lmoa-
Kers" lamentirte: „Die Sünde des maßlosen Tabaksgenusses schwillt und
wächst im Lande mit jedem Tage so sehr, daß ich sie nur mit den Wassern
Noahs vergleichen kann, die fünfzehn Ellen über die höchsten Berge an¬
schwollen." „Daß dieses Gebahren selbst unter den meisten Gottesfürchtigen
über alle Vernunft, Religion und Erfahrung triumphirt, erfüllt mit Staunen
und Entsetzen; daß sie gestatten, daß sich ein solches unnatürliches Feuer in
ihnen entzündet, welches sie in eine derartige (Nahrung und Unordnung versetzt,
ist ein Wunder und läßt uns mit dem Propheten Jeremias, Buch 2, Vers
12 ausrufen: Sollte sich doch der Himmel davor entsetzen, erschrecken und
sehr erbeben, spricht der Herr der Heerschaaren." Aber die Welt ließ auch
hiervor die Pfeife nicht ausgehen. Fast alle die gewaltigen Perücken , die
damals Mode waren, wurden von ihren Besitzern mit dem Dufte des vir-
ginischen Krautes durchräuchert. Die goldnen Namen der damaligen Litera¬
turperiode, Addison, Steele, Congreve, Phillips und Prior rauchten, Pope
und Swift folgten der Gewohnheit der französischen Geistlichkeit und schnupf¬
ten. König Georg der Zweite that desgleichen, und ebenso war Gibbon ein
großer Freund der Dose. In einem seiner Briefe schreibt er: „Ich zog meine
Dose heraus, klopfte darauf, nahm zwei Prisen und setzte meinen Vortrag
fort wie gewöhnlich, d. h. indem ich den Körper vorbeugte und den Zeige¬
finger ausstreckte." Der berühmte Dr. Parr genoß jeden Abend seine zwanzig
Pfeifen, quälende sogar in den Salons und Boudoirs von Damen und schreibt
von sich selbst, indem er sich beim Abfassen seiner Werke schildert, „ich ließ
vulkanische Qualmwolken nach der Decke aussteigen." Gleich ihm waren
Thomas Hobbes und Jsaak Newton leidenschaftliche Raucher, und helpe
widerlegten damit die Behauptung, daß der Tabak das Leben verkürze; denn
Hobbes wurde 92, Newton 85 Jahre alt. Unter den späteren Berühmt¬
heiten Englands waren Charles Land und der Dichter Bloomfield sowie
Walter Scott starke Raucher, während Campbell, Lord Byron, Thomas
Moore und Tennyson sich dem Tabaksgenusse nur mäßig Hingaben.
Während des Krieges mit den amerikanischen Colonien wurde der Tabak
theurer, und so ließ sein Gebrauch erheblich nach. Auch gewannen um diese
Zeit in den höheren Kreisen die Tabaksfeinde Terrain, so daß hier länger
als ein Menschenalter Pfeife und Cigarre fast allenthalben im Bann waren-
Aber, wie schon aus dem Ebengesagten zu ersehen, niemals fehlte es an
Ausnahmen. Die Lords Eldon und Stowell, desgleichen Lord BroughaM
kehrten sich nicht an jenes Vorurtheil. Die Herzöge von Sussex und De-
vonshire sanctionirten die alte Sitte, ja selbst Georg der Vierte wendete
ihr sein königliches Wohlwollen zu, und in den letzten Jahrzehnten ist die¬
selbe ziemlich allenthalben in England wieder rehabilitirt und zu ihrer frühe¬
ren Verbreitung gelangt. Nur die Damen haben sich noch nicht wieder zu
ihr bekehrt, aber ihre Aussichten auf Beseitigung des Rauchers bei dem
stärkeren Geschlecht sind nach Thackeray's Meinung trübe. „Was ist denn
dieses Rauchen, daß man es als ein Verbrechen betrachtet?" fragt dieser ge¬
feierte Humorist in seinen „^its-LooÄI« ?g,xors." „Ich bin im Stillen der
Meinung, daß die Damen auf dasselbe eifersüchtig sind wie auf einen Neben¬
buhler. Die Sache steht aber so, daß die Cigarre allerdings eine Neben¬
buhlerin der Damen, aber zugleich ihnen überlegen ist. Man überschaue ein¬
mal die weite Welt, und man wird sehen, wie der Gegner der Damen sie
überwältigt hat. Deutschland qualmt seit hundert und achtzig Jahren,
Frankreich raucht Mann für Mann. Glaubt Ihr, daß Ihr den Feind von
England fern halten könnt? Bah, seht Euch den Fortschritt an. Fragt
die Clubs. Ich meinestheils gerathe nicht in Verzweifelung, wenn ich einen
Bischof mit einem Glimmstengel im Munde oder einer Thonpfeife hinterm
Hutbande aus dem Athenäum herausschlendern sehe."
Was hier Thackeray von Deutschland und Frankreich sagt, ist wahr.
In letzterem war Ludwig der Vierzehnte dem Tabak äußerst abgeneigt, wir
Wissen aber, daß seine Töchter des Nachts sich von der Steifheit des Hofes
bei kleinen Orgien erholten, bei denen sie sich eine Güte mit Pfeifen thaten,
welche die dienstthuenden Schweizer ihnen leihen mußten. Ebenso wurde
damals wie unter den späteren Königen viel geschnupft, und in diesem Jahr¬
hundert ist das Sprichwort „kumer ooinrns un ^.llemanä" in Frankreich
außer Uebung gekommen, weil der Franzose jetzt fast ebenso viel raucht als
sein Herr Nachbar jenseits der Vogesen. Starke Raucher waren unter den
französischen Dichtern Alfred de Musset, Prosper Merimee, Eugene Tue und
Paul de Se. Victor. Auch Madame Düdevant liebte die Cigarre. Balzac,
Dumas und Victor Hugo enthielten sich des Tabaks. Napoleon III.
schmauchte so leidenschaftlich Cigaretten, daß er sie auch während der Be-
kMiung mit Bismarck zwischen Sedan und Donchery (Verfasser spricht als
Augenzeuge) kaum ausgehen ließ. Sein Oheim schnupfte und war nicht der
Erste auf Frankreichs Throne, der dieser Gewohnheit huldigte; denn schon
Ludwig der Fünfzehnte hatte sich von den französischen Fabrikanten an allen
^ujahrstagen mit feinem Rappe' beschenken lassen. Talleyrand aber war der
Meinung, daß jeder bedeutende Diplomat ein Schnupfer sein sollte, da die
^ose ihm Gelegenheit verschaffe, unter dem Vorwand, eine Prise nehmen zu
Müssen, sich auf passende Antworten und Ausflüchte für plötzlich an ihn her¬
antretende unbequeme oder gefährliche Fragsteller zu besinnen. Wenn wir
""s einen deutschen Landpfarrer nicht gut ohne l«nge Pfeife vorstellen können
so fehlt diese beim französischen Cure; dagegen vermögen wir uns diesen wieder
nicht ohne Schnupftabaksdose zu denken.
Von der Entwickelung der Dinge in Deutschland sagen wir sonst nur,
daß auch hier der Tabak literarisch (z. B. von Moscherosch, Scriver und dem
Jesuiten Bälde) stark angefeindet wurde und auch hier seiner Gegner spottete.
Goethe und Heine waren ihm gram, Prinz Eugen war ein warmer Freund
der Prise, Friedrich der Große schnupfte unmäßig aus der Westentasche, sein
gestrenger Papa quälende mit dem alten Dessauer und dem Akademiker und
Hofnarren G u n du n g nicht weniger maßlos im Tabakscollegium, und Hohe
und Geringe, Gelehrte und Ungelehrte thaten es ihm bis auf den heutigen
Tag, unbehelligt von einem Monopole, nach.
Was aber auch England einst, Frankreich jetzt und Deutschland stets
auf diesem Gebiete geleistet haben mag, die Palme gebührt hier den Hol¬
ländern, die von 1L80 an bis heute, durch kein störendes Gesetz erschreckt und
beeinträchtigt, behäbig, gemächlich und bedächtig geraucht und fortgeraucht
haben. Bekannt ist die reizende Schilderung Washington Jrvings von dem,
was sie im Fache des Tabaksgenusses leisten. Vergessen aber wird sein, was
vor etwa drei Jahren die Zeitungen meldeten.
An einem Apriltage des Jahres 1872 oder 73 starb in der Nähe von
Rotterdam Mynheer Klaus, „der König der Raucher" genannt. Durch
Leinwandhandel reich geworden, hatte er von seinem großen Vermögen einen
sehr eigenthümlichen Gebrauch gemacht. Bei Rotterdam hatte er sich ein
stattliches Haus gebaut und darin ein Museum für Tabakspfeifen einge¬
richtet, die in chronologischer Reihenfolge geordnet und nach den Nationali¬
täten aufgestellt waren. (Wir haben 1842 bei dem Reichstagsabgeordneten
Wigard in Dresden und 18S3 in der Zelle eines Insassen des schleswigschen
Irrenhauses Aehnliches gesehen.) In dem Testamente, welches er kurz vor
seinem Ableben machte, ordnete er an, daß alle Raucher des Landes zu seinem
Leichenbegängnisse geladen und jedem 10 Pfund Tabak nebst zwei Thon¬
pfeifen neuester Facon, auf denen Name. Wappen und Todestag des Erb¬
lassers angebracht waren, verehrt werden sollten. Dafür sollten sie mit
seinen Verwandten und Freunden dem Sarge mit brennenden Pfeifen folgen
und ihm, statt der üblichen drei Hände voll Erde, die Asche derselben in's
Grab ausklopfen. Die Armen der Nachbarschaft, die diesen Wünschen nach¬
kamen, sollten jedes Jahr am Todestage des wunderlichen Herrn wieder 1v
Pfund Tabak und überdieß ein Fäßchen gutes Bier erhalten. Er befahl
serner, seinen eichnen Sarg mit den Cederbretchen der Cigarrenkisten auszu¬
füttern, die er ausgeraucht, und ihm eine Büchse mit französischem Caporal,
ein Packet holländisches Apenhaar, seine Leibpfetfe und eine Schachtel mit
Zündhölzern, Stein, Stahl und Zunder an die Seite zu legen; „denn",
meinte er, „man kann ja nicht wissen, was passnt." Man will berechnet
haben, daß der alte Herr in den achtzig Jahren, die er gelebt und geraucht,
etwa vier Tonnen, also achtzig Centner, Tabak in Rauch und Asche ver¬
wandelt und eine Viertelmillion Quart Bier dazu vertilgt hat.
Daß eine von der allgemeinen abgesonderte Sprache eines Volksstamms,
der auch geographisch gesonderte Wohnsitze hat, eine G efahr für den Bestand
des Staates enthält, das hat sich nirgends so unzweifelhaft erwiesen, als in
Oestreich. Wer hätte vor SO Jahren geahnt, daß nicht blos Magyaren,
sondern auch Tschechen, Kroaten, ja sogar das kümmerliche Häuflein Slo-
venen besondere Reiche würden bilden wollen? Heute ist diese merkwürdige
Erscheinung schon längst eine Thatsache. Und was war die erste, wenn nicht
die einzige Veranlassung zu der Absonderungssucht? — Es war die besondere
Sprache der Volksstämme.
Ein hervorragender Antrieb zur Gegnerschaft gegen den Staatsverband,
dem anderssprechende Stämme angehören, ist dann vorhanden, wenn solche
Stämme an der Grenze wohnen, jenseits deren nahe Verwandte einen eignen
Staatsverband bilden, wie das in Oestreich bei den Italienern, Rumänen,
Serben. Ruthenen der Fall ist. Verschärft wird der Gegensatz durch Ver¬
schiedenheit der Religion mit dem herrschenden Volk, wie wir in Preußen
das bet den Polen empfinden müssen.
Nicht blos bei den vorzugsweise als Polen bezeichneten Slawen in
Posen und Westpreußen ist der besondere Antrieb und die Veranlassung
!Ur Verschärfung des Zwiespalts vorhanden, sondern auch bei den polnisch¬
sprechenden Oberschlesiern. Das Landvolk sowie die niedere Stadtbe¬
völkerung in den deutschen Kreisen des Regierungsbezirks Oppeln,
^eisse. Grotkau. Falkenberg. Neustadt, ist zwar, wie im polnischen Theile,
auch katholisch; darauf aber kommt weniger an. Wichtiger ist. daß ver
höhere Bürgerstand und ebenso die größeren Gutsbesitzer im ganzen Regierung?-
Bezirk weit überwiegend protestantisch und selbstverständlich deutsch sind.
Dennoch schlief das polnische Nationalbewußtsein seit Jahrhunderten in
Oberschlesien so fest, daß kein Mensch vor dreißig Jahren an die Möglichkeit
dachte, es könne durch die verschiedenen Gegensätze neu geweckt werden. Die
Staatsregierung hielt aus dem Grunde ungefähr seit dem Jahre 1830 die
Anordnung nicht mehr aufrecht, daß der Schulunterricht durchweg in deutscher
Sprache ertheilt werden sollte. Das war bei den damaligen Erfahrungen
verzeihlich.
Nicht lange darauf kamen aber die ersten Regungen des Nationalgefühls
bei solchen Volksstämmen in Oestreich zu Tage, in denen es ebenso erstorben
erschienen war, wie in den Oberschlesiern. Es erstarkte dann in einigen
Jahren so weit, daß der Drang nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit
zu bewaffneten Aufständen führte, die blutig niedergeworfen werden mußten,
und daß es eine Zeit lang schien, als wenn der alte, mächtige Kaiserstaat im
Begriff stände, sich in kleine Nationalstaaten auszulösen. Auch seit dem Jahre
1848 erschien und erscheint sein Bestand nur für eine absehbare Zeit, nicht
für die Dauer gesichert. Wenn schon diese Erscheinungen und Ereignisse den
preußischen Staatsmann und Patrioten auf die Gefahren aufmerksam machen
mußten, die aus dem sprachlichen Getrenntsein eines Volksstammes von dem
herrschenden Volke für den Staat erwachsen können, welcher für sich, ohne
die Sprach- und Stammverwandten in Westpreußen und Posen, nicht viel
weniger stark ist, als die Kroaten oder die Slovenen, so mußte das Bedenken
dadurch noch bedeutend vermehrt werden, daß Oberschlesien im Jahre 1848
gar nicht unerheblich national aufgewiegelt war. Man hat das unter dem
Gewicht der vielen unvergleichlich wichtigeren Ereignisse des Bewegungsjahres im
großen Publikum übersehen und jetzt ganz vergessen; bei der Regierung durfte
es aber nicht vergessen werden. Das in der Geschichte einzig dastehende Jahr
ging an den Oberschlesiern keineswegs unbeachtet vorüber; auch ihrer bemächtigte
sich die in Mitteleuropa allgemeine Aufregung, auch sie erwarteten allgemeine
Glückseligkeit, die aus großen Umwälzungen hervorgehen sollte. Seit dem posener
Aufstandsversuch des Jahres 1843 befanden sich in dem Bezirk einige polnische
Aufwiegler, die bisher mit schlechtem Erfolg gearbeitet hatten. Jetzt, bei dem
freien Versammlungsrecht und der Redefreiheit, die man sich nahm, bei der Er¬
lahmung der Staatsgewalt fiel es ihnen nicht schwer, dem Volke vorzuspiegeln,
daß die erste Bedingung der Erfüllung ihrer hochgespannter Erwartungen
darin bestünde, daß sie sich als echte „Söhne Polens" erwiesen und sich in
das „Polenreich der Piaster", welches man im Begriff stehe, wieder herzustellen,
einverleiben ließen. Die Agitation wurde von Posen aus geleitet und hatte
ihren Heerd in Beuthen, wo einer der thätigsten Aufwiegler, Lepkowskt,
seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Das meiste zur Bearbeitung des Volkes
that die Presse. Oberschlesien besaß damals schon sein eignes national¬
polnisches Organ, es war der „DsienmK", der in dem ansehnlichen Wallfahrts¬
orte Deutsch-Piekar nahe bei Beuthen erschien. Um die „patriotischen"
Schriften leichter zu verbreiten und die nicht eben wenigen wackeren Leute,
die nicht lesen konnten, mit in die Bewegung zu ziehen, wurden Lesevereine
(V-Mlnie) gegründet. Den Gipfel des Agitationsapparates bildeten aber
National-Klubs, in denen „nationale und demokratische Gesinnung" durch
das lebendige Wort geweckt und entwickelt wurde. Bet all dieser eifrigen
Thätigkeit hätten die großpolnischen Träumer auf die Masse des oberschlesischen
Volkes keinen erheblichen Einfluß, und sie würden dessen noch weniger gehabt
haben, wenn nicht schon damals die Geistlichkeit ihre Bestrebungen unterstützt
hätte. Als das Ministerium Manteuffel berufen wurde, hörte in kurzem die
ganze Bewegung auf, rascher als in Posen, der „Dsieimil!" von Piekar ging
ein, die Nationalklubs wurden geschlossen, die Lesevereine lösten sich von
selbst auf, die Agitatoren verschwanden von der Bühne, und alles schien nur
e>n vorübergerauschter Traum gewesen zu sein. Es schien. Wer wollte den
Zuständen in Oestreich gegenüber behaupten, daß den Erscheinungen des
wahres 1848 in Oberschlesien keine tiefere, dauernde Bedeutung beizulegen war?
Die reaktionären Staatsmänner, die nach 1848 Preußen regierten, schlugen
aber diese Lehren der Zeitgeschichte in den Wind, wie denn noch viele andere und
gewichtigere Lehren an ihrem Ohr vorübergingen. In ihrem überwiegenden
Streben, alte Zustände wieder herzustellen, die der Zeit zum Opfer gefallen
^arm, und in den alten Kirchen die Hauptstütze derselben erkennend, ver¬
nachlässigten sie alle wahren Interessen des Staates, um nur diese zu be¬
festigen. Indem man die polnische Sprache, nicht ohne Grund, als eng
verbunden mit der katholischen Kirche ansah, wurde sie in Posen und West-
^eußen in ihrem Bestände erhalten, in Oberschlesien sogar begünstigt. Als
endlich der Kultusminister v. Muster entlassen war und sein erleuchteter
Nachfolger Dr. Falk 1873 verfügte, daß in allen Volksschulen, auch in denen
^ polnischen Schülern, in deutscher Sprache unterrichtet werden solle, konnte
^ geschehn, daß die noch von Muster auserwählten Organe des Ministers
gegen die Ausführung der Anordnung Widerspruch erhoben. In Oppeln
^ten das alle drei Schulräthe, am eifrigsten der evangelische. Und doch
^ die national-polnische Wühlerei, die in verstärktem Maße noch jetzt sort¬
iert, in dem BeM schon damals im Gange. Die verblendeten Beamten
?ben nicht, daß die besondere Sprache der Bevölkerung dazu die haupt-
"Mchste Handhabe darbot.
. Entsprungen sind die national-polnischen Bestrebungen in Oberschlesten
^ ultramontanen Opposition. Man hat es bei dem heftigeren Kulturkampf
^ ter dem Minister Falk ziemlich vergessen, daß auch der dem Katholizismus
^ s^)r zugeneigte Minister v. Muster den römischen Bischöfen nichts recht
co6 konnte, sondern mit ihnen in stetigen Streitigkeiten lebte, und daß
H unter den nichtgeistlichen Katholiken, die ihrer Kirche mit besonderem
^
Eifer zugethan waren, keine große Anhänglichkeit an den immer doch vor¬
zugsweise ketzerischen Staat vorhanden war. Zu diesen eifrigen Katholiken
gehörte der Schullehrer Karl Micuka zu Königshütte. Er ist eigentlich ein
Deutscher, indem die Sprache, die er am fertigsten spricht, die deutsche ist und
diese dem Vernehmen nach noch heute in seiner Familie hauptsächlich ge¬
sprochen wird. Erst in reifen Jahren erlernte er in der Erkenntniß des
engen Zusammenhanges zwischen der Festhaltung der polnischen Sprache und
der festen Treue für die alleinseligmachende Kirche aus Büchern diese Sprache
und fing dann auch alsbald an, Artikel für polnische religiöse Blätter zu
schreiben. Vor 8—10 Jahren legte er seine Lehrerstelle nieder und unter¬
nahm die Herausgabe eines selbständigen polnischen Blattes, des „ÜAtvIiK."
Es sollte zwar ausschließlich religiösen Interessen dienen, diese erschienen aber
schon damals an allen Ecken und Enden vom Staate so bedroht, daß das
„religiöse" Blatt sich alsbald als ein politisches und zwar ein Oppositionsblatt
in religiösem Gewände entpuppte. Die Einsicht und die Kenntnisse, mit
denen der „Katolik" redigirt wurde, waren recht bescheiden; um so näher
stand er aber dadurch dem Volke, das er überdies durch die religiöse Form,
den Predigerton. die biblischen Phrasen fesselte. Von national-polnischen
Vellettäten hielt sich Herr Miarka anfänglich frei, bis. etwa im Jahre 1870.
einer der geschicktesten Agenten der polnischen Propaganda in Posen, der
Doktor der Medizin Franz v. Chlapowski. sich in Königshütte als Arzt
niederließ.
Dr. v. Chlapowski gehört der unter dem polnischen Adel hochangesehenen
Familie dieses Namens an. welche von dem General der polnischen Armee
des Jahres 1831 von Chlapowski abstammt und sich durch ihre Wirthschaft-
li.steil und ihren daraus entspringenden Wohlstand, aber auch durch ihren
Ultramontanismus und ihren polnischen Patriotismus auszeichnet. Er soll
sich zuerst der Theologie gewidmet und es bis zur Priesterweihe oder doch
zu einer der vorhergehenden Weihen gebracht haben. Es ist kein Zweifel,
daß ein geistlicher Arzt vermöge dieses seines Doppel-Charakters ganz besonders
zur Beeinflussung des Volkes, namentlich des katholischen, befähigt ist. Ge¬
wiß hat Herr v. Chlapowski diese Befähigung bei seiner Ausbildung im
Auge gehabt; daß er seinen Beruf nicht in der Ausübung der ärztlichen
Kunst an sich sucht, sondern mehr nur als Mittel zum Zweck behandelt, das
ergiebt sich daraus, daß er seinen Aufenthalt fortwährend wechselt. Ich^
nachdem er ihn soeben wieder einmal nach dem Posenschen verlegt, hat er
sich (in Schildberg) zum Landtagsabgeordneten wählen lassen und wird also
einen großen Theil der nächsten Jahre in Berlin zubringen.
Als Dr. v. Chlapowski um das Jahr 1870 für ein paar Jahre in
Königshütte seinen Hauptaufenthalt nahm, zeigte sich sein Einfluß «us
Miavka, der in ihm vielleicht zum ersten Mal einen echten Vertreter der „pol¬
nischen Nation", einen polnischen Edelmann, vor Augen bekam, sehr bald
darin, daß der „Katolik" anfing von der polnischen Nationalität zu sprechen,
selbe auch den Oberschlesiern zuschrieb, sie auf die „Brüder" jenseits der
Provinz- und der Landesgrenze aufmerksam machte, die katholische Religion
und die polnische Nationalität gleichstellte, die Bewahrung der letzteren als
heilige Pflicht aufgab u. f. w. Obwohl Herr Miarka sich in dieser Frage
immer noch sehr gemäßigt verhielt, verstieß er doch in anderen Beziehungen
so oft gegen das Preßgesetz, daß er einmal über das andere zur Untersuchung
»ezogen wurde und sich Gefängnißstrafen von zusammen nahezu 1^2 Jahren zuzog.
Als er um Johanni 1873 sich der Abbüßung derselben unterzog, veranlaßte
Dr. v. Chlapowski bei dem posener Central-Comite' der Propaganda die Ab-
sendung eines Stellvertreters in der Redaction des „Katolik". der die
Nationalitätsfrage in dem Blatte mit viel mehr Dreistigkeit behandelte.
Der Weltpriester Franz Przyniczynski wanderte im Jünglingsalter aus
Russisch-Polen in Preußen ein, besuchte das katholische Gymnasium in
Posen, widmete sich dem geistlichen Stande und wurde als Religionslehrer
»in Lehrer-Seminar in Paradies angestellt. Mit solcher Sorgfalt wurde
^ Mühlerscher Zeit bei der Auswahl von Männern zur Besetzung
eines so wichtigen Amtes verfahren. Herr Przyniczynski ist selbst¬
verständlich ein eifriger Pole und Feind der Deutschen, an die ihn nichts in
seinem Herzen bindet, auch nicht Dank für die Gastlichkeit und das Vertrauen,
welche ihm, dem Ausländer, hier gewährt werden. Er rückte im „Katolik"
bald mit der bis dahin unerhörten Behauptung vor, Oberschlesien sei „pol¬
nische Erde", auf die allein die oberschlestschen, sowie die übrigen Polen ein
Necht haben', die Deutschen .seien „Fremde" , die hier nur geduldet werden.
größere Nachsicht für ihr Dasein schienen sie nur rechnen zu dürfen,
Kenn sie „gute Katholiken" waren. Ja, der fremde Priester ging in seiner
Keckheit so weit, von den Deutschen mit Spott und Hohn zu sprechen, na-
Kentlich sie mit dem Spitznamen „Fritzchen" zu bezeichnen. Das alles hatte
«atürlich nur den Zweck, das polnisch-sprechende overschlesische Volk von seinen
Rutsch-sprechenden Mitbürgern zu trennen, in ihm gegen diese möglichst viel
^Neigung zu wecken und ihm eine Art von Nationaldünkel beizubringen.
Im Jahre 1874 überwarf sich Herr Przyniczynski vorübergehend mit
v. Chlapowski. gab die Redaktion des „Katolik" auf und gründete in
^M nahen Beuthen ein Konkurrenzblatt, die „Gazeta goruoszlaska" (Ober-
schlesische Zeitung). Die dazu nöthigen Mittel erhielt er offenbar von der
pvsener Propaganda. die das Blatt auch bis auf den heutigen Tag aufrecht
ehalten hat, indem es ohne diese Stütze kaum über ein halbes Jahr Bestand
behalten hätte. Vor kurzem kam die Nachricht aus Beuthen O.-S., daß dort
sogar eine „polnische Druckerei" eingerichtet worden sei, welche hauptsächlich
die „Gazeta gornoszlaska" an das Tageslicht fördern soll. Der Druck wird
dem Herrn Przyniczynski wohl billig zu stehen kommen, und er wird wegen
Bezahlung desselben künftig nicht in Verlegenheit kommen. Aber er ver¬
dient auch diese kräftige Unterstützung, er dient nicht blos in seinem Blatte
mit großem Eifer, mit allen seinen Kräften der Idee eines neuen jesuitischen
Polenreiches, sondern auch durch seine anderweitige persönliche Thätigkeit.
In Unverfrorenheit der nationalen Agitation that und thut er es Herrn
Miarka zuvor, der seinen „Katolik", den er jetzt in Nikolai, einer kleinen
Stadt im Kreise Pleß, erscheinen läßt, seit seiner Entlassung aus dem Ge¬
fängniß wieder selbst redigirt, wenn auch nicht unter eigner Verantwortlich¬
keit. Letzterem, als gebornen Schlesier, steckt die Loyalität gegen Preußen
und seinen König im Blut, er vermag sie nicht ganz loszuwerden; er ist
vorzugsweise religiöser Fanatiker und hält das Polenthum hauptsächlich als
solcher hoch, also mehr als Mittel zum Zweck. Nie, sagt er, werden die
Polen, so lange sie ihre Nationalität bewahren, ihrem Glauben untreu
werden ! Und er hat insofern Recht, als die Unkenntnis) der deutschen Sprache
ein Hinderniß für die Erwerbung einer größeren Bildung ist. Bei dem an¬
gegebenen Standpunkt leistet der „Katolik" doch ganz Anerkennenswerthes in
den Bemühungen, die polnischen Oberschlesier gegen die Deutschen, gegen den
Staat und seine Regierung aufzuwiegeln und ihnen Nationaldünkel beizu¬
bringen. Wenn er über Liberale, Freimaurer u. s. w. herzieht, wird gern
darauf aufmerksam gemacht, daß es Deutsche sind, die bekämpft werden.
Das Dreikaiserbündniß vergleicht die tiefe politische Weisheit des „Katolik"
in Betreff des Südslawen-Aufstandes mit dem Bündniß des schlauen Fuchses,
des „verschlagenen Affen" und der gutmüthig»« Katze, welche letztere (Oest¬
reich) ihre Pfoten zum Herausholen der Kastanien aus der Glut herzugeben
gezwungen wird, während jene den Vortheil davon haben. Als der impor-
tirte polnische Fanatiker, Dr. Brodziak in Königshütte, eine mehrmonatliche
Gefängnißhaft, zu der er wegen Majestätsbeleidigung verurtheilt war, abge¬
büßt hatte und entlassen war, entblödete sich der „Katolik" nicht, ihn „freudig"
zu begrüßen und „von ganzer Seele herzlich willkommen zu heißen" — ihn,
den Beleidiger des hochverehrten Monarchen. Was bleibt da von der ab¬
wechselnd versicherten treuen Unterthanschaft noch übrig?
Solche unbedachte Fälle des Verrathes der wahren Gesinnung kommen
beim .Katolik" indeß nur ausnahmsweise vor, bei der „Gazeta gornoszlaska"
bilden sie die Regel oder vielmehr, die Staats- und deutschfeindliche Gesin¬
nung tritt in ihr ganz unverhüllt auf. Nur einige Proben davon: Zunächst
kann das Blatt seinen Lesern nicht oft und eindringlich genug einprägen,
daß ihre „Brüder" allein in den „Polen" in den Provinzen aller drei Theil-
machte zu suchen seien, daß sie mit den Deutschen in gar keiner inneren Ge¬
meinschaft stehen; die deutschen Lokalblätter Oberschlesiens sind eine „fremde
Presse"; es wird deswegen gefordert, daß von den Oberschlesiern in erster
Reihe Polen zu Abgeordneten gewählt werden. Wenn der Zusatz „und gute
Katholiken" nachschleppt, so geschieht das mit der resignirten Einsicht, daß
die Wasserpolen erfahrungsmäßig doch deutschen Ultramontanen vorwiegend
'hre Stimmen geben. In einer Wahlanrede, die einem posener Blatte ent¬
nommen ist, aber ohne Bemerkung auf Oberschlesien angewendet wird, heißt
^: „Durch Zulassung Gottes sind wir nach Verlust unseres Vaterlandes und
unserer nationalen Selbständigkeit Bürger eines fremden Landes geworden."
Somit soll der Oberschlesier glauben, daß auch er sein Vaterland verloren
habe. In einem anderen ebenso entlehnten Artikel werden dieselben aufge¬
fordert, in geschlossnen Verbände mit ihren übrigen polnischen Brüdern „einen
festen Damm gegen das Eindringen der Deutschen" zu bilden. Die Deut¬
schen entziehen den Polen nicht nur eigennützig im Gewerbsleben allen Gewinn
und verdrängen sie aus dem Besitz der Güter, sie sind auch die Unterdrücker
'bref heiligen Glaubens und ihrer Nationalität. Die Deutschen haben die
abscheulichen preußischen Maigesetze und die Gesetze wegen der himmelschreien¬
den Einschränkung des Gebrauchs der polnischen Sprache erdacht und ge¬
macht. Die hochsinnigen polnischen Vorfahren hätten lieber den Tod,
^s „das Joch der Fremden" ertragen, solche Helden sollen auch die
guten Wasserpolaken sein. Als Vorbilder werden ihnen namentlich die —
^logauer vorgehalten. die (in dem bekannten unglücklichen Feldzuge Kaiser
Heinrichs II. gegen Boleslaus Chrobry) vor — neunhundert Jahren mit
Todesverachtung das ganze feindliche Heer von ihren Mauern zurückschlugen,
beider stand dem glühend patriotischen Redakteur kein besseres Beispiel aus
^'egen der Polen gegen die Deutschen, an denen auch die Schlesier auf
fetten der Polen betheiligt waren, zu Gebot. Genug der Anführungen, um
le gläubige „Gazeta gornoszlaska" zu charakterisiren!
Es sei hier nur noch bemerkt, daß die vorwiegend von deutschen Ultra-
montanen besuchte und geleitete „Versammlung schlesischer Katholiken" des
zusenden Jahres die „Gazeta gornoszlaska" der Unterstützung aller guten
Katholiken empfahl.
Kein Zweifel, daß die beiden polnischen Hetzblätter durch ihr ununter-
wchenes Bohren, Reizen. Aufstacheln, Verdächtigen, Schmähen allein aus-
^chen würden, in kurzer Zeit die ganze polnisch-sprechende Bevölkerung
.Schlesiens meuterisch zu machen, wenn man im Stande wäre, sie in
^ ermanus Hände und zu jedermanns Gehör zu bringen. Zur Erreichung'^ses Zieles setzen denn auch die Redakteure und Helfershelfer alle Hebel in
Regung. Zunächst ist für beide Blätter und ihre Leser der Segen
des Heiligen Vaters beschafft worden — der Segen des Statthalters Christi für
Organe des Hasses! Przyniczynski, als umsichtiger Geschäftsmann, kündigte diesen
Segen gegen das Ende des Quartals an, behielt ihn aber bis zum Beginn
des neuen Vierteljahrs im Sack, damit ihn — recht viele neue Abonnenten
mitgenießen könnten.
Ein Hauptmittel zur Verbreitung der oberschlesischen, wie der anderen
polnischen Hetzblätter bilden die polnischen „Lesevereine", deren sich schon die
Wühler des Jahres 1848 bedient haben, wie oben berichtet wurde. Den
ersten gründete Dr. v. Chlapowskt in Königshütte; jetzt giebt es deren eine
ganze Anzahl in Städten und Dörfern. Sie werden meistens von Kaplänen
geleitet, die durch ihre mündlichen Erläuterungen den Eindruck der Druck¬
schriften bestens zu verstärken bemüht sind. Ueberhaupt ist die römische Geist¬
lichkeit Oberschlesiens, obwohl sie vorwiegend aus Deutschen besteht, die
Hauptstütze der national-polnischen Presse und der ganzen Wühlerei. Durch
sie wird nicht blos das Abonnement auf jene den Bauern und anderen
Gläubigen aufgedrungen, manche Priester halten auch aus eignem Beutel
mehr oder weniger Exemplare derselben und vertheilen sie unter Un¬
bemittelte.
Neu eingeführt wurden durch I)r. v. Chlapowski die „Kolko", polnische
Unterhaltungsgesellschaften, in denen bei Tanz, Musik, Bier und heiteren
Gesprächen die „nationale Idee" verbreitet werden soll. Diese Art von pol¬
nischen Bereinen ist die unschädlichste; wenn die Gründer derselben oder doch
irgend ein geistlicher Führer nicht beständig gegenwärtig sind, so tritt in ihnen
bald der Branntwein als erstes nationales Unterhaltungsmittel in seine
Rechte. Dr. v. Chlapowskt gründete zuerst in Königshütte ein Kollo, dann
in Beuthen, als er nach mehrmonatlichen Reisen dorthin seinen Aufenthalt
verlegte. Letzterer Verein besteht hauptsächlich aus vorstädtischen Bauern,
außerdem aus einigen Schuhmachern und anderen kleinen Handwerkern-
Aehnlich wird vermuthlich die Zusammensetzung der übrigen gleichen Vereine
in mehreren kleinen Städten und Dörfern des östlichen Oberschlestens be¬
schaffen sein. Dennoch hat sich unter den Mitgliedern der Kolkos das Ma¬
terial gefunden, aus dem besonders der vielseitige Redakteur Przyniczynski
Schauspieler drillte, indem er mit ihnen, z. Th. unter Zuziehung einzelner
wirklicher Schauspieler, in einigen Städten Theaterstücke zur Aufführung
brachte. In Beuthen wurde u. A. die Geburt Jesu zum Besten gegeben, in
der als Verkündigungs-Engel bei den Hirten ein strammes Frauenzimmer
mit mächtigen Papier-Fittigen auftrat und fast den meisten Beifall bei der
dankbaren Zuhörerschaft erntete. Unabhängig von Herrn Przyniczynski leitete
sein Konkurrent. Herr Miarka, die nationalen Bühnen in Nikolai und in
dem benachbarten Sohrau. Er speiste diese Kunstanstalten z. Th. mit eignen
Werken, darunter „das Glöckchen der Heiligen Hedwig." Man brachte zu¬
nächst vorzugsweise nur harmlose religiöse Stoffe zur Aufführung, um die
Staatsbehörden erst sicher zu machen. Die gehässigen, aufwiegelnden würden
wohl alsbald gefolgt sein, wenn die Bezirksregierung nicht, gestützt auf
einen ez. der Gewerbe-Ordnung, dem spät durch ein Verbot ein Ende ge¬
wacht hätte.
Noch ist zu erwähnen, daß besonders durch Dr. v, Chlapowski. der bis
Johannis d. I. die Stellung einer Art von Hauptagenten der polnischen
Propaganda für Oberschlesien einnahm, eine beträchtliche Anzahl von polnischen
Handwerkern, auch einige Aerzte, Apotheker u, s. w- von bewährten National-
e'fer aus Posen, z. Th, auch aus Galizien nach Oberschlesien gezogen worden
sind, gewissermaßen um die Rasse zu veredeln. Diese vereinzelten Eiferer ver-
mögen aber höchstens in den Kolkos vor einer Handvoll schon anderweitig
hinreichend bearbeiteter Zuhörer den Ton anzugeben, für die Masse der
Bürgerschaften bleiben sie ganz ohne Einfluß; wohl aber hat schon mancher
von ihnen für das Ueberwallen seiner nationalen Gefühle vor ven Richter
treten und sich einsperren lassen müssen. Von der Bestrafung des Dr. Brod-
ziak (eigentlich Brodsack) in Königshütte haben wir bereits Erwähnung ge¬
than. Ein Uhrmacher, wie dieser ein Posener. wurde gleichfalls wegen
Majestätsbeleidigung zu einem Jahr Gefängniß verurtheilt. Es kam dabei
Sur Sprache, daß er im Bierhause auch von „deutschen Hunden", die aus
dem Lande zu treiben seien und vor denen der Pole, wenn er ihnen begegne,
ausspucken müsse, gegeifert hatte. Solche Sprache darf der polnische „Patriot"
Wohl eher in einer Winkelkneipe Posens, aber nicht in dem immer noch vor¬
liegend gut preußischen Oberschlesien wagen.
Ja. Oberschlesien ist noch gut preußisch, in seinen gebildeten Ständen
auch gut deutsch gesinnt. Alle Mühen und Künste der Aufwiegler haben
Während 6 bis 8 Jahren auch bei der Masse des polnischsprechenden Volkes
"ur einen unerheblichen Erfolg gehabt, die Zahl der für die polnische Idee
^ Oberschlesien ernstlich Gewonnenen wird vielleicht nicht über Hundert hin¬
ausgehen. Aufgewiegelt sind die Massen, wer sollte das bestreiten? Aber
nicht für ein Phantasie - Polenreich, sondern einzig religiös. Alles, was die
Wühler über die Bedrängniß und Bedrohung der katholischen Religion dem
einfältigen Volke vorschwindeln, das dringt zu seinem Herzen, das regt es
"uf- In der Beziehung leisten die Nationalitätswähler nur die Nebenarbeit;
^ Hauptarbeit ist schon vor ihnen und dann mit ihnen Hand in Hand von
ultramontanen Priestern besorgt worden. Der Erfolg entspricht denn
auch diesen Bestrebungen: Die Landtags- und Reichstagswahlen fallen in
sast ganz Oberschlesien auf Ultramontane, nicht aber auf Vertreter der
Drüschen Bestrebungen. Ein weiterer Erfolg besteht in der noch vermehrten
Kirchlichkeit. Von der Einwirkung der nationalen Agitation findet sich da¬
gegen bei der großen Masse kaum eine Spur, auch nicht einmal ein größerer
Eifer für die „Muttersprache", die ja hier nicht in einem guten Polnisch,
sondern in dem Wasserpolnisch, voll von deutschen Einmengungen, besteht, von
dem die „Gazeta gornoszlaska" selbst geäußert hat, daß es für den Großpolen
oft ganz unverständlich sei. Nun soll der Wasserpole, dem das „Lernen"
noch aus der Schulzeit ein Grauen ist, in reisen Jahren wieder lernen: diese
Zumuthung kann ihn nur abschrecken. Er bleibt bei seinem Kauderwelsch
stehen, das ihm freilich immer sehr lieb war und lieb bleibt, und läßt seine
Kinder Deutsch lernen, das ihnen doch für ihr Fortkommen nützlich ist.
Wie sehr sich die polnische National-Partei über die Erfolge ihrer
Agitation in Oberschlesien täuscht, das hat soeben die Landtagswahl erwiesen.
Der „Dziennik Poznanski", eins ihrer Organe, forderte in der Zeit der
Wahlvorbereitung die Aufstellung von „mehreren Kandidaten" ihrer Partei
in Oberschlesien. Als es zur Entscheidung kam, konnte man sich hier nicht
zur Aufstellung eines einzigen entschließen; der Märtyrer Miarka, der zu
dieser Partei kaum zu rechnen ist, fiel mit seinem priesterlichen Nebenmann
in dem Wahlkreis Groß-Strehlitz-Sublinitz, in dem das slawische Element
der Zahl nach ganz besonders stark ist, gegen zwei Reichstreue durch. Die
Stadt Beuthen und das Beuthener-Land, bestehend aus den bergwerks- und
butterreichen Kreisen Beuthen, Tarnowitz, Zabrze und Kattowitz, ist von je¬
her der Heerd der polnischen Wühlereien. Dr. v. Chlapowski ist hier in
jedem Dorfe bekannt und hochgeschätzt wegen seiner unentgeltlichen Kuren,
wegen seines musterhaften Katholizismus, wegen seines geistlichen Wesens,
wegen seiner Herablassung als Edelmann und anderer Tugenden; die ge-
sammte Geistlichkeit des Wahlkreises steht mit Enthusiasmus hinter ihm;
nichts desto weniger wagte mau nicht, ihn als Wahlkandidaten aufzustellen,
sondern blieb bei den früheren Abgeordneten, deutschen Ultramontanen, stehen,
und diese — fielen durch. Aus der ultramontanen bedeutenden Majorität
des Wahlkreises im Jahre 1873 war trotz oder vielleicht — gerade infolge
der angestrengten polnischen Agitation eine liberale und reichstreue Majorität
von 65—70 Wahlmännerstimmen geworden. Auch bei der Reichstagswahl
erhoffen die Liberalen wenigstens in einem der beiden Wahlkreise, in die das
Beuthener-Land getheilt ist, den Sieg.
Trotz dieses vorläufigen Mißerfolges darf die polnische Agitation in
Oberschlesien doch nicht geringgeschätzt und unbeachtet gelassen werden. Das
könnte sich schwer strafen, wenn über Preußen wieder einmal ein wenn auch
nur vorübergehender Zustand der Schwäche der Staatsgewalt kommt.
Die Versicherung des Ministers Hofmann in der dritten Sitzung des
Deutschen Reichstages, daß durch die beabsichtigte Reorganisation einzelner
Abtheilungen des Reichskanzleramtes die Verwaltung Elsaß-Lothringens in
keiner Weise berührt werde, hat hier die in Folge der an die betreffende Denk¬
schrift angeknüpften Discussion in zahlreichen Preßorganen erzeugte Aufregung
einigermaßen beschwichtigt. War doch von nichts Geringerem die Rede, als
von der Schöpfung eines elsaß-lothringischen Ministeriums in Berlin. Das
sollte nach der Ansicht des „Elsässer Journals" und seiner Anhänger die
nothwendige direkte oder indirekte Folge jener Reorganisation der obersten
Reichsämter sein.
Das genannte Blatt hat diesem Gegenstande und seiner Ausführung in
jüngster Zeit eine ganze Serie von Artikeln gewidmet und will sich auch heute
noch nicht von seiner jedenfalls irrigen Ansicht trotz jener bündigen Erklärung
bekehren. In einem dieser Artikel wird sogar die etwas bedenkliche Theorie
und sicherlich frühreife Idee eines neuen Particular-Staates Elsaß-Lothringen
allen Ernstes vertreten und vertheidigt. Wir glauben mit gutem Grunde
bezweifeln zu dürfen, daß die darin ausgesprochene Politik mit den Be¬
strebungen und Ansichten der Mehrheit der altelsässtsch-liberalen Partei, wie
sich namentlich im „Landesausschusse" vertreten findet, harmonirt. Welche
Art Verfassung dieser neue Kleinstaat haben soll, — ob eine monarchische
"der demokratisch . republikanische — darüber ist man sich denn auch wohl
"°es nicht recht klar in jenem Lager.
Jedenfalls aber erstrebt man vorläufig ziemlich allgemein im Lande eine
Süßere Dezentralisation und Unabhängigkeit von den Berliner Bureau's.
Und diese Tendenz ist den Elsaß-Lothringern, wenn sie in vernünftiger Weise
^n Tage tritt, kaum zu verdenken. Selbst ein maßgebender Theil der überrhei-
"löcher liberalen Presse kann nicht umhin, dieses Streben in seinem Princip
^kommen gerechtfertigt zu finden. Entspricht es doch der deutschen Anschau¬
ung in diesem Punkte und althergebrachten Traditionen, wie sie mehr oder
^niger in allen deutschen Ländern und Provinzen maßgebend sind. Natürlich
M es dabei, Maß und Ziel zu halten und in dem Streben nach Reformen
'"l Einzelnen nicht das allgemeine Wohl aus dem Auge zu verlieren.
Hand in Hand geht damit die gewiß ebenso berechtigte Agitation für
°le Erweiterung der Befugnisse des L antes» Ausschuss es. Es ist der
sehnlichste und schon wiederholt ausgesprochene Wunsch aller Elsässer, denen
"^n in diesen Dingen ein competentes Urtheil zutrauen darf, möglichst bald
"us ihrem parlamentarischen Embryo sich eine wirkliche und ordentliche
Volksvertretung mit allen Rechten und Pflichten einer solchen entwickeln zu
sehen. Ein guter Anfang dazu ist mit dem kürzlich dem Bundesrathe vor¬
gelegten und hier, — wie seiner Zeit berichtet, — mit großer Freude und
Einmüthigkeit aufgenommenen Entwurf, betr. die Landesgesetzgebung Elsaß-
Lothringens gemacht. Zu bedauern wäre es jedenfalls, wenn, wie neuerdings
verlautete, dieser Entwurf, der trotz entgegengesetzter Anführungen eines
Theiles der nationalliberalen Presse uns eine weitere Etappe in der ver¬
fassungsmäßigen Fortentwicklung des Reichslandes zu bilden scheint, dem
Reichstage in seiner gegenwärtigen Session noch nicht vorgelegt würde.
Was die hier und da signalisirte Bewegung rücksichtlich der bevorstehenden
Reichs tags wählen in Elsaß-Lothringen angeht, so tritt dieselbe im
Schooße der Bevölkerung nur sehr sporadisch, oder eigentlich zur Zeit noch
gar nicht hervor. Nur die größere Provinzial-Presse, an der Spitze wieder
das „Elsässer Journal" und der Mühlhauser „Industrie!" haben hin und
wieder Propaganda dafür gemacht und sogar versucht, ein einheitliches
Programm aufzustellen. Das ist aber, wie es scheint, gescheitert. Das erstere
Blatt wollte wo möglich alle frühern Parteien, Imperialisten, Orleanisten,
Republikaner u. f. w. unter einen Hut bringen. Der „Industrie!" ist damit
aber nicht einverstanden, weist vielmehr jede nähere Verbindung mit den
„Männern des Verbrechens", will heißen, den alten Anhängern des Kaiser¬
tums — von sich ab.
Die Folge wird wohl die sein, daß der demnächstigen Wahl jede einheitliche
Leitung fehlen, und die Partei, welche im Finstern schleicht und unter der
Hand alles klug abzumachen weiß, wieder, wie früher, den Löwenantheil
davon tragen wird. Ueberhaupt ist bezüglich der Partei-Verhältnisse im
Reichslande noch alles im Werden begriffen, noch nichts eonsolidirr. Von
einer eigentlichen festen Partei-Organisation nach altdeutschem Muster
kann gar nicht die Rede sein, und wird so lange nicht die Rede sein können,
als man noch in noliticis die landläufige Unterscheidung zwischen Eingewan¬
derten und Einheimischen, „Schwoben" und Elsässern, mit mehr oder weniger
Fug zu machen beliebt.
Die Zeitungs-Nachrichten von einer Jmportation social-demokratischer,
klerikaler oder selbst agrarischer Reichs-Candidaten von jenseits des Rheines
sind wohl in das Gebiet der „Wählenden" zu verweisen. Herr Windthorst
— Candtdat in Schlettstadt, Bürger Gebet in Straßburg ist zwar eine sehr
geistreiche Combination, namentlich wenn die letztere Candidatur von der
Pariser „Tribüne" gelobt und befürwortet wird, darum aber praktisch nicht viel
mehr werth, als wenn die beiden Herren sich auch in Sibirien für den
Russischen Reichstag in fus als Candidaten Präsentiren würden. Jedenfalls
kann man dem Organ des altelsässischen Liberalismus nicht Unrecht geben,
Wenn es den betreffenden Candidaten höflichst empfiehlt, bet ihren Penaten
zu bleiben. —
Die Weinernte — um auch darüber zum Schluß noch ein Wörtchen
hinzu zu fügen — ist seit Eintritt der kalten Witterung so ziemlich in allen
Cantonen des Elsasses und Lothringens beendet. Sie ist etwas besser und
reichlicher ausgefallen, als man anfangs, beispielsweise noch im September
^ches Jahres erwartete, übersteigt jedoch nicht das Maß einer Drittelsernte
Mittlerer Qualität. Das vorige Weinjahr war unbedingt ein in Bezug auf
Qualität und Qantität weit ergiebigeres, als das heurige. Doch kann man
ohne allzu übertriebene Ansprüche sich auch mit dem 1876er „Neuen" zufrieden
„Wann soll man reisen?" Unsere Bädeker. Berlepsch u. s. w. lehren
uns mit dankenswerther Beflissenheit, wie wir am zweckmäßigsten reisen;
über das Wann" schweigen sie. Es ist ja selbstverständlich; man reist
eben in der ..schönen Jahreszeit." Aber welches ist diese? Die Poesie be¬
hauptet: der Frühling, die prosaische Praxis entscheidet sich für den Sommer ;
wer's machen kann.' benutzt beide. Zwar wird der fromme Glaube auf
manche harte Probe gestellt. Welcher Bewohner norddeutscher Städte hatte
nie am lieblichen Pfingstfest im Harz oder im Thüringer Walde, in der
Sächsischen Schweiz oder im Riesengebirge das Lied vom „wunderschönen
Wtonat Mai" gesungen, derweil er hinter dem warmen Ofen der Waldschenke
die erstarrten Glieder mit heilsamem Grog wieder zu beleben bemüht war!
ner hätte nie in den Hundstagen das unbändige Vergnügen genossen, auf
^ Höhe des Rigi Tage. ja. wenn er's aushielt, Wochen lang im frostigen
^bel zu sitzen, das Berner Oberland, die Gotthardstraße. das Engadin bei
°ndlos strömendem Regen, wenn nicht im Schneegestöber, zu durchfliegen!
Aber gereist muß werden, denn mit der Tag- und Nachtgleiche des September
^ es nach allgemeiner Uebereinstimmung mit der „schönen Jahreszeit" un¬
widerruflich zu Ende.
Beklagenswert!) der Mann, den harte Pflicht in den Dunstkreis der
Großstadt gebannt, bis die Sonne den Erdgebornen die Strahlen bereits
in bedenklich schiefem Winkel sendet, der Abend die Genossen des Hauses
schon wieder um den traulichen Theetisch sammelt! Soll es ihm wirklich
versagt sein, Verjüngung zu trinken an dem Quell, da sie allein ächt zu
finden, in der ewig jungfräulichen Erhabenheit des Hochgebirges? — Mit¬
leidiges Lächeln begleitete mich, als ich im letzten Drittel des September
den Freunden Lebewohl sagte, um nach der Schweiz und Tirol zu gehen.
Allerdings, seit dem 26. August hatte es kaum einmal ernstlich aufgehört
zu regnen; dabei eine Temperatur, daß die Kohlen» und Brennholzlager
überlaufen wurden von vorsorglicher Hausvätern, die den Winterbedarf bei
Zeiten zu sichern trachteten. Aber um so stärker war meine Zuversicht. In
Süddeutschland schon zertheilten sich die Wolken, und als ich von der alten
Reichsstadt Lindau nach dem schweizerischen Gestade hinüberdampfte, da war
der endlose Spiegel des schwäbischen Meeres von freundlich warmer Sonne
beschienen, lieblicher als je winkten die grünen Matten des Appenzeller Landes
herüber, und droben ragten im lichten Aether die stolzen Schneefelder des
sentis. Noch gelang es wohl den finsteren Mächten, mir auf der Fahrt
das Rheinthal hinauf hie und da einen Berggipfel zu verschleiern; selbst alle
Schleusen wurden zu guter Zeit noch einmal aufgezogen. Am andern Morgen
aber lachte ein wolkenloser Himmel in das enge Thal hernieder, goldner
Sonnenschein lag auf den Bergeshalden, der Sieg der guten Gottheit war
entschieden, und es begann für 1876 die schönste Jahreszeit.
Was mag es sein, das diesen sonnigen Herbsttagen über das Gemüth
eine so eigenartige, wunderbare Macht verleiht? Die rein äußerliche Wirkung
des größeren Farbenreichthums in der Natur reicht nicht aus, die Thatsache
zu erklären. Aber doch liegt hier die Lösung des Räthsels. Jede Mannich-
faltigkeit von Eindrücken hat etwas Anregendes, Belebendes; eine Mannich'
sättigten von Farbeneffecten zumal, wenn sie unter einander Harmoniren,
wird niemals auf die Seele der erheiternden Wirkung verfehlen. Dazu kommt
andrerseits die Eigenart der herbstlichen Tinten. Dieses Grün, Roth, Gelb
der Blätter trägt nicht das Gepräge frischer Lebenskraft, der Keim des Todes
blickt unverkennbar hervor aus diesen matt abgetöntem Farben. Und so mischt
sich mit der Freude an der bunten Nüaneirung das schmerzliche Gefühl
welches der Anblick verwelkenden Lebens erzeugt, und über das Gemüth lagert
sich jene seltsame Stimmung, welche man als heitere Wehmuth bezeichnen
könnte. Nehmt dazu den überwältigenden Eindruck, den die ununterbrochene
Endlosigkeit des Aethers — oder, wie es der gewöhnliche Sprachgebrauch
nennt, der „wolkenlose blaue Himmel" — hervorbringt, versetzt Euch zudem
mitten hinein in die großartigen Formen des Hochgebirges, und Ihr begreift,
warum das Anschauen der Natur niemals entzückender und ergreifender ZU'
gleich sein kann, als in dem von den Reiselustigen so arg verkannten Herbst.
Unbestreitbar hat die Schweiz weit romantischere Thäler, als den Prätti-
gau. Dennoch kann ich sagen, daß mich der Naturgenuß niemals so in
innerster Seele gepackt hat, wie dort und in jenen Tagen. Auf der Höhe
von Klosters überschaut man den zurückgelegten Weg. Drunten zieht die
schäumende Landquart durch immer grüne Wiesen; hell schimmern im Sonnen¬
glanz die Dörfer und Weiler; in beständig wechselnder Schattirung zieht
sich der Wald die Bergwand hinan, hie und da den Sennhütten Ausblick
gewährend. Nun überschreiten wir den Kamm der Straße, und vor uns breitet
sich, den ganzen Hintergrund sperrend, der Silvrettagletscher, der unver¬
gleichliche Schlußeffect dieses herrlichen Gemäldes. Wie hätte ich in jenem
Augenblicke gewünscht, Alle, die gleich mir mühselig und beladen waren, um
mich versammeln zu können. Der Politiker, dem das gehässige Treiben der
Parteien die Freude am Leben vergällte, der Gelehrte, der in dem Staub
der Pergamente zu vermodern begann, der Geschäftsmann, auf dem die schwere
Sorge dieser trüben Zeiten lastet, selbst jene zahlreiche Spezies jüngerer
Unglücklicher, denen um einer gescheiterten Liebe willen der Rest des Daseins
als ein ödes Grab erscheint — sie Alle hätten inmitten dieser Jubelfeier
des alternden Jahres die ursprüngliche Lust am Menschsein ergriffen. Sogar
der Philosoph des Unbewußten, glaub' ich, hätte einen Augenblick vergessen,
die Versenkung in das Nichts als das einzig wahre Glück zu preisen. Und
">cum nicht — nun. Angesichts dieser lachenden Sterbescene der Natur könnte
auch für den Menschen der Tod eine Wonne sein! Mir aber kam aus längst-
vergessenen Tagen eins jener alten Kirchenlieder in den Sinn, die in ihrer
naiven Trivialität so oft den Nagel auf den Kopf treffen, und laut sagte
ich mir die Strophe vor:
„O wunderschön ist Gottes Erde
Und werth, darauf vergnügt zu sein!
Drum will ich, bis ich Asche werde,
Mich dieses schönen Lebens freun!"
In scharfem Contrast zu der lieblichen Mannichfaltigkeit des Prättigaus
steht das Landschaftsbild, welches sich zwei Stunden später vor dem Wanderer
öffnet. In strenger Steigung windet sich von Klosters die Straße den Berg
hinauf nach Davos. Davos hat als Luftkurort in den letzten Jahren eine
^eltberühmtheit erlangt. Wunderdinge werden von der Milde seines Win-
Klimas erzählt. Da ist es verzeihlich, wenn der Neuling ein wahres
Paradies zu finden erwartet. Statt dessen breitet sich vor seinen enttäuschten
Blicken ein einförmiges Hochalpenthal, am oberen Ende ein nüchterner See,,
"n den beiden Längsseiten etwas Tannenwald, langweilige Bergrücken, kahle
Hörner ohne interessante Formung, in weiter Ferne die majestätisch, barocke
Zacke des schneebedeckten Tinzenhorns. Ein unheimlich düsterer Ernst liegt
über dieser Einöde. Das ist kein Ort für anmuthige Kurzweil, nur wer
einer bitteren Nothwendigkeit gehorcht, wird hier verweilen.
Und dennoch, den ersten Eindruck einmal überwunden, fühlt man sich
ganz behaglich da droben. Es hat einen eigenthümlichen Reiz, in dieser
Abgeschiedenheit die Allüren einer passabeln Stadt zu finden. Ich meine das
nicht wegen der zahlreichen Hotels, die, wie überall in der Schweiz, in großem
Style angelegt sind und eine gute Verpflegung spenden, wenngleich es den
rüstigen Touristen manchmal scheinen mag, als ob die Küche etwas zu sehr
auf den weniger intensiven Appetit des lungenkranken Kurgastes berechnet
wäre. Nein, was mehr überrascht, ist die Wahrnehmung, wie für die Be¬
friedigung auch der höheren Ansprüche und Bedürfnisse in ausgedehntem
Maße Sorge getragen ist. Bazar, Buchhandlung, sonstige Läden. Bäckereien
und Metzgereien, Schneider- und Schusterateliers, auch ein elegant ausgestatte¬
ter salon pour Is. eoupo clef elisveux mit doppelten Pariser Preisen — und
das Alles 5000 Fuß über dem Meeresspiegel! Sogar an einer Straßenbe¬
leuchtung mit Gas sowie an einer Straßenbesprengungseinrichtung fehlt es
nicht; doch muß ich als gewissenhafter Berichterstatter gestehen, daß mir nicht
vergönnt war dieselben zu genießen, die erstere nicht, weil grade Mondschein
im Kalender stand, die andere nicht, weil Jupiter Pluvius sein Reservat-
recht in angemessenen Intervallen selbst auszuüben geruhte. — Im Ganzen
macht Davos ein wenig den Eindruck, als ob das Gründungsfieber selbst
bis in diese höchsten Regionen der belebten Schöpfung hinauf gewüthet hätte;
indeß, das gehört mit dazu. Mit einem Worte: man könnte sich ganz wie zu
Hause fühlen, — wenn man in diesem Wahne nicht durch die köstliche Lust
in der angenehmsten Weise gestört würde.
Es läßt sich darüber streiten, welchem der verschiedenen leiblichen Hoch¬
genusse der Vorrang gebühre. Ptndar preist das Wasser, Anakreon den
Wein als das Beste. Ich halte es, wenn die Alternative so gestellt wird,
mit dem letzteren; beiden gegenüber aber gebe ich der Luft den Vorzug.
Reinen Wein kann man in unsern Großstädten im Glücksfälle noch bekommen,
reines Wasser zur Noth auch, reine Luft aber nimmermehr. Da ist denn
die Wonne schier unbeschreiblich, wenn man aus der verrufenen Atmosphäre
der deutschen Kaiserstadt plötzlich in dieses unverfälschte Luftmeer versetzt ist.
Man steigt hinaus auf die Schatzalp und setzt sich auf irgend einen Balken
einer Sennhütte. Der Blick auf das tief unten liegende Davos ist nicht ge¬
rade bezaubernd, die aus .dem baumlosen Kurgarten herausschallende Musik
weckt nur deshalb ein behagliches Gefühl, weil man sich freut, soweit von
ihr entfernt zu sein — aber man athmet, athmet mit voller Lunge, in
langen, tiefen Zügen, und es wird einem so leicht um's Herz, daß man
jauchzend ausrufen möchte: Was ist der Nektar der Götter gegen solche
Seligkeit! — Es mag dahingestellt bleiben, ob nicht eine kleine Dosis Aber°
glauben mitwirkt, wenn man der Davoser Luft eine ganz specifische Vortreff¬
lichkeit zuschreibt. An plausibler Erklärung für die letztere fehlt es indeß
nicht. Zum mindesten liegt auf der Hand, daß die eigenthümliche Configura-
tion des Thales, welche eine vollständig geschützte Lage gewährt, ohne die
Nachtheile der Kesselformation zu haben, das stete Zuströmen frischer Luft
gestattet, derselben jedoch die Rauheit nimmt, die ihr sonst bei gleichem
Höhegrade eigen zu sein pflegt.
Ein Uebelstand des Davoser Naturgenusses aber, den man recht unan¬
genehm empfindet, ist die trostlose Beschaffenheit der Spazierwege. Von
einem weltberühmten Kurorte darf man in dieser Richtung billigerweise Einiges
verlangen, zumal es sich eigentlich nur um ein paar Fußsteige nach der Schatz-
alp hinauf handeln kann. Mir für meine Person ist es zwar einer der
ergötzlichsten Momente gewesen, als ich, den halsbrecherischen Pfad im
Schweiße meines Angesichts hinabgestiegen, unten den freundlichen Wink des
..Verschönerungsvereines" las: „Wir empfehlen diesen Fußweg dem Schutze
des Publikums." Indeß, verehrtes Publikum, wenn ich Dir rathen darf, so
thue dem Verschönerungsverein den Gefallen und verschone seinen Fußpfad
ganz! Es ist doch nicht Jeder aus so dauerhaftem Stoffe geschaffen, wie
Unsereins! Ein Stückchen weiter hinaus steigt sich's ganz bequem auf grünem
^äsen hinauf und herab, und schwindet einem ab und zu einmal der Boden
unter den Füßen, so fällt man wenigstens weich und hat Gelegenheit, sich
durch den Genuß selbstgepflückter Waldbeeren über die unfreiwillige Ver¬
änderung der Lage zu trösten. Zur Entschuldigung für die Mangelhaftig-
keit der Wege glaubt man freilich die verheerenden Wirkungen des Schnees
"»führen zu können. Aber warum sollte der Schnee grade auf der Davoser
Schatzalp ein so ganz besonderer Unhold sein? Die- schroffe Felswand des
Kroßen Mythen zum Exempel, die an die 7000 Fuß hoch in die Lüfte ragt.
^ den Unbilden des Wetters doch ganz anders ausgesetzt. Aber der Ziel-
s^rveg, den der Schweizerische Alpenkind dort hinaufgebahnt hat, verhält
^ zum Schatzalpwege wie die Eisenbahn zum Knüppeldamm.
Wer sich übrigens in Davos mit der vortrefflichen Luft nicht begnügen,
sondern durchaus Naturromantik genießen will, kann bequem einen lohnenden
Ausflug thalabwärts nach „den Zügen" machen. Nach einer einstündigem
^zlosen Strecke verengert sich das Thal, eine Reihe anmuthtger Bilder folgt
Zander, das „Landwasser", ein frischer, fröhlicher Gletscherbach, braust stärker
stärker, "bis schließlich die Bergkolosse sich von beiden Seiten hart an
^sMe herandrängen und die Chaussee ihren Weg durch die Felswand nehmen
muß. Hier hat man einen Punkt, der den berühmtesten Thalschluchten der
Alpenwelt nicht viel nachgiebt. —
Was Davos aber für den beobachtenden Reisenden ein ganz besonderes
Interesse verleiht, ist die dortige Gesellschaft. Die meisten anderen Kurorte
sind zugleich als Vergnügungsaufenthalt gesucht, haben daher ein stets
wechselndes Publikum, dessen verschiedene Elemente meistens nicht in nähere Be¬
rührung mit einander kommen, als bei den Bewohnern einer Großstadt der
Fall zu sein pflegt. Davos hat, außer den Wenigen, die um Anderer willen
das Opfer der Weltentsagung bringen, nur kranke Gäste. Und welche
Kranken! Mit geringen Ausnahmen sind es Solche, die vor dem furcht¬
barsten Erbfeinde der Menschheit, der Lungenschwindsucht, bei der Allerbar-
merin Natur die Hülfe suchen, welche menschliche Kunst ihnen nicht gewähren
kann. Darum ist langer Aufenthalt geboten, und so kommt es, daß Einer
den Anderen kennt und alle die gesellschaftlichen Beziehungen sich heraus¬
bilden, wie sie unter der dauernd mit einander verbundenen Bewohnerschaft
eines kleinen Gemeinwesens bestehen. Sehr irren aber würde man. wenn
man annähme, daß auf dieser Gesellschaft der bleierne Druck der Resignation
oder gar der Verzweiflung lastete. Im Gegentheil, man ist munter und
guter Dinge, singt und spielt, trinkt Bier, raucht sogar, macht fröhliche
Bergpartien, läuft Schlittschuh im Winter und scherzt beim Husten über die
Kraft der Lungen, welche einem noch geblieben — kurz, das Ganze trägt
das Gepräge des Galgenhumors. Aber auch die Schattenseiten des gesell¬
schaftlichen Zusammenlebens fehlen nicht. Die Gemüther befinden sich
man sagt, es sei dies eine Wirkung der hohen Lage — in einer chronischen
Ekstase, und das dient begreiflicherweise nicht gerade zur Beschwichtigung der
Leidenschaften. Die Medisance wuchert üppiger, als irgend sonst, Liebe und
Haß bewegen die Herzen stärker, als im normalen Zustande, ja es kommt
vor, daß Menschen, die sich dort droben zusammengefunden, um dem Tode
zu entrinnen, einander zum Duell herausfordern. Für den Psychologen und
den Ethiker müßte es eine anziehende Aufgabe sein, die Wirkung der hier
nur flüchtig angedeuteten Erscheinungen auf die Gestaltung des socialen
Lebens genauer zu studiren. Mir machte es den Eindruck, als hätte sich
hier eine kleine Welt für sich mit ganz eigenartigen gesellschaftlichen Gesetzen
herausgebildet.
Bleibt schließlich noch die Frage nach der Heilkraft von Davos. Die
Ansichten darüber scheinen sehr auseinanderzugehen. Unparteiische Beur¬
theiler, welche die praktischen Ergebnisse der Kur längere Zeit beobachtet
haben, versicherten mir, daß ihnen ein Fall wirklicher, gründlicher Heilung
der Lungenschwindsucht nicht bekannt geworden sei. Andererseits weiß
ich aus der eigenen Erfahrung tüchtiger Aerzte, daß eine in den ersten An'
sängen der Tubermlose gebrauchte Davoser-Kur die Krankheit wenigstens
auf längere Zeit zurückgedrängt hat. Soviel scheint aber unter allen Um¬
ständen festzustehen, daß der Aufenthalt in Davos das traurige Loos des
Kranken bedeutend erleichtert. Besonders der Winter, dieser gefürchtetste
Feind der Lungenkranken in unseren Breitegraden, soll in Davos seine
Schrecken verlieren. Von glaubwürdigster Seite wurde mir gesagt, daß das
Wetter in den Wintermonaten vorwiegend klar und ruhig sei, und daß das
Thermometer mitten im Januar während der Mittagsstunden in der Sonne
"se bis zu 25° steige. Man sitzt alsdann auf den Balkonen und Veranden;
s°Kar recht lustige Kaffeepartieen im Schnee sollen vorkommen. Demnach
Kird vielleicht die eigentliche Bedeutung von Davos für die Zukunft darin
^stehen, daß die Patienten, welche dazu in der Lage sind, sich ganz dort
ansiedeln. —
Im Grauen eines frostigen Herbstmorgens an der Monatswende vom
September und Oktober verließ ich Davos. In fahlem Dämmerschein lagen
Weißen Häuser, tief unten in der Thalschlucht lagerten noch die Schatten
°^ Nacht, droben am Himmel erbleichten die Sterne. Ein unheimliches Ge-
fühl beschlich mich; mir war, als weilte ich im Lande der abgeschiedenen
Seelen. Diese Vorstellung hat eine gewisse Berechtigung. Aber es läßt sich
eine freundlichere Seite abgewinnen. Der süße Wunsch so manches
Endlich-frommen Gemüths, die Todten im Jenseits besuchen zu können, hier
er verwirklicht. Die Lieben, welche uns der schwarze Fürst der Schatten
^erleben nur zu bald auf immerdar entreißen würde, da droben bleiben sie
erhalten und in den Erholungspausen des arbeitenden Lebens ist uns
^gönnt, sie als Wesen von Fleisch und Blut wiederzuschauen, sie mit der
Sprache der Menschen zu begrüßen.
^ Bier Sitzungen hat der Reichstag in dieser Woche gehalten. Die
,> ^ng vom 15. November betraf die erste Lesung des Haushaltplanes für
.^-Lothringen auf das Jahr 1877. Denn in den beiden Reichslanden hat
° Begrenzung des Haushaltjahres von April zu April noch nicht Platz
^'fen können wie in Preußen und im Reich. Der Haushaltplan wurde
einer Commission von 21 Mitgliedern zur Vorbereitung der zweiten Lesung
überwiesen.
Am 16. November beschäftigte sich der Reichstag u. A. mit einem Ge¬
setzentwurf zum Schutze nützlicher Vogelarten, einem höchst löblichen Zweck,
dessen Mittel wir hier aber nicht im Einzelnen erörtern wollen. Auch dieser
Gesetzentwurf, dessen Einbringung der Initiative eines Reichstagsmitgliedes
zu verdanken, wurde an eine Commission verwiesen.
Am 17. November trat der Reichstag an das Hauptwerk der Session,
an die großen Justizgesetze heran. Es wäre eigentlich die Aufgabe der Presse,
über die Bedeutung dieser Gesetze und die Art wie die gesetzgeberische Aufgabe
in den bisherigen Stadien, welche jedenfalls für den noch übrigen Weg ent¬
scheidend gewesen, gelöst worden, den gebildeten Theil der Nation in uM-
fassender und eindringender Weise aufzuklären. Daß dies nur in unge-
nügendem Maße geschieht, kann man bedauern, aber man darf Niemanden
darob anklagen. Die Fülle der Aufgaben, welche sich der deutschen Nation
in den letzten Jahren aufgedrängt hat und immer noch weiter aufdrängt,
wäre von dem Geist keines Volkes zu keiner Zeit auf einmal bewältigt
worden, d. h. nicht so, wie es sein müßte, nicht so, daß jedes Werk für das
Allgemeine auch zum allgemeinen Verständniß gelangte. Einzelne Kreise und
Kräfte thun ihr Bestes für das Ganze, und erst wenn alle Arbeiten vollendet
sind, wird die Nation Zeit haben, sich in dem Ganzen ihrer Einrichtungen
zu orientiren und mit Verständniß in dasselbe einzuleben.
Der Versuch, das Werk dieser Justizgesetzgebung, die jetzt im Reichstag
zum Abschluß kommen soll, nicht bloß nach der formalen Seite, daß für das denk'
sche Reich ein einheitliches Gerichtsverfahren geschaffen wird, sondern auch
nach dem Werth und Charakter der gefundenen Lösung zu erläutern, wäre
auch eine dankenswerthe Aufgabe für diese Briefe. Allein nicht blos die
mangelnde Kunst des Berichterstatters, vielleicht auch die mangelnde Aus¬
dauer der Leser, in dieser Zeit immerhin weit ausholenden Auseinander¬
setzungen zu folgen, stellt sich dem Unternehmen abwehrend entgegen. Einige
zum Verständniß der großen Arbeit beizutragen, soll dennoch hier versucht
werden. Dies wird aber am Zweckmäßigsten im Rückblick auf größere Ab¬
schnitte der Verhandlungen geschehen. So sei denn der Beginn dem nächst^
Lange Jahrzehnte hindurch, ja seit dem Ausgang der Reformationszeit
^ nicht so viel vom Papste die Rede gewesen wie heutzutage. Im vollen
Ernste wird von Rom aus der Versuch gemacht, uns alle, Protestanten wie
Katholiken in's Mittelalter zurückzuversetzen, indem man uns dem in
Lehre Thomas von Aquino wurzelnden Papalsystem unterwerfen will,
welches davon ausgeht, daß der Papst als Stellvertreter Petri, Christi, Gottes
^uf Erden Inhaber nicht nur der bischöflichen, sondern aller Gewalt über-
^upt ist, daß er die Kirche besteuern kann, daß deren ganzes Vermögen ihm
gehört, und daß er sogar über das Eigenthum der Laien zum Besten der
^rede zu verfügen berechtigt ist. Auch im Mittelalter ist hiergegen gekämpft
worden, aber nicht sowohl gegen das System, als gegen seine Uebertreibung
^Ad Ausartung in der Praxis. Die Gegenwart mußte dagegen diesem in
letzten Jahrhunderten vorzüglich von den Jesuiten vertretenen Systeme
selbst den Krieg erklären; denn unsere ganze Bildung, unser Staatswesen
^de auf ganz andern Grundlagen als die Culturwelt des Mittelalters.
