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]]> Man hatte sich im ganzen vorigen Winter mit Gerüchten ge¬
tragen, welche den Ausbruch einer Revolution in den ehemals polni¬
schen Ländern verkündeten. Ungeachtet offenkundiger Ereignisse in dem
preußischen Antheile glaubte Niemand an eine wesentliche Ruhestörung
in Galizien; keine sichtbaren Vorsichtsmaßregeln von Seiten der Re¬
gierung liehen den vielverbreiteten lind oft widersprechenden Gerüchten
einige Wahrscheinlichkeit, selbst dann noch nicht, als schon Jedermann
von thätigen Umtrieben, Emissären, ja sogar vom Ausbruche einer
Revolution in Krakau wissen wollte.
Dieses letztere Gerücht veranlaßte den in Podgorzc commandiren-
den Brigade-General von Colin, seine kleine Garnison vom 16. Febr.
an in Bereitschaft zu setzen; am 17. Mittags schon erhielt er die
dringende Aufforderung der Residenten und des Senats von Krakau,
mit den beihabenden Truppen schleunigst in Krakau einzurücken.
Am 18. früh brach General v. Colin im stärksten Schneegestöber
auf. -Seine Macht bestand aus 8 schwachen Füsilier-Compagnien,
1,^ Schwadron leichter Reiterei und 3 Feldgeschützen, im Ganzen nahe
bei I6ni) Mann. In Krakau angelangt, stellten sich die Truppen auf
dem Hauptplatze auf, während man für sie mit äußerster Schonung
der Stadt Quartiere ermittelte, in welchen sie in strenger Bereitschaft
verbleiben mußten. Für Soldaten und Pferde mangelte Alles; die
Mannschaft, in enge und unreine Stuben gepfercht, erhielt erst Abends
etwas an Fleisch und Grütze, wozu nun das Kochgeschirr fehlte; die
Pferde, unter durchlöcherten Dächern, ermangelten der Streu. Der
Wacht- und Patrouillendienst wurde gemeinschaftlich mit der Stadt¬
miliz und Gensd'armerie gegeben. Mit zu großer Nachgiebigkeit gegen
die Civilbehörden, welche ihren Agenten überall Sauvegäldcn zu schicken
vermeinten, denen aber zu widerstreben nach den österreichischen Dienst¬
vorschriften alle Verantwortung auf die Militärbehörde fällt, entsen¬
dete General von Colin den Lieutenant von Begg mit 25 Reitern in
das 5 Meilen entfernte Krzanov, den Lieutenant Berndt mit 15 Reitern
3 Meilen weit nach Krzessovize und einen Lieutenant mit 25, Jnfan¬
teristen auf Wagen nach dein 7 Meilen entfernten Zaverz.
Bis zum 20. wurde die Ruhe in Krakau nicht gestört, aber die
Ermüdung der in steter Bereitschaft gehaltenen Truppen nahm immer
zu; von den Oberbehörden waren noch keine Weisungen angelangt
und General von Colin somit genöthigt, alle Verpflegsbedürfnisse von
Podgorze durch die Truppen selbst holen zu lassen. In Krakau wollte
Niemand den Grund dieser militärischen Occupation einsehen; Viele
ließen ihre Bagage herüberbringen, und unter bewaffneter Bedeckung
trugen Soldaten Lebensmittel für Mann und Pferd, Kochgeschirre,
Betten, wie die Schnecke ihr Haus.
Am 2V. um M Uhr Abends wurde Generalmarsch geschlagen
und die Truppen eilten auf den Hauptplatz, dessen Zugänge Jnfanterie-
pelotons besetzten, während Reiterei und Geschütze im Rückhalt blieben.
General von Colin, ein würdiger und allgemein geliebter Veteran, hielt
in der Mitte seiner Truppen und entsendete zahlreiche Patrouillen
durch die ganze Stadt. Die Nacht war finster, der Boden glatt ge¬
froren. Um Mitternacht langte plötzlich Lieutenant Berndt, von zwei
Reitern seiner Abtheilung begleitet an. Ohne auf dem Marsche auf
etwas Verdächtiges zu stoßen, langte er am 20. früh in Krzessovize
an, wurde daselbst in einen Theil des gräflich Potockischen Schlosses
verlegt, wo er 5 Mann bei den Pferden im Stalle ließ und den übri¬
gen 10 Mann um so eher in einer Stube zu ruhen gestattete, als er
von dem Polizei-Commissair die wiederholte Versicherung erhielt, daß
keinerlei Gefahr zu besorgen sei. Um 10 Uhr Nachts drangen plötz¬
lich Insurgenten in das Zimmer der schlafenden Soldaten, feuerten gegen
sie und suchten in den Stall zu dringen, wohin ihnen Lieutenant Berndt
zuvorgekommen war. Die anwesenden Soldaten sattelten ihre Pferde,
Corporal Auer vertheidigte allein die Stallthüre mit Erfolg. Lieutenant
Berndt stieg zu Pferde, sprengte aus dem Statt und hieb sich durch ;
ihm folgten Corporal Auer und zwei Reiter; die übrigen scheugewor¬
denen Pferde konnten nicht aus dem Stalle gebracht werden. Von
der übrigen Mannschaft blieben zwei Todte, die Verwundeten wurden
von den Insurgenten in's Spital gegeben, die übrigen unbewaffnet
entlassen. Lieutenant Berndt hatte einen Schuß durch den Leib er¬
halten, sein Pferd war leicht blessirt — doch ritt er mit dieser lebens¬
gefährlichen Wunde 3 Meilen weit nach Krakau zurück.— Die Nacht
verging ruhig; die Patrouillen konnten nichts Verdachterregendes ent¬
decken.
Gegen Morgen des 21. waren die spärlichen Straßenlaternen er¬
loschen; Stille und Finsterniß lag über der Stadt. Da schlug es
vom Marienthurme 5 Uhr und mit dem letzten Glockenschlage ertönte
ein tausendstimmiges Hurrah! von Flintenschüssen begleitet. In fünf
gegen den Platz mündenden Straßen griffen die Rebellen an, Dechar-
gen folgten, die Angriffe wurden mit leichter Mühe abgewiesen, aber
mehrmals wiederholt. Während des Straßengefechts wurde aus einem
Hause des Platzes auf die Hauptwache geschossen; das Haus wurde
von der Stadtmiliz gestürmt und zehn Individuen mit den Waffel, in
der Hand darin gefangen. Im Morgengrauen geschah der letzte An¬
griff, dem man Cavallerie entgegensandte, worauf die Masse der Re¬
bellen zerstob. Um 7 Uhr Morgens konnten die Patrouillen selbst in
den Vorstädten nichts Verdächtiges mehr entdecken. — Die Rebellen
anscheinend aus der Hefe des Volks, hatten sich muthlos benommen; sie
beschränkten sich auf häufiges ungezielteö Schießen und liefen vor je¬
dem Gegenangriffe davon. Die österreichischen Truppen hatten fünf
Todte und zwölf Verwundete. Den Tag über blieben die Truppen
ohne zu essen auf dem Platze; die Pferde wurden abtheilungsweise
gefüttert. Noch während des Straßengefechtes waren einzelne Reiter
von Lieutenant Begg'ö Abtheilung aus Krzanov angelangt. Dieser
Offizier war am 19. Mittags daselbst angelangt und bezog, da keiner¬
lei Gefahr drohte, Quartiere. Am 20. Mittags rief er seine Truppe
unter die Waffen, stellte Posten aus und schickte Patrouillen. Die
Abtheilung blieb bis II Uhr Nachts zu Pferde. Als sich bis dahin
nichts Verdachterregendes zeigte, zog Begg den Haupttrupp in den
geräumigen Hof des mit zwei Thorwegen versehenen Wirthshauses.
Der Allarmschuß einer Vedette brachte die Abtheilung schnell in den
Sattel, und wenige Augenblicke darnach stürmte zu beiden Thorwegen
ein berittener Jnsurgententrupp in den Hof. Begg chargirte seinerseits
den Feind, aber von Kugeln getroffen stürzte er und der Unteroffizier
der Abtheilung von den Pferden, der Ueberrest hieb sich muthvoll durch
und langte versprengt in Krakau an. Außer von Begg blieben der
Unteroffizier und ein Reiter todt; ein Schwerverwundeter Reiter ge¬
riet!) in Gefangenschaft. Später erfuhr man, daß die nach Zaverz
entsendete Infanterie-Abtheilung fast gleichzeitig ähnliches Schicksal er¬
litten hatte.
Einige blinde Allarmirungen abgerechnet verging der 21. in Krakau
ruhigz es geschahen zahlreiche Arretirungen, so daß die Stadtbehörden
eine, neben der Hauptwache gelegene Kapelle zur Unterbringung der
Gefangenen öffnen mußten. Nachmittags wurde Standrecht gegen Jene
verkündet, welche man im bewaffneten Widerstande ergreifen würde;
auch war eine allgemeine Waffenablieferung und die nächtliche Be¬
leuchtung aller Fenster angeordnet. Zur Ausübung des Standrechts
ergab sich keine Gelegenheit, die Waffenabliefcrung geschah nur spar¬
sam. Die Nacht wurde unter den Waffen zugebracht. Der greise
General hielt zu Pferde nnter seinen Truppen und theilte alle Ent¬
behrungen mit ihnen; sein Beispiel potenzirte die Kräfte, und nur da¬
durch war es möglich, die allgemeine Ermattung zu bekämpfen. Seit
sechs Tagen hatten die Truppen, bei dem Mangel an geordneter Ver¬
pflegung auch die Nachtruhe gänzlich entbehrt; gegen Morgen wurde
die Erschöpfung so groß, daß ganze Glieder wankten lind einzelne
Reiter von den Pferden sanken.
Am 22. um 8 Uhr früh verließen die Truppen die Gesechtsauf-
stellung und durften auf dem gefrornen Boden ruhen. Vormittags
zeigte der russische Resident das nahebevorstehende Einrücken russischer
Verstärkungen an; sie trafen nicht ein, und über ihr Geschick herrschte
Dunkel. Nachmittags verbreiteten sich Gerüchte von Volksaufständen
im Krakauer und russischen Gebiete; Patrouillen stießen eine Viertel¬
meile außer der Stadt auf bewaffnete Jnfurgententrupps; auch in den
Vorstädten herrschte unverkennbare Bewegung. Um 4 Uhr Nachmit¬
tags erfuhr man die Flucht des Senats und der Residenten. General
von Colin stand ohne Jnstructionen in der von ihren Behörden ver¬
lassenen Stadt; mit ItlW Mann erschöpften Truppen, ohne Proviant
und Munitionsvorräthe, in genauer Kenntniß von der Entfernung je¬
des möglichen Succurses und in gerechter Besorgnis) bezüglich des Zu¬
standes im eigenen Lande, blieb nichts — gar nichts als der Rückzug,
der in voller Ordnung ungestört angetreten wurde. Die nach Krakau
gebrachten Offiziersbagagen und ein unbespannter Munitionskarren
blieben zurück. In Podgorze angelangt, wurde die Schiffbrücke über
die Weichsel allsgehängt; dann entsendete der General von Colin In¬
fanterie-Abtheilungen zur Beobachtung des zum Theil noch mit einer
gangbaren Eisdecke belegenen Flusses, an welche sich freiwillige Ab¬
theilungen berittener Grenzjäger anschlössen. Kurz nach dem Abrücken
der österreichischen Truppen rückten zahlreiche Jnsurgentenhaufen in
Krakau ein, besetzten das linke Weichselllfer n»d eröffneten ein lebhaftes
Flintenfeuer, unter welchem sie, wiewohl vergeblich, den stehengebliebe¬
nen Brückentheil anzuzünden versuchten.
Auch in Podgorze blieben die erschöpften Truppen fortwährend
unter Waffen.
Ueber den Stand der Dinge verbreiteten sich die beunruhigendsten
Gerüchte; hingegen erfuhr man, daß Generallieutenant v. GorezkowSki
aus Schlesien Truppen auf Wagen herbeisende, von denen Abends
auch zwei schwache Compagnien des Regimentes von Schmeling, zu¬
sammen 120 Mann anlangten. Leider wurde man bald über das
Eintreffen weitem Snccurses enttäuscht; bei der Entlegenheit der schle-
sischen Militärstationen konnten vor drei Tagen keine neuen Verstär¬
kungen erwartet werden. Hierzu kam noch die Meldung eines Grenz¬
beamten, daß starke Jnsurgemenhaufen stromaufwärts die Stellung durch
einen Flußübergang in der linken Flanke bedrohen. Unter diesen be¬
denklichen Umständen versammelte General von Colin die Stabsoffiziere
zu einem Kriegsrathe, in welchem die dermalige Aufstellung rücksichtlich
der Erschöpfung der Truppe unhaltbar erkannt und der weitere Rück¬
zug beschlossen wurde. Um Iiz Uhr Nachts brach das Corps, ein¬
schlüssig der Krakauer Miliz bei 1300 Mann stark, auf, und verließ
Podgorze in aller Stille. So war der 23. vergangen.
Am 24. mit Tagesanbruch langte das Corps in Jsdebnik an,
Mittags rastete es in Kalwaria, wo abermals zwei schwache Com¬
pagnien des Regiments von Schmeling, von Teschen kommend, ein¬
rückten. Diese geleiteten mit einer halben Escadron Reiter die Ge¬
schütze, welchen nur einige Schußladungen geblieben waren, nach Wa-
dowize zurück, wohin auch General von Colin eilte, um Verstärkung
und Proviant herbeizuschaffen und über den Bestand angeblicher Jn-
surrectionsversuche im Rücken Gewißheit zu erlangen. Die Truppen
bivouakirten auf den Höhen von Kalwaria unter den Befehlen des
Obersten Baron Zschock, und wurden wiederholt von Jnsurgcnten-
trupps beunruhigt, welche sich aber immer »ach einigen Schüssen in
die Schluchten der Wälder zurückzogen.
Am 25. erreichte das Corps unter fortwährendem Geplänker ge¬
gen Abend Wadowize. Hier ruhte die Truppe endlich, und erhielt
seit sieben Tagen wieder gekochte Speisen. General-Lieutenant Graf
Castiglione, mittler Weile eingetroffen, übernahm den Oberbefehl.
Am 26. Vormittags geschahen neue Naturalfassungen; Nachmit-
tags rückte General Colin mit 10 Compagnien Infanterie, die bisher
noch in Wadowize gestanden, der halben Batterie und einer Escadron
leichter Reiter wieder vor. Hatte die Contrerevolution der Bauern
im Wadowizer Kreise bisher wenig Eingang gefunden, so brach sie
nun, auf die Nachricht vom Wiedervorrücken der Truppen lebhaft aus.
Bauernabtheilungen brachten Aufwiegler gefänglich ein. Um II Uhr
Nachts langte das Corps in Jsdebnik an, wo es übernachtete; man
war auf keinen Feind gestoßen.
Am 27. früh rückte das Corps bis Mogilanv, wo es zwei Stunden
rastete, denn der dreitägige Regen hatte die Straße so erweicht, daß
die Infanterie nur mit großer Mühe fortkam. Ein berittener Jnsur-
gententrupp zog sich in großer Entfernung eilig zurück; von dem
Stande der Dinge in Podgorze konnte man keine Nachricht erlangen.
In allen Ortschaften der Umgegend war die Revolution proclamirt
worden, konnte aber trotz Bitten und Drohungen nur geringen An¬
hang gewinnen. Endlich erhielt man die zuverlässige Kunde, daß eine
in Podgorze bei einer kirchlichen Procession versammelt gewesene In-
surgentenmasse sich theils verlaufen, theils zur Vertheidigung in die
Gebäude geworfen habe, als die Nachricht vom Anrücken der Trup¬
pen verlautbarte. General von Colin, der mittler Weile immer vor¬
gerückt war, schritt zum Angriffe. Mit dem linken Flügel an die
Weichsel gelehnt, rückten 3 Compagnien in aufgelöster Ordnung vor,
denen das Gros folgte; der Feind eröffnete das Feuer aus den Fen¬
stern der Jnfantenekaserne, die sogleich mit Sturm genommen wurde.
Die Insurgenten flohen über die, von ihnen wiederhergestellte Weich-
selbrücke, Kartätschenschüsse ,'geleiteten sie. Es war inzwischen Abend
geworden; die Truppen waren auf dem Platze, Fronte gegen die
Weichsel, aufgestellt; Reiterpatrouillen wurden in allen Richtungen
entsendet. Gegen eine derselben sielen aus den im Rücken der Auf¬
stellung um die Kirche gelegenen Häusern Flintenschüsse, und gleich¬
zeitig versuchten die Insurgenten wieder über die Brücke vorzudringen.
Dies wurde durch einige Kartätschenschüsse verhindert, während drei
Compagnien Infanterie nach hartnäckigem Widerstande die Rebellen in
den Häufern gefangen nahmen- Die eingetretene Dunkelheit begün¬
stigte übrigens die Flucht vieler Insurgenten. Von den Truppen blieben
nur 2 Todte, Adjutant v. Zabranski und einige Mann wurden ver¬
wundet. In den Häusern fanden sich bei 30 Todte; über 70 In¬
surgenten wurden gefangen. In der Kirche fand sich eine Revolutions¬
fahne mit dem weißen Adler. .Nach Vertreibung des Feindes wurden
rings Vorposten aufgestellt; das Geplänker dauerte über der Weichsel
fort, und unter dem Schutze der Finsterniß trugen die Insurgenten
ein Glied der Weichselbrücke nahe am linken Ufer ab.
Am 28. nahm das feindliche Feuer ab, und verstummte gegen
Abend gänzlich.
Der I. März brachte keine Veränderung.
Mittags des 2. meldeten sich Parlamentärs in blauen Blousen
und rothen Mützen ; sie wurden ungehört abgewiesen. Zwei später
erscheinenden, anständig gekleideten Ausländern widerfuhr Gleiches.
Erst um 4 Uhr Nachmittags erschien der Senator von Wodzicki mit
drei Notablen, von welchen man unbedingte Unterwerfung forderte.
Am 3. um 11 Uhr Vormittags überbrachten diese Abgesandten
die Unterwerfungsacte, man legte allsogleich Hand an die Wiederher¬
stellung des Brückentheiles, von welchem das Gehölz weggeschwommen
war. Um 2 Uhr Nachmittags überschiffte ein russischer Stabsoffizier,
der das Einrücken von 3ol) Mann russischer Cavallerie in Krakau
meldete. Um 4 Uhr Nachmittags rückten die österreichischen Truppen
wieder in Krakau ein. Die Insurgenten hatten sich noch bei We)
Mann stark in das Gebiet gezogen, wo sie theils russischen Truppen
in die Hände sielen, theils sich verliefen. Aus Krakau entsendete öster¬
reichische Streifcorps stießen nirgends auf Widerstand, sondern trafen
auf nun erst heranrückende preußische Truppen.