Lange Zeit kam es der neuen Zeit, als die jesuitische Partei in der katholischen
Kirche die Allmacht des Papstes zurückforderte, wie das Treiben eines aus
em Grabe der Vergangenheit wieder aufgestiegnen, nur wollenden, aber nicht
Anenden Schattens vor, und erst vor Kurzem sah man ein, daß das Ge¬
spenst es mit seinem Anspruch nicht blos ganz ernstlich meinte, sondern auch
^ben und Kraft besaß — namentlich die Kraft zu schaden. Es hat in
Deutschland Familien und Gemeinden entzweit, und es hat eine nichts weniger
unbedeutende reichsfeindliche Partei entstehen lassen. Es hat, als in
Frankreich die bigotte Spanierin Eugenie auf dem Thron saß, einen schweren
Krieg gegen uns heraufbeschworen. Es schürt und wühlt dort noch heute
^gen uns. Es sitzt dem neuen Italien als Pfahl im Fleische. Es verübte
" Spanien durch den Arm des von ihm mit allen Mitteln unterstützten
Mutigen Prätendenten drei Jahre hindurch allerlei Greuelthaten.
Insofern ist jedes aus wissenschaftlichem ruhende Buch, das uns die Ge¬
richte der Päpste in allgemein faßlicher Weise erzählt, willkommen zu heißen,
^ ein solches Buch haben wir vor uns. In nüchterner, leidenschaftsloser
T^ise untersucht der Verfasser, woher das Papstthum stammt, wie es zur
seiner Macht gelangt, wie es zu gewissen Zeiten und nach gewissen
y^ten hin nothwendig und nützlich gewesen ist, und warum und auf welche
°ise endlich seine Allgewalt gesprengt wurde, so daß die Gegensätze sich
fortan (nach den Concilien von Constan; und Basel) nur noch äußerlich
gegenüberstanden. Alles das ist in kurzen Umrissen der Hauptpersonen und
der von ihnen geschaffnen Situationen ausgeführt. Doch ist lediglich das
Mittelalter eingehend behandelt, und von der Urzeit des Papstthums sowie
von den Jahrhunderten nach Sixtus dem Fünften wird nur das Nöthigste
kurz erwähnt — mit Recht, da wir in Betreff der neueren Zeit in Rankes
Werk gründliche und reichliche Belehrung finden, das mittelalterliche Papst'
thun aber noch keine Darstellung gefunden hat, die genügte.
Sollen wir gewissen Partien des Buches den Borzug geben, so find es
die Kapitel, welche den Kampf des Papstthums mit dem Kaiserthum unter
den Hohenstaufen und das endliche Unterliegen des letzteren mit dem Unter¬
gange dieses Geschlechts schildern, dessen größter Vertreter, Friedrich der Zweite,
seiner Zeit wie in andern Dingen auch hierin voraus, allen Ernstes daran
dachte, die Herrschaft Roms durch eine unter dem Kaiser stehende Staats¬
kirche zu ersetzen. Nächst diesen Abschnitten bieten das meiste Interesse für
die Gegenwart diejenigen, welche uns den siegreichen Kampf Frankreichs, der
nach dem Zerfall des Kaiserreichs im Vordergrund stehenden Macht, mit
Bonifacius dem Achten darstellen. Deutschland und Italien befanden sich
in einem Zustande unerträglicher Auflösung, wie ihn der Sieg kirchlicher
Politik über den Staat stets zur Folge hatte und haben würde. Da vergalt
den Päpsten, welche diesen Zustand herbeigeführt hatten, Philipp der Schöne,
was sie dadurch nicht blos an den betreffenden Völkern und Fürsten, sondern
an ihrem eignen Interesse verbrochen, in gründlichster Weise. Sie hatten das
Kaiserthum nicht zertrümmern, wohl aber es sich dienstbar machen, bevorzugte
Mitregenten desselben werden wollen. Als es mit Hülfe Frankreichs zer'
trümmert war, besaß der Papst keinen Schutz mehr, und als er den Kampf
mit Philipp wagte, mußte er unterliegen, und für lange Zeit trat das
Gegentheil von dem ein, was Gregor und Innocenz erstrebt hatten. Das
Papstthum ging in's Exil nach Avignon und wurde von den französische"
Königen abhängiger, als es seit den Ottonen je von den Kaisern
Wesen war.
Caroline Herschel ist die Schwester des Astronomen Wilhelm Herschel-
ihre Briefe und Denkwürdigketten aber sind in gewissem Grade eine Lebens¬
beschreibung dieses epochemachenden Entdeckers in der Sternenwelt, wenigstens
vortreffliche Beiträge zu einer guten Biographie desselben, die noch geschrieben
werden soll, und so ist die hier gebotene Uebersetzung, da wir auch In Caroline
selbst einer ungewöhnlichen Frau begegnen, von doppeltem Interesse. Viele
Jahrzehnte stand sie ihrem Bruder zur Seite. Als er von Hannover nach
England gegangen war, folgte sie ihm, und als er hier eine einträgliche
Stellung als Musiker aufgab, um sich der Erforschung des Himmels ganz
widmen zu können, machte sie ihm nicht blos durch Sparsamkeit in der
Wirthschaft dies möglich, sondern half ihm auch bei seinen wissenschaftlichen
Arbeiten, indem sie hingebend und willensstark alle Schwierigketten überwand,
die dem Laien sich beim Studium der astronomischen Berechnungsmethode
entgegenstellen. Sie wurde seine Mitarbeiterin in der Werkstätte, wo er seine
Spiegel schliff und polirte, sie stand in kalten Nächten, wo die Tinte gefror,
neben seinem Teleskop, um seine Beobachtungen aufzuschreiben, sie lebte
überhaupt nur für ihn. Leicht hätte sie allein eine berühmte Frau werden
können; denn mit dem siebenfüßigen Newton'schen Kometensucher, den sie von
ihrem Bruder erhalten, entdeckte sie acht neue Kometen, aber sie arbeitete
damit nur für ihren Bruder, und ihre Aufzeichnungen beweisen, daß er nicht
blos als Gelehrter, sondern auch als Mensch diese Liebe und Entsagung ver¬
diente. Caroline Herschels Erinnerungen gehen bis auf das große Erdbeben
in Lissabon zurück, sie erlebte den Abfall der nordamerikanischen Colonien
von England, die erste französische Revolution, die Erhebung und den Fall
Napoleons; sie war Zeugin einer Menge weltumgestaltender Verbesserungen
und Erfindungen bis auf die Eisenbahnen und elektrischen Telegraphen; denn
sie lebte bis in die Regierungszeit der Königin Victoria. Aber ihre Aufgabe,
mit dem Bruder den Himmel zu erforschen, nahm sie so in Anspruch, daß
wir in ihren Aufzeichnungen kaum ein öffentliches Ereigniß erwähnt finden.
Desto interessanter sind die Einblicke, die sie in das gewöhnliche und wissen¬
schaftliche Leben der Geschwister von ihrem Aufenthalte in Hannover an, wo
ihr Vater Musiker bei dem Garderegiment des Kurfürsten war, in welcher
Eigenschaft er den siebenjährigen Krieg mitmachte, bis zum Tode Wilhelms
und dann von ihrer Rückkehr nach Hannover bis zur Reise ihres Neffen
John Herschel nach dem Cap, ihrer Erhebung zum Mitgliede verschiedener
gelehrter Gesellschaften und Akademien und ihrem am 9. Januar 1848 er¬
folgten Tode gewähren. Wir müssen in Betreff aller dieser Mittheilungen,
unter denen sich auch eine beträchtliche Zahl Briefe von John Herschel an
Wne Tante befinden, auf das Buch selbst verweisen, welches uns zeigt, daß
Caroline nicht nur eine in ihrer Art gelehrte Dame war, sondern auch eine
recht artige humoristische Ader hatte. In einem Briefe an Lady Herschel,
der vom 10. Januar 1840 datirt ist. erzählt sie:
„Sie haben vielleicht gehört, daß, als das Rohr des Vierzigfüßigen
(des großen Teleskops, welches Wilhelm Herschel in den Jahren 1786 bis
1788 anfertigte) aufgerichtet war, die ganze Tischgesellschaft hineinkletterte
und den König segne Gott sang. Einige von den Griesbachs begleiteten
den Gesang auf der Oboe und andern Instrumenten, die sie mit hineinnehmen
konnten — und ich gehörte zu den Ersten, die hinein und wieder heraus¬
schlüpften. Aber setzt — du lieber Himmel! — bin ich kaum im Stande,
ohne Hülfe über die Stube zu gehen. Doch was soll das? Dorcas in der
Bettleroper sagt: Es kann doch eins seinen Kuchen nicht aufessen und ihn dann
noch haben wollen." — Eine andere Anekdote vom großen Teleskop ist
folgende, die in demselben Briefe mitgetheilt wird: „Ehe noch die optischen
Theile eingesetzt waren, machte sich mancher Besucher den Spaß durch das
Rohr zu gehen. Unter ihnen waren auch der König Georg der Dritte und
der Erzbischof von Canterbury. Letzterer, der hinter dem Könige herging, fand
es schwierig, vorwärts zu kommen. Da drehte sich der König um, reichte
ihm die Hand und sagte: Kommen -Sie, Mylord Bischof, ich will Ihnen
den Weg zum Himmel zeigen."
In einem andern Briefe, vom 22. März 1831, sagt die alte Dame mit
komischer Resignation: „Ich thue, was ich kann, um meinen Muth unter
der täglich zunehmenden Gebrechlichkeit aufrecht zu erhalten, aber ich war
den größten Theil des Winters an's Zimmer gefesselt. Und meine Krankheit
ist unheilbar; denn sie heißt Altersschwäche. Neun Tage nach Deinem Ge¬
burtstage werde ich einundachtzig Jahre alt. Welch abscheulicher Gedanke,
im Absterben, in der Auflösung begriffen zu sein! Aber was thut's im
Grunde? Je mehr von einem hier schon vergeht, desto weniger braucht im
Grabe zu vermodern."
Ein Separatabdruck aus der bekannten sehr werthvollen Biographie des
General von Reyher, wobei alles das weggefallen ist, was nur die persön¬
lichen Verhältnisse desselben und nicht seine unmittelbare Einwirkung aus
den Gang der Operationen betrifft. Eine andere Abänderung besteht in der
Einfügung einiger ergänzenden Notizen, die der Verfasser, bekanntlich zu den
tüchtigsten unsrer wissenschaftlich gebildeten Offiziere gehörig, den hinterlassnen
Denkwürdigkeiten des Generals v. Wussow entnehmen durfte. Die Notizen
betreffen zunächst den Rapport, den v. Wussow, damals Leutnant und
Generalstabsoffizier im Stäbe Blüchers, im Auftrage Gneisenaus dem Herzoge
v. Wellington in Quarre Bras über den Stand der Schlacht bei Ligny ab¬
stattete, und der darauf hinauslief, daß man sich preußischer Seits dort
höchstens bis zum Einbruch der Nacht auf dem Schlachtfelde zu behaupten
im Stande sein werde, dann einige Momente der Schlacht bei Waterloo.
Das Facsimile ist ein Brief, den Wellington am 16. Juni 10^ Uhr früh
an Blücher schrieb, und nach welchem dieser und Gneisenau auf eine active
Mitwirkung englischer Truppen bet dem bevorstehenden Kampfe rechnen
konnten.
Die von 1733 bis 1769 gehende Periode im Leben Wielands ist in der
Biographie, die Gruber von ihm geliefert hat, vielfach ungenügend und hin
und wieder unrichtig dargestellt und durch spätere Schriften kaum viel besser
behandelt worden; ein Autor aber, der, wie wir jetzt über ihn auch urtheilen
mögen, auf die damalige deutsche Literatur sehr bedeutenden Einfluß übte,
für dessen Leistungen die Großväter der heutigen Generation im hohen Grade
schwärmten, und der deshalb eine hervorragende Stelle in der Geschichte des
geistigen Lebens der Nation einnimmt, verdient, daß wir ihn und die Ent¬
stehung seiner Werke gründlich kennen. Hierzu aber liefert der Verfasser
einen werthvollen Beitrag. Er hat mit gutem Material gearbeitet, und
namentlich seine Mittheilungen über das Leben Wielands in der kleinen
schwäbischen Reichsstadt Biberach stellen Vieles in ein ganz neues Lichte
Seine Eltern, die sich stark für den beliebten Dichter interessieren, sammelten,
als sie nach Biberach kamen, wo sie noch viele Bekannte und Verwandt,
desselben vorfanden, alles was über ihn zu erhalten war, und der Verfasser
setzte diese Sammlungen fleißig fort und studtrte u. A. auch die von Wieland
als Stadtschreiber von Biberach verfaßten Rathsprotokolle, wobei ihm
Manches Neue zu entdecken und manches Irrige zu berichtigen gelang. Neu
ist in dem vorliegenden Buche ein Gedicht Wielands aus seiner Knabenzeit.
Ferner ist die Entstehung verschiedner seiner Werke z. B. die der Abenteuer
des Don Silvio und die des Amadis hier zum ersten Male festgestellt wor-
den. Ebenso hat der Versasser den bisher unbekannten Ursprung einiger
Geschichten in den Abderiten nachgewiesen. Vollständiger endlich als bisher
sind mehrere Liebesverhältnisse des Dichters, u. A. das zu Sophie de
Laroche, die Stellung Wielands zu seinen Mitbürgern in Biberach, zu seinen
Verwandten und zu einer Anzahl andrer Persönlichkeiten, z. B. zu dem damals
berühmten Schauspieler Abt, zu Pfarrer Brechter und zu dem Grafen Stadion
erzählt. Nicht ohne Werth und Interesse sind die artistischen Beigaben des
Buches, die zunächst in einem Wieland in noch ziemlich jungen Jahren dar¬
stellenden Titelbilde, welches nach einer in Weimar befindlichen Büste ange.
fertigt ist, und in Portraits der Frau La Roche und des Grafen Friedrich
v. Stadion, dann in einer Ansicht des Schlosses Warthausen, wo der Dichter
einige Zeit wohnte, einem Bildchen von Biberach und verschiedenen dortigen
Gebäuden, die in dem Leben des Dichters eine Rolle gespielt haben, sowie
aus einer Abbildung des Pfarrhauses in Oberholzheim bestehen, wo derselbe
als zweites Kind des Pfarrers Thomas Adam Wieland am 6. September
1733 geboren wurde. Wir finden vielleicht Muße und Raum, in diesem Blatte ein
gedrängtes Bild dieser ersten Hälfte des Lebens Wielands, die auch interessante
Blicke in das gesellschaftliche Leben der damaligen süddeutschen Kleinstaaten
öffnet, zusammenzustellen und mitzutheilen. Für heute nur eine charakteristische
Anekdote von Wielands Gönner Stadion, welche zeigt, daß es auch in dieser
vielfach verkommenen, von Tyrannei gedrückten und mit Bedientenhaftigkeit
aller Art geschlagner Zeit billig und gerecht denkende Männer gab. „An
die Stadionsche Herrschaft Warthausen grenzte, wie an viele andere schwäbische
Herrschaften und Prälaturen die oberschwäbische freie Pürsch, auf der die
Bauern und Städter das Jagdrecht ausüben durften. Die Herren vom
Adel und die Prälaten suchten von jeher dieses Recht zu beschränken oder
am liebsten ganz aufzuheben, weil sie meinten, Bürger und Bauern gehörten
nicht auf die Jagd, und weil sie ihre eigne Jagd durch jenes Recht geschmälert
glaubten. Da diese Herren bemerkten, wie gern Graf Stadion dem Jagd-
vergnügen huldigte, und da sie wußten, daß er bedeutenden Einfluß beim
Reichshofrath in Wien hatte, so wurde er gebeten, einen Plan zu unter¬
stützen , nach welchem die kleinen Jagdrechte der reichsstädtischen Bürger und
der angrenzenden Bauern aufgehoben und die sogenannte freie Pürsch den
Forsten des Adels und der Prälaten zugelegt werden sollte. Graf Stadion
hatte den Vortrag ruhig mit angehört, dann aber stand er auf und sagte:
„Mir ist leid, daß Sie Ihr Vertrauen auf meinen Credit bei dem Reichs¬
hofrath in dieser Sache zeigen. Wenn Sie Ihre Forsten zur freien Pürsch
machen wollen, so trete ich bei; aber zur Aushebung der freien Pürsch, als
des einzigen Hülfsmittels gegen die Menge des Wildes, das die Felder zer¬
stört, gebe ich meine Einwilligung niemals; denn die Bauern sind mir lieber
als Hirsche und wilde Schweine."
So oft auch der Versuch gemacht worden ist, Dantes großes Dichter¬
werk in's Deutsche zu übertragen, und so viel Treffliches dieses Streben zu
Tage gefördert hat (wir hatten erst vor Kurzem Veranlassung der verbesserten
Uebersetzung Wildes zu gedenken), Vollkommenes ist noch nicht erreicht, und
namentlich ist es noch nicht gelungen, die Schwierigkeiten zu überwinden,
welche sich einer treuen und vollständigen Wiedergabe des Inhalts der Dich¬
tung entgegenstellen, wenn auch die Form der Verdeutschung dem Original
vollständig entsprechen, d. h. in gereimten Terzinen sich bewegen soll. Witte
und Philalethes haben die letztere nicht für so wesentlich gehalten, um ihr,
wie dann immer mehr oder weniger nothwendig sein wird, den Sinn zu
opfern. Der Verfasser unsrer Uebersetzung hat zwar auch gefühlt, daß, 'wenn
die Form des Originals beibehalten werden soll, der Nachdichtende sich nicht
so streng an den Wortlaut halten kann, als wenn er den Reim aufgiebt.
Aber er hat es dennoch mit diesem wagen zu müssen geglaubt, obwohl er
wenigstens insofern abweicht, als er häufig männliche Reime wählt, wo
Dante weibliche anwendet, und wir müssen sagen, daß sein Versuch erheblich
besser gelungen ist, als der seiner Vorgänger, wobei ihm freilich zu Gute
kam, daß diese ihm mit ihrem Besten zur Auswahl und Benutzung zur
Hand waren.
Gewisse Secten, die Jrvingianer z. B., klagen, daß die Gnadengabe der
Weissagung erloschen sei, die Rockenphilosophie unsrer Bauern aber weiß, daß
nicht so ist. sondern noch heute eigenthümlich begabte Menschen vor¬
kommen, welchen die Zukunft in Visionen offenbart wird. Dieser Glaube
begegnet uns im Norden wie im Süden Deutschlands, in der Bretagne wie
unter englischen und schottischen Landleuten, im Gebirge und auf den
Federungen, namentlich aber auf langgestreckten einsamen Haiden und
Mooren.
Wie in den Wüsten des Morgenlandes und über den Meeren und
^trandgegenden des europäischen Südens, so werden auch dort bisweilen
irgend einem Punkte des Horizonts Landschaften, Orte und Gebäude
Achtbar, die, gewöhnlich schattenhaft, mitunter auch farbig, meist zitternd und
Ackernd wie erhitzte Luft, oft aber auch still und stetig, sich eine Weile er¬
sten und dann allmählig verschwinden. Immer sind diese wunderbaren
Phänomene Abbilder oder Spiegelungen von Gegenständen, die tiefer als die
teile liegen, von der aus sie gesehen werden. Dörfer, Gehölze, Inseln, die
'er dem Auge für gewöhnlich entzogen sind, tauchen am Gesichtskreise auf
ud erheben sich über denselben, mitunter verkehrt, so daß die Dächer, Thurm-
p und Baumwipfel nach unten stehen, häufig aber auch in vollkommen
"türlicher Stellung ihrer einzelnen Bestandtheile. Um ein Beispiel arm-
^ren, ich das Städtchen Ripen mit seiner Domkirche scheinbar in
^ Entfernung von etwa anderthalb Stunden inselartig vor mir gehabt,
Ehrenb es in Wirklichkeit noch drei Meilen weit weg und unter dem Hori¬
zonte lag.
H ^"n geht aber neben dieser Fata Morgan« des Nordens nach dem
" Dauben eine ähnliche Erscheinung her, die ebenso wunderbar wie jene
lebt und, wenn sie vor der Wissenschaft Stand hielte, noch wunderbarer sein
würde, da sie nicht gleich jener auf natürlichem Wege zu erklären ist. Ich
meine das „Zweite Gesicht." Wie bei den geschilderten Spiegelbildern der
Luft Dinge wahrgenommen werden, die unter dem räumlichen Gesichtskreise
verborgen sein sollten, so werden hier solche geschaut, die unter dem zeitlichen
liegen. Außerdem aber unterscheidet sich diese Fata Morgana der Seele von
der natürlichen zunächst dadurch, daß sie der Nachtseite der Welt angehört,
während jene, nur bei sehr starker Sättigung der Atmosphäre mit Licht
möglich, entschieden auf die Tagseite zu setzen ist, dann dadurch, daß sie in
der Negel nur einzelnen, mit der Sehergabe wie mit einer Krankheit behafte¬
ten Personen erscheint, während jenes Formen- und Farbenspiel der Natur
von Allen gesehen wird.
Der Glaube an das, was man die Nachtseite der Natur genannt
hat, bleibe Liebhabern überlassen. Halten wir es mit den Tagmenschen,
welche der Meinung sind, daß die Zukunft bis zu einem gewissen Grade
durch verständige Prüfung der Aspecten der Gegenwart in Verbindung mit
den aus der Vergangenheit gewonnenen Lehren errathen werden kann, die An¬
sicht dagegen, sie könne auch auf andere Weise, durch eigenthümliche und un¬
erklärliche Begabung des Auges und Gemüths geschaut werden, bis jetzt un-
erwiesen ist und aller Wahrscheinlichkeit nach so bleiben wird. Wahr ist, soweit
unsre Kenntniß der Seele reicht, nur, daß es wirklich unter dem Volke in Deutsch¬
land , Oesterreich, Skandinavien und aus den britischen Inseln Leute giebt,
die sich der Gabe des zweiten Gesichts rühmen und Visionen haben, welche
ihnen das, wovon sie hoffen oder fürchten, es werde kommen, im Spiel einer
lebhaften Einbildungskrast als in die unmittelbare Gegenwart gerückt er¬
scheinen lassen. Einige solcher Hallucinationen, zu denen sich auch an sich
unbedeutende und gleichgültige gesellen, werden sich durch Zufall erfüllt
haben, und so wurde der „Spökengieker", der Seher von „Vorgeschichten"'
eine Figur des Volksglaubens und der Sagenbildung, welche, da der Zufall
in manchen Fällen dem Wunder täuschend ähnlich sah, auch in „gebildeten'
Kreisen an den Satz erinnerte, daß es zwischen Himmel und Erde Dinge
giebt, von der unsere Philosophie niemals träumte.
Der Spökenkieker ist ein Verwandter der Somnambulen, aber bescheidener
und prosaischer. Er hat es bei seinem Schauen nicht mit religiösen Dingen,
nicht mit Naturgeheimnissen, nicht mit „jenen Sternen", sondern gewöhnlich
nur mit dem Alltagsleben zu thun, und er gelangt in manchen Gegenden
seiner unheimlichen Begabung auf nichts weniger als tragische, ja hier und da
geradezu aus komische Weise, und es geschieht sogar, daß Hunde und Pferde dieselbe
mit ihm theilen. Er fleht den Tischler des Dorfes für einen Nachbar, der
— so klingt die Sache im Volksmunde — noch wohlauf ist, einen Sarg Z"'
recht hobeln, oder er sieht eine Leichenbahre vor dessen Thür stehen, und der
Nachbar und Gevatter stirbt wirklich bald darauf. Der Seher bemeckt, wie
ein Hochzeitszug an seinem Fenster vorbeigeht, der Bräutigam mit dem
Rosmarinstrauß vor der Brust und die Braut mit dem Myrthenkranz oder
der Goldpapterkrone sind ihm bekannt, 's ist Hinzens Hans und Kunzens
Trete, und richtig heirathen sich die Beiden kurz nachher, obwohl sie — so
schmückt sich der Bericht bei seinem Gang durch die Spinnstuben aus — zur
Zeit der Vision durchaus in keinem näheren Verhältniß zu einander standen.
Der Seher sieht ferner Feuer aus Dächern emporschlagen, die später in
der That in Brand gerathen, ja er merkt es manchmal schon dem Balken,
der für einen Bau angefahren wird, an, daß er durch eine Feuersbrunst zer¬
stört zu werden bestimmt ist. Zuweilen gewahrt er Fremde, die morgen
eintreffen werden, mit allen ihren äußeren Eigenthümlichkeiten schon heute.
Seltener und zwar gewöhnlich nach Kriegen oder wo Derartiges in der Luft
^egt, ist er Zeuge, wie Schlachten und Heereszüge „vorspuken." Andere For¬
cen des zweiten Gesichts, welches mit der Erscheinung des „Doppelgängers"
verwandt, aber schwerlich, wie Wuttke meint, nach dem Sehen desselben be¬
gänne ist, sondern die Annahme eines inneren und höheren Sehvermögens
"eben dem alltäglichen, eines Augenpaares für die Zukunft neben dem für die
Gegenwart ausdrückt, wollen wir bei den einzelnen deutschen Landstrichen
"«führen, wo dieser Aberglaube herrscht, und zu deren Betrachtung ich jetzt
Zergehe.*)
In Tirol bezeichnet das Volk das zweite Gesicht mit dem Worte
"Voarweiling" oder „Färweiling", und es hat hier beinahe nur das Voraus¬
schauen von Todesfällen zum Zwecke. Es giebt hier nach Zingerle Leute,
d'e genau wissen, in welcher Gegend die nächste Leiche sein wird. So lebte
^ Dorfe Tirol ein alter Mann, der immer bestimmt anzugeben wußte, aus
sichern Hause der nächste Sarg herausgetragen werden würde. Er hörte
"änlich des Nachts Sand an eines seiner Fenster werfen, und von welcher
^eile der Sand kam, auf der gab es eine Leiche. Wenn man im Etschland
^ends nach dem Avemaria-Läuten einen geisterhaften Leichenzug sieht, so
^iß man, daß die Person, die unmittelbar hinter der Bahre hergeht, bald
sterben muß — ein Vorspuk, der in den dortigen^Thälern häufig bemerkt
worden ist. Ist im Pitzthal jemand krank, und man sieht seinen Doppel¬
ter vom Gottesacker kommen, so wird er wieder gesund, geht das Ge-
!^use nach jenem hin, so stirbt jener an seiner Krankheit. Kommt ein
^ger im Gebirge um's Leben, so heißt es, wie Vernaleken berichtet, in
seinem Dorfe gewöhnlich, er habe auf seiner vorletzten Jagd eine weiße Gemse
angetroffen. In Zierl bei Innsbruck sehen nach Alpenburg die Leute, welche
in den dem Kirchhofe zugekehrten Häusern wohnen, in der Mitternachts-
stunde Leichenzuge mit den Personen, die nächstens sterben werden, wes¬
halb man diese Wohnungen meidet und sie den Armen unentgeltlich
überläßt.
Die Gabe des zweiten Gesichts ist in Tirol von Jedem zu erwerben, da
sie an bestimmte Zeiten gebunden ist, die man nur zu benutzen braucht, um
gewisse zukünftige Dinge zu erfahren. Wer in Alpach in der Christnacht
rücklings aus dem Hause geht und dabei zum First hinaufblickt, der sieht,
wenn im folgenden Jahre jemand aus dem Hause sterben soll, eine Leiche.
Umschreitet man in derselben Nacht dreimal sein Haus, so erscheint einem
der künftige Gatte, und gute oder horcht man in den Backofen, so sieht oder
hört man sein Schicksal in den nächsten zwölf Monaten. Stellt man sich
zu Serfaus in der heiligen Nacht um zwölf Uhr auf den Friedhof, so erscheinen
einem alle, welche im folgenden Jahre den Tod zu erwarten haben, und
zwar stehen sie auf der Mauer und tragen rothe Strümpfe. Wer sich,
während es zur Christmette läutet, unter drei Brücken die Augen wäscht, be¬
kommt alles, was das künftige Jahr bringen wird, zu sehen. Bon der
Sylvesternacht heißt es im Innthale, wer in ihr um die zwölfte Stunde sich
nach der Kirche begebe, sehe alle, die im neuen Jahre zu sterben bestimmt,
seien, um den Altar zum Opfer gehen, und solle man selbst sterben, so sehe
man sich selbst darunter, aber ohne Kopf.
In Oberösterreich gehören zu den Volkspropheten die „Leichenseher"'
die in der Sylvesternacht geboren werden und wochenlang Todesfälle vor¬
aussagen, die sich ihnen durch Visionen ankündigen, in welchen sieden
Leichenzug des Betreffenden vor sich haben. Der Kanton Glarus hat seine
„Kirchgangschauerinnen", die auch „Fronfastenkinder" heißen und gleichfalls
Sterbefälle in Gesichten vorauserfahren.
In Schlesien und Ostpreußen ist die Gabe des zweiten Gesichts in
manchen Familien erblich und zeigt sich besonders bei Blödsinnigen und
anderen Geisteskranken. In Mecklenburg sowie im Lauenburgischen ist
wieder an eine gewisse Zeit und bestimmten Brauch gebunden und Allen zu¬
gänglich. Wer hier erfahren will, ob im Laufe des künftigen Jahres dem
Hause ein Todesfall oder eine Geburt bevorsteht, der geht in der Neujahrs'
Mitternacht, nachdem er ein weißes Laken über den Kopf gezogen, rücklings
zum Hause hinaus und blickt nach dessen First hinauf. Gewahrt er dort
einen Sarg, so stirbt jemand, sieht er eine Wiege, so wird ein Kind geboren-
Bei den Wenden der Lausitz heißt das zweite Gesicht „Bosche sedleschko", »"d
der Seher erblickt, wenn in einem Hause ein Sterbefall zu fürchten ist, auf
dem Dache desselben entweder eine weiße Henne oder ein kleines Kind im flie¬
genden Hemdchen. In Schwaben sehen die Mädchen in der Christnacht in den
„Höhlhafen" am Feuerheerd, wo sie dann die nackte Gestalt ihres künftigen
Mannes gewahr werden. Im Harz schließt sich das heirathslustige Mädchen
am Andreasabend mit Einbruch der Nacht in ihre Schlafkammer, zieht sich
nackt aus. nimmt zwei Becher, gießt in den einen Wasser, in den andern
Wein und stellt sie auf einen weiß gedeckten Tisch. Dann spricht sie die
Reime: „Bettstand, ich tritt Dich, Sanct Andres, ich bitt' Dich, laß doch
erscheinen, den Herzallerliebsten, den Meinen" u. s. w., wobei sie den einen
Fuß auf's Bett setzt. Alsdann kommt die Gestalt des künftigen Bräutigams
herein und leert einen der beiden Becher. Trinkt er den Wein, so wird das
Mädchen an ihm einen reichen, trinkt er das Wasser, so wird sie an ihm
einen armen Mann bekommen. In Ostfriesland können manche Leute, wenn
eine Pfarrstelle erledigt ist, den künftigen Pfarrer auf der Kanzel sehen.
Fast allenthalben in Deutschland herrscht der schon kurz erwähnte
Glaube, daß Pferde und Hunde Seher- und Prophetengabe besitzen. In
Ostpreußen meint man, ein im Finstern schnaubendes Pferd sehe den Tod.
Wenn Pferde vor einem Hause scheuen und nicht vorbei wollen, heißt es am
Rhein, so stirbt bald jemand in demselben. Allgemein ist die Meinung, daß
Hundegeheul vor einem Hause Unheil bedeute. Sieht das Thier dabei zur
Erde, so zeigt es den Tod eines Mitgliedes der Familie an, blickt es nach
dem Dache hinauf, so wird dieses nächstens in Flammen stehen. Nicht alle
Hunde haben diese prophetische Eigenschaft; die sie aber besitzen, laufen in der
Rache umher, bleiben vor der Thür, in die in Kurzem der Tod treten wird,
stehen, spreizen die Beine weit auseinander und beginnen dann kläglich zu
heulen. Ein solcher Hund, in Tirol „Toadereara". Todtenheuler, genannt,
Wurde nach Alpenburg den Leuten in einem Dorfe bei Innsbruck durch mehr¬
maliges Eintreffen selner Prophezeiungen so unheimlich, daß sie ihn ver¬
gifteten.
In Westphalen wird das Voraussehen der Zukunft auf diesem Wege
»Schichten" genannt. Hunde können schichten oder, wie man auch sagt,
»schichtern". desgleichen Eulen, die durch ihr Geschrei wie jene durch ihr Ge¬
heul verkünden, daß dem Hause desjenigen, in dessen Nähe sie laut werden,
°in Todesfall bevorsteht. Bei Kühn finden wir ferner über diesen Aberglauben
Agende Notizen gesammelt. Menschen, welche die Gabe besitzen, Vorgeschichten
sehen, können sich dem Drange dazu nicht entziehen, mitten in der Nacht
treibt es sie aus dem Bette an den Ort, wo sie die Erscheinung wahr¬
nehmen sollen. Sie gewahren dann gewöhnlich einen Leichenzug oder einen
Sarg, bisweilen auch nichts, wohl aber vernehmen sie dann, wie Bretter
vom Boden geworfen oder ein Sarg zugenagelt wird. Ein Schneider oder
eine Nätherin hört die Scheere „snippeln", wenn bald ein Todtenhemde
angefertigt werden muß, wird in Büren behauptet. Oft sieht hier
der Seher ein Feuer an einem Hause hinauflaufen, und dann muß er
schnell hingehen und fühlen, ob es warm oder kalt ist. Ist es warm, so
verkündigt es einen baldigen Brand, ist es kalt, so bedeutet es eine Leiche.
Aehnlicher Glaube herrscht im Bremischen, wo man im letzteren Falle beob¬
achten muß, wo das anscheinend in Flammen stehende Dachstroh zuerst
herabfällt; geschieht dieß auf der Vorderseite des Hauses, so stirbt binnen
Jahr und Tag der Hausherr, geschieht es auf der hintern Seite, so zeigt es
an, daß in derselben Frist die Hausfrau sterben wird. Von andern solchen
Sehern weiß man nur, daß sie kommende Ereignisse voraussagen, aber nicht,
wie sie zu dieser Kunde gelangen. So ist in Werk einmal ein Knecht ge¬
wesen, der hat es jedesmal vorausgewußt, wenn einer sterben sollte. Er
merkte es, wenn der Pastor in's Haus trat, aber woran, hat er nicht sagen
wollen. Je später nach Mitternacht man eine Vorgeschichte wahrnimmt,
desto rascher, je früher vor Mitternacht man sie schaut, desto später tritt das
betreffende Ereigniß ein. Sieht man sich in einem gespenstischen Leichenzuge
nicht selbst, so kann es sein, daß man bald sterben muß. Schon Mancher
hat sich selbst im Sarge liegen sehen. Es ist ferner vorgekommen, daß von
zwei Personen, die mit einander des Nachts über die Straße gingen, der
eine ihnen blos einen Leichenzug entgegenschreiten sah, während der andere
die Vorgeschichte schaute. Jener warnt: „Geh aus dem Wege." — „Warum?"
fragt der Andere, und in demselben Augenblicke rennt er an den Sarg an
und stürzt von dem Stoße zu Boden. Nun sieht auch der Erste nichts mehr.
Bisweilen täuschen sich die Vorgeschichtenseher über die Bedeutung des von
ihnen Geschauten. In der Pfarre zu Siddinghausen erblickte der Knecht
eines Tages einen Sarg auf der Hausflur, und glaubte, derselbe zeige den
baldigen Tod der kranken Haushälterin an, aber sie wurde gesund, während
er selbst nach kurzer Zeit starb.
Auffallen kann, daß vor den Leichenwagen, der den Sehern erscheint, ge¬
wöhnlich ein Schimmel gespannt ist, es ist aber nur ein Nachhall des Glaubens
an das weiße Roß Wuotans, des alten Gottes, der die Todten abholte.
In der Gegend von Dortmund geschah es einmal, daß ein Knabe, der die
Gabe des zweiten Gesichts besaß, wegen irgend eines dummen Streichs von
einem Müller Prügel bekam. „Warte nur", sagte erbittert der Junge, „du
sollst hier nicht mehr lange Hausen, bald wird dich das weiße Pferd holen."
Und so kam es denn auch. Der Müller starb nach vierzehn Tagen und
wurde mit einem Schimmel zu Grabe gefahren. Zu Echthausen starb die
Frau von Schüngel. Ein Bauer hatte in der Vorgeschichte einen Schimmel
vor dem Leichenwagen erblickt, und man spannte deshalb absichtlich ein
anderes Pferd vor, aber dieses wurde wild und zerriß das Geschirr, so daß
man sich gezwungen fand, einen Schimmel zu holen, um die Leiche zur Ruhe
zu bringen.
Das zweite Gesicht ist in Westphalen gewöhnlich angeboren und gilt als
eine Art Krankheit. Am meisten sind ihm die ausgesetzt, welche in der
Matthiasnacht geboren sind; denn die „müssen mit den Hollen fahren", sie
können an den Wänden emporsteigen und mit geschlossenen Augen auf den
höchsten Zinnen hinschreiten, und sie haben in gewissen Nächten auf dem
Kirchhofe die Geister zu tragen. Dafür wissen sie aber auch immer voraus,
wer im Dorfe stirbt. Sodann setzt man ein Kind, wenn man zwischen
seiner Geburt und seiner Taufe zwei Freitage vergehen läßt, der Gefahr aus,
daß es später „schichtert" — ein Ausdruck, der eigentlich nur gewandt, flink,
klug (englisch Mkt?) sein und erst in zweiter Linie Geister sehen heißt.
Man kann sich das zweite Gesicht aber auch verschaffen oder zuziehen;
denn wer einem Menschen oder einem Hunde, der „schichtert", über die linke
Schulter blickt, der nimmt Dasselbe wahr, was jener vor sich bemerkt, und
behält diese unheimliche Gabe bis an seinen Tod, wenn sie ihm nicht jemand
abnimmt. In Schmallenberg ist, wie man Kühn erzählte, einmal ein Mädchen
gewesen, die hat es jede Nacht um zwölf Uhr aus dem Bette und an's Fenster
getrieben, wo sie den Geistern auf dem Kirchhofe zusehen mußte. Als sie das
einmal ihren Nachbarn klagte, war einer darunter, der ihr's nicht glauben wollte.
Da hat sie ihn eingeladen, doch in der nächsten Nacht bei ihr zu wachen, und
als sie nun wirklich Punkt Zwölfe an's Fenster ging, trat er hinter sie und
sah über ihre linke Schulter auf den Kirchhof hinaus. Von Stund an war
das Mädchen die Sache los, und der ungläubige Nachbar mußte jetzt statt ihrer
allnächtlich den Geisterspuk mit ansehen, bis ihm endlich jemand riech, sich
dabei von einem Hunde über die linke Schulter blicken zu lassen. Das hat
^ gethan, und von jetzt an hat er wieder schlafen können. Im Hildes-
heim'schen. wo das zweite Gesicht „Vorgelate" heißt, geschieht dasselbe, wenn
Man dem Schauenden über die rechte Schulter steht. In Schwaben tritt man
SU demselben Zwecke irgend jemandem auf den rechten Fuß und sieht ihm
über die linke Schulter, man kann sich ihm aber auch auf den linken Fuß
stellen und ihm über die rechte Schulter blicken; denn „es ist einerlei, wenn
°s nur kreuzweise geschieht."
Auf der Lüneburger Haide giebt es ebenfalls Vorgeschichtenseher, die
Sterbefälle voraus wissen. Der Todescandidat erscheint ihnen in ein Leichen-
tuch gehüllt, und je höher ihm dieses von den Füßen an herausgeht, desto
^er kommt der Tod zu ihm.
Besonders häufig soll das zweite Gesicht in Holstein und Schleswig vor¬
kommen. Aeltere Geschichten enthält Müllenhoffs Sagensammlung, aus der
ich einige Proben mittheilen werde. In Owschlag bei Eckernförde gab es
vor Zeiten einen Mann, der konnte Leichen, Hochzeiten u. dergl, voraussagen.
Er mußte, wenn das des Nachts an seinem Hause vorüberzog, aufstehen und
zusehen, und blieb er dabei zu lange in seinem Bette, so zwang es ihn, dem
Spule so lange nachzulaufen, bis er ihn zu Gesicht bekam. Die Ursache seines
Zustandes war, daß er früher einmal einem heulenden Hunde aus den Schwanz
getreten und zwischen den Ohren durchgesehen hatte. Erst machte ihm seine
Gabe Spaß, später verdroß sie ihn. Er wurde sie aber nicht eher wieder
los, als bis er sein Hemde ein ganzes Jahr verkehrt getragen hatte.
In Nordballig beherbergte ein Bauer einen armen Mann über Nacht,
und als dieser am andern Morgen fortging, sagte er zu seinem Wirth:
„Nimm den Balken da aus deinem Hause weg und lege ihn auf's freie Feld."
Der Bauer wollte ungern daran, aber der arme Mann drang so lange in
ihn, bis er den Balken herauszog und als Steg über einen Bach legte. Ein
paar Tage darauf, als die Kirchgänger über den Bach heimwollten, war der
Steg zu Kohle und Asche geworden. Da merkte der Bauer, daß der arme
Mann es hatte „vorbrennen" sehen, und daß ihm das Haus über dem Kopfe
verbrannt sein würde, wenn er dem ihm von jenem ertheilten Rathe nicht
gefolgt hätte.
In Bergenhusen sahen die Mägde, wenn sie früh vor Sonnenaufgang
zum Melken gingen, einen feurigen Mann aus einem der größeren Häuser
des Dorfes stehen und von diesem mit einem weiten Schritte auf ein benach'
hartes kleineres treten. Diese Erscheinung wiederholte sich drei Tage nach
einander, und in der dritten Nacht brannte zunächst das große, dann das
kleine Haus nieder. An dem Haffdeich bei Marne in Ditmarschen hielt sich
früher ein Fisch auf, der so groß wie ein Kalb war und einen Sarg auf
dem Rücken hatte. Wer ihn erblickte, mußte bald nachher ertrinken. In
Tondern trabte in alter Zeit um Mitternacht ein dreibeiniges Pferd
durch die Straßen, welches Hel hieß (wie die altgermanische Todesgöttin)
und jedem sein baldiges Ableben verkündigte, der es vor seiner Thür Halt
machen sah.
Vielleicht nur einem Theil der Leser ist die Sage aus Ditmarschen be¬
kannt, die Klaus Grod in dem Gedichte „De Pukerstock" behandelt hat, und
so gebe ich kurz deren Inhalt an. Ein Bauerssohn hatte einen Weißdorn¬
stock, der ihn nöthigte, gegen seinen Willen, oft bei Nacht und Nebel, das
Haus zu verlassen und, niemand wußte, wohin, zu wandern. Sein Ort war
im Gehäuse der Wanduhr bei andern Stöcken. Rührte er sich, so mußte sein
Besitzer fort über Haide und Moor, durch Sturm und Wetter. Kam er dann
wieder, so war er bleich und matt, schlief wie todt und arbeitete darnach still
und in sich gekehrt, bis es ihn wieder rief. Wohin er ging und was er sah,
theilte er niemand mit. Die Leute aber sagten, sobald jemand in der Um¬
gegend nur noch einen Monat zu leben habe, zwinge es den Burschen, an sein
Fenster zu gehen und hinein zu blicken. Dann sehe er ihn, der in Wirklichkeit
Noch gesund sei, im Todtenhemde im Sarge liegen, und müsse mit dem Stocke
dreimal an das Fenster klopfen. Vergebens suchte der Bursch sich des Stockes
on entledigen, er warf ihn in einen Bach, zerhackte, verbrannte ihn, aber
immer war er wieder da, bis einmal an einem Weihnachtsabend ein Mann
^schien, der den Stock abholte.
Ein Hufner in einem Dorfe bei Düppel, welches nur sieben Bohlstellen
(größere Güter) hatte, ging einst spät von einem Aerrel (Leichenschmäuse)
^im. Da kam ihm vor, als sähe er aus dem Kirchhofe vor ihm drei weiße
Betttücher aufflattern. Als sie an ihm vorüberschwebten, hörte er sie sagen:
»Eins, zwei, drei!", und etwas angetrunken, beging er den Frevel, bis fünf
Weiterzuzählen. Gleich nachher aber befiel ihn eine Angst, wie wenn er damit
Unglück angerichtet hätte. Und man sah bald, daß dem wirklich so war.
-LN demselben Jahre starben von den sieben Hühnern des Ortes erst drei und
^rze Zeit darauf noch zwei. Der Tod der ersten drei war durch die fliegen-
^n Tücher angedeutet worden, den der beiden letzten hatte der, welcher das
Befiehl erblickt, durch sein unbesonnenes Weiterzählen veranlaßt. So meinten
-wenigstens die Leute, als man ihm, der selbst der fünfte Todte war, sein
Aerrel hielt.
Neben diesen und einer Anzahl ähnlicher alter Geschichten giebt es aber
^ Schleswig-Holstein eine große Menge verwandter, die sich in der neuesten
^eit begeben haben sollen. Ein Pastor im östlichen Schleswig erzählte mir,
ein Knecht seines Vaters ein Visionär gewesen. Der Vater, ein wohl-
^derber Landmann, hatte sich zum Vergnügen neben seinen bäuerlichen
Seiten mit Tischlerei beschäftigt und unter Anderm auch Särge angefertigt.
^ er sie billiger geliefert, als eigentliche Meister, so waren häufig Be-
^klungen eingelaufen. Der Knecht aber hatte diese stets vorhergesagt, und
"rüber befragt, hatte er nach einigem Zögern geantwortet, je nun. er sähe
^"n jedesmal den „Wirth" (so wird der Hausherr hier gewöhnlich vom
^esinde bezeichnet) des Nachts nach dem Balken gehen, wo er Hobel und
> 6ge verwahrte, und dieses Handwerkszeug herunterholen. Eine Frau
' Amte Tondern hatte in den ersten fünfziger Jahren ein Gesicht, in
^ ^em sie den neueingesetzten dänischen Pastor hastig aus seinem Hause
°willen und auf einem Leiterwagen wegfahren sah. Sie wunderte sich da-
nk>I^ ""^ "zählte es weiter. Der Geistliche wußte von nichts, merkte aber
^ einigem Besinnen den Wunsch, welcher der Vision das Leben gegeben,
zeigte die Sache an und veranlaßte dadurch, daß die Seherin auf ein paar
Tage eingesteckt wurde.
Aehnliches soll sich in den verschiedensten Strichen Schleswig ° Holsteins
begeben haben. Man erblickt in den Marschen und auf den Inseln der
Nordfriesen blaue Flämmchen, wo später jemand ertrinkt. Man vernimmt
vor Häusern, denen ein Todesfall droht, einen klagenden Ruf. Ein gespenster-
Haftes Hornbläser tönt durch die Nacht, und einige Tage nachher geht bei
einer Ueberfluthung der Deiche eine Heerde zu Grunde. Zuweilen und zwar
in den Jahren 1852 bis 1864 ziemlich oft, greift das Schauen oder Hören über
das alltägliche Leben hinaus und deutet heranziehende Kriege u. d. an. Bei¬
spiele dieser Art von Prophetien finden wir in Müllenhoffs Sammlung scho"
aus dem Anfang des fünfzehnten und der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts
angeführt.
Die Friesin Fru Hertje, eine Prophetin „aus Mutterleibe geschnitten",
weissagt allerlei Dunkles und einiges Klare von ungeheuren Dingen, großer
Deichbrüchen, versinkendem Ortschaften, einer blutigen Schlacht bei Flensburg,
Zeiten, wo „die Menschen vier Arme kriegen und zwei Paar Schuhe an den
Füßen tragen", und wo „der Priester seine Glatze bedecken und sagen wird,
er sei kein Priester." (Die Reformation?) „Die Zeit wird kommen, daß
man die Menschen nicht mehr bei ihren Namen, sondern wie das Vieh nennen
wird." (Offenbar wenn die Herren Socialdemokraten die Ehe und Faun'^
abgeschafft haben.) „Es wird die Zeit kommen, daß ein wohlgekleideter
Edelmann zu einem Bauer beim Pfluge, der einen grauen Kittel trägt,
laufen kommen und bitten wird, daß er mit ihm seinen Rock vertauscht
wolle." (Die erste französische Revolution?) „Wenn die Berge niedergeht
und die Düngerstätten sich erheben, (ganz entschieden die Erfüllung des TrauM^
unsrer Socialisten) wird es übel in der Welt stehen."
Das zweite Beispiel Müllenhoffs ist aus der Geschichte Ditmarsche»^
vom Pfarrer Neocorus entlehnt, welcher berichtet: „Im Jahre vor dem, ^
der König Johann und der Herzog von Holstein hereinkamen, um Dttmarscht
einzunehmen, geschahen wunderbare Zeichen. Denn in dem Sommer, als
Arbeitsleute die Gräben neben dem Dusentdüwelswarf (bei Hemmingstedt, M
später das dänisch-holsteinische Heer von den Ditmarsen unter Wolf
geschlagen und fast vernichtet wurde) kleieten (d. h. schlämmten), erhob !
jeden Abend, wenn die Sonne sich geneigt hatte und es dunkel werden '
ja auch bei Hellem Tage, ein greuliches Getöse und Gerassel. Allerleis
scheinungen ließen sich sehen und hören, so daß sich die Arbeiter nie ^
späten oder zur Abendzeit dahin wagen durften. Ja oft mußten sie vor
Spuk ihre Arbeit stehen lassen und nach Hause gehen."
Hier haben wir wieder eine Msion vor uns, wo die Erscheinung des
-Lorspuks Mehreren zugleich wurde. Häufiger wurden in der Gegend von
Schleswig in den Jahren vor 1860 Beispiele erzählt, wo nur ein Einzelner
der Seher war. Vielfach wurde in dieser Zeit die Hoffnung, daß die Schlacht
bei Jdstedt nicht die letzte im Streite Deutschlands mit Dänemark gewesen
>e>' auf prophetische Gesichte zurückgeführt. Eine Sammlung solcher Visionen,
Ulir vom Obergerichtsadvocaten Heiberg übergeben, wurde damals von mir
den „Schleswig-Holsteinischen Briefen" veröffentlicht, und ich will hier an
paar davon erinnern.
Ein Bauer aus einem der Dörfer südlich vom Dannewerk behauptete, die
^künftige Schlacht werde zwischen Kropp und Bennebeck geliefert werden.
S'e war ihm im Sommer 1852 in einem Gesicht offenbart worden. Das
Gemetzel war „schauderhaft anzusehen." Civilpersonen trugen die Munition
herzu. Das Militär hatte rothe Hosen an. die Reiterei bestand aus Husaren
^ grünen, schwarz ausgeschlagnen Pelzen, und sie ritt Pferde, deren Zäume
"U't Schlangenköpfchen verziert waren. In Kropp brannte Alles bis auf ein
^"ziges Haus nieder. Auch in Kurburg, weiter nördlich, war eine große
^euersbrunst. Hiervon ist nur das Eine eingetroffen, daß 1864 bei Kropp
Treffen zwischen Oesterreichern und Dänen stattfand — das Gefecht am
^nigshügel. Von rothen Hosen, grünen Husaren, brennenden Dörfern war
Nichts dabei zu bemerken.
Ein anderer Spökenkieker sah im Herbst bei Hellem Tage die Vorposten-
^ete von Jagel nach Ellingstedt wieder aufgestellt, ganz wie einst Willisens
kuppen, die Gesichter nach Norden gekehrt.
Ein kleines Mädchen in Wedelspang, eine Meile nördlich von der Stadt
Schleswig, war gewohnt, Abends dem von der Arbeit heimkehrenden Vater
^tgegenzugehen. Eines Tages, im Sommer 1883, ging sie auch, kam indeß
^ bald ganz verstört und ohne den Vater wieder. Die Mutter fragte nach
Ursache, aber das Kind wollte lange nicht mit der Sprache heraus, bis
^ endlich gestand, es sei draußen am Berge ein so grausames Schießen, und
^ ganze Feld stehe so voller Soldaten in weißen Röcken, daß es sich nicht
^iter getraut habe. Weißröckige Soldaten sind allerdings elf Jahre später
^er vorbeigezogen, und geschossen haben sie zwar am Berge nicht, wohl aber
^ne Meile von Wedelspang. bet Oeversee.
Ein Bauer aus Angeln erzählte Dr. Heiberg, er sei acht Tage nach
Johanni 1853 von Hollingstedt an der Treene nach Kurburg gegangen.
^ seien ihm gegen Abend am Dannewerk eine Menge Reiter in grünen
^formen begegnet, die nach Flensburg zu geritten wären. Sie hätten eine
unverständliche Sprache geredet; und er habe sich an den Wall drücken
Müssen, um nicht niedergeritten zu werden. Leute, die an die Svökenkiekeret
glauben, werden hier an die grünen Röcke und die czechische Sprache der
Windischgrätz - Dragoner denken, die allerdings 1864 in die Gegend von
Flensburg kamen. Schade nur, daß sie nicht durch das Dannewerk zogen.
Auffällig wird denen, welchen diese Erzählungen bedeutungsvoll erscheinen,
der Umstand vorkommen, daß vom Sturm auf die Düppelstellung und dem
Uebergang nach Alsen, Ereignissen, welche den letzten dänisch-deutschen Krieg
entschieden, nichts vorausgesehen worden ist. Mir aber ist das nicht ver¬
wunderlich. Mittelschleswig war wie Holstein in den genannten Jahren vor
der Befreiung des Landes von den Dänen deutschgesinnt, Sundewitt und
Alsen dagegen hielten es in der Mehrzahl ihrer Bevölkerung mit der koperi'
hagerer Politik.
Fälle dieser Krankheit oder dieses Aberglaubens — nach einigen Er¬
fahrungen könnte man sich fast versucht fühlen, zu sagen. dieses Schwindels
— ereigneten sich in den Jahren 1866 und 1867 auch in Hannover. scho"
früher scheint es hier ebenfalls politische Spökenkieker gegeben zu haben.
Wenigstens wurde während des Jahres, in welchem sich das Welfenreich in
eine preußische Provinz verwandelte, von den Buchbindern und ähnlichen
Bibliopolen eine kleine Broschüre: „Prophezeiungen von Wickenthies" verkauft,
die daraus schließen ließ. Das Büchlein, in einigen Theilen unzweifelhaft
sehr alt. vielleicht aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges, in andern aber,
wie alle als untrüglich im Volke umlaufenden Dinge der Art, ebenso un'
zweifelhaft von neuestem Datum und nichts als tendenziöse Interpolation,,
hatte etwa folgenden Inhalt:
Im Jahre 1618 hat in Burgdorf (Städtchen auf der lüneburger
Haide) ein Mann Namens Thies gelebt, der hat zukünftige Dinge vorher'
sagen können, weshalb man ihn Wickenthies (wickelt heißt niederdeutsch zaubern,
dann auch prophezeien, vgl. das englische nitod) genannt hat. Derselbe
„das Prognostikon der Stadt Burgdorf aus etwa dritthalbhundert Jahre auf"
gestellt und zum Zeichen, daß es richtig, gewisse Dinge, die vorher geschehe
würden, angegeben." Solche Dinge sind: .Es sollte ein Hund mitten irn
Wasser auf der Ane fünf Junge werfen, was in diesem Sanuto eingetroffen
sein soll. Das Dorf Datmissen sollte ganz roth werden, was insofern er¬
füllt worden ist, als alle Gebäude auf dem herrschaftlichen Vorwerke,
vordem mit Stroh gedeckt waren, jetzt mit Ziegeln belegt sind. Das
über den Seebock nach Uetze sollte ausgefüllt werden, was gleichermaßen ^
Seschen ist. Ein großer Fettstein, welcher vor dem Rathhause lag,
bersten, was, wie das Schriftchen behauptet, auch wahr geworden ist.
Celle nach Burgdorf sollte ein feuriges Pferd gejagt kommen, welches ein^
lange Reihe mächtig großer Wagen mitten durch die Felder zöge; kaum e"
Vogel würde es ihm an Schnelligkeit gleichthun. Alles Fuhrwerk our^
dann eingestellt, und der Blitz würde Briefträger werden"—Anspielungen auf
die Eisenbahn und den elektrischen Telegraphen, die natürlich Einschaltungen
aus der neuesten Zeit sind. Ferner: „Auf dem Kirchhofe in der Stadt würde
man stehen und die Windmühle vor Uetze sehen können, was in diesem Sä-
eulo eingetroffen ist, indem die dazwischenliegenden Häuser in Asche gelegt
und nicht wieder aufgebaut wurden. Eine Kuh in Burgdorf würde ein
Kalb mit zwei Köpfen zur Welt bringen, von denen der eine blöken, der
andere singen würde." — „Auch das hat sich bestätigt", bemerkt unsere Broschüre.
Was der Kalbskopf gesungen, ist nicht verzeichnet. Vermuthlich das „Han¬
noveranerlied." „Die Linde am Kirchhofe vor dem hannoverschen Thor
würde vom Winde niedergebrochen werden, was 17S7. der eiserne Klöppel
in der großen Glocke zu Burgdorf würde zerspringen, was 1715 geschehen,
als man zur Kirche geläutet."
„Einst stand Wickenthies des Nachts auf und ging (wie die Vorgeschichten¬
seher im Westphälischen und Holsteinischen) umher. Als er wiederkam, fragte
ihn seine Frau, was er gesehen habe. Darauf nannte er ein Haus, aus
welchem eine vornehme Leiche getragen worden, meinte aber, er wisse nicht,
wer das sein solle, da in dem Hause ein armer Mann wohne. Da aber
kam ein fremder Pfarrer, starb in dem Hause und wurde mit derselben An¬
zahl von Leidtragenden beerdigt, welche der Spökenkieker gesehen hatte. Als
er ein andres Mal des Nachts umhergegangen, erschien er des Morgens
beim Amtmann und berichtete, heute würde man einen Kerl auf's Amt
bringen mit gelben krausen Haaren und in einem braunen Kamisol, der
würde gerädert werden. Wie er noch mit dem Amtmann redet, bringt man
einen jungen Menschen von seiner Beschreibung, welcher ergriffen worden,
wie er seinen alten Vater todtgeschlagen. Derselbige wurde im vorigen
Sanuto vor Burgdorf wirklich gerädert."
Das angebliche „Prognostikon" aber ist folgendes:
Zu einer Zeit, die Wickenthies nicht genau angeben kann, „wird guter Rath
und Feuerung sehr theuer werden. Dann wird ein Krieg entstehen unter den
deutschen Völkern, die Heere werden hin und herziehen in den Ländern, und
kein Mensch wird daraus klug werden. Große Feindseligkeiten werden in
Hannover vorerst nicht stattfinden, später aber werden sich fremde Völker
einmischen, und dann wird der Krieg furchtbar werden. (Dieser Satz ist
ohne Zweifel erst nach den Ereignissen des Sommers von 1866 eingeschoben
und drückt die damaligen Hoffnungen der Welfischen auf Frankreich oder
Rußland aus.) Ein Holz, die Hasseltanne, wird von undeutschem Kriegs¬
volke ganz abgehauen werden. Zu Großen-Burgwedel wird ein Scharmützel
stattfinden. Dann werden die Heere sich bei Burgdorf, auf dem Hagenfelde,
welches entweder mit Buchweizen oder mit Misthaufen bedeckt sein wird,
eine große Schlacht liefern. Die fremden Völker werden Mützen tragen und
von den Dörfern Ahligsen und Schillerslage heranziehen. In der Schlacht
wird es so grausam hergehen, daß das Blut gleich Strömen bergab in den
Stadtgraben laufen und daß das Wasser in letzterem kaum noch erkennbar
sein wird. Den Burgdorfern selbst aber wird dabei kein Leid widerfahren,
nur werden sie sich vor Rauch und Dampf kaum bergen können, auch
wird einmal Feuer hinter dem Wall ausbrechen, doch wird es sogleich ge¬
löscht werden." Wer von den Einwohnern aber fliehen wolle, räth Wicken-
thies, der solle nach dem Rischmoor gehen. In Braunschweig aber werde
es ganz sicher sein. In der Schlacht würde unter einem dicken Baume, unter
welchem vorher eine Sau ein Nest mit Eiern ausgewühlt haben werde, ein
General todtgeschossen werden. Sie würde Anfangs sehr zweifelhaft sein.
Wenn aber der Reiter auf dem weißen Pferde von Celle her erscheine, wür¬
den die Feinde, welche kein undeutsches Volk seien, auf einmal in die Flucht
geschlagen werden und sich so eilig zurückziehen, daß, wenn ein Brot auf dem
Schlagbaum läge und sie noch so hungrig wären, sich doch keiner die Zeit
nehmen würde, es wegzutragen. Nach der Schlacht, in welcher das Heer
des Königs der sieben Länder neun Fuder Gold und andere unermeßliche
Kriegsbeute gewinnen werde, würde der Weg nach Celle frei sein. Das ge-
sammte Kriegsvolk würde dann nach Hannover hinrücken und Alles hinter
sich verwüsten. Auch die Stadt Hannover würde in einen Steinhaufen ver¬
wandelt werden. Dagegen würden die Burgdorfer sich bei der bösen Zeit
gut stehen, indem ihnen zwei Fuder Gold von dem Schatze des Feindes, die
im Ahrbecker Föhr zurückbleiben gemußt, weil der Damm, der in der Eile ge¬
macht worden, einen Bruch erlitten habe, zur Beute werden sollten. „Die
Ersten, welche es angreifen, verlieren das Leben darüber, die zweite Partei
erobert es ohne Schwertstreich, die dritte hat das leere Nachsehen." Zum
Schluß erfolgt ein erwünschter Friede, den der Reiter auf dem weißen Pferde
von Celle herüberbringt.
Das fremde, aber nicht undeutsche Volk in Mützen, welches die Prophe¬
zeiung als Feinde bezeichnete, sollten vermuthlich die Preußen und der König
der sieben Länder, welcher siegt, sollte wohl Napoleon der Dritte oder Kaiser
Alexander von Nußland sein, auf welchen die Wolfischen — weßhalb, war
räthselhaft — damals auch Hoffnungen bauten. Der Reiter auf dem weißen
Pferde konnte ein sehr alter, aber auch ein sehr junger Herr sein: ein sehr
alter, nämlich der Schlachtengott der heidnischen Deutschen, Wuotan auf
dem achtfüßigen Schimmel SIeipner, den man in Sagen der Urzeit oft in
dieser Weise über Schlachten walten sieht, ein sehr junger, nämlich der Kron¬
prinz Ernst August auf einem der „Weißgebornen" des exköniglichen Mar-
stalls. Der gute Jüngling sieht auf seiner Photographie nicht wie ein Held
aus; aber ein richtiger Weisung ist Unwahrscheinlicheres, Absurderes zu
glauben im Stande, und sagt nicht auch das obenerwähnte Lieblingslied der
Partei: „Da seh ich von weitem den Kronprinzen reiten auf — doch nein,
in dem Liede, wie ich es kenne, reitet er — auf keinem Pferde.
Mag der Bauer, dem das Büchlein verkauft wurde, sich bei diesen
Dingen gedacht haben, was ihm gefiel und beliebte, jedenfalls wurde mit
der Aufwärmung dieser alten, ursprünglich sicher ganz anders lautenden Prophe¬
zeiung ein politischer Zweck verfolgt. Ob sie viele Gläubige gefunden hat,
weiß ich nicht. Möglich wäre es; denn das „Prognostikon" ist gedruckt und
wie gesagt, beim Buchbinder zu haben. Buchbinder verkaufen auch Kalender.
Kalender aber lügen niemals — also!
Und wer von den Abergläubischen dem alten Wickenthies nicht traute, der
in der That schon lange todt war, der glaubte irgend einem der Wickewieber, die
sich damals über die Zukunft Hannovers vernehmen ließen, oder dem prophetischen
Schäfer im Osnabrückschen, der erst im Dezember 1866 das Zeitliche gesegnet
hatte. Das weiße Gespenst im Lengdener Kirchthurm, welches Kindern, die
am Charfreitag in die Predigt geläutet, allerlei Belehrung über die nächstens
zu erwartende Wiederkehr Georgs des Fünften und Letzten ertheilt hatte, war
von der Polizei ertappt, ausgeschält und als unecht erkannt worden. Der
Osnabrücker Kuhhirt aber, das war der rechte Prophet. Der hatte mehr
als Brotessen gekonnt. Hatte er doch Tag und Stunde seines Todes voraus¬
gewußt, ja sogar, daß bei seinem Begräbniß der Wagen zerbrechen würde.
Warum sollte er nicht auch Kunde von politischen Ereignissen der kommen¬
den Tage besessen haben? Zwei Wochen nach seinem Ableben werde, so
hatte er verkündigt, für sechs Wochen Thauwetter eintreten, dann werde für
ebenso lange Zeit scharfer Frost kommen, darauf ein Krieg und nach diesem
die Wiedereinsetzung König Georgs. Die Wetterprophezeiung war nun aller¬
dings nicht eingetroffen. Schadet aber nichts, sagten die, welche durchaus
glauben wollten, weil sie wünschten, was geweissagt wurde. Man nahm sich
eben, wie häufig geschieht, von der Sache, was von ihr paßte. Befragen wir
doch auch in Angelegenheiten, wo wir unschlüssig oder in Zweifel sind, die
Rockknöpfe, und thun und hoffen wir nicht, mögen sie antworten, was sie
wollen, dennoch, wonach uns vorher der Sinn stand?
Es kann nach dem Obigen scheinen, als ob ich alle diese hannoverschen
Propheten perhorresciren wollte. Das ist jedoch mit nichten der Fall. —
Keineswegs von einem unehrerbietigem Spaßvogel herrührend, vielmehr offen¬
bar naiv gemeint und wahrscheinlich auf Grund einer Vision entstanden,
ging noch im Jahre 1875 in Hannover die zwar nicht sehr poetische, dafür
aber um so tiefsinnigere Weissagung um: „Wenn eine Blutwurst auf
der Umfuhr liegt, so wird König Georg wiederkommen", und
das ist auch mein Glaube. Die Umfuhr nämlich, eine Straße neben der
die Leinestadt durchschneidenden Eisenbahn, ist entweder inzwischen schon ver¬
schwunden oder wird demnächst der Erde gleich gemacht werden, und wie kann
da die Welfenwurst auf ihr Platz finden?
Soeben finde ich noch, daß auch Westphalen und die Schweiz Prophe¬
zeiungen wie die des hannoverschen Wickenthies und Visionen wie die von
Neocorus erzählte und die der mittelschleswigschen Landleute aufzuweisen
haben, daß serner diese Visionen in einem Falle bestimmt, wahrscheinlich aber
nicht blos in diesem einen, mit der Fata Morgana der nordischen Ebene noch
näher verwandt waren, als ich zu Anfang dieses Artikels meinte, und daß
endlich jene Weissagungen und diese Gesichte mehr oder minder deutliche An¬
klänge an den Glauben an eine bevorstehende große Schlacht enthalten, die
dem ewigen Frieden vorangehen werde, und die in Baiern auf das Walser¬
feld, in Thüringen auf die Ebene bei Pfiffelbach zwischen Erfurt und Weimar
und in Westphalen gewöhnlich auf eine Halde vor dem Dorfe Bremen in
der Nähe von Werk verlegt wird.
Durch ganz Westphalen ist die Sage von einer Schlacht verbreitet, die
einst auf rother Erde stattfinden soll. Kühn berichtet darüber sowie über
die daraus bezüglichen Gesichte u. A. etwa Folgendes:
Bei Thudorf unweit Paderborn hat man einige Jahre vor 1839 ge¬
sehen , daß sich der Himmel geöffnet und eine Straße aus demselben zur
Erde geführt hat, an deren linker Seite sich ein Wirthshaus befand. Auf
dieser Seite sah man lange Züge von Soldaten, zuerst in blauen, dann in
rothen Uniformen hinreiten, die, als sie auf der Erde ankamen, ihre Pferde
an einer Stelle anbauten, an welcher früher Eichen (der dürre Birnbaum des
Walserseldes) gestanden haben.
Der „blinde Junge von Eisen". ein prophetischer Schäfer, hat verkündet,
die große Schlacht werde auf dem Bockskamp bei Paderborn geschlagen wer¬
den, man werde dabei bis an die Enten (Knöchel) im Blute waten, und
wenn sie vorüber sei, werde wieder einer mit sechs Füchsen nach Schloß
Neuhaus fahren, d. h. Paderborn wieder seinen eignen Herrn bekommen.
Wieder andere Volkspropheten Westphalens haben (vor 1869, seit 1866
und 1871 gewiß nicht mehr) Truppenzüge und Kämpfe auf dem Schaf¬
berge bei Jbbenbühren beobachtet. Die Meisten erzählten aber, daß die
Schlacht dereinst am Lausebrink beim Birkenbaum in der Nähe von Werk
stattfinden werde. Der Birkenbaum ist eine Haidenfläche beim Dorfe Bremen,
die ohne Zweifel ihren Namen von einem Baume hat, der ebenfalls mit
dem auf dem Walserfelde verwandt ist. An dem neuen Heat (Feldthor) eines
dort liegenden Gehöfts sollten die Reiter ihre Pferde anbinden. Der König,
der hier siegen würde, sollte nach den Einen der König von Preußen, nach
den Andern der des Heeres in weißen Röcken, also wohl der Kaiser von
Oesterreich, und wieder nach Andern derjenige sein, dessen Priester im Fürsten¬
berg, einem Walde der Gegend, nicht fern von Nebeln, seinen Soldaten das
Abendmahl reichen würde. Dieser Priester würde auf einem weißen Rosse
herbeigeritten kommen.
Nach einigen Berichterstattern sollten es drei Schlachten sein, welche die
neue bessere Zeit einzuleiten bestimmt waren; und der Feind waren die
Russen. Der erste Kampf sollte am Rheine stattfinden, der zweite auf dem Bir¬
kenbaum bei Bremen, der dritte, nachdem bei jenen beiden die Deutschen ge¬
schlagen worden, am Lausebrink bei Salzkotten. Von hier würde „kein Russe
heimkehren, um den Seinigen zu sagen, daß sie alle gefallen seien." In der
n?roxnet,in, le« tsrridili luetu ^.ustri le ^uilvnis", die 1701 in Cöln er¬
schien, wo die Schlacht an das „Birkenwäldchen" nahe bei Budberg verlegt
wird, werden zuerst „die bärtigen Völker des Siebengestirns", bei denen man
sich an den „König der sieben Länder" bei Wickenthies erinnert, den Sieg
erfechten, aber ihre Gegner werden sich wieder stellen und mit äußerster Ver¬
zweiflung weiter kämpfen.
Die Cölnische sowie die Augsburger Allgemeine Zeitung brachten im
Februar 1834 die Mittheilung, daß beim Dorfe Büderich an der Chaussee
zwischen Unna und Werk ein merkwürdiges Naturspiel beobachtet worden,
über welches die Behörden gegen fünfzig Augenzeugen vernommen hätten.
Man hatte dort am 22. Januar kurz vor Sonnenuntergang eine großartige
Luftspiegelung gesehen, die man mit der Prophezeiung von der Völkerschlacht
am Birkenbaum in Verbindung brachte. Ein unermeßlicher Heereszug, der aus
Reiterei, Fußvolk und unzähligen Wagen bestand, bewegte sich von der Anhöhe
Schlückingens nach dem Schafhauser Holze hin. Man unterschied deutlich
das Blitzen der Gewehrläufe und die weiße Uniform der Kavalerie. Als die
Infanterie in das Holz abgezogen war, und die Reiter nach dem Dorfe
Hemmerde abschwenkten, hüllten sich mit einem Male die Bäume in einen
dichten Rauch, und man bemerkte dazwischen zwei Häuser, welche in hellen
Flammen standen.
In der Schweiz war die neueste Prophezeiung der hier geschilderten Art
^ach Rochholz die 1843 im Luzerner Lande vtelbesprochne Weissagung von
einer Schlacht auf dem Emmenfelde. Sie wurde damals dem Bruder Klaus
von der Fiuh zugeschrieben, während sie Andere dem Bauer Thomas Wan¬
dler in der Funtannen, der im vorigen Jahrhunderte lebte, in den Mund
^gten, und lautete etwa folgendermaßen:
Auf dem Emmenfelde wird eine Schlacht stattfinden, bei der die Pferde
»bis an's Gefieder" im Blute stehen werden. Alte Männer und elfjährige
Knaben, lauter Bauern aus den Schneebergen, werden den Feind ganz aus
dem Lande hinaustreiben bis aus das Ochsenfett. Hier wird die letzte Schlacht
geliefert, und die Schweizer siegen. Ein sechzehnjähriger, der auf dem Em-
menfelde unter einer Linde geboren ist, (auch hier fehlt also der Schicksals¬
baum nicht) wird als Sieger auf der Wahlstatt die Fahne der Freiheit für
die ganze Welt aufpflanzen. Die Sieger werden einander fragen, ob sie in
einem oder zwei Wirthshäusern einkehren sollen, aber sie werden in einem
einzigen Platz genug finden.
Diese Prophezeiung gab damals Anlaß zu einem langen Hochverraths-
processe. Der Sonderbundskrieg, bei dem die Pferde allerdings nicht bis
an's Gefieder im Blute zu waten hatten, war im Anzug. Welche Fahne
der Freiheit die Weissagung im Auge hatte, ob die der Jesuiten, die den
Krieg hervorriefen, oder die der Gegner der von jenen «erfochtenen Freiheit
Roms, die Welt zu modeln und zu maßregeln, ist aus meiner Quelle nicht
ersichtlich.
Im vorigen Februar hielt die britische Antitabaksgesellschaft in London
ihre Generalversammlung für dieses Jahr ab. Dieselbe -war sehr schwach
besucht, und man kam in der Hauptsache wohl nur zusammen, um den her¬
gebrachten Schmerzensschrei über die Verblendung der dem „stinkenden gifti¬
gen Schmauchkraute" ergebner Menschheit wieder einmal erschallen zu lassen
und die Engländer mit der Mittheilung zu erschrecken, daß sie jedes Jahr so
und so viel Millionen Pfund Sterling „zum Schaden ihrer Gesundheit und
zur Verunehrung des Schöpfers" durch Tabakqualmen in Rauch und Asche
verwandeln. Sonst erfuhr man aus den Verhandlungen der Herren nur
noch, daß es mit den Finanzen der Gesellschaft schlecht stand, indem die Rech¬
nungen mit einem Deficit schlössen.
Nicht besser verhält es sich mit der französischen Gesellschaft, die im
Jahre 1868 zusammentrat, um dem Mißbrauch des Tabaks entgegenzuwirken.
Die Welt betrachtet derartige Bestrebungen etwa mit denselben Gefühlen,
mit denen sie dem Treiben der Vegetarianer, der Jmpfungsfeinde und ähn¬
licher sonderbarer Schwärmer zusieht. Die Tiraden der alten Kanzelredner
und Moralisten gegen Nicvts Kraut waren unbegründet, aber doch erklärlich,
da zu ihrer Zeit noch keine genügende Erfahrung vorlag, welche die Harm¬
losigkeit eines mäßigen Tabaksgenusses erwies. Der Misocapnus von heute
hat für seine Uebertreibungen keine Entschuldigung. Der höfliche Raucher
hat nur ein vielsagendes „Hin, hin, so, so" für ihn, der unhöfliche lacht ihn
einfach aus und steckt sich eine frische Cigarre an. Die Obrigkeiten und Re¬
gierungen aberhaben längst schon die Strafruthe aus der Hand gelegt; denn
was vielen derselben Anfangs ein Uebel zu sein schien, erwies sich bei ge¬
nauerer Besichtigung als eine äußerst ergiebige Einnahmequelle.
Wir haben gesehen, daß schon die fromme Wuth König Jacobs des
Ersten dieser Betrachtung nicht unzugänglich war, und daß Venedig bereits
1657 die Anfertigung von Tabakspräparaten zum Monopol machte, und
seitdem sind die meisten großen Staaten Europas diesem Beispiele gefolgt,
zuerst, schon 1670, das immer an finanzieller Athemnoth leidende Oesterreich,
dann Frankreich und Spanien, später Rußland und Italien, zuletzt auch die
Türkei. Deutschland wird, wie u. A. auch Karl Mathy meinte, auf die
Dauer nicht zurückbleiben können.
In Frankreich war der Tabak seit 1639 mit 20 Sols auf das Pfund
der Einfuhr vom Auslande besteuert. Colbert aber nahm 1674 die Verar¬
beitung und den Verkauf desselben für den Staat in Anspruch, und man
verpachtete das so geschaffne Monopol anfänglich für 600,000 Livres. 1791
wurde es aufgegeben und 1798 durch eine Steuer ersetzt. Napoleon stellte
es durch die Verordnungen vom 29. December 1810 und vom 12. Januar
1811 wieder her, wodurch über sechshundert Tabaksfabriken, welche die Pri¬
vatindustrie inzwischen errichtet hatte, zu Grunde gingen. In der Zeit, wo
an die Stelle des Monopols eine einfache Tabakssteuer getreten war, nahmen
die Staatskassen durch dieselbe jährlich circa Millionen Francs ein. Nach
der Wiedereinführung des Monopols stieg diese Einnahme sofort beinahe um
das Achtfache. Im Jahre 1820 betrug sie rund 42, im Jahre 1840 etwa 72,
>in Jahre 1850 schon 122 Millionen, und 1863 war sie auf 233, sechs
Jahre später aber auf 248 Millionen Francs angewachsen. 1873 endlich
betrug die Gesamteinnahme des mittlerweile um Elsaß-Lothringen ver¬
kleinerten Staates aus den von ihm betriebnen Tabaksfabriken 294 Milli¬
onen. Der Statistiker Husson berechnete vor einigen Jahren den jährlichen
Reingewinn der Regierung aus dieser Industrie auf hundert Millionen Francs,
d- h. auf den fünfzehnten Theil sämmtlicher Revenuen Frankreichs vor Ein¬
führung der neuen Steuern seit 1871.
In Großbritannien, wo der Tabakshandel kein eigentliches Monopol,
"ohl ^,er mit sehr hohen Einfuhrzöllen belastet ist — rohe Blätter zahlen
circa, 3, Schnupftabake über 6, zu Rauchtabak verarbeitete Blätter sowie
Cigarren mehr als 9 Schillinge per Pfund — brachte die Besteuerung des
Tabaks der Regierung im Jahre 1821 etwas mehr als 3. im Jahre 1849
aber schon fast 4^ und im Jahre 1866 die Summe von 5^ Millionen
Pfund Sterling ein, was die Zolleinnahmen vom Zucker um mehr als eine
halbe Million überstieg und überhaupt nur unter denjenigen blieb, welche
der Thee den Kassen des Staates zuführte. In Oesterreich lieferte die Ta¬
baksregie 1847 einen Reinertrag von 12,384,000 Gulden, wobei die italie¬
nischen und ungarischen Länder nicht mitgerechnet sind. Spanien endlich
gewann in den Jahren 1844 bis 1854 durch sein Tabaksmonopol jährlich
im Durchschnitt 76 Millionen Realen.
Kein Verbrauchsgegenstand zeigt eine so allgemeine und so rapide Steige¬
rung seiner Masse als der Tabak. Dr. Riant sagt in seiner Schrift „1/^1-
coot se Is^awe» (Paris. Hachette, 1876): „Barral. der Berichterstatter über
die Tabaksfrage bei der Ausstellung von 1855, hatte damals berechnet, daß
die gesammte Welt jährlich für eine Milliarde und 500.000 Francs Tabak
consumire. 1867 mußte er anerkennen, daß diese Summe in der Zwischenzeit
auf zwei Milliarden und 200.000 Francs gestiegen war. Nach einem andern
Statistiker verbrauchte die Menschheit das Jahr über 275 Millionen Kilo¬
gramme." — „Ein Schriftsteller hat neuerdings herausgerechnet, daß der
Tabak nächst dem Salze dasjenige Bodenerzeugniß ist, von dem die Menschen
das Meiste consumiren, da es keine Nation und keinen Himmelsstrich giebt,
wo er nicht Bedürfniß wäre.
Die Tabaksproduction der Vereinigten Staaten beträgt circa 2 Milli¬
onen, die der Insel Cuba 610,000, die von Portorico 70,000, die von Mittel¬
amerika 100,000 Centner, Ostindien liefert ebensoviel, die Philippinen erzeugen
200,000 Centner, Deutschland producirt durchschnittlich eine halbe Million,
Oesterreich.Ungarn 800,000, Rußland 150 000, Rumänien 12,000, Holland
60,000. Belgien 10.000, Italien 33,000, Dänemark 2000, die Schweiz 3000
Centner, was zusammen 4,650,000 Centner giebt. Man kann annehmen,
daß in allen übrigen Ländern zusammen gleichfalls gegen fünf Millionen
Centner gewonnen werden, sodaß die Gesammtproduction der Erde ungefähr
zehn Millionen Centner betrüge. In Deutschland hat der Tabaksbau in der
letzten Zeit erheblich zugenommen. 1863 waren hier 84,000 Morgen mit
Tabak bepflanzt, im nächsten Jahre schon 90,000. Der Ertrag an trocknen
Blättern belief sich in jenem Jahre auf 682,000 Centner, von denen nächst
Oesterreich Baden mit 29.468 Centnern das Meiste lieferte.
Die Gesammtproduction von (verarbeiteten) Tabak in England beträgt
nach „Blackwoods Magazine" jährlich zwei Millionen Tonnen. Diese un¬
geheure Ziffer wird um so mehr auffallen, wenn man bedenkt, daß das
Totalgewicht des von der Bevölkerung hier jährlich verzehrten Getreides
4,330,000 Tonnen nicht übersteigt, und daß der zur Befriedigung des Ver¬
langens nach diesem narkotischen Kraute hergestellte Tabak so viel wiegt als
das zur Ernährung von zehn Millionen Engländern erforderliche Getreide
Wenn man aber den Preis des Tabaks nur doppelt so hoch veranschlagt als
den Werth des Kornes auf dem Markte, so kostet er so viel als alles
Getreide, das zur Versorgung der Bevölkerung Großbritanniens noth¬
wendig ist.
»Im Jahre 1869", sagt Riant, „wurde die jährlich in England einge¬
führte Quantität Tabak auf fünfzig Millionen Pfund geschätzt, sodaß auf
den Kopf ungefähr zwei Pfund fielen. Ziehen wir davon die Frauen, die
Kinder und den zehnten Theil der männlichen Bevölkerung als nicht rauchend
ab, so könnte der jährliche Verbrauch der Uebrigen zu zehn Pfund per Kopf
angenommen werden (d. h. wenn keine Ausfuhr von verarbeiteten Tabak
stattfände).
Die jährliche Tabaksconsumption von Paris ist 18K6 auf 1,604,601
Kilogramme veranschlagt worden, was auf den Kopf Z,«-,» Kilogramm er¬
geben würde."
Im Verhältniß zur Einwohnerzahl beläuft sich der Tabaksverbrauch
nach den neuesten statistischen Erhebungen in England durchschnittlich auf l^,
in Frankreich auf l^,, in Oesterreich auf 2, in Deutschland auf 2^, in
Nordamerika auf 4, in Belgien auf 4^, in Dänemark auf 4^ und in
Neusüdwales, wo der Tabak zollfrei eingeführt wird, angeblich auf 14 Pfund
Per Kopf. Nach Chevallier käme in Frankreich auf den Einzelnen ein Consum
an Tabak von 511 Grammen, die sich so vertheilten, daß 198 Gramm auf
Schnupftabak und 313 Gramm auf Rauchtabak fielen. „Ein Franzose",
behauptet derselbe Schriftsteller, „verbraucht so viel Tabak als ein Russe,
doppelt so viel als ein Italiener, dreimal weniger als ein Deutscher oder
ein Holländer und viermal weniger als ein Belgier." Die Statistik zeigt
ferner, daß in Frankreich von Is Rauchern 8 sich der Pfeife bedienen, wäh¬
rend 5 Cigarren und 2 Eigaretten rauchen. Im Jahre 1869 war Frank-
reich — nach Riants Quellen — bei einem Tabaksconsum von 31,245.396
Kilogrammen angelangt. Neuere Berechnungen kommen zu folgenden Ziffern
für den Verbrauch von Tabak in seinen verschiedenen Gestalten. Man con-
sumirt in Frankreich das Jahr hindurch zwischen 18 und 19 Millionen Kilo-
Kramme Rauchtabak (Seaferlati oder Caporal), 3^/z Millionen Kilogramme
Cigarren (wobei 250 Stück auf das Kilogramm gerechnet werden), 7^ Milli¬
onen Kilogramme Schnupftabak, 630,000 Kilogramme Kautabak und 450,000
Kilogramme Carotte, eine Tabakssorte, die in Paris wenig bekannt und fast
nur in der Bretagne geraucht und zugleich geschnupft und gekaut wird. Seit
dem Wegfall von Straßburg und Metz besitzt der französische Staat 16 große
Tabaksfabriken, und die Zahl der Verkaufsstellen für deren Producte beträgt
in Paris über 1200."
Wieder ein anderer Statistiker will herausgerechnet haben, daß man im
Jahre 1874 in Frankreich rund 742 Millionen Cigarren und 468 Millionen
Cigaretten geraucht hätte, woraus, angenommen, daß alle Franzosen mit
Einschluß der Weiber und Kinder dieser Gewohnheit huldigten, folgen würde,
daß bei unsern Nachbarn in diesem Jahre jedermann seine 20 Cigarren
nebst 13 Cigaretten consumirt hätte.
In Oesterreich wurden in den letzten Jahren durchschnittlich etwa tausend
Millionen Cigarren jährlich in Asche verwandelt, an welcher Metamorphose
Wien allein mit zweiundfünfzig Millionen Stück betheiligt war. Im Laufe
des letzten Decenniums hat sich die Nachfrage nach Cigarren hier, wie wohl
allerwärts, namentlich in Mitteldeutschland, um hundert Procent gesteigert
und die nach Rollen - und Kraustabak im Verhältniß hierzu vermindert.
Die meisten Cigarren raucht wohl schon seit geraumer Zeit Hamburg, dessen
Bevölkerung sich zu der von Wien wie 1 zu 3 verhält, während sein jährlicher
Cigarrenverbrauch auf 18 Millionen Stück veranschlagt worden ist. Die
wenigsten Tabaksläden endlich unter allen Großstädten Europas hat Rom
aufzuweisen.
Der Tabak ist eine Pflanze aus der Familie der Nachtschattengewächse
mit großen, weichen, abwechselnden Blättern und trichterförmigen fünflappigen
Blüthen, die in Rispen am Ende des Stengels stehen und fünf Staubgefäße
enthalten. Die Früchte sind Kapseln mit zwei bis vier Fächern und vielen
Samenkörnern. Man hat einige fünfzig Arten beschrieben, die aber nur
Varietäten von einigen Hauptarten sind. Dahin gehören der virginische oder
gemeine, der Maryland- und der Bauern- oder Veilchentabak. Der virginische
Tabak wird 5 bis 6 Fuß hoch, ist mit drüsigen Haaren bedeckt und hat 6
bis 18 Zoll lange und 4 bis 8 Zoll breite, lanzettförmig zugespitzte Blätter,
deren Adern von der Mittelrippe im spitzen Winkel verlaufen, und rosenrothe
Glockenblumen in weit ausgebretteten Rispen. Die besten Varietäten sind
der breitblätterige, der weißrippige mit aufrechtstehenden, der Hängetabak mit
ungestielten hängenden Blättern und der Baumeanaster, dessen Blätter gestielt
sind. Der Maryland-Tabak hat zunächst einen dickeren Stengel als der vir¬
ginische, dann eiförmige spitzzulaufende Blätter, deren Adern sich von der
Mittelrippe fast im rechten Winkel nach dem Rande hinziehen, und deren
herzförmige Basis geöhrt ist, endlich rothe Blüthen, die dicht beisammen
stehen. Seine bekanntesten Varietäten sind der Straßburger und der amersforter,
der podolische, der ungarische und der türkische Tabak. Der Bauerntabak hat
gestielte, eirunde, stumpfe Blätter und grünlich-gelbe Blüthen mit abgerundeten
Zipfeln und einer unten bauchigen, weiter oben eingebogenen Röhre. Er
Wird nur 3 bis 4 Fuß hoch.
Der Tabak kann vom Aequator bis zum 80. Grad nördlicher und süd¬
licher Breite gebaut werden, obwohl er am besten innerhalb der ersten 35
Grade auf jeder Seite des Aequators gedeiht und zwischen dem Is. und 35.
Grade die feinsten Sorten liefert. Die Pflanze liebt Wärme mit etwas
Feuchtigkeit, Sonnenbrand schadet ihr ebenso wie zu viel Nässe. Am besten
sagt ihr ein Klima mit 10 bis 20° mittlerer Jahrestemperatur zu. In
trocknen Jahren und Bodenarten wird der Tabak aromatischer, in feuchten
verliert er fast allen Wohlgeruch. Er verlangt einen leichten, tiefgründigen,
gut gelockerten Boden, welcher Ueberschuß an organischer und löslicher mine¬
ralischer Nahrung enthält, unter der sich namentlich Kali befinden muß.
Zum Anbau der Pflanze bestimmte Felder bedürfen daher reichlicher und
schnell wirkender Düngung, die frühzeitig im Herbst vorzunehmen ist. Sie
werden dann tief gelockert, im Frühjahr sorgfältig gepflügt und geeggt,
nochmals gedüngt und dann wieder gepflügt, geeggt und gewälzt, damit man
ein möglichst gleichmäßiges und klares Feld gewinnt. Die Wahl der Saaten
ist durch Klima und Boden bedingt. In Deutschland cultivirt man außer
dem Bauerntabak vorzüglich die virginische Art. Hier wie in ganz Europa
muß der Tabak, bevor er auf's Feld kommt, in Treibbeeten gezogen werden,
die in geschützter Lage angebracht und mit guter Erde angefüllt sind. Die
Aussaat wird hier in der Mitte des März vorgenommen. Die jungen
Pflänzchen sind mäßig feucht zu halten und fleißig von Ungeziefer und Un¬
kraut zu befreien. Im Juni kommen sie auf's Feld, wo man sie — am besten
bei feuchter Witterung — je 2 bis 2^ Fuß von einander einsetzt. Die
weitere Pflege besteht in häufigem Behacken, Jäten und Behäufeln. Sind
die Blätter 9 bis 10 Zoll lang, so nimmt man der Pflanze die „Diebe",
d. h. die Seitentriebe; ist sie zur Blüthe gelangt, so wird ihr die Spitze
sammt allen Blumen abgebrochen, wodurch man kräftigere Blätter erzielt.
Die dann in den Blattwinkeln wieder hervorkeimenden Blättchen, in der
Kunstsprache „Geize", müssen gleichfalls immer wieder entfernt werden und
schließlich die untersten Blätter am Stengel. Die Ernte beginnt, wenn die
Blätter sich gelblich gefärbt haben. Die untersten vier derselben geben den
geringsten, die vier folgenden weiter oben einen besseren, die obersten endlich
den besten Tabak. Man gewinnt in günstigen Jahren vom Morgen bis zu
20 Centner gute und 1 bis 2 Centner schlechte Blätter, so wie 1 bis 3
Centner Abfall. Die Stengel sind nur als Brennmaterial zu verwenden.
Die Ernte endigt damit, daß man die Blätter sorgfältig sortirt und sie dann
auf dünne Stäbe reiht, die man in luftigen Räumen zur Abtrocknung der
Blätter aufhängt. Die Cultur des Tabaks ist, wie man sieht, kostspielig
und mühsam, wirft aber auch bisweilen hohe Erträge ab, und immer ist sie
lohnend, wenn der Preis für den Centner nicht unter 6 Thaler herabgeht.
Die frischen Tabaksblätter enthalten, wie alle Pflanzentheile, Prolötnkörperchen,
welche beim Rauchen die Verbrennung hindern und den üblen Geruch ver¬
breiten, den man „Kneller" nennt. Zur Entfernung derselben dient eine
Gährung, das „Schwitzen", die dadurch bewirkt wird, daß man die getrockneten
Blätter anfeuchtet und dann auf einander schichtet, wodurch zugleich ein
Theil des später zu besprechenden Nicotins entfernt wird.
Die zum Rauchen bestimmten Blätter werden entweder nach vorgängiger
Anfeuchtung auf einer Maschine zu Kraustabak zerschnitten oder in der
Spinnmühle zu Rollentabak gedreht oder zu Cigarren verarbeitet. In letzterem
Falle werden zunächst den Blättern, nachdem sie naß gemacht worden, die
Hauptrippen genommen und die entrippten Blätter über einander gelegt und
gepreßt. Die so zugerichteten Blätter geben die äußerste Umhüllung der
Cigarre, das Deckblatt. Unter diesem liegt das nicht entrippte Umblatt,
und dann folgt als Innerstes die Einlage, die, während das Deck- und Um¬
blatt im feuchten Zustande verarbeitet werden, sorgfältig trocken gehalten
wird. Manche Tabakssvrten erfordern noch eine besondere Behandlung. Der
fette Kentucky - Tabak z. B. muß vor der Verarbeitung erst vierundzwanzig
Stunden in Wasser eingeweicht und dann ausgepreßt und getrocknet werden,
durch welchen Proceß er den größten Theil seiner narkotischen Bestandtheile
verliert. Andere in Klumpen zusammengedrückte Tabake, wie der schwere bra¬
silianische, können nicht eher zu Cigarren verarbeitet werden, als bis sie durch
Dämpfe aufgelockert sind. Die zur Einlage bestimmten Blätter werden der
Länge nach in die Hand genommen und in das Umblatt gewickelt, worauf
der Arbeiter das einen schmalen Streifen bildende Deckblatt spiralförmig
darum windet und das eine Ende zu einer Spitze zusammendreht, die mit
einem aus Stärkemehl und Cichorien bestehenden Klebstoff haltbar gemacht
wird. Die fertigen Cigarren legt man auf „Horden", d. h. mit Leinwand
oder Bindfaden überspannte Rahmen, damit sie einigermaßen trocknen. Dann
folgt das Sortiren nach der Farbe, deren Verschiedenheit die verschiedene
Güte der Cigarre ausdrückt. Manche Sorte zerfällt in zwanzig und mehr
Nuancen, im Allgemeinen aber gilt, daß die braunen Cigarren die besten
sind. Je mehr ihre Farbe sich einerseits dem Gelb, andrerseits dem Schwarz
nähert, desto weniger taugen sie nach Geruch und Geschmack. Auch ein
fahles Grün verspricht nichts Gutes. Zu fest gewickelte Cigarren brennen
ebenso schlecht wie zu locker gearbeitete, jene lassen zu wenig Luft hindurch,
bei diesen kommt der Rauch zu heiß in den Mund, auch brennen sie leicht
schief. Von der Horde kommen die Cigarren in Kistchen von Cedernholz,
in denen sie an einem luftigen, trocknen und warmen, aber nicht heißen Orte
aufbewahrt werden. Solche, die von fettem Tabak gemacht sind, müssen hier
wenigstens ein halbes Jahr „ablagern", bei andern genügen zwei bis dre^
Monate. Der Glaube, daß jede Cigarre durch sehr langes Liegen gewinne,
ist Aberglaube. Nach drei bis vier Jahren verlieren die meisten Sorten
ihr Arom.
Zur Schnupftabaksfabrikation werden die Blätter entrippt und in die
Sauce oder Beize getaucht, die Geheimniß der Fabrik ist. Manche verwenden
dazu Wasser, Rothwein und gereinigten Weinstein, Andere fügen Rosenwasser,
Gewürze und andere Wohlgerüche hinzu. Soll der Schnupftabak schwarz
werden, so wird er in heiße Sauce gelegt. Die durchtränkten Blätter schichtet
man in Haufen und überläßt sie der Gcihrung, worauf man sie mit Soda
oder Kochsalz bestreut und sie durch Schneiden. Stampfen und Reiben in
Pulver verwandelt, welches hierauf in kleine d'este Fässer oder in Kruken
gethan wird. Das Verpacken in Blei ist gesundheitsgefährlich. Zur Dar¬
stellung der Carotten werden aus den gebeizten Blättern rübenförmige
Körper von 1 bis 2 Fuß Länge zusammengepreßt, die man mehrere Monate
schwitzen und gähren läßt, um dann aus ihnen durch eine Maschine mit
einem Reibeisen den Rappe' herzustellen. Die sehr zahlreichen Sorten des
Schnupftabaks zerfallen in alkalische (auch Pariser genannt) und saure. Jene
sind tief dunkelbraun, diese lichtbraun von Farbe.
Kautabak wird ähnlich wie der Schnupftabak mit Hülfe gewürziger
Beizen hergestellt. Man erhält ihn im Handel in verschiedener Gestalt, bald
in kleinen Röllchen von dünnem Gespinnst (Lady Toise), bald in Zöpfchen
geflochten (Negro Heads), jetzt aber gewöhnlich in Platten von der Form
und Größe der Chocoladetafeln, wo ihm gewöhnlich Zucker beigesetzt ist
(Honey Deo).
Die verschiedenen Tabakssorten werden nach ihrer Verwendung eingetheilt
in Carottengut, das zu Schnupftabak, in Schneidegut. das zu Kraustabak,
in Spinngut, das zu Rollen- und Kautabak verarbeitet wird, endlich in Ci¬
garrentabak. Carottengut liefern die schweren, fetten Qualitäten, Schneidegut
die mittleren und leichten, die schon in Blättern ganz ausfermentirt sind;
zu Spinngut dienen besondere Sorten, die unentrippt bleiben, von den Ci-
garrentabaken verlangt man. daß sie fehlerfrei brennen, und der zu Deck¬
blättern bestimmte Tabak muß dünne Rippen und passende Farbe haben,
auch darf er sich bei der Gährung nicht zu stark erhitzen, weil er sonst
brüchig wird.
Nach den Productionsländern unterscheidet man europäische und über¬
seeische Producte. Die wichtigsten Sorten sind, um von unten, d. h. mit
den geringsten anzufangen, zunächst der holländische, französische und deutsche
Tabak. Der holländische wird vorzüglich bei Amersfort, Nybeck und Mastricht
gebaut, ist wenig aromatisch, sehr narkotisch und liefert hauptsächlich Schnupf¬
tabak. Dieselben Eigenschaften besitzt der französische, der aus den Departe¬
ments Jsle et Vilaine, Lot, Lot et Garonne, Nord, Pas de Calais, Bouches
du RH6ne, Var und Gironde kommt, und dem der von Algier beizuzählen
ist, wo man schon 1832 zwei Millionen Kilogramme Tabak erzeugte. Der
beste deutsche Tabak wird in der Gegend von Worms, Speyer und Mann¬
heim gebaut. Er erfreut sich starken Absatzes nach dem Auslande, besonders
nach Oesterreich, Spanien, England und (in fertigen Cigarren) selbst nach
den Vereinigten Staaten. Der ungarische Tabak zeichnet sich durch gute
Farbe und Wohlgeruch aus, was namentlich von dem aus der Nachbarschaft
von Fünfkirchen gilt. Der türkische Tabak, der gewöhnlich geschnitten, aber
seit einiger Zeit auch viel in Blättern in den Handel kommt, zerfällt in sehr
verschiedene Sorten, von denen die besten in Macedonien und Bosnien er¬
zeugt werden. Der Jawasch ist mild, der Orta mittelstark, der Dunbar Ukko
scharf, der sert sehr stark. Besonders beliebt ist der hochgelbe Giobek und
dur lichtbraune Sultansky, Wohlfeilere türkische Tabake sind der dunkle
Samsun und der hellere Basra. Verwandt mit dem türkischen ist der syrische
Tabak oder Latakiah, der in drei Klassen zerfällt: Dschebeli, die vornehmste,
die auf den Vorbergen des Taurus wächst, ihren Wohlgeruch aber durch
Räucherung über Feuern erhält, auf welche Aloe, Sandelholz, Bernstein, Benzoe-
harz und ähnliche aromatische Stoffe geworfen werden, Suri und Beledi (Land¬
oder Bauerntabak). Dschebeli und Suri werden in Häuten frisch geschlachteter
Gazellen verpackt und haben (vom Rauche, dem man sie ausgesetzt hat) eine
dunkelbraune Farbe, während der Beledi grünlich aussieht. Der persische
Tabak oder Tumbekt ist sehr mild und wird nur aus Wasserpfeifen (Nargileh
oder Schischi) geraucht, und zwar zieht man den Dampf dabei im Orient
nicht blos in den Mund, sondern in die Lunge ein.
Indische Tabake sind der Akayab und der Cortngo, beide aus dem eng¬
lischen Ostindien, der Javatabak, der meist zu Cigarren verarbeitet wird, ein
schönes Deckblatt liefert und sich durch einen eigenthümlichen gewürzhaften
Geruch auszeichnet, endlich der Manilatabak, der ebenfalls größtentheils zur
Fabrikation von Cigarren verwendet wird, vortrefflich brennt und einen
außerordentlich milden und lieblichen Geruch und Geschmack besitzt. Er
wird auf den Inseln des malayischen Archipels und in ganz Indien fast
ausschließlich geraucht, und es werden von ihm jährlich an tausend Millionen
Stück Cigarren und über hunderttausend Centner Blätter auf den Markt
gebracht. Die Regierung kauft die ganze Ernte von den Pflanzern um einen
festgesetzten Preis und läßt sodann in drei großen Fabriken mit etwa 20,000
Arbeitern die Cigarren anfertigen, wozu sonst niemand befugt ist. Die in
Europa viel verbrettete Meinung, zu den Manilacigarren werde Opium ver¬
wendet, ist grundlos.
Von den amerikanischen Tabaken wird der aus Maryland sowie der
aus Ohio, welcher einen gewürzhaften, rauchartigen Duft hat, größtentheils
zu Schneidegut verwendet, da er zu Cigarren nicht fein genug ist. Massen
davon gehen nach Holland, Schweden und Rußland. Der virginische Tabak,
dessen beste Sorte am Jamesflusse wächst, liefert Carotten gut und wird zu
mittelmäßigem Rauchtabak verarbeitet. Der von Kentucky findet vielfach die¬
selbe Verwendung, eignet sich aber auch zur Ctgarrenfabrikation und wird be¬
sonders oft zu Deckblättern genommen. Dasselbe ist vom Seedleaf zu sagen,
einer Tabakssorte, die vorzüglich in Ohio, Connecticut und Pennsylvanien
cultivirt wird und aus Cuba-Samen gezogen ist. Der Tabak von Florida
giebt schönfarbige, zarte, große Deckblätter zu Mittelcigarren. Brasiltabak
eignet sich ebenfalls sehr gut zur Verarbeitung in Cigarren und liefert den
Fabrikanten sowohl Deckblätter und Umblätter als Einlagen. Der beste
Rauchtabak ist der Varinas, früher nach den Körben, in denen man ihn ver¬
schickte, Canaster genannt; er kommt aus Venezuela, und seine Blätter eignen
sich nicht zur Anfertigung von Cigarren, wogegen andere Tabake Venezuelas,
wie Laguayra, Npata und Cumanacoa, trotzdem, daß sie von geringerer
Qualität sind und oft nicht brennen, vielfach bei der Cigarrenfabrication ver¬
wendet werden. Dasselbe/ gilt von dem Esmeralda, der aus Ecuador kommt
Besser und zum Theil sehr gut sind die Tabake von Neugranada: der Giron
Columbia und der diesem sehr ähnliche Palmyra, ferner der Carmen Colum¬
bia und vor Allem der Columbia Ambalema, der in der Provinz Cundina-
Marca gebaut wird und die beliebteste Sorte zur Cigarrenfabrication ist. Er
zeichnet sich durch milden, angenehmen Geschmack und ziemlich feinen Geruch
aus, brennt in der Regel tadellos und wird deshalb mit Havanna- oder
Cuba-Einlage zu feinen Marken verarbeitet, liefert aber auch mit geringerer
Einlage eine rauchbare Mittelcigarre. Ein gutes Deckblatt, bisweilen auch
Schneidegut giebt der Tabak von Domingo, während der von Portorico
nächst dem Varinas den feinsten Rauchtabak liefert.
Die edelsten Cigarren nach Farbe, Geruch und Geschmack erhalten wir
aus der Havanna. Der feinste Tabak wird hier in der Vuelta d' Abajo
(wörtlich: Wendung nach unten) gebaut, welche das Gebiet der kleinen Flüsse
umfaßt, die von den Sierras de los Organos und del Rosario nach der
Südküste hinströmen, und unter denen der Rio Hondo der bedeutendste ist.
Die bekanntesten Ortschaften dieses Bezirks sind San Diego, San Juan de
Atartinez und Pirat de Rio. Die vorzüglichsten Plantagen (spanisch: Vegas)
^egen in den Thälern, welche in den Sommermonaten durch tägliche Regen¬
güsse unter Wasser gesetzt werden, namentlich auf der Fläche, die der Cupa»
quataya durchfließt, Sie sind meistentheils klein, indem sie oft nicht mehr
als eine Caballerta einnehmen, die sich zum Quadratkilometer wie eins zu
sieben verhält. Die Hälfte dieser Vegas ist mit Platanen bepflanzt, welche
den Tabaksstauden Schatten geben. Im September beginnt mit der trocknen
Jahreszeit die Arbeit der Pflanzer damit, daß die „Semilleros" oder Saat-
beete. die gewöhnlich über dem Gebiete der Flußüberschwemmungen liegen,
besäet werden. Im Oktober versetzt man aus jenen die jungen Pflanzen
auf die tiefer gelegenen feuchteren Felder. Im Januar, Februar und März
ist der Tabak zum Schnitte reif. Die obern Blätter der Pflanze gelten für
die besten, weil sie bei Tage am meisten Licht und in der Nacht den meisten
Thau erhalten. Man nennt sie Disecho. Der Tabak feinster Qualität ist
von gleichmäßiger tiefbrauner Farbe, ohne Streifen und Flecken, brennt frei
und hat eine weiße, nicht leicht abfallende Asche. Eine Caballena liefert in
guten Jahren 9000 Pfund, ein Ballen von 100 Pfund ist durchschnittlich
25 Dollars werth, doch giebt es Vejas, die ihn schon mit 400 Dollars be¬
zahlt bekommen haben. Zwischen der Vuelta d' Abajo und Havanna liegen
auf einer Strecke von etwa zwanzig Meilen die Partidos de San Marco,
San Felice und San Antonio, welche den Partido-Tabak liefern, der als
Havanna- oder Cabannas - Tabak nach Europa geht. Er hat in der Regel
ein größeres und feineres Blatt und ist auch meist von schönerer Färbung
als das Product der Vuelta d' Abajo, seine Qualität ist aber geringer als
dieses. Indeß wird auch er von mehrern Fabriken der Havanna zu Cigarren
verarbeitet. Die Plantagenbesitzer sind nur selten Fabrikanten. In den
Partidos kommt es zwar vor, daß die Eigenthümer von Kaffeeplantagen
etwas Tabak anbauen und diesen in der Zeit des Jahres, wo der Kaffeebau
weniger Hände beschäftigt, durch ihre Neger zu den bekannten Pflanzer-
ctgarren oder Vegueros verarbeiten lassen, doch ist das mehr Haus- als
Fabrikindustrie.
In der Stadt Havanna giebt es über hundert Cigarrenfabriken, die
ihr Product theils mit dem Namen ihrer Besitzer, theils mit einer besondern
Marke bezeichnen. Die feinsten Cigarren gehen aus den Geschäften von I-
Upmann, (der Begründer stammt aus Deutschland und zwar aus Bielefeld)
Jose' Partagäs (Marke: Flor de Tabanvs) und Cabannas y Carvajal her¬
vor. Andere große Fabriken mit geschätzten Marken sind die von Bocky
Comp., (Marke: Aquila de Oro), Diaz Bannes, (Marke: Carolina). Villary
Villar, Cabargas. Julian Alvarez. (Marke: Henry Clah). Luis Corujo.
(Marke: Punch), Balle Suarez y Comp. (Marke: Flor de Cuba) und Me-
nendez y Suarez, (Marken: Boschetti und Todo). Der jährliche Absatz der
Fabrik Cabannas belief sich 1866 schon auf 16 Millionen Stück. Davon
blieben in Cuba selbst ^Millionen, während nach den Vereinigten Staaten
3, nach Großbritannien ebenfalls 3, nach Spanien 2^2, nach Deutschland 2
Millionen, nach dem spanischen Amerika ebenso viel und nach Frankreich 1
Million gingen. Manuel Carvajal ist der Schwiegersohn von Cabannas
und war früher dessen Geschäftsführer, seine Frau war in den fünfziger Jahren
mit Kennerschaft bei der Anfertigung der Cigarren und bei dem Vertrieb
thätig. Der größere Theil der von dieser Fabrik gelieferten Cigarren geht
für deren eigne Rechnung nach England und wird dort kommissionsweise
verkauft. Nicht ohne Nutzen für Raucher von Havanna-Cigarren wird es
sein, wenn wir bemerken, daß die meisten kleineren Fabriken ihren Cigarren
zweiter und dritter Klasse häufig selbst andere Firmen geben, als denen von
erster Güte (Primeras). Auch sonst kommen bisweilen unfeine Manöver
vor. So begab sich vor etwa fünfundzwanzig Jahren Carvajal mit seiner
Familie nach Spanien, um dort für längerer Zeit seinen Aufenthalt zu nehmen.
Um sich seines blühenden Geschäftes nicht entäußern zu müssen, verpachtete er
die Fabrik sammt der Benutzung ihres Marktes für eine beträchtliche Summe
an Cabargas. Dieser benutzte den guten Ruf des Geschäftes, um durch
weniger sorgfältig behandelte, aber ausgedehntere Lieferungen in kurzer Zeit
einen höheren Ertrag zu erzielen. Carvajal erfuhr dieß, kehrte daraufhin so¬
fort zurück und löste den Pachtvertrag auf. Cabargas errichtete dann eine
eigne Fabrik, imitirte, die Aehnlichkeit seines Namens mit dem seines früheren
VerPächters benutzend, die Stempel und die Eticketten des letzteren so täuschend
als möglich, kaufte alte geschickte Arbeiter desselben frei und nahm sie darauf
gegen Lohn in seine Dienste, kurz, that, was er konnte, um sich in den Ruf
Herrn Manuels einzudrängen und diesem zu schaden. Ungefähr um dieselbe
Zeit begründete Partagäs die Flor de Tabanvs, eine Marke, der er, besonders
durch ausgezeichnete Tabakskenntniß, rasch einen guten Namen zu machen
verstand.
Am einzelnen Blatte werden bei der Verarbeitung verschiedene Quali¬
täten beachtet, die äußeren Theile gelten für seiner, als die am Stiele. Die
sortirten Cigarren werden in Bündeln von 25 Stück in Kistchen gepackt.
Daß die Vegueros oder Pflanzercigarren die feinsten seien, ist unrichtig, man
kann dieß annähernd nur von denen der Vega de la Lemna sagen, die als
der Johannisberg her Vuelta d' Abajo anzusehen ist, und deren Product
schon vor dreißig Jahren, wo die Preise lange noch nicht halb so hoch waren
als jetzt, mit 31 Dollars pro Mille bezahlt wurden. Die größte Havanna-
Cigarre ist die Regatta Jmpertal, sie kostet an Ort und Stelle 200 bis 400
Dollars das Tausend. Die Regatta (der Name kommt nicht von rez? König
"der rk^al^ Staatsmonopol, sondern von regulär —regaliren, schenken, bedeutet
also eine zu Geschenken geeignete Cigarre) ist nicht ganz so lang, aber eben
so fein. Die Cazadores sind schlanker. Die Trabuquillos, kurze und sehr
dicke Cigarren, nach den kurzen, nach vorn sich erweiternden Gewehren der
spanischen Banditten benannt und vor zwanzig Jahren ungemein beliebt,
sind nicht mehr in der Mode. Ebenso haben die viereckig gepreßten Pren-
sados, von einigen Fabriken als Brevas (frühreife Feigen) versandt, und die
Trompetas, die von der Spitze nach dem Brennende gleichmäßig an Umfang
zu nehmen, nur kurze Zeit gefallen. Cigarren mit vergoldeten Spitzen sind
ein unnützer Luxus, das Goldblatt verbessert selbstverständlich den Geschmack des
Tabaks nicht, und bleibt dem Raucher an den Lippen hängen.
Nach der Qualität wird die Cigarre als „superfino", „sino," „superior"
und „bueno" bezeichnet, nach der Stärke als „maduro" (besonders stark),
„oscuro" (stark), „colorato" (Mittel) und „claro" (mild). Weniger gebräuch¬
lich ist die Sortirung der Cigarren in „flojo" (leicht), „entrefuerte" (Mittel
schwer) und „fuerte" (schwer). Ein sehr wesentliches Moment bei der Beur¬
theilung der Havanna-Cigarren ist der Unterschied nach Ernten oder Jahr¬
gängen ; denn wie beim Weine hat auch bei dem Havanna-Tabake jede Ernte
ihre Eigenthümlichkeiten, ihre Vorzüge und ihre Mängel. Es giebt Jahr¬
gänge, die ebenso schön von Farbe, als gehaltvoll und von gutem Brande
sind, und es giebt andere, deren Farbe fahl, deren Geruch dumpfig oder sonst
unangenehm ist, und die so schwammig sind, daß sie selbst ganz abgelagert
und trocken nach einigen Zügen weich werden und von der Hälfte an nicht
mehr im Brande zu erhalten sind. Als die besten Ernten der letzten Jahre
wurden uns von der Handlung Bernhard Schwabe in Leipzig, die von den
oben erwähnten und andern guten Marken Lager hält, die der Jahre 1869
und 1872 (die allerbeste) bezeichnet. Die von 1873 war noch gut, die von
1874 ungenießbar, die von 1875 mittelmäßig, die dießjährige schlecht.
In den Cigarrenfabriken Havannah, von denen einige 5 bis 600 Ar¬
beiter ausweisen, sind keineswegs blos Neger, sondern fast ebenso viele
Weiße — theils Eingeborne, theils Einwanderer aus Spanien und von den
Canarischen Inseln — als Farbige beschäftigt, und die Ansicht, daß die
Negerinnen der Fabriken oder Vegas die Cigarren auf ihren nackten Schen¬
keln rollen, ist eine Fabel, welche die Comtesse Merlin unter die Leute ge¬
bracht hat. Dagegen ist richtig, daß die Guajiras, d. h. die Creolinnen
unter der derben, altväterischen Landbevölkerung im Innern Cubas dem
Gaste, der bei ihnen vorspricht, eine Veguero-Cigarre aus freier Hand
drehen, einige Züge daraus thun und sie dann zum Weiterrauchen über¬
reichen — eine Sitte, die an die altindianische Friedenspfeife erinnert.
Die Fabrikpreise der gangbarsten Cabannas betragen 120 bis 130 Dollars,
doch giebt es auch billigere Sorten („reguläres" oder „communes") bis zu 30
Dollars herab, während Upmann seine Preise noch beträchtlich höher als
Cadannas normirt. Es giebt Cigarren, von denen das Tausend 3000 Mark
kostet. Die Fabriken verkaufen natürlich nur per Mille, und sie geben
für jede Ordre von zehntausend Stück fünf Prozent Rabatt; sonst erhält der
Kaufmann in der Regel keine weitere Vergünstigung. Echte Havanna-Cigarren
im Einzelnen zu bekommen, hält in Havanna selbst schwer, und dann muß
Man sie enorm hoch bezahlen. Die Kreolen der Städte rauchen niemals
Cigarren oder, wie sie es nennen, „Tabanvs puros", sondern wie die auf
Cuba eingewanderten Altspanier Cigarillos, Papiercigarren. Sie überlassen
jenen Genuß den Bauern im Innern und den in der Stadt verweilenden
Nordeuropäern und Nordamerikanern, consumiren aber dafür eine gewaltige
Menge von Cigaretten. Jedes zehnte oder zwölfte Haus zeigt einen Laden,
Mo diese zu haben sind, und das bedeutendste Geschäft in diesem Artikel, die
königliche Fabrik La Honradez, arbeitet mit tausend Chinesen und producirt
täglich gegen dritthalb Millionen Stück und daneben noch Cigarren und
Schnupftabake.
Die Vegas der Vuelta d'Abajo beschäftigen 60 bis 70.000 Menschen fast
ausschließlich mit dem Tabaksbau. Dieser District erzeugte 1836 circa
^0.000 Ballen zu 120 bis 140 Pfund. 1843 schon 130.000 und in den
ätzten Jahren zwischen 150,00 und 180,000 Ballen. Bei guten Ernten ge¬
hörte davon etwa 1 Procent der ersten Blätterqualität an. Der große
Unterschied zwischen den importirten Havanna-Cigarren und denen, die sich
Havanna-Cigarren nennen, weil sie aus Blättern bestehen, die aus der Ha¬
vanna bezogen sind, erklärt sich lediglich daraus, daß man die feinsten Blätter
dicht exportirt, also nicht, wie behauptet wird, auch daraus, daß selbst diese
^ Europa verarbeitet erheblich geringere Waare liefern, als wenn sie in der
Havanna gleich frisch in Cigarren verwandelt werden. Die Ursache davon
soll darin zu suchen sein, daß der Tabak, auch wenn er zur Versendung über
See noch so sorgfältig verpackt werde, auf der Reise einer Gährung unter¬
lege, die ihm einen bedeutenden Theil seines Aromas benehme, und daß
Rest davon bei der Cigarrenfabrikation nochmals vermindert werde, m-
ein die Blätter wiederum angefeuchtet werden müssen. Fachmänner lächeln
^er diesen Aberglauben. Die feinsten Blätter werden einfach deshalb nicht
^portirt, weil der europäische Fabrikant sie nicht bestellt, und dieser wieder
estellt sie nicht, weil ihm niemand seine Cigarren mit so hohem Preise be¬
fahlen würde, als er dann verlangen müßte. Schon eine nicht importirte
'Karre für 180 Mark würde auf unfreundliche Gesichter stoßen und von
^oben Leuten als Unverschämtheit bezeichnet werden. Woher aber schreibt
H diese Geringschätzung? Davon, daß man anfänglich die Cigarrenfabri-
^"on nicht so gut verstanden, also nicht so feine Arbeit geliefert hat, als in
Havanna. Daß dies jetzt noch der Fall sei, wird kein Sachverständiger
hupten wollen.
Die Anfertigung von Cigarren wurde Anfangs (wenn wir von den im
ersten Artikel erwähnten indianischen Glimmstengeln absehen) in Spanien be¬
trieben. In Deutschland begann man hiermit sowie mit dem Genusse dieses
Fabrikats, vor dem die Pfeife jetzt selbst in den untersten Ständen vielfach
geflohen ist, erst kurz vor Anfang des laufenden Jahrhunderts, und zwar
war Hamburg die erste Stadt, welche Cigarren machte und rauchte. Dann
fand dieser Industriezweig mit dieser Sitte in Bremen Eingang und
außerordentliche Verbreitung. Im deutschen Binnenlande folgte (um das Jahr
182S) zuerst Leipzig nach, dem dann Berlin und Magdeburg Concurrenz
machten. Gegenwärtig befinden sich auch in Hannover. Osnabrück, Braun¬
schweig, sowie in Minden. Hanau, Mannheim und Heidelberg große Cigarren¬
fabriken. Doch werden hier größtentheils einheimische Tabake zu jenen
Sorten verarbeitet, die der Volkswitz als „LstiÄMuros" (nur im Freien zu
rauchen) oder „Dos Ämigos" (Freundschaftscigarren) bezeichnet. Daß sich die
damit gemeinten üblen Eigenschaften auf Einlage von Nuß-, Kastanien- oder
Rhabarberblättern zurückführen lassen, wollen wir nicht glauben. Die Natur
hat wohl hier schon genug gethan.
Am 17. November hat der Reichstag die Berathung der drei großen
Justizgesetze begonnen, und hat in täglichen Sitzungen bis zum vorgestrigen
Tage das Gerichtsverfassungsgesetz und die Civilproeeßordnung ausschließlich'
der Einführungsgesetze erledigt. Die Annahme der Civilproceßordnung er¬
folgte am 18. November im Ganzen. In der nächsten Woche wird voraus'
sichtlich auch die zweite Lesung der Strafproceßordnung beendigt werden. —
Man könnte diese Sachlage als eine recht hoffnungsvolle für das Gelingen
der drei Justizgesetze ansehen. Leider ist dieser günstige Stand nur scheinbar
Die Bundesregierungen hatten, so viel man hört, beim Zusammentritt des
Reichstages sich schlüssig gemacht über die Punkte, welche in den Anträgen
der Justizcommission des Reichtages für definitiv unannehmbar erkannt
wurden. Eine Zusammenstellung dieser Punkte ist dem Reichstag auf den !w
vorigen Brief erwähnten Wunsch mehrerer Mitglieder zugestellt worden, aller'
dings aber ist in dieser Zusammenstellung nur kenntlich 'gemacht, was die
Bundesregierungen beim Zusammentritt des Reichstags gegenüber der CoM'
Mission beanstandeten, nicht aber, was sie unter allen Umständen zurückweisen
wollen. Es konnte dies auch nicht wohl geschehen, da die Freiheit des Entschlusses
doch so lange als möglich gewahrt werden muß. Von vielen Seiten war
indeß erwartet worden, es würden beim Beginn der zweiten Lesung oder im
Laufe derselben bei den einzelnen Berathungspunkten mündliche Erklärungen
der Regierungen erfolgen über das, was dieselben unter allen Umständen
Zurückweisen. Auch dies ist nicht geschehen. Statt dessen erklärte der Bun¬
desbevollmächtigte Justizminister Leonhardt gelegentlich bei der Berathung
des Gerichtsverfassungsgesetzes, die Regierungen würden bei der zweiten
Lesung keinen einzigen Punkt als unannehmbar bezeichnen, um die Freiheit
der sachlichen Erörterung in keiner Weise zu beeinträchtigen. Dieses Ver¬
halten ist gewiß zu loben. Aber der Eindruck würde weit günstiger gewesen
sein, wenn die Erklärung nicht gelegentlich, sondern sofort beim Eintritt in
die zweite Lesung erfolgt wäre, mit dem Hinzufügen, daß die Regierungen
vor dem Beginn der dritten Lesung ihre letzten Entschlüsse kundgeben würden.
Vielleicht wäre es auch von guter Wirkung gewesen, im Namen der Bundes¬
regierungen die Bitte auszusprechen, daß der Reichstag seinerseits Bedacht
nehmen möge, schon bet der zweiten Lesung die voraussichtlichen Differenz¬
punkte möglichst zu vermindern. Statt dessen hat der Reichstag bei dem
Gerichtsverfassungsgesetz sämmtliche Punkte festgehalten, welche von den Re¬
gierungen bisher zurückgewiesen worden. Als eine günstige Aussicht für das
Gelingen des ganzen Gesetzes läßt sich dies keinesfalls betrachten, denn es
bleibt eine eigne Sache, wenn, nachdem die Regierungen erklärt haben: ehe
Wir in diese und diese Bestimmungen willigen, ziehen wir das Gesetz zurück,
der Reichstag in dritter Lesung seine sämmtlichen Beschlüsse zweiter Lesung
Widerrufen soll. Es ist serner auch eine eigne Sache, möglichst viel unan¬
nehmbare Beschlüße in der Absicht zu fassen, wenigstens einige davon den
Regierungen aufzudrängen und die Annahme derselben mit dem Opfer der
übrigen gewissermaßen zu erkaufen. — Es muß als ein schlimmes Mißge¬
schick beklagt werden, daß bet jenem Antrag des Abgeordneten Laster auf
Abänderung der N eichsverfassung behufs Einbeziehung des gesammten bürger¬
ten Rechts in die Reichsgesetzgebung der Antrag, auch die ganze Gestaltung
^r Gerichtsverfassung in die Reichscompetenz einzubeziehen, fallen gelassen
Kurde. Denn zu einem einheitlichen Recht, dessen Besitz, man kann sagen,
^s natürlichste Recht des deutschen Volkes ist, gehört auch die einheitliche
Erfassung der Gerichte. Man kann mit ehrlichster Treue zur Aufrechthal-
tung der Einzelstaaten entschlossen sein nach Maßgabe der Reichsverfassung,
"ut kann doch das Gerede von Justizhoheit der Einzelstaaten recht müßig
"ut mißlich finden. Den Einzelstaaten kann auf dem Boden des einheitlichen
Rechts nur die Verwaltung desselben nach den gesetzlichen Anordnungen des
Reiches zustehen. Eine Justizhoheit, nachdem die Gesetzgebung über das
materielle Recht auf das Reich übergegangen, eine Justizhoheit also, welche
sich grade nur auf einen Theil der Form der Rechtspflege bezieht, da auch
das Gerichtsverfahren der Reichsgesetzgebung unterliegt, hat weder Sinn noch
Werth, kann vielmehr nur Schaden stiften. Da jedoch unglücklicher Weise
die Verfassungsbestimmung, dem Reich auch die gesammte Gerichtsverfassung
zu unterstellen, nicht erobert worden, so scheint mir der Weg, den die Justiz-
commisston des Reichstages eingeschlagen, ein verfehlter: der Weg nämlich,
in das Reichsgesetz über die Gerichtsverfassung so viel hineinzubringen, als
sich irgend erraffen ließ. Es wäre besser gewesen, mit Freimuth dem Bundesrath
noch einmal an das Herz zu legen, daß eine einheitliche Regel des Gerichtsver¬
fahrens unausweichlich auch die einheitliche Gerichtsverfassung erfordert, und
demnach den Bundesrath um Vorlage einer vollständigen Gerichtsverfassung
zu ersuchen. Versprach man sich von diesem Schritt für jetzt keine Wirkung,
so war es besser, sich einstweilen mit dem zu begnügen, was die Regierungs¬
vorlage bot, in der sicheren Voraussicht, daß die anderen Stücke nachfolgen
müssen. Indem die Commission statt dessen die einheitliche Regelung des
Gerichtswesens nach vielen Seiten ausgedehnt und doch immer nur frag¬
mentarisch ausgedehnt, hat sie in der That den Bundesregierungen eine
Verlegenheit geschaffen. Denn nichts ist unbequemer, als Fragmente anzu¬
nehmen, die für das Ganze präjudicirlich sind, während das Ganze noch nicht
erwogen und durchverhandelt ist.
Die Stücke der Gerichtsverfassung, welche die Justizcommission des
Reichstags in die Vorlage hineingetragen, betreffen die Bedingungen der
richterlichen Laufbahn, ohne dieselben zu erschöpfen; betreffen die Bildung
der Gerichte, ohne dieselbe zu erschöpfen; betreffen die Beschaffenheit der so¬
genannten Competenzhöfe zur Feststellung der Grenzen zwischen Verwaltungs¬
gerichtsbarkeit und Privatrechtlicher Gerichtsbarkeit, ohne dieselbe zu erschöpfen:
betreffen die Ordnung der Rechtsanwaltschaft, ohne dieselbe zu erschöpfen-
Das heißt den Regierungen zu viel unverdauliche Fragmente bieten. Denn
mit Recht können, müssen vielleicht die Regierungen sagen: wenn wir das
ganze Gerichtswesen einheitlich ordnen, so wollen wir es auf der Basis einer
Erwägung aller Verhältnisse thun, nicht aber auf fragmentarisch präjudizir-
licher Basis. —
Wären dieser vom Reichstag belegten Fragmente nicht zu viele, handelte
es sich z. B. nur um die Bedingungen der Angehörigkeit zum Richterstand,
so würde der Reichstag mit seinem Wunsch unzweifelhaft durchdringen. Bei
dem jetzt eingeschlagenen Verfahren aber ist die Gefahr, daß das ganze Gesetz
scheitert, ziemlich groß geworden. Schwer begreiflich ist namentlich, wie die
Reichstagsmehrheit auf dem Bruchstück einer Anwaltsordnung bestehen konnte,
nachdem vom Bundesrathstisch die Vorlage einer vollständigen Anwalts¬
ordnung an den nächsten Reichstag zugesagt war. Denn die Besorgniß ist
zu wenig stichhaltig, daß der Bundesrath eine Anwaltsordnung vorlegen
könnte, welche mit der jetzt beschlossenen Regelung des Gerichtsverfahrens
nicht im Einklang stehen möchte. —
Die Justizcommission des Reichstags hat aber neben der Ausdehnung
der einheitlichen Regelung noch eine andere Abweichung von politischer Be¬
deutung von der Vorlage der Gerichtsverfassung in das Gesetz hineingetragen.
Wir meinen die Aburtheilung der Preßvergehen und Preßverbrechen durch
die Schwurgerichte. Am 22. November ist der Reichstag dem Beschluß der
Commission mit großer Majorität beigetreten. Und doch war in der vor¬
ausgegangenen Versammlung das Uebergewicht der Gründe ganz entschieden
auf Seiten der Gegner dieser Zuständigkeit der Schwurgerichte. Die Haupt¬
gründe, welche die Schwurgerichte zur Aburtheilung der Preßvergehen unfähig
wachen, sind freilich gar nicht zur Sprache gekommen. Am Bundesrathstisch
beschränkte man sich auf die Ausführung, daß das in dem Verfassungsgesetz
angenommene System der Competenzvertheilung zwischen den drei Gerichts¬
stufen durchbrochen, mithin für die Presse ein nicht zu begründendes Vorrecht
geschaffen würde. Aus dem Reichstag führte Gneist in seiner tiefen Weise
aus. nachdem er sich als überzeugten Anhänger des Schwurgerichts bekannt,
daß Nichts dieser Institution schädlicher sein könne, als den regelmäßigen
Kreis ihrer Wirksamkeit durch Ausdehnung auf Favoritgegenstände zu er¬
weitern. Wolle man das Schwurgericht in dauernder, behauptungsfähtger Weise
ausdehnen, so müsse man es an der gesammten Strafrechtspflege betheiligen.
Auch Treitschke erhob sich gegen die Zuständigkeit des Schwurgerichts in
Preßsachen. Er zeigte sich als den geborenen Redner, der er ist, indem er
^e Versammlung hinriß ohne sie zu bekehren, indem er auch Ihren Bericht¬
erstatter hinriß, der längst gegen die Schwurgerichte bekehrt war, der aber
^eitles den Irrthum der Treitschkeschen Gründe sich nicht verhehlen konnte,
^es glaube, die ganze Argumentation erhält einen unrichtigen Zielpunkt,
^um man beweisen will, wie Treitschke that, daß die Presse des Schwur¬
gerichts nicht würdig ist. Man muß umgekehrt beweisen, daß Geschworene
die Fähigkeit haben können, der Presse gerecht zu werden, weder im
^'urtheilen noch im Freisprechen. Treitschke's mit großem Nachdrucke vor-
Ketragene Behauptung, daß zwischen Vergehen mittelst des gesprochenen und
Mittelst des gedruckten Wortes nicht der geringste Unterschied obwalte, ist
^"z gewiß ein ganzer Irrthum. Nicht minder die Ansicht, den Grund für
Entartung der Presse in der Anonymität zu finden. —
Die Anhänger des Schwurgerichts in Preßsachen sprachen in maßvoller
Weise, aber durchaus vom Standpunkt des vormärzltchen Liberalismus. Der
Richterstand sei unfähig zur Rechtsprechung über die Presse, weil er einen
Theil der Regierung bildet, welche der Presse gegenüber stets Partei ist. —
Als ob die Geschworenen nicht auch Partei sein könnten. Die Argumentation
verkennt ganz und gar, daß wir in eine neue Entwicklung des Staats und der
Gesellschaft eingetreten. Alle Staaten, welche die Oeffentlichkeit des Staats¬
lebens und die wirksame Betheiligung des Volks am Staate erobert haben,
durchlaufen ein Stadium mit der Presse, wenn dieselbe durch tausend Gewichte
zum gemeingefährlichen Gewerbe herabgezogen wird. Ob diese Entartung
am besten durch das Schwurgericht zu verhindern ist, möchte mehr als frag¬
lich sein.
Ihr Berichterstatter ist überzeugt, daß die Zuständigkeit der Schwur¬
gerichte in Preßsachen außerordentlich viel beitragen würde, das Institut der
Schwurgerichte überhaupt zu discreditiren. Insofern könnte ein Gegner
dieser Einrichtung den Reichstagsbeschluß vom 22. November begrüßen.
Außerdem werden neben ungerechtfertigten Freisprechungen auch ungerecht¬
fertigte Verurtheilungen von Preßvergehen durch die Geschwornen vorkommen-
Da einstweilen auch die Berufsrichter den Preßvergehen gegenüber noch so
wenig eine feste Linie gewonnen haben, daß auch hier unglaubliche Frei¬
sprechungen vorkommen neben auffallenden Verurtheilungen, so wird die Zu¬
ständigkeit der Schwurgerichte die gegenwärtigen Uebelstände nicht sehr ver¬
schlimmern. Aber sie wird die Heilung unmöglich machen, und das ist das
schlimmste Uebel, wenn nicht der Erfolg eintritt, das ganze Institut der
Geschworenen durch ein besseres zu beseitigen. —
Auch der Beschluß vom 22. November bezüglich der Zuständigkeit der
Geschworenen in Preßsachen würde für sich allein das Gesetz über die
Gerichtsverfassung nicht zum Scheitern bringen. Aber in Verbindung mit
den übrigen beschwerenden Beschlüssen steht allerdings zu befürchten, daß es
das Schifflein zum Untersinken bringt. Die gestrige Berathung des Ein-
führungsgesetzes zur Gerichtsverfassung mit den gefaßten Beschlüssen hat nun
gar, wenn der Ausdruck gestattet ist, dem Faß den Boden ausgeschlagen,
oder, um zu dem ersten Bilde zurückzukehren, in das Schiff ein Leck gestoßen-
Ein weiteres Eingehen auf die gestrige Sitzung behalte ich dem nächsten
Wer gesunde Gliedmaßen und Zeit hat, scheint mir eine unverzeihliche
Sünde zu begehen, wenn er sich im Hochgebirge irgend eines andern Fort¬
bewegungsapparates bedient, als seiner eigenen Beine. Man kann indeß seine
guten Gründe haben, auch eine anziehende Gegend möglichst schnell zu durch¬
reisen. In diesem Fall bieten die schweizerischen Postwagen mit ihrem er¬
habenen Anhängsel, „Banket" oder auch „Jmperiale" genannt, eine vor¬
treffliche Einrichtung. Ein Privatwagen, und wäre er noch so bequem ein¬
gerichtet, hat neben den gepfefferter Preisen immer die Schattenseite, daß
einem die Aussicht nach vorn durch die volle Breite des Kutscherrückens ver¬
sperrt wird; hier schwebt man frei in den Lüften, den Blick nach keiner Seite
gehemmt. Im Sommer pflegt um diese zwei einzigen Plätze an den Post-
stationen nicht selten ein gelinder Krieg Aller gegen Alle zu entbrennen; im
Herbst werden sie Euch von Niemandem streitig gemacht. In der That, es
kostet eine kleine Ueberwindung, in frostiger Morgendämmerung da hinauf¬
zuklettern. Der Zephyr fächelt einem gar barsch die Wangen; man zieht die
Reisedecke bis an's Kinn herauf und klappt den Rockkragen über die Ohren;
das Tempo, in welchem das Fahrzeug die steilen Windungen hinaufschleicht,
bringt einen allmählich in Verzweiflung. Aber endlich ist die Paßhöhe er¬
reicht. Im Hospiz erwärmen wir unsern erstarrten Leichnam von außen und
innen, und nun beginnt die lustige Fahrt zu Thal. Eben kommt die Sonne
über die Bergesspitzen, der frischgefallene Schnee glitzert und funkelt zwischen
wildzerklüftetem schwarzen Gestein, ein einsamer Waidmann schreitet auf
schwindligen Pfade zur Gemsjagd. Der Postillon mahnt seine Rosse mit
gellendem Weckruf, schwingt seine lange Peitsche im Kreise, daß sie Dir
zischend vor der Nase vorbeisaust, und fort geht's in rastlosem Trabe, haar¬
scharf den düstern Abgrund entlang, als ob es ein Kinderspiel wäre.
Die Sicherheit und Eleganz, mit welcher die schweizerischen Postkutscher
ihr Fünfgespann lenken, hat etwas Ehrfurchtgebietendes. Unglücksfälle sind
auf den dortigen Posttouren verhältnißmäßig selten, und noch seltener sind
sie die Schuld des Kutschers. In frischer Erinnerung ist der traurige Fall,
der im letzten Sommer im Prättigau zwischen Mezzaselva und Klosters einem
jungen Mediciner das Leben und verschiedenen Anderen die gesunden Glieder
kostete. Noch im Herbst stritt man darüber, ob der Postillon oder der ent¬
gegenkommende Holzwagen oder der Steinhaufen am Rande der Straße das
Unglück verursacht haben. Mir dünkt, alle drei sind freizusprechen und die
Schuld fällt allein aus die beispiellose Schmalheit der Straße. Dieser Uebel-
stand ist so arg, daß man sich lediglich darüber wundern kann, nicht alle
paar Tage von einem größeren Unfall zu hören. Dazu noch fehlen in den
Barrieren zur Seite der Straße die Stangen entweder ganz oder sie sind
zum größten Theil von so erbärmlicher Beschaffenheit, daß jeder stärkere
Druck sie sofort zerbrechen müßte. Ich bin allezeit ein Lobredner der schweize¬
rischen Verkehrsanstalten gewesen; um so weniger habe ich Grund, über die
schreiende Mangelhaftigkeit der Landstraße des Prättigaus zu schweigen. Eine
Verbreiterung derselben würde allerdings erhebliche Kosten verursachen, aber
anderwärts hat man die Sicherheit des reisenden Publikums mit noch weit
größeren Opfern erkaufen müssen. Man vergleiche nur die Chausseen bei
Graubündtens nächstem Nachbar, Tirol. Die Straße, welche vom Unter-
engadin nach Nauders hinüberführt, läßt ihre Graubündtner Schwestern weit
hinter sich zurück.
Dies ist übrigens auch der einzige erfreuliche Unterschied, den man nach
dem Ueberschreiten der Tiroler Grenze zu beobachten Gelegenheit hat. Was
einem sonst zunächst in's Auge fällt, sind die zahllosen Heiligenbilder. Am
unangenehmsten aber empfindet man die Inferiorität der Gasthofseinrichtungen.
Ich habe einen großen Respect vor den „guten Alten"; auch das Prädicat
„deutsch-bürgerlich" hat für mich einen wohlthuenden Klang. Aber wenn
man sich unter dieser Firma rostige Gabeln, unsaubere Servietten, Blümchen¬
kaffee, zähen Hammelbraten oder gar Forellen mit Knoblauch gekocht (!) ge¬
fallen lassen muß, dann fühle ich mich doch wohler in den Schweizer Hotels,
die, man mag über ihren oft sinnlosen Luxus und über die Unausstehlichkeit
der unvermeidlichen „Engländer" sagen, was man will, doch, was die Zweck¬
mäßigkeit der Einrichtung und die Beschaffenheit der Speisen anlangt, die
besten Gasthöfe der Welt bleiben. Meine Charakteristik bezieht sich selbst¬
verständlich nicht auf die Hotels in den größeren Städten Tirols. Für die
kleineren Orte aber trifft sie fast durchweg zu.
Die einzige Schwierigkeit, die das herbstliche Reisen mit sich bringt, ist
die Aufgabe, an solchen Orten die langen Abende zuzubringen. Wir befinden
uns z. B. in einem bedeutenden Marktflecken. Es ist Sonnabend; eben ist
das Dunkel hereingebrochen, und die Menschen schicken sich an, von der Arbeit
des Werktags auszuruhen. Wir treten in den ersten Gasthof, einen alterthüm¬
lichen Bau mit vorspringenden Erkern, Wände und Thüren mit allerlei Wappen¬
thieren und Madonnen bemalt. Man weist uns in das „Extrazimmer."
Drüben, in der „gewöhnlichen" Stube, lärmt eine Schaar betrunkener Sol¬
daten, die der Besatzung einer benachbarten kleinen Beste angehören; hier
dagegen herrscht feierliche Stille: wir sind mutterseelenallein. Eine veraltete
illustrirte Wochenschrift ist die einzige geistige Nahrung, mit der wir versuchen
mögen, uns die Zeit zu vertreiben. Schlag 7 Uhr stellt sich der erste ein-
heimische Gast ein. Wie wir aus der begrüßenden Anrede der Kellnerin
entnehmen, ist es der Herr „Kanzlist", ein urgemüthlich ausschauender Bieder¬
mann mit mächtigem grauen Knebelbart, in seinem ganzen Wesen einem
derben alten Förster gleichend. Er setzt sich uns gegenüber, und nachdem er
seine kurze Pfeife angezündet, versuchen wir, ein Gespräch mit ihm anzu¬
knüpfen. Allein er hört schwer, kann auch die norddeutsche Aussprache nicht
vertragen, und so waltet alsbald wieder unheimliche Stille. Eine Viertel¬
stunde später erscheint der Herr „Controlor", ein ausgemachter Bureaukrat
in mittleren Jahren. Er setzt sich zu unserer Rechten, ohne uns eines Blickes
zu würdigen. Wir reden ihn an, natürlich mit der in der ganzen civilisirten
Welt üblichen Einleitungsformel vom Wetter. Er mißt uns mit inquisito¬
rischem Blick vom Scheitel bis zur Zehe, fertigt uns kurz ab und beginnt
mit Stentorstimme eine Unterhaltung mit dem Herrn Kanzlist. Abermals
eine Viertelstunde später tritt der Herr „Bezirksrichter" ein, der jüngste von
den Dreien. Er setzt sich zu unserer Linken; vielleicht ist er von humanerer
Gemüthsart, als unser Nachbar zur Rechten; aber wir sind eingeschüchtert
und verharren in Schweigen. Zuletzt kommt auch der Herr Wirth, pflanzt
sich quer vor den Tisch, passt den Gästen seinen Knäller in's Gesicht und
spuckt ohne Unterlaß in kühnem Bogen bis mitten in die Stube. Und nun
rollt der Viersprach lustig dahin, von Holzverkauf und Holzdiebstahl, vom
demnächstigen Jahrmarkt und dem gestrigen „Concert" (eine herumziehende
Tingeltangelgesellschaft), vom Schluß des Weideganges u. s. w. Dazwischen,
sobald einer der Gäste das Letzte aus seiner Flasche gegossen, tönt die sonore
Frage der Kellnerin: „Trinken Sie noch a Wein?" So geht es bis gegen
9. Da erscheint in der Thür eine hagere Mannesgestalt, in Hemdärmeln,
wie weißem Schurz, ein langes Messer in der Rechten. Wir fahren zu¬
sammen; bei dem Halbdunkel des raucherfüllten Zimmers ist uns, als sähen
K>ir einen Geist. Aber der Herr Bezirksrichter erhebt sich mit dem fröhlichen
Ausruf: „Na, da wollen wir also unser Samstagsgeschäft absolviren", setzt
seinen Stuhl mitten in die Stube und läßt sich nach allen Regeln der Kunst
rasiren. Desgleichen die Anderen sLcunäum orämein. Diesen gewichtigen
Act vollendet, zieht sich Jeder in sichtlich befriedigter Stimmung noch ein
Viertel Rothen zu Gemüthe und Punkt 10 Uhr ist die ganze Honoratioren-
gesellschast verschwunden. Wir sind wieder allein, den Kopf schwer von dem
tückischen Tiroler Landwein und weit mehr noch von dem Qualm des k. k.
Knasters, aber wir tragen einen köstlichen Gewinn davon: wir sind eingeweiht
die tiefsten Mysterien des „Extrazimmers."
Wolle der geneigte Leser dies Genrebild nicht etwa als ein Erzeugniß
boshafter Phantasie betrachten; es ist baare Thatsache. Im Sommer würde
Ulan auf eine derartige Idylle natürlich verzichten müssen. Also ergiebt sich, daß
selbst die bedenklichste Seite der herbstlichen Reisezeit, die langen Abende, ihre
Vorzüge hat. —
Die Naturschönheiten Osttirols gruppiren sich um die Oetzthaler Alpen
und um die Ortlerkette. Der großartigste Punkt des Oberinnthals, Finster¬
münz, gehört eigentlich noch zum Engadin; es ist der imposante Schlußeffect
dieser einzigen Landschaft. Die Sonne war bereits hinter den Bergen ver¬
schwunden, als ich von der Höhe der überaus kühn und splendid angelegten
neuen Landstraße dies Bild betrachtete. Ein heftiger Sturm hatte sich er¬
hoben; durch die zerrissenen Wolken blickte der Himmel mit jenem fahlen
Blau, das ihm bei sohnigen Wetter eigen ist. Gespensterhaft ragten in der
Ferne die Schneeberge des Engadin; tief unten, schon halb im Dunkel,
zwängt sich brausend und schäumend der Jnn an der alten Finstermünz vor¬
bei. Eine angemessenere Beleuchtung für dies schaurig-schöne Naturspiel
wüßte ich mir nicht zu denken. — Jenseits des Passes, nach Süden zu, ist
die Gegend reizloses Hochland. Aber so wie man die Reschenscheideck, die
Wasserscheide zwischen Jnn und Etsch. überschritten hat, öffnet sich eine der
überwältigendsten Ansichten, welche die Alpenwelt aufzuweisen hat: vor uns
breiten sich, wenn auch noch in respectabler Ferne, die glänzenden Schnee-
und Eisfelder der Ortlergruppe.
Einen bequemeren, gründlicheren und zugleich so wenig zeitraubenden
Naturgenuß, als diesen Ortleranblick kann es nicht geben. Von der Reschen¬
scheideck bis Mals hat man volle 4^ Stunden zu wandern; während dieser
ganzen Zeit liegt die Kette unverrückt vor unsern Augen; kein Baum, kein
Berg tritt hindernd dazwischen. Aber um den Genuß voll und ungetrübt
zu haben, bedarf es wiederum des Herbstes; an einem klaren Sommertage
wäre in diesen schattenlosen Anfängen des Etschthals das Vergnügen von
vornherein zur Hälfte verdorben. Ein Oktobertag, wie er sonnenheller und
angenehmer nicht gedacht werden kann, war mir für diese Wanderung ve-
schieden. Es war ein Sonntag. Wohl in meinem ganzen Leben nicht ist
mir Uhlands schönes Lied vom Tage des Herrn so oft in den Sinn ge¬
kommen, wie in diesen wenigen Stunden. In dem Kirchdorfe Graun lud
ein wohlklingendes kräftiges Geläut zum Gottesdienst. In reicher Zahl kam
die bäuerliche Bevölkerung herangezogen, die schmucken Mädchen Arm in
Arm gehend, den Rosenkranz in den Händen. Die Meisten hatten für den fremden
Wanderer ein freundliches „Grüß' Gott" oder „Gelobt sei Jesus Christus."
Aus dem Schulhause tönte, von glockenreinen Mädchensttmmen gesungen, die
ergreifende alte Melodie: „0 savotissimg.." Und dann wieder vollendete,
feierliche Stille. Mir war, als wäre mir die frische Bergluft nicht allein in
die Lunge, sondern auch in die Seele geströmt. Es ist etwas Eigenes um
derartige Stimmungen. Nachher, am Schreibtisch, 'wenn man sich ihrer er¬
innert, sucht man wohl, sie zu reconstruiren. Es wäre ein ebenso unmögliches
Beginnen, wie wenn man durch chemische Composition der Elemente ein
lebendes Wesen bilden wollte. Begnügen wir uns, sie einen Augenblick ge¬
nossen zu haben. Als mir bald darauf ein greiser Bettler mit ehrlichem
Gesicht begegnete und mich in herzlichem Tone mit den Worten anredete:
„Sie freuei/mich, Sie sehen aus wie ein fröhlicher Mann" — da war's um
meine Fröhlichkeit geschehen.
Ist der Tabaksgenuß schädlich oder harmlos? Aus königlichem Munde
haben wir gehört, daß das Rauchen ein Bild der Hölle ist und in die Hölle
bringt. Aber der König war ein mystischer Sonderling, und die Welt glaubt
nicht mehr an die Hölle. Wir werden uns daher nach andern üblen Folgen
der Sitte umsehen müssen, und da uns Behauptungen der alten Aerzte wie
die, das Rauchen fülle die Lunge, das Schnupfen das Gehirn mit giftigem
Nuß, wie sich wiederholt bei Sectionen gezeigt habe, auch nicht mehr impo-
niren, so geben wir dem neuesten Gegner des Rauchers unter ihren College»,
Dr. Riant, dessen Schrift schon im zweiten Abschnitt dieser Betrachtungen
citirt wurde, das Wort, um uns sagen zu lassen, was sich in der Angelegen¬
heit mit Recht oder Unrecht sagen läßt. Wo der Ankläger Unbegründetes
vorbringt, werden wir Einspruch thun, wo er Richtiges äußert, werden wir
Hu nicht unterbrechen, und der Leser soll dann Erlaubniß haben, unser
Schweigen als Zustimmung zu deuten.
Der Doctor beginnt mit einer Charakteristik der Tabakspflanze, bezeichnet
sie als zur Familie der Solaneen gehörig und bemerkt, daß zu dieser auch
der Nachtschatten, der Stechapfel, die Tollkirsche und das Bilsenkraut zählen.