Dieser kurze Feldzug war für die Truppen an Mühen und Ent¬
behrungen überreich; die meist jungen und zum Theil nicht auserer-
cirten Soldaten ertrugen sie musterhaft. Die Leitung der Operatio¬
nen, obschon den Umständen völlig angemessen, wurde aber Gegenstand
des Tadels vieler Unkundigen, die schwerlich aus ähnlicher Lage mit
demselben Bewußtsein, wie General von Colin, hervorgehen dürften,
Se. Majestät der Kaiser bezeugten dem Generale, sowie den
Truppen, die Allerhöchste Zufriedenheit.
Das prächtige Dampfschiff „der Ercolano" lag im Hafen von
Neapel zur Abfahrt bereit. Die Glocke war schon zum zweiten Male
gezogen worden, und immer mehr füllte sich pas breite Verdeck, wel¬
ches die Masse kaum noch zu fassen vermochte; bei der großen Hitze
eine wenig erfreuliche Aussicht. — Bald beruhigte uns indeß
ein Blick auf den ansehnlichen Kreis der uns das Abschiedsgeleit ge¬
benden Landsleute, welcher uns hoffen ließ, daß noch viele in ähn¬
licher Absicht zugegen sein möchten. — Der bewegliche Italiener ist
bei solchen Gelegenheiten besonders auf den Beinen. Sich im Wirths¬
haus, beim Glase Wein zu treffen, um Abschied zu nehme», ist ihm un¬
bekannt. Wo können wir uns morgen sprechen? — Im Theater heißt
es, auf der Promenade, höchstens im Cafe, und auf ähnliche Weise
wird das Dampfschiff ein Ort des allgemeinen i-emlox-on»i8. Sie
sprudeln überall, zu jeder Zeit, auch ohne Wein - und Speise-Karte. —
Wir sahen voll Wehmuth hinüber nach der im Osten dämmernden
Küste von Sorrent. Warum denn verließen wir die Villa mit der
Veranda von Weinlaub und blühenden Oleander? Warum den Oran¬
genhain , durch dessen Stämme der selig ruhige, blaue Meeresspiegel
erglänzte? — Ach man kann noch so sehr Kosmopolit sein, man fährt
nicht aus der Haut, in der man geboren ist. Die geschichtliche Auf¬
gabe eines Volkes ist jedes Einzelnen Bedürfniß, mag der Theil, den
er daran nimmt, noch so unmerkbar, ja unbewußt sein. Erst wenn
die Entwicklung der Menschheit so weit vorangeschritten sein wird, daß
sie der Abtrennung ihrer Phasen in einzelne Völkerschaften nicht mehr
bedarf, kann man überall derselbe Mensch sein. —
In dem Gedränge ließen sich bald außer der unsrigen noch zwei
Hauptgruppen unterscheiden. -— Die eine bestand aus sehr elegan¬
ten, zum Theil sehr schönen Damen, und ebenso eleganten Herren. —
Sie gehörten, wie wir von einem deutschen, in Neapel ansässigen
Musiker erfuhren, zu den vornehmsten Familien, und gaben einer
Marchesa, die mit ihrem Manne nach Paris reiste, das Geleit. Das
Vornehmthun gelingt dem Italiener sehr schlecht, er ist dazu viel zu
lebhaft, neugierig und harmlos, und dann stehen alle Klassen der Ge¬
sellschaft, vom König bis zum Bettler mit geringer Nüancirung auf
demselben Niveau körperlicher und geistiger Ausbildung. — Dieselbe
Unwissenheit, aber auch dieselbe Lebhaftigkeit des Geistes und Schön¬
heit des Körpers findet sich etwa mit Ausnahme der Frauen in Ne¬
apel überall, und dürfte im Gegentheil an Witz und Auffassungsgabe
das gemeine Volk den Reichen und Vornehmen noch überlegen sein. —
Die vornehmen Herrschaften auf dem Schiffe hatten Bediente in rei¬
cher Livree bei sich, die man aber schwerlich für solche gehalten hätte
ohne die Livree, so vertraulich ging man mit ihnen um. — Ein Ber¬
liner Gardelieutenant würde dies für sehr unanständig halten, in Ita¬
lien ist aber der Bediente meistens der Vertraute seines Herrn, und
das mit Recht, denn einer ist so gebildet wie der andere.
, Die zweite Gruppe bestand aus Musikern und Mitgliedern, der
Oper in San Carlo zu Neapel, die um einen jungen Mann Cirkel
bildeten, dem sie ihre Huldigung und ihr Lebewohl darzubringen schie¬
nen. — Dies ist Verdi, sagte unser deutscher Musiker, der seine Oper
Alsira, die das San Carlo bei ihm bestellt hatte, hier dirigirte und
nun nach seiner Vaterstadt Mailand zurückkehrt. — Der musikalische
Tagesheld von ganz Italien sollte also mit uns die Reise machen. —
Seine Opern i I^ont)in<ki, I^mani und line I?o8c»ri beherrschten seit
mehrern Jahren die italienischen Bühnen und hatten Donizetti fast
gänzlich verdrängt. Augenblicklich warm es die «tue k?o8<:-n-i, welche
überall und an jedem Abend gegeben wurden; auch in Neapel, wo die
andern Opern von Verdi verboten waren, und zwar mit solcher Strenge,
daß in einem Concerte ein Chor aus den I^om!»:u-ti aus dem Pro¬
gramm gestrichen wurde und untersagt blieb, sogar nach dem Anerbie¬
ten der Concertgeber, einen andern Text unterzulegen. — Dies Cen¬
surwesen in Neapel ist überhaupt die Blüthe dieses edlen Institutes
für ganz Europa. Was in Mailand und Rom erlaubt, ist hier ver¬
boten. Als ich vor acht Jahren hier war, hatte man ein Ballet „Faust"
nach Goethe's Tragödie bearbeitet, auf San Carlo gegeben. Der
Erzbischof von Neapel erfährt dies und eilt sofort zum König: „Sire!
Staat und Religion sind in Gefahr, denn der Teufel spaziert über die
Bühne! Man kann unmöglich dulden, daß das Heiligste so profanirt
werde!" — Der König läßt das Stück verbieten, und die Censur¬
commission, welche aus sehr vornehmen Staatsbeamten zusammenge¬
setzt ist, absetzen. - Barbaja, der Theaterdirector, will aber bei aller
Rücksicht für das ewige Heil der Seelen doch auch sein zeitliches Heil
nicht verlieren. Er fährt also zum König: „Sire, Ihre Censurcom¬
mission hat das Stück genehmigt, ich habe darauf 50,000 Ducati ver¬
wandt, die mir nach Recht und Billigkeit ersetzt werden müssen." —
„50,000 Ducati zahlen?" rief der König, „mein Lieber, geben Sie
Ihr Stück so lange Sie wollen!" Das Ballet ward wieder gegeben,
die Censurcommission blieb aber abgesetzt. — Die Censur schien da¬
mals einen Ansatz zu ungewohnter Kühnheit genommen zu haben.
So hatte man nach langen Kämpfen den Wilhelm Tell von Rossini
auf San Carlo zugelassen. — Es war großer Gallaabcnd, als wir
hingingen. Wahrlich ein glänzender Anblick, dieses Meer von Licht
und Gold in den glänzendsten Toiletten und Uniformen der Welt.
Auf der Bühne und im Theater vertheilt standen aber verdoppelte Po¬
sten der Schweizertruppen mit geladenen Flinten, um gleich bereit zu
sein, wenn ihr Ahnherr auf der Bühne bei den lebhaften Italienern
etwa einen zu großen Eindruck machen sollte. — Das Stück verschwand
auch bald wieder vom Repertoir.
Auf unserm Schiffe war auch ein Hausen dieser elenden Söldner,
deren Kapitulation abgelaufen war, und die nun nach Hause geschickt
wurden. — Wie stachen diese brutalen, von Wein und Ausschweifung
ebenso sehr, als von der Mißgunst der Natur entstellten Gesichter gegen
die edlen Formen der Italiener ab. — Ein deutscher Freund meinte,
die Schweizer seien dem lieben Gott offenbar bei der Schöpfung schlecht
gelungen, und deshalb habe er in übler Laune darüber sie nicht ein¬
mal ganz fertig gemacht. —
Es läutete zum dritten Male, man nahm Abschied, die Masse lich->
tete sich ans eine sehr erfreuliche Weise, und endlich brausten wir fort,
durch den Golf von Neapel, an dem mit Villa's bedeckten Posilipp
vorbei nach Civitavechia, Livorno und Genua hin.
O du gesegneter Golf, an dem die Menschheit seit Jahrtausenden
nicht zur Arbeit, sondern zum Vergnügen zusammenkommt, an dem die
Helden der Geschichte, müde ihres Treibens, sich niederließen ihres
geretteten Theiles ungetrübter Menschlichkeit sich zu erfreuen, oder in
entarteter Gier die Beute zu verzehren, ebenso unmenschlich in der
Arbeit, wie im Genusse. — Welche Denkmäler des Genusses sind diese
riesenhaften Trümmer der alten Landhäuser, Theater, Bäder ?c. , diese
heitern Häuser in Pompeji nur zur Freude eingerichtet, diese Malereien
mit Darstellungen üppigster Lebenslust. — Und noch heute ertönt der
»veite Golf von Neapel von Jubel und Gesang. — Jeden Morgen
hört Ihr Böller und Kanonen erschallen. „Was gibts?" fragt Ihr
den Marinaro: O^xi v tvstii, <t liesina oder l^orre tsi ^nnuaci^ta,
oder anderswo, oder an drei, vier Orten zugleich: „Kompre tvsti»!"
fügt er lachend hinzu. — Der gemeine Neapolitaner ist ein wahrer Vir¬
tuose des Genusses, er trinkt und singt bis zum frühen Morgen, welcher
ihn ebenso heiter findet, als er am Abend war. Kein Katzenjammer,
keine Ermüdung, kaum daß er einiger Stunden Schlafes in der Son¬
nenhitze auf einer steinernen Bank, einer Balustrade, oder ähnlichem
Orte bedarf. — Ja hier kann man eine Ahnung davon bekommen,
wie selig das Leben der Menschen sein könnte, wenn einstens Arbeit
und Genuß zusammenfallen, und nicht mehr eins das andere aufhebt
und tödtet. — Je complicirter die sociale Maschine, desto specieller
wird die Arbeit der Menschen. Der ganze Mensch wird eingesetzt und
eine Specialität dafür gewonnen, die ihren Werth verliert, sobald der
Mensch aufhören will oder ausi sein besonderes Rädchen an der gro¬
ßen Maschine zu drehen. — Was hilft der vom ewigen Hauen stark
gewordene Arm dem Bergmann, sobald er nicht mehr Bergmann ist?
Er hat für eine Stärke, die ihm nichts nütze ist, einen siechen Körper
mit dem Keim des Todes eingetauscht. Erst wenn die Maschine an
ihrer eigenen Ueberkünstelung zerbricht, wenn die Geschichte an den
von ihr geschaffenen Gegensätzen und Hebeln zu Grunde geht, kann der
ganze Mensch sowohl in Arbeit wie im Genuß zur Geltung kom¬
men. Die angstvolle Aufgabe der geschichtlichen Völker, die bewußt
oder unbewußt unser aller Brust bewegt, ist das Ausbilden, das
Fortentwickeln der Gegensätze, darum Ade du schöner Golf, mit
deiner menschenfreundlichen Natur, möge es unsern Nachkommen ver¬
gönnt sein, mit ruhiger Seele sich an dir niederlassen zu können.
„Aber/' sagte mein Reisegefährte, dem ich diese Bemerkungen mitgetheilt
hatte, „wie kann man arbeiten in der Ausbildung einer Sache, deren Unwerth
man erkannt hat? Wie kann man etwas aufbauen, damit es zusammen¬
falle? — Was in der Geschichte gethan ist, das wurde es im guten
Glauben an die Sache und ihren eignen Werth. — Jede Arbeit, die
ohne diesen Glauben geschieht, muß eben sowohl für den Arbeitenden
als für die Menschheit unfruchtbar bleiben." — „Es fällt mir auch
nicht ein, mein Freund, mir oder Andern zuzumuthen, sich als Hand¬
langer an die materielle Arbeit einer oder der andern Seite zu geben,
wer den Gegensatz und seine Auflösung erkannt hat, dessen natürlicher
Trieb und Beruf ist, dies bekannt und klar zu machen. Angst und
Hoffnung, Haß und Liebe entstehen sofort instinctmäßig, widerstreitende
und gemeinsame Interessen werden offenbar, trennen die Gegensätze
und consolidiren jede Seite in sich. — In Drntschland befreien sich so
immer nur einzelne theoretisch von den herrschenden Gegensätzen, dann
freilich sehr gründlich, allein die Franzosen, überhaupt das heißere ro¬
manische Blut reagirt praktisch gegen die enge Specialität, in die das
Leben den Einzelnen hineindrängt. — Der Deutsche ist im Allgemeinen
der gewissenhafteste Arbeiter. Er dreht an den ihm zugewiesenen Rade,
ohne sich umzusehen, weshalb man ihm seinen Beruf auf hundert
Schritte ansehen kann. — Die romanischen Völker mit ihrer lebhafteren
Menschennatur empören sich weit leichter gegen die unmenschliche Be¬
schränkung des Lebens. — Die Deutschen lieben, ihnen deshalb den
Vorwurf des Leichtsinns und der Frivolität zu machen, allein dafür
machen die Franzosen die Geschichte und genießen das Leben, so gut
es eben möglich ist. — Die Italiener haben dieselbe Natur, in noch
höherem Grade, und wenn sie in neuerer Zeit keine Geschichte machten,
so lag dies nur daran, weil das eigentliche Volk unter dem gesegneten
Himmel nie zu dem Grade der Verzweiflung kommen kann, um sich
für fremde Interessen zur Schlachtbank führen zu lassen.
Schon hatten wir den Golf von Bajä, die trümmervolle Frcuden-
stätte des alten Römerreiches und das Cap Misenum hinter uns ge¬
lassen, schon begann der Abend zu dämmern, als die Glocke zum
Mittagessen rief. — Wahrlich, wir saßen im glänzendsten Speisesaale
der Welt, die untergehende Sonne, das in großen, ruhigen, tiefdunkeln
Wogen sich ausbreitende Meer und darüber der ewigblaue Himmel,
an dem nach und nach die Sterne sich entzündeten. „Wenn ich den
Golf von Bajä betrachte/' sagte mein Reisegefährte, „wird mir die
große Wohlthat der Erfindung des Pulvers klar. — In meinen ro¬
mantischen Jahren fluchte ich mit Ariost auf sie, als die Ursache des
untergegangenen Ritterthums und der persönlichen Tapferkeit; allein
heute belehren mich die Ruinen dieses Ufers eines Besseren. — DaS
glänzende Landhauöleben der Römer war der Anfang ihres Unter¬
gangs. So lange die Stärke und Abhärtung des Körpers den Aus¬
schlag des Kampfes bedingte, war die Epoche, wo ein Volk sich der
Philosophie, den Künsten, dem Genusse zuwandte, das Signal für
fremde Barbaren, über sie herzufallen. So unterlagen die Athenienser
den rohen Fechtmeistern aus Sparta, so die Römer den Germanen. -—
So lesen wir im Sismondi, daß die italienische» Städre zuletzt das
Feld nicht mehr halten konnten gegen den Adel, als dieser anfing, in
schwerem, eisernen Harnisch zu Pferde zu kämpfen. — Es gehörte
dazu eine von Kindesbeinen an täglich fortgesetzte Uebung, und diese
Lastträger-Kunst überwand die Städter, die ihre Zeit zu andern Din¬
gen nöthig hatten. — Das Pulver hat die Vertheidigungsmittel statt
in die Stärke des Körpers, in die Erfindungskraft des Geistes gelegt,
und heut zu Tage geht kein Volk mehr unter, weil es der Cultur
seines Geistes zu sehr obgelegen. — Wenn die alten Philosophen und
Denker die Leichenraben ihrer Volker waren, so sind die unseren die
Sturmvögel der Kämpfe, in denen wir uns verjüngen und entwickeln.
„Und doch," erwiderte ich, „muß jedes Volk zu Grinde gehen, da
jede Persönlichkeit ihrem Begriffe nach endlich ist. — Wenn die alten
Völker unterjocht oder geschlachtet wurden, so werden die modernen,
geschichtlichen Völker sich auflösen und ineinander verschmelzen. Doch
was sagst Du, Maria, zu unserer Sicherheit in der Civilisation? Du
siyest so sinnend mit gekreuzten Armen, und der Abendwind bewegt
deine dunkeln Locken so geheimnißvoll, als wenn Geister dir die Weis¬
heit des ewigen Meeres in die Ohren raunten." — „Mich kümmert
die Geschichte sehr wenig," sagte sie mit herausforderndem Blicke, „und
noch weniger der Grad, um den ihr cultivirter sein wollt, als die
Alten. Nur so viel weiß ich, daß die Welt noch unendlich roh und
langweilig ist, so daß es kaum der Mühe sich verlohnt, in ihr zu le¬
ben. — Was ist leben und genießen, wenn man nicht für sich und
mit sich gänzlich frei und allein sein darf, so frei und so einsam, wie
dort das Meer? — Seht die großen, ruhigen Wogen, immer gleich
folgen sie aufeinander, wie der Pulsschlag eines mächtigen, in sich be¬
ruhigten Lebens. — Nur wer so schrankenlos sich selbst besitzt, der
kann auch schrankenlos sich geben, das heißt lieben und leben." —
„Aber um Gotteswillen," sagte Fernand, „wo sollte das hinaus? nur
durch die Gemeinsamkeit der Mensche» ist alles Große geschehe»; wollten
wir uns isolire», würde» wir zur Barbarei zurückkehre». — Dies Le¬
ben in der Geschichte ist unser Ersatz für die mangelnde Freiheit." —
„Für Euch vielleicht," sagte sie, „für mich nicht. Willst Du mir im
Ernste zumuthe», Interesse zu finden an dieser Geschichte, in ver man
nnr als wildes Thier, als Betrüger oder beschränkter Enthusiast eine
Rolle spielen kann, lind niemals der Mensch in Betracht kommt? —
Bringt mir sie her, dure Helden des Tages, und die Frau wird Euch
sagen, ob ihre Natur eine gemeine oder edle sei, was menschlich, was
unmenschlich an dem Menschen ist. Aber freilich, auf solche Kleinig¬
keiten kommt es in Eurer Geschichte nicht an. So lange aber das
nicht ist, seid Ihr Barbaren, und Cure Geschichte nicht werth, daß
man sich darum bekümmere. — Daß malt sich nur in der Masse, in
der Gemeinschaftlichkeit fortbewegen kann, zeugt eben davon, daß der
Einzelne für sich noch nichts ist. — Mir kommt es aber nur auf das
einzelne Menschenantlitz an, darin lese und begreife ich meine Geschichte.
Ach, eine traurige Geschichte, besonders hier, wo der Himmel so mensch¬
lich milde, das Meer so menschlich ruhig und groß ist. Wie paßt zu
diesen großen, in sich gesättigten und beruhigten Linien die Verzerrung
jener Züge. — Seht das Gesicht jenes Kaufmanns, es hat nicht mehr
oder nicht weniger Ausdruck wie eine Zahl, er hat zeitlebens gerech¬
net, nicht gelebt. — Dort der Marquis aus Neapel braucht seine
Uniform nicht anzuziehen,'er ist Soldat, der geht und steht auf Com-
mando. Wie würde ihn eine Welt erschrecken, in der er aus eigner
Bestimmung sich bewegen sollte, wo er nicht mehr befehlen wird! Der
Schweizer ist schon gefährlicher, er hat die Augen des Raubthiers.
In den nachsichtigen Momenten Eurer Civilisation, wo sie ihren Be¬
stien die Freiheit gönnt, wird ihn die Geschichte vielleicht als Helden
preisen. Mir ist ein Hund lieber als solch ein Mensch. — Den öster¬
reichischen Fürsten da, verräth ihn nicht sofort sein Cacadu-Gesicht?
Man hat ihm einige Redensarten gelehrt und dann als Diplomaten
ausgesandt. Grandville und andere französische Zeichner haben die
Menschen am besten begriffen, indem sie ihnen Thierköpfe gaben, ihre
Sachen sind von schlagender Wahrheit. — Ach, und wie schön ist das
Angesicht des Menschen in seiner Reinheit!"
„Nun," sagte ich, „die Italiener sind doch schön genug? dies hier
sind zwar meistens Fremde, aber in Neapel und Sorrent hast du doch
oft genug die schöne Gestalt und die edlen griechischen Nasen der Land¬
leute und Schiffer bewundert." — „Ja wohl," antwortete sie, „aber
es ist zu wenig dahinter; man hat sie im Nu durchgesehen. Sie sind
wie ein Buch, dessen Inhalt man aus der Vorrede, oder wie ein
Schauspiel, dessen Entwickelung man im ersten Act erräth. Sie sind
wie die schönen Frauen und Mädchen bei uns. Auch diese hat die
Geschichte nicht so verzerrt wie unsere Männer, aber sie haben so
wenig Inhalt wie die Italiener, weil ihnen die Freiheit denselben noch
nicht gegeben hat — und weil es auch nirgend einen für sie gibt. —
Erst müssen die Männer von der Geschichte emancipirt, von ihrer
Sclavenarbeit, die stets etwas Anderes, als sie selbst bezweckt, befreit
sein, ehe eS den Frauen besser gehen kann. — Welch ein gedankenlose
Unsinn ist also die sogenannte Emancipation der Frauen, welche ihnen
die barbarische Beschäftigung der Männer ansprängen will, da doch
grade ihre Aufgabe darin besteht, diese zuweilen an sich selbst zu er¬
innern, wenn die Geschichte sie sich ganz entfremdet hat.
Die Tafel war beendet und unterdessen es vollständig Nacht ge¬
worden. Der Mond bildete seine silberne Straße auf dem Meere, ge¬
heimnißvoll winkend nach der fernen Dämmerung am Horizont, welche
unbekannte, selige Gefilde zu bergen schien. — Das Meer unter uns
sprühte und knisterte, von den Rädern des Dampfschiffes aufgewühlt
und zuweilen huschten unter dem Gischte große Feuerkugeln daher, die
uns plötzlich so lebend ansahen, als hätte das Meer ein menschliches
Auge bekommen. — So standen wir lange über die Brüstung des
Schiffes gelehnt, versunken in die Wunder der italienischen Sommer¬
nacht. — Nicht ferne von uns saß ein junger Mann in ziemlich ge-
fährlicher Stellung auf der Lehne der Bank, der mit einer Hand die
eiserne Zeltstange festhielt und weit sich vorbeugend in das Meer
starrte. Der Mondschein fiel auf das schöne Menschen-Antlitz. Des
Südens edle Linien hatten sich darin vereinigt. Ein üppiger Haar¬
wuchs umgab die hohe Stirne, eine edle Nase, ein ernster selbstgewisser
Mund, und dabei Augen groß und dunkel wie das Meer und um¬
zogen von jenen geheimnißvoll schattigen Kreisen, die bei edlen Ge¬
sichtern die Weihe des Schmerzes, bei gemeinen das Brandmal er-
storbener Lust bedeuten. — „Sieh', Maria," sagte ich, nach ihm hin¬
deutend mit den Augen, „hier hast Du Deinen Wunsch erfüllt. Ein
Meisterstück der Natur, ohne Verzerrung." — „Ja wohl," sagte sie,
dies Gesicht ist schön und leidenschaftlich wie der Süden, mit einem
Anflug nordischer Tiefe; aber seht ihr denn dem Mann nicht an, daß
er zu den Privilegirtesten der Erde gehört. Es ist ja Verdi, der
Componist, der gefeierte Maestro des Tages durch ganz Italien. —
Seine eigenste Leidenschaft ist auch seine Arbeit, in der ihn Niemand
hindert und beschränkt, er beherrscht mit ihr vielmehr das
schönste Land der Erde, er beherrscht es mehr als die durch öster¬
reichische Bayonette mühsam erhaltenen Fürsten desselben. — Er hat
weder die Censur des Staates, noch die weit schlimmere eines dummen
und rohen Publicums zu fürchten, denn die Musik stellt nur die
Stimmung, ich möchte sagen, das Landschaftliche des Menschen dar,
und dies begreift nur derjenige, der ihrer fähig ist. Bei den Andern
kann sie höchstens dunkle Atmungen erwecken, ferne Alvhornklänge,
die dem entarteten Söldling die längst verlorenen Herrlichkeiten der
Heimath vorüberfuhren. Wollte man der Stimmung Worte und Tha¬
ten verleihen, der Landschaft ihre Staffage geben, wir würden bald
den Enthusiasmus in Haß und Empörung sich verwandeln sehen." —
„Du scheinst also", sagte Fernand, „auch eine Anhängerin der in Deutsch¬
land von der Kritik verpöntem, vom Publicum aber nichts desto weni¬
ger sehr goutirten Musik der neueren Italiener zu sein?" — „Ich bin",
antwortete sie, „nicht Kennerin genug, um mich als Anhängerin dieser oder
jener Musik zu erklären, finde es aber freilich unbegreiflich, wie man sein
Ohr deir himmlischen Melodien von Bellini, Donizetti und Verdi verschließen
kann. Es geht mir übrigens ganz eigen mit dieser Musik r So lange ich in
Italien bin, wo der menschenfreundliche Himmel alle Pforten der Seele
öffnet und jede Leidenschaft frei ausströmen mag, da langweilt es mich
auf der Bühne immer dasselbe zu hören, was schon in der Lust liegt,
was Meer, Himmel und Erde hier aussprechen, was Jeder im tägli¬
chen Leben sogar bei Handel und Wandel bethätigt, und ich fange an,
mich nach nordischer Individualität zu sehnen. Allein zurückgekehrt zum
Norden, und zwar zum deutschen Norden, wo Himmel und Erde, die
Poren der Seele schließend, jeden auf sich zurückdrängen, wo die Men¬
schen nur nach vorgeschriebenen Regeln denken, handeln und lieben,
und was sie Eignes für sich haben, in sich verschließen; wenn ich da
einmal von italienischen Sängern, denn die Deutschen vermögen mit
sehr seltenen Ausnahmen diese Musik nicht zu singen, jene glühenden
Arien höre, dann jauchzt mein ganzes Wesen, wie ein Gefangener,
der auf schnellem Rosse seinem dunklen Kerker entflieht. — „Du sprichst,"
sagte Fernand, „einmal von nordischer Individualität und das andere
Mal klagst du darüber, daß dort Alles nach vorgeschriebenen Regeln
geschehe, das ist doch offenbar ein Widerspruch, über den so ohne Wei¬
teres hinüberzuhüpfen ich dir nicht erlauben kann." — „Wozu wären
denn die Männer da," antwortete sie, „wenn sie die Beobachtungen,
welche die Frauen vermöge ihrer feineren Fühlfäden überall machen,
nicht mit Hilfe ihrer Wissenschaft und Logik zu begründen wüßten." —
„Nun mein Freund," sagte sie zu mir sich wendend, ich hoffe, du wirst
mich nicht sitzen lassen und diesem Ungläubigen beweisen, daß ich recht
habe; was mich betrifft, ich bedarf eurer Beweise nicht; meine Nerven,
Augen und Ohren sind mir stärkere Zeugen, als eure Wissenschaft."-—
„Diese Zeugen," sagte ich, „fangen erst in neuerer Zeit wieder an, et¬
was Credit zu bekommen. Seitdem Sokrates sie so verdächtigt hat,
daß er behauptete, sie seien nur Schattenbilder des Wirklichen, ist's it>
nen sehr übel ergangen, und jedem blinden Visionair ward mehr ge¬
glaubt, als dem nüchternsten Beobachter. — Doch zurück zu unserm
Widerspruch, den ich gleich als nur scheinbar annehme, gewohnt, wie
ich bin, deine Beobachtungen, Maria, als Orakel anzunehmen. — Ich
halte also die Deutschen, insbesondere die des Nordens, für weit in¬
dividueller als alle andern Nationen, und weit entfernt, dies für einen
Mangel zu halten, sehe ich vielmehr darin zur Zeit ihren einzigen Vor¬
zug vor den Franzosen und Engländern. — Die Natur ist zu reich,
als daß nicht jede ihrer Schöpfungen verschieden sein sollte von der
andern, je unorganischer, lebensloser diese werden, je mehr gleichen sie
sich, und die größte Verschiedenheit findet sich in der Spitze der Natur,
im einzelnen Menschen. Je reicher also die einzelne Menschennatur,
desto verschiedener ist auch sie von der andern. Solchen Naturen wi¬
derstrebt es aber, sich unter ein gemeinsames Gesetz zu stellen, welches
den Individualitäten die Spitze abbricht, daher kommt es denn auch,
daß die Deutschen in der Geschichte nur zu der Zeit bedeutend waren,
als jede Faust souverain war. Der Staat hat aber bei ihnen nie zu
der Concentrirung gelangen können, wie in Frankreich und England,
und wird es auch niemals, mögen die Liberalen auch noch so viel von
der Einheit Deutschlands reden. Die eigentliche Wirksamkeit und Be¬
deutung eines solchen Volkes kann erst dann hervortreten, wenn es der
Concentrirung in eine große Staatsgewalt zur Sicherstellung des Ein¬
zelnen nicht mehr bedarf. Bei den romanischen Völkern ist die Herr¬
schaft eines allgemeinen auch außerhalb des Staates gewöhnlich und
leicht. Religion, Philosophie, Dichtkunst, Musik :c. sind für alle in
denselben Formen gültig, die großen Männer in den verschiedenen Zwei¬
gen beherrschen meistens das ganze Volk. Bei den Deutschen hingegen
kommt höchstens einmal ein Goethe und Schiller zu einigermaßen all¬
gemeiner Anerkennung, sonst hat jedes Land, oft jede Stadt ihre Be¬
sonderheit in allen diesen Dingen. Vor der Hand drückt diese Beson¬
derheit sehr auf der Entwickelung des deutschen Charakters, weil die
socialen Verhältnisse, der rohe Kampf um das tägliche Brod, die dc-
moralistrende, alle höhern Geistesfähigkeiten abstumpfende Concurrenz
die freie Entwickelung des Einzelnen nicht gestatten. Unter solchen
Umstünden ist die Concentration in eine große, mächtige Staatsgewalt
das einzige Mittel, dem Volke Selbstbewußtsein, und den Schein ei¬
nes höhern Lebens zu geben, freilich in der Form der Entäußerung
vom einzelnen Individuum. Dieser Mangel und eine dem germani¬
schen Charakter angeborene Zaghaftigkeit machen es, daß der Deutsche
bei reicherer Individualität, nicht so frei hervorzutreten wagt und sein
Wesen geltend zu machen, wie die romanischen Völker, besonders Fran¬
zosen und Engländer, — denn bei letztern, die ein Mischlingsvolk sind,
hat das germanische Element nur dazu gedient, dem romanischen mehr
Zähigkeit zu geben. Am kühnsten ist daher der Deutsche auf der Stu-
dirstube, wenn ^ihn keine Außenwelt stört. Hier erntet er die Vor¬
theile seiner Zerrissenheit, weil kein allgemein anerkanntes Gesetz ihn
fesselt und in unwillkürlichen Banden hält. Deshalb ist Deutschland
das Vaterland der kühnsten Denker und wird es, wenn auch in ferner
Zukunft, das der freiesten, weit individuellsten und verschiedensten Men¬
schen sein. Du hast daher ganz recht, Maria, in Italien den Man¬
gel innern Reichthums, in Deutschland den des Selbstvertrauens und
der Selbstständigkeit empfunden, denn sogar der politisch so sehr ge¬
knechtete Italiener steht doch im Leben auf weit fester» Füßen wie der
Deutsche. Dank seinem romanischen Blute." — „Du hast vergessen",
sagte Fernand, „daß Deutschland nicht allein die größten Denker, son¬
dern noch weit mehr die größten Musiker producirt. Und es ist auch
natürlich, daß die reiche Natur des Germanen, trotz aller Unterdrü¬
ckung, zuerst in der Empfindung sich bekundet. Wenn die sehr sinnlich,
aber auch sehr einseitig ausgedrückte Leidenschaft in der Musik der
neuern Italiener und nach der weichlichen Sentimentalität Weber'S,
Spohr's und dieser Schule als ein wahres Labsal erscheint, so hat doch
Meyerbeer wieder die Suprematie der Deutschen gerettet durch die
Hugenotten', in denen die neuere italienische Musik als Element auf¬
genommen ist, und die Leidenschaft vom bloßen Naturlaute, zur höch¬
sten Kraftäußerung reich gegliederter Organisationen veredelt wird. —
Unser Gespräch ward unterbrochen durch wohlbekannte Melodien, welche
unten in der Kajüte Jemand auf dem Claviere vortrug. Es war die
Hauptmotive aus den «tuo k'ose-iri, eine Oper, die bei gleichem Me¬
lodienreichthum, wie Donizetti, schon die Charaktere mehr zu scheiden
beginnt, als es die bloße Verschiedenheit der Stimmlage thut. Der
alte Foscari ist eine der glänzendsten Baritonpartien, die ich kenne,
und das Herz erbebte einem vor Lust und Schmerz, wenn Coletti in
San Carlo in mächtigen, silberreinen Tönen die Klagen des alten Do¬
gen um den gemordeten Sohn und die ihm vom Haupt gerissene Krone
dahinbrauscn ließ.
Wir gingen herunter in die Kajüte und hörten dem Spiele
Verdi's zu. Auf unsere Bitten trug er noch einiges aus Ernani und
Yen Lombardi vor, die wir sonst nicht zu hören bekommen konnten,
weil in Italien die uiuingenehme Sitte herrscht, durch's ganze Land
hin in derselben Saison ein und dieselbe Oper fortwährend zu geben.
Die Sänger und Sängerinnen müssen gegen die unsrigen ein sehr
bequemes Leben haben. — Ich glaube Verdi verdankt einen Theil sei¬
nes Ruhmes den meistens der italienischen Geschichte entnommenen
Texten. — Niemand ist politisch erregbarer, als die besitzenden Klassen
in Italien, besonders die Lombarden. — Sie sehen, ganz verschieden
von den gutmüthigen Neapolitanern, finster und gefährlich aus. —
Sogar der Adel lebt meistens für sich, verschmäht es, Dienste zu neh¬
men, und hält sich jeden Deutschen so fern wie möglich vom Leibe,
daher es für Letztern in gesellschaftlicher Beziehung nichts weniger wie
angenehm in Mailand sein soll. In Neapel erklärte ich einem Advo-
caten, ich sei ein ^rusLinno, und die piussi.nil hätten 7 Jahre lang
Krieg mit den Oesterreichern geführt und ihnen bedeutende Länder ab¬
genommen, worauf er ganz gerührt und erfreut mir die Hand drückte
und zutraulich zu werden anfing. — Verdi'S Melodien gingen an mir
vorüber wie eine lange Klage Italiens, ich sah die Brüder Bandiera
sterben, hörte die Opfer seufze» in der Engelsburg und auf dem Spiel¬
berg, und es.war nicht mehr der alte Foscari, dem die Glocke, welche
die Ernennung seines Nachfolgers verkündete, zur Sterbeglocke wurde,
sondern Italien selbst, welchem der Purpurmantel von Yen Schultern
fiel. — Leider verstand Verdi weder Deutsch noch Französisch, und
wir wußten zu wenig Italienisch, als daß die Conversation sich wei¬
ter, als über das. Dürftigste hinaus hätte ausdehnen können- —
„Mich," sagte Maria auf meine Frage, wie ihr das Spiel ge¬
fallen, „hat am meisten sein schönes Gesicht gefesselt, obschon es auch
nicht mehr ganz rein ist, wie der krampfhaft geschlossene Mund mir
bezeugt. — Der hat manchen impertinenten Impressario schmeicheln,
manche Dummheit, manche Gemeinheit belächeln müssen, bis er end¬
lich frei geworden ist. Aber solche Gefangenschaft läßt doch immer
ihre Spuren zurück. — Am andern Morgen kamen wir nach Civita-
vecchia. Bekanntlich darf Niemand an's Land, bis Polizei, Sanitäts-
und Zollbehörden das Schiff und seine Papiere gehörig visitirt haben.