Wenn er damit andeuten will, daß der Tabak giftige Eigenschaften habe, so
Widerlegt oder so schwächt er diesen Wink in demselben Athem damit, daß er
hinzufügen muß, zu derselben Pflanzensippe würden auch die Kartoffelstaude,
der Liebesäpfel und die Eierpflanze gerechnet; denn die Knolle der Kartoffel
ist die Speise aller Welt, und der Liebesäpfel (Tomato) wird in Südeuropa
und Amerika gleichfalls viel gegessen, beide aber sind durchaus harmlose Gaben
^r Erde. Sodann ist zu beachten, daß die genannten Giftkräuter nur in den
Etagen gebracht tödtlich, geraucht dagegen, wie wir wenigstens vom Bilsen^
kraut wissen, blos berauschend, höchstens stark betäubend wirken, und daß der
Tabak nicht gegessen wird. Warum soll ich ein Mörder sein, weil mein Vetter,
der Stechapfel, einer ist, kann der Tabak fragen, warum nicht eine Wohlthat
für die Menschheit, wie meine Muhme, die redliche Kartoffel, die mir überdieß
als amerikanische Landsmännin erheblich näher steht als jener schlimme Gesell
aus der alten Welt?
Wir meinen, das ließe sich hören. Aber der Ankläger fährt fort: „Der
Tabak hat in frischem Zustande, einen starken und sehr unangenehmen Duft.
(Wie der Knoblauch und die unschuldige Zwiebel — „des Juden Speise",
wirft der Vertheidiger ein. Aber gemach!) Er riecht scharf, bitter, Uebelkeit
erregend, und das kommt davon, daß er in der That ein starkes Gift ent¬
hält, welches genau so plötzlich tödtet als Blausäure und Strhchnin. Die
Auslaugung. Gährung und Beizung, welcher der Tabak bei der Verarbeitung
für den Genuß unterzogen wird, läßt zwar einen großen Theil des Nicotins
sich ausscheiden und verflüchtigen, aber trotzdem bleibt in den aus der Fabrik
auf den Markt gehenden Rauch-, Schnupf- und Kautabaken ein beträchtlicher
Rest des Giftes zurück, wie wir daran gewahr werden, daß die erste Pfeife
oder Cigarre in der Regel Erscheinungen zur Folge hat, die denen einer ge¬
linden Vergiftung ähnlich sind, und die vorzüglich in Schwindel, Uebelkeit,
Erbrechen und Herzklopfen bestehen."
Das klingt plausibel und gefährlich zugleich, ist aber näher in's Auge
gefaßt, zum Theil wenigstens, Uebertreibung. Niemand hat uns bis jetzt
ganz sicher bewiesen, daß jene Erscheinungen die Folge von Nicotingenuß
sind, und zweitens wird, wie schon bemerkt, der Tabak nicht, wie das Nicotin,
wenn es tödten soll, verschluckt, sondern geraucht. Die Blätter des Tabaks
enthalten außer dem Nicotin auch das nicht giftige Nicotianin oder den
Tabakskampher, der von Vauquelin entdeckt und von Posselt und Reimann
genauer untersucht wurde, ferner Aepfel-, Citronen- und Oralsäure, der
Tabaksrauch aber außer den gewöhnlichen Verbrennungsprodueten: Kohlen¬
säure, Wasserdampf und Ammoniak, auch Producte der trocknen Destillation.
Theeröle, Kohlen-, Schwefel- und Cyanwasserstoss, vielleicht etwas Anilin,
endlich allerdings auch Nicotin, und alle oder doch einige dieser Stoffe können
zusammen wirken, um jenen Schwindel und jenes Erbrechen zu erzeugen-
Das Nicotin, von Geiger am genauesten untersucht, ist eine organische Salz¬
basis, die man erhält, wenn man den wässerigen Extract von Tabaksblättern
mit Alkohol auszieht und die hierdurch gewonnene weingeistige Lösung mit
Kali versetzt und mit Aether schüttelt. Aus der ätherischen Lösung wird das
Nicotin durch Oxalsäure und Abdestilliren ausgeschieden. Es ist eine ölige
farblose Flüssigkeit von l,^ specif. Gewicht, scharfem Geruch und brennendem
Geschmack, die bei 180" siedet, sich in Wasser, Weingeist und Aether löst und
in der That, in genügender Menge in den Magen gebracht, beinahe augen¬
blicklich tödtet. Ein Hund stirbt von einem Tropfen schon. Feine Tabaks¬
sorten enthalten nur 2 bis 4, grobe und schwere dagegen, wie die franzö¬
sischen, holländischen und deutschen, 7 bis 8 Procent Nicotin. Schlöfing fand
in trocknen entrippten Blättern aus dem französischen Departement Lot 7..,«
in solchen aus Mrginien 6.«?. in solchen aus Kentucky 6.0-,. in solchen aus
dem Elsaß 3,2,. in solchen aus Maryland nur 2,-zg und in solchen aus Ha¬
vanna weniger als 2 Procent. Auch der türkische Tabak enthält wenig Ni¬
cotin. Nach Lincke wird der Nicotingehalt des Tabaks durch das Schwitzen
stark vermindert. Kohlende Tabake haben mehr Nicotin in sich als gut
brennende. Das Kohlen verschwindet aber durch fortgesetztes Schwitzenlassen,
und in gleichem Maße nimmt der Nicotingehalt ab. Was davon übrig bleibt,
verbrennt zum größten Theile beim Rauchen, und der Rest, schwerlich
noch viel kräftiger als die Atome von Pflanzengift in gewissen zahmen homö¬
opathischen Pülverchen, verwandelt sich (bei Pfeifen mit Abguß) in ein brenz-
liches Oel. Letzteres wird von civilisirten Menschen weggegossen, von den
Grönländern aber, wenn französische Reisende die Wahrheit erzählt haben,
wohlschmeckend gefunden und getrunken. Daß es ihnen Beschwerden verur¬
sacht habe, wird nicht gemeldet, es kann also nach dem Proceß, den es beim
Rauchen durchmacht, nicht sehr schädlich sein.
Weniger harmlos möchte das im Kautabak lauernde Nicotin sein, indeß
Wer Matrosen kennt, wird auch daran nicht recht glauben wollen. Am ge¬
fährlichsten sollte der Schnupftabak sein, von dem manche Sorten 2 Procent
enthalten; da er indeß auch nicht gegessen zu werden pflegt, so dürfen wir
uns nicht wundern, wenn es trotzdem pasfionirte Schnupfer gegeben hat. die
bchizig Jahre und älter wurden und niemals krank waren. Wäre es den¬
noch, wie allerdings wahrscheinlich ist, das Nicotin, wenn „der Bub', zum
Rauchen noch nicht reif", sich mit „seines Baders Tabakspfeif'" an der Stadt¬
mauer zu erfreuen ging und seine Freude durch gewisse krankheitsartige Er¬
scheinungen beeinträchtigt und auf einige Zeit verdrängt sah, nun, so geht
das wie mit andern Dingen, die Anfangs nicht recht bekommen, an die man
sich aber allmählig gewöhnt, und in denen man zuletzt eine gute Gabe Gottes
verehrt, welche man um Alles in der Welt Nichtwissen möchte. Aller Anfang
's5 schwer, und oft moäus in rebus.
Mit der letzteren Maxime ist auch das Meiste von dem auf sein rechtes
Maß zurückgeführt, was Riant von den Folgen fortgesetzten Tabaksgenusses
sagt. Ex x^n nur von maßlosem Rauchen. Schnupfen oder Kauen reden,
und nur von solcher Maßlosigkeit bei Leuten, die ihre Schwächen dem Tabak
gegenüber nicht berücksichtigen, wenn er fortfährt:
„Geraucht stört der Tabak die Functionen des Magens, sei es durch
den Verlust des Speichels, den der Rauchende wegspuckt, sei es infolge des
Dampfes, den er verschluckt. (Was nur die wilde Rothhaut thut.) Er greift
die Zähne an und schwärzt sie, schwächt die Sehkraft, reizt die Lunge und
kann an den Lippen des Rauchers die Entwicklung bösartiger Geschwüre zur
Folge haben. Die durch Pfeifen mit zu kurzem Rohr, durch Cigarren oder
Cigaretten an die Zähne gelangende Hitze läßt den Schmelzüberzug derselben
zerspringen". (Gut, so rauche man aus langer Pfeife oder Cigarrenspitze.)
„Das durch die Nase eingezogne Tabakspulver reizt die Schleimhaut der
Nase und Stirnhöhle, zwingt zum Niesen, bewirkt übermäßige Ausscheidung
von Flüssigkeit und vermindert die Fähigkeit zu riechen, ja läßt sie oft ganz
verschwinden. Bei manchen eifrigen Schnupfern, welche eine beträchtliche
Menge Tabak nehmen, wird ein Theil des schwarzen Staubes verschluckt und
sinkt auf diese Weise in den Magen, der das darin enthaltene Nicotin auf¬
saugt. Endlich nimmt der Athem des Schnupfers einen starken, wider¬
wärtigen Geruch an. Seine Kleider duften nach altem Tabak, seine Wäsche
ist besudelt. Die Gewohnheit des Schnupfens ist entschieden unanständig."
Liegt in den letzten Sätzen manches, was nicht wohl zu leugnen ist, so
verfällt unser Autor wieder in Uebertreibung, wenn er nach Schilderung der
kleinen Leiden des Anfängers im Rauchen fortfährt:
„Aber der Zweck läßt Alles ertragen: man muß rauchen, man ist ohne
jenen Preis kein Mann. Die Gewohnheit mildert mit der Zeit jene pein¬
lichen Folgen, jene schrecklichen Empfindungen beim Beginn, eine übel ange¬
brachte Eitelkeit gestattet kein Zurücktreten, man darf einen um den Preis
entsetzlicher Leiden erkauften Grad nicht aufgeben. Man raucht von Woche
zu Woche mehr, man sucht mehr und mehr jenen Halbschlummer auf, während
dessen die Vernunft abdicirt und das Denken erlischt; bald wird jede Aufmerk¬
samkeit zur Unmöglichkeit, und das Erinnerungsvermögen verliert sich. Der
Raucher findet an nichts mehr Geschmack, was nicht mit diesem berauschenden
Qualme gewürzt ist; er verdaut nicht, wenn er nicht raucht, er schläft nicht
ein, wenn er nicht erst die Pfeife oder Cigarre im Munde gehabt hat, er
raucht sofort nach dem Aufstehen, er muß auf jeder Reise den Tabak zum
Begleiter lMen. Er hat einen Zeitvertreib gesucht und hat einen Herrn
und Meister gefunden, der seinem Sclaven keinen Augenblick Ruhe gönnt.
Der Tabak ist aus einer Gewohnheit eine Leidenschaft, ein unbedingtes Be¬
dürfniß, eine vollständige Knechtschaft geworden. Dieses unnatürliche Be¬
dürfniß wird so gebieterisch, daß es an die Stelle wirklicher Bedürfnisse tritt.
Hat der Raucher zwischen Tabak und Brod zu wählen, sagt Balzac, so
zögert er nicht, nach dem ersteren zu greifen. Man hat Bergleute, die
mehrere Tage verschüttet gewesen waren, als sie ausgegraben worden, zuerst
nach Tabak als nach demjenigen verlangen sehen, dessen Entbehrung ihnen
am schwersten gefallen war. Für den Soldaten hat das Rauchen nicht blos
den Werth einer Gewohnheit. Bei Feldzügen wenigstens übt der Tabak
eine moralische Wirkung aus, der man selbst nach der Meinung von Militär¬
ärzten, welche ihm sonst nicht wohlwollen, Rechnung tragen muß. (Auch eine
physische Wirkung: es marschirt und es hungert sich besser, wenn man raucht.)
Infolge dessen liefert die französische Regierung seit 1853 ihren Soldaten
->eg,dg,e eantwe" zu ermäßigtem Preise, und zwar täglich 10 Gramm
eine Maßregel, die der Academiker Jolly lebhaft getadelt hat." (Auch in
den Vereinigten Staaten gehört zu den Competenzen der Soldaten eine be¬
stimmte Quantität Tabak und zwar nach der Sitte des Landes Kautabak.
Auch die Anklagen, die man gegen den Tabak von volkswirthschaftlichen
Standpunkte erhebt, beruhen auf schwachen Gründen. Der Tabaksbau, sagt
Man, nimmt große Flächen des besten Bodens in Anspruch, die viel vortheil¬
hafter mit Weizen oder einem andern Getreide besäet würden. Die Tabaks-
fabrication erfordert Tausende von Händen, die besser andere Waaren her¬
stellten. Europa verwandelt Millionen von Mark, Francs, Pfund Sterling
Piastern. Rubeln u. d. durch Rauchen in Asche, während es klüger thäte, sich
Brod und Fleisch dafür zu kaufen. Der Tabak macht Durst, treibt zum Bier
oder Wein in die Wirthshäuser, je mehr man raucht, desto mehr trinkt man,
dann kommt wohl auch ein Kartenspiel hinzu u. s. w.
Wir sagen dazu erstens, wer die Tabaksfelder abschaffen und durch Ge¬
treidefelder ersetzen will, der muß conseauent sein und unsre Weinberge und
Hopfenpflanzungen ausrotten, um sie durch Wälder oder Obstgärten oder
etwas anderes Nützliches zu ersetzen. Der Tabak ernährt nicht, der Wein
duch nicht, das Bier nur mäßig. Der Tabak berauscht, der Wein und das
Bier berauschen auch. Diese Getränke erfreuen die Zunge, der Tabak thut
desgleichen. Die feinste Havanna-Cigarre, die mir eine Stunde lang Ver¬
gnügen gewährt, mich angenehm aufregt, kostet noch nicht die Hälfte einer
feinen Flasche Wein, die dasselbe leistet. Diese Cigarre wird allerdings zu
^auch und Asche, aber das ist das Loos aller irdischen Dinge, und was
^'rd denn aus dem Johannisberger oder Champagner, wenn er die Zunge
^ssirt hat? Ganz und gar ungerechtfertigt endlich ist die Behauptung, der
Tabak verführe zum Trinken oder gar zur Trunksucht, wie gewisse Fanatiker
Zollen. Im Gegentheil lehrt die Erfahrung, daß starke Raucher in der Regel
Mäßige Leute sind, und daß viele überhaupt oder wenigstens beim Rauchen
^r Wasser trinken, da der Genuß von Wein und Bier die feine Zunge für
Eigenschaften guter Tabaks- und Cigarrensorten verdirbt, wie man um¬
kehrt auch zu einem Glase Bouquetwein nicht rauchen kann, ohne sich den
eschmack desselben zu vermindern oder zu zerstören. Viele, welche nicht
rauchen, sind starke Trinker von spirituösen, wenige Trunkenbolde sind starke
Raucher, da beim Katzenjammer die Pfeife nicht schmeckt, und wo man Aus¬
nahmen antrifft, wird man finden, daß die Liebe zum Trinken vor der Liebe
zum Rauchen vorhanden war.
Aehnlich verhält es sich mit der Klage, der Tabak verderbe die Zähne,
schwache den Verstand, versenke in träumerisches Duseln, lasse das Gedächtniß
schwinden, mache arbeitsunfähig und verkürze das Leben. Daß die kurze
französische Thonpfeife den Zähnen schadet, ist gewiß nicht in Abrede zu
stellen. Daß der Tabak sie schwärze und überhaupt schlecht werden lasse, ist
grundlos. Eher könnten wir behaupten, er trage zu ihrer Erhaltung bei.
Newton wurde, wie bemerkt, 85 Jahre alt und hatte, als er starb, erst einen
Zahn verloren, obwohl er ein leidenschaftlicher Raucher war. Daß Rauchen
oder Schnupfen den Verstand schwache, wird jeder Tabaksliebhaber nicht blos
leugnen, sondern mit der Bemerkung erwidern, daß er schärfer denke, rascher
componire und reicher erfinde, wenn er rauche, als wenn er nicht rauche.
Sodann aber lehrt uns die Geschichte, daß viele starke Raucher oder Schnupfer
nichts weniger als träge, geistig urkräftige oder willensschwache Individuen,
sondern ungemein fleißige und energische Geister, fähig zum Ertragen der
schwersten Anstrengungen waren, wobei wir nur an Doctor Parr, Hobbes
und Walter Scott, an Friedrich den Großen, Gibbon und Napoleon den
Ersten erinnern. Auch Fürst Bismarck raucht und hat früher leidenschaftlich
geraucht. Daß der Tabak endlich das Leben verkürze, bedarf den von uns
im ersten Abschnitte angeführten Beispielen von hochbetagten berühmten
Rauchern gegenüber, denen jeder Leser aus eigner Erfahrung Beispiele von
langlebigen Freunden der Pfeife an die Seite zu stellen im Stande sein
wird, keiner Widerlegung. Es mag sein, daß Mancher sich durch zu viel
Rauchen von schweren Cigarren auf eine Weile den Magen verdorben und
die Nerven zerrüttet hat. Er hätte dann zu rechter Stunde in sich gehen
und aufhören sollen. Sonst ist hier zu fragen: was ist zu viel? Was
mehr ist, als einem frommt. Dem Einen macht eine Cigarre schon Beschwer¬
den, dem Andern hat „der grundgütige Gott", um mit dem Weihbischof von
Bingen bei Göthe zu reden, „die besondere Gnade verliehen", ein Dutzend
oder mehr des Tages zu genießen, und während jener sich das Rauchen
am Besten ganz versagt, darf dieser „wohl mit gutem Gewissen und mit
Dank dieser anvertrauten Gabe sich auch fernerhin erfreuen."
Daß das Schnupfen zu einer unsaubern Gewohnheit werden kann, ist
.sicher. Wir waren selbst einmal blutschwitzend Zeuge, wie ein Bonner Pro¬
fessor mit sehr ausgebildetem Niechorgan bei einem Freunde ein kunstvoll
geschriebenes, soeben angekommenes Diplom besah, das auf dem Tische vor
ihm aufgerollt war. und wie an besagtem Organ ein brauner Tropfen hing'
der wie das Schwert des Damokles über den prachtvollen Goldbuchstaben
schwebte. Aber weder auf die Intelligenz noch auf den Charakter übt die
Dose eine üble Wirkung. Im Gegentheil läßt Moliere ihr in dieser Be¬
ziehung von Sganarelle im Don Juan nachrühmen:
„Was auch Aristoteles und die gesammte Philosophie sagen mögen, es
ist nichts im Vergleich mit dem Tabak. Er ist die Leidenschaft der recht¬
schaffnen Leute, und wer ohne Tabak lebt, ist nicht werth zu leben. Er er¬
quickt und reinigt nicht blos das menschliche Gehirn, sondern führt auch die
Seelen zur Tugend, und man lernt von ihm, ein wohlwollender Mensch werden.
Seht Ihr denn nicht, in welcher verbindlichen Weise man, sobald man ein
Schnupfer wird, sich seiner 'jedermann gegenüber bedient, und wie beflissen
man ist, nach rechts und links hin überall, wo man sich befindet, Prisen
anzubieten? Man wartet nicht einmal ab, daß sie verlangt werden, sondern
läuft hin, bevor der Wunsch laut wird, und so ist es denn wahr, daß der
Tabak allen denen, die schnupfen, ehrenwerthe und tugendhafte Gefühle
einflößt."
Ist der Tabak, mäßig, d. h. von jedem Einzelnen nach dem Maße seines
körperlichen Vermögens genossen, nicht schädlich, so muß andrerseits zugestan¬
den werden, daß er nicht entfernt die vortrefflichen medicinischen Eigenschaften
besitzt, die ihm die alten Aerzte nachrühmten und mit denen er geraume Zeit
von den Apotheken als „Heilmittel für Alles", als „heiliges Wundkraut"
u. d. verkauft wurde. Die Engländer scheinen ihm noch die meisten
Tugenden in dieser Hinsicht zuzuschreiben. Fairholt sagt in dem angeführ¬
ten Buche:
„Nach Merat hätten die Deutschen und die Schweizer die Gewohnheit,
Personen, die durch Untertauchen in Wasser erstickt worden, Tabaksrauch ein¬
zutreiben. Häusig wurde im vorigen Jahrhundert eine Abkochung von Tabak
zur Cur von hartnäckigen tonischen Krämpfen verwendet. Ebenso wurde die¬
selbe Medicin bei Katarrh und Bronchitis empfohlen und zwar gemischt mit
Cognac. Neander lobt ihn in dieser Form als höchst wirksames Brechmittel
^ was wir durchaus nicht in Zweifel ziehen wollen. Die Apotheker be¬
reiteten „Tabakswein" auf folgendem Wege. Man nahm 1 Unze Tabaks¬
blätter und 1 Pfund spanischen Wein, ließ die Mischung sieben Tage stehen,
ttoß sie durch Löschpapier und wendete sie dann als ein die Nierenthätigkeit
^förderndes Mittel gegert Wassersucht an. welches man den Kranken in
Dosen erst von 30, dann von 60 und zuletzt von 80 Tropfen täglich zweimal
^»nehmen ließ. Die londoner „Medical Gazette" berichtet, daß Fälle epi-
^wisch auftretenden Scharlachfiebers vor einigen Jahren durch Eingeben
gepulvertem Tabak gründlich und ohne üble Folge geheilt worden seien,
^'e Dosis betrug je nach dem Alter des Patienten ein Viertelgran bis 2
Gran und wurde täglich einmal gereicht. Man sollte damit, während Bella¬
donna und ähnliche Arzeneien nichts geholfen hätten, in einer Woche fünfzig
Kranken das Leben gerettet haben. Sir Astley Cooper endlich hat den Tabak
für das wirksamste und erfolgreichste Agens bei der Heilung von Brüchen
erklärt."
Der amerikanische Arzt Stephenson will die Kopfrose dadurch geheilt
haben, daß er die entzündete Stelle so lange mit angefeuchtetem Tabak bedeckt
habe, bis der Kranke Uebelkeit empfunden.
Riant verhält sich kühler. Er sagt:
„Als innerlich angewendetes Mittel ist der Tabak fast ganz aus der
Medicin verbannt. Indeß bleibt ein leichter Abguß von Tabaksblättern die
letzte Zuflucht, wenn es bei eingeklemmten Brüchen die Eingeweide zu reizen
gilt. Ebenso leistet er gute Dienste zur Wiedererweckung der Nerventhätig¬
keit und zur Wiederbelebung des Kranken, der in Gefahr ist, zu ersticken.
Man wendet den Tabak dann in der Form von Dampfbädern oder Lavements
an, es bedarf indeß dabei der äußersten Vorsicht. Endlich betrachtet man
den Tabak als ein Mittel gegen das Asthma, doch haben sich die Kranken
dabei großer Mäßigung zu befleißigen, wenn sie nicht Rückfälle hervorrufen
wollen. Aeußerlich wendet man Abkochungen von Tabaksblättern gegen vege¬
tabilische und animalische Parasiten an." Nicht zu rathen ist, sich seiner
gegen Ausschläge zu bedienen; denn „drei Kinder, die daran litten und
denen man den Kopf mit einem Präparat aus Tabak eingerieben hatte,
starben binnen vierundzwanzig Stunden." Ebenso möchte der obenerwähnte
„Tabakswein" sein Bedenkliches haben, da Riant erzählt, daß der Dichter
Santeuil nach dem Genuß eines Glases Wein, in das man Tabak geworfen,
unter schrecklichen Schmerzen verschieden sei.
Der deutsche Botaniker Hayne endlich spricht sich in seiner „Darstellung
und Beschreibung der in der Arzeneikunde gebräuchlichen Pflanzen" über
Nieots Kraut folgendermaßen aus: „Da die Wirkungen des Tabaks sowohl
in der Abkochung als auch in Extract und in Pulver so heftig sind, na¬
mentlich leicht Schwindel, Betäubung und alle Zeichen einer narkotischen Ver¬
giftung hervorbringen, so wendet man ihn nur selten an, höchstens noch bei
hartnäckigen Verstopfungen und zu Waschwasser (1 Unze Tabak auf 8 Unzen
Wasser) bei Hautausschlägen. Der diätetische Gebrauch des Rauch- und
Schnupftabaks ist dagegen sehr zu empfehlen, namentlich der erstere bei ob-
struirten und an Hämorrhoiden leidenden Personen und der letztere als ablei¬
tendes Mittel bei Augen- und Gehörkrankheiten."
Wie kam der Tabak zu so rascher und allgemeiner Verbreitung als
Genußmittel? Worin besteht die Annehmlichkeit, der Reiz des Rauchers?
Die Antwort hierauf ist so schwer, daß Kant der Meinung gewesen ist, diese
Annehmlichkeit bestehe nur in einer den Ideengang befördernden Neben¬
beschäftigung von Hand und Mund, wie denn Nichtraucher sich entsprechend
mit den Händen zu thun machen (Fingermühle spielen, an etwas schnitzeln?)
müssen, wenn sie aufmerksam zuhören oder nachdenken wollen. Wir wissen
nicht, ob Kant selbst geraucht hat; was er sagt, ist aber gewiß nicht das
Rechte. Eher läßt sich's hören, wenn Pereira sich den Zauber, der im Genuß
einer Pfeife oder Cigarre liegt, damit erklärt, daß der Tabak eine besänftigende,
ruhig stimmende Wirkung auf das Gemüth übe. Nach Maddens Ansicht
wieder wäre das träumerische Vergnügen des Rauchers in der Erzeugung
einer vollkommenen Gedankenlosigkeit zu suchen; denn wenn man jenem die
Frage vorlege, woran er bei seinem stummen Genusse gedacht habe, so werde
er antworten, an nichts. Das wird ohne Zweifel von Manchem gelten, ge¬
wiß aber nicht von Allen und am wenigsten von denen, die bei geistiger
Arbeit rauchen und sich zu rauchen gezwungen fühlen. Viel richtiger scheint,
daß der Reiz des Tabaksgenusses und vorzüglich des Rauchers gerade im
Gegentheil von dem, was Matten sagt, nämlich darin liegt, daß derselbe
schneller denken und reichlicher phantasiren läßt, daß der Tabak also dasselbe
bewirkt, wie der Kaffee, der schwächer, und das Opium, welches stärker in
die Denkmaschine und den Apparat der Phantasie eingreift. Eine einschläfernde
Wirkung des Tabaks haben wir wenigstens niemals bemerkt, man müßte
denn dabei bildlich sprechen und an die Einschläferung von Hunger und
Zahnschmerz denken.
Wenn bei Manchem die erste Cigarre oder Pfeife nicht die schlimmen
Wirkungen hat, wie bei den Meisten, so liegt das wohl daran, daß er sich
schon als Kind im Rauchen von allerhand andern Substanzen, darunter auch
übelschmeckende waren, geübt hat. Wer von uns hätte nicht auf dem Wege
Zur Schule oder in Freistunden sein Heil mit einem glimmenden Stück Aus-
klopftröhrchen versucht? Wir selbst bekennen uns dazu, und es ist uns, als
hätte das Röhrchen geschmeckt, besser wenigstens im Munde als auf dem
Rücken, wenn der Schulmeister uns über solchem Rauchen ertappt hatte.
Andere rauchten Rosenblätter — es werden empfindsam gestimmte Seelen
gewesen sein. Auch Salbei that es, desgleichen Häckerling. Ein vortreffliches
Tabaksurrogat lieferte Kaffeesatz. Ein Freund rauchte sogar alte Leinwand,
i« einer der beiden Verfasser der „Ilzsgiöne Sss I'umöurs", die vor Kurzem
in dritter Auflage erschien, will selbst Sohlen von abgelegten Stiefeln, mit
einem Federmesser klein geschnitten, in die Pfeife seiner Knabenjahre gestopft
Und genossen haben. Daß er sie schmackhaft und wohlriechend gefunden, sagt
^ nicht, fügt aber hinzu: „Das Kind, welches raucht, ist wilden Gemüthes
und schrickt vor nichts zurück. Aus der Schule würde man, wenn es ginge,
steh sein Calumet mit den vermoderten Gebeinen seines Urgroßvaters füllen."
Mit fünfzehn Jahren raucht man Tabak, aber nicht für sich, sondern
für andere Leute, nicht um des Genusses willen, sondern der Wichtigkeit halber,
die es giebt. Man bildet sich ein, daß man damit auf der Promenade
Sensation macht, daß alle Frauen auf einen hinzeigen und sagen: „Da seht
'mal den hübschen Jungen, wie nett dem die Cigarre zu Gesichte steht."
Man läßt seinen Glimmstengel absichtlich ausgehen, nur um den nächsten
alten Herrn, der uns vor einer Gruppe Damen begegnet, um Feuer ansprechen
zu können, obwohl man weiß, daß solche alte Herren häufig grob werden
und von Gelbschnäbeln reden, die hinter den Ohren noch nicht trocken sind.
Man ist kühn in dieser Zeit glücklicher Selbsttäuschungen.
Mit zwanzig Jahren raucht man, so oft man ausgeht. Aber man hat
noch keinen Tabaksverstand, man denkt wenig an die Güte des Tabaks, dagegen
um so mehr an eine stattliche Pfeife, man wählt seine Cigarre nicht, wohl aber
seine Cigarrenspitze. Ein Mille Cigarren von Upmann oder Cabannas läßt
uns zwar nicht kalt, wärmer aber werden wir, wenn Frauenhand dem Herrn
Studenten zu Weihnachten einen saubergestickten Tabaksbeutel oder ein der¬
artiges Cigarrenetui mit den Farben der Verbindung verehrt.
Erst mit dreißig Jahren wird der Raucher reif und Meister, und oft
erst später gelangt er durch eigne Erfahrung und Lehre von andern Kunst¬
genossen in den Besitz aller Vortheile, Regeln und Wahrheiten, die den ganz
Eingeweihten schmücken und charakterisiren. Mit einigen von diesen Maximen
wollen wir unsern Sermon beschließen.
Rollentabak gewinnt, wenn er an einem trocknen, nicht heißen Orte auf¬
bewahrt wird, mit den Jahren. Namentlich gilt dieß vom Varinas. Ge¬
schnitten darf er indeß nicht lange liegen, da er sonst zu sehr ausdorrt und
staubartig wird. Man schneide sich daher nur den Bedarf für eine Woche
und hebe das Geschnittene in einem Gefäße von Steingut auf. Die Tabake
der Levante, vorzüglich der Latakiah, Schimmeln leicht, wenn sie zu viel
Feuchtigkeit bekommen, dürfen aber auch nicht zu starkem Austrocknen aus¬
gesetzt werden, da sie dann ebenfalls zu Staub zerbröckeln und überdteß ihr
Arom verlieren. Man bewahrt seinen Vorrath davon am Besten in Blasen,
Lederbeuteln oder Thierfellen auf, die noch die Haare haben, und die man
vor ein Fenster hängt, wo sie abwechselnd Regen und Luft bekommen. I"
Kellern verderben sie. Persischer Tabak muß, bevor er aus den Kohlenbecher
der Wasserpfeife kommt, angefeuchtet werden.
Von den Cigarren gilt zunächst die Regel: lieber wenig, aber gute
Marken, als viel und Mittelgut oder gar schlechtes Zeug rauchen. Es ist
entsetzlich, zu sehen und — zu riechen, in welchem Maße hier nicht selten
auch Leute, die das Beste haben könnten, gegen sich selbst und ihre Neben¬
menschen sündigen. Sage mir, was Du rauchst, und ich will Dir sagen,
was Du bist. Schon die Alten ahnten das, da die Sprache guten Ruf und
guten Geruch als Synonyma braucht.
Wie lange muß die Havanna von feiner Ernte liegen, ehe sie genießbar
wird? Rasche und emphatische Antwort: Gar nicht! Sie muß im Gegen¬
theil sofort nach ihrem Eintreffen von der Seereise geraucht werden, wenn
sie ihr volles Arom entwickeln soll. Und wie lange hält sich eine Havanna,
bevor sie ungenießbar wird? Das kommt auf die Qualität, den Jahrgang
an. Sehr fette, speckige Cigarren sollen etwa ein halbes Jahr und können
höchstens drei Jahre lagern. Später könnte man ungefähr eben so gut Stroh
rauchen, als solche stumpfe, entkräftete Krautbündel.
Jede Cigarre, von der die Asche dicht vor der Brandstelle abfällt, ver¬
liert sofort merklich an Wohlgeruch, und je länger die Asche am Ende der¬
selben wird, desto besser riecht und schmeckt der Rauch am andern Ende.
Die Ursache hiervon wird darin gesucht, daß die Asche eine Art Kruste
bildet, welche das Arom sich auf dieser Seite nicht verflüchtigen läßt. Andere
erklären die Erscheinung damit, daß die heiße Aschenkruste die Wirkung eines
Filtrirapparats habe, durch welchen die äußere Luft hindurchgehe, wobei sie
einen großen Theil ihrer Feuchtigkeit verliere, so daß das Innere der Cigarre
nicht naß werde und dieselbe regelmäßig brenne. Ueberhaupt hängt die feine
Cigarre sehr vom Wetter ab, so daß sie guten Beobachtern als eine Art
Barometer dienen kann. Bei schwerer, schwüler, drückender Luft verliert, bei
heiterer, reiner, leichter gewinnt sie erheblich an Duft und Geschmack. Feuchtes
Wetter schadet ihr, auch wenn sie gut verwahrt im Zimmer steht, weshalb
sie im Sommer durchschnittlich mehr werth zu sein scheint, als im Winter.
Regel: man schmähe eine Sorte nicht eher, als bis man sie bei trocknem
Wetter und heiterem Himmel geraucht hat, und man preise sie nicht eher,
als bis sie bei dicker Luft und nassem Erdboden versucht worden ist.
Cigarren, welche schief brennen wollen, vertreibt man diese Unart in der
Regel dadurch, daß man — mit oder ohne <zuo3 6Zo und gelindes Fluchen —
einige Secunden stark hineinbläst und dann etliche kräftige Züge thut. Hilft
°as nicht, so werfe man sie weg. Eine schiefbrennende Cigarre, die sich nicht
r«sah bessert, weiter rauchen, kommt gleich hinter dem Verzehren einer
faulen Auster.
Cigarren, welche zu fest gewickelt sind und keine Luft haben, curirt man
damit, daß man nach Abschneiden der Spitze durch die obere Hälfte bis auf die
Entfernung eines Zolles oder etwas weiter eine starke Nadel hindurchsticht und
so dem Rauch einen Weg bahnt; doch ist das vorsichtig zu bewirken, weil
sonst das Deckblatt leicht zerplatzt. Der Cigarre den Kopf abzubeißen, ist
unverständig, man schneide ihn ab, und man schneide nicht zu wenig ab.
Feine Cigarren aus langen Pfeifen zu rauchen ist unklug, da auf diese Wkise
der Rauch seinen Weg durch die Absonderung hindurchnimmt, welche sich in
Kopf, Rohr und Spitze angesetzt hat, und da er hierdurch sein Arom mit
häßlichen Düften mischt. Höchstens eine kurze einfache Cigarrenspitze ist er¬
laubt. Am besten aber bringt man die Cigarre direct an den Mund.
Unrecht ist es, die Cigarre mit den Zähnen zu fassen, abscheulich endlich,
sie zu zerkauen. Je trockner das Mundstück bleibt, desto sauberer und desto
duftiger wird die Cigarre sein. Sparsamkeit ohne Ueberlegung nennen wir
es, wenn jemand eine ausgegangene Cigarre, die stundenlang gelegen hat,
wieder in Angriff nimmt, weil eine solche die Zunge beißt und die Nase
nicht vergnügt.
Wir bemerken noch, daß man wohlthut, nicht unmittelbar vor dem
Schlafengehen und nicht sofort nach dem Aufstehen sowie nicht bis kurz vor
der Zeit, wo man sich zu Tische setzt, zu rauchen. Im ersten Fall sichern
wir uns durch die anempfohlene Enthaltsamkeit ein baldiges Einschlafen;
im zweiten bewahren wir uns vor der Wirkung, die der Tabak selbst auf
manchen alten und wohldisciplinirten Raucher hat, wenn er nüchtern ge¬
nossen wird; im dritten bringen wir guten Appetit, die beste, und keinen
Tabaksgeschmack, die schlechteste Würze, mit zum Mahle.
Allen unentwickelten Völkern ist der Tod nicht die nothwendige Folge
des Lebens, sondern die Wirkung einer geheimen von erzürnten Göttern oder
bösen Zauberern ausgeübten Macht; ihnen kommt der Gedanke nicht, daß
auf natürlichem Wege das warme Blut erstarren, das leuchtende Auge
brechen, und der Körper seine lebenäußernden Funktionen einstellen könne.
Auf jeder Stufe des geistigen Entwickelungsganges fühlt der Mensch
das Bedürfniß, für alle Erscheinungen im Leben und in der Natur, für alle
Borfälle einen Grund und Urheber zu erforschen und kennen zu lernen.
Jeder gebildete Mensch weiß, daß der Tod folgerichtig eintreten muß und in
der Abnutzung der Kräfte, in dem „allgemeinen Verbrennungsprocesse" seinen
letzten Grund finde. Der Ungebildete glaubt an die Zauberkraft eines Menschen
oder die Machtäußerung eines Geistes als die Ursache des Todes. Warum
sollte daher nicht der Wilde zu demselben Glauben und zu dnn Wahne ge-
langen, daß auch Menschen vermögen, geheime Zauberkräfte zur Herbeiführung
eines Todesfalles wirken zu lassen. Die Idee, daß der Mensch ohne Beein¬
flussung solcher das Leben endender Kräfte ewig leben könne, finden wir auf
dem ganzen Erdball, bei den Patagoniern, den Australiern, den Abiponen
am Paraguay, den Papuanen auf den Hebriden, den Fidjiinsulanern und
den Negern.
Vereint aber mit diesem Wahnglauben tritt auch derjenige an Rechts-
offenbarungen auf, die Gott ordnungsmäßig und kunstgerecht befragt, er¬
theilen müsse. Noch augenblicklich ist das „Gottesgericht" bei einigen
Dravidastämmen in Süd-Arabien, bei Brahmanen-Hindus, bei den Papuanen
Neu-Guineas und den Negern der Goldküste in vollem Brauch.
In Süd-Afrika finden wir als Mittel zur Vollziehung des Gottesgerichtes
den Genuß eines Giftes, welches, in Loango „N-kassa" genannt, von der
Pulverisirten Rinde eines Caesalpinienbaumes (LrMiroloeum gumLöllsci)
bereitet wird. Wer der Schuld eines Todesfalles bezichtigt wird, fällt dem
Gottesgericht anheim; er erhält zu dem Zweck von dem N-ganga (Zauber-
Priester) das Giftpulver eingegeben. Wirkt dasselbe als Vomitiv, so ist seine
Unschuld glänzend erwiesen, und dieselbe Menge, die den Beschuldigten vorher
in fanatischem Eifer schlug und peinigte, beschimpfte und mit Koth bewarf,
feiert dann zu Ehren des Unschuldbeweises die glänzendsten Feste. — Bleibt
das Gift jedoch im Magen, so wirkt es tödtend, und gewöhnlich wird dem
Leben des Ueberführten, schon ehe das Gift den Tod bewirkte, durch Ver¬
brennen ein Ende gemacht. Im Süden Angolas erhält auch an Stelle des
Angeklagten ein Hund, den er selbst zu wählen hat, das Gift — natürlich
in verringerter Menge, und falls das Thier stirbt, wird der nun für schuldig
Gehaltene zum Tode oder zur Sklaverei verurtheilt. —
Daß es bei den Gottesgerichten nicht immer in rechtmäßiger Art und
Weise zugeht, versteht sich von selbst, — ist ja doch die Hierarchie mit im
Spiele. Ist die Meinung des N-ganga derjenigen der Ankläger aus irgend
welchen Gründen entgegengesetzt, so ist die Wirkung des Giftes als Brech¬
mittel sicher, der Angeklagte schuldlos und man schreitet zur Untersuchung
eines Anderen, gewöhnlich des Anklägers. Prinzen sind vom N-eassa-
^sser ganz frei, und häufig müssen die einmal Angeschuldigten 5 tout prix
sterben. Den letzteren Fall und zwar in scheußlichster Weise hatte ich einmal
Gelegenheit anzusehen.
Es war in Chinchoxo —der Station der ersten deutschen Erpedition
zur Erforschung Central - Afrikas — am Morgen des 19. October 1874.
Wie stets hatte ich schon frühzeitig mein Lager verlassen und stand am Ab¬
hang der Dünenklippe in's Meer schauend und die langsam in's Land ziehende
^rise in die Brust saugend. - Unermüdlich wie immer, ob am Morgen
oder Abend, am Tage oder zur Nachtzeit, schob der Atlantische Ocean seine
Nänderwellen auf den hellen Strand, der erst in einiger Entfernung vom
Wasser eine arme, aber eigenthümlich schöne Vegetation zeigte. In gefälligen,
oft schwungvollen Arabeskenlinien verschlangen sich auf hellgelbem Grunde
die Ranken einer violettblüthigen Bohne mit großen, lederglänzenden Blättern
mit denen von Trichterwinden, deren weiße und rosa Blumen dem Lichte
des kommenden Tages sich schüchtern zu erschließen begannen. Einförmig
großartig brauste das Meer seine Morgenhymne, und donnernd zerschellten
die Wogen in der Brandung zu unzähligen Gischtatomen. Mit der fried¬
vollen Ruhe, die ein großartiges Naturbild in die empfängliche Seele legt,
sah ich in die dunkle, wallende und wogende Fläche des Meeres, dessen
Fernen sich mit dem Blau des Himmels zu einer Linie verbanden. Allmälig
wurde es Heller, der Sterne mattflimmerndes Licht verblaßte ganz, sanfte
Lichthauche wehten verheißend über den Himmelsraum, und dann schoß plötzlich
hinter den Bergen, die gegen das Innere des Landes die Landschaft um¬
säumten, ein Strahl hervor, der „des Morgens goldflammende Majestät"
verkündete. Die Sonne stieg auf. Sie glühte bald durch die landlosen
Aeste der Baobabbäume, bald verbarg sie sich, wie in einen Schleier gehüllt,
hinter den zitternden Blättern der Fiederpalmen. Sie weckte die Schläfer
aus der Ruhe. Sich dehnend und gähnend erhoben sich vom Erdboden im
Hofe die schwarzen Bursche, die nach halbdurchtanzter, fröhlicher Mondnacht
unter dünnen, weißbaumwollenen Tüchern des Morgenschlummers gepflogen;
der Tag kam und mit ihm Arbeit und Sorgen. Das fast vergangene Feuer
wurde von Neuem angefacht und sandte blaue Rauchwölkchen in den frischen
Morgenwind, der sie hinübertrug zu den Hütten des Negerdorfes am Fuße
des Berges. Auch dort sah ich Bewegung; zwischen den Palmblattdächern
der niedrigen, kleinen Häuschen huschten weiße Gestalten umher, Feuerbrände
irrten hierhin und dorthin, da loderte eine angefachte Flamme auf, und
Schafe und Ziegen riefen nach der Weide. Kein friedlicheres Bild als das
eines Negerdorfes im Scheine der Frühsonne! Noch ist es frisch, und Alles
schaart sich um die erwärmenden Feuer, in denen die Maiskolben zum leckern
Mahle geröstet werden; Gelächter allenthalben, Plaudern und Erzählen vom
vergangenen Tage, von den Träumen der Nacht und von der — „Arbeit"
des heutigen Tages. Doch plötzlich ändert sich die Scenerie. Dumpfer
Trommelschall klang vom Dorfe hohl und unheimlich herüber durch die
friedvolle Morgenstille. Aber auch die Natur harmonirte nun mit der
Musik, unheilschwangere Wetter zogen über den Bergen auf, und eine graue
Wolke verdeckte die Sonne, die vor Kurzem noch so fröhlich strahlte.
Da kam auch schon der Dolmetscher. Seine Rede begleitete er mit den
dem Neger eigenthümlichen ausdrucksvollen Gesten und erklärte mir, daß w
unserem Nachbardorfe N-zala ein Gottesgericht stattfinden werde; er setzte
hinzu, daß, wenn wir Lust hätten, wir demselben beiwohnen könnten. Auf
mein Befragen nach dem Grunde der Ceremonie, theilte er mir mit, daß
vor Kurzem ein junges Mädchen .aus guter Familie" an der Schlafsucht
(ÄOMyg. as Lorrmo der Portugiesen), einer jenen Gegenden — besonders
Mossamedes — und auch Brasilien eigenthümlichen und noch nicht genügend
aufgeklärten Krankheit, gestorben sei, und daß nun in N-zala eine alte Frau
als die Urheberin dieses Unglücksfalles, als ..toitiLöira" verdächtigt sei und
die Giftprobe durchzumachen habe. Schnell benachrichtigte ich meine College»,
und wir beschlossen, nach eingenommenem Thee nach N-zala, etwa zwei¬
hundert Schritt hinter unserer Station zu gehen, um dem traurigen Schau¬
spiele zuzusehen.
Bald mahnte uns der vermehrte Lärm und das Schreien und Johlen
der Menge im Dorfe zum Aufbruch. Daselbst angelangt, erfuhren wir, daß
wan durch unser Kommen, welches der Dolmetsch verheißen, sich sehr ge¬
schmeichelt fühlte und deshalb auf uns gewartet habe. Im Dorfe war ein
großer, freier Platz, der mit feuchtem Lehm tennenartig gepflastert war; hier
sollte das Gericht stattfinden. Zuvorkommend setzten uns einige freundliche
Einwohner des Dorfes, mit dem wir stets im lebhaftesten Verkehr gestanden,
eine Bank zum Niedersitz nahe dem Richtplatz auf. Mit unseren Jagdwaffen
es war die Zugzeit wilder Tauben — unter dem Gummimantel, denn
es regnete schon stark, nahmen wir Platz und warteten der kommenden
Dinge. — Nicht weit von uns zu unserer Linken stand eine kartenhaus¬
ähnliche Hütte, unter welcher die Delinquentin gefesselt lag, in schweren
eisernen Ketten, die der europäische Handel bereitwillig einführt. Vor der
Deffnung der Hütte stand der N-ganga des Dorfes, mit verschiedenen Farben
abschreckend bemalt und mit Thierfellen und Federn grauenhaft und grotesk
geschmückt. Er hielt der Frau eine eindringliche Rede, die er mit dem Ge¬
räusch der verschiedenen über der linken Schulter hängenden Klappern (die
sich auch bei den Piai, den Medicinmännern Südamerikas, als „maraks,"
wiederfinden) und dem Läuten von Kupferglocken begleitete. Seine Worte
enthielten die Anklage gegen die Frau, die Preisung der unparteiischen
göttlichen Wirkung der N-cassa und die Aufforderung zum Genuß derselben.
Natürlich weigerte sich die Alte; doch was half ihr das? Sie sollte ge¬
lungen werden.
Wurde die Volksmenge durch den Widerspruch der Beschuldigten noch
"lehr gereizt, oder wollte sie in ihrer Weise bei Anwesenheit der Europäer
^enommiren, kurz die Wuth derselben steigerte sich und drückte sich in grau-
samer Weise aus. Die Frau wurde an der langen Kette, die mit einem
^luge um ihren Hals befestigt war, aus der Hütte gerissen und nun im
Dorfe zwischen den Häusern umhergeschleppt; halb ging oder lief sie, halb
wurde sie gezogen oder gezerrt, wenn sie gestolpert, in die Kniee gesunken
oder gestürzt war; dann sprangen Einige hinzu, um den nackten Leib der
Armen mit der fürchterlichen Peitsche aus dem Schwänze des Stachelrochen
zu schlagen, stießen ihn mit den Füßen und spieen ihn an. Immer wieder
richtete die Schmerzgepeinigte sich auf, wieder brach sie zusammen, bis sie,
mit Schmutz und Lehm besudelt, einige Male im Dorfe die Runde gemacht
hatte und endlich auf den Richtplatz gerissen wurde, wie man in unseren
Kleinstädter ein Stück Vieh zur Schlachtbank schleppt. Nachdem die wei߬
haarige Alle, die uns in ihrer traurigen Lage um so ehrwürdiger erschien,
und der wir leider durchaus nicht helfen konnten, auf diese Weise für die
Wirkung des Giftes empfänglich gemacht war, nahm sie dasselbe mit der
Ruhe der Verzweiflung. Ein Pulver von rostbrauner Farbe, wie zerriebene
Chocolade, wurde ihr in drei kleineren Portionen vom N-ganga gereicht;
die ersten beiden, etwa eßlöffelstarken Dosen erhielt sie trocken in den Mund
geschüttet, die letzte, ebenso große Gabe aber mußte sie mit Wasser vermischt
trinken. —
Die Sonne brach wieder durch, hell und freundlich überströmte sie uns
alle, das arme Weib und ihre Ankläger mit ihrem Strahlengold; über uns
rauschten Schaaren grüner Tauben durch die Luft, aber wer dachte an Jagd
auf die Thiere, wo hier ein Menschenleben auf dem Spiele stand! — Trotz¬
dem die Frau wußte, daß sie Gift genommen, schien sie doch von ihrer Un¬
schuld und dem guten Ausgang überzeugt, denn wie hätte sie sonst auch nur
einem Gedanken an ihr Aussehen Raum geben können. Aber in der That
stand sie. nun von Allen gemieden, allein auf dem Platze und ordnete das
Hüftentuch, welches beim Hin- und Herschleifen halb zerfetzt war, sie strich
sich den Schmutz aus dem Haar und vom Körper und legte dann beide
Hände über den welken, zerfleischten Busen, um ihn zu verdecken. Es war
erschütternd anzusehen, und wir konnten dem Ausdruck des Schamge-
fühls der Armen in diesem Moment unsere innere Bewunderung
nicht versagen. Nun setzte sie sich auf eine Matte am Boden, um
die Wirkung des Giftes abzuwarten. Sie kam, und zwar, wie wir nach
der vorhergehenden Tortur der Frau nicht erwartet hatten, günstig! Sie
erbrach in kleinen Absätzen das Gift. Als sie den Brechreiz fühlte, und er
sich durch Räuspern bemerklich machte, rief ihr eine alte Frau, ihre Schwester,
aus den Zuschauern einige freundliche Worte rathend zu. Sie sollte auf
und abgehen; sie that es und, wie um ihre Ankläger und Feinde zu höhnen,
streckte sie mit heftigen Bewegungen die Beine aus und straffte die Arme,
als wolle sie die Kraft derselben, die ein Menschenalter gearbeitet,
prüfen. —
Wir athmeten erleichtert aus. Aber unsere Freude war verfrüht; was
half ihr der von „Gottesmacht" herbeigeführte Unschuldsbeweis? Nur um so
ärger wurde das Schreien der Menge, und man warf uns Weißen böse
Blicke zu, denn der N-genga, schlau wie alle Priester, hatte sich zu helfen
gewußt, — „die Macht ihres Gottes könne sich nicht offenbaren, wenn wir
Weiße dabei wären!" — eine Ausrede eines Jesuiten würdig. Der Priester
verordnete, das Gift zum zweiten Male zu geben, und wir wünschten einen
Blitz vom heitern Himmel hernieder oder eine Schwadron Husaren zum
EinHauen in die Menge; ich glaube wir hätten kein Erbarmen gekannt. Am
meisten empörte uns, daß wir statt jener Feierlichkeit und jenes Ernstes, den
wir bei dieser Gelegenheit erwartet hatten, nichts weiter fanden, als die Lust
an den Qualen der Alten, nichts als eine Tragikomödie, schlecht gespielt von
boshaften Buben. Das Treiben ekelte uns an, retten konnten wir das
Weib, das uns bittende Blicke zuwarf, auf keine Weise, daher wendeten wir
der grauenvolle Scene den Rücken und kehrten traurig heim. —
Noch einmal sollten wir aber in Aufregung versetzt werden. Nach einer
Stunde fast hörten wir, daß das Weib das Gift auch zum zweiten und
dritten Male von sich gegeben habe, dennoch aber zum Feuertode geführt
Werde. Einer meiner College» und ich sahen die Dorfleute mit der in einer
Matte getragenen Verurtheilten die Berge hinansteigen. Dem ersten Impuls
der Empörung über dieses unmenschliche Thun folgend, griffen wir zur Waffe
und stürmten den Grausamen nach. Doch auf dem Berggipfel angelangt
sahen wir nichts mehr von den Verfolgten; in den Steppenbergen und
Thälern konnten wir die Spuren nicht mehr finden. — Einen Tag darauf
erfuhren wir. daß die schon halbtodte Frau wirklich verbrannt worden sei. —
Man hat bisher stets das Vorhandensein der Idee einer Fortdauer der
Seele nach dem Tode bei den Negern bestritten. Jedoch mit Unrecht. Die
Neger opfern ihren Todten, wenn sie durch böse Träume beunruhigt oder
geängstigt werden, um den Geist eines Verstorbenen, dem sie im Leben Un¬
recht gethan zu haben glauben, zu versöhnen. Gerichtete Zauberer aber
gehen nach dem Glauben der M-balundu-Neger im Süden des Coanza als
eine Art Wärwolf im Jenseits um, und wie wir die Unsterblichkeitsidee in
der Beigabe von Weizenkörnern zu den Mumien bei den Aegyptern, der
Dattelkerne in den Gräbern der Altbabylonier, der Maiskörner in denen der
Caraibenvölker ausgedrückt finden, so spricht sich dieselbe bei den Massongo
in Cassandsche dadurch aus, daß sie in den Gräbern ihrer Jagas die noth¬
wendigsten Lebensbedürfnisse und sieben lebende Jünglinge, für verschiedene
Dienstleistungen bestimmt, verschütten. —
Als vor einigen Jahren in diesen Blättern der Versuch gemacht wurde,
den Werth und die Bedeutung der Familienidyllen Rudolf Reichen an's
„Aus unsern vier Wänden" darzulegen, wurde zu Anfang der Abhand¬
lung das Wort eines hervorragenden deutschen Gelehrten über Reichenaus
Schriften angeführt, welches des Lobes voll war. Dieser Gelehrte blieb da¬
mals ungenannt. Jetzt, da er heimgegangen, darf sein Name unbedenklich
genannt werden. Es war Wilhelm Eduard Albrecht, der große Germanist
und Staatsrechtslehrer, der treue Hüter deutschen Verfassungsrechtes, er, das
verkörperte deutsche Gewissen, der also urtheilte über Reichenaus Schriften!
Vor allem lobte er die Treue der Schilderung, mit welcher der Lokalton und
die Volksseele der preußischen Heimath in den Bildern „aus unsern vier
Wänden" getroffen sei. Aber nicht minder freudig erkannte er an, daß in
wenig anderen Werken die Innigkeit und Eigenthümlichkeit deutschen Fami¬
lienlebens, vor Allem deutscher Kindheit und deutscher Jugendkraft und -Stre¬
bung so glückliche Darstellung gefunden habe wie hier.
Fast genau in derselben Weise wie Albrecht, urtheilte vor wenig Mona¬
ten Julian Schmidt über Reichenaus Werke in den Preußischen Jahrbüchern.
Der „trutz'ge Denker" — wie Woldemar Wenck den bekannten Kritiker in
seinen „losen Blättern" nennt — wird sanft und beinahe weich, wenn er davon
redet, daß er mit Reichenau derselben Stadt entstammte (Marienwerder),
und wie treu und wahr Reichenau all die Plätze und Erinnerungen der
Kindheit wieder zu beleben versteht zu unvergänglichen Dasein. Und auch
Julian Schmidt betont mit Recht, welche Bedeutung die Schriften Reichenaus
zu beanspruchen haben, mit ihrer liebvollen Beachtung des Innersten unsrer
Heimstätten, unsres gemüthlichen und kräftigen Familienlebens, und ihrer
besondern Begabung für the Ausprägung individueller Eigenthümlichkeit in
einer Zeit, wo Alles der gleichmachenden Unnatur der Mode fröhnt und der
Begriff der Häuslichkeit der unwandelbaren „vier Wände" weiten Kreisen
gänzlich abhanden zu kommen droht. Darin liegt unzweifelhaft der Haupt¬
reiz und der bleibende Werth der Reichenau'schen Familienidyllen. Jeder
kann das ermessen, der mit einem offenen Auge für seine eigene Jugend, seinen
Werdegang und die guten und bösen Symptome der lebendigen Geschichte
der Gegenwart diese kleinen inhaltsschweren Bände zur Hand nimmt. Die
Ueberzeugung wird sich Jedem aufdrängen: eine große Fülle unvergänglicher
Jugendfreude, genauester Menschenkenntniß und Beobachtung, tiefes Ver¬
ständniß für die heitersten Regungen, für die ernstesten Züge unsrer Volks¬
seele, wie sie daheim und unter Fremden, in der Kindheit, in der Jugend,
im gereiften Alter sich äußert, ist hier vereinigt. Es ist ein großer Trost
und Stolz, daß solche Bücher geschrieben werden konnten als ein treues Ab¬
bild auch unsrer Tage, in derselben Zeit, da Alles klagte über die Verwilde¬
rung der Sitten, über den Verfall des treuen deutschen Arbeilsfleißes. des
Handels und der Gewerbe, in derselben Zeit, da die Partei der Volkshetzer
allen Glauben, alle Ordnung und Gesittung der alten Gesellschaft auszu-
rotten versuchte und nicht am letzten die Familie, die Ehe, die Ehrenfestigkeit
des deutschen Hauses sich zum Ziel ihrer Brandfackeln erkoren hatte.
Es hieße sehr gering denken von unsern Lesern, wollten wir ihnen noch
einmal den Inhalt der früheren Reichenau'schen Schriften vorführen, deren
beste Stellen in aller Munde leben, mit deren Kinderbildern zum ersten Mal
Oskar Pietsch seinen Namen berühmt machte, die vorAllemdassinnigste
Weihnachtsgeschenk bilden, welches Liebesleute und Eheleute einander,
welches Eltern den herangewachsenen Kindern schenken können. Welcher deutsche
Mann und welche deutsche Frau oder Jungfrau kennte sie nicht, jene unver¬
gleichlich wahren und in Scherz und Ernst so herzigen Bilder aus dem Kin¬
derleben, aus den „Knaben- und Mädchen"-Jahren, von „Auswärts und
Daheim", die „Liebesgeschichten", und „Am eigenen Heerde" ? Schon in dem
letzterwähnten Bändchen waren die Kinder, die wir vom „ersten Vierteljahr"
an in ihrer Entwickelung verfolgt haben, wieder Eltern geworden. Nun liegt
uns der Band vor, dem kein andrer mehr folgen kann: der Band, der „die
Alten"*) vorführt, die Alten, die „große Kinder" und Enkel haben, oder
denen das Geschick dieses höchste Glück irdischen Daseins versagt oder wieder
genommen hat, und welchen — um mit Jacob Grimm in seinem herr¬
lichen Vortrag über das Alter zu reden — der einsame Spaziergang alle
Freuden der Jugend ersetzt.
Wer die früheren Bändchen las, wußte „auf einen Ritt", was er ge°
lesen. Sehr vieles blieb wörtlich haften. „Die Alten" werden, je öfter ge¬
lesen, um so tiefer wirken — ganz so wie im Leben, im Verkehr mit den
Alten. Wie wunderlich und kraus entströmen oft die Erinnerungen ver¬
gangener Tage bejahrten Leuten. Wie viel Geduld meint die Jugend auf-
bieten zu müssen, um neben Oftgehörtem wenig Neues aus greisem Munde
zu vernehmen. Und dennoch, vermöchte sie zu missen jene von Mund zu Mund
fortlebenden Erinnerungen der Vorzeit, die kein Buch uns mit der Anschau¬
lichkeit und Treue schildern kann, wie der überlebende Genosse jener Tage?
So ist es auch nicht ein Tadel, sondern ein Lob für dieses Buch, daß
es weitere Blicke aufthut, mehr Personen, Schicksale, Wandlungen und Er¬
fahrungen vorführt, als irgend ein früheres Bändchen. Das liegt im Stoff.
Die Aufgabe, die der Verfasser sich stellte, spricht er selbst aus in dem kurzen
Vorwort: „Mögen vor den nun selbst Alten, die vom erreichten Ziele zurück¬
schauen, ehe mit ihnen das Gedächtniß ihrer Alten für immer schwindet, noch
einmal in flüchtigen Wandelbildern auf und absteigen die Lebensgange der
Vorangegangenen: aus dämmernder Ferne, von den entlegensten Grenzen des
deutschen Landes einander zustrebend zu glücklicher Vereinigung, zur Gründung
des Hauses, zu treuer Gemeinschaft in guten und nicht guten Tagen, bei
Hellem, wechselnden und trüben Himmel bis zu jenem letzten Abendscheine
— auf den kein irdisches Morgenroth folgt."
Selbstverständlich spielt auch dasjenige, was in „den Alten" an wirk¬
licher Handlung geboten wird, in der Hauptsache auf altpreußischen Boden.
Selbstverständlich — nicht nur, weil der Dichter sich sagt: „Hier sind die
Wurzeln deiner starken Kraft", sondern namentlich deßhalb, weil Preußen
allein, vom Alten Fritz an bis heutzutage, die feste Kette historischer Con-
tinuität in seinen staatlichen Strebungen bietet, welche der Dichter zum Ein¬
schlag seines Gewebes bedarf. Dorthin, nach Preußen, weist der alte schwä¬
bische Spielmann seinen kleinen Begleiter zu Anfang unsres Bändchens,
„Willst Du jedoch durchaus zu was kommen, so lauf Du nur immer dem
blanken Sternenwagen da droben nach. Einholen wirst Du ihn nicht, behalte
aber die Spur Im Auge, die führt Dich in ein Land, ja, da ist's schnurrig.
Da haben sie einen König, der geht mit dem Krückstock schlafen und steht
mit dem Krückstock auf. und schlägt doch alle seine Schlachten selbst. Und
so sind sie alle—arg hinterher, wie man sagt, eine stramme, zähe, knausrige
Art, die von Kommisbrod und der Fuchtel als nochmal feister wird wie
Andre, denen Alles in den Mund wachst, die den lieben Gott einen guten
Mann sein lassen," Und der Knabe schüttelt den letzten Staub des Heimath¬
landes von seinen Schuhen und folgt dem blinkenden Sternenwagen gegen
Norden, und gelangt in jene Landschaft, „wo man noch zu was kommen
kann", in jene große und berühmte Stadt, „in der man damals schon von
der Luft, wo nicht weise, doch witzig und klüger als alle andern Leute wurde,
wiewohl die Luft schon damals nicht immer die beste gewesen sein soll" —
in jene „Stadt, sechs Stunden von Potsdam", in welcher der Füselier
Schulze, der vor Paris stand im Jahr 1871. zu Hause war, wie er Moltke
verrieth, und die er auf die Frage: „wie heißt denn das Nest?" etwas näher
damit bezeichnete: „Berlin, wenn Sie et noch nich kennen. Ex'llenz."
Unser Spielmannsbub will „studiren", und das hatte ohne die nöthigen
Gelder vor hundert Jahren seinen ebenso großen Haken wie heutzutage. Er
hilft sich im Anfang auf merkwürdige Weise. Er „überhört" gesittete wohl¬
versorgte Knaben und eignet sich dadurch heimlich ihr Wissen an. Er giebt
ihnen dafür „die brodlose Kunst seiner Schwänke" zu Tausch. Er wird er¬
tappt und die Folge davon Ist: die alten Schwestern, in deren Wollen- und
Weißwaarengeschäft er Lausbursche ist, lassen ihn unterrichten, und so wird
er Doctor und schreibt seine Dissertation Z<z ernore tebrili und sucht nun
das einzige, was ihm in seiner Berufsthätigkeit noch fehlt — die Praxis,
nicht in Berlin, sondern in einer kleineren Stadt, offenbar in der Vaterstadt
des Dichters.
Inzwischen haben wir auch erfahren, „wie die Großmutter schreiben
lernte", wir sehen sie später herangewachsen, uns zugleich mit ihren beiden
liebsten Freundinnen vorgestellt beim Kranzwinden, wir erfahren wie es
zuging, „als der Großvater die Großmutter nahm", und in den eigenen,
schlichten Worten der guten alten Zeit, in des „Großonkels Handschrift",
wird uns ein inniger reiner Roman jener gefühls- und bilderreichen und doch so
einfachen Tage geschildert, ein Roman, der zur glücklichen, aber durch den Tod
bald geschiedenen, unvergessenen Ehe führt.
Auch unser Doctor hat inzwischen nicht nur Praxis, er hat auch eine
Frau und Heimstätte in der Stadt seines Wirkens gewonnen; mit reichem
Humor wird uns seine „Sprechstunde" in der guten alten Zeit geschildert,
wo der Bauer das Geld auf den Tisch zählte, eine Reihe harter, blanker,
harter Thaler nach der andern, bis der Doctor endlich sagen muß, „nun
hören Sie aber auch auf, es ist genug." Dann erhalten wir Kunde von einer
„glücklichen Kur", wie der Doctor Jemanden heilt, der das „Kribbeln im
Fuß" für einen Schlaganfall gehalten, ohne dabei des Doctors Nachtruhe
zu schonen. Und nun erfahren wir, wie es unsern Vorvätern zu Muthe
war, als die Kunde von der „Schlacht bei Jena" eintraf, und wie sieben Jahre
später das „schöne Wetter" der Schlacht bei Leipzig über Deutschland aufging.
Aber damit ist natürlich Großmutters Schatzkästlein aus den Tagen des
Rheinbundes und der Freiheitskriege noch lange nicht erschöpft. In drastischer
Weise schildern die folgenden Kapitel das Treiben der „ungebetenen Gäste",
liefern sie ungeheuer wichtige Beiträge „zur Geschichte des Kaiserreiches."
Sie verrathen uns, was der alte Engelrecht an Napoleons Stelle gethan
hätte, als dieser auf selner Rückkehr aus Rußland die Stadt passirte: „ich
hätte die drei schönen jungen Frauen höflichst ersucht, zu mir in den Schlitten
einzusteigen aus dem Gedränge. Daß er das nicht that, war sein dritter
großer Fehler. Ich begreife es eigentlich nicht, er war doch sonst nicht so."
Eine Reihe von Familienbildern aus alter Zeit: „die Akustik des Hauses",
„Eltern und Kinder", „die alte Vaterstadt" wandelt vorüber in elegischer
und heitrer Stimmung, und wird abgelöst durch ein prächtiges Stück Soldaten¬
leben unter Friedrich Wilhelm III., farbenreich und lebendig, nach alten
Soldatenbriefen, bis zu des guten und pflichttreuen Königs Tode. Und ihm
folgt manches Haupt im Tode, das wir in diesem Bändchen zuerst frisch
und jung gesehen. Der „Kehraus" beginnt in der seit vielen Jahrzehnten
bewohnten trauten Heimstätte, aus welcher die Inhaberin hinausgetragen
wurde zur ewigen Ruhe. Und der „Regenbogen", das uralte Sinnbild der
Versöhnung, wölbt sich auch über der offenen Gruft des wunderlichen alten
Sonderlings, dessen „Bekenntnisse" wir angehört. Dann stehen wir mit einem
Male „auf der Höhe der Zeit", im „einigen Deutschland", und der große
„Familientag" wird gefeiert, an welchem die Landwehr aus dem heiligen
Kriege gegen Frankreich zurückkehrt.
Und den Schluß bildet „das Jubiläum" des dritten Geschlechtes, das
jenem „Buhle von der schwäbischen Alp" entsproßte, mit dessen Lebenslauf
„die Alten" begannen. „Aber der Stern, dem der arme Knabe folgte, leuchtet
noch immer, zeigt uns noch immer, wo wir auch sind, den Weg zur Heimath."
Hier ist einmal ein Buch, von dem man zuversichtlich sagen kann, daß
es auch blank und dauernd glänze, wie jenes mitternächtige Sternbild, ein
Buch, mit dem, wie mit jenem Sternbilds Jeder bei Zeiten sich vertraut
machen sollte, der den ruhenden Pol sucht in der Erscheinungen Flucht.
Die angemessene Kritik, welche Professor O. Jäger im Heft 30 (3.
Quartal S. 121) des laufenden Jahrganges der „Grenzboten" der neuerschienenen
Kulturgeschichte Friedrichs von Hellwald gewidmet, hat einige besorgte
Gemüther beunruhigt. „Wie?!" rufen sie, „dieser deutsche Gelehrte, der eine
so angesehene Zeitschrift wie „das Ausland" redigirt, sollte ein Ignorant
sein? ein Bücherfabrikant von jener Sorte, welche die Vernachlässigung ihrer
Bildung hinter blendenden Phrasen und einem Uebermaß geistreichen Un¬
glaubens und glänzenden Spottes über das Positive — namentlich das po¬
sitive Wissen — verbirgt?"
Diesen besorgten Gemüthern antworten wir: Ja. seht zu. was von dem
..Gelehrten" Hellwald noch übrig bleibt, nachdem Ihr seine Kulturge¬
schichte mit Jäger'scher Kritik gelesen. Und laßt Euch ja nicht irre machen
in Eurem Urtheil durch das viele Klappern, das bei so Vielen zum Hand¬
werke des Büchermachens und Bücheranvreisens einmal gehört, wenn selbst
bei diesem handwerksmäßigen Geräusch der größte Theil der deutschen Presse
fröhlich mitthun sollte.
Aber was es mit dem Deutsch es um dieses österreichischen Cavalerie-
offiziers von österreichischem Adel für eine Bewandniß hat, wird uns der
zweite Band des „LonZrvs mternationg.1 6of ^moi'icimistes" (Nanzig bei
Cröpin-Leblond und Paris bei Maisonneuve Comp. 1875.) erzählen. In
diesem officiellen „Rechenschaftsbericht über die erste Sitzungsperiode" des
internationalen Congresses der Amerikasorscher, die 1876 in Nanzig abgehalten
wurde, findet sich von S. 175 an folgender Bericht:
„Fünfte Sitzung, Donnerstag. 22. Juli 1875, Nachmittags 1 Uhr.
„Herr Baron Guerrter de Dumast beruft zum Vorsitz der Sitzung Herrn
Friedrich von Hellwald, Cavalerieoffizier in der österreichischen Armee und
Chefredacteur der Zeitschrift „das Ausland"."
Der Vorsitz wechselt bei diesem Congresse täglich. Die Ehre ist also
von nicht ganz unfaßbarer Größe. Aber es sind auch Damen zugegen.
Kann es für eine k. k. Cavalerieuniform eine lockendere Aufgabe geben, als
die, den Vorsitz in einer gelehrten Gesellschaft in Gegenwart von Damen zu
übernehmen? Herr Friedrich von Hellwald strahlt vor Glück und legt den
Schönen und den Gelehrten sein ganzes Herz zu Füßen, indem er die Damen
blos anblickt — „Ushas-mes", wie die übrigen Redner sagten, erschien ihm
nicht jugendlich genug — die Gelehrten mit „Nessieurs" anredet und dann,
natürlich französisch, fortfährt:
„Indem Sie mich heute zu den Ehren t>ux Iionneurs) des Vorsitzes
berufen, übertragen Sie mir eine Aufgabe, deren Erfüllung für mich zugleich
süß und ruhmvoll ist." „Süß und ruhmvoll" war früher, namentlich für
Offiziere und selbst für simple Laneierlieutenants, wie Herr von Hellwald
in der k. k. Rangliste einer ist, die Aufgabe — für das Vaterland zu sterben.
Herrn von Hellwald hat hierzu bisher offenbar nichts als die Gelegenheit
gefehlt. „Aber wenn ich die Rechtstitel prüfe, welche mir zu dieser Aus¬
zeichnung meine wissenschaftlichen Arbeiten geben, s» muß ich gestehen, daß
sie wenig zahlreich sind." Also die Masse muß es bringen? Qualität ver¬
leiht keinen Rechtstitel auf Auszeichnung. „Vielleicht verdanke ich
diese Auszeichnung hauptsächlich der Uniform, die ich trage,
und dem Umstand, daß ich hier der Vertreter einer Nation bin,
Welche die lebhaftesten Sympathien nährt für Ihr schönes
Land Frankreich. Auf alle Fälle empfangen Sie herzlichsten Dank für
den wohlwollenden und schmeichelhaften Empfang, der mir im Schooße
dieser edeln und gelehrten Versammlung (noble et eruäitö assewblse) zu
Theil wurde."
Es ist schwer, über solche Worte die kräftige Geringschätzung zurückzuhalten,
welche sie verdienen, und nur das Lächeln zum Ausdruck zu bringen, das sie
ja auch reichlich verdienen. Aber es geht schon — man kann wirklich darüber
lachen — aus vollem Herzen lachen - böse kann man einem solchen Redner
nicht sein, bewahre.
Man überlege sich den Fall. Ein Mensch, der sich für einen Gelehrten
hält, jahraus jahrein den Mühen eines Berufsoffiziers völlig fernsteht, der
außerdem erst die unterste Charge des Offizterstandes erklommen hat und
zwar in d e r Waffengattung, bei welcher in Oesterreich mit Vorliebe die über¬
schüssige Bornirtheit nachgeborner adliger Söhnchen untergebracht zu werden
pflegt — ein solcher Mensch geht auf einen wissenschaftlichen Congreß in zweierlei
Tuch, in der bunten Jacke, den Tändstikor - Beinkleidern und den lackirten
Stiefeln der österreichischen Lanciers. Auf den Straßen Nanzigs laufen die
Jungen zusammen, stoßen sich in die Seite und fragen sich: „ä'on pisile-it,
ec; ärüls?" Und drinnen im Saal wird diese blühende k. k. Lancierlieutenants'
uniform auf dem Ehrensitz ausgestellt, wo an andern Tagen ernste Männer
über ernste Dinge reden, und hier meint diese Uniform, „ihr sei wohl haupt¬
sächlich die Ehre zu danken", daß der Mensch, der sie anhabe, heute den
Vorsitz führen dürfe. Ein lustigeres Bild als dieses giebt es doch nicht?
Das könnte doch gerade so gut eine alte Kokette sagen, die infolge ihrer
reizenden Toilette in ihrem Altweibersommer noch eine Eroberung macht. Einem
Kultur- und Erdforscher wie Herrn von Hellwald steht es zu reizend, wenn
er selbst sagt: „Meine Schriften — pah nicht der Rede werth — aber seht mal
her, dieses Erzeugniß meines Schneiders, und die Waden, hin? So was be¬
rechtigt allerdings zum Vorsitz in einem Gelehrtencongreß. Darin stehe ich
einzig da!"
Niemand in der Versammlung schien eine Empfindung zu haben für die
grobe Beleidigung und Herabwürdigung, die dem Congreß der „Amerikanisten"
durch diese auf einen Schneidercongreß gehörige Rede widerfuhr. Und wir
leben daher der fröhlichen Zuversicht, daß Herr von Hellwald auch in Zu¬
kunft bei Gelehrtencongressen für wohllautende Variationen dieses beliebten
Themas sorgen wird. Wir werden dann vielleicht von ihm Reden hören wie die
folgenden: durch das Weiß meiner Wäsche als Forscher geadelt, durch den
Glanz meiner Stiefel zum Vorsitz der Kulturhistoriker berufen, fühle ich
mich u. s. w.