Ein eleganter junger Mann, wie es schien der erste der Beamten, der
eavilliere titulirt wurde, sah nicht sobald Verdi, als er auf ihn los¬
stürzte, ihn umschlang, als wollte er ihn erdrücken, herzte, küßte und
mit ihm forteilte. Wie muß der Mann, dachte ich, erst bei seiner
Geliebten sein; — wahrlich die italienische Musik übertreibt nicht. —
Gesegnetes Volk mit solchem Himmel, und so lebhaften Gefühlen, du
kannst nicht unglücklich werden. —
Unterdessen hatten sich mehrere Barken mit Herren und Damen
um das Schiff versammelt, welches noch Niemand betreten durfte, um
den gefeierten Verdi zu sehen, der bald darauf von seinen Freunden
nach der Stadt geführt wurde. — Später fuhr auch ich dahin mit
einem Pariser Architekten und einigen Schweizersoldaten, die unter
ihren Capoten Kruge verborgen hielten, in denen sie Wein in das
Schiff schmuggeln wollten, welches ihnen verboten war. Der wohl¬
feile italienische Wein ist der einzige Gott dieser widrigen Race, und
vor den Thoren Neapels kann man sie täglich massenweise umhertau¬
meln sehn. Der höchst sobre Italiener, der zwar viel trinkt, aber nie
zuviel, und eine große Verachtung für den ebii-ico hat, sieht darum
mit Entsetzen herab auf diese Vereinigung des Schweines und Blut--,
Hundes in Menschenleibern. Wir knüpften ein Gespräch mit ihnen
an, und suchten ihnen auch das Unwürdige ihres Dienstes vorzustellen,
allein dies rührte sie nicht im Geringsten, sie klagten nur über schlech¬
ten Sold und schlechte Behandlung, besonders auf dem Schiffe wür¬
den sie von dem italienischen Capitain maltraitirt, unter dessen Befehl
sie bis Genua ständen, was ich dem Italiener gar nicht verdenken
kann. — Der Pariser würdigte sowohl hier, wie ans der ganzen Fahrt
weder Schweizer noch Italiener eines Wortes, er begriff sie in dersel¬
ben namenlosen Verachtung. Ich fand überhaupt, außer ven Eng¬
ländern, die gar nicht urtheilen, die Franzosen überall am ungerechte¬
sten gegen die ihnen blutsverwandten Italiener. Dem Menschen ist
nichts verhaßter, als eine verwandte Natur, in der die Fehler, welche
auch er in der Anlage mit bekommen hat, zu größerer Ausbildung
gekommen sind.
In der kleinen Stadt siel mir als merkwürdig nur die Schönheit
der Bauern ans, denen ihre nach Art der homerischen Helden umschien-
ten Beine ein sehr reisiges Ansehen gaben. — Gegen Abend schiffte
sich Alles wieder ein. — Das Schiff brauste fort durch das bezau-
berte Meer, die Sterne entzündeten sich über unserm Diner, Verdi
phantastrte nachher wieder Italien und seine Klagen vor uns vorüber
und die Schweizer brüllten bei ihrem geschmuggelten Wein. — Zu
diesen war ein Sergeant der päpstlichen Schweizer aus Bologna ge¬
stoßen, der auf Werbung nach der Schweiz ging. Er erzählte mir,
er habe vor Kurzem einen jungen Kölner angeworben, dessen Namen
ich wieder vergessen habe, einen süperben Burschen, wie er sagte; er
selbst war ein Darmstädter. Ich erkundigte mich nach den letzten Ge-
fechten mit den Insurgenten der Legationen, — In der Hauptaffaire
hatten die Schweizer ?V0Gefangene gemacht; „zehn," sagte er, „schössen
wir gleich nieder, vierzig wurden in Bologna in der Nacht von der
dortigen Commission abgemacht, der Rest nach Rom transportirt. —
Ja, ja, da wirb ein kurzer Proceß gemacht. Das Otterngezüchte,"
sagte er, mein Entsetzen bemerkend, „verdient eS nicht besser." — Hinter
uns erhob sich Lärmen. Ein betrunkener Schweizer-Unteroffizier bra-
marbasirte gegen den italienischen'Küchenjungen, der, listig und ge¬
wandt wie eine Katze, ihm allerhand in den Weg legte, daß er stol¬
pern mußte, ihm Zöpfe anhing und andern Schabernack spielte, zum
großen Jubel der Matrosen. Endlich erschien der Oekonom des Schiffes,
der mit der befehlshaberischen Miene eines Generals dem Sergeanten
mit strenger Strafe drohte, wenn er sich nicht zur Ruhe verfüge, und
dem Küchenjungen es als seiner unwürdig verwies, sich mit einem
solchen Menschen abzugeben.
In Livorno ward Verdi noch mehr fetirt wie in Civitavecchia
und im Triumph abgeholt und zurückgebracht. Mehrere sehr elegante
junge Leute begleiteten ihn sogar bis Genua. Unter ihnen war der
Fürst Poniatowsky, der erste musikalische Dilettant Italiens, der selbst
eine Oper geschrieben und mit seiner Familie in Lucca aufgeführt hat.
Unser Abendconcert ward dadurch sehr glänzend, denn Verdi spielte
und Poniatowsky sang, und zwar mit der ganzen Vollendung italie¬
nischer Schule. In Deutschland nimmt meines Wissens die jeiilxzss,;
«jnrve nirgend einen solchen Antheil an Kunst und Künstlern, höchstens
an Künstlerinnen, aus Motiven, die der Kunst sehr fremd sind. Diese
Einheit des Jtalieners, dies Verschmelzen von Kunst und Leben, von
Genuß und Arbeit ist sein Hauptreiz, besonders für uns Deutsche, die
wir aus unserer Zerrissenheit und Zerklüftung uns gar nicht wieder¬
zufinden vermögen, und wo ein Mann der Arbeit, und selbst der Kunst,
und ein Mann des Lebens sich so unähnlich sehen, als wenn sie ver¬
schiedenen Racen und Jahrhunderten angehörten.
In Mailand sah ich Verdi zum letzten Mal unter einem glänzen¬
den Kreise junger Leute, er selbst der schönste von allen, was in dieser
Stadt, ausgezeichnet durch vie Schönheit und Eleganz ihrer Männer,
sehr viel sagen will.
Ein halbes Jahr darauf saßen wir drei Retsegefährten an einem
Winterabende im kalten Deutschland wieder zusammen. — Fernand
hatte die Zeitung in der Hand und trug hier und da einmal mit gleich¬
gültiger Stimme etwas daraus vor. Auf einmal stockte er, sein Blick
starrte auf eine Stelle und endlich las er langsam und bewegt: „Der
jugendliche, talentvolle Componist Verdi ist in Bologna gestorben." —
Wie Schade um die schöne Menschenblüthe!
Es kann immerhin alö ein Beweis von unsers größten Dichters
fortdauernder und zunehmender Bedeutung für sein Volk angesehen
werden, daß dieses mit gerechtem Danke aufnimmt, was aus den ver¬
schiedenen Lebensaltern Goethe's die Gunst des Zufalles von seiner
Hand aufbewahrt hat und was man mit dankenswerther Aufmerksam¬
keit der erkenntlichen Nachwelt als glücklichen Fund darbietet. Scheint
doch für Goethe die Zeit der ächten Verehrung endlich auch gekom¬
men zu sein, welche weder die eigne Abgeschmacktheit auf ihn überträgt
und ihn dann gebraucht, um Götzendienst mit sich selbst zu treiben,
noch die Maßstäbe einer neuen Epoche an ihn legt und ihn nun haßt,
weil diese Maßstäbe nicht zu ihm passe» und er etwas Festes und
Eignes und nur aus sich und aus der Zeit, worin er geworden, zu
verstehen ist.
Ist auch nicht Alles, was uns an aufgefundenen Briefen und
dergleichen in den letzten Jahren geboten wurde, so werthvoll als die
„Briefe und Aufsätze", welche Hr. Schöll kürzlich veröffentlichte, so
trägt doch fast Alles dazu bei, den großen Mann dem großen Publi-
cum menschlich näher zu bringen, denn dieses will sich einmal schwarz
auf weiß überzeugen, ob der Seher, welcher alle Zustände der mensch¬
lichen Seele so wahr und ergreifend zu schildern wußte, auch selbst
menschlich empfunden habe. Für dieses Publicum, nicht für Diejeni¬
gen, welche ohnedies wissen, daß ein Goethe nicht möglich gewesen
wäre, wenn er nicht auch das Herz auf dem rechten Fleck ge¬
habt hätte, sind daher die von Schöll mitgetheilten Briefe an Kraft
von unschätzbarem Werthe, und sie und Aehnliches wird ebenso ge¬
wiß einmal zu Goethe'S Werken hinzugefügt, als Anderes von ihnen
hinweggenommen werden. In der alten Zeit versetzte man Diejenigen,
welche das gewöhnliche Maß menschlicher Begabung hoch überragten.
unter die Götter und fand sich so init dem Räthselhaften und Über¬
wältigenden in ihrer Erscheinung ab; unsere Zeit ist von keinem schlech¬
tem Sinne beseelt, indem sie die Heroen des Geistes nicht weniger
verehren, aber sich ihnen menschlich nahe und verwandt fühlen will.
Wir bedauern, daß uns die Weismann'sche Schrift zu den vor¬
stehenden Bemerkungen nicht veranlaßt hat, und daß sie uns im Ge¬
gentheil zu der Warnung zwingt, die oben bezeichnete falsche Vereh¬
rung nicht durch die Oeffnung der Nachträge wieder hereinbrechen zu
lassen").
Hr. Weismann theilt uns nämlich „Exercitien", sage Exercitien
Goethe's aus seinem achten, neunten und zehnten Jahre mit und ist
der Meinung, weil Goethe in seinem Leben so ausführlich von seinen
Kinderjahren spreche, so bleibe er als Autor unvollständig, so lange
wir seinen Werken nicht auch Arbeiten aus seiner Kinderzeit hinzuge¬
fügt hätten. Er behauptet alles Ernstes, daß Goethe schon in dem
ersten Jahrzehend seines Lebens ein selbstbewußtes Genie gewesen sei
und treibt es also noch lange nicht so arg, wie die griechische My¬
thologie, welche den Herkules schon in der Wiege zum Helden macht.
Wir glauben nicht schonender mit Hrn. W. verfahren zu können,
als wenn wir das Gesagte nicht mit seinen eignen Worten anführen.
Gewinnen wir dadurch doch auch Raum für einige ernsthafte Bemer¬
kungen. Wenn nämlich Goethe als Mann ausführlich von seiner Kin¬
derzeit spricht, so hatte er, sollte gleich wahr sein, was David Hume
sagt: It i's llilücnlt l'c>r alni t» sjie-Ul, Imix ol' lümselt vitliout
vunit^, doch dabei keine andere Absicht, als etwa zu zeigen, welcher
Art die Eindrücke gewesen, die er zuerst empfangen, als ein Bild der
Zeit, der Umgebungen und Verhältnisse zu entwerfen, in denen er auf¬
wuchs. Wenn er z. B. erzählt, wie er zum Ergötzen einiger Nach¬
barn allerlei irdenes Geschirr auf die Gasse warf, so will er damit
nichts Geniales gethan haben und ist gar nicht der Meinung, daß die
so entstandenen Scherben besser gewesen seien, als die Scherben von
andern Kindern. Aehnliches, als Hr. W. von dein Kinde Goethe mit¬
theilt und welches in dieser Gestalt, wie er selbst zugibt, gar nicht ein¬
mal von Goethe sein kann, machen viele Kinder von demselben Alter
und derjenige scheint mir daher viel verständiger gehandelt zu haben,
der dasselbe Original-Manuscript in Händen hatte, wie Hr. W., und
vor einigen Jahren daraus eine, und zwar die einzige wirklich artige
Probe im Morgenblatt (1838, Ur. 200) mittheilte. Hr. W. fand
dies nicht genügend, er schreibt Vorwort, Einleitung und Anmerkun¬
gen, der unternehmende Verleger wendet sechs Seiten Facsimile daran,
und ein Lump, dem ein solches Buch nicht Einen Gulden weniger
sechs Kreuzer werth ist.'
Es versteht sich, daß ich den Leser so wenig mitdem Inhalt „des
höchst interessanten, authentischen Manuscripts, dieses bedeutsamen
Fundes," als mit Hrn. W.'s Erläuterungen beschweren will. Nur
folgende zwei VVei8mimniima theile ich mit, das erste, weil es uns
etwas lehrt, das zweite, weil es Hrn. W. etwas lehren kann. Zuerst
sagt er S. 60: „Sind diese Erercitien mehr der Zeit und Lehrmethode
wegen von einigem Werthe, so finden wir dagegen auf den nächsten
Blättern wieder den rastlos an seiner Entwicklung arbeitenden Knaben.
Es folgen nämlich auf vier Seiten Glückwünsche, die der liebevolle
Sohn zum Beginn feines Tagewerkes lateinisch ausdachte, um sie
dem theuren Vater als Morgengrüfie darzubringen. Besonders schön
und beachtenswert!) erscheint es mir, daß diese Uebungen, an der Herz
und Kopf gleichmäßig Theil nahmen, grade in seinen Geburtsmonat
fallen, wo er sein neuntes Jahr vollendet hatte. Gewiß geben sie ein
schönes Zeugniß von der Gemüthstiefe des Knaben; aber sie beleuch¬
ten auch den harmonischen Frieden, der um ihn im Hause waltete,
und das ernst-innige Verhältniß zwischen Vater und Sohn. Sei nun
der Anstoß zu einer solchen Uebung von ihm selbst gekommen oder
möge der Vater ihm einen Wink gegeben haben, — immer bleibt die
Energie, mit der der Knabe die Aufgabe löste, bewundernswerth; wir
freuen uns, hier und in den früher angeführten ähnlichen Arbeiten die
kräftigen Keime zu erblicken, aus denen des Meisters Goethe nicht er¬
reichte Sprachgewandtheit, die krystallhelle Klarheit, das herrliche Maß
und der unwiderstehliche Reiz in seiner Diction wie ein Wunderbaum
emporgewachsen ist. — Und sehen wir, wie schwerfällig, reizlos damals
noch unsere Sprache war, wie sie noch die Fesseln man könnte sagen
fast aller lebenden und todten Sprachen nachschleppte, so wird es uns
fühlbar, welche Riesenarbeit es war, diesen Augiasstall zu säubern,
und wie alle Mühe ihn nicht zum Ziele geführt hätte, wäre nicht der
gewaltige Strom des Genies eingedrungen und all' der fremdartige Wust
mit fortgeschwemmt worden. Wie G. sich hier als Knabe mühte, sich
frei in der Sprache bewegen zu können, so wandte er bis in's späteste
Alter den anhaltendsten Fleiß auf eine immer höhere Vollendung seiner
Sprache."
Da Hr. W., wenn ich nicht irre, an der Frankfurter Schule den
Unterricht im Deutschen ertheilt und den Damen Vorlesungen über
deutsche Literatur halt, auch Mitglied der alle witzigen und geistreichen
Köpfe Frankfurts in sich vereinigenden Gelehrtengesellschaft „Ganges"
ist, so wird er ohne unser Zuthun die sprachliche Unverständlichkeit des
Satzes verstehen, wie Goethe den Augiasstall der deutschen Sprache nicht
ohne den mit eingedrungenen gewaltigen Strom des Genies gereinigt
haben würde. Dagegen erfahren wir aus der angeführten Stelle nicht
nur, daß G. in seinem Alter besser schrieb als früher, daß also im zweiten
Theil des Faust und den Wanderjahren eine höhere Vollendung der
Sprache zu finden sei, als im ersten Theil und den Lehrjahren, sondern
Hr. W. belehrt uns auch, daß nach den Klopstock, den Lessing, daß,
nachdem die Wielande, die Herder u. s. f. lange vor Goethe mit
Ruhm und Erfolg gewirkt hatten, doch noch so gut wie nichts ge¬
schehen war, und daß sein mythologischer Hercules nach dem Auftreten
jener „schwerfälligen, reizlosen" Schriftsteller den Augiasstall des Hrn.
W. noch erst zu reinigen gehabt. Wie haben sich also diejenigen ge¬
irrt, welche bisher der Meinung waren, daß G. den Acker vorbereitet
fand und finden mußte, welchen er befruchten sollte!
Die zweite Stelle, die wir anführen wollten, findet sich in der
Vorrede, wo Hr. W. u. a. sagt: „—,— Und indem ich nun zu dem
aus seiner Selbstbiographie wie aus dem unendlichen Reichthum seiner
Geisteöwerke hinreichend Bekannten noch Einiges aus einer Zeit hinzu¬
füge, von.der außer der vortrefflichen Schilderung, die er uns aus
den ersten Büchern aus seinem Leben vor Augen geführt" (eine Schil¬
derung vor Augen führen; aus den ersten Büchern aus seinem Leben!),
„durchaus keine Belege bis jetzt vorhanden sind, so hoffe ich dadurch
beweisen zu können, daß schon der Knabe diesen Spruch (Gebraucht
die Zeit, sie geht so schnell von hinnen, doch Ordnung lehrt euch Zeit
gewinnen) beständig vor Augen hatte. — — Jeder, der mit Liebe der
großen Geister seines Volkes gedenkt und sinnig und ernst dem Gang
ihrer Entwicklung folgte,---wird gern mit mir zurückgehen in die
Knabenjahre unsers größten Dichters und mit freudigem Erstaunen er¬
kennen, wie er in den Jahren, wo gewöhnlich kaum noch die ersten
Kinderschuhe ausgetreten sind, in regster Selbstthätigkeit sich schon einen
eignen Weg anbahnte und im Drange des Genies das tausendgestal-
tige Leben zu erfassen versuchte.--Und ist es erfreulich, recht oft
und klar zur eignen Spiegelung sowohl, als zur Erhebung den Gang
des Genies sich vorzustellen, so dürfen wohl auch diese Blatter freund¬
lich willkommen geheißen werden. Sie sollen den Mann als Knaben
vorstellen, dessen Leben und Wirken wie ein langer, schimmernder Streif
durch die Glanzperiode unserer Literatur hindurchleuchtete, an dessen
unerschöpflicher Geistesfülle wir in einer minderreichen Zeit volle Ge¬
nüge haben."
Wäre Goethe ein frühreifes und altkluges Kind oder als Kind
ein Mann gewesen, so wäre er schwerlich Goethe geworden, aber in
solchem Fall würde sich nur ein kindischer Mann in Goethe's Kinder-
jahren spiegeln und daran erheben können. Eine andere „eigne Spie¬
gelung" in Goethe kann nur zur eignen Selbstüberschätzung und zur
Geringschätzung Anderer führen. Die volle Genüge an Goethe ist
dann nichts als die volle Genüge an sich selbst, und eine überschwäng-
liche Verehrung Goethe's, bei der man ihn nicht versteht, ist gewiß
schädlicher als eine Börne'sche Ungerechtigkeit und Verkennung, bei der
man wenigstens auf dem beschränkteren Standpunkte Vieles findet,
wodurch man genährt und gefördert werde. Goethe selbst würde ge¬
wiß lieber nicht dagewesen, als Schuld sein wollen, daß durch ihn
und um seinetwillen der poetische Geist des Volkes brach läge, sich
nicht in neuen Thaten versuchte, nicht für diese Ermunterung fände.