Aber Herr von Hellwald sagte noch mehr in Nanzig.
Herr v. Hellwald gibt in Cannstatt das „Ausland" heraus. Er
wohnt dort und hat mit Oesterreich nicht mehr Fühlung, als irgend ein
anderer „draußen im Reich" angesiedelter Oesterreicher, der draußen arbeitet
und wirkt nach seiner Weise. Gleichwohl ist Herr von Hellwald in Nanzig
aus eigener Machtvollkommenheit plötzlich „der Vertreter seiner Nation"
— natürlich der österreichischen — und in dieser Vollmacht giebt er die Ver¬
sicherung ab, daß diese seine Nation „die lebhaftesten Sympathien nähre für
das schöne Land Frankreich." Von allen Nährstoffen sind die Sympathien
zweifellos die billigsten, und diese können daher auch von der österreichischen
Nation zu jeder Zeit in beliebigen Mengen unentgeltlich an das Ausland abgegeben
werden, ohne dadurch den österreichischen Staatscredit in weitere Gefahren zu
bringen. Aber dennoch bedauern wir, sagen zu müssen, daß vermuthlich nie¬
mand in Oesterreich Herrn v. Hellwald ermächtigt hatte, aus dem ungemein
reichen Nationalvorrath an Sympathien irgend eine beliebige Menge nach Nanzig
mitzunehmen und dort an das schöne Land Frankreich großmüthig zu ver.
theilen. In der Regel pflegt doch auch Oesterreich, wenn es im Namen seiner
„Nation" — richtiger seiner „Nationen" — zum Ausland spricht, sich etwas
berufenerer und würdigerer Vertreter zu bedienen, als eines Lancierlieutenants.
Diese Stelle der Hellwald'schen Rede macht daher den Eindruck der Moral
des heiligen Crispinus, den Eindruck des Wegnehmens einer fremden beweg¬
lichen Sache (der österreichischen Sympathien), um sie an Bedürftige (das
schöne Land Frankreich) zu verschenken, und damit selbst in den starken Ge¬
ruch der Heiligkeit (Vorsitz bei Congressen) zu gelangen.
Auch hier bemerkte der Congreß das Fadenscheinige der Hellwald'schen
Rhetorik so wenig, wie in dem Lob Hellwalds auf seinen Schneider. Und das
gelang Herrn von Hellwald dadurch, daß er Alles sorgfältig vermied, was den
Congreß dazu hätte führen können, anzunehmen, ein deutscher Gelehrter
spreche zu ihm. Herr von Hellwald sagte nichts von seinem Dominik Cann-
statt; nichts davon, wo Cannstatt liege— auch vor französischen „Amerika¬
nisten" wäre das keine überflüssige Mittheilung gewesen — denn die Mehr¬
zahl der Zuhörer dachte sich Cannstatt jedenfalls als Vorstadt von Wien
oder vielleicht auch in Böhmen, dicht an der Seeküste gelegen. Herr von
Hellwald sagte auch nichts davon, daß er in Deutschland seine Bücher schreibe
und verlege, daß seine Getreuen in Deutschland die große Klapper zur
Verbreitung seines Ruhmes in der Presse schwingen, und er sich in anmu¬
thiger Abwechselung ehrender Beiworte bald als deutschen Gelehrten erster
Klasse, bald als deutschen Nihilisten unter den deutschen Kulturgeschichts¬
forschern, bald als deutschen Darwinisten und deutschen Zuchtwahlmann
bezeichnen lasse. Er sagte auch nichts davon, daß die ihm zugemessene Bildung
deutsch ist. Denn durch solche unvorsichtige Mittheilungen würde er sich
am Ende vor den schönen Augen der anwesenden Damen von Nanzig in
den Verdacht geredet haben, ein garstiger Prussien zu sein. Und das hätte
Herr von Hellwald, der Alles Deutsche mit glühender Feindschaft beehrt,
und, um uns Deutsche zu ärgern, auf allen wissenschaftlichen Congressen die
Uniform des k. k. Lancierlieutenantes in xartidus trägt, entschieden nicht
verdient. Es hätte aber durch eine so unvorsichtige Enthüllung auch irgend
einer der versammelten ehrwürdigen Väter sich zu der einem Franzosen
immer zuzutrauenden Regung des Lsprit ä'Iionneur herbeilassen und also
reden können: „Hunusque ta,näemSie schämen sich nicht, Herr Oesterreicher,
in Deutschland die Lorbeer» als deutscher Gelehrter für sich bei der Presse
collectiven zu lassen, und hier bei uns spielen Sie den k. k. Cavalerieoffizier,
damit wir nicht merken sollen, daß Sie deutscher Redacteur und Schriftsteller
sind? — Für solche Leute ist kein Raum in unserm Congreß. Ich ver¬
lange die Dringlichkeit für den Antrag, Herrn von Hellwald zu
eliminiren."
Das wäre freilich noch böser gewesen.
Die Sitzung vom 25. November kann leicht dem Zustandekommen der
Justizgesetze verhängnißvoll geworden sein. Es handelte sich an diesem Tage
um das Einführungsgesetz zur Gerichtsverfassung. Dem unglücklichen Grund¬
satz getreu: alles was an den bisherigen Rechtszuständen Deutschlands
fehlerhaft sein mag, bei den jetzigen Gesetzen, welche doch nur zur Reform
des Gerichtsverfahrens dienen sollen, durch hineingeraffte Bestimmungen zu
verbessern, hatte die Commission auch das Schiff des Einführungsgesetzes mit
schwerem Ballast beladen. Sogleich im § 1 hatte man abweichend von der
Regierungsvorlage und abweichend von den durch die Commission bis zum
Beginn der Reichstagsession gefaßten Beschlüssen die Bestimmung hineinge¬
tragen, das Gerichtsverfassungsgesetz solle spätestens am 1. October 1879 in
Kraft treten. Nun erinnere man sich, daß in das Gerichtsverfassungsgesetz
die Commission bereits Bestimmungen hineingetragen, welche wie die Bruch¬
stücke einer Anwaltsordnung, wie die Zusammensetzung der Competenzhöfe,
nicht in Kraft treten können ohne die Mitwirkung der Gesetzgebung in den
Einzelstaaten. Diesen von der Commission und vom Reichstag gänzlich über-
sehenen Punkt führte der Bundesbevollmächtigte Justtzminister Leonhardt in
schlagender Weise aus. Er erzählte, wie er am Ende des Jahres 1869 durch
den damaligen Kanzler des Norddeutschen Bundes ersucht worden sei, die¬
jenigen Normen einer Gerichtsverfassung für den damaligen Bund auszu¬
arbeiten. welche zur Einführung einer einheitlichen Civilproeeßordnung er¬
forderlich sein würden. Der Justizminister theilte weiter mit, wie er sich als¬
bald überzeugt habe, daß diese Normen auch die Voraussetzungen der Straf-
rechtspflege umfassen müßten, und dann noch weiter, daß dazu nicht weniger
als eine vollständige Gerichtsverfassung nebst Anwaltsordnung, Notariats-
ordnung und Gebührenordnung gehöre. Bei einer späteren Conferenz der
Justizminister der Staaten des inzwischen gegründeten Reiches fand die Ma¬
jorität, daß der preußische Justizminister bei den Entwürfen, die er zur Her¬
stellung eines vollständigen deutschen Gerichtsorganismus ausgearbeitet, die
Competenz des Reiches überschritten habe. Durch das Gesetz vom 20. De¬
zember 1873 wurde alsdann allerdings das gesammte bürgerliche Recht in
die Reichscompetenz einbezogen, nicht aber die vollständige Gerichtsverfassung.
Ganz mit Recht führte nun der preußische Justizminister aus, daß, wenn
man in die Gesetze zur Herstellung eines einheitlichen Gerichtsverfahrens solche
Bestimmungen aufnehmen wolle, für welche die Competenz bestritten wird,
dazu mindestens noch ein Ausführungsgesetz gehöre. Sonst kann leicht der
Fall eintreten, daß ein Reichsgesetz erlassen ist. welches die Reichsregierung
auszuführen keine Mittel hat, weil ihr gegen die gesetzgebenden Organe der
Einzelstaaten keine Zwangsgewalt zusteht. Mit der Klarheit und mit der
lebendigen Anschauung der Rechtsverhältnisse, welche den Minister Leonhardt
stets als geistvollen Mann und sein Fach in seltener Weise beherrschenden
Minister kennzeichnen, zog er aus seinen Ausführungen den unvermeidlichen
Schluß, daß die Reichsgesetzgebung unter allen Umständen vermeiden müsse,
Gesetze zu schaffen, die etwa erst perfect werden sollen unter Mitwirkung der
Landesgesetzgebungen, über welche das Reich keine Macht hat. Es ist an sich
schon ein Widerspruch, daß ein Gesetzgeber zum anderen sagen soll: jetzt mache
ein Gesetz nach dieser Vorschrift! Das Gesetz muß sich an die ausführende
Gewalt wenden, aber nicht wiederum an eine Gesetzgebung.
Gegen diese Gedanken, gegen welche ein vernünftiger Widerspruch schlechter¬
dings nicht möglich ist, erhob sich gleichwohl im Reichstag vielfältiger Wider¬
spruch. Der Minister hatte gesagt, durch die Festsetzung eines Etnführungs-
termines für die jetzt vereinbarten Justizgesetze werde die Reichsregierung in
eine Zwangslage gebracht: in die Zwangslage nämlich, die Vervollständi-
gungsgesetze zu den Justizgesetzen, ohne welche die letzteren nicht eingeführt
werden können, um jeden Preis mit den Landesvertretungen zu vereinbaren,
gleichviel welche unerfüllbaren Forderungen dabei von dieser oder jener Lan¬
desvertretung gestellt werden können. Denn der Reichstag würde wahr¬
scheinlich die Reichsregierung nicht entlasten wollen, wenn sie sich auf die
Unmöglichkeit berufen müßte, die nothwendigen Vervollständigungsgesetze mit
den Landesvertretungen nicht haben zu Stande bringen zu können. Diese
Zwangslage, die klar ist wie der Tag, wollte man im Reichstage nicht an¬
erkennen. Man stützte sich auf die ganz unstichhaltige Voraussetzung, daß
der gute Wille der Landesvertretungen nirgend versagen werde. Das Sich-
steifen auf diese Voraussetzung war um so befremdlicher, als man den im
Bundesrath vertretenen Regierungen von dem den Landesvertretungen so
reichlich geschenkten Vertrauen auch nicht das kleinste Tröpfchen gönnen
wollte. Vergebens erbat der Minister Leonhardt wenigstens soviel Vertrauen,
daß der Bundesrath das von ihm eingeleitete Werk der einheitlichen Juftiz-
gesetzgebung nicht im Stiche lassen und den bereits vollendeten großen Theil
der Arbeit durch Verschleppung oder Unterlassung der nöthigen Ergänzungen
unbrauchbar machen werde. Unter den Predigern des Mißtrauens that sich
bedauerlicherweise der Abgeordnete Laster hervor. Er meinte, der Bundesrath
sei eine anonyme Gesellschaft ohne jede Verantwortung, wodurch sich jeder
Grad des Mißtrauens gegen dieses Collegium rechtfertige und selbst gebiete.
Nun stehen aber die Namen der Bevollmächtigten zum Bundesrath jedes
Jahr im Reichsanzeiger, und in jeder Session erscheint das Verzeichniß der¬
selben unter den Drucksachen des Reichstags. Die Bevollmächtigten haben
freilich den Anweisungen ihrer Regierungen zu folgen. Allein die Regierung
eines Bundesstaates ist doch zehnmal verantwortlicher, zehnmal weniger ano¬
nym, als die Landesvertretung. Der Druck der allgemeinen Staatsbedürf-
ntsse und der öffentlichen Meinung lastet viel stärker auf den Regierungen,
weil jede Regierung trotz des möglichen Ministerwechsels weit mehr ein be¬
harrliches Subject ist, als die gewählte Landesvertretung es sein kann und
sein soll. Wahrhaft erstaunlich war, wie der Abgeordnete Laster aus der
Anonymität der Gesetzesvorbereitung in den Vorstadien den Vorwurf der Un-
verantwortlichkeit für die Reichsrezierung herleiten wollte. Als ob im voll¬
kommensten Einheitsstaate der Minister gehalten wäre, die Person oder die
Personen zu nennen, die er bei den ersten Vorarbeiten eines Gesetzes zu
Hülfe zieht, und als ob ein darauf gerichtetes Verlangen nicht geradezu un¬
sinnig wäre. Der Forderung nach Verantwortlichkeit ist über und über ge¬
nügt, wenn der Minister den eingebrachten Gesetzentwurf vertritt, d. h. als
sein Werk auf sich nimmt. Es würde einesthetls im Widerspruch mit der
Verantwortlichkeit stehen, wenn der Minister sich auf die Personen berufen
wollte, die ihm die Vorarbeiten geliefert; andererseits könnte kein Mensch
Minister sein, wenn er sich vom Reichstag die Hülfsarbeiter octroyiren oder
über die Wahl derselben vor dem Reichstag verantworten müßte. Dem
gegenüber war es reine Phrase, den an sich ganz richtigen Satz anzuwenden,
daß auf den ersten Entwurf sehr viel an komme. Sobald der Minister einen
Entwurf angenommen hat und vertritt, ist es sein Entwurf, und niemand
hat zu fragen, wie der Minister dazu gekommen. —
Ein Vorfall bei Berathung der Strafprozeßordnung, wobei ein schein¬
barer Widerspruch zwischen zwei Bundescommissaren hervortrat wurde sofort
wieder ausgebeutet, den Bundesrath, mit anderen Worten die Form der
Reichsregierung für unhaltbar zu erklären. Man will verantwortliche Mi¬
nister und bedenkt nicht, daß diese nur im Einheitsstaat fungiren können.
Während man sich scheut und mit gutem Grunde, an den Bundescharacter
des Reichs die Hand zu legen, curirt man unverständig gegen das Symptom,
welches aus dem Bundescharacter folgt, daß man nämlich, weil man eine
collective Souveränität in der Reichsregierung gegenüber hat, nicht noch ein¬
mal ein collegialisches Ministerium haben kann.
Die Reichsverfassung ertheilt jeder Regierung, die im Bundesrath über¬
stimmt worden, das Recht, ihre Anschauungen gleichwohl vor dem Reichstag
durch ihren Bundesbevollmächtigten vertreten zu lassen. Die Majorität des
Bundesraths aber, welche dem Reichstag gegenüber den Bundesrath als
solchen darstellt, soll einheitlich in den Reichstagsverhandlungen vertreten
werden. Dieser Punkt könnte und sollte schärfer geregelt werden. Aber das
ist schließlich eine Geschäftsordnungsfrage. —
Die Collectivsouveränität hat gewiß ihre Uebelstände. Aber sie ist eine
Folge der deutschen Geschichte, und es giebt keinen Weg sie zu beseitigen, als
die Revolution. Was will man also? Will man Minister, die verantwort¬
lich sind, aber nichts ausrichten können? Will man, was doch jedenfalls der
Gedanke ist, verantwortliche Minister mit den vollständigen Befugnissen der
Regierung, so muß man erst den Einheitsstaat einführen. —
Die anscheinend so äußerliche Frage, ob für die Einführung der Justizgesetze
jetzt schon ein Termin festgesetzt werden soll, hat also durch die Antwort,
welche der Reichstag gegeben, eine verhängnißvolle Bedeutung gewonnen. Das
Nichtige wäre jedenfalls gewesen, die Ergänzungen zu den jetzigen Justizgesetzen,
deren Einbringung in der nächsten Legislatur dieReichsregierung zugesagt, alsdann
unter nochmaliger Erwägung der R eichscompetenz zu vereinbaren und danach
den Einführungstermin festzusetzen. Statt dessen ist man davon ausgegangen,
daß die Reichsregierung, oder was dasselbe ist, die Bundesregierungen ihr
Versprechen nicht halten werden, die Ergänzungsgesetze einzubringen. Und
doch sind es dieselben Regierungen, mit denen man im freien Zusammen¬
wirken bereits eine große Reihe der eingreifenden Reformen zu Stande ge¬
bracht und jetzt wieder die Justizgesetze eingeleitet hat. Man verläßt den
Weg ersprießlichen, vertrauungsvollen Zusammenwirkens und begiebt sich
aus unbegreiflichen Motiven, sei es Doktrinarismus, sei es Händelsucht,
sei es die willkürliche Borstellung fernliegender Gefahren, auf den Weg des
Streites. —
Aber es war für das kurze Einführungsgesetz zur Gerichtsverfassung noch
nicht der beschwerenden Last genug. Man mußte auch noch einen Paragraphen
einfügen, welcher den von der preußischen Landesgesetzgebung gegen die ge¬
richtliche Verfolgung der Beamten errichteten Schutz aufhebt. Man kann
diesen Schutz für sehr überflüssig und sogar für höchst schädlich halten.
Daraus folgt noch lange nicht, daß der Reichstag competent ist, denselben
aufzuheben. Wenn dem Reichstag die Befugniß durch die Verfassung bei¬
gelegt worden, das Gerichtsverfahren zu ordnen, so kann man daraus nicht
wohl die Befugniß folgern, den Bundesstaaten zu verbieten, gewisse Aus¬
nahmen vom ordentlichen Gerichtsverfahren im Staatsinteresse festzustellen.
Eine durchgehende Regel für die Abgrenzung der Verwaltungsjustiz und der
ordentlichen oder eigentlich der Privatjustiz könnte nur die Reichsverfassung
aufstellen. Bei dieser Frage, ob die Staatsbeamten ohne Weiteres vor den
ordentlichen Gerichten belangt werden dürfen, war es nun wieder der Abge¬
ordnete Gneist, der alle Donnerkeile seiner juristisch-sittlichen und staats¬
philosophischen Ueberzeugung gegen die bedingte Ausnehmung der Beamten
vom ordentlichen Gericht schleuderte. Man kann ihm ja vollständig Recht
geben, aber die schwache Seite bei diesem bedeutenden Staatslehrer und
Staatsdenker ist immer die Anwendung auf die gerade vorliegende praktische
Frage. Die Donnerkeile treffen nie den kleinen praktischen Punkt. Es mag
zehnmal wahr sein, daß der Justizminister Simons seiner Zeit kein gutes
Werk gethan, als er die Ausnahmestellung der Beamten nach französischem
Muster in Preußen einführte. Es mag vortrefflich sein, zur alten deutschen
Rechtsgewohnheit zurückzukehren. Nun aber handelt es sich gerade darum,
ob es zulässig ist, diesen Weg durch eine beiläufige Bestimmung zu öffnen
in einem Gesetz, das mit der Grenze zwischen Justiz und Verwaltung nichts
zu thun hat, und durch die Initiative des Reichstags, dessen Competenz, die
Grenze der Verwaltung für die Einzelstaaten zu ziehen, mindestens zweifelhaft
ist. Dabei ist derselbe Abgeordnete der überzeugteste Gegner der Beengung
der Staatsbeamten in ihrem Beruf durch die Privatjustiz, und der glänzendste
Anwalt der pflichtmäßigen Freiheit der Verwaltung. Auch für diese Ueber¬
zeugung weiß er die Donnerkeile zu handhaben. Aber er meint, deutsche
Gerichte würden nie die chikanöse Verfolgung der Beamten zulassen oder sich
dazu hergeben. Zu solcher Sicherheit der Gerichte gehört aber ein klares,
materielles Recht. Ohne dieses wird man die Gerichte durch Zurückgabe
einer Befugniß, die sie allerdings lange Zeit besessen, aber nicht mehr in der
Zeit aufgeregten Parteilebens, in schwere Verlegenheit bringen. Der Reichs¬
tag aber folgte dem glänzenden Redner, der, wie ihm so oft begegnet, aus
einem ganz anderen Zusammenhang der Ueberzeugung heraus zum Führer
einer oberflächlich begründeten populären Stimmung wurde, und achtete nicht
auf die maßvollen und schlagenden Bedenken des preußischen Bundesbevoll-
nächtigten. — Das Einführungsgesetz ist zum Untersinken befrachtet und
überfrachtet. —
Die Strafproceßordnung, deren Berathung die Sitzungen der vergangenen
Woche ausgefüllt hat, soll den Gegenstand des nächsten Briefes bilden.
Ein Zusammensturz ohne Gleichen war der Untergang des Deutsch¬
ordens-Staates von Alt-Livland in annähernd vier Jahren von 1568 bis
Ende 1S61. Einigermaßen läßt sich damit der furchtbare Fall Preußens
1806/7 zusammenstellen; doch erlauben zwei Verschiedenheiten keinen Vergleich.
Preußen erlag einer Nation von mindestens gleicher, wenn nicht überlegener
Kultur, Livland einer durch den Willen eines Despoten zusammengetriebenen
Barbaren-Horde. In Preußen raffte sich das Volk unter dem schweren Drucke
der Fremden zu neuer Kraft und Widerstandsfähigkeit empor, einmüthig und
kein Opfer scheuend erhob es sich nach wenigen Jahren und errang sich die
Freiheit und Selbständigkeit wieder. Die Alt-Livländer dagegen waren durch
den langen Frieden, dessen sie genossen hatten, und durch den Reichthum, den
dieser ihnen brachte, so tief in Selbst- und Genußsucht versunken, daß sie sich
selbst durch die furchtbarsten Schläge, denen je ein Kulturvolk von Barbaren
ausgesetzt war, nicht zu Eintracht und mannhaften Widerstande ermuntern
ließen.
Die Charakteristik, die zeitgenössische Schriftsteller von ihnen entwerfen,
kann man nicht ohne Schmerz, Zorn und Verachtung lesen. So sagt Rüssow ,
bis 1600 Pfarrer in Neval, die Deutschen (in Livland) seien gewaltige Krieger
im Saufen. Als es sich darum gehandelt, einen Frieden zu erkaufen, habe
niemand von seinem Mammon einen Thaler dazu geben wollen; als sie
später in ihrer Angst Geld geboten, habe der Moskowiter nicht gewollt;
ohne Schwertstreich, aus Leichtfertigkeit, aus Verrätheret seien Städte und
Schlösser übergeben worden. Und ein Volkslied aus der Zeit spottet: ^
„Das Schwert hängen sie an die Wand,
„Die Klopfkannen nehmen sie an die Hand;
„Und wer wohl saufen und pochen kann,
„Den thun sie höchlich preisen,
„Ihres Ordens Oberster muß er sein,
„Sie halten ihn für ein Meister."
All ihre Hoffnung der Erlösung aus der entsetzlichen Noth setzten die
Livländer auf fremde Hilfe. Sehr wohl erinnerten sie sich setzt ihrer Zuge¬
hörigkeit zum Reich, die sie im Glück öfter vernachlässigt hatten, indem sie
sich der- Beitragspflicht zu den Reichssteuern entzogen. Außer dem deutschen
Reich wurde Dänemark in Anspruch genommen; lange vergebens wurde dann
mit Schweden unterhandelt, dessen greiser Heidenkönig Gustav Wasa des Reiches
Wohlfahrt nicht in seinen alten Tagen noch durch einen Krieg mit dem ge¬
waltigen moskowitischen Bären auf das Spiel setzen wollte. Erst nach seinem
Tode übernahm 1561 Erich XIV. den Schutz des nördlichsten Theiles von
Livland, seitdem Estland genannt, gegen den schrecklichen Zaren, aber unter
der Bedingung der Unterwerfung unter seine Herrschaft. Nicht so zurück¬
haltend waren die Polen und die mit ihnen damals nur noch lose verbun¬
denen Litauer; schon 1559 hatten sie einzelne Landestheile besetzt und in
Pfand genommen, gegen die Russen, mit denen sie im Waffenstillstande lebten,
aber nichts unternommen. Sie setzten sich dann immer weiter im Lande fest,
bis sie endlich mit der Forderung der vollständigen Unterwerfung heraus¬
rückten, die ihnen bekanntlich auch am 28. November 1561 — „vorbehaltlich
der Zugehörigkeit des Landes zum römischen Reich" — geleistet wurde und
zwar von dem jetzt vorzugsweise Livland genannten Hauptlande unmittelbar,
von dem südlich der Dura gelegenen, nunmehr Kurland genannten Theile
mittelbar, indem der bisherige Ordensmeister Kettler die Regierung desselben
als Herzog übernahm. Aus dem Vorbehalt der Rechte des römischen Reiches,
der bei allen Verhandlungen gemacht wurde, noch mehr aus der standhaften
Weigerung Riga's, dem Vertrage mit Polen beizutreten, indem es sich bis
1581 als freie Reichsstadt seine vollständige Unabhängigkeit wahrte, erhellt
freilich, mit welchem Widerstreben sich die Livländer den Fremden beugten.
Aber das tiefste Gefühl der Anhänglichkeit konnte nichts nützen, wenn es
nicht zu rechter Zeit sich durch Thaten bewährte, wenn man nicht durch
zeitige Rüstung zu dem längst vorherzusehenden Kampf, durch Opferwilligkeit
und durch einträchtiges Zusammenstehen das Glück des Verbandes mir den
Stammgenossen des Mutterlandes sich zu erhalten vermochte.
Freilich das Mutterland that auch seine Schuldigkeit nicht, besonders
ließ es die höchste Reichsgewalt daran fehlen. Ueber drei Verhandlungen
der livländischen Angelegenheit in der Zeit der Russennoth vor dem deutschen
Reichstage berichtet A. v. Richter in der „Geschichte der deutschen Ostsee¬
provinzen" (Riga, N. Kymmels Buchhandlung). Im Jahre 1553. als die
Gefahr noch von fern drohte, wandten sich der Ordensmeister v. Galen und
der Bischof von Dorpat mit ihrem Htlfegesuch an das Reich. Der in Ulm
versammelte Reichstag brachte darauf nur Beschwerden gegen die Livländer.
darüber vor, daß das Reich von ihnen niemals Geld- oder sonstige Hilfe
erhalten hatte. Der Kaiser seinerseits entschuldigte sich mit der Türkengefahr
und begnügte sich damit, die Dörptschen und Ordensprivilegien zu bestätigen,
den Ordensmeister und den Bischof in seinen besonderen Schutz zu nehmen,
die Ausfuhr von Kriegsbedürfnissen nach Rußland zu verbieten und Livland
dem Schutze Schwedens zu empfehlen. Damit war dem Lande wenig genützt.
Im Jahre 1359, als der Nothruf der Livländer schon durch ganz Eu¬
ropa schallte, fanden die Abgesandten des Ordens und des Erzbischofs von
Riga bei dem Reichstag zu Augsburg etwas mehr williges Entgegenkommen,
das sich aber nur in dem Beschluß äußerte, den Zaren durch ein kaiserliches
Schreiben aufzufordern, von den Feindseligkeiten abzustehn und die eroberten
Landestheile zurückzugeben, die Könige von Spanien, England, Dänemark,
Schweden und Polen, sowie die Seestädte (die Hansa) zu ersuchen, Livland
zu unterstützen und endlich demselben eine Beihilfe von 100.000 Gulden zu
gewähren, welche die Städte Hamburg, Lübeck und Lüneburg vorschießen sollten.
Dieser Beschluß beweist, wie lief schon damals das deutsche Selbst- und
Ehrgefühl gesunken war und wie kraftlos der noch immer so große Reichs¬
körper sich fortschleppte. Der Erfolg des Beschlusses war selbstverständlich
gleich Null. Der Zar gab eine kurzabweisende Antwort auf das kaiserliche
Schreiben, und das Geld kam nicht zusammen.
Der Beschluß des Reichstags zu Speier im folgenden Jahre stimmte
im Wesentlichen mit dem vorigen überein und hatte auch denselben Erfolg.
Die Aufbringung der früher bewilligten 100.000 Gulden sollte beschleunigt,
außerdem aber sollten noch 200,000 Gulden zur Anwerbung von Hilfstruppen
für Livland zusammengebracht werden. „Als Deutscher", bemerkt hierzu Otto
v. Ruten berg in seiner „Geschichte der Ostseeprovinzen" (Leipzig bei W.
Engelmann), „schämt man sich zu sagen, daß in Folge des Reichstagsbe¬
schlusses von Speier zwar viel Papier verschrieben worden, daß aber nie ein
baarer Gulden oder ein ausgerüsteter Kriegsknecht nach Livland gekommen."
Dann aber fährt er fort: „Man schämt sich doppelt, wenn man das un¬
heimliche Gefühl im Busen trägt, ^aß der Bundestag in Frankfurt in unseren
Tagen unter ähnlichen Umständen ebenso viel schreiben und ebenso wenig
handeln würde, wie der Reichstag zu Speier damals gethan."
So über die Lage Deutschlands zu urtheilen, hatte der deutsche Patriot
im Jahre 1860, als er dieses schrieb, allen Grund. Dagegen jetzt! Wie ein
Märchen aus längst vergangener Zeit erscheint uns der Jammer, dem eine
ruhmvolle Geschichte von kaum acht Jahren seit noch nicht anderthalb Jahr»
zehnten hoffentlich für immer ein Ende machte. Schon der alte Bundestag
übertraf 1863 unter der stürmischen Erregtheit des deutschen Volkes und
unter der Leitung des seitdem so überraschend erfolgreich wirkenden Staats¬
manns alle Erwartung, indem er den Schleswig-Holsteinern, die sich in einer
annähernd ähnlichen Lage befanden, wie die Alt-Livländer um 1360, be¬
waffnete Hilfe und Befreiung vom Joch der Fremden brachte. Dann aber
wurde er unter den wuchtigen Schlägen der gewaltigen Preußen in alle
Winde zersprengt und an seine Stelle eine Verfassung gesetzt, die wenn sie
auch in vielen Beziehungen Wünsche unbefriedigt ließ, dem Auslande gegen¬
über doch die Kraft und den Willen zur Geltung kommen ließ, überall die
Angehörigen des neuen Reichs in ihren Rechten zu schützen. Freilich giebt
es noch — welcher Deutsche sollte das nicht wissen und schmerzlich empfinden!
— eine Stelle auf der Karte Europas, wo ein ganzer achtungswerther Ast
des deutschen Stammes von einem kleinen, der Kultur wenig zugänglichen
Volke schwer gemißhandelt und seiner Rechte beraubt wird. Aber die sieben-
bürgischen Sachsen gehören nicht zum neuen und haben auch nie zum alten
deutschen Reiche gehört, und wir können sie um so weniger gegen ihre
Peiniger schützen, als sie auf den Schutz ihres eignen deutschen Herrscherhauses
angewiesen sind und einen mächtigen Rückhalt an den Stammgenossen be¬
sitzen, die mit ihnen seit Jahrhunderten staatlich verbunden sind. Giebt das
deutsche Oesterreich seine treusten Mitbürger und Blutsverwandten den Frem¬
den preis, wie kann Deutschland über den Kopf seines Bundesgenossen hin¬
weg ihnen Beistand leisten? Immerhin können die Herren Magyaren dessen
sicher sein, daß der Tag kommen wird, an dem sie die tiefe Verletzung un¬
seres Nationalgefühls durch ihr schnödes Verfahren in Siebenbürgen noch
schwer bereuen werden.
Doch kehren wir zu dem deutschen Tochterlande Livland zurück, indem
wir zunächst unserer Genugthuung darüber Ausdruck geben, daß dasselbe
uns, zur Zeit wenigstens, keine Sorgen wegen Unterdrückung unserer Stamm¬
genossen verursacht. Gewichtige baltische Stimmen bekunden, daß die russische
Regierung in den letzten Jahren ihre Russifizirungsmaßregeln im wesentlichen
eingestellt hat und daß die Ballen einerseits ihr gegenüber beruhigt sind,
anderseits in ihrem konservativen Sinne und in ihren zurückgebliebenen
politischen Anschauungen durch die vielfachen Verletzungen des historischen
Rechts und die rasche Auflösung veralteter Formen von Preußen sich lebhaft ab¬
gestoßen fühlen. Daß manche unter ihnen dennoch die Herrschaft der Frem¬
den unerträglich finden, ist sehr natürlich. Einen Beleg dafür liefert die
Verlegung der „Dörptschen Zeitung" von Dorpat nach Lübeck, indem ihr
Besitzer, Herr W. Gläser, dahin ausgewandert ist und sie nun unter dem
Titel „Livländischdeutsche Hefte" herausgiebt. Die zwei ersten Hefte liegen
uns vor; sie bieten eine ganze Anzahl von Aufsätzen, welche Ereignisse und
Charaktere aus der älteren und neueren Geschichte Livlands schildern. Der
Ton, in dem sie versaßt sind, ist ein deutsch-patriotischer, der den Russen frei-
lich nicht gefallen kann und der es erklärlich macht, wenn auch freilich nicht
rechtfertigt, daß die „Livländischdeutschen Hefte" in Rußland verboten sind.
Was uns in den beiden Heften am meisten interessirt, das ist im zweiten
der Aufsatz „Ein offener Schutzbrief des Römischen Kaisers für das Deutsche
Livland 1561." Daraus erhellt nämlich nach Urkunden, welche der Verfasser
im Stadtarchiv von Lübeck eingesehen, daß die Livländer vor ihrer Unter¬
werfung unter die fremde Herrschaft, von deutscher Seite doch erhebliche Unter¬
stützung erhalten haben, allerdings nicht vom Reich, aber von einem seiner
mächtigsten Glieder, von der Hansa. Würdig machten sich die Inländischen
Städte, denen sie zuging, derselben nicht, weder durch Bundesfreundlichkeit
noch durch verständige Befolgung des vom Vorort kommenden Rathes, sich
der Barbarengefahr gegenüber zu einer festeren Einheit unter dem Ordens¬
meister zusammenzuthun. In ersterer Beziehung verweigerten sie standhaft
den hansischen Bundesgenossen den Handel mit Rußland, indem sie denselben
für sich allein in Anspruch nahmen. Die Revaler gingen, als Narwa 1SS8
von den Russen erobert und somit eine russische Hafenstadt geworden war,
sogar so weit, lübecker Schiffe, die mit Waaren dorthin segelten, in Beschlag
zu legen. In größerem Sinne haben die Hanseaten diese selbstsüchtige Unge¬
bühr mit bundesbrüderlichem Beistand vergolten.
In den „Livländischdeutschen Heften" sind die bezüglichen Thatsachen im
genauen Anschluß an die archivalischen Quellen aufgeführt, und wir geben einige
von diesen, wie wir sie dort finden, wieder. Im Juli 1SS8 erbittet sich Reval
von Danzig in seinem Kriege gegen die Moskowiter Unterstützung an Mu¬
nition, besonders vier kupferne halbe Schlangen auf Rädern und dazu Pulver
und Kugeln, deren Größe aus einer Zeichnung sich ergiebt; zugleich soll der
von Reval bevollmächtigte Peter thor Harem 200 Bootsleute, darunter we¬
nigstens 20 gute Schiffsbogenschützen, anwerben, deren Gesammtheit eine
Woche später auf 300 Mann erhöht wird. Im September dankt Reval für
die gesandte Munition und bittet um weitere Unterstützung. Für die Ge¬
währung der hier weiter aufgeführten Unterstützungsgesuche finden sich in
unserer Quelle meistens keine Danksagungen oder Empfangsbescheinigungen,
doch können wir sie mit dem Verfasser des Aufsatzes als bewilligt ansehen.
Auch Riga erhält in derselben Zeit von Danzig Pulver und sechs geschmie¬
dete Falkonette; im folgenden Winter ersucht Riga Danzig, sich als Quartier¬
stadt bei Elbing und Thorn dafür zu verwenden, daß diese preußischen Städte
ihm eine Anleihe von mehreren tausend Thalern gewähren.
An Reval zahlt Danzig als Quartierstadt zur Unterstützung in seiner
Kriegsnoth 60 Rthlr. aus Braunsberg und 200 Rthlr. aus Königsberg.
Aus dem Hansetage zu Lübeck im I. 1559 entschuldigt Riga sein Nicht¬
erscheinen mit der großen Kriegsgefahr. Reval ist dagegen vertreten und
wird von dem danziger Gesandten unterstützt. Es wird der Beschluß gefaßt,
für die bedrängten Bundesmitglieder Riga und Reval eine fünfjährige Contri-
bution aufzubringen, die nach der alten Taxe, aber auf einmal zu erheben
sei. Für das eingehende Geld wurden in Danzig Soldaten geworben.
Am 4. Februar 1360 bittet Reval, „im dritten Jahre des Krieges gegen
die Moskowiter", den Rath von Danzig, Entsatz und Zufuhr von Viktualien
nach Livland zu gestatten; im September leiht es zwei Last Salpeter und zehn
Schiffspfund Blei und ersucht ein Schiff mit Viktualien zu befrachten. Im
Januar 1661 dankt Reval für die geleistete Zufuhr an Viktualien; aber ein
mit Schwefel und Salpeter beladenes Schiff ist bei Oesel an einem Holm
gestrandet.
Ein flüchtiger Einblick in ein einzelnes hanseatisches Archiv hat, wie
W. Glaser bemerkt, Urkunden mit vorstehenden Nachrichten geliefert, welche
den innigen Zusammenhang zwischen Livland und Norddeutschland erkennen
lassen. Das ganze althanstsche Gebiet in weiter Ausdehnung von Reval bis
Köln steht mit Geld und Gut, mit Kriegsvolk und Waffen für die vom
Moskowiter hart bedrängten livländischen Landsleute und Genossen ein. Nur
die Leitung, die einheitliche Zusammenfassung der gewaltigen Kräfte fehlt;
so ist alles vergebens; das deutsche Livland geht als Staat verloren. Aber
die tüchtige kleine Gemeinde dort von deutscher Art und deutschem Sinn bleibt
aufrecht in der Noth und Drangsal der nächsten drei Jahrhunderte.
Wir beginnen auch dieses Jahr unsre Weihnachtsbücherschau mit den
Kinder- und Jugendschriften und nennen hier auch diesmal in erster
Reihe die im Verlage von Alphons Dürr in Leipzig von Julius Lohmeyer
herausgegebene „Deutsche Jugend", eine illustrirte Monatsschrift für die
Kleinen, die in nun vollendeten acht Bänden und in einem begonnenen
neunten Band alle die Versprechungen erfüllt hat, welche Verleger und
Herausgeber beim ersten Erscheinen der „Deutschen Jugend" in ihrem Pro-
spect veröffentlichten. Diese Monatsschrift hat immer darnach gestrebt, die
besten Textbeiträge mit wirklich vorzüglichen Bildern zu vereinigen. Die
namhaftesten Schriftsteller und Künstler sind Mitarbeiter der „Deutschen
Jugend." Mitunter erscheint allerdings der Inhalt (größerer Erzählungen,
der Knackmandeln u. f. w.) nicht ganz jugendlich genug. — Einige der besten
Märchen und Lieder, die Julius Sturm in die „Deutsche Jugend" ge¬
stiftet, mit andern Sachen desselben Autors vereinigt, sind in derselben Ver¬
lagshandlung soeben, reich illustrirt von Thumann, Flinzer, Pietsch, Ludwig
Richter, Bürkner u. A., unter dem Titel „Das Buch für meine Kinder"
als sehr passendes Weihnachtsgeschenk erschienen. Auch Oskar Pietsch hat
ein neues Kind seiner Muse, „Unser Hausgärtchen" in demselben Ver¬
lag den Lebensweg antreten lassen, das uns besonders freut, weil es, im
Gegensatz zu mancher früheren Jahresgabe dieses Künstlers, die einen
Stillstand, ein Einspinnen in Manier verrieth, einen erheblichen Fortschritt
in dem Wirken des Künstlers bekundet. Die landschaftliche Beigabe ist
nicht nur wesentlich reicher als früher, auch die Ktndergestalten find
viel origineller und individueller gehalten. Blätter wie „Sinnpflanze",
„Kornblume", „Vergißmeinnicht" und vor Allem „Unkraut", gehören unsres
Erachtens zu dem besten, was Pietsch gezeichnet hat. An dem unerschöpflichen
Hausschatz, welchen die Gebrüder Grimm in ihren Märchen der deutschen
Nation hinterlassen haben, übt bekanntlich die Firma Ferd. Dümmler in
Berlin das irdische Verlagsrecht. Bon den zahlreichen Ausgaben dieses köst¬
lichen Buches erwähnen wir die bis jetzt leider nur auf sechs Bändchen ge-
diehene Ausgabe, in der jedes Märchen mit vier großen farbigen Bildern und
sehr deutlichem Schuldruck stark kartonnirt erscheint. — Unter den Märchen¬
büchern, welche außer den bekanntesten durch die Gebrüder Grimm ge¬
sammelten einige der schönsten neueren Märchen enthalten, die dem
Horizont des Kindes wirklich entsprechen, erscheint uns bis jetzt das bet
Flemming in Glogau verlegte Märchenbuch von Godin nach Auswahl,
Form, Illustration und Ausstattung unübertroffen. Auch das wiederholt
von uns erwähnte „Roggenkörnlein" (desselben Verlags) von Jahde,
dessen reizende Bilder und Verse sich zur Anknüpfung der bedeutsamsten Be¬
lehrungen und Fingerzeige an das Kind eignen, ist durch die diesjährige
Novität desselben Verfassers „Häschen im Kraut" lange nicht erreicht. Da¬
gegen versucht Hermann Wagner in „Herzblättchens Naturgeschichte"
(Glogau, Flemming) für ein reiferes Alter Aehnliches zu bieten. Und die
Jugenderzählungen und Jahreswerke (Töchter-Album u. s. w.), die Thekla
von Gumpert in demselben Verlag herausgiebt, sind so frisch und mit
derselben Sorgfalt illustrirt, wie die früheren.
Besondere Sorgfalt hat auch die Verlagshandlung von Velhagen Klasing
w Bielefeld und Leipzig auf ihre Jugendschriften verwendet. Fast durchweg
^scheinen diese Schriften in ganz neuem Gewände, in wirklich stilvollen Ein¬
bänden , auch die älteren. Eine sehr nachahmenswerthe Neuerung! Wenn
K>ir an die Märchenliteratur, die soeben Erwähnung fand, anknüpfen, so hat
^eher Verlag in dem von uns oft schon rühmend erwähnten „Märchen-Lie-
der- und Geschichtenbuch von Robert N einick eine reiche Quelle von edler
Unterhaltung und Belehrung der Jugend zu bieten. Auch dieses Jahr ist
eine neue Auflage des Buches nöthig geworden. Außerdem finden wir hier
die beliebten „Beschäftigungsbücher" für Knaben, von „des Kindes erstem
Beschäftigungsbuche" (von Barth und Niederley) an, bis zu der Krone der
jugendlichen Fingerfertigkeit, wo die Geschwindigkeit anfängt, Hexerei zu werden;
der Knabe erreicht diesen Gipfel der Vollendung mit Hülfe des neuesten
Klasing'schen Verlagswerkes auf diesem Gebiete: „der junge Tausendkünstler"
von Fritz Anders. „Robert der Schiffsjunge", ein ebenso mannigfaltig
belehrendes als patriotisches Buch von Wörishöffer ist einer gänzlich
neuen Bearbeitung und Ausstattung unterworfen worden. Dann finden wir
in diesem Verlage die bekannten gemüthvollen und in hohem Grade fesseln¬
den Schriften für junge Mädchen von Clementine Helm („Prinzeßchen
Eva", „Schneewittchen und Dornröschen") von Eva Hartner („Penston und
Elternhaus") und von Charlotte Regenstein („zur Stütze der Hausfrau", nicht
todte Weisheitsregeln, sondern eine geschickte Erzählung). Endlich und
hauptsächlich verweisen wir auf die tüchtigen Bücher dieses Verlages, welche
den geschichtlichen Sinn der Jugend beleben. Da sind neben Ro dert König s
treu nach der großen Zeit erzählten „Meister Schott und seine Familie" (deren
Erlebnisse während der Straßburger Belagerung 1870 berichtet werden), vor
allem erwähnenswert!) die beiden neuesten Berlagswerke auf diesem Gebiete:
„DerBannerherrvonDanzig" von F. Sonnenburg mit acht Holz¬
schnitten, eine Erzählung aus der deutschen Vergangenheit und „Venezia,
die Königin der Meere", Bilder und Schilderungen aus der Geschichte Ve¬
nedigs von W. Gutschard, mit guten Bildern von Knackfuß, ein statt¬
liches, sehr lesenswerthes Buch.
An ein reifes Alter wendet sich das sorgfältige Buch von Dr. I. Baum¬
garten in Coblenz „Robim Jouets abenteuerliche Fahrten und Erleb¬
nisse in den Urwäldern von Guyana und Brasilien" (Stuttgart, Rieger'sche
Verlagshandlung). Es ist gar nicht zu vergleichen mit den Robinsonaden,
die zu Hunderten fabricirt und auf den Markt geworfen werden, sondern es
enthält die Umarbeitung der streng wissenschaftlichen Forschungsreise von
Emile Carrey (der ja auch einen Theil seiner wissenschaftlichen Reisen in der
Form des Romans veröffentlichte, als „^ventures ac Robim 5vuot" u. s. w.)
und ist ergänzt durch die Forschungen und Reiseberichte eines^ Bouyer, Agas-
siz, Brett, Jusselin, Wallace, Castelnau, Humboldt, Martins, Sy-r u. s. w-
Die 24 Stiche, die das Werk zieren, sind von Girardet künstlerisch entworfen.
Nur mit dem Enthusiasmus des Verfassers für Friedrich von Hellwald
und die Auswanderung nach Brasilien können wir uns nicht einverstanden
erklären.
Für erwachsene Mädchen hat die Grunow'sche Verlagshandlung in Leip¬
zig auch dieses Jahr eine treffliche Weihnachtsgabe veranstaltet inWieland's
Erzählungen von F. Siegfried, dem Verfasser der Jllustrirten Mäd¬
chenbücher (Goethe's Erzählungen, Jean Paul's Erzählungen», die wir in den
Vorjahren bereits mit Freude begrüßt und empfohlen haben. Daß eine für
die erwachsene weibliche Jugend bestimmte Auswahl aus Wielands erzählenden
Schriften vor Allem jenes feinen Taktes und sicheren Auges bedürfte, welche
F. Stegfried bereits in den früheren Bänden in so reichem Maße als seine
Gaben bekundete, bedarf für die Kenner der Wieland'schen Schriften nicht
erst der Erwähnung. Schwieriger war diese Aufgabe als irgend eine der
früheren. Aber sie ist sehr befriedigend gelöst worden. In der That, aus
dem Grabe des „nettesten von Weimar" sprossen unverwelkliche Blumen ge¬
nug, um der weiblichen Jugend einen vollen Kranz bieten zu können. Sechs
Tonbilder nach Zeichnungen von Heinrich Merk^ zieren das Buch. Auch
auf die in demselben Verlage erschienenen trefflichen patriotischen Erzählungen
von L. Pichler aus den Tagen der alten und neuen deutschen Kaiserherrlich-
keit, die soeben in geschmackvollem neuem Gewände ausgegeben sind, mag
hier empfehlend Bezug genommen werden.
Wir sind damit bereits aus dem Kreis der Jugendliteratur heraus¬
getreten. Für Erwachsene gedichtet, aber doch von Heranwachsenden am
liebsten gelesen, steht jene Phantasie- und poesiereiche Nipptisch-Literatur aus
dem Verlage der Gebr. Paetel in Berlin, jene trefflichen kleinen Sachen von
Storm, Putlitz, Imsen u. s. w., von denen einzelne es beinahe zu so viel
Auflagen gebracht haben, wie Bodenstedt's Mtrza Schaffy. Einige der besten
Erzählungen, welche die „Deutsche Rundschau" in jüngster Zeit gebracht
hat, sind nun gleichfalls in dieser Nipptisch-Ausstattung (im Paetel'schen
Verlag) erschienen, so „Höher als die Kirche" von W. v. Hillern, und die tiefe,
feine Erzählung von Th. Storm, „^«mis sudmersus". Als eine ganz be¬
sonders hervorragende epische Dichtung, welche die Beachtung der erlesensten
deutschen Gesellschaft verdient, bezeichnen wir die im Verlag von A. G. Liebes¬
kind in Leipzig erschienene Alpensage Zia lor og von R ud o is Baumbach.
Die freudige Frische, mit welcher der Verfasser die großartige Naturschönheit
der Alpennatur schildert, die feine Charakteristik der Haupt- und Nebenpersonen,
der Stimmung und Stoff geschickt angepaßte Wechsel des Metrums, die
Leichtigkeit der Verse und die Kraft der Sprache sind gleich anmuthig und
bedeutend an diesem kleinen Buche, welches der Verleger in Druck und Papier
mit gewohnter Sorgfalt ausgestattet hat. Nur die Charakteristik der blonden
Jerica, welche kaum „Mannes Liebe" kennt und dennoch ihre erste Liebe um
die güldene Kette eines venetianischen Fantes dahingiebt, leidet etwas an
slavisch-sagenhafter UnWahrscheinlichkeit. Beiläufig bemerkt, bieten auch die beiden
Bändchen „Enzian" desselben Verlags, auf welche wir in der fröhlichen
Reisezeit eingehender zurückkommen werden, eine Fülle heiterer und ernster
Bilder aus dem Bergsteiger- und Alpenleben. Sie enthalten das Beste jener
fliegenden Blätter, welche die Genossen des deutsch-österreichischen Alpenclubs
ihrem Verein gestiftet haben.
Von den illustrirten Prachtwerken, welche dieses Jahr den Weihnachts¬
tisch zieren, erwähnen wir außer dem altbewährten Deutschen Künstler-
Album (Düsseldorf, Verlag von Breitenbach Baumann), welches dieses
Jahr aus der Hand des Arabeskenkönigs Scheuren ein würdiges Gedenkblatt
an F. Freiligrath bringt, die beiden ihrem Abschlüsse nahen Lieferungswerke
»Elsaß-Lothringen" von Karl Stieler, illustrirt von Robert Aßmus
(Verlag von Paul Reff in Stuttgart) und „Das Schweizerland" von
Woldemar Kaden, mit Illustrationen von Alex. Calame, Heyn, Ecken¬
brecher, Riefstahl. Specht, Bankier, Bauernfeind u, (Verlag von J> Engel¬
horn in Stuttgart), welches das Concurrenzwerk des Bruckmann'schen Verlags,
Text von Gsell-Fels, um ein bedeutendes in Bild und Wort übertroffen hat.
Eine der schönsten Gaben aber, welche wir muthigen Unternehmern in flügel¬
lahmer Zeit verdanken, bietet die Grote'sche Verlagshandlung in Berlin in
Tennyson's Enoch Arten, trefflich in Versen übersetzt von Adolf
Strodtmann, und meisterhaft illustrirt von Paul Thu manu. Die
Bekanntschaft mit der wundervollen, tiefergreifender Dichtung dürfen
wir natürlich bet unserm Leserkreise voraussetzen. In demselben Verlage sind
die We rke Chamisso's, reich illustrirt, neu erschienen, ist die vortreffliche,
von Tschischwitz erläuterte Ausgabe der illustrirten Romane Walter
Scotts nun zum Abschluß gebracht. Ueber die reizende Humoreske Ho¬
le anter von Wilhelm R abe, welche derselbe Verlag vor einigen Monaten
(illustrirt) erscheinen ließ, sprechen wir uns noch eingehender aus. Als ein
ganz besonderes, wenn auch sehr beachtenswerthes Wagniß erscheint uns
die in C. F. Amelang's Verlag in Leipzig erschienene, von Dore illu-
strirte Prachtausgabe des „alten Matrosen" von F. Freiligrath.
Die Ausstattung ist untadelhaft, die Illustration im Guten wie im Bösen
für Dore' charakteristisch. Blätter von bezaubernder Anmuth und Poesie sind
darunter, aber auch viele von erschreckendem Realismus, und obendrein einem
Realismus, der unsrer Weihnachtsstimmung ziemlich fern zu liegen pflegt,
des Realismus des Verdurstens.
An reinen Kunstblättern ist die Festzeit dieses Jahres arm. Albert
Hendschel hat die Fortsetzung seines Skizzen-Buches verschworen, seitdem ihm
die biedern Holländer die Erzeugnisse seiner Kunst ungestraft — allerdings
auch scheußlich genug — nachdrucken und für den halben Preis auf den
Markt werfen. Die Arnoldische Buchhandlung, die alljährlich M arie Remy's
prächtige Blumenstudien herauszugeben pflegte, hat sich dieses Jahr mit
vier großen Kunst-Blättern der gefeierten Künstlerin begnügt. R. Wagner
in Berlin dagegen trotzt mit Recht der Ungunst der Zeiten mit dem alten
Liebling der deutschen Kunstfreunde. Von Hi ldebr an d's Aqu arel l e „Aus
Europa" sind auch dieses Jahr fünf Blätter erschienen, facsimilirt durch die
Kunst des Farbendrucks eines Loeillot und Steinbock, welche den berühmten
Blättern desselben Meisters von d.er „Reise um die Erde" unbedenklich an die
Seite zu stellen sind. Ja eines davon, die Fresh - Water-Bai. übertrifft an
Zeichnung und leuchtendem Glanz der Farbe das Meiste des bisher aus diesem
Pinsel bekannt gewordenen. Nur die längst in Privatbesitz übergegangene
köstliche Sammlung der Skizzen Hildebrand's von Madeira (die im Jahr 1868
mit 30,000 Thlr.'bezahlt wurde) bot fast durchweg eine ähnliche Befriedigung
wie dieses eine Blatt.
„Die Schöpfung der preußischen Flotte. — Die Schiffe, die Arsenale
und die Bemannung; von Paul Merruau" ist der Titel eines Aufsatzes
in der „Rsvuv clos cieux inorutW" im Heft vom l. Mai 1876. Die
Ass äsux mvnäes gilt nicht nur in Frankreich, sondern weit über
dessen Grenzen hinaus für eine gediegene, ernste Zeitschrift. Läßt sich aber
die Redaction verleiten, mehr wie mittelmäßige Arbeiten aufzunehmen, deren
Verfasser nur durch Ungezogenheiten gegen Deutschland und dessen Regierung
sich auszeichnen, so verdienen sie eine Züchtigung.
Der Verfasser beschreibt die Küsten der Ostsee, soweit sie vor 23 Jahren
preußisch waren, im Allgemeinen richtig, in einer kurzen Einleitung, die ganz
sachgemäß schließt. Nach dieser offenbar einem geographischen Handbuch für
die höhern Klassen einer Töchterschule entnommenen Schilderung begiebt sich
der Mann unglücklicherweise auf das Gebiet der Thatsachen, und da collidirt
seine Phantasie in einer Weise mit der brutalen deutschen Geographie, daß es
einen jeden gebildeten Oberquartaner schmerzlich durchschauern muß. Wir finden
da auf Seite 148 die überraschende Mittheilung, daß die Kieler Bucht der
einzige Ort ist an der ganzen Ostsee, der mit leichter Mühe uneinnehmbar
gemacht werden kann, und mitten zwischen Schleswig und Holstein
liegt. Mißtrauisch geworden — wir gehören zu dieser rs-ce vrussitmne sa-
Mes vt möüuntv — lesen wir, daß Holstein seit 1813 zu Dänemark ge¬
schlagen sei — da muß unser ausgezeichneter Professor Fromm im Kadetten¬
korps sich doch einmal geirrt haben, der meinte immer, das sei viel länger
her! — und daß Preußen, welches schon lange die Schleswig - holsteinische
Frage „bebrütet" hatte (1a ?russe la, 5omevtg.it), im gegebenen Moment sich
des prachtvollen Hafens, ohne einen Groschen Geld auszugeben, bemächtigt
habe. Edler Merruau,
„Anders als sonst in Menschenköpfen
Malt in deinem Kopfe sich die Welt."
Die Sache verhielt sich doch anders. Nun kommt wieder ein geographischer
Gedankenblitz von origineller Neuheit:... „diese Einbiegungen des Meeres (wie
die Kieler Bucht) finden sich zahlreich, besonders an den Küsten von Dänemark
und Schweden, man nennt sie „Fiords." — Edler Gallier, du irrst dich auch hier:
die „Fiords" sind eine Eigenthümlichkeit der Westküste Norwegens, und in ihrer
Entstehung. Form und Gestaltung gar nicht zu vergleichen mit den breiten,
flachen, gemüthlichen „Föhrden" Schleswig-Holsteins und Dänemarks. Nun aber
wird die Sache ernst; Merruau beschreibt die Kieler Bucht, wie sie jetzt ist. Da
wird nichts vergessen werden, jede Befestigung, kurz aber klar umrissen, hebt
sich aus den blauen Wellen, deutlich in ihren Details, vor dem entzückten
Leser. Hören wir: „Sehr breit.am Eingange, wird der „I^ora 60 Kiol"
späterhin schmaler, am schmalsten an einer Stelle, wo sich zwei Vorgebirge
gegenüberstehen. — Hier ist der Ort, wo man 1870 eine dreifache Barre
von Ketten, Flößen und Torpedos gezogen hatte." (Leider auch wieder nicht
wahr!) „Es giebt da eine Festung (tortörossö) Friedrichsort auf einer
Landspitze, rechts vom Eingange. Auf dem gegenüberliegenden Kap liegt
eine Redoute mit schwerem Geschütz. Die Meerenge dazwischen ist höchstens
7—800 Meter breit, (was Fahrwasser anlangt, nicht ein drittel) und man
müßte die jedenfalls im Kriege wiederhergestellte Wasserbarricade unter dem
Kreuzfeuer der beiden stark armirten Werke nehmen I" Plötzlich „stoppt"
aber der biedere Franzose und giebt „rückwärts Dampf", denn ganz un-
motivirt schleppt er seinen Leser, der sich harmlos eben auf den Torpedos
der Wasserbarricade einrichten wollte, wieder nach dem Ausgang der Kieler
Bucht, die immer noch zwischen: 1v Holstein c>,t, 1<z Llosvi^ liegt. Wir
werden gleich sehen warum. Merruau sagt: „Das Geschwader, welches diesen
verzweifelten Versuch unternehmen wollte, müßte aber zuerst das Feuer der
andern Plätze zum Schweigen bringen, welche weiter nördlich am Eingange
der Bucht liegen, und von denen der eine bei einem Dorfe Namens Braune¬
berg liegt, der andere gegenüber aber eine Schanze mit geblendeter Brustwehr
ist (a MiÄWts dlmclLs)!"
„Aber, Herr Merruau, warum haben Sie das nicht gleich gesagt!" ruft
der aufgeregte Leser, durch diese äußerst klare Beschreibung mitten in die
Situation versetzt! Paul Merruau aber läßt sich nicht stören. Er docirt
weiter: „Dieses Viereck streckt dem Feinde mehr als 200 Feuerschlünde ent¬
gegen." (Ueber's Kaliber schweigt er.) „Doch scheint dem Berliner General¬
stab die Sache noch nicht hinreichend sicher, und er berettet noch den Bau
dreier weiterer Werke vor." Nun kommt eine etwas confuse Beschreibung
eines Flottenmanövers, das einst in der Kieler Bucht abgehalten worden
sein soll, um die Mannschaft auszubilden. Aber außer diesem Manöver, es
scheint nur eins gewesen zu sein, hat das wachsame „Muvornement 60
iierlin" noch fernere Vorsichtsmaßregeln (xiee^utions) ergriffen. — Diese
bestehen darin, daß die Docks der Kriegsmarine durch sechs fernere Forts
bei Ellerbeck*) gesichert werden, und endlich: „kann die Festung Rends-
burg, den Dänen entrissen, und ganz in der Nähe gelegen, auch
noch Hülfe leisten, durch ihr Flankenfeuer auf den landenden Feind.
Da haben wir den Schäker! Darum hat er, wie einst der Teufel den Wetter-
See in Schweden, die Kieler Bucht placirt: entre le Holstein et le Llesvi^
— damit ihr die Festung Rendsburg Hülfe leisten kann, und „den Feind
unter Kreuzfeuer nimmt!" Was sich das Kriegsministerium in Berlin
über die neue Festung freuen wird, die es ganz wie den Kieler Hafen auf
Seite 148, sa>us Kourse atelier, erhalten hat! Paul Merruau, drücken Sie
mir die Hand, Sie sind herzerfrischend, und wenn meine Stimme noch etwas
gilt bei meinem alten Bekannten, Zernin in Darmstadt, dann sollen Sie
Ehrenritter des goldenen Knopfes, und Großcomthur des Kameelbanners
in Winkelkram werden/*) Eins aber sagen Sie mir im Vertrauen; wo haben
Sie die Geschütze her, mit denen Sie von Rendsburg aus die Landungs¬
truppen bei Kiel in der rechten Flanke beschießen wollen? Das müssen ja
ausgezeichnete Waffen sein!
Trotz aller dieser „tormiäMes kortiüeations" bleibt dem Verfasser noch
Eins zu wünschen übrig, um Kiel vollkommen zu machen, dieses Eine aber
hat die preußische Regierung, — eine deutsche kennt Herr Merruau grund¬
sätzlich nicht — bisher versäumt — es ist der Kanal zwischen Ost- und
Nordsee! Der Verfasser hat also keine Ahnung von dem Resume, das seiner
Zeit durch den Generalfeldmarschall Graf Moltke im Reichstag über diese
Frage gegeben wurde, und wodurch sie für Jeden als abgethan gelten muß,
der nicht glaubt, mehr vom Kriege zu verstehen, als der Feldmarschall. Da
nun Herr Merruau den wirklichen Grund nicht kennt, weshalb jener vor¬
handene Kanal nicht für Kriegsschiffe erweitert wird, so erfindet er für seine
Leser einen solchen, und der besteht darin, daß Preußen eines Tages —
Dänemark erobern — „den Sund und die beiden Bette borusflficiren wird",
wie er sich ausdrückt. Eine schwache Hoffnung indeß lebt noch in dem tapfern
Franzosenherzen: Nußland dürfte vielleicht dieses scheußliche Project Bismarcks
durchkreuzen, und „die immer mehr zunehmende Auswanderung schwächt das
Gouvernement von Berlin zusehends!" — Trotz dieser Schwäche aber hat
»in düsterer Emsigkeit" dieses Gouvernement von Berlin sich auch einen
Hafen an der Nordsee geschaffen. Aber mit welcher Hinterlist ist es dabei
verfahren, man höre und schaudere: da es nicht klug gewesen wäre, unmittelbar
nach dem Raub des Hafens von Kiel (1866) über das Herzogthum Olden¬
burg herzufallen, so kaufte Preußen das Terrain am Jahdebusen im Jahre
1853 I — Nun folgt eine Beschreibung der Werke am Jahde-Busen, die nach
einer falschen Zeichnung entworfen ist, welche im Jahre 1871 die Nunde
durch die illustrirten Journale machte; es wäre wenigstens mehr als Zufall,
wenn die Geschichte der beiden Doppelschleusen für Ebbe und Fluth sich hier
zufällig wiederfände. Darauf kommt es ja aber auch nicht an. Keiner
unserer Leser wird wirkliche Belehrung über diesen Stoff aus einer so trüben
Lache schöpfen wollen. Nun aber folgt wieder eine heitere Geistesblüthe, die
so recht geeignet ist, die gewissenhafte Arbeit französischer Forscher in das ge¬
bührende Licht zu setzen. Auf Seite 152 heißt es: „Der Hafen war weder
beendet noch befestigt, als der Krieg mit Frankreich ausbrach. Wilhelm,
damals einfach König von Preußen, kam dahin, um der Einweihung bei¬
zuwohnen, und die Schmeichelei benutzte die Gelegenheit, um den Ort Wil¬
helmshafen zu taufen." Kann ein boshafter dummer Junge dümmer ver¬
leumden? Daß der König von Preußen einem Orte, den er so recht eigentlich
aus dem Nichts geschaffen, durch Kabinetsordre seinen Namen verleiht, wie
es die Gründer und Erbauer von Städten von jeher gethan, das findet ein
Franzose tadelnsroerth! Ein Mitglied jener Nation, deren Volksvertretung
seit 80 Jahren sich vor jeder erbärmlichen und moralisch unwürdigen Per-
sonage im Staube wälzte, sobald sie nur Furcht einflößte, und als Zeichen
dieses unterwürfigen Volkscharakters Straßen und Plätze ihrer Haupstadt in
zwei Menschenaltern zu Dutzenden umgetauft hat! — Unmittelbar darauf
versichert Herr Merruau: das «Vouvernemont av Berlin", das den Kampf
von 1870 seit langer Hand vorbereitet habe, sei nur bis zur Herstellung
provisorischer Befestigungen gediehen, die aber ihren Zweck der französischen
Flotte gegenüber vollkommen erfüllt hätten, da dieselbe „promiore vivtimo
ä'uinz imprevo^nes tuneste se g6n6Mo», mit einem Worte, Nichts in
Ordnung gehabt habe. Man kann Lotterei und Pflichtvergessenheit nicht
wohlklingender ausdrücken.
Sehr hübsch ist der Passus, in dem Herr Merruau seinem Zorn gegen
die preußische Flotte Luft macht. Es handelt sich darum, daß die preußische
Flotte der sechsfacher Uebermacht gegenüber nicht die offene See hielt: »Die
Preußen opfern Nichts dem leeren Ruhme. Sie suchen vor Allem positive
Resultate mit dem geringstmöglichen Einsatz zu erreichen. Jener ritterliche
Muth, der sich der Gefahr aussetzt, nur um ihrer selbst willen, ist ihnen
nicht sympathisch. Die Regierung theilt diese Ansicht und begünstigt sie in
der Armee, aber man muß zugeben, daß diese der preußischen Flotte anbe¬
fohlene Haltung nicht gerade ein glänzendes Debüt für sie ermöglichte. Der
Seekrieg ist ganz besonders den Momenten persönlicher Kühnheit günstig-
Die Kapitäne der einzelnen, in ferne Gegenden gesendeten Schiffe haben
Vollmacht, jeden ihrer Gegner anzugreifen, die Geschichte ist erfüllt mit der¬
gleichen Zweikämpfen. Die preußische Flotte hatte eine Anzahl Schiffe auf
ferne Stationen detachirt, die Unsrigen boten ihnen den Kampf an. Die
preußischen Schiffskapitäne, gehorsam ihren Ordres, blieben in den neutralen
Häfen eingeschlossen, ohne sich durch das jüngste Beispiel des Alabama und
Kerseage an der Küste von Cherbourg verleiten zu lassen. Die preußische
Marine hat diesen Pulverdampf nicht gerochen!" (Dazu hätte sie auch eine
Nase haben müssen, ebensolang als diejenige, mit welcher Frankreichs Flotte
aus der Nordsee abzog. „Dem Beispiel der großen Panzerschiffe und zahl¬
reichen Kanonenboote, die in den beiden Arsenälen der Ost- und Nordsee
eingeschlossen blieben, folgten auch die einzelnen detachirten Schiffe, Hertha und
Medusa in Japan, die Arkona bei den Azoren, der Meteor in der Havanna.
Machen wir jedoch ein Zugeständniß zu Gunsten dieses letztgenannten
Schiffes, es versuchte allerdings den Kampf gegen unsern Bouvet — in
weniger als einer Stunde floh es entmastet unter den Schutz der spanischen
Geschütze." Um dieser heitern Schilderung die Krone aufzusetzen, bricht der
Verfasser zwei Seiten später in lauten Jammer über den Schaden aus, den die
preußische „Augusta" dem französischen Handel zugefügt, und über die Kühn¬
heit, mit der sie den Kanal gekreuzt bei ihrer Rückkehr. Im Uebrigen ist die
Vergangenheit noch so frisch in unser aller Gedächtniß, daß wir eine längere
Widerlegung uns sparen können, um so mehr, als wir nun zum Glanzpunkt
der ganzen Darstellung kommen. Merruau erzählt die eigentliche Gründung
der preußischen Flotte, nachdem er auseinandergesetzt, daß man eine Flotte
nicht dazu baut, um sie in einen Hafen zu sperren, sondern um das Meer
zu beherrschen.
„Das Gouvernement hatte dies begriffen, es war zwiefach durch die
Vergangenheit belehrt worden, zuerst zur Zeit des dänischen Krieges. Däne¬
mark, dieses so kleine und schwache Land, welches sich mit der ganzen
Festigkeit der Vaterlandsliebe vertheidigte, hatte seinem übermächtigen Gegner
schweres Leid zugefügt. Es hatte die ganze Küste blokirt und den deutschen
Handel in's Herz getroffen." (D. h. einige Häringsbüsen gekapert, die einzigen
Fahrzeuge, die in der Zeit vom 2. Februar bis 18. April den deutschen
Handel auf der Ostsee repräsentiren, und diese mußten die Dänen auch noch
beim Friedensschluß mit baarem Gelde entschädigen.) „Die dänischen Küsten
und Inseln sind von einem abgehärteten Fischervolk bewohnt, die ausge¬
zeichnete Matrosen liefern." (Furchtbar faul sind die Danske.) „Auch besaß
Dänemark einige Panzer- und Kuppelschiffe von trefflicher Ausstattung.
Dem konnte Preußen damals nur einige Kanonenboote und schwache Kor¬
vetten entgegenstellen (1861). Aus dem Meere hatte es daher auch nicht
die Oberhand. Nach der „Zerstückelung" der dänischen Monarchie, wollte
Preußen den Gedanken einer Flotte verwirklichen, aber eine Flotte kostet
Geld, und Preußen war arm, dazu verweigerten ihm die andern Staaten
ihre Unterstützung! Aber nach 1867 hatte Preußen nach der Schlacht von
Sadowa eine solche Stellung in Deutschland, daß man ihm nichts mehr ab¬
schlagen konnte; daher beschloß es, weiter vorzugehen und die Flotte in's
Leben treten zu lassen!" Ich nehme hier Paulchen durchaus gegen den Ver¬
dacht in Schutz, daß er in den letzten Zeilen habe einen Witz machen wollen;
gerade in seinem düstern Pathos aber ruht die Komik. Es wird uns ein
Bruchstück der Roon'schen Flottenrede präsentirt, um in Klammer setzen zu
können, als der Minister von den Staaten zweiten Ranges spricht, die mit
Preußen in Berührung treten könnten — („zu ihrem Verderben"). Dies ist
der einzige Versuch zu einem Witze, den sich Paulchen erlaubt.
„Bei Beginn dieser Flottenschöpfung besaß Preußen nur einige Korvetten
und 22 Kanonenboote." (Das ist die einzige bestimmte Thatsache, die in dem
ganzen Phrasenwust sich findet.) „Indessen hatte die preußische Regierung
schon vorher in England Auftrag gegeben, die drei Panzerfregatten „König Wil¬
helm", „Friedrich Karl" und „Kronprinz" ^ 6000, 4000 und 4500 Tons zu er¬
bauen, außerdem noch zwei Thurmschiffe und zwei Korvetten „Hansa" und
„Ariadne". Die Seite vorher wurde uns erzählt. Preußen habe vor 18K7
„rein gar nichts" thun können — o Paule! Paule! „In ihrer Gesammtheit
bildeten diese Schiffe, deren Fertigstellung allerdings noch zwei Jahre dauern
mußte, eine bereits ganz respectable Macht!"
Nun wird in einer längeren Auseinandersetzung über alte und neue Ar¬
tillerie die Thatsache bemäntelt, daß der Verfasser nicht weiß, mit welchen
Geschützen die Schiffe armirt sind, noch wie viel sie davon führen. Der Leser,
der nach dem Titel des Werkes eine detaillirte tabellarische Uebersicht der
Schiffe mit ihren Geschützen erwartete, liest nur. daß an Bord des „König
Wilhelm" 96-Pfünder, die 145 Kilogramm schießen, sich befinden, während
„Kronprinz" und „Friedrich Karl" 72-Pfünder führen, die 200 Pfund
schießen, eine Angabe, die an Klarheit und Genauigkeit eben nur für eine
toto eariSv ^.Ilömanäo etwas zu wünschen übrig läßt.
„Schon hatte ..General von Roon" die preußische Flotte auf 90 Fahr¬
zeuge meist kleinerer Gattung mit 1S49 Geschützen gebracht, als der franzö¬
sische Krieg ausbrach. Indem die französische Marine die Blokade der preu¬
ßischen Küsten „wiedererneuerte" (rc-nouveluit), fügte sie dem preußischen
Handel ernsthaften Schaden zu. Es war eine scharfe Lection. aber die preußische
Regierung bedürfte derselben nicht, sie hatte ohnehin begriffen, daß der Adler
allein mit der Landarmee seinen Flug nicht beginnen konnte. Ohne die Marine
fehlte ihm einer seiner Flügel. Die öffentliche Meinung, der Stolz und die
gefährdeten Interessen drängten zu neuen Anstrengungen. Dies Mal nahm
Herr von Bismarck die Sache in die Hand, und er führte sie glatt durch."
Wie man sieht, kann auch P. Merruau mitunter ganz vernünftig schreiben.
Die Ernennung des General von Stosch zum Marineminister wird durch alle
möglichen Gründe erklärt, nur der wahre, naheliegende ist übersehen, daß
es sich um Gewinnung einer hervorragenden organisatorischen Kraft handelte.
Bei Aufzählung der verschiedenen, durch den General von Stosch in's Leben
gerufenen Schöpfungen, finden wir wieder einige so duftige Geistesblüthen,
daß wir uns nicht versagen können, unsern Lesern ein kleines Potpourri
daraus zu bereiten. So heißt es: Er (nämlich der Marineminister) hat alle
diese Arbeiten zugleich betrieben, mit neuen Schiffsconstructionen, Küstenbe¬
festigungen, mit dem Bau von Angriffs- und Vertheidigungsmaschinen, Ver¬
suche, von deren gedeihlichem Vor schreiten doch manches be¬
kannt geworden ist, trotz des Geheimnisses, mit dem man sie
umringt hat!" „Die Wuß' is mi to krumm!" sagte de Voß, de kriegte
er sie nicht. Er weiß nämlich gar nichts, aber auch nicht die Spur, der
liebenswürdige Gallier, er hat nicht einmal sich die Aufsätze aus dem Mili¬
tärischen Wochenblatt und der Darmstädter Militär-Zeitung übersetzen lassen,
welche auf diese „Angriffs- und Vertheidigungsmaschinen" Bezug nehmen.
„In diesem Zustande befanden sich die Dinge in den ersten Monaten
des Jahres 1873, als" — ja als Bismarck, wer sonst, — „beschloß, die
Sache der Marine noch um ein Bedeutendes kräftiger zu poussiren", denn er
konnte mit Sicherheit darauf rechnen, jede Geldsumme bewilligt zu erhalten,
da die Todesangst mit Furienpeitschen die elenden Deutschen züchtigte mit
dem Gespenste eines Rachekrieges, in dem sie vermuthlich wieder 18 große
Schlachten gewinnen und 3 französische Armeen gefangen nehmen sollen.