Es ist eines jener unvorsichtigen Urtheile von Gewinns, welche
auf Hrn. W. schädlich gewirkt zu haben scheinen. Hr. W. hat selbst
dann und wann Gedichte drucken lassen, würde er sein Talent nicht
besser ausgebildet haben, wenn er sich, statt an Goethe, an den dichte¬
rischen Erzeugnissen „einer minder reichen Zeit" erwärmt hätte? und
würde er, da man zu dem schweren nur mit Mühe, nur stufenweise
gelangt, es so nicht vielleicht zu einem Verständniß „des Größten aus
der Glanzperiode unserer Literatur" gebracht haben?
Wir bitten Hrn. W. dies zu beherzigen, da wir es gewiß besser
mit ihm meinen, als jene Schriftsteller, welche das Buch, wäre es
auch nur auf Bestellung des Verlegers, bereits gelobt haben.
Theremin ist todt. Einer der letzten jener Männer, die in dem er¬
sten Decennium dieses Jahrhunderts den Romantikern enge verbunden
waren. Seitdem sind vierzig Jahre entschwunden. Damals schrieb Schleier¬
macher über Schlegel's Lucinde, Theremin übersetzte die hebräischen Ge¬
sänge Lord Byron's, und Beide glaubten ihrer kirchlichen Stellung und
ernsten christlichen Studien nichts zu vergeben, wenn sie zu gleicher Zeit
ihre Hände nach den goldenen Früchten der Romantik ausstreckten. Ob
dergleichen im Jahre 1846 möglich wäre? Theremin jedoch scheint einer
der Ersten gewesen zu sein, der sich von dem weltlichen Elemente zurück¬
zog und dem Dienste der Kirche ausschließlich widmete. Wenigstens haucht
uns, aus einem Briefe des Zacharias Werner an Adalbert Chamisso (1808)
hervorzugehen, daß dem Geiste Theremin's schon damals nicht mehr jener
Hang beiwohnte, der die endliche Jersprengung der romantischen Schule
bewirkt hat. „Den Theremin liebe ich sehr" schreibt Werner, „er ist
gesund und schuldlos. Ich wünsche sehnlichst, ihn bald verheirathet zu
sehen mit einem gesunden Madchen, es wäre die einzige Heirath, die ich,
wenn ich's könnte, aus allen Kräften beschleunigen würde. Sie, mein
theurer Adalbert, können füglich noch nicht heirathen. Zur Heirat!) näm¬
lich gehört hauptsächlich, daß man dem Götzendienste nicht anhängt, und
dem sind Sie noch sehr ergeben. Jede reine Seele durchlebt die Periode
der Ideale, indessen behält dennoch Gottes Gebot: Du sollst keine andere
Götter haben neben mir, seine unumstößliche Kraft. Auch mit Ihrem
Stande scheinen Sie nicht zufrieden, das thut mir leid, da Sie religiös
sind, und es zum priesterlichen Stande keine bessere Vor¬
bereitung gibt, als den Soldatenstand, wiewohl sie sich nicht
vereinbaren lassen, da bekanntlich der Priester sich nicht mit Blut beflecken
darf." Wie doch diese Gedanken Werner's mit gewissen heutigen An¬
sichten zusammenfallen. Berlin verliert übrigens an Theremin einen je-
ner Redner, der in kräftigeren Jahren wesentlich auf ein großes Audi¬
torium der gebildeten Stände einwirkte. Seine in altfranzösischer Schule
gebildete Kanzelberedtfamkeit, seine durch ästhetische Studien erzogene künst¬
lerische Redeweise machten aus jedem seiner Vorträge ein Meisterwerk,
zu dessen Conception und gewissenhafter Ausführung er jedoch stets einen
Zeitraum von drei bis vier Wochen in Anspruch nahm.
Die künstlerische Seite des hiesigen Lebens tritt in Folge des lan¬
gen und für die Vergnüglinge freilich schönen Sommers noch nicht in
dem Grade hervor, wie es um diese Zeit gewöhnlich der Fall zu sein
pflegt. Die Kunstausstellung ist in ihrer ganzen Ausdehnung dem Pu-
blicum noch immer nicht geöffnet. Säle, die den Beschauern schon für
einige Tage offen standen, sind wieder geschlossen; Bilder, die zu ihrem
wesentlichen Nachtheil sehr im Hellen hingen, wandern zu großer Beru¬
higung des Publicums und der Kritiker allmälig in das Reich der Schat¬
ten, und ein Bild von PH. Hoyoll, Genre- und Portraitmaler in Bres-
lau, Ur. 378, die letzte Hilfe in der Noth, ist ganz verschwunden. Bis
jetzt hat die Akademie auch nicht für gut befunden, die Motive zu die¬
ser schon beinahe vier Wochen dauernden Verbannung eines vom Maler
als verkäuflich bezeichneten Werkes, zu veröffentlichen, obwohl die Akade¬
mie selbst im Katalog das Gesetz gegeben hat: Keins der ausge¬
stellten Kunstwerke darf vor dem Schluß der Ausstellung
von derselben entfernt werden. Nun erklärt mir, Oerindur, die¬
sen Zwiespalt der Natur. So viele Rückhalte sich die Berliner Kritik
auch in andern Gebieten gewöhnlich zu reserviren pflegt, kann ihr dock)
in Betreff der Malerei nicht der Vorwurf gemacht werden, sie halte hin¬
ter dem Berge. Es ist im Gegentheil erfreulich zu bemerken, welch ein
reiner Wein den Hierophanten der Kunst eingeschenkt und mit welcher
Skepsis auf den Berlin-Düsseldorfer Autoritätsglauben in Sachen der
Malerei losgestürmt wird. Die Vossische Zeitung, sonst eben nicht das
Organ einer wissenschaftlichen und zeitgemäßen Kritik, sendet Artikel in
die Welt, die wahren Kriegsmanifesten gleichen. Die mit dem gestrigen
Tage erscheinende „Berliner Zeitungshalle" scheint ihr an kritischem Frei¬
muth nicht nachstehen zu wollen, denn in zwei viel versprechenden Arti¬
keln (in der zweiten Probenummer aus dem Abendblatt vom > Oct.)
eröffnet der ungenannte Kritiker einen Reigentanz mit den Werken ge¬
wisser Akademiker, die aus dieser Theilnahme der Kritik an ihren Lei¬
stungen das stolze Bewußtsein gewinnen werden, ihre A erke seien nicht
ganz unter aller Kritik. Wenn demnach so die politischen Organe über
Kunstwerke sprechen, veranlassen sie zu gleicher Zeit, im Sinne ächter
Productivität, einander zu eigenen selbstständigen Kunstschöpfungen und
Ausstellungen. Seit gestern Nachmittag nämlich prangt an allen Stra¬
ßenecken ein auf elegantes buntfarbiges Papier gedruckter Anschlagzettel,
ein Meisterstück der Berliner Typographie, worin die neue „Berliner Zei¬
tungshalle" dem Publicum bekannt macht, daß die Vossische und Spener-
sche Zeitung die Anzeige der Distributionslokale in Berlin als bezahl¬
tes Inserat verweigert und so die Redaction gezwungen haben, zu
diesem Mittel der Publication zu schreiten.
Diese Weigerung zweier Zeitungen, die einen jährlichen bedeutenden
Gewinn von bezahlten Inseraten beziehen, erscheint um so wunderbarer,
da sie, namentlich die Vossischen Erben, sobald sie Moses und die Pro¬
pheten sehen, ihre Spalten bereitwillig selbst dem Stadtklatsch und Jour¬
nalkehricht zu öffnen, aber mit Eonsequenz unbezahlten, wenn noch so
gemeinnützigen Artikeln, die Aufnahme zu verweigern pflegen. „Es ist
etwas faul im Staate Dänemark", sagt Hamlet, und Lady Macbeth
dürfte ihm erwidern: Alle Wohlgerüche Arabiens versüßen diesen kleinen
Fleck nicht mehr!" Wie können zwei so bejahrte Damen, die jede zwölf-
bis funfzehntausend Anbeter besitzen, noch so eifersüchtig sein auf ein neu¬
geborenes Kind, das wir philosophischer und christlicher Weise nur mit
frommen Wünschen für sein ferneres Wohl begleiten sollen, ohne ihm
seine ersten Athemzüge mörderisch zu erschweren. Athemzüge, die ihm
durch Eensurbcklcmmungen im Verlauf der Zeit sauer genug gemacht
werden dürften. Sonst sind ja die Basen in Berlin so bereit, Alles
auszuklatschen, was irgend geschieht, und nun sind ihnen die Zungen ge¬
lähmt. Kaum glaublich, aber wahr. Noch müssen die Zettel an den
Ecken kleben, wenn nicht die Thränen des Himmels, die in dieser Nacht
seit Wochen endlich reichlich geflossen sind, sie abgespült haben!
Der stylistische Wohlgeruch des polemischen Beiblattes der Grenz¬
boten Ur. 37 laßt uns deutlich die Blume der Ritterschaft erkennen,
deren Heft Ur. 30 fo rühmlich erwähnt. Eine an sich Verlorne schlechte
Sache zu vertheidigen, um mindestens den Schein zu retten, erfordert
Talent, billig also hatte der hohe Klerus und die böhmische Ritterschaft jene
Vertheidigung in Ur. 37 abwehren mögen.
Ein verweigerndes Votum, wo es sich um Erleichterung des armen
Bauers handelte, zu einer Zeit, wie die heutige, ist inhuman und unklug
zugleich, an sich also nicht defensibel, am wenigsten aber durch jenes
Verschanzen hinter angebliche Formen des Hauses, nachdem eine feste
Norm, ein festes Geschäftsordnung-Reglement für die ständischen Ver¬
handlungen gar nicht bestehet; ist doch das ganze Ständewesen an
sich eine Deformität, verglichen mit den Verhältnissen, den Bedürf¬
nissen unserer Tage, sein heutiges Sichgcltendmachen ist eben deshalb
nur geeignet, dieses bloße Schattenleben, das nicht mehr paßt in die Wirk¬
lichkeiten, uns recht klar erkennen zu lassen.'
Als bloße Form, wie ehedem, ließ mans noch gelten, gleichsam
als Cabinetsstück aus der Rococoperiode, als Komödie in Puder —
sobald man die alte Form will beleben, in Bewegung setzen, zerfällt sie,
denn das Ständewesen wie es ist, reprnsentirt Stände von ehemals, nicht
die heutigen; ist doch der heutige wichtigste, der kräftig auflebende bürger-
liche Mittelstand so ganz vergessen, als existirte nur Adel und niederer
Plebs. Man gestehe es nur, jene Minorität, welche die Beilage-Ur. 37
so warm vertheidigt, verschanzte sich hinter der Formaleinwendung, hof¬
fend damit die Sache selbst zu Grabe zu tragen, spricht doch jene Bei¬
lage diese Tendenz gar deutlich aus. Auch ist inzwischen die von der
Defension gehegte Hoffnung, die stets gerechte Majestät werde jenen
formalungiltigen (?) Beschluß nicht genehmigen, in Nebel aufgegangen,
denn Majestät hat den Beschluß genehmigt, überdies noch mit dem
Beisatze — man genehmige mit um so minderem Bedenken, da man die
gleichmäßige Steuer repartition ohnehin habe anbefehlen
wollen ^ ein Beisatz, welchen die Majorität gar unliebsam aufnahm. Das
System des Steuerwesens in Böhmen chaotisch und "zerfahren, wie kaum
ein zweites, läßt sich bündig und kurz gar nicht darstellen; es ist ein Konglo¬
merat von Winkelzügen der seltensten Sorte, hat aber ein Herr Defensor
in No. 37 den Einsender der „Beurtheilung" in No. 28 an Gründ¬
lichkeit gemahnen wollen, so hatte der Herr Defensor selbst nicht falsch
angeben sollen, ursprünglich sei die Grundsteuer auf Dominical- wie
Rustical-Besitz ganz gleichmäßig umgelegt gewesen — das ist die mun¬
terste Lüge, die je gelogen worden, denn ursprünglich hatte der Bauer
allein das Steuervergnügen zu genießen, der adelige Gutsherr steu¬
erte gar nicht, nur zeitweilig forderten die Stande freiwillige Subsi-
dien; erst unter Maria Theresia fatirten dieselben ihre Grund¬
einkünfte, übernahmen es, diesen von ihnen selbst einbekannren
Ertrag zu versteuern, und nannten diese Steuer das u'omiunüll«; ^xti-i»-
öl-limarwin! Wir begnügen uns mit dieser Anführung, ohne den Herrn
Defensor besonders an Gründlichkeit zu mahnen, doch möge der Herr
Defensor minornm uns die Frage beantworten, wie es gekommen, daß
bei allen bisherigen Repartitionen, von dem steuerbaren Erträgnisse so
ungleich Abschläge stattgefunden haben, daß man von dem dominicalen
Erträgnisse volle neunzehn Procent, von dem Rusticalen aber nur
drei Procent in Abschlag und außer Versteuerung brachte, und schon
dadurch allein drückende Ungleichheit der Besteuerung begründete, ohne
daß heute hat ermittelt werden können, wienach dieser ungleiche Abschlag
sich rechtfertige, so daß derselbe als offenbarer Abusus dies Jahr abge¬
stellt worden ist.
^ Wir zweifeln bedeutend, daß der ritterliche Defensor uns hierüber
genügenden Ausschluß wird geben, daß er uns wird überzeugen können,
daß ihn irgend andere Regung, als bitterer Verdruß, jenes bejammerns-
werthe Minoritätsvotum der Oeffentlichkeit verfallen zu sehen, zu jener
mißglückter Defension bestimmt habe, welche sich fogar zu der pyrami¬
dalen Behauptung verirrte, der Tagelöhner, Handwerker und derlei
Menschen — die Proletarier also — sei bei der Grundsteuerbemessung
— und von dieser ist überall die Rede — gedrückt, keineswegs aber der
grundbesitzende Bauer!
Daß der Nichtbesitzende durch die directe Grundsteuer nicht direct
gedrückt sein mag, räumen wir dem defendirenden Doctor der Staats-
wirthschaft billig ein, um so lebhafter aber müssen wir uns gegen die
behauptete Prosperität !des böhmischen Bauern aussprechen; kaum läßt
sich wohl dieser arme Prospcro in seiner Kümmerlichkeit davon träumen,
daß man den Grenzboten die hämische Fabel von seiner Behaglichkeit
aufzubinden versucht.
Wir wollen versuchen, diese Bauernprosperität in wenige Sätze
zu fassen:
Der böhmische Bauer, der sogenannte ganze, im Besitze von 60
Morgen, der Morgen zu 800 Quadrat-Klafter, stehende — zahlte bisher
an directer Grundsteuer im Verhältnisse mehr als sein Grundherr;
er zahlt Gebäude- und Verzchrungs-Steuer wie sein ritterlicher
Grundherr; er liefert feine Söhne dem Staate als Futter für Pulver,
nicht so der ritterliche Grundherr, denn dieser ist nicht wehr¬
pflichtig, wenn er auch seine Prärogativen sämmtlich dem Schwerte ver¬
dankt; der Bauer ist vorspannpflichtig, zu jeder Zeit, gegen Entgelt, von
wenigen Jammerkreuzcrn per Meile, nicht so der Grundherr;
der Bauer wird zum Straßenbau gepreßt, nicht aber d e r G rü n d h e r r;
der Bauer ist mit Militäreinquarticrung belastet, der Grundherr nicht;
der Bauer ist seinem Seelenhirten zehntpflichtig, der Grundherr nicht;
der Bauer muß in Kriegeszeiten Naturallieferungen leisten, wie der
Grundherr; der Bauer muß seinem Grundherrn des Jahres 15t!
Frohntage mit zwei Pferden leisten, durch 52 Sonntage und 14 Feier¬
tage des Jahres ist ihm die Arbeit kirchlich verwehrt, und bleiben ihm
143 Tage des Jahres zu seines Feldes Bestellung! Schlägt man all'
die Plackereien hinzu, welchen der Bauer von seinem Amtmann
und Schreiber per reins unterworfen wird, so stellt sich ein Sümm¬
chen Hoch- und Niederdruck heraus, das ein endliches Platzen der
Bauernlocomotive wohl erklären könnte, eine Masse von Druck, welche
dem Herrn Defensor aus activer Praxis wohl bekannt sein dürfte, und
wir wundern uns billig, wie die prätendirte Bauernglückseligkeit als
Argument zur Vertheidigung jiiies Minoritätsvotunis hat gewählt wer¬
den können; doch um Gründe war es dem Defensor minder zu thun, außer¬
dem hätte auch die sublime Reflexion nicht losgelassen werden können,
die klerikalen Ständeglieder seien als bloße Nutznießer ihres Besitz-
thums, um so berechtigter, jeder Schmälerung ihrer Nutznießung —
wenn auch inhuman und unkirchlich'i — entgegen zu sein!!
Wir hoffen zur Ehre des ständischen Klerus, daß dieser über seines
Die Anwesenheit der Germanisten und was sich daran knüpfte, hat
das Fest der Enthüllung des Goethe-Denkmals tief in Schatten gestellt.
Sie erinnern sich des Streites, der über dieses in der Allgem. Zeitung
entstand. Dingelstedt hatte darin Unrecht, daß er das Verunglücken jenes
Festes den Frankfurtern im Allgemeinen und nicht dem Comite vorwarf,
welches doch allein die Schuld trug und nirgends heftiger getadelt wurde,
als eben hier. Das Goethesche begann sogleich unter Mißvergnügen des
Publicums, und der Festzug war so klein, weil die Mitglieder des Comi¬
te's außer den Wenigen, welche zu den Kosten des Denkmals beigetragen,
nur ihren Verwandten und guten Kameraden Karten zum Einlaß in den
um das Denkmal gebauten Circus ertheilten, und hieran mit solcher
Einfältigkeit festhielten, daß der sehr geräumige Circus fast ganz leer blieb
und selbst das gebildete Publicum der Enthüllung nur von ferne zusehen
konnte. Auch dies Mal soll man auf die unpassendste Weise Karten zum
Zutritt zu den Germanisten-Versammlungen verweigert haben, aber das
Publicum setzte der Tyrannei des zum Dienen, nicht zum Herrschen, be¬
stimmten Comite's Schranken, und die Portiers waren so gescheidt, sich
von keinem anständig gekleideten Manne die Karte vorweisen zu lassen.
Die Wuth, in einem Comite zu sitzen, ist in Frankfurt ungemein groß.
Gegenwärtig sind die den Germanisten gegebenen Feste von noch
größerer Wichtigkeit, als ihre wissenschaftlichen Zusammenkünfte. Zu je¬
nen war der Weidenbuschsaal der Ort. Borgestern sang dort der Lieder¬
kranz, und die Gesänge waren untermischt mit Reden der Frankfurter,
wie der berühmten fremden Gäste. Uhland sprach mehrmals und erfreute
das Publicum durch die humoristischen und körnigen Wendungen seiner
Rede. Nicht minder ließen sich die gemüthlichen beiden Grimm und viele
Andere vernehmen. Am meisten riß aber Professor Wurm aus Ham¬
burg hin. Er sprach über Lübeck, welches für das nächste Jahr als
Versammlungsort gewählt ist, und fand darin einen Beweis des freien
Geistes unter den Germanisten, daß sie sich gleich die beiden ersten Male
in freien Städten zusammenfanden. Gestern war das große Fest-Mittags¬
essen im Weidenbuschsaale, es währte von 3 bis 10 Uhr und stach durch
seine Dauer, wie durch die Herzlichkeit und den Frohsinn, die dabei herrsch¬
ten, sehr von dem kalten und frostigen Essen bei Gelegenheit des Goethe¬
festes ab. Es waren so viel Theilnehmer da, als das Local nur fassen
konnte, und das Eß-Comite, welches doch einmal gut gewählt war, hatte
die vortrefflichsten Anordnungen getroffen. Es sprachen Dahlmann,
Mittermaier, die Grimm, Ranke, Beseler, der Bremer Bürgermeister
Smidt und viele Andere. Dahlmann bedauerte, daß E. M. Arndt we¬
gen Kränklichkeit nicht mit ihm gekommen sei, und feierte den Abwesen¬
den in Worten der Verehrung. Mittermaier, welcher der juristischen Section
der Germanisten auf vortreffliche Weise präsidire hatte, that gestern in
dem, was er über die Frankfurter und zu ihnen sprach, des Guten doch
gar zu viel, und Welcker hatte nicht Unrecht, wenn er dies in einer auf
seine Art zornigen, aber dabei gemüthlichen Rede tadelte und meinte,
daß man sich doch nicht so gar viel schöne Sachen in's Gesicht sagen und
dadurch in den Traum einlullen solle, als wäre man schon, was man mit
Gottes Hilfe zu werden habe. Von den Frankfurtern, welche sich ver¬
nehmen ließen, nenne ich den Dr. Spieß, Braunfels, Gutzkow und Theod.
Creizenach. Hr. Spieß sprach als „Naturforscher" und hatte die Entdeckung
gemacht, daß man die Wissenschaften einzutheilen habe in Naturwissen-
schaften und geschichtliche. Jene sollten die Dinge vorstellen, wie sie seien,
diese, wie sie geworden seien. Da aber alle Dinge geworden sind, auch
die Natur noch täglich wird, so bleiben uns bei solcher Einrheilung gar
-keine Naturwissenschaften, um nicht davon zu reden, daß man nicht steht,
wo die Philosophie hinkommen soll. Gutzkow knüpfte seine Rede an
Lübeck und wußte die Reformationsgeschichte gewandt und geistreich zu
entwickeln. Theodor Ereizenach kann, so oft er spricht, des Beifalles ge¬
wiß sein und von Braunfels brauche ich nicht erst zu sagen, daß er ein
gewandter Redner ist. Sonst habe ich von Frankfurter Literaten Nieman¬
den bemerkt, als den thätigen und vielgefälligcn Hrn. Ebner, den Heraus¬
Einige Stunden von hier, zu Waldrast oberhalb Matrei, befand
sich in früherer Zeit ein Bild der Gottesmutter, dem man viele Wunder
nachrühmt. Nach der Aufhebung des dabei erbauten Hospizes der Ser¬
vicen durch Kaiser Joseph II. wurde es, wie man erzählt, nach Mieders
versetzt, wiewohl es auch an Aussagen nicht fehlt, die das Original in
die Hände einer andern Gemeinde legen. Als nun die servilen wieder
mit ihrem einstigen Sitze betraut wurden, forderten sie auch das Bild,
worauf sie ein altes Recht zu haben glaub/en; allein beide Gemeinden
verweigerten die Herausgabe, ja zwischen ihnen selbst erhob sich jetzt Aank
und Hader, wer von ihnen das wahre Wunderbild besitze. Endlich erhielt
jenes von Mieders den Preis und der Orden den Sieg über seine beiden
Gegner; mit großer Feier ward es wieder an eben den Platz gestellt, wo
nach des frommen Brandis*) Bericht eine englische Stimme einst seine
Entstehung verkündete. Scheint es doch, als ob man das Volk im
Glauben bestärken wollte, daß eine Wunderkraft an Holz und Stein ge¬
bunden sei. Man lenkt unverkennbar wieder in P. Cochem's Lehrsätze
ein, und in der That kam es schon dahin, daß ihn hier ein Vater selbst
hinter dem Rücken des Lehrers seinen Kindern in die Hände spielte. —
Das nennen nun unsere Jesuiten und ihre eifrigen Jünger „Reinbe¬
wahrung des Glaubens."
Begreiflicher Weise konnte den Leuten dieser Fahne nichts Widerli¬
cheres vorkommen, als eine Ansiedelung von Protestanten. Zwei Preu-
szinnen hatten jüngst das alte Schloß Kropfsberg gekauft, um sich, von
der anmuthigen Gegend angezogen, daselbst anzusiedeln. Sogleich witter¬
ten die geistlichen Herren der Nachbarschaft Gefahr für das glaubens¬
schwache Aillerthal; der Vorfall kam zur Kenntniß der Landesstelle, die
den Kauf wegen Mangels der kreisämtlichcn Bewilligung für nichtig er-
klärte, und jenes von der „Zeitungshalle" in Berlin veröffentlichte Decrcr
erließ, das den wohlthätigen Schutz des Toleranzpatents für die Ansie¬
delungen der Akatholiken in Strenge gegen sie verwandelt und sich Rechte
zuschreibt, die ihr das Gesetz nicht vorbehält. Die Beschwerden legten ihre
Berufung an die Hofkanzlei ein, welche die Bewilligung zum Kaufe ohne
Anstand ertheilte, allein die Landesstelle konnte sich dabei nicht beruhigen.
Man hielt die Entscheidung zurück und brachte den Fall vor Se. Maje¬
stät zur allerhöchsten Schlußfassung, die noch gewärtigt wird. Ob man
auch in Wien zu allen diesen Ergebnissen und Maßnahmen gute Miene
machen wird? Gewiß kennt man sie dort kaum zur Hälfte. Die Frem¬
den sind, wie Sie merken, bei uns nicht gern gesehen; hier gleich ein
zweiter Fall. Vor ein paar Jahren kam ein Baier zu uns, der sich als
Violoncellspicler beliebt machte und vom Ertrage seiner Musikstunden lebte.
Die Polizei fand Gründe, ihn abzuschaffen, eine Berufung an die Landes¬
stelle half seinen Aufenthalt einstweilen verlängern. Nach einiger Zeit
wurde der polizeiliche Befehl erneuert, der Betroffene nahm seine Zuflucht
wieder zur Landesstelle, diese fand die Gründe seiner Ausweisung gehoben
und entsprach seiner Bitte durch günstigen Bescheid. Dessen achtete man
aber keineswegs von Polizeiwegen. Der arme Mann, der sich ruhig und
anspruchslos sein tägliches Brod mühsam durch die Kunst erwarb und
beim hiesigen Musikverein als Lehrer angestellt war, mußte trotz der von
der administrativen Behörde ertheilten Aufenthaltsbewilligung stehenden
Fußes aus dem Lande fort. Die Grenzen der verschiedenen Zweige der
Staatsverwaltung scheinen also selbst unter denen, die ihnen vorstehen,
streitig, und der böse Humor davon trifft den wehrlosen „Ausländer,"
der auf fremde Erde keinen Anspruch hat. Wie lange es wohl noch eine
hochgewichtige Frage sein wird, ob einem der stammverwandten Söhne
deutscher Länder, die sich die Großmächte zu einigen berufen finden, auch
außer den Planken seiner Heimath Luft zum Athmen und ein Bischen
Lich
— Dies ist das Wort so vom Herrn geschah zu Dahlmann, zur
Zeit da sie zu ihm sandten den Prof. Lohbauer und ihm ließen sagen:
zu streiten mit ihnen in der Geheimcnrathszeitung gegen Nebucadnezar
und die gesammte Opposition, die gegen Israel und die gesalbten Beam¬
ten kämpfet mit gefährlicher Macht. Dahlmann aber sprach zu den Ab¬
gesandten wie folgt: Verkünde den geheimen Räthen so dich geschickt, so
spricht der Herr durch mich: Siehe, ich will die Waffen zurückwenden,
die ihr in euren Händen habt, zu streiten wider die Chaldäer, welche euch
draußen belagert haben. Ich will wider euch streiten mit großem Zorn
Grimm und Unbarmherzigkeit. Denn so ward des Herrn Wort zu mir:
Wehe den tollen Propheten, die ihrem eigenen Geiste folgen und haben
doch nicht Gesichte. O Israel, deine Propheten sind wie die Füchse in
den Wüsten. Sie treten nicht vor die Lücken und machen sich nicht zur
Hürde um das Haus Israel. Sie sprechen, der Herr hat's gesagt, so
sie doch der Herr nicht gesandt hat, und mühen sich, daß sie ihre Dinge
erhalten; erhalten das Bestehende. Unter Bestehendem wird aber sicher¬
lich nicht verstanden, was am 27. d.J., wo ihr das Zeitungsprogramm gegen
die Chaldäer unterschrieben, bestand, sondern Alles, was, wenn Recht und
Treue und die wesentliche Wohlfahrt des Ganzen gefördert werden soll, bei
uns genesen, oder wenn unterdrückt, zum Wiederaufstehen gerufen werden muß.
Und weiter sprach der Herr zu Dahlmann: Du Menschenkind, sage den
Aeltesten Israels und sprich zu ihnen: Was treibt ihr unter euch im
Lande dies Sprichwort: die Vater haben Herlinge gegessen und den Kindern
sind die Zähne davon stumpf geworden ? Was sprechen sie in ihrem Dünkel:
fortan sollen die letzten und höchsten Fragen des menschlichen Gemüths
nach Gott und göttlichen Dingen nicht mehr theoretisch durch die Philo¬
sophie, vielmehr durch die lebendige Theologie entschieden werden ? So wahr
als ich lebe, spricht der Herr Herr, solch Sprichwort soll nicht mehr unter euch
gehen in Israel. Wenn nur Einer fromm ist, der recht und wohl thut, der
seine Augen nicht aufhebt zu den Götzen, und seines Nächsten Weib nicht be¬
flecket; der Niemand beschädigt, der dem Schuldner sein Pfand wieder¬
gibt, der Niemand etwas mit Gewalt wegnimmt, der nicht wuchert,
der Niemanden übersetzt (mit Ausnahme Eugene Sue's und Alexan¬
der Dumas), der zwischen den Leuten Recht urtheilt, der dem
Hungrigen sein Brod mittheilt und den Nackenden kleidet, der ist ein
frommer Mann, spricht der Herr. Allein in einem völligen Gegensatze
zu dieser Innerlichkeit sehe ich die Kirchlichen des neuen Stempels auf¬
treten; ihnen kann es nirgends zu bewegt und unruhig sein, Lein noch
so hoher, gebietender Stand in dieser rauschenden Wirklichkeit, den sie
nicht einzunehmen willig und beeifert wären. Ich fürchte, daß das letzte
Menschenalter die lange Liste der Gebrechen unserer bürgerlichen Gesell¬
schaft mit zwei Lastern der schlimmsten Art vermehrt hat: mit Heuche¬
lei und Leichtfertigkeit in Glaubenssachen. — So sprach der Prophet
Dahlmann in der Stadt Bonn am linken Rheinufer. Und alles Volk
horcht der Worte des Propheten und glaubet an ihn.
UnsereMitarbeiter und Freunde werden ersucht, Briefe
und sonstige Einsendungen nach wie vor an die Verlags¬
handlung F. L. Herbig oder an die Redaction der Grenz¬
boten nach Leipzig zu adressiren.
Druckfehler. Durch einen unangenehmen Zufall sind im vorigen Hefte die
letzten anderthalb Seiten nicht zur zweiten Correctur gekommen, wodurch mehrere
sinnentstellende Druckfehler sich einscdlichen: Fr-unde statt Feinde, Declamation
statt Reclamation, Guhnaucr statt Guhrauer u. s. w.
Sauer war schon seit acht Tagen die Arbeit gewesen; Tag und
Nacht ward uns keine Ruhe vergönnt. Bald gab es Dieses, bald
Jenes. Der Posten war vielleicht einer der strengsten, aber eben da¬
durch einer der ausgezeichnetsten und angenehmsten im ganzen Gebirge.
Er stand unter der Leitung des Oberjägers und Viceführers Hader,
eines Mannes, der ganz für sein Fach geboren zu sein schien. „Macht
Euch'ö bequem", sprach er, „nach der Arbeit ist gut ruhen; morgen
hoffentlich geht es wieder von Neuem an." Wir ließen uns dies nicht
zweimal sagen. Fast Jeder entkleidete sich bis auf Unterhose und Hemd,
wie es in Ungarn Sitte ist, und ging seinem eigenen Willen nach.
Es war grade ein angenehmer Sommerabend. Die ganze Gegend,
von einem Zauberschleier umflossen, athmete Wonne. Dies erquickte
selbst die rohesten Seelen. Jeder hoffte und wünschte, es mochte un¬
gestört und ungetrübt der köstliche Abend und die noch köstlichere Nacht
vorübergehen; denn Ruhe und Schlaf gehörig zu würdigen, vermag
nur Jener, welcher beide so vielfach und auf so mühsame Weise ent¬
behren muß. Deshalb sehnten wir uns auch nach einiger unschuldi¬
gen Erholung oder Beschäftigung, die gern an die Stelle der erstern
tritt. Wer ein Liebchen hatte, besuchte es; wer den Anblick der unter¬
gehenden Sonn" genießen wollte, erstieg den nächsten Hügel; wer das
Gasthaus liebte, o.gab sich dort hin. Der Eine fischte, der Andere
arbeitete, und die Mehrzahl streckte ihre matten Glieder vor der Ka¬
serne im weichen grünen Rasen. So verfolgte ein Jeder die Freude
seines Herzens-
Der Ort, wo unsere Kaserne stand, liegt am Ausgange der stei-
nschen und österreichischen Alpen, gegen das ungarische Flachland zu.
Der sogenannte Scheeberg, ein imposanter Anblick von nah und fern,
bildet völlig die letzte Alpenspitze. Von dort an, gegen Osten, verliert
sich immer mehr und mehr die Bergeshöhe. Die Gebirge werden zu
Hügeln, und diese endlich zur völligen Fläche. Kreuz und quer ziehen
sich die Krümmungen der mannichfaltigsten Thäler. Letztere sind sehr
enge und häufig mit Waldungen bekleidet. Die Anhöhen werden am
meisten bebaut und sind gewöhnlich mit Dörfern, selbst mit Märkten
besetzt, aber auch die Thäler nicht unbewohnt. Es gibt deren beson-
ders zwei, welche die Hauptthäler bilden und von Heerstraßen durch¬
zogen werden, deren die eine nach Steiermark, die andere nach Gnus
in Ungarn führt. An der letztern, zwei Stunden von der Grenze, lag
sah..., und eben daselbst, außerhalb des Dorfes, unsere Kaserne. Ein
Wildbach, über den ein Steg führte, trennte sie von der Straße.
Leidenfroh war eben ausgegangen, in diesem Wasser mit der An¬
gel Forellen zu fischen, — eine Beschäftigung, die seine Freude aus¬
machte. Er hatte darin viele Gewandtheit und Kenntniß; sein uner¬
müdlicher Fleiß wurde aber auch jederzeit durch reichlichen Fang be¬
lohnt. Uebrigens war er ein seltsamer Kauz ; ich ehrte ihn lange als
meinen Liebling, bis sich endlich, einige Tage bevor ich von diesem
Grenzwachleben auf immer Abschied nahm, durch eine seltsame Bege¬
benheit meine Zuneigung zu ihm sehr verminderte.
Wir saßen nämlich, es war Ende Januars, in der Kaserne; der
Oberjäger Kranowetter hatte sich auf ein Bett gelagert und warf sein
Feuerzeug und einige Scheidemünzen, die ihn in der Tasche genirten,
in eine über seinem Kopfe hängende Guitarre. Nachdem er ausge¬
ruht hatte, wollte er diese Habseligkeiten aus dem Instrument heraus¬
nehmen; es gelang ihm jedoch nicht sogleich und ich bot mich an, es
zu versuchen. Ich that eS und siehe! drei Fünfgulden-Banknoten fielen
heraus. Nun wollte Niemand Besitzer dieses Reichthums sein. Die
Guitarre hatte Leidenfroh von einem Einnehmer entlehnt; aber auch
dieser sagte, ihm gehöre das Geld nicht. Nun gerieth Leidenfroh's
Seele in Empörung. Ich machte den Vorschlag, wir sollten den ge¬
fundenen Schatz gleichmäßig unier uns Drei vertheilen, aber Leidenfroh
sagte: „Nein!" Das Geld, behauptete er, sei ein Geschenk von schwar¬
zem ; ihn habe man dadurch bestechen oder gar dadurch verdächtig ma¬
chen wollen. Ich oder Kranowetter hätten es heimlich in sein In¬
strument gelegt, um ihn öffentlich anzuklagen und zu stürzen; dieser
gehässige Vorwurf ärgerte auch mich. Mochte Kranowetter in einer
oder der andern Beziehung sich manches Verdachtes schuldig gemacht ha-
ben, so war ich doch rein, und beschloß, nach Leidenfroh's Willen, die
Sache höhern Orts anzuzeigen. Dies geschah; kein Mensch konnte
daraus klug werden. Leidenfroh geriet!) in Wuth, schmähte und schimpfte
ohne Maß und Ziel und sagte mir die Freundschaft auf ewig auf.
Das that mir wehe, um so mehr, da ich ihn als einen ehrlichen Kerl
in manchen Stücken schon längst liebgewonnen hatte und er mir erst
jüngst eilt Stammblatt schrieb, worin es hieß: die Flüsse müßten eher
rückwärts gehen und Wölfe sich mit Lämmern galten, als daß meine
Freundschaft zu dir sich ändert.
So war dieser Mann beschaffen. Seine Liebe und sein Haß wa¬
ren gewöhnlich grenzenlos; von einem Aeußersten konnte er auf das
Andere leichter Dinge überspringen; von Schonung, Achtung und Ehr¬
furcht wußte er dann nichts und wollte auch, trotz aller Zureden, nichts
Wissen. Seinen Feind ganz vernichten, mit Verlust alles eignen Glü¬
ckes, und seinen Freund rücksichtslos gegen alle Anfechtungen verthei¬
digen, mochte es billig sein oder nicht, dies war des Mannes trotziger
Sinn. Bedeutende Talente und Seelenkraft, im Großen zu wirken,
hatte an ihm die Natur nutzlos verschwendet. Er war schon Vieles
gewesen, aber nie lange.