Nachdem ein Auszug aus einer Kammerrede des Fürsten Bismarck gegeben
ist, wird der erweiterte Marineplan mitgetheilt, natürlich aber dabei ver¬
schwiegen, daß die deutsche Regierung sich die Würdigung späterer Modali¬
täten vorbehalten, die ganze Sache also durchaus kein Definitionen geworden
ist. Die Lage der Marine wird folgendermaßen präcisirt: Statt der zehn
Panzerschiffe im Jahre 1867 projectirt, werden gebaut bis 1882 — 14, Zur
Küstenvertheidigung durch die Seefestungen treten hinzu bis 1882 — sieben Mo¬
nitors und zwei schwimmende Batterien. Für sechs Torpedo-Boote werden fertig
gestellt bis 1882 — 28. Statt vierzehn Glattdeckcorvetten werden erbaut
bis 1882 — 20. Um .dieses Ziel zu erreichen, ist der Marinecredit auf 317
Millionen Francs erhöht worden, die in jährlichen Raten zu zahlen sind.
Soweit ist die Sache sehr hübsch klar und sachgemäß, warum auch nicht,
schreibt doch unser französischer Marinerath nur deutsche Getstesprodukte ab.
Nun kann er's aber auch nicht länger aushalten: „Ich bin des trocknen
Tons nun satt", ruft er mit Mephisto, Er schreibt: „Die Kammer hatte einen
alten Wunsch wiederholt ausgesprochen. Man wünschte, daß nur deutsche
Werkstätten mit der Herstellung deutscher Kriegsschiffe betraut würden. Die
drei ältesten Fregatten stammten aus England. Einzelne der Korvetten waren
in der Fremde construirt, andere vollständig von dort bezogen. Eine der
besten stammte von Dänemark, wo sie während des Krieges
genommen worden war." In dem Gehirn von Paul Merruau haben
Gefion, Thetis und Christian VIII. seit dem Jahre 1848 einen wilden Kan-
aan getanzt. Nachdem dann der Errichtung resp. Erweiterung des Arsenals
von Danzig, sowie der Thätigkeit der Stettiner Eisenwerke Vulcan Erwäh¬
nung gethan ist, wird die Errichtung der deutschen Seewehr besprochen, und
ein kurzer Abriß der Thätigkeit des General Vogel von Falkenstein im Jahre
1871 gegeben. Hierbei passirt dem Versasser der für einen Franzosen ver¬
zeihliche Irrthum, zu glauben, es seien damals schon zahlreiche preußische
Eisenbahnregimenter in Thätigkeit gewesen. Weniger verzeihlich ist es aber,
daß er diese Gelegenheit zu einer Boutade gegen die deutsche Armee benutzt,
die in ihrer Art eben so dumm ist, als die Geschichte von der dänischen
Fregatte. Er, als Franzose, urtheilt so wegwerfend wie möglich über die
deutsche Armee—„und noch ist ja dein Rücken braun und blau!" kann man
da mit Recht sagen. Er sagt u. A.: „Das preußische System ist basirt auf
die Schnelligkeit der Mobilmachung und die Genauigkeit der Armeebe¬
wegungen." Die Kunst des Krieges ist — in Berlin wenigstens — die
Kunst, auf einem gegebnen Punkt stets in Uebermacht aufzutreten! „Alles ist
in diesem Sinne von Seiten des großen Generalstabes ausgenutzt: die
Mechanik, die Elektricität, der Dampf. Die Armee ist eine einzige ungeheure
Maschine, zu der der Generalstabschef allein den Schlüssel hat." (Wie anders
doch in Frankreich, da meutert jeder Soldat aus eigne Faust, und jeder
Corpscommandeur macht, wenn er kann, Prounciamentos.) Nach Merruau's
Strategie hatte General Vogel von FalkenMn als letzte Vertheidigungslinie,
nachdem die französische Flotte, an ungestümer Tapferkeit nur übertroffen
durch das französische Landungsheer, sich auf ihn und seine Truppen gestürzt
haben würde, nachdem sie trotz fehlender Baker und Seezeichen, trotz eiserner
Ketten und Torpedobatterien die Landung erzwungen haben würde, wenn sie
nämlich gekommen wäre, also nach alle dem würde der General sich immer
noch zurückgezogen haben „auf den Gürtel von Lagunen, Teichen
und Sümpfen, welche die deutsche Küste umgeben, als ein un¬
entwirrbares Netz, todbringend jeder feindlichen Armee." Also nicht die Angst
vor tüchtigen deutschen Hieben, Gott bewahre, nur die Furcht vor diesem
„unentwirrbaren Netz von Lagunen, Teichen und Sümpfen
hat die unwiderstehliche Flotte Frankreichs zurückgehalten. — Der liebe Mann
muß doch aber ziemlich überzeugt sein, daß Niemand in seinem Leserkreise
im Besitz einer guten Karte von Deutschland ist, sonst könnte er doch kaum
wagen, derartigen Unsinn in die Welt zu setzen.
„Trotz alledem und alledem war aber Fürst Bismarck doch noch derartig
in Angst gesetzt", sicherlich eben durch das schneidige Auftreten der französi¬
schen Flotte 1870, „daß er noch im Jahre 1874 schleunigst eine Kette von
gepanzerten Forts errichten ließ, welche die ganze Küste mit einem Rosenkranz
von Geschützen größten Kalibers umgeben." „Eine neue Art von Tollheit
hat die Berliner Regierung erfaßt, die Tollheit der Befestigungen!" heißt es
wörtlich. Ganz recht, mein lieber Herr, alle diese Festungen liegen: entre;
Jo Ilolstöw se 1v LlösviA, in der Nähe der von Ihnen entdeckten Seefeste
Rendsburg, die bei einem Angriff auf den Kieler Hafen als linke Seiten¬
deckung feuert. Vermuthlich hat der Mensch von dem Grüson'schen Panzer¬
thurm gehört, und weiß nicht, wo die Glocken hängen, deren Dröhnen ihm
„patriotische Beklemmungen" verursacht. Hierfür gibt er uns auch gleich den
Beweis am Schluß seines ersten Kapitels. „Wir haben gesagt, daß der
Reichstag Alles bewilligt hatte, Schiffe, Mannschaft, Artillerie und gepanzerte
Schanzen. War er wirklich erschreckt, und hatte die Erscheinung unserer Flotte
an deutschen Küsten wirklich einen so tiefen Eindruck hervorgebracht, daß die
Nation noch jetzt zitterte im Gefühl ihrer damaligen Ohnmacht?" (Diese Phrase
ist so volltönend, daß sie auch die längsten französischen Ohren füllen muß.)
„Es wäre kindisch, wollten wir uns verhehlen/, daß der Zustand und das
Auftreten unserer Flotte keinesw'egs"so gewesen ist, um bei unseren Erbfeinden
einen so erschütternden Eindruck hervorzubringen. Unsere Flotte, aus Cher-
bourg ohne genügende Vorbereitung abgesendet, ohne' Landungsbatterien und
Landungstruppen, hat keine unserer Hoffnungen erfüllen können. Nach einem
Kreuzzug von mehreren Monaten ist sie, ohne einen Schuß Pulver zu thun,
vom Meere und von den Winden des Nordens heimgejagt worden. Ge¬
zwungen, in ihre heimathlichen Häfen einzulaufen, hat unsere Flotte den
Schmerz gehabt, eine'preußische Korvette, die Augusta, kühn ihren Kanonen
'n die Zähne durch den Kanal fahren zu sehen;" (die fürchtete sich also jeden¬
falls weniger vor der See und den Nordwinden!) „wo sie die Mündung der
Gironde blokirte und unsere Schiffe wegfing, uns verhöhnend, da wir sie ver¬
geblich zu fangen suchten. Hier lag also Nichts, was die „kostspielige" Be-
sorgniß des Reichstages wachrufen könnte. Im Gegentheile, man muß an¬
nehmen, daß die traurige Beschaffenheit unsrer Flotte bet unsern Gegnern
^e Absicht hervorrief, sie zu erreichen, wo nicht zu übertreffen. Weniger aus
Turcht, als in froher Zuversicht haben sie das Geld ausgegeben!" Und da¬
rüber wundert sich dieses Wurm noch?
„Was dieses Preußen gethan hat, als seine Flotte noch in den Windeln lag. das
giebt einen Maßstab dafür ab, was es thun und vollbringen wird,wenn dieselbe erst
fertig sein wird!" Mit diesem Schmerzensschrei beginnt der zweite Abschnitt, der von
den preußischen Geschützen und Torpedos handeln soll. Davon handelt er nun nicht,
und zwar aus guten Gründen: Herr Merruau weiß von dem einen so wenig,
wie von dem andern, und wir finden das auch ganz in der Ordnung, daß
von diesen Arbeiten der Marine so wenig als möglich in die Oeffentlichkeit
dringt. Es stehen doch zu hohe Interessen auf dem Spiel, um müssige Neu¬
gierde zu befriedigen. Spaßhaft aber ist es, unsres braven Franzmannes
Sprünge zu verfolgen, hinter denen er seine gänzliche Unwissenheit zu ver¬
bergen bemüht ist. Diese „noch in den Windeln liegende" Flotte ist nach Herrn
Merruau einem frühen Tode geweiht, und zwar deshalb, weil sie zu un¬
rechter Zeit das Licht der Welt erblickt hat.
„Ja, Stiebel, du mußt sterben!"
„Bist noch so jung, jung, jung!"
Warum aber soll Germania mit diesem ihrem jüngsten Kinde durchaus tausss
eouekk gemacht haben? Weil seine Geburt grade in die Zeit fällt, „wo
die Uebertreibung gewisser Prinzipien im Angriff und der Vertheidigung, und
zwar gerade derjenigen, welche die allmäligen und stets wiederholten Um¬
formungen des Panzers und der Geschütze beherrschen, auf einen Punkt ge¬
langt find, wo ein Rückschlag unvermeidlich ist."
„Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse doch dabei sich auch was denken lassen."
Dieser Moment des allgemeinen Rückschlages — der Berliner würde
sagen: der allgemeinen Umkrempelung — ist nun nach des Verfassers Ansicht
noch besonders martert durch eine neue Erscheinung: die Torpedos.
Bekanntlich traten Torpedos vereinzelt schon vor fünfzig Jahren auf, und
mit den ersten Panzerschiffen des Secessionskrieges spielen zugleich auch die
Torpedos mehrfach eine Rolle. Wenn es überhaupt einen praktischen Werth
hätte, die Priorität unter den beiden Erscheinungen festzustellen, so müßte
dies noch auf andere Weise geschehen, als durch eine einfache Behauptung-
Im Herbst 1862 stellte die Konföderation bereits ein disciplinirtes Korps
für die neue Waffe, nachdem sie vorher schon bei New-Orleans, und vor
Knoxville aufgetreten war. Wenn wir übrigens auch über die preußischen
Torpedobrigaden nichts Neues hier lernen, so finden wir doch einige andere
Notizen, über die ersten Verwendungen der Torpedos im amerikanischen Bür¬
gerkrieg , die manches Interessante bieten. Natürlich sind sie aber nicht von
Paul Merruau, sondern aus dem Werke eines amerikanischen Seeossiciers, «us
„Barres, unterseeische Kriegführung" entnommen. Wer mehr darüber lesen
will, braucht nur l'ollarä's, Loutliein wai^) nachzuschlagen, aber hier genügt
es, wenn wir berichten, daß binnen zwei Jahren die Nordstaaten sieben Monitors,
eilf andere Kriegsfahrzeuge aus Holz ohne Panzer verloren, meist zugleich mit
der Bemannung, während verschiedene andere, namentlich Panzerschiffe, den
damals noch unvollkommenen Torpedos theilweise widerstanden hatten und
mit schweren Beschädigungen davon gekommen waren. Der Erfolg dieser
Torpedos, die meist Defensiv-Torpedos waren, wird noch drastischer, wenn
man sich klar macht, mit wie geringem Aufwand an Kosten und Gefahr die
Konföderation ihrem Gegner diesen beträchtlichen Schaden zufügte. Doch
dies dürfen wir eigentlich nicht laut sagen, denn da wird Herr Merruau
wieder von der unritterlichen preußischen Rcrce sprechen, welche die Gefahr
nicht um ihrer selbst willen liebt. Dabei fallen uns immer die französischen
Patrouillen ein, mit denen man sich vor Paris die langweiligen Wintertage
auf Vorposten vertrieb. Wenn da so eine Gesellschaft feierlich 1000 Meter
hinter ihren Vorposten, der Lieutenant mit gezücktem Schwert an der Tete,
herumzog, dann machte man sich mitunter das Vergnügen und ließ durch
die Wallbüchsen-Unteroffiziere einen Schuß hinüberfeuern. Da hatte man
dann häufig den Genuß, die ganze Gesellschaft glatt auf den Bauch stürzen
zu sehen, wenn sie das wohlbekannte Zischen der eisernen Geschosse hörte.
Die liebten auch die Gefahr um ihrer selbst willen! —
Auf verschiedene Weise versuchte die Konföderation mit den Torpedos
das offensive Element zu verbinden. Man versah anfangs den Sporn der
Panzerschiffe mit schwachem Torpedo, um bei dem „Raumer" eines feindlichen
Schiffes die Sprengwirkung mit dem Stoß zu verbinden, indessen kam man
bald von dieser Einrichtung ab, die sich für das eigne Schiff sehr oft ver¬
derblich erwies. Man ging dann über zu den eigentlichen Offensiv-Torpedos.
Kleine schnellgehende Boote trugen vorn an einem weit hervorragenden Aus¬
leger den Torpedo, Taucherboote gingen unter dem Kiel der feindlichen an¬
kernden Kriegsschiffe hindurch, die tödtliche Maschine an Tauen, die mitunter
die Leitung einer elektrischen Zündbatterie bilden, hinter sich herschleifend.
Alle diese verschiedenen Methoden erwiesen sich vor der Hand noch als zwei¬
schneidige Waffen, deren Schärfe sich häusig gegen den eignen Herrn wendete,
da mangelnde Technik und Erfahrung nicht immer alle Umstände beherrschte.
Selbstverständlich wandte auch der Norden die neue Waffe gegen die Schiffe der
Konföderation, wo nur immer möglich, an. So wurde das conföderirte
^idderschiff „Albemarle", nachdem es aus mehreren Kämpfen mit nördlichen
Panzern siegreich zurückgekehrt, auf der Rhede des Flusses Roanoke vor An-
ker. durch einen Torpedo zerstört. Merruau läßt den Führer des Torpedo,
Cushing, sich retten; im Schilf an der Mündung des Roanoke verborgen,
hört er Vorüberfahrende das Schicksal des Albemarle erzählen. Sehr
romantische Situation, besonders wenn man erwägt, daß der Roanoke ein
gewaltiger Strom, dessen Mündung ein Haff von ungefähr 120 deutschen
Quadratmeilen bildet! Ebenso romantisch schildert der Verfasser die Offen¬
sivtorpedos, um mit einem grimmigen Ausfall gegen den General Stosch zu
schließen. Diesen erheiternden Sprung soll er uns in Person vormachen:
„Ein besonders merkwürdiger Characterzug dieses unterseeischen Krieges war
der entsetzliche Schrecken, den so kleine Schiffchen den größten Panzerschiffen,
mit starker Besatzung und furchtbarer Artillerie versehen, einflößten. Mit
aller Schnelligkeit, deren diese Riesen fähig waren, sah man sie fliehen vor
diesen Zwergen, die sie, meist vergeblich, mit ihren Geschossen überschütteten.
Die Torpedoboote kamen selten mit heiler Haut davon, den Scorpionen ver¬
gleichbar starben sie, indem sie tödteten. Die einen versanken in den Ver¬
senkungsstrudel des dem Untergang geweihten Schiffes, die anderen kenterten
oder wurden zerdrückt durch die Wasserberge, welche die Gasentwickelung des
Pulvers aufwarf. Die Menschen waren hingeopfert, aber „das macht Nichts",
hat später der General von Stosch gesagt, als er dem Reichstag dieses Ge¬
setz vorschlug, das Herr von Bismarck entworfen hatte. „Das macht Nichts. Es
ist ein kleiner Einsatz um ein großes Ziel zu erreichen!"*) Nachdem Merruau
auf zwei weiteren enggedruckten Seiten erzählt hat, wie die preußischen Tor¬
pedoboote nicht aussehen, tritt er am Ende der zweiten Seite der Sache
bedeutend näher, indem er seine Behauptung aus dem vorigen Abschnitt
wieder aufwärmt: Es seien statt sechs — seit 1873 nunmehr 28 Torpedoboote
auf den Etat gesetzt.
Drei davon seien sofort in Danzig begonnen und zur Stunde vermuth¬
lich bereits beendet. — Für die viele Freude, die der brave Merruau uns
bereitet, wollen wir ihm auch eine machen und ihm mittheilen, es sind längst
mehr fertig, als drei, er kann ohne Sorgen sein! — Ferner theilt er seinen
Lesern nach einem deutschen Journal mit, daß diese neuesten preußischen Tor¬
pedoboote folgendermaßen beschaffen seien: Sie sind dazu bestimmt, feindliche
Schiffe zu verfolgen, daher sind sie auch mit sehr schneller Fahrt aus¬
gerüstet. (Diese Einrichtung der deutschen Marine erscheint eben so neu als
praktisch.) Sie können bis zu vier Tagen die offene See halten. Als vorsich¬
tiger Mann bricht hier Merruau ab und legt sich selbst die Frage vor: Ist
dies nun aber auch wirklich der genaue Typus der preußischen neuen
Torpedoboote? Ach, Merruau, wenn Sie nur den Typus der alten
wenigstens kennten! Wenn Sie aufgepaßt hätten, hätten Sie im August
1872 in Bremerhafen und Kuxhafen, — wissen Sie, da oben fuere Is Lies-
vig et 1s Holstein — ein paar kaufen können, die dort von der Marinever¬
waltung, es FouvoruLMMt as Berlin — meistbietend als Brennholz verkauft
wurden. Ich kann Ihnen dies mittheilen, ohne meine — mers - Mriv
— Wie Ihr Mitarbeiter Julian Klaczko in «Iss Äoux coanevliers" sagt —
zu verrathen, denn es stand in den Localblättchen! Soviel, wie Sie jetzt von
den n e um Torpedobooten wissen, hätten Sie dann auch von den alten er¬
fahren! „Das schadet aber Nichts", beantwortet er vergnügt, aber etwas
ausweichend, seine Selbstinterpellation, „darauf kommt es ja auch gar nicht
an. Was uns interessirt, ist die Einführung dieser schrecklichen Maschinen
und die tiefe Revolution, welche sie verursachen." Nachdem er so, seiner An¬
sicht nach ebenso graziös als geschickt, um die Thatsache herumvoltigirt ist,
daß er nichts weiß von den Thatsachen, welche die Ueberschrift seines
Aufsatzes verheißt, geht seine Phantasie in wilden Sprüngen weiter:
„Wie soll man sich dagegen schützen? Wie kann man sich vertheidigen?
Die größte Wachsamkeit ist ungenügend, die Nacht ist immer der Moment des
Angriffs. Dieser selbst ist zerschmetternd und läßt keine Zeit zur Ueberlegung.
Wie soll man in der Dunkelheit und bei bewegter See einen so kleinen Ge¬
genstand, so groß wie ein treibender Balken, erkennen und abwehren, der mit
einer Schnelligkeit von achtzehn Knoten in der Stunde daher kommt?" Folgen
zwei Fälle der Vernichtung von Kriegsschiffen der Nordstaaten im Hafen von
Charleston, aus M. Barres. Bekanntlich hat man auch bei uns die Sache
in ernstliche Erwägung genommen. Eine Mittheilung des Wenigen, was
Man bisher hierüber weiß, gehört aber nicht hierher.
Paul Merruau fertigt die Panzerflotten Europas in der Kürze ab, er
führt ein Gleichniß des Weiteren aus, indem er sie den Panzerrittern Frank¬
reichs in der Schlacht von Azineourt vergleicht, den englischen Pfeilschützen
gegenüber. Er stellt sich auf die Seite derer, welche leicht bewegliche, theilweise
gepanzerte Dampfer für die Kriegsschiffe der Zukunft erklären. Nun, das ist
eine Ansicht, so gut wie jede andere. Dafür ist sie auch nicht von Paul
Merruau. Aber nicht so gut, sondern schlechter als viele andere Ansichten,
ist die nachfolgende, hieran geknüpfte Invective gegen die preußische Artillerie
und Negierung. Merruau versucht selbst zu denken, und das ist eben eine Beschäf¬
tigung, zu der ihn Gott ersichtlich nicht geschaffen hat: „Diese Krupp'schen
Geschütze, von denen man so viel sprach, und mit denen man vergeblich ver-
suchte, Paris zu erschrecken, haben nicht die Erwartung derjenigen erfüllt,
welche die Zeit nicht abwarten konnten, Paris einzuäschern. Eine große
Anzahl dieser Geschütze ist gesprungen, besonders auf der Südwest-
sront von Paris, wo von 70 in Thätigkeit getretenen Stücken binnen
vierzehn Tagen 36 Stück in Folge des eignen Feuers dienstuntauglich geworden
sind.*) Auch haben seit dem Kriege die Preußen sofort ihre ganze Feld¬
artillerie umgeändert.**) Aber, und das unterscheidet sie gerade von den eng¬
lischen Reformen, sie haben die Hinterladung beibehalten. In Eng¬
land bearbeitet man das Schmiedeeisen in einer Weise, daß es fast unzerstör«
bar wird: erster Vorzug der englischen Geschütze gegen die canons Krupp***).
Die Werkstatt Krupp's, welche bestrebt ist, sich der ihr zu Theil gewordenen
Gunst der kaiserlichen Regierung würdig zu zeigen, versucht vergeblich, diese
Thatsache zu leugnen. Man hat nach London geschrieben, daß während des
Krieges 1870-71 kein Geschütz gesprungen sei, das dieser Werkstatt ent¬
stammte, aber der Herzog von Cambridge hat dem Oberhause die Mittheilung
gemacht, daß 210 Geschütze Krupp's außer Gefecht gesetzt worden sind. Nur
wenige davon sind durch unser Feuer wohl demontirt worden/' (Rührende Selbst¬
erkenntniß!) „Die Mehrzahl hat einen wirklichen Dienst eben nicht aushalten
können. Hierin liegt der Grund, weshalb man in England schließlich de-
finitiv zum schmiedeeisernen Vorderlader übergegangen ist, und hier ist der
Ausgangspunkt, von dem aus in der englischen Armee, im Geniecorps und
in der Marine Vertreter des Vorderladers gegen den Hinterlader auftreten/)
Der Hinterlader schießt besser und schützt seine Bemannung besser, er vermehrt
aber das Gewicht und die Länge des Geschützes, zwei besonders zur See bet
Panzerschiffen hervortretende Nachtheile. In der That, ein Theil der engli¬
schen Artillerie ist bereits als Vorderlader construirt, und eben darum pro-
testiren unsere Nachbarn furchtlos gegen den Hinterlader, trotzdem ihn die
meisten Armeen führen. Die technische Vollendung der englischen Arbeit kann
bis zur Stunde noch von keiner anderen Macht erreicht werden, und der
Preis ihrer Geschütze ist für die anderen Nationen zu hoch. Diese Betrach¬
tungen sind von Einfluß. Nichtsdestoweniger wird man überall sofort zum
Vorderlader zurückkehren, sobald man sich von seinen größeren Vorzügen über¬
zeugt. Und dann ist Preußen gezwungen, sich eine neue Marine
zu schaffen. Daher hat Preußen unrecht gehandelt, sich zuüber-
eilen. Es sei denn, daß es mit dem Hintergedanken eines neuen Angriffs¬
und Eroberungskrieges handelte. Ja! dann hätte es Ursache gehabt sich zu
beeilen!" u. s. w. u. s. w. Ich glaube, meine Behauptung mathematisch be¬
wiesen zu haben: Paul Merruau ist nicht zum Denken erschaffen worden!
Die Leser dieser Zeilen erinnern sich gewiß der moralischen Entrüstung,
mit der die französische Presse die deutscher Seits aufgestellte Behauptung
bestritt: die französische Flotte habe den besten Willen gehabt, die deutschen
Seestädte zu bombardiren und zu brandschatzen, nur ihre Furcht vor den
deutschen Vertheidigungsmaßregeln habe sie daran gehindert. Im Eifer des
Geschreibsels nun sagt Paul Merruau ganz unbefangen, um die geringe
Wirksamkeit der Panzerflotten zu illustriren: „Unsere Panzerflotte scheiterte,
erst vor 4 Jahren, vor den Häfen von Kiel und Wilhelmshafen. Sie hat
nicht einmal das Küstengebiet bombardiren können, unge¬
achtet des brennenden Wunsches der vorzüglichen Bemannung,
der Ossi clere und Gemeinen, welche später auf dem festen Lande Be¬
weise der größten Unerschrockenheit gegeben haben. Was bleibt da übrig?
Eine traurige Bilanz, bei der wir nicht auf die Kosten kommen!" Wir ac-
ceptiren dieses offene Geständniß mit allen seinen Consequenzen, zu denen
auch das Gesetz der Wiedervergeltung gehört; oder sollte Paul Merruau es
unrecht finden, wenn im nächsten „Revanchekriege" preußische Brandgranaten
Rouen und Bordeaux einäscherten?
Aber selbst, wenn es wirklich nicht so schlecht bestellt wäre mit der Zu¬
kunft der Panzerschiffe und den „canons ILruxx", wie Paul Merruau eben
erzählt hat, ja selbst wenn die Engländer ganz zum Hinterlader übergingen/)
eine Angelegenheit, die ihm schwere Sorge macht, so hat Paul Merruau
noch einen Pfeil im Köcher, um die preußische Flotte, „die noch in den
Windeln liegt", in's Herz zu treffen! Es fehlt ihr nämlich durchaus an
Matrosen, da alle die Bewohner der deutschen Seeküste millionenweise aus¬
wandern, um dem Joche der verhaßten Preußen zu entgehen. Wo er diesen
Unsinn aufgeschnappt hat, das verräth er uns nicht. Seine Einleitung zu
diesem Kapitel hat P. Merruau nicht sehr glücklich gewählt: Indem er näm¬
lich die Schöpfung der französischen Marine durch Colbert vermittelst ein¬
facher Kabinetsordres erwähnt, will er die Ansicht begründen, daß es mehrerer
Menschenalter bedürfe, bis aus dem freien Fischergeschlecht ein tüchtiger
Kriegsmatrose werde. Dabei entschlüpft ihm die Erklärung, daß heute noch
die französische Küstenbevölkerung ihren Antheil an der Vertheidigung der
„more-xg.erit" nur mit «uns resignAtion Mtrivtiyus" erfüllt. Man könnte
hier mit vollkommenem Recht auch übersetzen: „mit patriotischer Beklemmung".
Er will damit sagen, daß es auch bei der deutschen Küstenbevölkerung Jahr.
Hunderte dauern müßte, ehe sie so weit käme. Wer, wie ich, jahrelang an
der deutschen Seeküste gelebt hat, zuckt über solchen Unsinn verächtlich die
Achseln. Man sieht aber, wie sich in französischen Köpfen der Zustand der
deutschen Wehrkraft abspiegelt, wenn man liest: „Was die deutsche Küsten-
bevölkerung betrifft, so war sie bis vor wenigen Jahren von jedem Staats¬
dienst befreit." (Lieber Mann. Sie irren sich schon wieder!) „Seit diese
Bevölkerung borussificirt ist, wird Jeder, ohne Ausnahme, zum Dienst auf
den Kriegsschiffen gezwungen; sie findet sich in einem Netze gefangen, aus
dessen Maschen kein Entrinnen, außer durch Auswanderung, möglich ist. Was
ist die Folge? Die Auswanderung ist die blutende Wunde der preußischen
Flotte. Sie würde große Mühe haben, wenn sie im Beginne des Krieges
einige Tausend Matrosen verlieren sollte, Ersatz zu finden." Paulchen. Sie
sind von einer erfrischenden Naivetät! Welcher Flotte, und sei es die eng¬
lische oder amerikanische, würde es anders ergehen? Bon der französischen
wollen wir gar nicht reden; mit ihren „patriotisch beklemmten" Matrosen
wäre sie dann einfach vernichtet.
„Vielleicht", faselt der Verfasser weiter, „wird Preuszen nächstens oder
auch später noch einige Küstenländer erobern, entweder durch Waffengewalt
oder — anders, das weiß nur Gott und der Reichskanzler; vielleicht gelingt
es ihm dereinst, unter den Matrosen des bereits annectirten Hannover und
Oldenburg(i) Sinn für den preußischen Seedienst zu erwecken — vorläufig
wandern dieselben in Masse aus." (Vermuthlich gehen sie „mers le LleL^pig
et. 1s Holstein" nach jener „Seeveste Rendsburg", die im erstes Abschnitt
die linke Seitendeckung von Friedrichsort bildet.) „Vielleicht wird der Haß
gegen Frankreich, obwohl derselbe doch nachgerade übersättigt sein sollte,
diesen Seeleuten des deutschen Reiches Sympathie für den Kriegsdienst ein¬
flößen. So wenig Zeit aber diese Verwandlung in Anspruch nehmen wird,
der Zeit bedarf dieselbe immerhin, und die Marine Preußens hat diese Probe
noch nicht bestanden. Die fieberhafte Thätigkeit, welche die Regierung bet
den Arbeiten der Flotte zeigt, beweist übrigens, daß sie nicht gesonnen ist,
lange zu feiern. Noch ist ihr Werk nicht beendet, und bereits hat sie sich
verabredet, mit den Russen zusammen eine Erpedition gegen die chinesischen
Seeräuber zu unternehmen." (Ist bekanntlich erfolgreich beendet.) „Die Aus¬
wanderung hat den deutschen Interessen einen weiten Spielraum jenseits
des Oceans eröffnet, besonders in den Vereinigten Staaten und Brasilien,
«der noch hat Preußen keine Gelegenheit gefunden, seine Vormundschaft
ihnen aufzudrängen. Die Mehrzahl jener Auswanderer verzichtet auf ihr
Heimathsrecht, und außerdem sind sie zahlreich genug, sich selbst zu schützen.
Die deutsche Auswanderung beträgt mehr als drei Millionen Köpfe und
gewinnt besonders in den westlichen Staaten immer mehr Terrain.*) Die
deutschen Journale reichen bereits bis Ohio, Wisconsin, Michigan, Mis¬
souri, Illinois, Jndiana und — einige andere Staaten." Aber lieber
Herr Merruau, sind denn das lauter entlaufene Matrosen der deutschen
Flotte, welche da drüben auf Zeitungen abonniren? Sie stellen es wenigstens
so dar. Ich habe nie bemerkt, daß unsere Blaujacken so eifrige Zeitungs-
leser sind, aber Sie wissen das natürlich besser: das kommt daher, daß sie
^ner so jungen Flotte angehören, die noch „in den Windeln liegt"; darum
sind ihre Deserteure so lernbegierig! „In Brasilien ist die deutsche Ein¬
wanderung gleichfalls beträchtlich, und die dortige Regierung macht alle
Anstrengungen, um durch sie die Bevölkerung zu mehren." Ganz recht, lieber
Erbfeind, man legt aber jetzt in Deutschland den brasilianischen Bauernfängern
ebenso das Handwerk, als den französischen Hallunken im Elsaß. „Brasilien
dder mag sich trotz alledem vorsehen, daß Deutschland nicht irgend einen
Vorwand zur Intervention sich heraussucht. Schwerer dürfte ihm dies schon
in China gelingen, wo das ganze Deutschland nur durch Genfer Uhren-
hausirer repräsentirt wird." Gott sei Dank, Paulchen, da sind Sie wieder
Sie Selbst! Der düstere, wenn auch unvergleichliche Scharfsinn, mit dem Sie
die schwache Seite der preußischen Flotte und Regierung ausgespürt hatten,
machte mir bereits Grauen. Sie haben entdeckt, wenn auch Ihr Adlerblick
verdunkelt ist — von den aufsteigenden Thränen patriotischer Wuth —>. daß
entlaufene deutsche Matrosen in der Anzahl von drei Millionen, als Zeitungsleser
verkleidet, in den Vereinigten Staaten sich niedergelassen haben, daß Brasilien
alle Ursache hat, nächstens eine Invasion sämmtlicher berliner „Äppelkähne"
aus dem Amazonenstrom zu befürchten. Gut, sei es, wir sind erkannt! Und
scheu senken wir den Blick zur Erde, aber diese heitere chinesische Episode
richtet uns auf: Also Deutschland wird in China repräsentirt nur durch
„eourtiers en montres als 6euöv(z!" Sehen Sie, das ist ja allerliebst; wenn
Sie dann nach einigen Jahren, als getreuer Unterthan Badinguet II., der
dann den Thron seiner „Väter" wohl inne haben wird, wieder eine glorreiche
Expedition gegen die wehrlosen Chinesen mit unsterblichem Ruhm unter¬
nehmen, dann werden Sie dort genfer „Pendulen" in den chinesischen Palästen
zum Stehlen vorfinden! Und dies danken Sie dann den „Genseruhren-
Händlern, die allein Deutschland in China repräsentiren" ! —
Der Rest des Aufsatzes tadelt die deutschen Einrichtungen in Bezug auf
Ausbildung der Flvttenmannschaften und Officiere; es werden nach der An¬
sicht Merruau's zuviel Examina verlangt, dazu desertiren von Bremen aus
zuviel Seeleute, und zwar weil sie sich nicht Grundstücke kaufen können etc.
Klassisch in seiner fabelhaften Trivialität ist der Schlußsatz des Opus, in
dem Merruau von der Höhe seiner Erfahrung herab dem preußischen Staat
folgenden Rath ertheilt. „Wenn Preußen eine Marine haben will, so möge
es Geduld haben, und die Resultate nur von einer guten Organisation er¬
warten, denn eine Marine läßt sich nicht improvisiren. Wenn übrigens
Preußen keinen hinterlistigen Eroberungszug projectirt, so hat es keinen
Grund sich zu beeilen, der Friede allein kann ihm nützen."
Damit wollen wir Abschied nehmen von unserem ernsthaften Komiker.
Es scheint immer noch in Frankreich hinreichend zu sein, auf Preußen zu
schimpfen, um hierdurch Einlaß selbst in gewählte geistige Kreise zu erhalten,
welche früher nur einem geistreichen Manne sich öffneten.
Neben der außergewöhnlich lebhaften künstlerischen Thätigkeit, die in
neuester Zeit in der sächsischen Residenz entfaltet und namentlich durch die
dankbaren Aufgaben, welche der Neubau des Dresdner Hoftheaters und der
Ausbau der Albrechtsburg in Meißen geboten haben, hervorgerufen worden
ist, neben den erfreulichen Beweisen von Interesse für die Hebung des Kunst¬
gewerbes, die Dresden vorm Jahre durch die im „Kurländer Palais" veran¬
staltete Ausstellung älterer kunstgewerblicher Arbeiten und neuerdings nun
auch durch die Begründung eines Kunstgewerbemuseums gegeben hat, sind in
den letzten Jahren auch eine Anzahl stattlicher kunstwissenschaftlicher Publi¬
cationen von der sächsischen Hauptstadt ausgegangen, die wohl geeignet sind
über Dresden und Sachsen hinaus die Theilnahme der Kunstfreunde zu er¬
regen. Hanfstcingel hat in untadlig schönen Photographieen die Hauptschätze
des „Historischen Museums" publicirt, die treffliche Officin von Römmler und
Jonas hat in Lichtbrücken die hervorragendsten Objecte der erwähnten kunst¬
gewerblichen Ausstellung veröffentlicht (Verlag von G. Gilbers in Dresden)
Und ist eben damit beschäftigt, einen schon längere Zeit vorbereiteten Plan
auszuführen und auch die künstlerisch werthvollsten Gegenstände des welt¬
berühmten „Grünen Gewölbes" in mustergilttgen Phototypieen herauszugeben
(2 Lieferungen sind erschienen, Verlag von P. Bette in Berlin), und endlich
gehört in diesen Kreis auch eine Publication von Denkmälern des Mtttel-
alters und der Renaissance auf sächsischem Boden, welche vor etwa Jahres-
frist erschienen ist, und mit der die nachfolgenden Bemerkungen sich eingehender
beschäftigen sollen.
Die Königin von Sachsen, Carola, die in ihrem warmen Interesse für
"le bildende Kunst mit der deutschen Kronprinzessin wetteifert, und der auch
^e Anregung zu der kunstgewerblichen Ausstellung des vorigen Jahres zu
Zanken war, wurde auf einer Reise durch das sächsische Erzgebirge, die sie im
^ühjahr 1874 unternahm, freudig überrascht durch eine Reihe von Denk¬
mälern der kirchlichen Architektur, die auf diesem Boden — namentlich in
Hreiberg, Annaberg. Schneeberg, Zwickau — als beredte Zeugen des Reich¬
tums, den in früheren Jahrhunderten hier der schwunghaft betriebene Silber-
^gbau geschaffen, vereinigt sind. Diesen Reiseeindrücken entstammte die Idee
^ dem vorliegenden Prachtwerke, ^) welches mit seinen fünfzig Lichtbrücken
in größtem Folio — begleitet von einem erläuternden Texte von C. An¬
dreas —wohl zunächst bestimmt ist, eine Reiseerinnerung für die kunstsinnige
Fürstin zu bilden, daneben aber auch, wie schon die berechnete Ergänzung der
Publication durch die Kunstdenkmäler der nicht mehr dem Erzgebirge ange-
hörigen Städte Rochlitz und Wechselburg beweist, mit dem entschiedenen An¬
spruch einer kunstwissenschaftlicher Leistung hervortritt. Prüfen wir, ob es
ein Recht auf diesen letzteren Anspruch hat.
Was die Abbildungen betrifft, so stehen dieselben technisch auffälliger
Weise etwas hinter dem zurück, was man sonst von der Lichtdruckpresse von
Römmler und Jonas zu sehen gewöhnt ist: die photographische Aufnahme
hat, in vielen Fällen ein etwas mattes, umschleiertes Bild gegeben. Doch
muß man billig sein und bei der Beurtheilung die mannigfachen Schwierig¬
keiten in Anschlag bringen, die namentlich der Aufnahme von Innenräumen
die spärliche Beleuchtung gar oft entgegengesetzt haben mag, und die nur
ausnahmsweise bei Objecten von mäßigem Umfang, z. B. bei der „Schönen
Pforte" im Innern der Kirche von Annaberg, durch künstliche Beleuchtung
überwunden worden zu sein scheinen. Man wird bereitwillig über diese tech¬
nischen Mängel hinwegsehen, wenn man berücksichtigt, was hier geboten wird.
Von dem Sculvturenschmuck der „Goldner Pforte" am Dom zu Freiberg
und der Kirche in Wechselburg sehen wir hier zum ersten Male getreue und
zuverlässige Darstellungen, auf die bei kunstgeschichtlichen Studien, namentlich
bei der Beantwortung der subtilen stilistischen Fragen, die es hier noch
lösen giebt, sich endlich mit einiger Sicherheit fußen läßt. Gypsabgüsse sind
von diesen Bildwerken bisher nicht genommen worden. Das Tympanon der
„Goldner Pforte" ist vor einiger Zeit zwar abgeformt, der Abguß aber bis
zur Stunde aus irgend welchen geheimnißvollen Gründen noch nicht verbreitet
worden. Von der berühmten „Kreuzgruppe" in Wechselburg sind ganz
neuerdings gelegentlich einer Restauration derselben die ersten Gypsabgüsse
für Museen hergegeben worden. Im Uebrigen war man für das Studium
dieser wichtigen Denkmäler noch immer auf die sehr wenig stilgetreuen Zeich'
nungen angewiesen, die Puttrich vor nunmehr vierzig Jahren in seinen „Denb
Malern der Baukunst des Mtttelalters in Sachsen" veröffentlicht hatte. D'e
messingenen Grabplatten im Dom zu Freiberg wurden 1866 sämmtlich ^
Selbstabdrücken in Originalgröße herausgegeben; nach diesen wurden an«h
verkleinerte Photographieen gefertigt, und ebenso scheinen die beiden im vor'
liegenden Werke gegebenen Proben auf jene Originaldrucke zurückzugehen'
Die meisten der hier abgebildeten Denkmäler sind aber überhaupt hier so gut
wie zum ersten Male publicirt, und so bildet das Werk nach dieser Seite hin
eine Bereicherung unsres Anschauungsmaterials, für welche die Kunstgeschichte,
und zwar keinesweges bloß die locale, dem Kunstsinn der sächsischen Königin
unzweifelhaft zu großem Dank verpflichtet ist.
Leider kann man dasselbe nicht von den Erläuterungen rühmen, die der
mit der artistischen Leitung bei der Auswahl und Aufnahme der Objecte
und überdieß mit der Abfassung eines Textes beauftragte Herausgeber C.
Andreae den Abbildungen mitgegeben hat. Er selbst sagt darüber wörtlich:
„Ein eingehender Text würde auf große Schwierigkeiten stoßen. Die Kunst¬
forschung steht gerade hier vor einem Problem, dessen Ergründung noch zu
wenige ernsthafte Studien gewidmet sind, und diese fühlbare Lücke wagt der
Unterzeichnete nicht ausfüllen zu wollen, so gern er im Bereine tüchtiger
Kunstforscher und Archäologen mit Hand anlegen würde." Und am Schlüsse
seines Textes bemerkt er: „Nur schwer konnte sich der Unterzeichnete dazu
entschließen , den schönen Bildern eine Erklärung beizugeben; sie ward indeß
gefordert, und wenn sie den Beschauer hier und da orientirt, nicht irre führt,
und anregt, weiter eingehende Studien nach dieser Seite hin zu machen, so
hat sie ihren Zweck erfüllt."
Von einem „Problem" kann nun heutzutage höchstens noch der „Goldner
Pforte" und den Wechselburger Sculpturen gegenüber die Rede sein. Hier
gilt es, noch die Frage zu beantworten, ob diese Bildwerke erstens aus ein
und derselben Werkstatt hervorgegangen sind, und ob sie in oder außer Zu¬
sammenhang mit der gleichzeitigen italienischen Kunst stehen. Im übrigen
aber würde „ein eingehender Text" durchaus nicht „auf große Schwierigkeiten
gestoßen" sein, wenn es dem Herausgeber beliebt hätte, sich um die reiche ge¬
schichtliche Literatur zu kümmern, welche über die hier publicirten Denkmäler
thatsächlich bereits vorhanden ist. Von der Existenz dieser Literatur hat aber
Andreae offenbar gar keine Ahnung gehabt. Weder Puttrich's oben-
genanntes grundlegendes Werk, noch Waagen's allbekanntes Buch „Kunst,
werte und Künstler in Deutschland", dessen erster Band, wiewohl er schon
1843 erschienen ist, doch einen hundertmal besseren Text zu den vorliegenden
Abbildungen enthält, als ihn Andreae gegeben, ist dem Herausgeber bekannt
gewesen, geschweige denn, daß er von der und jener Einzelforschung eine
Kunde gehabt hätte. Vier Bücher sind es, die er überhaupt als Quelle seines
dürftigen Textes angiebt. Ich will sie vorläufig nicht verrathen; der Leser
Wird staunen, wenn er ihre Titel hören wird.
Aber wenn Andreae auf kunstgeschichtliche Fragen einzugehen keine
Neigung verspürte — im Lande herumzustreifen und Kunstwerke zu betrachten
ist freilich lustiger, als über Büchern oder gar über Acten und Urkunden zu
sitzen — so war es mindestens seine Pflicht, und wenn er sich auch noch so
„schwer dazu entschließen konnte", die Abbildungen mit einer sorgfäl¬
tigen Beschreibung der dargestellten Kunstdenkmäler zu begleiten. Aber
auch hiervon hat er sich unbedenklich entbunden. Eine Inschrift nun
vollends zu lesen und in seinem Texte mitzutheilen, ist ihm nie in den Sinn
gekommen; der Leser mag selber zusehen, ob er sie hinter dem Schleier des
Lichtdruckes vielleicht entziffern kann. Und das nennt der Herausgeber „mit
Hand anlegen", das nennt er „orientiren", „anregen"!
Wenn ich sage, daß es höchst beklagenswerth ist, daß hier ein schöner
und fruchtbarer Gedanke, der schon der königlichen Frau zu Ehren, der die
Verwirklichung desselben ein Herzenswunsch war, mit aller Treue und Ge¬
wissenhaftigkeit hätte ausgeführt werden sollen, durch die Unkenntniß oder die
Bequemlichkeit des mit der Ausführung beauftragten zur Hälfte vereitelt worden
ist, so scheint dies ein harter Spruch zu sein. Aber ich weiß, was ich
sage, und ich glaube, mein Urtheil Schritt für Schritt belegen zu können.
Die ersten vierzehn Tafeln des vorliegenden Werkes sind Freiberg und
dem Freiberger Dom gewidmet. Eine Ansicht der Stadt Freiberg eröffnet
den Band, leider ungünstig aufgenommen, denn die ganze linke Hälfte des
Vordergrundes wird durch eine Schlackenhalde verdeckt. Dann folgt eine
Totalansicht der „Goldner Pforte" und zwei Tafeln mit Details derselben; das
fünfte Blatt zeigt die beiden Kanzeln im Dom, das sechste das Grabmonument
des Kurfüsten Moritz. Hieran schließt sich eine Totalansicht der kurfürstlichen
Begräbnißkapelle, die nächsten fünf Tafeln bringen wiederum Details derselben,
auf der dreizehnten Tafel sind fünf alte Holzsculpturen vereinigt, die vierzehnte
endlich zeigt eine schmiedeeiserne Thür.
Was weiß uns nun der Text Andreae's über die einzelnen Tafeln
zu berichten? Der Herausgeber beginnt mit den Worten: „Es mag aus
Daniel's Geographie folgendes Citat des Chronisten Münster hier aufge¬
zeichnet stehen", und nun läßt er aus Sebastian Münster's „Cosmographey"
die Sage über die erste Entdeckung der Freiberger Silbererze abdrucken, wo¬
ran er noch die paar Notizen knüpft: Freiberg sei von Otto dem Reichen ge¬
gründet, die Liebfrau»nkirche sei 1162—1175 erbaut, wiederholte Brände
hätten sie verheert, worauf dann 1490—1520 der jetzige Dom erbaut, 1588
durch Kurfürst Christian I. die kurfürstliche Begräbnißkapelle hinzugefügt
worden sei.
Das still'chweigende Eingeständnis des Verfassers, daß er Sebastian
Münster aus Daniel's Geographie kennt, ist naiv, aber ehrlich; ein etwas
gewissenhaftere Autor würde sich freilich das Original zu verschaffen ge¬
wußt und daraus gelernt haben, daß weder Münster ein Chronist ist, noch
daß die betreffende Stelle bei Daniel ein „Citat des Chronisten Münster",
sondern daß sie ein Citat a u s Münster's „Cosmographey" ist. Aber Andreae
ist eben sehr genügsam in seinem Quellenbedürfniß. Woher der Verfasser
das genaue Datum über den Bau der alten Marienkirche hat, weiß ich
nicht; die „Goldne Pforte", die der Rest jener Kirche ist, gilt ihrer Stilformen
wegen allgemein als ein Werk aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts.
Möglich, daß diese Datirung etwas zu spät ist. Heuchler setzt in seiner
Monographie über den Freiberger Dom*) den Bau desselben zwischen 1160
— 1180, aber auch dies beruht offenbar nur auf willkürlicher Annahme.
Zwar giebt Moller in seiner Chronik von Freiberg die Jahre 1162—1175
als die Gründungsjahre der Stadt an; sie können aber doch nicht ohne
weiteres für die Erbauungsjahre der Kirche genommen werden. Der Bau
des jetzigen Domes ist nicht erst 1520, sondern schon gegen 1512 beendigt
gewesen; den Anfang des Baues weiß wieder niemand weiter als Andreae
so genau anzugeben. Der Anbau der Begräbnißkapelle endlich hat nicht
1588 stattgefunden, sondern die Zeit von 1388—1594 in Anspruch ge-
nommen.
Die nun folgenden Bemerkungen über die „Goldene Pforte" mögen im
Ganzen hingehen. Sie bilden verhältnißmäßig die eingehendste Partie des
ganzen Textes, wiewohl sie noch immer dürftig genug sind, wenn man sie
selbst mit dem vergleicht, was Lübke in seiner „Geschichte der Plastik" (2.
Aufl. S. 418 f.) darüber giebt. Um die Erklärung des Figurenschmuckes
der Pforte, namentlich der acht zwischen den Säulen stehenden Figuren, ist
es aber nicht so schlimm bestellt, wie Andreae uns glauben machen möchte.
Wenn auch viele Partieen des oben erwähnten Heuchler'schen Buches in Folge
neuerer archivalischer Forschungen veraltet sind, so darf doch das, was er
über die „Goldne Pforte" giebt, in der Hauptsache als feststehend betrachtet
werden. Darnach haben wir zur Linken von außen nach innen folgende
vier Figuren: den Propheten Daniel, die Königin von Saba, den König
Salomo und Johannes den Täufer, zur Rechten von außen nach innen den
Hohenpriester Aaron, Ecclesia (die Braut aus dem Hohenltede), König David und
den Propheten Raum. Eine richtige Bemerkung macht der Herausgeber über
den ornamentalen Theil der Pforte, wenn er darauf hinweist, daß die Archi-
volten, welche als Fortsetzung der Säulen aufzufassen sind, in ihrer Orna-
mentation zu schwer und unruhig erscheinen. Während an den Portalwänden
die schönste und klarste Gliederung herrscht und die Figuren zwischen den
discret ornamentirter Säulen bedeutungsvoll hervortreten, werden die Figuren
an den Bogen zwischen den plump ornamentirter Rundstäben fast erdrückt.
Augenscheinlich sollen die ornamentalen Motive der Bogen stets dieselben setu,
wie die der Säulen, aus denen sie hervorwachsen; sie sind nur von einer viel
plumperen Hand ausgeführt worden. Aber auch sonst zeigt die Ornamentik
der „Goldner Pforte" mancherlei Ungleichheiten, auf welche der Herausgeber
hätte aufmerksam machen müssen. Die zweite Säule von links und rechts
herein hat einfach cannelirten Schaft; die linke hat aber halb so breite und
deshalb gerade doppelt so viel Cannelüren wie die rechte. Aus der dritten,
rautenförmig gemusterten Säule sind die Theile, welche an der linken ver¬
tieft ausgearbeitet sind, an der rechten erhaben behandelt, und umgekehrt.
Sehr auffällig ist es endlich auch, daß an den beiden inneren, spiralförmig
ornamentirter Säulen die Spirale an beiden nach derselben Richtung
umläuft.
Ueber das Innere der Kirche berichtet Andreas in zwei Zeilen nach „Otto's
(sie) Handbuch u. s. w.", womit jedenfalls Otte's „Handbuch der christlichen
Kunstarchäologie" gemeint ist. Ueber die auf der fünften Tafel abgebildeten
beiden Kanzeln weiß er weiter nichts anzugeben, als daß die ältere, die so¬
genannte Tulpenkanzel, kurz vor 1S20 — wo nach seiner Ansicht der Bau
des Doms vollendet war — entstanden sein müsse, daß sie „mehr ähnlich
einem Throne für Oberon und Titania, als einer Kanzel, übrigens ein
Meisterstück der Technik" sei, und daß sie „ihrer überzierlichen und luftigen
Structur wegen sich als halsbrecherisch erweisen mußte"; von der andern schreibt
er, daß sie, „gestützt vom stattlichen Bergmanne, der zum völligen Durchbruch
der Renaissance gelangten folgenden Periode angehört." Ueber den Gegen¬
stand der Darstellung nicht eine Silbe; nicht einmal das erfährt man, aus
welchem Material die beiden Kanzeln gefertigt sind.
Die kunstvolle „Tulpenkanzel" stammt sicherlich bereits aus dem Ende
des fünfzehnten Jahrhundets. Sie ist durchweg aus Sandstein gearbeitet, und
nur der vom Deckengewölbe herabhängende Schalldeckel ist aus Holz geschnitzt.
Eine eingehende Beschreibung derselben giebt Heuchler (a. a. O. S. 20 f.),
eine kürzere Lübke in seiner „Geschichte der Plastik" (2. Aufl. S. 634), welcher
wohl mit Recht schwäbische Einflüsse in dem Werke erkennt. Die andere, eben¬
falls steinerne Kanzel stammt nicht aus der Zeit des „völligen Durchbruchs der
Renaissance" — das würde in Deutschland die zweite Hälfte des sechzehnten
Jahrhunderts sein. — sondern sie ist erst 1638 auf Kosten des Freiberger Bürger¬
meisters Jonas Schönleben erbaut worden. Auch von ihr hat Heuchler
eine sorgfältige Beschreibung (a. a. O. S. 42) geliefert, der freilich bei seiner
einseitigen Vorliebe für die Gothik ihrer künstlerischen Bedeutung nicht gerecht
wird; er ist der Ansicht, daß hier nur „Gewöhnliches geleistet" sei, während
Lübke, der ihrer in seiner „Geschichte der deutschen Renaissance" (S. 800)
auch gedenkt, sie richtiger als ein Werk „in elegcu.ten Renaissancesormen, mit
tüchtigen Reliefs" bezeichnet.
Das ärgste und eigentlich etwas geradezu lächerliches leisten die An-
dreae'schen Erläuterungen betreffs der sechsten Tafel, welche das prachtvolle
Grabmonument des Kurfürsten Moritz vorführt. Der Herausgeber nennt es
kurzweg „das von schönem Eisengitter umgebene, reich aus Marmor. Ala¬
baster und Bronze gebildete Moritzmonument/' Hiermit ist sein Wissen er¬
schöpft. Dagegen verabsäumt er nicht hinzuzufügen: „Im Hintergrunde links
oben an der Wand die Rüstung des Kurfürsten, welche er in der Schlacht
von Stevershausen trug, als er den tödtlichen Schuß unter dem Gürtel in
die Hüfte erhielt, worauf am 11. Juli 1653 sein Tod erfolgte." Also von
der Geschichte des herrlichen Kunstwerkes nicht ein Wort, dagegen mit um¬
ständlicher Genauigkeit die Stelle, wo den Kurfürsten Moritz die tödtliche
Kugel traf. Ist es nicht, als ob man den Küster hörte, welcher den
„artistischen Leiter" in der Kirche herumgeführt haben mag?
Da Andreae die Erbauung der Begräbnißkapelle in das Jahr 1388
setzt und über die Entstehungszeit des Moritzmonumentes nicht einmal eine
Vermuthung äußert, so scheint er zu glauben, — und auch der Leser muß
das annehmen, — es sei dies zu derselben Zeit errichtet worden. Dem ist
jedoch nicht so. Das Grabmal des Kurfürsten Moritz ist in den Jahren
1569 bis 1563 entstanden, und zwar sind wir — Dank den archivalischen
Forschungen, die G. v. Berlepsch und Jul. Schmidt darüber veröffentlicht
haben*) — über die Geschichte desselben so genau unterrichtet, daß ich sagen
möchte, wir kennen jeden Gesellen mit Namen, der daran geholfen hat. Die
Schmidt'schen Forschungen hat überdies Lübke in seiner „Geschichte der deutschen
Renaissance", wenigstens in der zweiten Hälfte derselben (S. 776 und 800), bereits
verwerthet.
Den Entschluß, das Andenken seines Bruders durch ein außergewöhn¬
lich prächtiges Grabmal zu ehren, faßte Kurfürst August schon 1668. Die
damals am sächsischen Hofe weilenden Maler aus Brescia, die Gebrüder
Gabriel und Benedict deTola. die seit 1550 hauptsächlich mit der De¬
koration des Dresdner Schlosses beschäftigt waren, erhielten damals den Auftrag.
Zeichnungen dazu zu entwerfen, und nach mannichfachen Abänderungen derselben
mußte der Hofschreiner Georg Fleischer nach diesen Zeichnungen ein
Modell „im Jungen", d. h. im verjüngten Maßstabe, schnitzen. Der Gedanke,
das ganze Denkmal in Metall gießen zu lassen, wurde wegen der zu hohen
Kosten — der Anschlag war „auf etlich viel Tausend Gülden gemacht" —
bald wieder aufgegeben. Man wandte sich an die beiden Steinmetzen Melchior
Barthel und Hans Walther mit der Anfrage, wie hoch das Denkmal zu
stehen kommen würde, wenn die „Visirung" oder „Schampfelun" (Chablone)
in pirnaischcm Sandstein ausgeführt werden sollte. Sie forderten 6000
Thaler, und auch diese Summe erschien dem Kurfürsten zu hoch. Da erbot
sich der Lübecker Goldschmied Hans Wessel, der damals in Dresden weilte,
das Denkmal in Antwerpen aus niederländischen Marmor für 2800 Thaler
herstellen zu lassen. Er bekam das Modell überantwortet, im Juli 1559
wurde der Contract abgeschlossen, worin die Lieferungszeit auf 1^/z Jahr
festgesetzt war, und nun beauftragte Wessel den Antwerpener Bildhauer An-
thoniesen van Zerun (Szerunn. Szerroen) mit der Ausführung. Als
Vorlage für die Portraitstatue des Kurfürsten Moritz, welche an dem Grab¬
mal angebracht werden sollte, wurde bei dem „Fürstenmaler" Hans Kreil
in Leipzig ein Portrait des Kurfürsten bestellt und Wesseln im Frühjahr
1560 nachgeschickt. Inzwischen wurde durch einen Umbau des Domchores
im Freiberger Dome für das zu erwartende Denkmal Raum und Licht ge¬
schafft. Aber erst im September 1661 waren die Bestandtheile des Unterbaues
vollendet und wurden nach Hamburg gebracht. Da stellte sich heraus, daß
die zehn Greisen, welche die obere Plattform tragen sollten, aus Marmor ge¬
macht, nicht die nöthige Festigkeit haben würden, und Wessel mußte sie daher in
Lübeck aus Messing gießen lassen. Endlich wurde das Denkmal im Juli 1562,
begleitet von zwei Gesellen Meister Zerun's, die dann auch in Freiberg den
Aufbau besorgten, Hans Florian aus Antwerpen und Hans Hausmann aus
Bremen, nach Sachsen verschifft. Im November 1562 waren alle Bestand¬
theile in Dresden angelangt, und Anfang 1563 wurde das Denkmal in
Freiberg errichtet. Das Crucifix, vor welchem Kurfürst Moritz knieend dar¬
gestellt ist, hatte Meister Anthoniesen nicht für räthlich gehalten, so hoch
und dünn aus Marmor herzustellen. Es wurde daher nach dem vom Hof¬
schreiner Georg Fleischer in Holz geschnitzten Modell von dem Freiberger
Glocken- und Stückgießer Wolf Hilliger aus Messing gegossen.
Den archivalischen Forschungen Julius Schmidt's*) verdanken wir nun
aber auch zugleich eine genaue Baugeschichte der kurfürstlichen Begräbnißkapelle
im Freiberger Dom, durch welche die reiche ältere Literatur über dieses Bau¬
werk**) gänzlich antiquirt worden ist. und wenn Andreas sich um diese For¬
schungen gekümmert hätte — er weiß von der älteren Literatur freilich eben
so wenig — so würde er auch als Erläuterung zu den Tafeln 7 bis 1t)
etwas ganz anderes haben bieten können, als die kahle Notiz, daß Christian I.
im Jahre 1588 den Dresdner Hofbaumeister Nosseni von Lugano mit ihrer
Herstellung beauftragt habe, und die nichtssagende und obendrein schlecht sti-
lisirte Phrase: „Man muß den Architecten, Bildhauer und Decorateur be¬
wundern, welche Fülle zumeist gut «ertheilter Zier er im kleinen Raume
untergebracht."
Den Plan zur Erbauung der Begräbnißkopelle im Dom zu Freiberg
hatte bereits Kurfürst August im Jahre 1585 gefaßt, als seine Gemahlin,
die Kurfürstin Anna, gestorben war. Schon damals sandte er seinen Zeug¬
meister Paul Buchner und seinen Baumeister Nosseni nach Freiberg zur Be¬
sichtigung des Domchores, und diese fertigten denn auch Pläne und Zeich¬
nungen an. Giovanni Maria Nosseni war 1344 in Lugano im Can-
ton Tessin geboren, wurde Anfang des Jahres 1873 an den Dresdner Hof
berufen und im Sommer dieses Jahres als kurfüstlicher Baumeister, Bild¬
hauer und Maler angestellt. Nach Kurfürst August's Tode nahm dessen
Sohn und Nachfolger, Kurfürst Christian I., ein baulustiger Herr, den Plan
seines Vorgängers auf. In den sächsischen Serpentinstein-, Alabaster- und
Marmorbrüchen, um deren Erschließung sich Nosseni große Verdienste erworben,
begann ein reges Leben. Im Herbst 1588 reiste Nosseni auf mehrere Monate
nach Italien, unter anderem auch zu dem Zwecke, um von dort Bildhauer,
Bildgießer und Steinmetzen mitzubringen. In Florenz setzte er sich mit
Giovanni da Bologna in Verbindung, und durch dessen Vermittlung wurde
der Erzgießer Carlo de Cesare, der damals am Florentiner Hofe beschäf¬
tigt war, zeitweilig für Sachsen gewonnen. Ende Dezember 1588 kehrte
Nosseni zurück, im Herbst 1590 langte auch Carlo de Cesare mit seinen Ge¬
hilfen in Freiberg an. Dem Letzteren wurde Modellirung und Guß der vier
bronzenen Statuen von Herzog Heinrich (Tafel 9 bei Andreae), Kurfürst
August und den Gemahlinnen beider (Kurfürstin Anna auf Tafel 10), der
vier Figuren der Fides, Charttas, spes und Justitia, welche sich in den
Nischen der Altarkapelle befinden (Tafel 8) und der acht als Schtldhalter
dienenden Engel übertragen.
Als Christian I. 1591 starb und drei unmündige Prinzen hinterließ,
wurde die Fortführung des Werkes ernstlich gefährdet. Die von den fürst¬
lichen Vormündern, Kurfürst Johann Georg von Brandenburg und Herzog
Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar, eingesetzte Commission rieth, den
Bau auf bescheidenere Grenzen einzuziehen und die Mehrzahl der Arbeiter
zu entlassen. Der letztere Vormund, welcher Administrator des kursächsischen
Landes war, entschied sich dafür, ein einfacheres Monument zu bauen, zu
dem die bereits bearbeiteten Steine verwende: werden sollten. Buchner und
Nosseni stellten ihm jedoch vor, daß bereits mehr als die Hälfte der Marmor-
stücke bearbeitet sei und daher ohne großen Schaden der Bauplan nicht mehr
geändert werden könne, und da auch der Brandenburger Kurfürst, dem die
Zeichnungen und Modelle eingesandt worden waren, seinen Einfluß geltend
machte, so willigte der Administrator endlich ein, daß nach dem ursprünglichen
Plane weiter gearbeitet, jedoch die Arbeit verzögert werden sollte, damit die
Baukosten sich auf mehrere Jahre vertheilten. Nun goß Cesare, mit Hilfe eines
einheimischen Gießers, wahrscheinlich Martin Hilliger's, die oben erwähn¬
ten sechzehn Figuren, zu denen dann noch das Crucifix für den Altar, die
Statuen des Johannes und Paulus, die Statue Christian's I. und die zahl¬
reichen Stuckfiguren kamen. Der Maler Hans Richter aus Freiberg
bemalte die Figuren und Wolken am Chorgewölbe und bronzirte die Stuck¬
figuren, der Freiberger Steinmetz Hierony mus Eck ar de übernahm die Sand¬
steinarbeiten. Im Herbst 1S94 war der Bau vollendet und wurde nur noch
ein Jahr darauf durch die prachtvollen schmiedeeisernen Gitter (Tafel 7) vom
Domschiff getrennt, ein Werk der beiden Dresdner Schlossermeister Hans
Weber und Hans Klencke. Endlich war auch dem Grabmale Christian's I.
gegenüber schon die Stätte bereitet worden, die einst das Standbild seiner
Wittwe, Sophie von Brandenburg, aufnehmen sollte. Zwei Jahre nach dem
Tode dieser Fürstin, 1624, wurde denn auch der Nachfolger Nossent's am
sächsischen Hofe, Sebastian Walther, mit den Bildhauerarbeiten, der kur¬
fürstliche Stückgießer Hans Hilliger mit dem Guß der Statue beauftragt.
Doch kam der Auftrag nicht zur Ausführung, wahrscheinlich weil der Guß
mißlang, und so erblicken wir jetzt an dieser Stelle die Statue Johann
Georg's I. (1- 1636) von der Hand des venetianischen Erzgießers Pietro
Boselli.
Zu den merkwürdigsten Kunstdenkmälern des Freiberger Doms gehören
die zahlreichen, auf dem Boden der Begräbnißkapelle befestigten messingenen
Grabplatten mit den lebensgroßen Bildnissen der darunter begrabenen Glie¬
der des sächsischen Fürstenhauses. Nirgend in ganz Deutschland findet
sich ein solcher Reichthum derartiger Platten wie hier.*) Der Meißner
Dom besitzt deren elf, welche sämmtlich dem Ausgange des fünfzehnten und
Anfang des sechzehnten Jahrhundertsangehören; die früheste ist dem 1487 ge¬
storbnen Bischof Sigismund von Würzburg, dem Sohne Kurfürst Friedrich's des
streitbaren, die beiden jüngsten Herzog Georg dem Bärtigen und seinem Sohne
Herzog Friedrich, beide 1539 gestorben, geweiht**). Im Freiberger Dom aber
befinden sich deren 28 — nicht 24, wie Andreae gezählt hat — elf von er-
wachsenen Personen und siebzehn von Kindern. Zwei dieser Platten hat Andreae
mit abbilden lassen, die des im Jahre 1541 verstorbnen Herzog Hi>inrich's des
Frommen und die eines 1612 im ersten Lebensjahre verstorbenen Söhnleins
Kurfürst Johann Georg's I. Aber auch über sie weiß er in seinen Erläute¬
rungen weiter nichts zu bemerken, als daß sie „geschickt gravirt« sind; über
ihre Geschichte und ihre Technik erfahren wir nicht eine Silbe.
Nun sind wir aber auch über die Freiberger Grabplatten schon seit
mehreren Jahren so gut orientirt, wie wir nur wünschen können.*) Es ist
so gut wie sicher, daß sie sämmtlich aus den Gießhütten der berühmten Frei¬
berger Glocken- und Stückgießerfamilie Hilliger (Hilger, Hylger) hervor¬
gegangen sind, die bereits seit dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts in
Freiberg nachweisbar ist. Der erste hervorragende Vertreter dieser Familie, die
von schlichten „Kandelgießern" sich allmählich zu kunstgeübten Meistern em¬
porgearbeitet hatte, war Martin Hilliger (1484 — 1644). Von diesem
stammte der berühmteste des ganzen Geschlechts, Wo is Hillig er (1611 —1676)
und dessen jüngerer Bruder Oswald Hilliger (geb. 1618, gestorben 1646
in Stettin) ab. Wolf bekleidete seit 1667 wiederholt das Bürgermeisteramt
in seiner Vaterstadt, 1667 wurde er zum kurfürstlichen Stückgießer ernannt.
Seine Thätigkeit erstreckte sich weit über Sachsen hinaus; Glocken mit der
Inschrift „Wolff Hylger zu Freibergk goß mich" sind weit verbreitet. Von
ihm und seinem Bruder Oswald gemeinschaftlich gearbeitet ist die prachtvolle
Bronzetafel mit Porträtmedaillons in der Schloßkirche zu Torgau vom
Jahre 1646,**) von Wolf allein das prächtige, mit vielen Statuetten ge¬
schmückte Grabmal des 1660 gestorbenen Herzogs Philipp I. von Pommern
in der Peterskirche in Wolgast. Im Freiberger Dom stammt, wie oben er¬
wähnt, nachweislich aus seiner Werkstatt das Crucifix auf dem Grabmale des
Kurfürsten Moritz und außerdem mindestens acht Grabplatten, nämlich die
von Herzog Heinrich's des Frommen Gemahlin Katharina und von sieben der
Meist in zartem Alter verstorbenen Kinder Kurfürst August's. Der Ruf Wolf
Hilltger's erbte sodann auf seinen ältesten Sohn Martin Hilliger (geb.
1L38, gestorben 1601 in Dresden) der schon dem Vater ein treuer Gehilfe
gewesen war. Er scheint auch schon bei dessen Lebzeiten selbständig durch
Kurfürst August beschäftigt gewesen zu sein, wurde aber 1677 beurlaubt und
lebte bis 1687 in Graz im Dienste Erzherzog Carl's von Steiermark. Graz
besitzt noch jetzt von ihm eine mächtige Glocke in dem von dem genannten
Erzherzog erbauten Glockenthürme auf dem Schloßberge vom Jahre 1578.*)
Nach seiner Rückkunft nach Dresden 1587 wurde ihm von Kurfürst
Christian I. — Kurfürst August war im Jahre zuvor gestorben — seine
Bestallung erneuert. In Dresden rühren von ihm die beiden prachtvollen
Bronzesäulen im Hofe des seit 1586 von Kurfürst Christian I. erbauten
Stallgebäudes her, die Träger der Ringe, nach denen beim Rtngelrennen gestochen
wurde**). In Freiberg unterstützte er dann, wie oben erwähnt, Carlo de
Cesare in seinen Arbeiten für die Begräbnißkapelle. Von den Freiberger
Grabplatten sind ihm mindestens fünf sicher zuzuweisen, welche sämmtlich in den
Jahren 1593 und 1594 entstanden sind: die von Kurfürst August und selner
Gemahlin Anna, die von Kurfürst Christian I. und von zwei Töchterchen
des Letzteren. Von den vier Söhnen Martin Hilliger's übernahm später
Hans Hilliger (1567 — 1640) die Stellung des Vaters. Er wurde 1602
von Kurfürst Christian II. zum kurfürstlichen Büchsengießer berufen; 1614
war er regierender Bürgermeister von Dresden. Er goß das noch heute auf
der Moldaubrücke in Prag stehende große Crucifix, und von den Freiberger
Grabplatten sind drei mit Bestimmtheit auf ihn zurückzuführen, die der Ge¬
mahlin Kurfürst Christian's I., Sophie, — die Statue der Fürstin, mit deren
Guß er ebenfalls beauftragt war, kam, wie oben bemerkt, nicht zur Voll¬
endung — die seiner Tochter, der Herzogin Dorothea, der Aebtissin zu Qued¬
linburg, und die für „Herzog Heinrich", d. h. jedenfalls für den kleinen Sohn
Johann Georg's I. Die späteste Grabplatte, die 1643 für ein Töchterchen
desselben Kurfürsten gegossen wurde, ist ein Werk des Hans Wilhelm
Hilliger (gestorben 1649), der 1640 an seines verstorbenen Vaters Statt
zum kurfürstlichen Büchsengießer ernannt wurde.
Was das technische Verfahren bei der Herstellung der Freiberger Grab¬
platten betrifft, so giebt der Gießer in dem Voranschlag, den er über die
zuletzt genannte Platte einreichte, die damit vorzunehmenden Manipulationen in
folgender Reihe an: „Die Tafel zu formen, gießen, blank auszubereiten und
poliren, das Conterfet, die Wappen. LompartAmentg, und Schriften einwärts
zu hauen, schwarz einzulassen und gänzlich fertig zu machen, für jeden Centner
fertigen Guß 21 si.". und in dem Vertrag, den Martin Hilliger wegen der
oben genannten fünf, in den Jahren 1593 bis 1594 gegossenen Platten ab¬
schloß, heißt es. daß er nicht allein die Platten gießen, sondern auch „die
Contrafekt. Wappen, Landschaften und andere darauf gehörige Zier reißen
und schraffiren. desgleichen die Schriften erhaben aushauen und durch Maler
und Goldschmiede alles um 15 si. 15 gr. den Centner auf's sauberste bereiten
lassen solle." Hieraus scheint hervorzugehen, daß die Platten nach vollendetem
Guß zunächst polirt wurden, daß dann jedenfalls der Hofmaler die zu gravirenden
Figuren und Inschriften darauf vorzeichnete und diese nun vom Goldschmied
mit dem Meißel ausgeschlagen wurden, hierauf die Vertiefungen mit einer
schwarzen Harzmasse ausgefüllt und endlich das Ganze nochmals polirt
wurde. Dabei wird stets der Unterschied festgehalten, daß die Portraitfigur
und alle Ornamente wie beim Kupferstich einfach eingravirt, die Buchstaben
dagegen wie beim Holzschnitt rings umschritten wurden, so daß sie erhaben
stehen blieben.
Die Entstehungszeit der auf Tafel 13 wiedergegebenen fünf alten Holz¬
bilder und der auf Tafel 14 abgebildeten schmiedeeisernen Thür läßt sich nicht
Präcisiren; die ersteren stammen jedenfalls zum Theil noch aus dem 15. Jahr¬
hundert: auf dem Saume des Palltums der in der Mitte stehenden Christus¬
figur läuft das ?ater »ostvr um, was dem Herausgeber natürlich nicht ein¬
gefallen ist zu lesen. Die Gitterthür, von welcher Andreae bemerkt, daß sie
„ehemals den Kreuzgang geschmückt" habe, dürfte auf keinen Fall viel älter
sein, als die an der Begräbnißkapelle befindlichen Gitter.
Das parlamentarische Ereignis? der Woche war die Rede des Reichskanzlers
in der Sitzung vom 5. Dezember. Was sonst in dieser Woche vorgekommen:
zweite und dritte Lesungen verschiedener Theile der Haushaltsgesetze und der¬
gleichen darf übergangen werden. Auch die Sitzungen vom 27. November
bis 2. Dezember will ich heute nur kurz berühren. Gegenstand dieser letzteren
Berathungen ist die zweite Lesung der Strafprozeßordnung gewesen. Auch
hier hat man gegen die Regierungsvorlage Aenderungen beschlossen, welche,
obwohl nicht so bedeutend wie diejenigen im Gerichtsverfassungsgesetz, das
Schicksal der Justizgesetze gefährden müssen. Von solchen Aenderungen mache
ich nur die Befreiung der Aerzte von der Zeugnißpflicht namhaft, die eine
wahre Ungeheuerlichkeit ist. Man könnte zuweilen in Versuchung kommen,
unseren Reichsboten zuzurufen, daß sie ein Gesetz zum Schutz der Gesellschaft
zu machen haben, nicht aber ein Gesetz, dessen Bestimmung etwa durch den
Titel zu bezeichnen wäre: „Zur größeren Bequemlichkeit der Herren Mörder."