Während dieser Kamerad fischte und allmälig aus unsern Altgen
in der Tiefe des Thales verschwand, ließ sich Toni am Hügel, der
Kaserne gegenüber, auf der Flöte hören. Dieser, der Sohn eines
Schullehrers, hatte sich selbst schon diesem Fache gewidmet; er kam
später zur Grenzwache, machte aber keine Fortschritte. Declamiren war
seine Leidenschaft, aber so gut er sein Gedächtniß geübt hatte, so schlecht
war der Vortrag; die Flöte spielte er hübsch, doch nur wenige Stücke.
Ihn ein oder das andere Mal in müßigen Stunden, wenn eine lang
verhaltene Sehnsucht die Seele überschlich, zu hören, war sehr ange¬
nehm; sein Spiel, einfach, ohne Künstelei, ergriff das Gemüth, beson¬
ders aus der Ferne vernommen, wo die schmelzenden Töne, vom sanf¬
ten Rauschen des Baches nicht übertäubt, herüberklangen.
Die Mehrzahl, wie gesagt, hatte sich vor der Kaserne gelagert,
schmauchte ruhig ihr Pfeifchen, dachte wenig oder gar nichts und drehte
sich bald auf diese, bald auf jene Seite, je nachdem es die Umstände
und die Bequemlichkeit erforderten. Frau Hader ging mit der Schnaps-
flasche herum und credenzte Jedem sein Gläschen. Dieses wurde ent¬
weder auf den Tisch, der im Freien angebracht war, oder in das Gras,
wo man sich gelagert hatte, hingestellt.
In besonderer Weise waren in der Gesellschaft nur Wenige be-
schästigt, darunter Zanke und Hans. Ersterer, gewöhnlich Powidal
oder Schnapsbruder genannt, hatte noch für zwei Seidel seines Lieb¬
lingsgetränks zwei Gewehre zu putzen übernommen. Das war sein
gewöhnlicher Nebenverdienst. Er hatte früher bei dem Räketencorps
gedient und wußte mit der Armatur trefflich umzugehen. So kläglich
auch seine Beine aussahen, hatte er doch Kraft und Behendigkeit in
den Armen. Er bewegte sich nur langsam von einer Stelle zur an-
dern und hatte den ganzen Tag für sich zu brummen; doch laut sprach
er wenig und dieses in einem gebrochenen böhmisch-deutschen Dialekte,
den ich seit Jahren fast wieder vergessen habe und nachzuahmen nicht
im Stande bin. Bevor er zur Arbeit ging, setzte er sich jedesmal auf
eine Bank, rollte einen großen, schmuzigen Leinwandfleck auseinander,
der sein Tabaksbehälter war, suchte sich die größten und schönsten
Stücke, die sehr fest und zollbreit geschnitten waren, heraus, drehte ei¬
nes derselben fünf bis zehn Mal zwischen den Fingern herum und
steckte es endlich, mit einer ganz eignen Bewegung der Hände, in den
Mund, wo er es zwischen Zähnen und Backen sehr niedlich anbrachte.
Es schien jederzeit, als trüge er auf der einen Seite des Gesichts nicht
eine geschwollene Wange, nein! sondern einen tüchtigen Sack mit Zwan¬
zigern, deren Gewicht allmälig das Fleisch schlaff machte und herab¬
zog. War dies geschehen, so packte er seine sieben Sachen wieder zu¬
sammen, trug sie langsam in eine wohlverriegelte Kiste, schob dieselbe
unter das Bett und schickte sich an, seine Aufgabe zu lösen. Er er¬
griff das bestimmte Gewehr, und kaum hatte er die Capuzinerschranbe
oder den Ladestock aus demselben herausgezogen, so rief er auch schon
dem betreffenden Besitzer des Gewehres zu, daß er beginne. „Fangte
ich jetzt an, Herr Oberjä'gerin", sagte er immer sehr langsam und mit
milder Stimme, „wo isle mein Glas?" Er meinte den versprochenen
Schnaps und wurde öfters allsogleich grob, wenn das Glas nicht
schon gefüllt dastand. So war er denn auch jetzt eben damit beschäf¬
tigt, einen Lauf glühend zu reiben, um das geringste Fleckchen zu ver¬
tilgen und Spiegelglanz am Stahle hervorzubringen. Er hatte aber
den Lohn seiner Arbeit bereits gut ausgehoben und dachte wieder dar¬
an, wie es nicht mehr lange währen werde, daß er auch die andere
Hälfte für das zweite Gewehr zu sich nehmen könne. Da schielte er
denn ziemlich oft, mit einer Art Wollust, nach der gefüllten großen
Flasche, die auf dem Tische stand, konnte das sehnsüchtige Auge, wie
verzaubert, vom geliebten Gegenstande kaum abwenden und leckte mit
der Zunge die Lippen, nicht unähnlich einem Alpenstiere, welchem ein
junges, schönes Mutterkalb entgegen gesprungen kommt. „O wollte
ich," brummte er dann, „wäre ich die Flasche Schnaps, könnte trin¬
ken immer viel und satt."
Ihm gegenüber beschäftigte sich Hans Ehrlich, ein Tischler seines
Handwerks, mit dein Zusammenflicken eines alten Schreines für die
Frau Oberjägerin. Auch dieser freute sich im Voraus auf ihre freund¬
schaftliche Erkenntlichkeit, welche in Schnaps und Brod, mit Schweine¬
fett beschmiert und je nach Verdienst, aus größern oder geringern Por¬
tionen bestand. Hans ist mir einer der liebsten Jäger; er ist von mitt¬
lern!, untersetztem, starkknochigen Wuchs. Sein kleines Auge blickte
ehrlich und treuherzig aus dem Vollmondsgesichte. Zimmerte er, sang er ein
Liedchen, um sich zur Arbeit aufzumuntern ; Stimme und Vortrag wa¬
ren nicht die schönsten, desto hübscher aber der Inhalt. Er spiegelte
des Mannes Herz und Seele ab; übrigens bestand das Lied nur aus
Knittelversen, doch aus guter, alter deutscher Zeit und mit Zunftgeist
verfaßt.
Eine andere Gruppe bildete der Commandant mit dem jungen
Tvroler, unter diesem Namen war ich allenthalben bekannt; wir saßen
auf einer hölzernen Bank, lehnten uns an die Mauer der Kaserne und
hatten das kleine Tischchen vor uns. Wie die Mehrzahl, schmauchten
auch wir, das war unsere größte Leidenschaft; Tag und Nacht wurde
diese Unterhaltung fortgesetzt und mit der großen, hölzernen, tüchtig
mit Messing beschlagenen Pfeife schliefen wir selbst ein. Gefahr war
nicht zu fürchten, denn diese Dampfkessel waren wohlverschlossen, und
weil mit etwas la'ngern Röhren versehe,,, die über das Bett hinaus-
reichten, sielen sie gewöhnlich, sobald wir eingeschlafen waren, auf den
Boden hinab. Unsere mit köstlichem Militairtabak vollgepfropften un¬
garischen Bocksbeutel lagen auf dem Tisch, sammt einigen Dienstschrif¬
ten, die wir eben durchgegangen, aber bei Seite gelegt hatten, weil
wir im Verlaufe des Gesprächs auf die Kriegsbegebenheiten aus den
letzten Zeiten des französischen Kaiserreichs zu reden gekommen waren.
Dergleichen Unterhaltungen gingen mir über Alles. Leider hatte ich
nicht Muße, die Aussagen dieser alten Krieger aufzuzeichnen und das
Meiste entschwand mir aus dem Gedächtnisse. Allein an Manches er¬
innere ich mich noch gar wohl und immer mit Freude, denn unterge¬
ordnete Soldaten haben ihre ganz eigenthümlichen Ansichten von Krieg
und Schlachten; vor ihrer Seele schwebt nnr das Einzelne. Dieses
haben sie selbst erlebt, vom großen Ganzen aber besitzen sie nur dunkle
oder fast gar keine Ideen; sie loben häufig, wo der Geschichtschreiber
tadelt, und tadeln, wo jener entschuldigt oder gar lobt. Warum aber
Krieg geführt wird, das wissen die Wenigsten; ihr Wunsch ist nur
Krieg und abermals Krieg, und selbst in den ältesten Tagen, mag es
ihnen auch nicht gar unangenehm ergehen, erhält sich in ihnen ein
ewiges Sehnen nach der Blüthezeit der Jugend und Mannheit, wo
sie die Freuden deö gefährlichen Lebens in vollen Zügen genossen hatten.
Ein solcher Mann war Hader. Er konnte sein Regiment und
sein Leben daselbst nie vergessen; Kürassier-Wachtmeister war er gewe-
sen, hatte die deutschen Freiheitskriege mitgemacht und wurde später
Tabakaufseher, weil er in der unbehaglichen Zeit des Friedens wenig
Aussicht auf Beförderung, in dieser neuen Sphäre aber durch die Gunst
eines nahen Verwandten für sich und seine Familie mehr Hoffnungen
emporzukommen hatte. Zum Theil wurde er nicht getäuscht; er beklei¬
det jetzt mit Ansehn und allgemein geachtet ein höheres Amt.
Hader wareinc große rüstigeFigur; in seiner ersten Jugend schon Sol¬
dat, hatte er die verschiedensten Heereszüge mitgemacht; überall hin ward er
von seiner Gattin begleitet. Sie lebte als Marketenderin im Heere, ritt
ihr Roß wie ein Husar, und so sehr sie schon das Alter überfiel, glich
ihr doch nicht sobald eine Zweite an Lebendigkeit, Arbeitslust und fri¬
schem Lebenssinn.
So beschäftigten wir uns, ein Jeder auf seine Weise. Hader's
Töchterchen saß zu den Füßen des Waters, reinigte und bereitete
Waldschwämme, aus denen die Mutter für die Mannschaft eine köst¬
liche Abendsuppe zu kochen Willens war. Die liebe Kleine blickte alle
Augenblicke mit ihren Taubenäuglein bald zum Vater, bald zu mir
hinauf und fragte um den Namen jedes dieser Gewächse; denn aller-
lei Arten, wie sie Janko auf der Patrouille unter die Hände gekom¬
men waren, lagen übereinander geschichtet. Nelli, so hieß die Kleine,
war. schmächtig, wie ihre Mutter. Ihr Gesichtchen glich dem eines
Engels, wenn Engel Sommersprossen hätten. Ich hatte das zehnjährige
Mädchen außerordentlich lieb, denn es schmiegte sich und schmeichelte wie
ein Kätzchen.
Plötzlich rief Nelli - „Vater, wer ist das?" Wir drehren uns
und sahen eine fremde Patrouille, die auf uns zu kam. Ein schöner
junger Mann, mit römischer Imperatoren-Miene, ging raschen Schrit¬
tes der Kaserne zu und zwar mit einem Anstand, wie man ihn beim
beschwerlichen Grenzwachleben, wenn es Einer erst länger mitgemacht,
selten findet. Hinter ihm hinkte ein älterer Mann, etwas gemächlich,
aber auch Schritt haltend, an einem Haselstocke, ähnlich einem Bilde
des heiligen Alfons von Liguori, wie ich eS einmal sah, ließ er, den
Rücken, wie eine Katze auf der Lauer, emporgehoben, ziemlich falsche
Blicke, so schien es mir, rechts und links sehr schlau herumspielen.
Er brauchte nur einen Moment, und hatte Alles übersehen. Dann
schloß er gewöhnlich die Augen, runzelte die Stirn und spähte von
Neuem. Dieser Mann hatte schon seit Jahren, als Halbinvalide eines
Regiments, an der Grenze beim Aufseherpersonale, als ein militairi-
scher Gehülfe gedient, war bei Errichtung des Corps zur Grenzwache
übergetreten und galt für einen im Dienste allenthalben verschmitzten
und verschlagenen Kopf. Ich und überhaupt Niemand, der ihn zum
ersten Male sah, konnte ihn liebgewinnen.
Nachdem der junge schöne Mann, er hieß Camill, Rapport abge¬
legt und seine Papiere überreicht hatte, machten sich'S Beide, Jeder
auf seine Weise, bequem. Camill entledigte sich der Waffen und sandte
nach einem guten Glas Wein und Schinken in das nächste Gasthaus
des Dorfes.
Czernek, so hieß der Andere, setzte sich in seinem ganzen Schmuck,
das Gewehr beim Fuß, an den Eingang der Kaserne, trocknete den
Schweiß vom Angesicht, blickte rings um sich und lächelte, ich kann
nicht sagen in den Bart, denn er hatte keinen, aber er lächelte denn
doch auf ähnliche Weise. Lange schwieg er; endlich löste sich die
Zunge, und er sprach mit rascher Stimme, aber sich fortwährend durch
längere Pausen unterbrechend: „Da geht es ja ganz wohlgemut!) zu!
^- Immer Geld und Schnaps vollauf! — Unsereinem trägt's der
Beutel nicht! — Angenehm ist's auf dem Rasen zu liegen!"--
Dann schwieg er gänzlich, zog endlich ein kleines Säckchen von Lin¬
nen, in dem ein paar Zwanziger und einige Scheidemünzen lagen, her¬
vor, suchte nach langer Auswahl ein Groschenstück heraus, legte es
vor sich hin, schob das fest zugebundene Säckchen wieder ein, stand
auf, holte sich Wasser, nahm ein Stück altgebackeneö Schwarzbrod aus
der Tasche und schickte sich an, es mit Muße zu verzehren. So saß
er einige Zeit, beobachtete sämmtliche Gesellschaft, rief der Frau und
ließ sich ein Gläschen geben, mit der Bemerkung: „Geht das Wirths¬
geschäfte gut?" Drauf verkostete er das Getränk und sagte: „Ich
habe zu Haus 'nen bessern." „Du bist der ewige alte Brummbär",
erwiderte Frau Hader. „Thut Noth", war seine Antwort.
Der Commandant hatte sich unterdessen in sein Bureau, das auch
zugleich Wohn-, Gesellschaft- und Schlafstube war, zurückgezogen,
um einige amtliche Schreibereien abzuthun; Camill aber sich mit mir
in lateinischer Sprache zu unterhalten begonnen, denn er hatte erfah¬
ren, daß ich Studio gewesen. Nach kurzen Complimenten kamen wir
alsbald auf die Literatur. Mir war dergleichen Unterhaltung sehr
unlieb; denn da mir früher stets die Gelegenheit zu mündlichen Sprach¬
übungen im Latein gemangelt hatte, ging ich znerst nur zaghaft an
das Werk, während es ihm, wie ich gleich bemerkt hatte, ein Leichtes
war; doch bald war auch bei mir die Scheu überwunden. Geraume
Zeit spann sich das Gespräch fort und größtentheils fiel mir nur die
Rolle des Zuhörers zu, was mich vollends aus aller Verlegenheit
riß. Camill war ein leidenschaftlicher Verehrer des Demosthenes und
seiner Kunstgenossen aus Hellas, weniger achtete er die Lateiner, ob¬
wohl er den Cicero beinahe auch als tägliches Gebetbuch benutzte;
indessen war er ihm nichts mehr, als Gebetbuch, die Griechen aber
seine Bibel. Das Gespräch drehte sich, wie natürlich, um diese seine
Lieblingslectüre. Mich dauerte der Mann. Mit einer hohen Idee
von ,der eigenen Persönlichkeit, hatte er zur Grenzwache geschworen,
und sich in dem Wahn gewiegt, als müßte er in wenigen Monaten
Commissär werden. Darin täuschte er sich sehr. Er brachte es leider
nie weiter, als zu einem Oberjäger, welches glückliche Loos auch
ein Schusterlehrjunge mit nicht großer Beschwerde, wenn er nur einige
Fähigkeiten und unverdrossenen Diensteifer zeigt, gar bald erringen
kann, und nicht selten schon, ja noch mehr, errungen hat. Gelehrte
und Gebildete besitzen die dazu erforderlichen Eigenschaften entweder
nur im geringen Grade, oder, was meistens der Fall ist, gar nicht.
Camill würde ein tüchtiger Professor an einer höhern Lehranstalt ge¬
worden sein. Ich erinnerte ihn daran. „Ach Gott!" gab er zur Ant¬
wort, „es sind keine Aussichten; da muß mau Empfehlungen von Hö¬
hen Herrn haben und den Damen in Wien die niedlichen Hände zu
küssen verstehen. Das kann ich nicht, und lerne es nie. Hier sagt
es mir zu."
Die Unterhaltung wendete sich und wir kamen auf die Poesie.
Darin war ich bewanderter als er, selbst was die Alten betraf. Es
kam bald zum Declamiren. Da erschien Hader, und weil er nicht
Latein verstand, so wurde ich von ihm aufgefordert, aus der Urania
eine Stelle zum Besten zu geben. Das geschah. Ich holte das Buch,
nahm noch ein Glas Wein zu mir, wählte ein glückliches Thema,
sammelte indes und begann mit einer Begeisterung, wie sie nur der
Jugend eigen ist, bei der das erste Denken noch mehr Poesie ist.
Längst ist diese Periode der Entwicklung vorübergegangen und die vie-
im Jahre, welche zwischen Einst und Jetzt liegen, haben mannichfaltige
Veränderungen herbeigeführt und die Stufenfolgen höherer Bildung
erklimmen lassen, aber ich denke nur immer mit Wonne an die Tage
jenes geflügelten Lebens.
Es wohnten damals unser zwanzig Jäger in dieser Kaserne; die
Mehrzahl befand sich daheim, nur ein Paar waren im Dienste be¬
schäftigt. Der größte Theil bestand aus Naturmenschen, die nicht den
geringsten Anstrich von Bildung je bekommen hatten. Lauter Solda¬
ten und Handwerker, wenige verunglückte Studenten oder Beamte
ausgenommen, waren meine Schlafgenossen, und doch, so oft ich ein
Gedicht vortrug, es geschah selten, sammelten sich diese Barbaren um
mich und lauschten auf jedes meiner Worte in heiliger Stille. Der¬
gleichen Vorträge mußten ihnen, wie mich dünkt, für Predigten gel¬
ten ; denn der Gottesdienst wurde wohl höchst selten und das nur von
Einzelnen, wenn sie übermüßige Stunden hatten, besucht. Trug ich
aber aus der Urania, besonders dem Zweifler, eine Stelle vor, so war
ihnen seltsam wohl zu Muthe. Ich weiß, sie verstanden das Meiste
nicht, dennoch wurde ich von ihnen öfters aufgefordert, mein Amt als
Acteur zu verrichten. War dies vorüber, so nahten sich gewöhnlich
die Meisten mit einem Glas Schnaps, blickten mich freundlich und
wohlwollend an und ich mußte einem Jeden, nach seinem Verlangen,
Bescheid thun.