Also wenn ein roher Mann seine Frau mißhandelt bis zur Lebensgefahr,
und der Arzt wird gerufen; oder wenn eine Giftmischerin ihrem Manne oder
ihrem Kinde Gift beibringt und der Arzt wird wiederum gerufen und solche
Dinge kommen zur Untersuchung, so darf der Arzt mit Bezug auf seine
Vertrauensstellung das Zeugniß verweigern! Zu solchem haarsträubenden
Widersinn führt die Schwäche eines großen Theils unserer Juristen, die gar
nicht mehr wissen, daß sie die Gesellschaft zu schützen haben und nicht alle
möglichen Jämmerlichkeiten des Privatlebens mit dem Mantel der Senti¬
mentalität zuzudecken. Indem man den Aerzten die Verweigerung des Zeug¬
nisses freistellen will, erreicht die Sache den Gipfel des Widersinns. Denn
nun ist die öffentliche Meinung in ihrem Recht, wenn sie aus jedem ver¬
weigerten Zeugniß auf ein Unrecht schließt, dessen Mitwisser und Mitschuldiger
der Arzt ist. In den Fällen aber, wo die Aerzte aus eigenem Willen
Zeugniß ablegen, wird ihnen dies wiederum verdacht und jeder einzelne Fall
streng kritisirt werden. Wenn endlich die Aerzte nicht zum Belastungszeugniß
gezwungen werden sollen, so können sie auch nicht zum Entlastungszeugniß
zugelassen werden. Was wäre das für eine Wirthschaft und für ein Gerichts¬
verfahren, wenn der Arzt bezeugen dürfte, daß er einen Mörder des Morgens
zur ärztlichen Untersuchung empfangen, und damit dem Mörder einen Stein
zum Aufbau eines Alibibeweises liefern dürfte, während derselbe Arzt nicht
verbunden wäre auszusagen, daß er demselben Mann Abends auf einer ent¬
fernten Station die Wunden verbunden, die ihm im mörderischen Handgemenge
zu Theil geworden. Es ließe sich noch vieles sagen über die criminalpolitische
Verwirrung unserer Gesetzgeber bei diesem und so manchem anderen Punkt.
Es sei jedoch die Charakteristik der Strafprozeßordnung auf den Zeitpunkt
der dritten Lesung des Gesetzes verspart.
Ich gehe zur Sitzung vom 6. Dezember über. Es ist schwer, heute noch
etwas über eine Rede zu sagen, deren Worte schon seit vier Tagen, wie man
wohl sagen kann, durch Europa dröhnen. Neben dem europäischen Ereigniß
politischer Erklärungen von der größten Tragweite steht das locale Ereigniß
— der beispiellosen Niederlage eines fortschrittlichen Abgeordneten. Herr
E. Richter gab dem Reichskanzler zu politischen Erklärungen Anlaß dadurch,
daß er interpellirte, was der Reichskanzler den neuesten russischen Zoller¬
höhungen gegenüber zu thun gedenke. Einen solchen Anlaß geliefert zu haben,
ist ja ein gewisses Verdienst. Aber die Art, wie Herr Richter seine Jnter¬
pellation begründete, hat ihm nicht nur eine persönliche Niederlage zugezogen,
sie hat auf unsere parlamentarische Befähigung ein unrühmliches Licht vor
dem ganzen Ausland geworfen, welches bei dieser Gelegenheit schärfer als
sonst den palamentarischen Vorgang wahrzunehmen veranlaßt war. Was
soll das Ausland denken, wenn in einem Augenblick, wo alle Theile desselben
ebenso einmüthig als widerwillig die wichtige Stellung Deutschlands und
die Größe des deutschen Staatsmannes empfinden, ein Mensch auftritt, der
eine Jnterpellation damit beginnt, daß er den Kanzler einen Dilettanten
nennt und ihm in's Gesicht sagt, daß er von seinen dilettantischen Einfällen
im Reichstag nichts durchbringen werde: Einfälle, die er, der Interpellant,
nicht ernsthaft zu nehmen vermöge? Wenn man diesen Eingang gehört hatte,
konnte man in der That gespannt sein. wie der Kanzler sich solcher selbst"
gefälligen Insolenz gegenüber verhalten würde. Und was that der Kanzler?
Er begnügte sich einfach, die langen Phrasen des Interpellanten mit einer kurzen
Phrase wiederzugeben, indem er den letzteren fragte, wie der Interpellant zu der
Hoffnung komme, durch einen Minister etwas ausgerichtet zu sehen, den der
Interpellant im Inland als Dilettanten, im Ausland als ohnmächtig gegen¬
über dem Parlament darstellt. Die Wirkung dieser Frage war in der That
eine der durchschlagendsten, die in den Berichten parlamentarischer Kämpfe
verzeichnet stehen. Man sah beinahe mit leiblichen Augen die aufgeblasene
Nichtigkeit an einen Koloß anprallen, der unbewegt nur den schwachen Hohl¬
klang des gewichtlosen Körpers wiedertönen ließ. Um das Opfer dieser
Niederlage kümmerten selbst so gute Freunde wie die Ultramontanen sich
nicht im mindesten, deren Führer, Herr Windthorst, sogar die Gelegenheit
wahrnahm, recht deutlich durchscheinen zu lassen, daß seine Partei, wenn die
Politik des Kanzlers nur ein wenig sich den Bahnen der Partei accommodiren
wollte, zum Einlenken in die vollkommene Parallele noch immer auf's schnellste
bereit ist. Indem der Reichskanzler, nachdem die polemische Arbeit spielend gethan
war, sich zum positiven Theil seiner Erklärung wandte, sprach er zunächst eine
Wahrheit von bleibendem Gehalt aus: die Wahrheit nämlich, daß die Macht-
Politik niemals in den Dienst der Handelspolitik gestellt werden darf. Wollte
eine Regierung die politische Macht, das Bedürfniß anderer Nationen, mit
ihr Alliancen einzugehen, und ähnliche Verhältnisse zur Erlangung handels¬
politischer Vortheile benutzen, so würden alle natürlichen oder vermeintlichen
Interessen fremder Völker gegen eine solche Regierung arbeiten. Die von
der englischen Politik so lange gehandhabte Methode, durch die politische
Macht die Handelsinteressen zu fördern, hat unter anderem zum Verlust der
nordamerikanischen Colonien geführt und wird schließlich nur noch von
barbarischen und halbbarbarischen Nationen widerwillig ertragen. Dieses
System hat am meisten dazu beigetragen, daß die Stellung Englands unter
den civilisirten Nationen mehr und mehr eine isolirte geworden ist, die Stellung
einer asiatischen Macht, mit welcher Bezeichnung einmal ein englischer Staats¬
mann die zunehmende Schwächung des englischen Einflusses in Europa zu
verdecken meinte.
Für die Unzulässigkeit einer Vermischung der Wirthschaftspolitik mit der
Machtpolitik hob der Kanzler noch den Umstand hervor, daß in den politi¬
schen Verhältnissen der Wechsel viel größer ist, als ihn die wirthschaftlichen
Dinge vertragen. Sollen wir heute unsere Grenze vor dem Handel einer
Macht zuschließen, weil uns dieselbe in einer politischen Frage gegenübersteht?
Wenn Niemand dies verlangt, selbst Herr Richter nicht, der Retorsionen sogar
auf dem alleinigen Gebiet der Handelspolitik für Dilettantismus erklärte, so
ist das Gegenstück davon genau ebenso thöricht: das Verlangen nämlich,
eine Macht, weil sie unseren Handel erschwert, durch politische Retorsionen, durch
Schädigung ihrer politischen Interessen, oder durch die Drohung damit auf
andere Wege zu bringen. Man wird sich mit dieser Methode politisch scha¬
den und wirthschaftlich nicht verbessern. Wenn Herr Richter so unbedingt
behauptet, daß man mit Zollretorfionen sich selbst immer am meisten schade,
so ist unbegreiflich, wie er leugnen mag, daß man mit politischem Druck gegen
fremde wirthschaftliche Maßnahmen sich noch weit ärger zu schädigen in
Gefahr kommt. Hier heißt es recht eigentlich: mit derselben Münze zahlen!
Machtvortheile müssen mit Machtvortheilen, Handelsvortheile mit Handelsvor¬
theilen aufgewogen werden. — Sind wir denn überhaupt dabei, Rußland
einen Machtvortheil zu gewähren, für den wir einen Handelsvortheil fordern
könnten, wenn solcher Tausch überhaupt zulässig wäre? Der Kanzler stellte
dies in Abrede, und kam damit zur Erläuterung der Stellung Deutschlands in
der actuellen Krisis. Deutschland ist nicht ausschließlich Rußlands Freund, sondern
in gleich freundschaftlichem Verhältniß zu allen Mächten, welche sich in der
gegenwärtigen türkischen Krisis als Rivalen gegenüber treten oder gegenüber
treten könnten. Deutschland — dies sagte der Kanzler nicht mit unmittel¬
baren Worten, aber es sprang aus seinen Worten hervor — hat den Ge¬
gensatz zwischen Oesterreich und Nußland beschwichtigt und hat viel erreicht,
um den Gegensatz zwischen England und Rußland nicht minder zu beschwich¬
tigen. Kommt es zum Krieg zwischen Rußland und der Türkei, so ist ge¬
gründete Hoffnung vorhanden, daß der Kampf lokalisirt bleibt. Diese Hoff¬
nung ruht darauf, weil Rußland sich in seinen Ansprüchen mäßigt. Der
Kanzler setzt volles Vertrauen in die Erklärung des russischen Kaisers gegen
Lord Loftus am 2. November, und diese Vertrauenserklärung aus diesem
Munde vor ganz Europa kommt einer Bürgschaft gleich. Wenn Nußland,
auch im Fall es zu den Waffen greift, nichts weiter erreichen will, als die
Garantie des Looses der orientalischen Christen, so wird diesem Zweck keine
europäische Macht sich widersetzen, und keine hat die Veranlassung dazu.
Seitdem Fürst Bismarck unter die Zusage russischer Mäßigung gleichsam
das Siegel gedrückt, während er andrerseits dem russischen Zweck in der an¬
gegebenen Beschränkung seine Billigung gegeben und ihn als Eulturzweck be-
zeichnet hat, seitdem ist die Gefahr eines europäischen Krieges so gut wie
verschwunden. Allerdings würde die Verbesserung des Looses der orientali¬
schen Christen, durch russische Waffen herbeigeführt, dem russischen Namen im
Orient einen Glanz verleihen, wie er seit dem Krimkrieg verblichen und wie
er in gleicher Stärke den russischen Namen einst umleuchtet hat, als Kaiser
Nicolaus auf der Höhe seiner Macht stand. Schon deshalb ist anzunehmen,
daß England alles aufbieten wird, die Pforte auf der bevorstehenden Con-
ferenz zur Nachgiebigkeit zu bestimmen. Ob nun aber das Loos der orien¬
talischen Christen mittels des Schwertes oder ohne das Schwert verbessert
wird, Deutschland ist es. welches den europäischen Frieden erhalten, welches
durch Unterstützung bei einem gerechten Zweck sich den Dank Rußlands er¬
worben, und andrerseits England wie Oesterreich durch Abwendung einer Ge¬
fährdung ihrer Interessen sich verpflichtet hat.
Diese Situation war es, welche sich in der Rede des Kanzlers am 6.
Dezember zeichnete, und während der Redner kein Wort sprach, daß er sich
der Macht Deutschlands bediene, selbst nur um Rathschlägen Gewicht zu geben,
leuchtet hervor, daß Deutschland in einem Augenblick, der die Welt von der
"statischen Grenze des stillen Oceans bis zur europäischen Grenze des atlan¬
tischen Oceans zu entflammen drohte, das Schiedsrichteramt zur Bewahrung
des Friedens geübt hat, ohne einen einzigen Mann unter die Waffen zu
stellen und ohne ein einziges Wort der Dringlichkeit, geschweige denn der
Der Verfasser hat im Jahre 1873 eine Schrift unter demselben Titel
^röffentlicht. in welcher er die Wirksamkeit der Gesellschaft Jesu an den
österreichischen Gelehrtenschulen vom Anfang des vorigen Jahrhunderts bis
"uf die Gegenwart darstellte. Da er hierbei eine Reihe den Jesuiten nicht
inen Ruhme gereichender Wahrheiten aussprechen mußte und namentlich dar-
^at, daß die Vorbildung der jesuitischen Gymnasiallehrer im hohen Grade
Mangelhaft gewesen sei. so erschien 1875 unter dem Titel „Beleuchtung"
°>ne Gegenschrift von Rupert Ebner, 3. 5.. die jene Thatsachen leugnete,
^as obenbezeichnete Buch ist die Antwort darauf und zwar eine Antwort,
^ nicht schlagender ausfallen konnte. Professor Kelle hatte in seiner ersten
Schrift nur seine gedruckten Hülfsmittel citirt und die ungedruckten nur an¬
gedeutet. Jetzt läßt er auch die letzteren Quellen fließen, und wir meinen,
daß der Orden alle Ursache zu dem Wunsche hat, lieber geschwiegen zu haben.
Denn der Text des neuen Buches ist ein Mosaikbild der in der Wiener
Hofbibliothek aufbewahrten Schriftstücke, in denen sich die Oberen des Ordens
selbst über die Thätigkeit desselben an den österreichischen Schulen geäußert
haben, und diese Aeußerungen lauten genau so ungünstig wie die Darstellung
Kelle's vom Jahre 1873. Die Briefe der Generale und Provinziale, sowie
ihre Verordnungen, die Berichte der jesuitischen Annalisten und die Aufzeich¬
nungen der Ordensmitglieder über den Unterricht sind in wortgetreuer Ueber¬
setzung aus dem Lateinischen in den Text verflochten, und die Beilagen
bringen die übertragenen Stellen in der Originalsprache. Gegen diese Aus¬
sagen, gegen frühere Obere der höchsten Grade müssen sich also die heutigen
Jesuiten wenden, wenn sie den unbesonnen begonnenen Kampf fortsetzen zu
dürfen meinen. Sie werden aber den Sieg niemals gewinnen, da dem Ver¬
sasser noch zahlreiche in Privatbesitz befindliche Aeußerungen ehemaliger
Ordensmitglteder zur Verfügung stehen , die er erst zum Theil benutzt hat.
Daß seine Gegner hiervon nichts wußten, gereicht ihnen nicht zum Vorwurfe.
Schwer begreiflich aber ist, daß denselben auch die angeführten Documente,
die nach der Aushebung des Ordens in die Wiener Hofbtbliothek kamen,
unbekannt geblieben sind. Vermuthlich lebten sie in der Meinung, daß es
ihren- Vorgängern gelungen sei, wie anderwärts, z. B. in Böhmen, so auch
in Oesterreich alle die Societät und ihre Wirksamkeit compromittirenden
Schriftstücke bei Seite zu schaffen oder zu vernichten. Wir empfehlen das
ungemein lehrreiche, die hier in's Auge gefaßte Seite des Wesens der Gesell¬
schaft Jesu gründlicher und zuverlässiger charakterisirende Buch (mit den Bei¬
lagen 304 Seiten) allen, die sich für den Gegenstand interessiren, angelegentlich-
Die Mark Brandenburg führt nach alter Sage den rothen Adler im
Wappen, weil sie mit Blutströmen den Slaven für Deutschland abgewonnen
worden ist. Ihre alte Geschichte hat deshalb für uns ein besonderes Inte¬
resse, und da dieselbe hier einen geschickten Bearbeiter gesunden hat, so heißen
wir diese Culturbilder doppelt willkommen. Der Verfasser hat streng nach
den Quellen gearbeitet, er besitzt das erforderliche Urtheil, um sagenhaftes
vom Geschichlichen zu unterscheiden, und er versteht zu erzählen und zu malen.
Auch die Gesinnung, mit der er schreibt, verdient Anerkennung. Nur bis¬
weilen — in den novellenartig ausgeführten Stücken — läßt er die Men¬
schen der alten Zeit, zu denen er uns führt, in moderner Weise denken und
empfinden, und selten nur begegnen wir einer salbungsvollen Stelle, an der
wir gewahr werden, daß der Erzähler dem geistlichen Stande angehört. Recht
anschaulich und mit guter Kritik schildert er uns zunächst das vieljährige
Ringen der Deutschen mit den Wenden zwischen Elbe und Oder, sowie Na¬
tur und Wesen, Religion und Sitte jener alten Slavenstämme. Ein farben¬
reiches Bild ist das zweite Kapitel, wo wir an das Hoflager der Ballen¬
städter und zu den Jagden, Gerichten und Festen dieses alten Fürstenge¬
schlechts geführt werden. Dasselbe gilt von Ur. 3, das uns ein Turnier
zu Rostock beschreibt, welches im Juli 1311 stattfand, und bet dem Waldemar
von Brandenburg vom dänischen König Erich zum Ritter geschlagen wurde.
Wieder vortrefflich ausgeführte Abschnitte sind die. welche uns vom falschen
Waldemar in Berlin und von Kaspar Gans v. Putlitz sowie, an die Schick¬
sale des Letzteren anknüpfend, von der Demüthigung des wilden und trotzigen
Adels der Mark durch Friedrich, den ersten hier regierenden Hohenzoller, er-'
zählen; ferner das, welches uns von Bernhard Ryke, dem Bürgermeister von
Berlin, berichtet, der demselben gewaltigen Fürsten erlag, sowie das. welches
die Fehde Nickels von Minkwitz erzählt, in welcher während der Uebergangs¬
zeit nach der Reformation der Geist, der in den wüsten Jahrzehnten des
Interregnums ganz Deutschland heimgesucht und verheert hatte, noch einmal
auftauchte. Sehr hübsch ist das Bild des Hauses eines berliner Bürger¬
meisters (Paul Blankenfelde) aus der letzten Hälfte des vierzehnten Jahr¬
hunderts, welches uns der Verfasser nach der Beschreibung von Chronisten
zusammengestellt hat. Eine anmuthige Darstellung alter Lebensweise und
alter Gemüthlichkeit haben wir sodann in dem Kapitel vor uns, welches
uns die Feier des Sonntag Lätare im Jahre 1560 auf einem Edelfitz der
Ukermark schildert und die Weinpredigt mittheilt, die der Pfarrer des dor¬
tigen Junkers über Sirach 32 vor diesem und seinen Gästen hielt. Der
folgende Abschnitt ist der Entstehung und der weiteren Geschichte der Schule
zum grauen Kloster gewidmet, der nächste dem weisen und haushälterischer
Markgrafen Hans von Küstrin. Ein weiteres Kapitel, „Aus trüber Zeit"
überschrieben, beschäftigt sich vorzüglich mit den kirchlichen, wissenschaftlichen
und künstlerischen Zuständen der Mark zwischen der Reformationszeit und
dem dreißigjährigen Kriege, die uns lebendig geschildert werden. Wieder ein
anderes betrachtet den großen Kurfürsten als Schöpfer des preußischen Heeres.
Das vorletzte, „Ein schwedischer Oberst", ist eine Art Novelle aus dem Jahre
1676. Den Schluß des Buches bildet ein Ueberblick über die historischen
Sagen der Mark, von denen eine Anzahl kurz angeführt werden. Wir em¬
pfehlen das Buch angelegentlich. Es ist offenbar mit Liebe geschrieben, der
Verfasser kennt den Schauplatz, auf dem seine Geschichten spielen, genau , er
hat Sinn für die Details, die er geschickt und wirksam zu gruppiren versteht,
er trifft mit wenigen Ausnahmen das Colorit der betreffenden Zeit und weiß
seinen Skizzen Stimmung im geben. Manche Kapitel find in ihren Natur¬
bildern wahre kleine Kabinetsstücke. Interessant und an wirksamer Stelle
eingeflochten sind endlich eine Anzahl alter Volkslieder und Reime, die sich auf
die betreffenden Ereignisse oder Zustände beziehen.
Ein zum Theil recht interessanter Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte,
womit wir namentlich die sehr reichlichen Mittheilungen über den Grafen
Friedrich Leopold von Stolberg meinen, welchem wir in den verschiedenen
Kapiteln der Schrift begegnen, und die mancherlei Neues über den Dichter,
seine Stellung zum Herzog Peter Friedrich Ludwig, zu seinem Freunde
Halem, sein Verhältniß zu seiner ersten und seiner zweiten Frau und seine
religiöse und politische Entwickelung bis zu seinem Uebertritt zum Katho¬
licismus erzählen. Sonst ist von allgemeinem Interesse noch, was der Ver¬
fasser an mehreren Stellen über die Einwirkung der französischen Revolution
auf das geistige Leben im nordwestlichen Deutschland sagt. Auch ein kurzer
Blick auf das ziemlich rege literarische Treiben in der Stadt Oldenburg,
welche sich einige Jahrzehnte hier um Gerhard Anton v. Halem gruppirte
und zur Gründung der dortigen literarischen Gesellschaft führte, würde von
allgemeinem Interesse gewesen sein; in der breiten Ausführung aber, die wir
erhalten, wird man diese Mittheilungen über Schriftsteller und Dichter dritten
und vierten Ranges, wackere, wohlmeinende, strebsame, jetzt aber in weiteren
Kreisen längst vergessene, wenn überhaupt je zu einiger Geltung gelangte
Mittelmäßigkeiten, wohl nur in der Stadt Oldenburg, wo sie lebten und
eine gewisse Rolle spielten, willkommen heißen.
Eine Anzahl von Buchhändlerannoncen, die zum Theil mit Proben aus
den angezeigten illustrirten Werken ausgestattet sind, der aber zugleich ein
Bericht über die beachtenswerthen Erscheinungen des deutschen Büchermarktes
in der Zeit vom October 1875 bis zum September d. I. und ein syste¬
matisches Verzeichnis? bereits früher erschienener, für das größere Publicum
bestimmter Bücher vorausgehen. Letzteres ist reichhaltig, gut gewählt und
geschickt angeordnet. Der Jahresbericht zeigt allenthalben ein verständiges
Urtheil, volle Sachkenntniß und guten Geschmack in knapper Form.
Der verjüngende Einfluß des Musendienstes zeigt sich in erfreulicher Weise an
dem Sänger, welchem wir die Lieder des Mirza-Schaffy verdanken. Nach einer
harten Jugend hat sich Bodenstedt im Mannesalter eine Stellung unter den Besten
unserer modernen Literatur errungen. Daß nicht nur der Sommer, sondern
auch der Herbst dem Dichter die Blumen der Poesie entgegenstreut, beweist
die jüngsterschienene Sammlung von Bodenstedt's neuesten Gedichten, „Ein¬
kehr und Umschau", die bereits in zweiter Auflage vorliegt und von der
Verlagsbuchhandlung (Hermann Costenoble in Jena) in geschmackvoller
Weise ausgestattet ist. Die poetische Gabe, welche Bodenstedt liefert, erscheint
jedoch nicht nur äußerlich im Festgewande, sondern besitzt auch in ihrem In¬
halte Etwas, das an die Stimmung der nahenden Feiertage erinnert. Es
ist eine Welt der Liebe und Versöhnung in welcher man schreitet.
Nach der tiefempfundenen und formenschönen „Widmung" fühlt der Leser
bereits in der ersten Abtheilung, „Vorklänge", Herz und Gemüth angenehm
berührt. Hier zeigt sich Bodenstedt namentlich als Meister in prächtigen
Stimmungsbildern von tiefsinnigen Ernste oder schalkhaftem Humor. Bilder
aus Natur und Geschichte ziehen in fröhlichem Wechsel an uns vorüber, und
wenn auch der deutsche Rhein und das neue deutsche Reich in gewohnter
Weise ihre Beisteuer liefern müssen, so geht doch der Dichter mit bewußter
Absicht der Phrase aus dem Wege. Von ähnlichen Gesichtspunkten aus,
jedoch mit größerer geistiger Vertiefung werden in dem zweiten Abschnitte,
»Aus Thüringens Wäldern", eigene Erlebnisse des Dichters, sowie Vorgänge
«us der umgebenden Welt poetisch behandelt. Bodenstedt hat eine strenge
Schule des Leidens durchgemacht, aber das Unglück hat ihn nicht darnieder¬
gebeugt, sondern seine Kraft gestählt und ihn in seinem Glauben an die
siegreiche Macht des Idealen nur noch bestärkt. Er empfindet die Schmerzen
der Welt mit feinbesaitetem Gemüthe, aber er will nicht, wie andere Dichter,
dämonisch in diesem Elemente herumwühlen, sondern er sucht zum Heil der
Menschheit den erlösenden Weg aus der Nacht zum Licht. Eine festbe¬
gründete Weltanschauung spricht mit stolzem Selbstbewußtsein aus diesen
^dichten und wird mit ihrer geisterfüllten Klarheit gewiß zahlreiche Anhänger
finden. Die „Erzählenden Gedichte" behandeln theils anekdotische, theils
historische Stoffe und umfassen alle Jahrhunderte vom grauen Alterthume
der Semiramis bis zum Kulturkampfe der Gegenwart. Den vollendetsten
künstlerischen Guß haben diejenigen Gedichte, welche wie „Sokrates" das
Geschichtliche mit dem sagenhaften verbinden, während andere durch eine
'^Nische oder tendenziöse Haltung das Historische in seinem objectiven Werthe
^einträchtigen. Ein reizender philosophischer Dialog ist das Fragment „Die
Sendung des Lucifer", das allerdings in einzelnen Stellen an Goethe's
Prolog „Im Himmel" erinnert, aber doch durch die Aufnahme moderner
Bildungselemente eine selbständige Haltung bekundet.
Neben dem Dichter steht der Denker und Weltweise. Der Abschnitt „Bunte
Blätter und Sprüche" enthält eine Perlenschnur jener reizenden Sprüche, die
Bodenstedt in unnachahmlicher Prägnanz zu ersinnen weiß. Das tiefste
philosophische Problem wie der trivialste Anlaß bieten die Gelegenheit, um
den Verfasser als originellen Beobachter zu zeigen. Hier werden die Mode¬
philosophen mit ihrer Sucht, die Welt erbärmlich zu finden, dort die modernen
Alexandriner, welche nicht müde werden, die Kleiderrechnungen und Wäsche¬
zettel unserer Klassiker herauszugeben, nach Verdienst abgefertigt. Die in
diesen Sprüchen gepredigte Lebensweisheit erscheint zunächst mosaikartig zer¬
splittert, bildet jedoch insofern wieder eine Einheit, als überall auf das
schon von Goethe und Schiller gepriesene Ideal der Humanität verwiesen
wird, welches für alle Zeit unserem Volke auf seiner Nuhmesbahn als leuch¬
tendes Panier voranwehen möge. Unter dem Titel „Erinnerungsblätter"
hat Bodenstedt eine Anzahl verschiedener Gedichte zusammengestellt, die
theils aus bestimmten Veranlassungen entstanden sind und demnach den Cha-
racter der Gelegenheitspoesie tragen, theils in rührenden und erinnerungs¬
vollen Elegieen das Andenken einzelner Personen feiern. Namentlich ist das
auf den unglücklichen italienischen Poeten Giacomo Leopardi verfaßte Gedicht
eine Perle.
Als Anhang ist in die Sammlung eine größere dramatische Dichtung,
„Hiarne", Gesangspiel aus der Nordlandssage in drei Akten und einem Vor¬
spiel, aufgenommen worden. Die Dichtung soll, im offenbaren Hinblick auf
Richard Wagners Theorie vom Musikdrama, dem Komponisten eine würdige
Textunterlage bieten, dürste jedoch ohne die musikalische Behandlung von
selbständigem und vielleicht höherem poetischem Werthe sein. Wenigstens gewährt
das Schicksal des Statten Hiarne, der zum Herrscher von Lethra gewählt
wird, durch List ein edles Weib gewinnt, aber im Kampf mit dem todtge¬
glaubten Königssohne Friedleu fällt, ein allseitiges und menschlich rührendes
Interesse.^^
^tJan«ar^I87?beginnt diese Zeitschriftdas I. Quartal ihres
36 Jahrgangs, welches durch alle Vuchhaudlungen und Pott-
anftalten des In- «ut Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 9 Mark. .
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellsch after,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten. ^ ^ ^
^ Leipzig , im December 1876. Die BerlagshandUMg'
Wie sehr viele Sagen, welche sich an bestimmte Personen und Oertlich-
keiten knüpfen und in dieser Gestalt als Geschichte auftreten, aber nichts
weniger als geschichtlich sind, sondern den Kern einer Mythe einschließen, die
bis in die arische Urzeit, also bis in die Zeit vor der Völkerwanderung,
welche die Inder von den Germanen schied, hinaufreicht, und die sich in den
verschiedensten Ländern mit verschiedener Zuthat zwar, aber im Wesentlichen
ähnlich wieder findet, so hat auch die bekannte Erzählung vom Ringe des
Polykrates eine Menge von Seitenstücken, die. größtentheils wenigstens, nicht
nach und aus ihr, sondern neben und vor ihr entstanden sind. Wie die
Sage vom Kampf mit dem Drachen im Norden und im Süden, auf heiligem
Legendenboden und auf eddischen, also heidnischem Gebiete spielt, wie es
neben dem schweizerischen Tell einen rheinischen, einen norwegischen, einen
keltischen, einen esthnischen, ja einen persischen giebt, die allesammt älter als
jener sind, wie neben den Erzählungen von Ludwig dem Springer oder
der vom Ritter Harras eine große Anzahl nahe verwandter Sagen stehen,
ganz eben so verhält es sich mit dem Ringe des Königs von Samos, der
of Meer geworfen und unerwartet in einem Fische wieder gefunden wird.
Nur die Einkleidung, der Ton. die Moral ist bei diesen Pendants
eine andere als bei der Version, welche Herodot sich auf Samos vollziehen
läßt. Hören wir erst diese, und vergleichen wir dann die andern
Mit ihr.
Amasts, der König von A egypten. schickte an den Tyrannen Polykrates,
nachdem dieser die Herrschaft über Samos erlangt. einen freundschaftlichen
Brief, in welchem er seine Befürchtung aussprach, daß das ungewöhnliche
Glück, welches dieser bisher gehabt, nicht dauerhaft sein werde, da er noch
"le erlebt, daß solches Gelingen aller Wünsche und Pläne nicht zuletzt mit
Unglück geendigt habe. Er knüpfte daran den Rath, sein Freund möge ein
ihm besonders werthes Kleinod in einer Weise wegwerfen, daß es ihm nie
Wieder vor die Augen kommen könne. Das werde ein Zauber zur Abwen¬
dung alles Unheils (ein Opfer zur Beschwichtigung des Neides der Götter,
ein Mittel zur Fernhaltung der den aus zu großem Wohlergehen entsprin¬
genden Uebermuth strafenden Nemesis) sein. Polykrates befolgte diesen Rath,
fuhr in einem Boote in die See hinaus und warf Angesichts der an Bord
befindlichen Schiffer einen kostbaren Siegelring, einen in Gold gefaßten
Smaragd, in das Wasser. Darauf kehrte er heim, um sich seinem Kummer
hinzugeben. Nun begab es sich fünf oder sechs Tage nachher, daß ein Fischer
einen Fisch so groß und so schön fing, daß er glaubte, er eigne sich zu einem
Geschenke für den König. So ging er denn mit ihm an das Thor des
Palastes und verlangte Polykrates zu sprechen. Als man ihn vorließ, gab
er den Fisch dem König mit den Worten: „Herr König, als ich diesen Fang
that, dachte ich, ich wollte ihn nicht auf den Markt bringen, obwohl ich ein
armer Mann bin, der nur von seinem Gewerbe lebt. Ich sagte, er ist des,
Polykrates und seiner Größe würdig, und so trug ich ihn hierher, um ihn
Dir zu geben." Diese Rede gefiel dem König, und er erwiderte: „Du thatest
wohl daran, Freund, und ich bin Dir doppelt verbunden, sowohl für den
Fisch als für Deine Worte. Komm jetzt und speise mit mir." Darauf ging
der Fischer heim und schätzte es sich für eine große Ehre, vom Könige zu
Tische geladen worden zu sein. Inzwischen fanden die Diener, als sie den-
Fisch aufgeschnitten, in dessen Magen den Siegelring ihres Herrn und eilten
mit großer Freude fort, um ihm denselben zurückzugeben und zu melden/wie
er sich wiedergefunden habe. Der König, der in der Sache ein göttliches
Walten sah, schrieb einen Brief an Amasis, der demselben alles berichtete, w«s
sich begeben hatte. Da merkte der weise Aegypter, daß es nicht die Sache eines
Menschen ist, seine Mitmenschen vor dem Schicksale zu bewahren, das ihnen
bestimmt ist. Zugleich aber war er jetzt überzeugt, daß es mit Polykrates
ein übles Ende nehmen werde, da ihm Alles gelänge und er selbst das
wiederfände, was er weggeworfen habe. So sandte er einen Herold an den
Tyrannen und löste den Freundschaftsbund mit ihm. Dieß that er, um,
wenn ein großes und schweres Unglück käme, dem Kummer zu entgehen, den
er empfunden haben würde, wenn der Dulder sein geliebter Freund gewesen
wäre. Polykrates starb im dritten Jahre der 64. Olympiade. Der Siegelring
(selbstverständlich so echt wie die meisten unsrer Reliquien) tauchte später in
Rom auf, wo Plinius ihn sah, und der Kaiser Augustus ihn, in ein Horn
von Gold verschlossen, im Tempel der Concordia bei andern werthvollen
Kleinodien aufbewahren ließ. Das Siegel zeigte eine Lyra, über der sich
drei Bienen befanden, während man rechts von ihr einen Delphin, links einen
Stierkopf gewahrte.
Der Kern dieser Sage — ein verloren gegangener und in einem Fische
wiedergefundener Ring — hat seine Heimath in Nordwest-Jndien, im Lande
der fünf Ströme, von wo sowohl die Arier, die das Gangesgebiet eroberten,
als die. welche nach Europa zogen und dort als Hellenen und Italer oder
als Germanen sich niederließen, ausgezogen sind. Unter den Letzteren nahm
die Mythe zunächst die Form an, die wir in der Edda antreffen: Der Zwerg
Andvari hält sich in Fischgestalt an Wasserfällen auf, um da den Gold¬
ring zu hüten, welcher später zum Untergange der Nibelungen führt. Unter
den Griechen wurde jener Kern allmählig und durch jedenfalls viel einfachere
Metamorphosen hindurch zu dem, was Herodot von Polykrates berichtet.
Unter den östlichen Ariern, den Hindu, begegnen wir ihm in dem anmuthigen
Drama Kalidasas, welches die Liebe des Büßermädchens Sakuntala und des
Königs Duschanta behandelt,
Sakuntala hat von ihrem Geliebten, der sie auf einem Jagdzuge kennen
gelernt und sich hier mit ihr vermählt hat. zum Zeichen dessen einen Ring
bekommen. Während der König wieder heimgekehrt ist, beleidigt seine Braut
unwissentlich einen Heiligen, und dieser wünscht ihr an, der König solle ihrer
so lange vergessen, bis er durch ein Erkennungszeichen an sie erinnert werde.
Nach einiger' Zeit erfüllt sich dieser Fluch. Sakuntala wird nach etlichen
Monaten von ihren Verwandten in das Schloß Duschantas gebracht, und
dieser erkennt sie wirklich nicht wieder. Den Ring aber, der ihn erinnern
könnte, hat sie im Bade verloren. Bekümmert begiebt sie sich in ihren
Büßerhain zurück, wo sie einen Knaben, das Kind des Königs, gebiert. Nicht
lange darauf bringen Gerichtsdiener einen Fischer vor Duschanta, der den Ring
mit dessen Namenszug in einem Karpfen gefunden hat, und dieser Ring führt
die Verlobten wieder zusammen.
Auch semitische Völker, Araber und Juden, kennen diese Mythe, die
ihnen entweder aus Indien, oder und zwar wahrscheinlicher von den Griechen
überliefert worden sein wird. Nach rabbinischer Legende hatte Salomo einen
Siegelring. auf dem das mystische Schein Hamphorasch (der unaussprechliche
Name Gottes) stand, und der ihm den wunderbaren Schamir verschaffte,
sicher ihn in den Stand setzte, den Tempel zu erbauen, auch ihn zu aller¬
lei Zauberwerk befähigte, ihn jeden Tag in den Himmel versetzte, wo er die
Geheimnisse des Alls erfuhr, u. d. in, Hochmüthig geworden, übergab er
^eher Zauberring eines Tages dem Aschmedaj. seinem dienenden Geiste, der
ihn alsbald ins Meer warf und auf diese Weise frei wurde. Salomo verlor
dadurch alle seine Weisheit und Macht, und sein früherer Knecht wurde
König über Israel, als welcher er drei Jahre regierte, während jener in der
Verbannung herumirrte, bis er den Ring endlich im Bauche eines Fisches
wiederfand. Aehnlich lautet die arabische Tradition, nach welcher Salomon,
als er einst ins Bad ging, seinen Ring zurückließ, der dann von einer Jüdin
entwendet und in die See geworfen wurde. Seines wunderwirkenden Amulets
beraubt, sah der König sich außer Stande, so weise Urtheile zu fällen, als
gewöhnlich, und deshalb bestieg er vierzig Tage lang den Richterstuhl nicht.
Zuletzt aber brachte man ihm einen Fisch, in dessen Magen der magische
Ring lag.
Hierher gehören ferner Ur. 492 der Erzählungen in „Tausend und eine
Nacht" und die Legende von Simon dem Bastard in Wuk Stephanowitschs
„serbischen Liedern". Endlich aber ist auch folgender italienischer Sage in
diesem Zusammenhange eine Stelle anzuweisen:
Die Dogen von Venedig mußten dem Herkommen gemäß sich bei ihrem
Amtsantritt dadurch symbolisch mit dem Adrtatischen Meere vermählen, daß
sie einen Ring in die See warfen und dazu die Worte sprachen: „vesvon-
8ÄMU8 t<z, Nars, in siZmim xerpetui äominii". Nachdem dieß Jahrhunderte
lang geschehen, brachte einst nach einer solchen Ceremonie ein Fischer einen
Fisch in die Küche des Dogen, und als man denselben öffnete, hatte er den
Ring im Leibe. Das Meer hatte also diesmal die Verbindung mit dem
Oberhaupte der Stadt und mit dieser selbst gelöst, und man sah das Ereig-
niß als Zeichen an, daß die venetianische Republik ihrem Untergange ent¬
gegengehe, was sich auch in einigen Jahren bestätigte.
Produkte der germanischen Umbildung der Sage sind folgende Er¬
zählungen, die wir aus einer Anzahl anderer als Belege für die zu Anfang
aufgestellte Behauptung auswählen und folgen lassen.
Paul Warnefrid berichtet, daß Arnulf, der im siebenten Jahrhundert
Bischof von Metz war, seinen Fingerring in die Mosel geworfen habe, um
dessen Wiedererlangung als ein göttliches Zeichen zu erbitten, daß ihm seine
Sünden vergeben seien. Das Zeichen aber sei wirklich erfolgt: aus dem
Bauche eines Fisches habe man ihm den Ring wieder gebracht, der seitdem
als ein Heiligthum in der Familie verwahrt werde.
Von der in der Krypta des Kirchenchors zu Zurzach im Aargau be-
grabnen heiligen Verena, welche als Patronin aller Fischer und Schiffer gilt,
wird erzählt: Als in dem Hause, in welchem sie als Magd diente, ein kost¬
barer Ring verloren ging, hieß sie im Rheine fischen, und nicht lange währte
es, so wurde ein großer Lachs gefangen, der, als er zur Küche gebracht und
dort geschlachtet wurde, den vermißten Ring im Leibe hatte.
Weit weg von Zurzach, an der Kieler Föhrde droben, wird von alten
Leuten Folgendes berichtet: Auf der Kolberger Haide an der Küste der
Propstei lag vor Zeiten ein großes Gut, der Verwellenhof. Auf dem wohnte
eine Frau von VerWellen, eine stolze, übermüthige und grausame Herrin, die
allezeit auf ihren Reichthum pochte. Sie meinte, es könnte damit gar nich
zu Ende gehen, und als sie einmal draußen auf der See in einem Boote
eine Lustfahrt machte, zog sie ihren kostbaren Ring vom Finger und warf
ihn ins Wasser, indem sie zu ihrer Gesellschaft die Worte sprach: „So un-
möglich es ist, daß ich den Ring wiederbekomme, so unmöglich ist es auch,
daß ich einmal arm werde." Aber siehe da, nach ein paar Tagen brachte
ein Fischer einen großen Dorsch in die Schloßküche, und als die Köchin den
ausschnitt, fand sie den Ring in seinen Eingeweiden. Sie zeigte ihn ihrer
Gebieterin, die darüber sehr erschrak. Und sie hatte guten Grund dazu.
Denn nicht lange nachher kam die große Sturmfluth (die Sage meint das
Jahr 162S), welche die ganze Gegend um den Verwellenhof verschlang, und
damit hatte die reiche Frau ihr ganzes Hab und Gut verloren und war so
arm geworden, daß sie betteln ging. Früher in ihren guten Tagen hatte
sie, wenn sie ins heimliche Gemach ging, in ihrem Hochmuth immer eine
Riste Flachs genommen. Eine Magd aber hatte den sich ausgewaschen und
versponnen. Wenn das die reiche Frau gesehen, hatte sie jedesmal „Fu dit
an!" (Pfui dich an!) gesagt und über das Mädchen gespottet. Nun sie aber
selber arm geworden war, kam sie zu ihrer früheren Magd, die jetzt wohl¬
habend war, und bat um Leinwand zu einem Hemde. Sie bekam, was sie
wollte, aber sie mußte auch die Worte hören: „Dar es von arm Fudikan."
Mit weinenden Augen ging die Frau fort. Seit der Zeit aber heißt in der
Propstei aller Abfall vom Flachs Fudikan. (Eine der vielen falschen Volks¬
etymologien bei Worten, deren Sinn allmählich verloren gegangen ist.)
Ganz ähnlich ist die westphälische Sage von der Gräfin zu Nienburg.
die in der Nähe von Bünde wohnte und so ungeheuer reich und stolz war,
daß sie einmal in ihrem Uebermuthe einen Ring vom Finger zog. ihn in
den Schloßgraben warf und sagte: „So wenig als ich den Ring wieder¬
bekomme, so wenig werde ich einmal Noth leiden." Es dauerte aber kaum ein
Paar Stunden, so kam der Koch und brachte ihr den Ring wieder, den er
im Magen eines Karpfen gefunden hatte. Nach Verlauf eines Jahres war
die Gräfin so arm, daß sie sich in einer kleinen Hütte von Hedespinnen er¬
nähren mußte.
Fast genau derselben Erzählung begegnen wir in bayerischen, sächsischen,
thüringischen und dänischen Sagensammlungen. Namentlich aber treffen
Wir die Geschichte vom Ring und vom Fische in England und Schottland
in verschiedenen Gestalten wieder. Das Wappen der Stadt Glasgow, früher
das des dortigen Bisthums, zeigt den Stamm des Baumes des heiligen
Kentigern, gekreuzt von einem Lachs, der einen Ring im Maule trägt.
Joeelyn erzählt in seinem „Leben Sanct Kentigerns" die hieran sich knüpfende
Legende folgendermaßen: „Zu Lebzeiten des heiligen Mannes verlor eine
Dame ihren Ehering, und das erregte die Eifersucht ihres Gemahls. Die
Dame wendete sich, da sie sich unschuldig wußte, an Kentigern und bat ihn,
ihr zur Rettung ihrer Ehre behilflich zu sein. Nicht lange nachher ging
der Heilige am Flusse spazieren, und als er jemand dort fischen sah, gebot
er ihm, ihm den ersten Fisch, den er fangen würde, zu bringen. Dieß geschah,
und siehe da, der Fisch hatte den Ring der Dame im Munde, und als
derselbe ihr dann übersandt wurde, war das Mißtrauen des Gemahls
beschwichtigt."
Gordon erzählt die Sage nach dem Aberdeen Brevier in seiner „Geschichte
Glasgows" anders. „Die Königin von Cadzow hatte bei ihrem Gemahl,
dem König Roderick, den Verdacht erregt, mit einem Ritter, den er zur Jagd
eingeladen, ein vertrautes Verhältniß zu haben. Da er aber keine Beweise
hatte, so wartete er eine Gelegenheit ab, um den Mantelsack des Ritters,
wenn er schliefe, zu durchsuchen. Die Gelegenheit fand sich, und der König
entdeckte in dem Sacke einen Ring, welchen die Königin dem Ritter geschenkt
hatte. In seinem Zorne warf er ihn in den Clyde, und als sie nach be¬
endigter Jagd in das Schloß zurückkehrten, fragte der König im Laufe des
Abends seine Frau, wo sie den Ring hätte. Sie konnte ihn nicht vorzeigen.
Darauf bedrohte sie ihr Gemahl mit dem Tode, wenn sie nicht stracks den
Ring herbeischaffe. Sie schickte erst eine ihrer Mägde zu dem Ritter, und
da dieser den Ring auch nicht fand, wurde ein Bote nach Cathures (Glasgow)
gesandt, welcher dem heiligen Mungo Alles gestehen und ihn um seine Hülfe
angehen sollte. Der Apostel von Strathclyde empfand Mitleid mit der
reuigen Königin. Sofort schickte er einen seiner Mönche nach dem Flusse,
um dort zu angeln, wobei er ihm die Weisung ertheilte, den ersten Fisch,
den er fangen würde, lebendig heimzubringen. Der Mönch that, wie ihm
geheißen, Sanct Mungo fand den Ring im Maule des wunderbaren Fisches
und übersandte ihn der Königin, die ihn ihrem Gemahl übergab und dadurch
ihr Leben errettete."
Wir brauchen kaum hinzuzufügen, daß eine richtigere Erklärung jenes
Wappens des alten Bisthums Glasgow in dem Ringe den Bischofsring und
in dem Fische ein Sinnbild des Reichthums an Lachsen erblickt, dessen sich
früher der Fluß erfreute, der am Fuße der Cathedrale von Glasgow vor¬
beiströmt.
Eine alte Ballade, die sich „Der grausame Ritter" (IKo 0-not XnigKt,)
nennt, erzählt, daß ein Ritter einst an einer Hütte vorbeiging, in der eine
Frau in Kindesnöthen lag. Seine Kenntniß der geheimen Wissenschaften
sagte ihm, daß das Kind, welches hier geboren werde, bestimmt sei, einst seine
Gemahlin zu werden. Er versuchte, dem, was das Schicksal verhängt hatte,
zu entgehen und einen so unedlen Ehebund unmöglich zu machen, indem er
zu verschiedenen Malen das Kind umzubringen bemüht war. Aber immer
Mißlang sein Borhaben. Als das Mädchen endlich zur Heirathsfähigkeit erwachsen
war, führte er sie an das Gestade des Meeres, um sie zu ertränken, aber er
empfand Mitleid mit ihr, und so warf er nur einen Ring in die See und
gebot ihr, nicht eher wieder ihm vor die Augen zu kommen, als bis sie ihm
den Ring überbringen könne. Widrigenfalls solle sie auf der Stelle den
Tod erleiden. Sie wurde darauf Köchin im Hause eines Nachbarn -des
Ritters, und hier fand sie den Ring in einem Stockfisch, den sie schlachtete.
Natürlich heirathete sie jetzt ihren Verfolger. Die Ballade verlegt den Schau¬
platz dieser Geschichte nach Uorkshire, und nach der Volksmeinung war die
Heldin derselben Lady Berry, die in der Kirche zu Stepney unter einem
Denkmale begraben liegt, auf welchem sich ein Fisch und ein Ring befinden.
Es ist aber selbstverständlich nur die alte Mythe, die durch die ganze arische
Welt fluthet, sich bald hier, bald dort festsetzt, bald den, bald jenen Namen
in sich aufnimmt und bald diesem, bald jenem Satze des Sittengesetzes als
Beispiel dienen muß. Selbst in der nachstehenden Erzählung, die sich in
dem großen Werke des Kirchenvaters Augustinus ,,1)6 Oivitg,te voi» findet,
läßt sie sich erkennen.
Zu Hippo (der nordafrikanischen Stadt, wo Augustinus Bischof war)
lebte ein alter Mann, ein Mitbürger von uns, Namens Florentius, seines
Gewerbes ein Schneider, fromm aber arm. Der hatte seinen Mantel ver¬
loren und wußte nicht, wie er sich einen andern kaufen sollte. Gewisse leicht¬
fertige Jünglinge, die zugegen waren und ihn klagen hörten, folgten ihm
nach, als er hinabging nach dem Meere, und spotteten sein, indem sie ihm
vorwarfen, er hätte die Märtyrer um die Summe von fünfzig Folles (12^
Denare) gebeten, um sich damit neu kleiden zu können. Aber Florentius
ging weiter, ohne ihrer höhnischen Reden zu achten und zu antworten, be¬
merkte einen großen Fisch, den die See ausgeworfen hatte, und der am
Strande zappelte, bemächtigte sich seiner unter dem gutherzigen Beistande
dieser selben jungen Leute und verkaufte ihn einem gewissen Koch, Namens
Carthosus, einem guten Christen, um 300 Folles (75 Denare) zum Einsalzen,
indem er ihm zugleich erzählte, was sich begeben. Er fügte hinzu, daß er
für das Geld Wolle zu kaufen gedenke, damit seine Frau daraus, so gut sie
könne, etwas für ihn mache, womit er sich kleiden möge. Aber der Koch
fand, als er den Fisch ausschnitt, in seinem Innern einen goldenen Ring,
und da er Mitleid fühlte und zugleich sein Gewissen ihm sagte, daß der Ring
ihm nicht gehöre, so stellte er ihn dem Florentius zurück, indem er sagte:
»Siehe, wie die zwanzig Märtyrer dich kleiden."
Endlich sind ohne Zweifel eine Anzahl von Ringgeschichten aus neuester
Zeit directe und indirecte Abkömmlinge der alten Mythe, obwohl einige
von ihnen wahr sein werden, da bekannt ist, daß Fische, namentlich Makrelen,
nach glänzenden Dingen im Wasser schnappen und sie verschlingen, ohne sie
dann wieder von sich geben zu können.
Brand erzählt in seiner „Geschichte von Newcastle", daß ein Herr aus
dieser Stadt am Ausflusse des Tyne in die Nordsee um die Mitte des sieb¬
zehnten Jahrhunderts aus Versehen einen Ring über das Geländer der
Brücke in den Strom fallen ließ. Jahre verflossen, und die Sache war längst
vergessen, als seine Frau eines Tages auf dem Markte einen Fisch kaufte,
in dessen Magen der verlorene Ring lag.
Im „Gentlemans Magazine" vom Februar 1763 ist der Bericht einer
Frau aus Deptford zu lesen, die, als sie in einem Boote nach Whitstable
fuhr, den Beweis führen wollte, daß niemand arm zu sein brauche, wenn er
die Absicht habe, es nicht zu bleiben. Warm werdend bei ihrer Rede, warf
sie ihren goldnen Ring in die See und sagte (ungefähr wie die Herrin des
Verwellenhofs aus der Kölberger Haide), „es sei für jedermann ganz ebenso
unmöglich, gegen seinen Willen arm zu werden, als es unmöglich für sie
sei. diesen ihren Ring wieder zu sehen." Den zweiten Tag. nachdem sie ans
Land gestiegen, kaufte sie auf dem Markte einige Makrelen, und die Magd
begann dieselben zum Mittagsessen zurecht zu machen. In einer davon fand
sie einen goldnen Ring. Sie lief zu ihrer Frau und zeigte ihr ihn, und
diese erkannte darin den von ihr in die See geworfnen Ring.
Sehr wunderbar, aber auch sehr verdächtig, obwohl mit Namen von
noch lebenden Personen und Jahreszahlen von sehr neuem Datum ausge¬
stattet, ist folgende Erzählung, welche vor einigen Jahren amerikanische Zei¬
tungen aus Se. Johns in Neufoundland mittheilten. „Ein Fischer in der
Nachbarschaft dieser Stadt fand in den Eingeweiden eines Stockfisches, den
er in der Trintly Bucht gefangen, einen Siegelring mit dem Monogramm
L. Der Fischer, Namens John Potter, behielt seinen Fund einige Zeit
für sich, indeß wurde die Sache allmählig ruchtbar, und so ging ihm vom
Colonialsekretär die Aufforderung zu, den Ring nach Se. Johns zu senden
oder selbst zu bringen, da er Briefe von einer Familie Burnam in dem eng¬
lischen Städtchen Poole erhalten, worin dieselbe behauptete, daß sie Grund
zu der Ueberzeugung habe, der Ring habe einer gewissen Pauline Burnam
gehört, die eine von den Passagieren des Dampfschiffs „Ungko Saxoen" ge¬
wesen, welches im Jahre 1861 bei der zu Neufoundland gehörigen Chance
Bay gescheitert und untergegangen sei. Besagte Pauline Burnam sei eine
nahe Verwandte der Familie gewesen. Der Fischer, in dessen Besitz sich
der Ring befand, brachte ihn nach Se. Johns und zeigte ihn auf dem Bureau
des Colonialsekretärs. Nach kurzem Aufenthalt stellte man ihm hier einen
Herrn Burnam vor, welcher in dem Ringe sogleich den Trauring seiner
Mutter erkannte, den sie seit ihrer im Jahre 1848 zu Huddersfield erfolgten
Berehelichung allezeit getragen hatte. Der Ring wurde in Folge dessen
Herrn Burnam ausgeantwortet, welcher den glücklichen Finder mit fünfzig
Pfund belohnte.
Nicht im Hochsommer, wo die Seeschlangen und andere Wunder vom
Grunde der Journalistik aufzusteigen pflegen, fondern schon im Mai des
Jahres 1873 brachten mehrere französische Blätter die deßwegen noch immer
nicht vollkommen glaubwürdige Nachricht, daß in einem der vornehmsten
Restaurants von Paris im Magen eines Lachses, der auf dem Centralmarkt
gekauft worden, ein Diamantring gefunden worden sei. Die Mittheilung
war wohl nicht die Mythe, sondern die Reclame in einer ihrer tausend
Gestalten.
Auch die Urkarpfen von ungeheurer Größe, welche nach der Volks-
Meinung mit Moos auf dem Rücken und silbernen Ringen in der Nase in
dem einen oder dem anderen Teiche, z, B. im königlichen Schloßteiche zu
Moritzburg bei Dresden, herum schwimmen, sind zweifelhafte Wesen und sehr
Möglicher Weise Verwandte des Hechtes, in dessen Gestalt jener eddische Zwerg
Andvari mit seinem Ringe von den Asen gefangen wurde. Doch scheint die
folgende in dieses Kapitel fallende Zeitungsnotiz auf Wahrheit zu beruhen
Den 7. Oktober 1868 singen Fischer, die ihre Netze in die Wolga aus¬
geworfen, einen Stör, von dem sich zeigte, daß er derselbe sei, welchen dier
Municipalität von Nischnej im Jahre 1866 dem Großfürsten Thronfolge
wegen seiner außerordentlichen Größe zum Geschenk gemacht, und den derselbe
dann wieder in Freiheit zu setzen befohlen hatte. Die Identität desselben
wurde durch einen silbernen Ring bewiesen, den man dem Fische durch die
rechte Kieme gezogen hatte, und der das Datum des 27. August 1866 trug.
Ein ähnlicher Ring, den man an der linken Kieme befestigt, war verschwun¬
den. Einige Zeit darauf kam ein ähnlicher Fall vor. indem man. ebenfalls
'n der Wolga, einen andern Stör zum Gefangnen machte, der ebenfalls einen
Ring von Silber trug, an welchem man in ihm denjenigen Burschen erkannte,
den man etliche Jahre früher dem Kaiser Nikolaus verehrt, und den dieser
seinem heimathlichen Element wiederzugeben befohlen hatte.
'
Noch etwas glaubwürdiger, aber trotz der Abwesenheit eines Fisches
immerhin noch einigermaßen an den Mythenkern unsrer Sagen vom in das
Nasser Verlornen und auf wunderbare Weise wieder zum Vorschein gekommnen
Ringe erinnernd sind endlich die folgenden Geschichtchen. Sie können wahr,
aber auch — der Verfasser dieses Aufsatzes hat sich nun einmal, durch allerlei Er
fahrungen gewitzigt, den heiligen Thomas zum Schutzpatron und die „achte
Seligkeit": „selig sind, die da nicht glauben; denn sie sollen nicht getäuscht
Werden" zur Lebensregel gewählt — bloße Abwandelungen, Abarten oder Sei-
tensprossen unsrer alten unsterblichen Mythe sein, in welcher Annahme uns
die Sicherheit, mit der sie auftreten, nicht irre machen kann.
Ein reicher deutscher Marschbauer, der in der Nähe von Nordenhamm
wohnte, machte im Jahre 1871 Mehlklöße zur Fütterung seines Viehes zu¬
recht. Nach Beendigung seiner Arbeit vermißte er seinen Trauring, der den
Namen seiner Frau trug. Bald nachher verkaufte der Bauer sieben Ochsen,
welche der Käufer am 26. October des genannten Jahres in dem Viehdampfer
„Adler" nach England verschiffte. Zwei Tage darauf fischte die englische
Snack „Mary Ann" von Colchester auf der See den noch warmen todten
Körper eines Stiers auf, den die Mannschaft öffnete, um den Talg heraus¬
zunehmen und damit die Stangen und Spieren zu salben. Im Innern des
Cadavers fanden sie einen goldnen Ring mit dem Namen einer Frau und
der Jahreszahl 1860. Kapitän Tye erstattete hierüber sogleich nach der An¬
kunft im Hafen Bericht und händigte den Ring einem Bauten ein, der
ihn nach London sandte. Die Behörden gingen sofort daran, den Eigen¬
thümer des Ringes ausfindig zu machen, und fanden, daß das einzige Schiff,
welches von dem Verlust eines Stückes Vieh berichtet hatte und in der Nähe
der „Mary Arm" vorüber gefahren war, der „Adler" gewesen, der am 28.
October einen Ochsen, den man für todt gehalten, über Bord geworfen hatte.
Inzwischen war die „Shipptng Gazette", welche die Auffindung des Ringes
meldete, nach Nordenhamm gelangt, und einer ihrer dortigen Leser erinnerte
sich, als er den in denselben eingegrabnen Namen sah, des Marschbauern.
Man benachrichtigte ihn, und er bekam sein Verlornes Eigenthum wieder.
Professor Morgan erzählt in den „Notes and Queries" vom December
1861: .In einer englischen Kleinstadt wurde vor etwa fünfzig Jahren ein
Laufbursch mit einem werthvollen Ringe zum Goldschmied geschickt. Auf
einer Brücke nahm er ihn heraus, um ihn zu bewundern, und dabei ließ er
ihn über das Geländer auf eine Schlammbank im Flusse fallen. Nicht im
Stande ihn wiederzufinden, lief er davon, ging zur See, ließ sich in einer
fernen Colonie nieder, erwarb sich ein großes Vermögen und kehrte schließlich
in seine Heimath zurück, wo er das Gut kaufte, auf dem er einst gedient
hatte. Eines Tages ging er mit einem Freunde über seine Ländereien, und
dabei kam er an jene Brücke, wo er jenem die Geschichte von dem Verluste
des Ringes erzählte. „Ich könnte schwören, daß hier die Stelle sei, wo ich
ihn verlor", sagte er, indem er bei dem Worte „hier" seinen Stock in die
Schlammbank stieß, und siehe da, als er den Stock zurückzog, steckte der Ring
an dessen Zwinge.r
W. Jones in seiner Schrift „Finger Ring Lore" soll uns die letzte diese
wunderbaren Anekdoten aus neuester Zeit erzählen. Eine Bekannte von ihm,
Frau Drake aus Pilton bei Barnstaple, fuhr vor ungefähr fünfzehn Jahren
mit ihrem Manne in der Nähe von Jlfraeombe in einem Boote spazieren,
wobei Herr Drake einen werthvollen Ring ins Wasser fallen ließ. Man gab
jede Hoffnung auf dessen Wiedererlangung auf. Aber im Jahre 1869 las
ihn ein kleines Kind am Ufer bet Lee auf. Er wurde sofort an seiner In¬
schrift identificirt. welche lautete: „John. Lord Rollo, geboren 16. October
1731. gestorben 3. April 1842/'
Diese Geschichte ist gewiß möglich, vielleicht, da wir einer Dame doch
glauben sollten, wahrscheinlich. Sie ist so möglich, daß Sanct Thomas
schweigt. Aber ein deutliches Kopfschütteln über sie wie über die beiden vor¬
hergehenden kann der alte Zweifler doch nicht unterdrücken.
Auf Tafel 13 und 16. werden wir nach Schloß-Chemnitz geführt;
die eine Aufnahme zeigt das merkwürdige Portal von der Kirche des ehe¬
maligen Benedictinerklosters, die andre eine aus Holz geschnitzte Geißelung
Christi. Die nächsten neun Tafeln bringen Ansichten aus Anna berg: einen
Blick auf die Stadt mit dem Pöhlberge im Hintergrunde, eine Totalansicht
v°in Innern der Annenkirche, die sogenannte ..Schöne Pforte" oder „Goldne
Pforte» ebendaher den Hauptaltar, den Altar der Bergleute, zwei Gemälde -
ewe Maria mit dem Kinde und eine heilige Katharina - den Taufstein und
^e alte Sacristei Tafel 22 ist unterschrieben : ..Thüre zur alten Sacnstei" ;
w Wahrheit zeigt das Blatt einen Theil des Gestühls auf dem Altarplatz,
^nen Theil der interessanten, mit Sculpturen geschmückten Emporenbrüstung
und nur im Hintergrunde ein Stück von der Saeristeithür. Auf Tafel 26
Wg,t dann ein reiches Renaissanceportal mit schöner schmiedeeiserner Thür
v°in Bünau'schen Erbbegräbnis) in Lauer stein, auf den nächsten beiden
Tafeln eine Ansicht von Schneeberg und das Innere der dortigen Pfarr-
Arche. Endlich reihe ich. um Wiederholungen zu vermeiden, gleich an dieser' Stelle Tafel 41—50 an, welche Zwickau gewidmet sind. Sie bringen
^ermals eine - nicht sehr günstig aufgenommene — Ansicht der Stadt,
zwei verschiedene Außenansichten der Marienkirche, sodann ein Portal derselben,
einen Theil des Flügelaltars und eine Anzahl kirchlicher Geräthe, endlich von
der Katharinenkirchs Außen- und Innenansicht, das Innere der Sacristei und
einen Theil von den Schnitzereien am sogenannten „Heiligen Grabe".
In dem erläuternden Text zu den eben erwähnten Tafeln ist die Er¬
bauungszeit der Chemnitzer Klosterkirche (1514 — 1626) richtig angegeben,
auch die richtige Wahrnehmung ausgesprochen, daß das von naturalistischem
Astwerk umzogene Portal auffallend an die Umrahmung des einen Blattes
aus Dürer's „Marienleben" (Begegnung zwischen Joachim und Anna) er¬
innere. An die Erwähnung der Geißelungsgruppe — vulgo „Martersäule" —
knüpft der Herausgeber folgenden mir unverständlichen Satz: „Häufiger (als
was?) kommen hier (in Chemnitz?) außer den vielen noch vorhandenen (wo?)
Flügelaltären Ecce-Homo-Statuen vor, welche zumeist in abschreckender Qual
den Mann der Schmerzen darstellen." Die Notizen über Annaberg werden
wie oben bei Freiberg durch ein paar Angaben über das Aufkommen des
dortigen Bergbaues, die Gründung und den Namen der Stadt eröffnet.
Ueber die Baugeschichte der Annenkirche erhalten wir fnlgende Höchst wichtige
Aufschlüsse: „Herzog Georg legte im Jahre 1499 in Gegenwart seiner Brüder
Heinrich (des Frommen) und Friedrich (Hochmeister des deutschen Ordens)
unter Assistenz des Bischofs Johann VI. von Meißen und einer glänzenden
Gesellschaft von Fürsten und Herren den Grundstein zur Annenkirche. Die
Einweihung ward 1619 in Gegenwart des Herzogs Georg durch den Bischof
von Meißen Johann VII. (man beachte die elegante Abwechslung in der
Wortstellung!) mit großer Pracht vollzogen, aber erst 1626 ward der Bau
vollendet." Bei diesen außergewöhnlich interessanten Angaben läßt sich der
Verfasser auch wieder einmal herbei, seine Quelle zu nennen; es ist der dritte
Band der „Saxonia", jenes biedern NolkSbilderbuches, welches in den dreißiger
Jahren fünf Jahrgänge erlebte und welches noch heute ein unentbehrliches
Hilfsmittel für den kleinen Provinzialblättchenreporter bildet, wenn er um
eine historische Notiz aus der sächsischen Städtegeschichte in Verlegenheit ist.
Wegen der Anlage der Kirche wird Otte's „Handbuch", das für Andreae
ein wahres Noth-, Trost- und Hilfsbüchlein gewesen sein muß. wieder um
drei Zeilen in Contribution gesetzt, von der „Goldner Pforte" erfahren
wir, daß sie von dem 1604 abgebrannten Franeiskanerkloster erst in die
Annakirche versetzt worden sei, und daß „ihre Sculpturen wieder lebhaft
an Dürer erinnern und bei eifrigstem Festhalten an älterer Structur das
Eindringen der Renaissance in lustiger Weise zeigt" (sie); von den sonstigen
Kunstwerken der Kirche wird wenigstens das Material mitgetheilt. Ueber
Tafel 26 leistet der Herausgeber wieder folgende Stilprobe: „Blatt 26 bringt
noch ein schönes Beispiel der Schmiedeeisen-Technik. Es ist die Thür zu
dem reichen von Bünau'schen Erbbegräbniß in Lauer stein, von Pirnai-
schen Steinmetzen um 1601 (?) ausgeführt, aus welcher Zeit natürlich auch
das reizende Eisenwerk stammt." Also eine schmiedeeiserne Thür, von Pir-
naischen Steinmetzen gefertigt — das müssen Tausendkünstler gewesen sein. Bei
Schneeberg schickt der Verfasser seinen kunstgeschichtlichen Erläuterungen
wiederum einige geschichtliche Notizen voraus — neun Zeilen, die ausschlie߬
lich über den Silberbergbau von Schneeberg berichten, darunter die ungemein
wichtige und unentbehrliche Notiz: „1471 findet Sebastian Romner die erste
Silberstufe, und am 23. April 1477 kam in der Grube „Ritter Georg" ein
Silberblock zu Tage von 3^ Fuß Höhe und 7 Fuß Breite. Dieser Block,
ein massives Stück von einigen hundert Centnern Gewicht, diente Herzog
Albrecht dem Beherzten als Tisch zu einer Mahlzeit in der Grube." Nach
solchen interessanten Mittheilungen — die übrigens, was uns hier gleichgiltig
sein kann, zum Theil längst als falsch nachgewiesen sind*) — muß es dem
Leser natürlich vollständig genügen, wenn er über die Pfarrkirche von Schnee¬
berg erfährt, daß sie von 1516—1540 gebaut und daß sie „die größte Kirche
Sachsens" wurde. Endlich eröffnen auch bei Zwtckau den Reigen der Er¬
läuterungen wieder einige historische Daten, die diesmal zur Abwechslung nicht
aus der „Saronia", sondern aus einem anderen Werke von ähnlicher wissenschaft¬
licher Bedeutung, nämlich aus der „Sächsischen Kirchengalerie" geschöpft
sind; dann muß wieder Otte's „Handbuch" mit ein paar Jahreszahlen über die
Erbauung der einzelnen Theile der Marienkirche herhalten. Der Rest enthält
fast weiter nichts als eine Wiederholung von den Unterschriften der Abbil¬
dungen. Ein wahres Wunder, daß bei dem Hauptaltar einmal ein Künstlername
genannt ist; von ihm heißt es: „ein Werk aus der Werkstatt von Michel
Wohlgemuth von 1497, reich mit Bildern und Sculpturen geschmückt."
Leider fehlt es uns über die ältere Geschichte von Chemnitz, Annaberg,
Schneeberg und Zwickau an neueren archivalischen Forschungen, wie wir sie
für die ältere Kunstthätigkeit Freibergs besitzen. Aber wenn der Herausgeber
diese Lücke nicht selbst ergänzen wollte oder konnte, wenn er auch in älterer
localgeschichtlicher Literatur, an der es ja fast keiner sächsischen Stadt fehlt, sich
nicht Raths erholen wollte, so hätte er doch mindestens auf Puttrich's
„Denkmale" und Waagen's „Kunstwerke und Künstler im Erzgebirge und
in Franken" zurückgehen müssen, wo die localgeschichtliche Literatur wenigstens
zum Theil verwerthet ist.*^) In dem letzterwähnten Buche hätte er zu den
von ihm aus den genannten vier erzgebirgischen Städten gebrachten Ab-
bildungen einen Text gefunden, der gegen seine eignen mageren Notizen
geradezu verschwenderisch genannt werden kann, und den er nur einfach hätte
zu excerpiren brauchen. Für Annaberg hätte er das Nöthigste selbst in
Lübke's „Geschichte der Plastik" (2. Aufl. S. 664) finden können.
Der Bau der Klosterkirche von S es l oß-Ch e ani ez wurde im Jahre
1514 durch den Abt Heinrich von Schleinitz begonnen und 1525 durch seinen
Nachfolger, den Abt Hilarius von Rehburg vollendet. Beide Data sind
an der Kirche selbst bezeugt, das letztere in der über dem abgebildeten Portale
befindlichen Inschrift, welche im Texte mitzutheilen der Herausgeber sich
natürlich wieder erspart hat. Der Name des Baumeisters ist unbekannt.
Waagen hat eine gute Beschreibung der Kirche gegeben (a. a, O. S. 21—24).
auch an mehr als einer Stelle bereits darauf hingewiesen, daß in dem
Sculpturenschmucke des Portales sich unverkennbar Dürer'scher Einfluß zeigt.
Von der — übrigens aus einem einzigen Holzstamm geschnitzten und mit
grellen Farben bemalten — Geißelungsgruppe, die früher im sogenannten
Geißelsaal des Klosters stand und im vorigen Jahrhundert nach der Kirche
gebracht wurde, hätte es um so eher einer Beschreibung bedurft, da die
phntographische Aufnahme hier wieder zu wünschen übrig läßt und weder
deutlich zu sehen ist, daß es vier Schergen sind, die um den Heiland hier
gruppirt sind, noch daß außer den zwei Geißelnden der Dritte damit be¬
schäftigt ist, die Bande des Heilandes fester anzuschnüren, der Vierte, die
Dornenkrone zu flechten. Der Abbildung nach zu urtheilen, ist es übrigens
eine Schöpfung des häßlichsten Naturalismus und, augenscheinlich nur der
Grille zu liebe, das Ganze aus einem Stück zu schneiden, lahm und unfrei
in den Bewegungen.
Die Annenkirche von Annaberg ist von 1499 bis 1525 durch den Bau-
meister Erasmus Jacob von Schweinfurt erbaut, einen stolzen und
eigenmächtigen Herren, der im Jahre 1618 mit dem Werkmeister in Magde¬
burg, welcher durch die Straßburger Bauhütte als Verweser der Steinmetzbrüder¬
schaft in Sachsen eingesetzt war, in heftigen Streit gerieth, weil er sich den An¬
ordnungen desselben nicht fügen wollte; trotz der Einsprache Herzog Georgs
wurde sein Steinmetzzeichen in die „Schelmentafel" eingetragen, und 1521
entschied sogar der Straßburger Werkmeister gegen ihn dahin, „daß man
sein ganz müßig gehn, kein redlicher Steinmetz bei ihm stehn, zu ihm in
seine Forderung ziehn solle, bei Strafe und Pön der Untauglichst."*)
Zum Glück war der kühne Gewölbebau der Annenkirche schon das Jahr
vorher vollendet worden, übrigens scheint sich an den Zorn des Straßburger
Meisters niemand gekehrt zu haben. Eine Beschreibung der Kirche und ihres bild¬
nerischen Schmuckes hat Puttrich (Lfg. 19 und 20, S. 32 fg.), eine sehr eingehende
wiederum Waagen (S. 29—SO) gegeben. Hier mögen nur wenige Notizen
herausgehoben sein, die für die bei Andreas abgebildeten Tafeln von Wichtig¬
keit sind. Die auf Tafel 19 wiedergegebene „Goldene Pforte" gehörte
ursprünglich zu dem um 1302—1512 durch Georg den Bärtigen erbauten
Franciskanerkloster und wurde 1577 — nicht 1604, wie der Herausgeber
angiebt — zum Schmucke der inneren Seite eines Einganges der Annenkirche
verwendet. Sie ist ein Werk des spätgothischen Stils und reich an bedeutendem
Seulpturenschmuck. Wenn Andreas davon fabelt, daß sie „das Eindringen
der Renaissance in lustiger Weise zeigt", so liegt hier eine sehr wenig lustige
Verwechslung vor mit der alten Sacristeithür vom Jahre 1522, die allerdings
eine reizvolle Mischung von gothischen und Renaissancemotiven bietet. Die
Inschriften an der „Goldenen Pforte" zu lesen und uns mitzutheilen, hat
Andreas sich wieder erlassen. Der Hauptaltar der Annenkirche (Tafel 20),
der in Rundwerken den Stammbaum Christi darstellt, welcher von der Brust
des zuunterst liegenden Abraham ausgeht, ist ein Werk des Augsburger
Bildschnitzers Adolf Dowher und wurde 1522 aufgestellt. Die Sculp-
turen bestehen sämmtlich aus Solenhofer Stein und sind auf einem Grund
von röthlichem Marmor aufgesetzt. Er ist doppelt interessant, als das
früheste nachweisbare Marmorkunstwerk und zugleich als das älteste Denkmal
durchgeführter Renaissanceseulvtur auf sächsischem Boden.*) Der von der
Bergknappschaft errichtete reiche Flügelaltar (Tafel 21) stammt aus dem
Jahre 1521. Zu den merkwürdigsten Partieen des bildnerischen Schmuckes
der Kirche gehört eine Folge von nicht weniger als hundert, früher bunt
bemalter und vergoldeter, jetzt zum größten Theil bronzirter Sandsteinreliefs,
welche rings um die Brüstung der Empore umlaufen, und von denen die
ersten zwanzig in humoristischer Weise die Lebensalter der beiden Geschlechter
vom zehnten bis zum hundertsten Jahre, die übrigen achtzig — eine in dieser
Ausdehnung einzig dastehende Serie — die ganze heilige Geschichte von Er¬
schaffung der Welt bis zum jüngsten Gerichte darstellen. Als Verfertiger
dieser Reliefs wird der Steinmetz Theophilus Ehrenfried genannt,
neben ihm als Mitarbeiter Jacob Hellwig und Franz von Magdeburg;
ebenso wird berichtet, daß Hans von Kalba und Balthasar Müller 1522
die Reliefs gemalt, 1524 „illuminirt und mit Gold überzogen" haben. Im
einzelnen hat Waagen auch in diesen Reliefs Dürer'sche Motive nachgewiesen.
Ein Stück der Empore mit einem Theile der Lebensalter des weiblichen
Geschlechtes zeigt Tafel 22. Jede Altersstufe ist nach der im Mittelalter
beliebten Symbolik durch einen neben der Frau auf einem Wappenschilde
angebrachten Vogel charakterisirt.*) Die daran zunächst sich anschließende
Darstellung zeigt einen Mann mit einem Spruchzettel, dessen Inschrift —
freilich in der Abbildung so gut wie nicht zu lesen — lautet: „1499 ist ge¬
legt das Fundament, 1325 ist das Werk vollende." Andreae erwähnt diese
Reliefs mit keiner Silbe, eben so wenig die auf Tafel 18 erkennbaren des
Predigtstuhles, welcher, wie es in einer handschriftlichen Annaberger Chronik
des 16. Jahrhunderts heißt (bei Spieß, S. 201) 1516 „von Bilech a u ekelt
ausgesetzet" ist. Die beiden auf Blatt 23 vereinigten Gemälde — zwei
Altarflügel, eine Maria mit dem Jesuskinde auf dem Halbmond stehend
und eine heilige Katharina — sind, wie der Herausgeber jedenfalls richtig ge¬
sehen hat, von ein und demselben Künstler gemalt. Waagen ist nicht auf
diese Wahrnehmung verfallen, wohl nur weil die Bilder in der Kirche an
verschiedenen Stellen hingen; hat man den Vergleich so bequem wie hier in
der Photographie, so kann kaum ein Zweifel darüber sein. Die Katharina
war Waagen geneigt, nach dem auf dem Bilde befindlichen Monogramm,
das man mit einiger Phantasie II K lesen kann, für eine Jugendarbeit des
jüngern Holbein zu halten. Die Holbeinausstellung in Dresden hat jedoch
gelehrt, daß das Bild „gar nichts mit Holbein gemein" hat.**) Von be¬
freundeter Seite werde ich darauf aufmerksam gemacht, daß beide Bilder an
den Meister des Hallischen Altars erinnern sollen. Der Taufstein auf Tafel
25 ist im Jahre 1556 aus der Cisterzienserkirche in Grünhayn nach Annaberg
versetzt worden.
lieber die Kunstwerke in Lauenstein vermag ich nichts genaueres bei¬
zubringen. Worauf die von Andreae gegebene ungenau-genaue Angabe, das
Portal sei „um 1601(?)" gefertigt, sich gründet, weiß ich nicht. Jul. Schmidt
erwähnt in seinen oben mehrfach angeführten „Beiträgen zur Kunstgeschichte
Sachsens" (S. 161) das Monument Günther's von Bünau in einer
Kapelle hinter dem Altare der Kirche in Lauenstein, welches laut des Con-
tractes 1611 von dem Bildhauer Lorenz Hornung in Pirna aus Sand¬
stein, Marmor und Alabaster, „allermaßen wie ihm die unterschriebene Vi-
sirung angegeben", verfertigt worden sei, und vermuthet, daß der Entwurf
dazu von Nosseni herrühre. Ob das von Andreae abgebildete Portal zu
diesem Begräbniß gehört, ist leider bei den abscheulich oberflächlichen Angaben
des Herausgebers nicht zu errathen.
Als Baumeister der von 1616—1640 erbauten Pfarrkirche in Schnee¬
berg, die in ihrem Hauptplan mit der Annaberger ziemlich übereinstimmt,
wird für die erste Zeit des Bauens ein Meister Hans, für die spätere Fabian
Lobwasser genannt. Der künstlerische Schmuck der Kirche stammt zum
großen Theil erst aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert und ist
daher vom Herausgeber nicht mit abgebildet worden. Das Altarbild aber,
das Mittelstück eines jetzt zerlegten und in der Kirche vertheilten Flügelaltars
vom Jahre 1639 hätte Wohl eine besondere Aufnahme verdient, denn es gehört
zu den allerhervorragendsten Schöpfungen Cranach's;*) ebenso eins oder das
andere der von Martin Krodelum 1680 gemalten, nach Waagen's Urtheil
zum Theil sehr bemerkenswerthen Apostelbilder.
Die Daten, die Andreas über die Erbauung der Marienkirche inZwickau
beibringt, sind richtig. Wenn er von dem Thurme sagt, daß er „noch vor
1406 datirt". so ist das wohl nur ein Druckfehler. Der Herausgeber kann
doch nur meinen, daß nur der Thurm noch aus der Zeit vor dem großen
Brande stamme; dieser fällt aber, wie er vorher selber angeführt, ins Jahr
1403. Wer eine Beschreibung der Kirche und ihrer Bildwerke, vor allem
des Wolgemut'schen Altars sucht, der muß sich wieder an Puttrich (a. a. O.
S. 34 fg.) und an Waagen (a. a. O. S. 61 fg.) wenden. Daß der Altar
übrigens zu den schwächeren Leistungen aus Wolgemut's Werkstatt zählt"),
daß das sogenannte „Heilige Grab", von welchem Tafel 60 einige Theile
bringt, ein großer, aus Lindenholz geschnitzter Sarkophag ist, daß die an der
Thür desselben befindliche Inschrift lautet: „Anno domini 1607 jar ist daß
grad gemacht", und daß daher das eben daselbst befindliche Monogramm M. R.
nicht, wie Waagen annahm, auf den wegen seiner zahlreichen frommen Stiftungen
noch heute verehrten Martin Römer. „Hauptmann zu Zwickau", der nach
urkundlicher Nachricht auch bei Wolgemut den Altar bestellte, sich beziehen
kann, da dieser bereits 1483 starb***), sondern, wie schon das dabei stehende
Schnitzerzeichen beweist, den Namen des Bildschnitzers bezeichnen muß, dies
wie so vieles andere sucht man in den Erläuterungen des Herausgebers
vergebens.
Auf die auf Tafel 29—30 wiedergegebnen Baudenkmäler aus Dip-
poldiswalde die Aufmerksamkeit zum ersten Male gelenkt zu haben, ist
ein Verdienst Andreae's. Blatt 29 zeigt das Aeußere der Stadtkirche, Blatt
30 und 31 Außen- und Jnnensicht der Nicolaikirche auf dem Begräbnißplatze,
einer schlichten kleinen Pfeilerbastlika. Die letztere ebenso wie der Thurm
der ersteren gehören dem Uebergangsstile an. Die nächsten sechs Tafeln sind
Wechselburg (Zschillen) gewidmet. Was bei der Restauration der Kirche,
an der schon seit mehreren Jahren gearbeitet wird, zur Aufnahme ausge¬
wählt werden konnte, ist eine Außenansicht des Ostchores, die Kanzel, das
Grabmal des Stifters, des Grafen Dedo, und seiner Gemahlin, mehrere archi¬
tektonische Details aus dem Innern und — das großartigste Blatt des ganzen
Werkes! — die herrliche Kreuzgruppe. Endlich werden uns auf Tafel 38
bis 40 noch zwei Außenansichten und das Innere der Kunigundenkirche in
Rochlitz geboten. Der Text zu allen diesen Blättern unterscheidet sich in
nichts von dem übrigen Texte. „Drei Pröbste vom Lauterberge folgen sich
in Zschillen. 1190 stirbt der Gründer. 1278 revoltiren die Mönche von
Zschillen. sie mißhandeln ihren Probst und werfen ihn über die Kloster¬
mauer; daraufhin ward das ganze Nest aufgehoben und dem deutschen
Orden übergeben." In diesem Tone geht es weiter, bis Otte's „Handbuch"
den Verfasser wieder mit einigen Winken über die Anlage der Kirche ablöst.
Bon der Crucifixgruppe heißt es. daß ihre Ausführung „sorgfältiger" als
an den Statuen der goldnen Pforte in Freiberg und an denen des Altars
und der Kanzel in Wechselburg sei; der Christuskörper „entbehre des Natur¬
studiums und der Geläufigkeit der Beobachtung, welche wir an Köpfen und
Extremitäten, sowie an der Gewandung im hohen Grade bewundern müssen."
Ueber die Erklärung der beiden Gestalten, die unter den Füßen der Maria
und des Johannes liegen, scheint der Herausgeber gelehrte Scrupel zu haben,
da er ihre Deutung auf die überwundenen Mächte des Heidenthums und
des Judenthums mit Fragezeichen versieht. Ich verweise dem gegenüber auf
die neuerdings in der „Zeitschrift für bildende Kunst" (XI., S. 266 fg.) er¬
schienene eingehende Besprechung der Gruppe von Lübke, der auf Grund
einer durchaus zutreffenden Charakteristik ihrer Stilformen und eines Ver¬
gleichs mit datirten Denkmälern die Entstehung der Gruppe um 1280 an¬
setzt, betreffs der Wechselburger Kirche überhaupt aber, ebenso wie der Roch-
litzer Kunigundenkirche auf Puttrichs „Denkmale" (Lfg. 1 und 19—20). Ueber
die Erbauung der beiden Kirchen in Dippoldiswalde fehlt es ganz und gar an
sicheren Nachrichten.
Hiermit breche ich diese Bemerkungen ab. Ich denke, sie werden hin¬
länglich gezeigt haben, daß die Abfassung des Textes zu der vorliegenden
Publication nicht gerade in die geeignetsten Hände gelegt worden ist. Hätte
ich mehr gegeben, als ich gegeben habe, hätte ich eine zusammenhängende
historische Darstellung, eine eingehende Beschreibung und Analyse der abge¬
bildeten Monumente versucht, so würde ich geradezu die Arbeit gemacht haben,
die der Herausgeber hätte machen müssen. Insbesondere den Versuch zu
wagen, die Lösung des im Eingange erwähnten „Problems" einen Schritt
zu fördern, wozu eine genaues vergleichendes Studium nicht blos der betref¬
fenden Monumente selbst, sondern eines viel weiteren Denkmalerkreises gehören
würde, und zwar ein Studium der Originale, fehlt es mir an zweierlei,
woran es Andreas, wenn er gewollt hätte, wahrscheinlich nicht gefehlt haben
würde: an Muße und Mitteln.
Ein Wunsch aber möge zum Schlüsse noch ausgesprochen sein: der, daß
diese „Monumente des Mittelalters und der Renaissance aus dem sächsischen
Erzgebirge" nicht eine vereinzelte Erscheinung bleiben, sondern womöglich den
Anfang zu einer Reihe weiterer Publicationen in dieser Richtung bilden
mögen. Vor allem scheint mir eine Aufgabe des Schweißes der Edlen werth:
eine zusammenhängende, von Grund aus neu aus den Schätzen der sächsischen
Archive geschöpfte und in würdiger Weise illustrirte Geschichte der reichen
und vielseitigen Kunstthätigkeit, die vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, von
Kurfürst Moritz an bis herab zu August dem Starken, fast ununterbrochen
am sächsischen Hofe geübt worden ist. Ein solches Werk könnte natürlich
nur mit Unterstützung der sächsischen Regierung geschaffen werden.
Es ist mir seit dem Erscheinen des ersten Theiles dieser Studien*) der
Vorwurf gemacht worden, daß ich meine Ansicht über die Eisenbahnpolitik ge¬
ändert, indem ich in meinen „Grundzügen der Nationalökonomie" den Privat¬
bahnen den Vorzug gegeben habe.**) Dies ist allerdings richtig; allein es
sollte doch dabei nicht verschwiegen werden, daß ich gleichzeitig dem System
der Staatsbahnen volle Gerechtigkeit habe widerfahren lassen und an der
gleichen Stelle ausdrücklich bemerkt habe, daß es sich in Deutschland sowohl
in Beziehung auf den Bau als auf den Betrieb trefflich bewährt habe.
Seit ich jene Ansicht niederschrieb, sind fast zehn Jahre vorübergegangen. Es
ist eine Summe neuer Erfahrungen gemacht worden, und alte Erfahrungen
sind erst zur Kenntniß gelangt. Das Netz der Eisenbahnen hat sich seitdem
nahezu verdoppelt. Seitdem ist der Eisenbahnpolitik überall eine weit größere
Aufmerksamkeit geschenkt worden, weil in eben diesem Zeitraum erst die
Folgen der früher von verschiedenen Staaten gemachten Fehler in dieser
Beziehung zur Erscheinung kamen. Alle diese Erfahrungen spurlos an sich
vorüber gehen zu lassen, würde ein förmliches geistiges Armuthszeugniß con-
stituiren. Ueberdieß können wir uns darauf berufen, daß die in dem früheren
Artikel gegebene Darstellung kein Glaubensbekenntniß enthalten soll, sondern
eine wohl motivirte Schlußfolgerung aus Thatsachen ist, welche sich von
selbst auferlegen. Und so werden wir es auch bei dieser dritten und letzten
Abtheilung unserer Arbeit halten. Wir werden keine Behauptungen aufstellen,
sondern nur unbestrittene Thatsachen logisch gruppiren und die daraus von
selbst sich ergebenden Schlüsse ziehen. Bei einer wirthschaftlichen Einrichtung,
welche nicht viel länger als ein Menschenalter besteht und trotz dieser kurzen
Zeit den Verkehr zweier Welttheile umgewälzt hat. auf früheren vorgefaßten
Meinungen beharren zu wollen, würde sich für den Vertreter einer Wissen¬
schaft wenig schicken, die noch so im Fluß begriffen ist, wie die Wirthschafts¬
lehre und die Wirtschaftspolitik. Seit jener oben erwähnten Meinungs¬
äußerung habe ich England, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande,
Rußland. Oesterreich und Ungarn durch zum Theil wiederholte Reisen kennen
gelernt, und es müßte doch sonderbar zugehen, wenn die dabei gemachten
Beobachtungen und die dadurch gewonnene Blickerweiterung nicht dazu bei¬
getragen hätten, frühere Meinungen zu modificiren.
Wir kehren zu unserem Gegenstand zurück. Wir hatten uns vorgenommen,
die Vorzüge des Privateisenbahn- und des Staatsbahnsystems unter Beseiti¬
gung aller Schlagworte nach ihrem inneren Wesen zu untersuchen, um sodann
zu erwägen, ob und wie weit das Reich die Rechte des Staats für sich in
Anspruch nehmen kann. Es giebt auch noch eine dritte hauptsächlich von
Technikern und Verwaltungsbeamten vertretene Meinung, welche sich für das
sogenannte gemischte System erklärt, wie es jetzt in Preußen und in Oester¬
reich besteht. Diese Ansicht leidet aber eigentlich an einer logischen Schwäche.
Denn wenn es sich um die Entscheidung der Frage handelt, welches System
das beste sei, so kann doch nur von Privatbahnen oder Staatsbahnen aus¬
schließlich die Rede sein, denn ein aus diesen beiden gemischtes Verhältniß
ist kein System, sondern ein Zustand, und zwar nur ein Uebergangszustand;
denn in wirthschaftlich gesunden Staaten muß zuletzt ein System siegreich
zum Durchbruch gelangen, welches sich als das vortheilhafteste bewährt hat.
Die nothwendig gebotene Rücksicht auf den zugemessenen Raum nöthigt uns,
den Schluß unserer Untersuchung nur auf die Hauptpunkte zu beschränken,
welche in den vorhergehenden Betrachtungen nicht schon einige Berücksichtigung
gefunden haben. '
Wir werden die Vorzüge des Privat- und des Staatsbahnsystems daher
nur noch mit einander abwägen in Beziehung auf das Eigenthum, auf den
Betrieb und den Tarif.
Das wichtigste Verhältniß im Eisenbahnwesen, bei welchem sich die Vor¬
züge der beiden Systeme gegenüber den öffentlichen Interessen am klarsten
Prüfen lassen, ist die Frage des Eigenthums. Denn die Untersuchung der«
selben läßt sich am reinsten von allen das eigentliche Sachverhältniß trübenden
Nebeninteressen trennen. Wir wollen sofort noch klarer auseinandersetzen,
was wir unter dieser Trübung der Sache verstehen. Wir haben nämlich
gefunden, daß in dem Streit um den Plan der Neichseisenbahnen viel zu
häufig willkürlich oder unwillkürlich der Fehler gemacht wird, daß bei Ver-
gleichungen der Erfolge der Privat- und der Staatsbahnen nicht von den
gleichen Voraussetzungen ausgegangen wird. Bei dem Vergleich verschieden
gearteter Faktoren kann aber kein richtiges Resultat sich ergeben.
Wir müssen vorausschicken, daß wir von der Voraussetzung ausgehen,
daß die Verwaltung der beiden Systeme, welche wir betrachten, ihre normal¬
mäßige Pflicht erfüllen, denn abnorme Fehler oder Irrthümer würden nicht
dem System zur Last gelegt werden können. Wir könnten z. B. Ver¬
luste, welche einer Privatbahn zustoßen würden, weil ihre Verwaltung zu¬
fällig in die Hände von Schwindlern, Ignoranten oder Betrügern fiel, nicht
dem System zuschreiben, und wenn ein im Verfall begriffenes Staatswesen,
wie z. B. die Türkei, Staatsbahnen besäße, welche sie schlecht verwaltete, so
könnte auch dies nicht dem System der Staatsbahnen zur Last gelegt werden.
Um gleich vom Anfang an zu beginnen, steht auf Seiten des Staats¬
bahnsystems bei der Errichtung der Bahnen der Vortheil, daß es von dem
Spiel der Agiotage und der Jagd nach Dividenden mit dem ganzen An¬
hängsel von Ausbeutung des öffentlichen Interesses durch den Privateigennutz
befreit bleibt. Wir wollen zwar gerecht sein und nicht verkennen, daß auch
der Privateisenbahnbau ursprünglich sich nach dem öffentlichen Bedürfniß
gerichtet hat, allein ebenso häufig ist es die Hoffnung auf Erlangung von
Gründergewinn und anderen Vortheilen, welche die Errichtung von Eisenbahn¬
linien veranlaßt hat. In Zeiten des industriellen Aufschwunges, welche
Handelskrisen vorherzugehen pflegen und wo die Leichtgläubigkeit des Pub¬
likums stets einen hohen Grad erreicht, nehmen es die Gründer gar nicht
genau mit dem Bedürfniß und mit der Rentabilität einer neuen Eisenbahn.
Der eracte Nachweis wird dann durch pomphafte Anpreisungen ersetzt, und
da die Concessionsertheilung von Seiten der Regierung im Publikum den
Glauben erweckt, als ob die Solidität und Rentabilität des neuen Unter-
nehmens über allen Zweifel erhaben sei, so gelingt es sehr häusig gewissen¬
losen Unternehmern, die erforderlichen Kapitalzeichnungen für Bahnen zu
erlangen, welche gar keine Aussicht auf Erfolg haben. Es geht da nicht
bloß ein Privatkapital verloren, sondern auch das Nationalkapital wird um
einen Theil geschmälert, welcher in anderen Industriezweigen gute Früchte
getragen hätte.
Namentlich aber während des Baues von Privatbahnen pflegen nicht
selten gewisse Nachtheile sich einzustellen, welche mehr oder weniger in der
Natur der Dinge liegen. Die Gründer haben ein oberstes Interesse, ihre
Unternehmung überhaupt ins Leben zu führen. Sie suchen deshalb die
Kosten so gering als möglich darzustellen, um sicherer zu sein, das erforderliche
Kapital aufzubringen. In dieser Beziehung sind gerade in neuester Zeit
kolossale Irrthümer vorgekommen. Die noch dazu staatlich subventionirte
Gotthardtbahn hatte das zum Bau des ganzen projektirten Unternehmens
erforderliche Kapital um über 100 Millionen Francs zu niedrig angeschlagen.
Hätte man den ganzen Umfang des wirklich erforderlichen Kapitals von
vorneherein gekannt, so würde wahrscheinlich die Subvention ganz unter¬
blieben und das Unternehmen daher auch nie zu Stande gekommen sein, da
es wohl schwerlich einen dem aufgewendeten Kapital entsprechenden Vortheil
bringen wird. Wir wollen die Schuld dieses Irrthums nicht einmal Per¬
sonen zuschreiben, denn wenn in dem früheren Gotthardtcomite' und in der
Gotthardtdirektion auch Strohmänner sitzen, welche ihren Posten mehr aus
Rücksicht politischer Coterie als wegen Sachverständnisses einnehmen, so steht
doch an ihrer Spitze ein sehr tüchtiger Mann. Der Fehler liegt eben im
Princip. Gründer geben sich leicht sanguinischen Hoffnungen hin und unter¬
schätzen dann unbewußt die Schwierigkeiten, welche ihrem Unternehmen im
Wege stehen. Dieses Unterschätzen des Anlagekapitals einer Eisenbahn aber
hat eine noch viel bedenklichere Seite, weil die Gesellschaft dadurch verführt
oder genöthigt wird, in der Anlage der Eisenbahn Ersparungen vorzunehmen,
welche nicht bloß dem Dienst schaden, sondern sogar Gefahren für die Sicher¬
heit des Publikums herbeiführen können. Wir brauchen in dieser Beziehung
nur an das Beispiel der Lemberg - Czernowitzer Eisenbahn zu erinnern, zu
welcher so schlechtes Schwellen- und Schienenmaterial genommen wurde, daß
die Bahn sofort nach ihrer Vollendung wieder reparirt werden mußte. In
Amerika, wo, wie in England, das Privatbahnsystem besteht, pflegen die Ge¬
leise, Brücken und Viadukte in einer oft geradezu liederlichen Weise construirt
zu werden, so daß die Menschenleben oft auf ruchlose Art gefährdet sind.
Schon seit mehr als zehn Jahren haben zahlreiche Versuche erwiesen, daß
Schienen aus Bessemerstahl nicht bloß dem Eisenbahndienst eine viel größere
Sicherheit verleihen, sondern auf die Dauer auch eine bedeutende Ersparnis
gewähren. Deshalb haben Staatsbahnen und solche große Privatbahnen,
deren Gründung noch in die erste Periode des Eisenbahnwesens fällt und
die daher in guten Verhältnissen sich befinden, angefangen, die Eisenschienen
durch Stahlschienen zu ersetzen. So hatte die Köln-Mindener Bahn schon
im Jahre 1867 begonnen, ungefähr gleichzeitig mit den preußischen Staats¬
bahnen, ihre sämmtlichen Hauptlinien mit Stahlschienen auszurüsten. Im
Jahre 1870 waren auf den Linien der Köln-Mindener Bahn bereits über
300 Kilometer Geleise in Stahlschienen verlegt, die Reichsbahnen Elsaß-
Lothringens wurden gleichfalls sofort, nach ihrer Besitzergreifung, mit Stahl¬
schienen ausgerüstet. Nach Rußland werden neuerdings fast nur Stahl¬
schienen versendet. In Frankreich haben alle großen Bahnen beschlossen
und begonnen, ihre Linien mit Stahlschienen zu belegen, und die eng-
lischen großen Bahnen, welche in ihrer kolossalen Ausdehnung ganz
die Bedeutung von Staatsbahnen haben, sind längst mit diesem Bei¬
spiel vorangegangen. Dagegen wurden während der ganzen letzten Grün¬
derperiode die in Deutschland und Oesterreich neu gegründeten Eisenbahnen
lediglich mit Eisenschienen ausgerüstet, weil das veranschlagte Kapital für
die größere Auslage der Stahlschienen nicht ausgereicht hätte.
Eine ähnliche Wirkung hat die den Verwaltungen von Privatbahnen
mit Nothwendigkeit auferlegte Jagd nach Dividenden. Die Verwaltungs¬
räthe und Direktoren der Privateisenbahnen sind, weil sie nach jedem Ge¬
schäftsjahr gewechselt werden können, naturgemäß genöthigt, die Aktionäre
möglichst bei guter Laune zu erhalten. Wodurch kann dieß aber besser ge¬
schehen, als durch Vertheilung reichlicher Dividenden? Diese Rücksicht auf die
baldige Vertheilung einer möglichst hohen Dividende wirkt daher auch da¬
hin, daß die Verwaltungen so sparsam als möglich in der Erneuerung des
Geleises wie des Betriebsmaterials zu Werke gehen und den Erneuerungs¬
fonds so viel als möglich zu Gunsten der Dividende schmälern. Je jünger
die Bahn, desto mehr ist sie diesem Verfahren ausgesetzt, weil die Direktoren
und Verwaltungsräthe noch ein größeres Interesse haben, sich bei ihren
Aktionären beliebt zu machen. Nur Männer, die im Dienste einer alten
soliden Privatbahn ergraut sind, brauchen keine solchen Rücksichten zu nehmen,
und daher stößt man auch in dieser Beziehung auf so riesige Contraste
zwischen alten und neuen Privatbahnen, sowohl in Beziehung auf den Er¬
neuerungsfonds, als auch in Hinsicht der Ausgaben für das Beamten- und
Arbeiterpersonal. Zu den solidesten Bahnen gehört in dieser Beziehung die
Berlin-Hamburger, und zu denjenigen, gegen welche die meisten Klagen er¬
hoben wurden und auf der auch die meisten Unglücksfälle sich ereigneten, die
Berlin-AnHalter Bahn. Die Ausgaben dieser beiden Privatbahnen und der
deutschen Staatsbahnen verhalten sich nun zu den Einnahmen nach einer
Berechnung der Vereins-Zeitung vom Jcihr 1874 Nummero 30 wie folgt'
Die Gegner des Staatsbahnsystems, welche so oft die Einrede gebrauchen,
daß die Staatsverwaltung theurer sei, können an dieser vergleichenden Ta¬
belle sehen, daß es auch Privatbahnen gibt und zwar von den besten, welche
noch theurer verwalten als Staatsbahnen, daß aber die Kosten der Verwal¬
tung an und für sich nicht der einzige Maßstab dafür sind, sondern
die Frage, was für dieselben geschieht, denn auf die Dauer wird diese theurere
Verwaltung die billigere. Die Bahnen, welche zur unrechten Zeit an ihrem
Erneuerungsfonds gespart haben, müssen später auf einmal verhältnißmäßtg
viel mehr aufwenden. Die Dividenden werden dann rasch von der Schwind¬
sucht befallen, und die Börse weiß auf die Dauer den wahren Werth doch
richtig zu schätzen. Am 5. Dezember 1876 standen z. B. die Aktien der
Berlin-Hamburger Eisenbahn auf 174 und die der Berlin-AnHalter auf 102.
Ein dritter Nachtheil des Privatbahnsystems besteht darin, daß Die
Unternehmung und der Bau von Privatbahnen zu unregelmäßig vor sich
geht und dadurch, für lange Perioden berechnet, theurer zu stehen kommt, als
der Staatsbahnbau, wenn dieser auch cetoris xaridus wegen soliderer Anlage
an und für sich eine höhere Auslage für das Material erfordert. Da nämlich
die Unternehmungslust mehr sprungweise aufzutreten und anzuschwellen pflegt,
Privateisenbahnen aber von derselben abhängig sind, so kommt es, daß der
Privateisenbahnbau in Perioden des industriellen Aufschwunges eine ungeheure
Ausdehnung gewinnt, in Perioden des Stillstandes aber gänzlich daniederliegt.
Während also in Zeiten der Ueberspekulation der Privateisenbahnbau am
schwunghaftesten betrieben wird, wo zugleich auch alle übrigen Industriezweige
einen hoch gesteigerten Bedarf an Materialien, namentlich an Rohprodukten
des Eisenbahnbaus, an Holz und Eisen, verursacht, so muß er für dieselben
die höchsten Preise bezahlen. Aus der gleichen Ursache erhöht die ungewöhnlich
gesteigerte Nachfrage nach Arbeitern den Arbeitslohn zu seinem Culminations-
punkte. Aus diesem Grunde ist es einleuchtend, daß die Herstellung von
Privatbahnen theurer zu stehen kommen kann, als die von Staatsbahnen, bei
welchen letzteren die Regierung den Bau gleichmäßig vertheilen kann. Im
Gegentheil, der Staat, welcher keine Gründerinteressen hat, kann das Bau¬
kapital zu einer Zeit vom Geldmarkt nehmen, wann es am billigsten ist, und
er kann den Schwerpunkt des Baues in eine Zeit verlegen, wo der Preis
des Materials und der Arbeitslohn am niedrigsten steht. Dazu kommt noch
ein vierter Vortheil der Staatsbahnen. Man macht in Zeiten des in.
dustriellen Verfalls, wie z. B. nach dem Ausbruch der Krisis von 1873, die
traurige Erfahrung, daß gerade dann, wenn die Geschäfte anfangen zu stocken,
wann Preise und Löhne sinken und Arbeiter entlassen werden, gerade auch der
Privateisenbahnbau mehr oder weniger aufhört und in vielen Ländern nur
durch die Subvention des Staates im Gang erhalten werden kann. Ganz
im Gegentheil kann der Staat in Zeiten des Aufschwungs, des Steigens der
Preise und Löhne den Eisenbahnbau einschränken, und statt in Zeiten des Nieder¬
gangs die Arbeiter auf die Straße zu werfen, gerade dann Eisenbahnbauten in
größerem Umfange als sonst vornehmen lassen, um einem Theil der aus anderen
Industrien entlassenen Arbeiter und den feiernden Hüttenwerken Beschäftigung
zuzuwenden. Ist es ja von jeher als eine Pflicht des Staates angesehen
worden, in Zeiten der Noth öffentliche Arbeiten anzuordnen, um dadurch be¬
schäftigungslosen Arbeitern Verdienst zu schaffen.
Der Hauptvortheil, welcher mit dem Staatseigenthum der Eisenbahnen
zusammenhängt, ist indessen der, daß das ganze Netz gleichmäßig ausgebaut
und alle Theile des Landes in richtigerer Wahrung der Interessen der Ge-
sammtbevölkerung damit versehen werden können. Bei dem System des
reinen Privatbaues geht die Anlegung des Eisenbahnnetzes in folgender
Weise vor sich: Zuerst werden die Linien in den industrie-, verkehr- und
volkreichsten Gegenden angelegt. Da dieselben sich in der Regel in der Ebene
oder in Thälern hinziehen, so kommen auch die Baukosten an und für sich
niedriger zu stehen, und nur der höhere Werth des expropriirten Grund und
Bodens verhindert es, daß nicht das ganze Baukapital mit in die niedrigsten
Klassen zu stehen kommt. In zweiter Linie folgen sodann die Gebirgsbahnen,
welche wegen ihrer Durchschnitte. Tunnels, Aufschüttungen und Ueberbrückungen
an und für sich höhere Baukosten verursachen, die nur durch den geringeren
Werth des Grund und Bodens neutralistrt werden. Das Fett haben die
Bahnen der ersten Kategorie abgeschöpft. Die der zweiten Kategorie können
wegen der geringeren Verkehrstüchtigkeit sich zur Rentabilität der Ersteren
nicht emporschwingen. Die weiteren Kategorien von Bahnen, die secundären,
die Verbindungs-, die Zweig-, die Local- und die Bergbahnen u. s. w. sind
schon bei der Stufe angelangt, wo sich nur schwer Privatunternehmer finden,
um die Linie auf alleinige eigene Gefahr zu errichten. Sie werden in der
Regel nur dadurch ins Leben geführt, daß der Staat, die Provinz, die Ge¬
meinden oder die Adjacenten eine Unterstützung gewähren, welche entweder
in einer Zinsengarantie, in unentgeltlicher Abtretung von Grund und Boden,
in unentgeltlicher Leistung von Spann- und Frohndienst, in einem Geld¬
beitrag, in einem unverzinslichen Darlehen oder in einer Betheiligung am
Aktienkapital bestehen mag. Wir sehen also hier, daß der Staat und die
Bevölkerung zuletzt gezwungen sind, außerordentliche Opfer zu bringen, um
in den Besitz von Eisenbahnen zu gelangen und das Eisenbahnnetz des Landes
zu einem organischen Ganzen zu vervollständigen, während die erste Kategorie
der Bahnen vielleicht einen Reingewinn bezieht, welcher die landesüblichen
Zinsen des Anlagekapitals um das Doppelte und Dreifache, ja zuweilen sogar
um das Vierfache übersteigt. Da die Anlage jener Bahnen nur durch die
Wohlthat des Expropriationsgesetzes möglich gemacht worden war und die¬
selben fast ohne Ausnahme sich in ihrer Concession ein Monopol ausbedangen,
welches jede Concurrenz ausschloß, so haben sie jenen Ueberschuß des Rein¬
ertrags dem Staatsschutz zu verdanken, und es liegt eine Unbilligkeit darin,
daß der Staat zum rationellen Ausbau des Netzes zuletzt Opfer bringen
muß, während der Kapitalwerth der Aktien der ersten Unternehmungen die
wirkliche baare Einlage um das Drei- und Vierfache übersteigt. Diese Be¬
reicherung ist daher eine monopolistische. Sie hat keinen legitimen volks-
wirthschaftlichen Grund, denn sie wäre eine zu hohe Versicherungsprämie, ein
zu hohes Aequivalent für die Gefahr, in welcher das Gründungskapital
schwebt, wenn eine solche in diesem Fall überhaupt zugegeben werden kann.
Vergleichen wir damit diejenigen Länder, wo der Staat von vorneherein
das Eigenthum, den Bau und Betrieb der Eisenbahnen selbst in die Hand
genommen hat, so sehen wir die öffentlichen Interessen in dieser Hinsicht in
ganz anderer Weise gewahrt. Ein in seinen Finanzen geordneter Staat er¬
hält in der Regel das erforderliche Kapital zu billigeren Bedingungen als
eine Eisenbahngesellschaft ihre Prioritätsanleihen. Der Staat macht also gleich
von vorneherein eine Ersparniß in der Verzinsung des Baukapitals. Sodann
aber hat der Staat den ungeheuren Vortheil, daß er mittelst der Ueberschüsse
deS Ertrages der Eisenbahnen die Eisenbahnschuld amortisiren und einen
Reservefonds anlegen kann, mittelst dessen die etwaigen Ausfälle an der Ver¬
zinsung der später contrahirten Eisenbahnschulden gedeckt werden, welche dazu
dienen, die weniger rentablen Eisenbahnen zweiten und dritten Ranges her¬
zustellen und überhaupt das Eisenbahnnetz seiner Vollendung entgegenzuführen.
Auf diese Weise wird Staat und Bevölkerung von jeder Ausbeutung verschont.
Bei dem reinen Privatbahnsystem aber wurde diese Ausbeutung zum Theil
sogar in schablonenmäßiger Art geübt. Es ist zum Beispiel kein billiger
Grund abzusehen, warum den Eisenbahngesellschaften von vorneherein das
Privilegium auf 99 Jahre ertheilt worden ist, und wawm gar noch in den
meisten Ländern nach Ablauf dieser Frist die Gesellschaft den Werth ihres
Eigenthums ersetzt erhalten muß, wenn der Staat die Bahn selbst übernehmen
will. Denn die ersten Bahnen, welche in den frequentesten Gegenden an.
gelegt wurden, hätten auch in der Hälfte jener Zeit ganz leicht amortisirt
werden können. Die Zusicherung eines Privilegiums für 99 Jahre kann
aber doch bloß den Sinn haben, daß die Länge dieses Monopols es erlaubt,
etwaige Verluste zu decken, welche die Gesellschaft am Anfang der Unter¬
nehmung erlitten hat, daß dasselbe eben eine Art Versicherungsprämie bildet.
Dabei ist aber immer noch nicht abzusehen, warum gerade die lange Frist
von 99 Jahren gewählt wurde. Es wäre viel rationeller gewesen, die Con¬
cessionen in der Art abzufassen, daß dieser Zeitraum nur als äußerste Frist
angenommen worden wäre, die Concession aber nur so lange liefe, bis das
Kapital aus dem Ueberschuß über eine reichlich bemessene Dividende zurück¬
bezahlt sein würde. Diese Dividende konnte auf 6 oder 7°/g bemessen werden.
Die Eisenbahn muß aber nach Amortisirung des Kapitals unentgeltlich an
den Staat fallen, wie dies in der That in Frankreich und in Oesterreich fest¬
gesetzt ist. Aus diesem Grunde war auch die Eisenbahnsteuer in Preußen
gerechtfertigt, welche die Amortisirung nachträglich eingeführt hatte. Der
Umstand, daß dieser Punkt in den meisten Staaten bei Einführung der Eisen¬
bahnen nicht besonders untersucht und je nach den verschiedenen Verhältnissen
geordnet, sondern daß überall schablonenhaft Concessionen auf 99 Jahre er¬
theilt wurden, ist bloß aus der Macht der Gewohnheit und der Nachahmung
M erklären. Man hatte die Eisenbahnen von England herübergenommen
und nahm bei Errichtung von Gesellschaften auch gleichzeitig die Schablone
der englischen Statuten mit in den Kauf, welche sämmtlich diese Fristbestim¬
mung von 99 Jahren enthalten; aus dem einfachen Grunde, weil dort ganz
andere Grundeigenthumsverhältnisse bestehen, weil in Großbritannien auch
"/to sämmtlicher Häuser auf Bauplätzen errichtet werden, welche von den
Grundeigenthümern auf 99 Jahre verpachtet werden. Die Statuten der
englischen Etsenbahngesellschaften waren aber selbst schon wieder einer Schablone
gefolgt und hatten so ziemlich wortgetreu die Statuten der schon früher be¬
stehenden Kanalgesellschaften abgeschrieben. Diese letzteren hatten wahrschein¬
lich einen plausibler Grund, warum sie das Parlament bewogen, bei der
ConcessionDertheilung diese bezüglich der Bodenverhältnisse historisch über¬
lieferte Frist betzubehalten. Die Kanäle schienen bet ihrer ersten Anlegung
ein sehr kostspieliges und gewagtes Unternehmen zu sein. Es mochte daher
billig scheinen, daß man ihnen gegenüber die althergebrachte Frist der Besitz,
abtretungen des Grundeigenthums nicht verkürzte, um ihnen Zeit zu lassen,
ihre Verluste und ihr Kapital zu amorttsiren. Es liegt aber kein Grund
vor, und es ist mit Recht auch schon von I. G. Cohn in seinen Unter¬
suchungen über die englische Eisenbahnpolittk getadelt worden, daß die Statuten
der englischen Kanalgesellschaften bei der Gründung der englischen Eisenbahnen
den neuen Gesellschaften unverändert zu Grunde gelegt wurden. Eine seltene
Gedankenlosigkeit aber war es, daß man auf dem europäischen Continent diese
Bestimmung der englischen Statuten ohne selbständige Prüfung aufnahm,
und daß die 99 Jahre sich dann schablonenmäßtg in den Concessionen aller
auch in den späteren Decennien gegründeten Eisenbahnen wiederholten.
Denn die später angelegten Eisenbahnen, welche zu einer Zeit errichtet
wurden, wo die ersten Unternehmungen das Fett bereits abgeschöpft hatten,
welche weniger verkehrsreiche Gegenden durchziehen, die also von vorneherein
eine geringere Rentabilität in Aussicht stellen, hätten btlligerweise mit einer,
längeren Concessionsfrist bedacht werden müssen als die ersten. Es ist gar
kein Grund zu einer solchen Bevorzugung der ersten Klasse der Eisenbahnen
abzusehen. Dieser Umstand aber, daß bei der Concessionsertheilung die schablonen¬
mäßige Frist der 99 Jahre nothwendig die Wirkung eines Procrustes-Bettes
haben mußte, beweist, daß sie in Anwendung kam, ohne daß die Ertheiler und
die Petenten der Concessionen sich eines guten Grundes dafür bewußt waren.
Alle diese Ungleichheiten sind in den Ländern vermieden worden, wo man.
wie in Belgien, Baden, Würtemberg und Baiern, das Eisenbahnwesen
von vorneherein ganz oder zum größten Theil dem Staat vorbehalten hat.
Welch ein bedeutender Ueberschuß dem Staate aus den Eisenbahnen der
ersten Periode zufließt, den er dann zum verlustlosen Ausbau des Eisenbahn¬
netzes verwenden kann, läßt sich durch einen Ueberblick der Dividenden der
älteren preußischen Privatbahnen ermessen. Dieselben haben in den letzten
8 Jahren an Ueberschüssen der Einnahmen über die Betriebsausgaben in
Procenten des Anlagekapitals folgendes Ergebniß geliefert:
Diese Ausbeutung der öffentlichen Interessen durch die Privateisenbahnen
der ersten Klasse wurde durch das Eisenbahnbesteuerungsgesetz nur zum Theil
wieder gut gemacht. Denn schon im Jahr 1838, also ganz im Anfang des
Eisenbahnbaues. beging die preußische Gesetzgebung einen neuen Fehler, indem
sie für die Expropriation der Eisenbahnen einen viel zu hohen und unsicheren
Maßstab anlegte. Der §. 42 des Gesetzes vom 3. November 1838
lautet nämlich:
„Dem Staate bleibt vorbehalten, das Eigenthum der Bahn mit allem
Zubehör gegen vollständige Entschädigung anzukaufen" :c. :c.
„Die Entschädigung erfolgt sodann nach folgenden Grundsätzen, n,) Der
Staat bezahlt an die Gesellschaft den 25fachen Betrag derjenigen jährlichen
Dividende, welche an sämmtliche Aktionäre im Durchschnitt der letzten 5 Jahre
ausbezahlt worden ist. d) die Schulden der Gesellschaft werden ebenfalls
vom Staate übernommen" :c. :c.
Der frühere Direktor des sächsischen statistischen Bureaus, Dr. Petermann,
hat sich die verdienstvolle Mühe genommen, eine Berechnung darüber anzu¬
stellen, zu welchem Preise nach dem Grundsatze dieses Gesetzes das Reich die
sogenannten schweren preußischen Privateisenbahnen erwerben müßte, und er ist
auf Resultate gestoßen, welche deutlich zeigen, daß die preußische Gesetzgebung
nicht wußte, was sie that, als sie jenes Gesetz sanctionirte. Die nachfol¬
genden Bahnen haben nämlich in den Jahren 1870—1874 folgende Divi¬
denden getragen.
Die nachfolgende Tabelle zeigt nun, wie sich nach dem obigen Gesetze
der mit dem 26fachen Betrage kapitaliflrte Durchschnittsreinertrag der 5 letz¬
ten Jahre einerseits zu dem eingezahlten Kapital, andererseits zu dem Bör¬
senwerth am 1. Februar 1876 in Millionen Thalern verhält:
Die Besitzer der Aktien dieser dreizehn Eisenbahnen würden also nach dem
preußischen Expropriationsgesetze über eine halbe Milliarde Mark mehr er¬
halten, als diese nach dem Börsencurs vom 1. Februar 1876 gelten. Dieser
Curs ist allerdings ein sehr niedriger. Derselbe steht z. B. gegenwärtig bei
der Köln-Mindener Bahn um 4—5 Thaler höher, allein auch zu anderen
Zeiten würde jener Betrag den Börsenwerth immer noch um eine unge¬
heuere Summe übersteigen. Aus dieser Berechnung geht zunächst hervor,
daß der im Gesetze angenommene Maßstab der letzten fünf Betriebsjahre ein
irriger ist. Allein auch der Maßstab des Reinertrags an und für sich muß
zu Irrthümern führen, weil nicht jede Bahn gleichmäßig verwaltet ist, und
weil namentlich die Vorsorge für die Erneuerung des Bahnkörpers und des
Betriebsmatertals bei jeder Bahn verschieden ist. Deshalb kommt der Börsen¬
curs dem wahren Werthe weit näher, weil der Zusammenfluß der Urtheile
vieler erfahrener Männer an der Börse am ehesten zu einer Berücksichtigung
auch der inneren Verhältnisse der Bahnen im Marktpreise führt. Die Ex¬
propriation der preußischen Eisenbahnen ist durch dieses Gesetz fast unmöglich
gemacht. In die Zeit jener eben genannten fünf Jahre fällt die Periode des
riesigen Verkehrs vor der Krisis in den drei Jahren 1870 — 1872. Würde man
das Projekt des Ankaufs der preußischen Privatbahnen bis zum Jahre 1879
vertagen, wo der Reinertrag der Jahre 1874—1878 der Werthberechnung
der Bahnen zur Expropriation zu Grunde gelegt werden würde, so würde
wahrscheinlich ein ganz verschiedenes, viel geringeres Resultat zum Vorschein
kommen. Schon die Möglichkeit dieser Schwankungen des Ertrags in ver¬
schiedenen Lustren zeigt den Irrthum des Prinzips. Was das Eigenthum-
Verhältniß der Eisenbahnen betrifft, so wollen wir von der Voraussetzung
ausgehen, daß es möglich sein wird, einen für beide Theile billigen Ablösung«
Maßstab zu finden für den Fall, daß der Plan wirklich die gesetzliche Ge¬
nehmigung finden sollte, die deutschen Privatbahnen in den Besitz des
Staates, beziehungsweise des Reiches übergehen zu lassen. Wir beschäftigen
uns hier nur mit der Frage, ob es für das allgemeine Wohl besser ist, wenn
die Eisenbahnen im Eigenthum von Privaten oder des Staates sich befin¬
den. Wir glauben, mit den oben angeführten Argumenten das Letztere
nachgewiesen zu haben. Ob auch der Betrieb in den Händen des Staats besser
zum allgemeinen Vortheil gewahrt ist, muß erst noch untersucht werden. Uebrigens
ist diese Frage für diejenige des Eigenthums nicht präjudicirlich, weil der Be¬
trieb von Staatsbahnen ja auch an Privatunternehmer verpachtet werden kann.
Für uns bleibt hier noch die Frage zu untersuchen, ob es vor¬
theilhaft ist, noch jetzt die alten Privatbahnen für den Staat zu
acquiriren, nachdem die richtige Zeit versäumt worden ist, und nachdem wohl
von keiner Seite mehr geleugnet werden wird, daß es für das öffentliche
Wohl besser gewesen wäre, die Eisenbahnen von Anfang an von Staatswegen
zu übernehmen, wie es in den süddeutschen Staaten und in Belgien geschehen
ist, — oder ob der Staat von jetzt an nur die neuen Bahnen übernehmen
soll, für welche sich ohnehin, außer mit Staatsgarantie, keine soliden Unter¬
nehmer mehr finden. Wir halten auch jetzt noch den Ankauf sämmtlicher
Bahnen nicht bloß für möglich, sondern auch für vortheilhaft, und zwar aus
folgendem Grunde. Wie ungünstig auch der Maßstab der Berechnung des
Kaufschillings bei der Expropriation oder beim freien Kaufvertrag für den
Staat ausfallen mag, so kann man doch annehmen, daß die Zinsen der als
Kaufschilling hingegebenen Obligationen von dem Reinertrag der Bahnen
nach dem Maßstab ihrer gegenwärtigen Betriebsverhältnisse auch in Zukunft
werden gedeckt werden. Dieser Maßstab oder Umfang der Betriebsverhältnisse
wird aber in der Zukunft nicht derselbe bleiben, durch die Anlegung neuer
Kreuzungslinien und in Folge des weiteren Ausbaues des Eisenbahnnetzes
muß der Betrieb der alten Hauptbahnen durch die vermehrte Zufuhr von
Passagieren und Gütern in der Zukunft an Umfang zunehmen. Der Staat,
welcher die neuen Bahnen baut, und bei denselben vielleicht sogar Einbuße
erleidet, hilft durch dieselben dagegen den Reinertrag der alten Privatbahnen
ohne deren Zuthun erhöhen. Um den Betrag dieser Erhöhung gewinnt er
in Zukunft einen Vortheil aus dem Besitz der Privatbahnen, auch wenn er
sie zu einem sehr hohen Preise angekauft hat, und diesen Ueberschuß kann er
dazu verwenden, um das Deficit der neuen Staatsbahnen zu decken. Dieser
Umstand allein muß mit der Zeit den Staat überall zur Erwerbung der
Eisenbahnen führen, denn in vielen Staaten ist es schon so weit gekommen
daß gar keine neuen Bahnen mehr ohne Staatsunterstützung unternommen
werden. Seit Kurzem haben die italienische, die ungarische und die öster¬
reichische Regierung diesen Weg betreten.
Dazu kommt aber noch ein mächtiges Argument, kraft dessen man sagen
kann, daß der Staat auch im gegenwärtigen Zeitpunkt und nachdem so viel
versäumt worden ist, noch immer mit Vortheil die Eisenbahnen übernimmt.
Das ist die naturgemäße Vermehrung der Bevölkerung. Nach der letzten
Volkszählung hat sich die Bevölkerung des deutschen Reiches innerhalb 4
Jahren um 4°/<, vermehrt. Dies würde einer Verdoppelung der Bevölkerung
innerhalb eines Jahrhunderts gleichkommen. Die Bevölkerung von Preußen
hatte sich bis vor den letzten Gebietserweiterungen sogar in einem halben
Jahrhundert verdoppelt. Nehmen wir auch an, daß in Zukunft die Be¬
völkerungszunahme in einem viel langsameren Maßstab vor sich gehen werde,
so kann man doch mit Sicherheit annehmen, daß der sich vorzugsweise der
Eisenbahnen bedienende Theil der Bevölkerung in hundert Jahren sich ver¬
doppelt haben wird. Die Personen- und Güterfrequenz wird sich nach Ana¬
logie der bisherigen Erfahrungen aber noch viel früher verdoppelt haben. Die
Aussichten der Verkehrseinnahmen sind also für die Zukunft aus dem einzigen
Faktor der Bevölkerungsvermehrung für das Eisenbahnnetz noch ebenso groß,
wie sie ursprünglich für die alten Bahnen waren. Nur ein längerer Zeit¬
raum ist erforderlich, um dasselbe Resultat aufs Neue zu erreichen oder mit
andern Worten den Verkehrsumfang zu verdoppeln. Der Nachtheil des
längeren Zeitverlaufs bis zur Erreichung dieses Zieles wird zum Theil da¬
durch ausgeglichen, daß mit denselben Verkehrsmitteln in der Zukunft mehr
geleistet werden kann, mit andern Worten, daß der Verkehr einer Bevölkerung
von 80 Millionen mit verhältnißmäßig geringeren Transportmitteln befriedigt
werden kann, als der von gegenwärtig 40 Millionen. Wenn also bei der
Eigenthumsübertragung in der Gegenwart der Kaufschilling der Billigkeit
nach bemessen wird, d. h. nach dem bisherigen Durchschnittsertrag oder nach
dem Börsencurs, so daß die Zinsen schon jetzt aus dem Reinertrag gedeckt
werden können, so kann der Staat in Zukunft von einer solchen Transaktton
keinesfalls Schaden haben. Er wird vielmehr den Vortheil genießen, daß die
Reinerträgnisse nach und nach einen steigenden Betrag an den Ausfällen
der neuen Bahnen decken, ja daß das Eisenbahnnetz mit der Zeit gar keine
Zuschüsse aus andern Mitteln erfordert und zuletzt dem Staat, beziehungsweise
dem Reich, sogar einen Ueberschuß liefert.
Die Sitzungstage dieser Woche enthalten nur einen parlamentarisch
wichtigen Tag, den 12. Dezember. An demselben stand zur ersten Berathung
das Gesetz über die Erhebung von Ausgleichungsabgaben. Das Gesetz be¬
stimmt in sechs Paragraphen, daß Eisen und Stahl, gewisse Eisen- und
Stahlwaaren, Maschinen aus Eisen und Stahl, und endlich Zucker, wenn
sie bei der Einfuhr nach Deutschland aus einem anderen Lande Seitens des
letzteren durch Ausfuhrprämien begünstigt werden, diesseits durch eine Zoll¬
erhöhung nach Ermessen der Reichsregierung getroffen werden dürfen, unter
dem Namen einer Ausgleichungsabgabe. Der Gesetzentwurf wurde an eine
besondere Commission verwiesen. Die Wichtigkeit der Berathung, welche zu
diesem Entschluß führte, lag jedoch zumeist in einer Rede des Reichskanzlers,
alsdann aber auch in dem Umstände, daß die als Freihändler bekannten
Minister Ueberhand und Camphausen mit großer Energie für den Gesetz¬
entwurf eintraten. Minister Ueberhand erklärte zuvor, daß der Gesetzentwurf
die Zustimmung des vormaligen Präsidenten des Neichskanzleramtes erlangt
haben würde. Man kann diese Haltung der beiden freihändlerischen Minister
so erklären, und zunächst wird das wohl das Nichtige sein, daß so auffallende
Mißbräuche Seitens der französischen Regierung mit den sogenannten Cautions-
bescheinigungen zugelassen werden, daß selbst entschieden freihändlerische Staats¬
männer keine Abhülfe gefunden haben, als die Vollmacht zu einer Retorsions-
Maßregel. Der in Frage stehende Mißbrauch besteht bekanntlich darin, daß
französische Fabrikanten, indem sie für vom Ausland bezogene Waaren den
französischen Zoll entrichten, eine Bescheinigung erlangen, wodurch der Zoll
den Character einer Caution der wieder zu bewirkenden Ausfuhr annimmt.
Im Fall der Ausfuhr wird nämlich der Zoll zurückerstattet. Allein diese
Cautionsbescheinigungen gewähren das Recht der Rückerstattung jedem, der
sie vorzeigt und der zugleich eine bestimmte Waarengattung einführt. Es
handelt sich also um eine einfache Ausfuhrprämie, wie sie nicht statthaft ist
gegenüber einer Nation, welche laut des Frankfurter Friedens durch Frank¬
reich auf dem Fuße der meist begünstigten Nationen zu behandeln ist. Die
französische Negierung hat indeß wiederholt verweigert, dem bezüglichen An-
spruch für Deutschland Gehör zu geben. So bleibt denn freilich nichts als
ein Retorsionszoll. wenn man nicht etwa Drohungen erlassen und Truppen
mobil machen will. Schritte, welche Deutschlands Regierungen und Volk
gleich lebhaft von sich weisen.
So begründet nun also die Retorsionsmaßregel in diesem Fall ist, und
so sehr die bezügliche Gesetzvorlage vom 7. Dezember lediglich auf diesen
einzelnen Fall eingerichtet ist, so kann doch der Riß in das freihändlerische
Dogma nicht geleugnet werden. Nach diesem Dogma liegt bekanntlich die
höchste Weisheit und Blüthe der Freihandelspolitik darin : daß man fremden
Waaren niemals den Eingang wehrt, auch wenn das Ausland sich noch so
hermetisch verschließt.*) Nach diesem Dogma trägt den Schaden allemal der,
der sich abschließt, den Vortheil hat allemal der, der die Waare zuläßt; das
ganze Geheimniß der Volkswirthschaft besteht nämlich darin, billig zu kaufen;
das Ausland thut uns also den größten Gefallen, wenn es aufbietet, was
es kann, uns die Waare billig ins Haus zu bringen; die deutschen Con-
sumenten müßten der französischen Regierung eine Dankadresse poliren, daß
sie zu ihrer, der Consumenten, Gunsten eine Ausfuhrprämie vertheilt. Diese
Art von Weisheit ist zwar consequent, aber der falsche Ansatz, der in der
Voraussetzung steckt, wird nachgerade vielseitig erkannt. Sofern ist die jetzt
vorgeschlagene Retorsionsbill eine Maßregel von großer Bedeutung, als
grundsätzliche Freihändler wie die betreffenden preußischen Fachminister Zeugniß
ablegen, daß die Freihandelspolitik ihre Grenze haben müsse. Was in dem
einen Falle nothwendig geworden, kann es auch in dem anderen werden.
So wie die Lage der Handelspolitik bei den europäischen Nationen sich zu
gestalten den Weg nimmt**), können wir gezwungen werden, in ein ausge¬
breitetes System von Retorsionsmaßregeln einzutreten, wenn wir einmal
den Grundsatz aufgegeben haben, daß die vortheilhafteste Lage ist, unter
Schutzzöllnern allein dem Freihandel zu huldigen.
Diese Sachlage erhielt durch die Worte des Reichskanzlers bei der Be.
rathung am 12. Dezember eine scharfe Beleuchtung. Der Reichskanzler sagte
ausdrücklich, daß die zur Berathung stehende Vorlage nur in sehr mäßigem
Grade für die deutsche Reichsregierung ein Mittel biete, den Schaden fremder
Zollpolitik abzuwehren, und daß er die Annahme der Vorlage lediglich als
eine Abschlagszahlung betrachte. Der Kanzler fügte hinzu — nachdem er
vorher mit starkem Vertrauen einem Gegner zugerufen, der dem Kanzler
langes Leben gewünscht, um seine eigene Niederlage zu erleben, daß der
Gegner vielmehr gezwungen sein werde, die Berechtigung der Politik des
Kanzlers anzuerkennen — daß er, der Kanzler, gleichwohl nicht verantwortlich
sei für den Gesammtumfang der deutschen Politik. Er sei nur verantwortlich,
sagte er mit einer scherzhaften Wendung, für die politische Politik; für die
wirthschaftliche Politik, wo man ihn zum Dilettanten erklärt habe, sei der
Reichstag verantwortlich, oder die Regierungen, deren Bevollmächtigte den
Bundesrath bilden. Als Dilettant habe er in Wirthschaftsfragen keine vor-
gefaßte Meinung, die ihn hindern könnte, eine vom Reichstag empfohlene
Wirthschaftspolitik zur Durchführung zu bringen. —
Meines Erachtens liegt hierin eine deutliche Aufforderung, bei den bevor¬
stehenden Reichstagswahlen die Stellung der Abgeordneten zur Handels- und
Wirtschaftspolitik zu berücksichtigen.
Es ist übrigens wohl anzunehmen, daß selbst mit einer freihändlerischen
Majorität im nächsten Reichstag die Frage der deutschen Handelspolitik doch
noch nicht entschieden ist. Es kann sein, daß selbst die Freihändler in er¬
heblicher Zahl sich bekehren; es kann sein, daß die Stimmung des Volkes
dermaßen gegen den bloßen Freihandel umschlägt, daß bei den Volksvertretern
Nachgiebigkeit oder Mandatsniederlegung eintritt; es kann auch sein, daß
einer geklärten Volksstimmung gegenüber einmal zu einer Reichstagsauflösung
geschritten wird. Ich bemerke, daß ich nicht etwa Schutzzöllner von Grund-
satz bin. Allein einer Bewegung gegenüber, welche durch die ganze Welt geht (? die
Red.), kann man nicht wissen, wie weit man genöthigt wird, zu gehen.*) Jeden¬
falls ist jenes Dogma(? d. Red.) unhaltbar, daß der Freihändler immer im Vortheil
bleibe, auch wenn ihn überall die Mauern des Schutzzolls umgeben, und noch
weniger ist dieses Dogma in der Lage des deutschen Reiches anwendbar. —
Das andere parlamentarische Ereigniß dieser Woche trägt ebenfalls das
Datum des 12. December. Es ist das Schreiben des Reichskanzlers an den
Präsidenten des Reichstags über die Punkte, welche der Bundesrath in den
Reichstagbeschlüssen zu den Justizgesetzen für unannehmbar erklärte. Als
diese Zusammenstellung bekannt wurde, wollte man das Schicksal der Justiz¬
gesetze auf vielen Seiten für besiegelt ansehen, im Sinne des gänzlichen
Scheiterns. Einige Stimmen namentlich der national-liberalen Partei riefen,
das Vaterland sei in Gefahr, und verübelten es den Bundesregierungen im
höchsten Maaße, um angeblich geringfügiger Dinge willen eines der größten
Werke scheitern zu lassen. Die Stimmen der Fortschrittspartei jubelten bei
der Aussicht, die nationalliberale Partei könne zersprengt werden und ein
großer Theil der Nationalliberalen zum Fortschritt hinübertreten. Statt
dessen stehen die Dinge so, daß das Einverständniß zwischen der Reichsregie¬
rung und der national-liberalen Partei auf dem Wege vertraulicher Verhand¬
lung gesichert scheint.
Es sind zunächst nichts weniger als Kleinigkeiten, um welche sich die
Differenz bewegt. Da handelt es sich zunächst im Gerichtsverfasfungsgesetzn
um die hochwichtige Frage der Grenze zwischen Justiz und Verwaltung, oder
richtiger um die Grenze des öffentlichen Rechts und des Privatrechts. Der
Reichstag will grundsätzlich die Entscheidung den Gerichtshöfen des Privat¬
rechts zuweisen und will eventuell, falls die Landesgesetzgebung die Einsetzung
besonderer Gerichtshöfe vorsieht, die Zusammensetzung derselben an bestimmte
Vorschriften binden. Das wäre ganz gut. wenn man ein Mittel hätte, die
Landesgesetzgebung zu zwingen. Vielleicht ist der Zwiespalt an diesem Punkte
so gelöst worden, daß dem Reich die Competenz für die Einrichtung
der sogenannten Competenzhöfe in irgend einer Weise zugewiesen wird.
— Alsdann handelt es sich um die Zuständigkeit der Schwurgerichte
für Preßvergehen. Hier scheint die national-liberale Partei nachzugeben,
indem sie sich begnügt, das kostbare Gut der schwurgerichtlichen Zu¬
ständigkeit in Preßsachen für Baiern und Baden zu retten. Gerade dieser
Punkt der Ausdehnung der Schwurgerichte auf Preßsachen ist vom Bundes¬
rathstisch bei der zweiten Lesung sehr schwach bekämpft worden. Man hat
immer betont, daß die Presse das Privilegium der Schwurgerichte nicht be¬
anspruchen könne. Als ob es ein Privilegium und nicht vielmehr eine
Strafe wäre, vor das Schwurgericht zu kommen. Derbe und grundsatzlose
Verurtheilungen würden in Preßsachen hier und da gerade so häufig sein,
wie an anderen Orten und bei anderen Geleg erhellen grundsatzlose und em¬
pörende Freisprechungen. Der Hauptgrund gegen die Zuständigkeit der
Schwurgerichte in Preßsachen ist die völlige Grundsatzlosigkeit und Willkür der
Rechtsprechung, welche die sichere Folge sein würde. Weise Politiker sagen,
daß man nie eine pessimistische Politik befolgen dürfe. Ich glaube, es giebt
Ausnahmen von dieser Regel und die allgemeine Zuständigkeit der Schwur¬
gerichte in Preßsachen wäre das beste Mittel gewesen, die Schwurgerichte los
zu werden. Ihre Anhänger mögen sich bet der Reichsregierung bedanken, daß
sie ihnen durch Abwehr einer Zuständigkeit, die sie nicht überstanden hätten,
das Leben fristet. —
Eine andere wichtige Differenz betrifft den Zeitpunkt, wo die Gerichts¬
verfassung ins Leben treten muß. Die Bestimmung wird aufhören auf
Schwierigkeiten zu stoßen, wenn man der Reichsregierung nicht zumuthet,
vorher andere Gesetze zu vereinbaren, deren Schicksal sie nicht in der Gewalt
hat; z. B. Einrichtung der Competenzhöfe auf dem Wege der Landesgesetz¬
gebung. Ein weiterer Differenzpunkt betrifft das in die Gerichtsverfassung
aufgenommene Bruchstück einer Anwaltsordnung. Es hat nicht das mindeste
Bedenken, dieses Bruchstück fallen zu lassen, da die Reichsregierung die Vor¬
legung einer vollständigen Anwaltsordnung für die nächste Legislatur zuge¬
sagt hat. Endlich kann die Verfolgbarkeit der Staatsbeamten vor den
ordentlichen Gerichten auf Seiten der Reichsregierung zugegeben werden,
oder genauer der Wegfall einer besonderen Genehmigung für diese Verfolg-
barkeit, sobald präcis ausgesprochen wird, daß die Verfolgung nur stattfinden
darf wegen persönlichen Mißbrauchs der Amtsgewalt zu strafbaren Zwecken,
nicht aber wegen Ueberschreitung der streitigen Grenze der Amtsgewalt im
öffentlichen Interesse. Der letztere Punkt gehört vor die Competenzhöfe,
Dies waren die Differenzpunkte bei der Gerichtsverfassung. Die übrigen
Differenzpunkte betreffen die Strafprozeßordnung. Wie es scheint, haben die
Vertrauensmänner der national-liberalen Partei den Zeugnißzwang des Hülfs-
Personals zur Ermittlung des Verfassers eines strafbaren Zeitungsartikels
nachgegeben. Man kann ihnen dazu nur Glück wünschen, denn der entge¬
genstehende Reichstagsbeschluß lief hinaus auf die Einführung einer Ver¬
höhnung der Justiz durch das Institut der Sitzredacteure (? d. Red.). Mit diesem
Institut würde die Ehrenhaftigkeit und Achtbarkeit der Presse an der Wurzel
angegriffen. Man muß entweder für die Presse den Rechtssatz aufstellen, daß
die Ermittelung des Verfassers untersagt ist. Dazu gehört dann Cautions-
stellung und die Geldstrafe als einzige Strafe für Preßvergehen. Will
man aber die Bestrafung des individuellen Urhebers festhalten, wie es das
deutsche Preßgesetz thut*), so darf sie nicht zur unwürdigen Comödie und Ju¬
stizverhöhnung werden, dadurch, daß man erlaubt, als Redacteur einen ent-
laufener Hausknecht oder ein sonstiges untaugliches Subject zu miethen, der
die Strafen absitzt und vor Gericht zeigt, daß er nicht im Stande ist.
eine Zeile von dem zu verstehen, wofür er bestraft wird. Die übrigen Diffe¬
renzpunkte bei der Strafprozeßordnung sind technischer Art. Vielleicht findet
sich noch die Gelegenheit zu zeigen, daß auch bei ihnen das Verlassen der
Reichstagsbeschlüsse ein Gewinn ist, mit Ausnahme der in sehr zweckmäßiger
Gestalt eingeführten, aber zurückgewiesenen Popular-Klage.
Das Zustandekommen der Justizgesetze ist zur hohen Wahrscheinlichkeit
geworden, und darüber sich zu freuen hat jeder Freund des Reiches Ursache.
Die national-liberale Partei wird wieder einmal ihre Pflicht erfüllen und da¬
mit ihren Anspruch aufs neue erhärten, die ausschlaggebende Partei im par¬
Seit geraumer Zeit schon verlangt und erwartet man von jemand, der
Geschichte schreibt, daß er der Form wenigstens einigermaßen mächtig sei, und
daß er die von ihm gesammelten und gesichteten Thatsachen mit einer ge¬
wissen Geschicklichkeit übersichtlich zu gruppiren und in die rechte Aufeinander¬
folge zu bringen verstehe, mit einem Worte, daß er erzählen könne, und wir
meinten, daß diese Ansicht auch an der neuen Universität zu Czernowitz, die
uns als ein Pflanz- und Pflegestätte der deutschen Wissenschaft bezeichnet
wurde, getheilt werde. Wenn man nach dem oben erwähnten Buche weiter
schließen dürfte, wäre das nicht der Fall. Der Verfasser ist ordentlicher Pro¬
fessor an jener Hochschule der Bukowina, und seine „Historischen Darstellungen,
zumal Fürsten- und Volksgeschichte in den Karpathenländern" ist ein wirres
Durcheinander von Studien, Excerpten und anderem Material zu einer Ge¬
schichte der von ihm ins Auge gefaßten Periode, das. namentlich in den ersten
Abschnitten, vollständig planlos erscheint. Fast allenthalben ist hier der Zu¬
sammenhang durch Abschweifungen unterbrochen, und oft sind ganz verschie¬
dene Dinge so unvermittelt neben einander gestellt, daß man vermuthen
möchte, Herr Schuler habe seine Sammelstücke ungefähr in der Reihenfolge
verwerthet, wie sie ihm zufällig zur Hand gekommen seien. Auch das Deutsch
des Verfassers läßt zu wünschen übrig, und wie wenig er der Sprache mäch¬
tig ist, wie wenig er sich hütet. Dinge vorzutragen, die in besserem Stile längst ge¬
sagt sind, zeigt gleich der Anfang des Vorworts, durch den wir belehrt werden:
„Ein Schlüssel der Vergangenheit und der Zukunft liegt in der richtig ver¬
standenen Geschichte, welche uns die Entwickelung von Staaten und Völkern
vorführt und die Bestimmung des Menschengeschlechts erkennen läßt. Es
wird immer die Politik der Gegenwart auch diesen Schlüssel benöthigen; doch
diesen selbst darf nicht die Politik schmieden und drehen nach ihrem Bedarf,
sondern sie muß ihn gebrauchen, wie die Wahrheitsliebe, der Fortschrittsgeist
und die Humanität denselben zu formen haben." Nach dieser Probe von
tiefsinnigen Stil, dessen sich Karlchen Mießnick nicht zu schämen hätte, würde
man uns nicht verdenken können, wenn wir nicht weiter gelesen hätten. Wir
überwanden uns aber und arbeiteten uns durch Aehnliches hindurch bis zu
Ende, wo wir außer manchem Bekannten auch eine Anzahl interessanter Nach¬
richten vorzüglich aus der siebenbürgischen Geschichte als Ausbeute unsrer
Lectüre zu verzeichnen hatten. Zu loben ist ferner, wenn auch nicht stilistisch,
daß „es dem Buche fern liegt, tendenziöse Parteinahme zu ergreifen." Frei-
lich erwarten wir das von jedem Schriftsteller, der uns historische Dar¬
stellungen darzubieten vorhat. Im Allgemeinen gilt von dem Buche, daß es
da am Besten ist, wo der Verfasser Andere reden läßt.
Im Verlage von Ferd. Ente in Stuttgart hat der Naturforscher Dr. Paul
Niemeyer seine am 18. Juli d. I. als Dozent an der Leipziger Hochschule gehaltene
Antrittsvorlesung herausgegeben. Trotz ihres verlockenden Titels — „über die
akustischen Zeichen der Pneumonie" —würden diese Blätter keine Veranlassung
haben, sich mit dieser kleinen Schrift zu beschäftigen, über welche lediglich die Fach¬
wissenschaft ihr Urtheil zu sprechen hat. Aber der Anhang, welchen der Verfasser
dem rein academischen, mehr vor einer Corona von Berühmtheiten als von Stu-
direnden gehaltenen Vortrage, hier im Druck nachfolgen läßt, verdient allerdings
die allgemeinste Beachtung. Niemeyer ist ja hauptsächlich bekannt durch seine
Wirksamkeit als Popularschriftsteller. Von Anfang an war sein Streben
darauf gerichtet, sein Wissen für die große Menge des Volkes aufzu.
münzen und in Umlauf zu setzen, statt sie in der Bundeslade des Zunfthauses
zu vergraben. Von der göttlichen Grobheit Böckh unterscheiden sich seine
Schriften sehr zu seinen Gunsten. In dem Anhange zu seiner Habilitations¬
schrift nun legt Niemeyer seine Ansichten „über Berechtigung und Methode
der populären Lehrthätigkeit" in sehr interessanter Weise dar. Er vertheidigt
das Ideal seiner Lehrthätigkeit, bet der er sich sein ganzes Volk, nicht blos
die auserwählten Jünger des Aesculap zu seinen Füßen versammelt denkt.
Er vertheidigt seinen „pikanten" Stil und seine Schriftstellerei in unwissen-
schaftlichen, aber gelesenen Zeitschriften und seine geflügelten Reden vor
einem „gemischten" Publikum. Er „vertheidigt" sich, sagen wir. Er sagt
nicht, wer sein Ankläger sei. Doch nicht jene erlauchte academische Gesell¬
schaft, vor der er seine Antrittsvorlesung hielt? Sie, die medicinische Fa-
cultät der weitgerühmten „ersten Hochschule Deutschlands" wird gewiß nicht
der Verbreitung ihres Wissens im Volke ein Schütteln ihrer ambrosischen
Locken entgegensetzen?
Die kleine und sehr billige (SO Pfennige) Schrift des bekannten
Dr. Carl Munde (Leipzig. Arnoldische Buchhandlung 1876) „Zim-
merluft, Ventilation und Heizung" enthält sehr beachtenswerthe
Vorschläge „zur wohlfeilen Verbesserung der verdorbenen Luft, welche wir
während der kalten Jahreszeit in unsren Wohnungen athmen, und welche
eine der Hauptursachen der Vermehrung und Verschlimmerung von Krank¬
heiten ist. Die Broschüre ist der Separatabdruck eines Kapitels aus der in
zwölfter Auflage erschienenen Wasserheillehre des Verfassers. Vier erläuternde
Holzschnitte sind ihr beigegeben. Die Sprache ist sehr verständlich, der Aus-
druck läßt an Energie nichts zu wünschen übrig. Der Verfasser scheint über¬
haupt ein energischer Charakter. Denn er ist u. A. Inhaber der Sächsischen
Lebensrettungsmedaille, und hat gewiß, um mit Bismarck zu reden, noch
jetzt „die Gewohnheit, manchmal einem Menschen das Leben zu retten."
Nach Schluß der letzten Nummer der „Grenzboten" erreichte uns die
Trauerkunde, daß unser langjähriger Mitarbeiter, Dr. Edward Kattner,
mit dem wir noch wenige Wochen zuvor in regem Briefwechsel gestanden,
im Hause der Barmherzigen Brüder zu Breslau in der Nacht vom 9. zum
10. Dezember d. I. verschieden sei. Da Kattner in keinem seiner Briefe über
Unwohlsein geklagt und bis in die jüngsten Wochen uns mit Zusendungen
aus seiner Feder erfreut hatte, so kam uns die schmerzliche Kunde von dem
Hinscheiden dieses treuen Mitarbeiters völlig unerwartet.
Dieser Verlust betrifft aber keineswegs blos die „Grenzboten". Ganz
Deutschland hat Ursache, das Andenken Edward Kattners in Ehren zu halten.
Er war ein treuer Kämpfer der deutschen Sache gegen den gefährlichsten,
Erbfeind, der in unsern Ostmarken seßhaft ist, die Polen. Die stärkende
Einigung aller Deutschen gegen die Polen in den von polnischen Elementen
durchsetzten Gegenden herbeizuführen, die deutsche Sprache dort mehr und
mehr ausschließlich zur Geltung zu bringen, die Verbindung des polnischen
Racenhasses gegen alles Deutsche mit den fananatischen Hetzereien Roms
nachzuweisen und beiden alle Kräfte unseres Volkes und Staates entgegen-
zusetzen, das war die Aufgabe, die sich Kattner sein Lebtag gestellt hatte,
welcher er als Schriftsteller wie als Zeitungsredacteur in einem oberschlesischen
Grenzstädtchen unablässig und erfolgreich nachstrebte. Mancher seiner Ge¬
danken und Fingerzeige hat staatliche Anerkennung in der neuesten Gesetz¬
gebung Preußens gesunden — manche harren noch der Beachtung. Mögen,
durch sein Beispiel angefeuert, ebenso wackere Kämpfer, als er gewesen, in
die Lücke treten, die sein Tod riß, und seinen guten Kampf weiter kämpfen.
Und möge ihm die Erde leicht sein!
"
Mit Januar 1877 beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres
36. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Dost-
anstalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 9 Mark.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lefegesellscdaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige'Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im December 1876. _Die Werlagshandlnng.