Während ich vorgelesen hatte, kam Leidenfroh daher, ein kurzer,
stämmiger Mann, mit schwarzem Schnurrbart und Augen, aus
denen Pfeile schössen, die Mütze schief auf den Kopf gedrückt,
mit einem kurzen Röckchen angethan, die Angelruthe und einen kleinen
Fischbehälter in der Rechten, die Tabakspfeife in der Linken haltend,
schrie er schon von Ferne mit volltönender Stimme, aus jedes Wort
den gehörigen Nachdruck legend, denn er war einst auch Schauspieler
gewesen: „Grüß dich Gott, Camill! Was Teufel, wie kommst du in
das Gebirge? Hat dich der Vitzliputzli auch zu den Rabenäsern in die
gotteslästerlichen Keuschen verzaubert? Was Teufel! du hast ja Geld
aus der Ebene mitgebracht? Ich bin immer der Alte, hab'heute nichts,
hab' morgen nichts. Stoß einmal an, Bruder! Bist du bei uns po-
stirt? — Also nicht? Mußt du schnell wieder fort? Ich habe da so
kleine Teufel die schwere Menge, die müssen noch heute verschnabulirt
werden. Bist eingeladen; Tvroler, du auch. Frau Oberjägerin, Feuer
auf den Herd und Wasser in das Kastrol, ich habe der kleinen Spitz¬
buben die Menge. Hat mir manche Angel gekostet! Wie die Patrone
gezappelt und gearbeitet habe,,, als tanzten sie am Galgen in der Lust
zwischen Himmel und Erde. Habe meine Freude daran, ihnen die
Köpfe zu zerschlagen; das ist unser Exercitium, wenn's nicht auf die
Rabenäser losgeht. Auf unserer Station solltest du stehen, da wür¬
dest du den Dienst kennen lernen; hier bekommt man erst einen Be¬
griff davon. Kreuzschwere Noth, habe schon manchen Strauß in den
böhmischen Wäldern mitgemacht, aber Alles war nur Bubenspiel im
Vergleich mit dem Mordio der Gegenwart."
Camill mußte ihm einige Neuigkeiten erzählen, wie es nämlich in
der Ebene zugehe, denn er war erst aus dem Flachlande angekommen.
Da erkundigte er sich unter Anderm, ob Guam schon eingerückt sei?
„Was Teufel und alle Mordio!" schrie Leidenfroh, drehte den Schnur¬
bart und stellte sich in Position. „He, Jäger, habt ihr's gehört? Der
PolakI Hol' mich der Kukuk, heute noch bringe ich von dem Markt
eine Guitarre, der soll uns vorsingen und vorspielen, daß alle Dirnen
in der ganzen Gegend verrückt werden. Das Aas hat gewiß einen
Höllcnrausch, wenn er einrückt. Ich stelle mir das ganze Tableau vor,
wenn wir ihn werden, wie einen todten Hund, auf's Bett schleppen
müssen. Hat es immer so gemacht; kann's nicht lassen; ist sonst ein
braver, tüchtiger Kerl; hab' ihn lieb, wie mein Auge; er läßt die
Zwanziger fliegen und genirt sich nicht und knickert nicht."
Kaum hatte er dies gesagt, so erklang auch schon aus der Ferne
Jauchzen und Freudengeschrei und immer näher rollte ein Wagen mit
Jägern besetzt. Am Steg hielten sie still, sprangen Alle herab und
unter Gelächter, Fluchen und Wirrwarr hoben sie endlich eine, in einen
grünen Rock gehüllte, mit einem Czako bedeckte kleine menschliche Figur
hervor, die so dick als lang war, stellten sie auf die Füße und brach¬
ten sie über den Steg bis vor die Kaserne, wo der Commandant ihnen
entgegentrat. „Kreuzsapperment!" schrie einer von dieser saubern Gesell¬
schaft, Namens Jenner, der wackelnden Statue in das Ohr; „Guam,
nimm dich zusammen; das ist der Herr Commandant, melde dich;
stehe fest! sei ein Mann!" „Werft die Bestie in's Wasser, daß sie zur
Vernunft kommt," sagte Camill's Begleiter; „das sind mir Dienst¬
männer; auf diese kann man Hoffnungen bauen." „Hatte halt 'nen
Rausch," erwiderte Janko kaltblütig; „wollte ich sein Geld haben;
kannte schon. Guam, haben mitsammen Bruderschaften getrunken."
Mit diesen Worten ging er auf Guam zu, griff nach seiner .Hand,
setzte den Mund an dessen Ohr und rief ihm hinein: „Polak, kennte
mich? — alten Janko? Soll ich lassen bringen Schnaps?"
Aber Guam gab wenig Zeichen von Leben und Vernunft. Aus
dem kugelrunden, aufgedunsenen Gesicht, das ein kohlrabenschwarzer
dichter Schnurbart auszeichnete, stierte gläsern das Auge den Com¬
mandanten an; Hände und Füße ließ er sinken und die Lippen mach¬
ten einige Male eine Bewegung, als wollte er, wie Einer, der vom
Schlage getroffen worden, Worte stammeln.
Der Commandant erkundigte sich, nachdem er die werthe Persön¬
lichkeit des Ankömmlings sattsam betrachtet hatte, wer er sei, wohin
er postirt werde und anderes mehr. Jenner gab Auskunft, schrie den
Betrunkenen noch ein Mal mit den Worten an: „He, Kreuzkopf, „wo
hast du deine Empfehlungsschreiben?" aber Niemand erhielt Antwort.
Von seinen Kameraden unterstützt schwebte er noch immer, wie der
hölzerne Hanswurst einer Marionettenbude, in der alten Stellung,
gleichsam über der Erde. Jenner öffnete nun Guam'ö Brusttasche,
zog das Portefeuille heraus und aus diesem das fragliche Schreiben.
Der liebe Junge wurde erpedirt, um sich auszuschlafen, und Hader
eröffnete den wohlversiegelten Brief des Herrn Obertommissärs, dessen
Inhalt kurz, aber desto gehaltvoller war. Der Ueberbringer sei aus
gutem Hause, hieß es darin, besitze nicht unansehnliches Vermögen und
viele Bildung, sei Pharmaceut, aber dem Trunke äußerst ergeben. Er
stehe unter strengster Aufsicht und müsse gebessert oder ausgestoßen
werden.
Camill, der an dem Spiele sich übersatt gesehen hatte und dessen
Ruhezeit schon abgelaufen war, trat mit Czernek wieder den Rückweg
um. Ich begleitete ihn, überließ die Gesellschaft sich selbst und war
froh, den Rücken gewendet zu haben. Wäre Guam ein Barbar, wie
Viele bei der Grenzwache, ich würde gleichgiltiger geblieben sein; so
aber ging es mir und jedem Edelgesinnten tief zu Herzen.
Wir hatten grade den Hügel erstiegen, wo ich von Camill schei¬
den mußte, und bald war dieser im dunkeln Walde verschwunden. —
ES war schon Nacht, wenige Sterne ließen sich blicken, der Himmel
war heiter, hell die Abendseite. — Da rauschte plötzlich das Lied:
„Lützow's wilde Jagd" aus der Kaserne. Ein Grenzjäger hatte den
Tert für unser Corps umgemodelt oder vielmehr travestirt. Ich sprang
die Anhöhe hinunter und im Nu war ich bei der lustigen Gesellschaft.
Da ging es ganz fidel zu und auf dem Fuße der Ehre, was diese
Halbwilden darunter verstehen. Ich mischte mich also unter die lusti¬
gen Käuze und fand, daß die ganze Reisegesellschaft Guam's sich hier
einquartiert hatte, um morgen von da, ein Jeder nach seiner neuen
Station, abgehen zu können. Kaum war ich eingetreten, so erklang
auch schon ein Lebehoch und die Schnapsgläser zum Zutrinken glänz¬
ten mir entgegen. Ich that Bescheid und nahm Platz.
Unsere Gaststube war zugleich unser Schlafgemach. Gewöhnlich
sah jede Kaserne anders aus; man adoptirte das nächste beste Gebäude,
welches eine Gemeinde gegen gute Bezahlung losschlagen konnte und
wollte. Wo weniger Mannschaft postirt war, wurden größtenteils
alte Hanfhechelkammern dazu verwendet, denn etwas Anderes können
diese „Keuschen^ wohl nicht vorgestellt haben; wo aber viele Jäger
standen, besonders an Reserveposten, ein paar Stunden von der Grenze,
dort gab es auch herrlichere und bequemere Locale, ja sogar Schlösser
standen uns zu Gebot. Hier aber war es anders; man hatte ein
eigenes Gebäude, das blos aus einem Erdgeschoß bestand, erbaut.
Rechts am Eingang war das Wohnzimmer für den Commandanten,
links für die Oberjäger und Gemeinen. Letzteres war von ungeheurer
Größe, auf allen drei Seiten die Fenster angebracht und längs der¬
selben standen die Betten, ein langer Tisch aber in der Mitte. Die
Höhe des Zimmers betrug wenig mehr als die eines Mannes. Nun
denke man sich den Qualm von Rauchtabak, wenn man zur Winterszeit
hineintrat. Zum Glück hatten wir jetzt Hochsommer, aber dennoch
wogte der Nebel hin und her, daß es fast den Augen wehe that.
Der Tisch war mit Gläsern, Brod, Speck, Schweinschmalz und
Tabaksbeuteln zum Ueberfluß bedeckt. Die Augen der Mehrzahl
glänzten oder glotzten, Guam schnarchte auf dem Bette und Sipperl,
ont^ni das Fräulein, saß auf einem Bette und lächelte, indem er von
Zeit zu Zeit bald den rechten, bald den linken Fuß übereinanderschlug,
oder sich gar in einer Stellung, die man bei uns das Bockspannen
heißt, auf seinem niedlichen Bettchen wiegte. Wir andern lagen auf
kaiserlichem Grund und Boden, d. h. auf einem tüchtigen Strohsack;
er aber hatte ein Federbett ererbt und dieses überall mit sich herum¬
geschleppt, um die zarten Gliedmaßen darauf ausruhen lassen zu kön¬
nen. —
Mich interessirte eine Guitarre, die unter der Zerstörung Jerusa¬
lems da lag. Ich erkundigte mich, wer spiele, und da hieß es, der
Werner. Er wurde alsogleich aufgefordert und ließ es sich nicht zwei
Mal sagen. Aber kaum hatte er die erste Sylbe eines Liedes ausge¬
sprochen, so sielen alle, welche gegenwärtig waren, ein, und zwar mit
einer solchen Gewalt, daß ich fürchtete, die Decke müsse herabstürzen.
Werner verlangte allein zu singen, die Andern wollten ihn durchaus
begleiten. „Kreuzelement," brach er jetzt los, „schweigt oder ich werfe
euch die Schnapsflasche in's Gesicht." „Wer will das thun?" schrie
Jenner. „Sing' oder laß bleiben. Frisch auf, Jäger," fügte er dann
hinzu, „ich will den Ton angeben: Ein freies Leben führen wir :c."
Nun schien guter Rath theuer zu sein; sobald die Räuber auf's Tapet
kamen, war es gewöhnlich nicht mehr weit zu ähnlichen Auftritten.
Der Anblick war beinahe räubermäßig. Der Eine halbentkleidet, den
Andere fast ganz, die Mehrzahl mit einem Antlitz, aus welchem Trotz
und Lebensverachtung sprach, saßen sie da in der Gluth halber oder
gänzlicher Berauschung, doch keiner so, daß er nicht der Sinne, soviel
möglich, noch mächtig gewesen wäre. Diesen Vortheil haben die
Grenzjäger, wenige ausgenommen, fast durchgängig. Die Gefahr des
Lebens und die Nothwendigkeit, jederzeit bereit zu sein, macht ihnen
diese Vorsicht zur andern Natur. Man gewöhnt sich etwas Nüchtern¬
heit im Rausche, so wie das Wachen im Schlafe an.
Die Zänkerei war mittlerweile eifriger geworden, Jeder hatte
Recht und Keiner wußte, was der Andere sprach. Ich griff nach der
Guitarre und versuchte einige Accorde, als plötzlich ü^er meinem Kopf
mit der lieblichen Begrüßung: „Hol' mich der Teufel, wenn ich dir
nicht den Schädel spalte," ein Säbel sauste, Jenner von der Bank
aufsprang, mit der Linken Gläser und Leuchter vom Tisch hinunterstieß
und auf Werner losging. „Reißt der Canaille den Säbel aus der
Hand," schrie Leidenfroh. Kaum gesagt, war's auch schon geschehen.
„Jenner, setze dich," befahl er weiter; „wo nicht, Patrouille heraus!"
Jenner gehorchte, blitzte den Werner an und schrie mit halbunterdrück¬
ter Wuth: „Das verdammte Hundsgesicht! Quäle zu deiner Zither,
wenn du allein quaken willst, wo es dir beliebt; hier nicht." „Bravo,
Jenner," sagte Leidenfroh; „Gehorsam ist das Erste; solche Jäger liebe
ich. Hans, gieb ihm den Säbel zurück."
„O Jemine!" brummte Janko, „hatte das Waffen Rost. Zahlte
ein HalbS Schnaps, will ich morgen putzen/'
In diesem Augenblicke trat eine fremde Patrouille in das Zim¬
mer, darunter war ein junges Bürschchen, ein Schneider seines Hand¬
werks, Rudolph mit Namen. Er war, wie die Männer sagen, ein
fideler Kamerad, schmächtig, klein, von schwarzen Haaren und Augen,
mit schwarzem Schnurbärtchen, die Gesichtsfarbe ziemlich gelb. Tan-
zend kam er in das Zimmer gesprungen, warf das Gewehr bei Seite,
drehte die Kappe und griff nach einem Glas. „Wer Courage hat,
lade scharf, heute gilt'S!" Dabei zog er einen Brief aus der Tasche
und fuhr fort: „Hier steht's schwarz auf weiß, unter kaiserlichem Sie¬
gel. Aus gut Glück!" Jetzt setzte er wieder ein Glas an. „Hol'
mich der Teufel, wenn'ö mich heute nicht wirft!"
„Gilt's den Rabenäsern?" fragte Leidenfroh.
„Ja wohl! so viel ich weiß, um drei Uhr Morgens oder etwas
später. Sollen Holzknechte sein, durch welche jüngst die Steiermärker
Jäger entmannt und gehenkt worden sind. War auch ein Schneider
dabei und der Tapferste von Allen; haben ihn nicht dran kriegen
können. Die Andern sind in Abrahams Schooß, der Schneider noch
beim Schnapsglas." Bei diesen Worten stülpte er den Schild der
Kappe in die Höhe und ließ sich's wieder munden.
„Tvroler, das geht dich an!" sagte Leidenfroh, „du hast die
Schüsse fallen hören."
„Allerdings! doch du weißt, daß ich durch Fluß und Fels getrennt
war und vom Unglück keine Ahnung hatte. Es freut mich, wenn die
Stunde der Vergeltung kommen sollte. Ist es wahr?"
„Schwarz auf weiß!" bestätigte Rudolph.
Ich begab mich mit dem Brief zum Commandanten, und es ver¬
hielt sich wirklich so. Alis Holzknechte sollten wir Jagd machen. Ein
gefährlich Spiel, denn gewöhnlich waren diese Leute Wilddiebe oder
Deserteurs, und wenn sie ihren Tabak aus Ungarn brachten, mit
Stutzern oder Aertcn mörderisch bewaffnet.
Ich theilte nun, im Auftrage des Commandanten, den Jägern
die Befehle mit, und neues Leben kam in die Gesellschaft. Keine Seele
dachte an Schlaf, Jeder kleidete sich an und rüstete die Waffen. In
kurzer Zeit stand Alles schmuck und blank da. Die Frau Oberjägerm
erschien und vertheilte Proviant und Labsal für den Weg; denn bei
dergleichen Gelegenheiten kehrten wir oft erst nach vierundzwanzig oder
sechsunddreißig Stunden zurück.
Kein Einziger war zu treffen, der nicht sein Gewehr genau un¬
tersuchte und von Neuem lud. Die Freude funkelte auf Aller Antlitz,
und wie durch elektrischen Schlag schien plötzlich die nüchternste Nüch¬
ternheit eingetreten zu sein. Es war, als sei gar nie getrunken und
gezecht worden. Es währte nicht lange, so erschienen noch andere Jäger
von fremden Posten in unserer Kaserne; die Zahl wurde endlich voll
und unter Anführung des Commandanten und Bezirksleiters Hader
zogen wir still und ernst aus, um unentdeckt und sobald als möglich
unser Ziel zu erreichen.
Hier ist Herbesthal, die belgisch-preußische Grenze, hier wird gehal¬
ten. Manchem Wanderer ist es wohl ein herbes Thal gewesen, von
Aachen bis hierher. Ich dachte an Heinzen, den wilden Mann, und an
den armen frommen Freiligrath. Wer scheidet gern vom Vaterland auf
Nimmerwiedersehen! Und wer kann ohne Herzklopfen an das Thor der
Fremde pochen! Wird sie ihn nicht zurückweisen? Belgien ist durch kein
Gesetz verbunden, jedem Fremdling seine Thür zu öffnen. Freilich hat
man noch kein Beispiel, daß die Landessitte eine Ausnahme gemacht
hatte, aber kann nicht eine diplomatische Note über Nacht . . . mein
Gott, ein Deutscher muß Alles für möglich halten! . . . Ich bin über¬
zeugt, mehr als ein Flüchtling halte solche Gedanken an der Grenze.
Der arme Deutsche! die Polizei ist seine Amme, seine Gouvernante,
seine Xantippe. Darum sieht er überall Polizcigcspenster, und in den
Urwäldern Amerika's greift er noch ängstlich an die Brusttasche, ob er
nicht den Hcimathschein verloren.
Meine Wenigkeit ist nun zwar kein Flüchtling, vielmehr ein Lust¬
reisender, der durchaus keinen Grund hat, Preußen zu fürchten. Aber
ganz rein war ich nicht. Meinem Paß fehlten ein paar kleine Visa's,
weil er abgelaufen war, und in der frommen Stadt Cöln hatte man
mir deshalb die Hölle nicht wenig heiß gemacht. Geben Sie Acht, Sie
werden Belgien sehen, aber von der Grenze, wie Moses das gelobte
Land; hinein kommen Sie nicht. So hieß es. Ich trat also doch mit
einer gewissen Spannung in die Herbesthaler Station. Mehrere Passa¬
giere tranken Bier; um meine Verlegenheit zu verbergen, ließ ich mir
ebenfalls ein Glas geben, nippte fortwährend und machte mir
am Schenktisch zu thun. Besonders genirte mich ein dicker Mann
in Uniform, der mich sirirte, wie ein Daguerreotyp, und um mich her¬
umging, wie ein Diplomat um die orientalische Frage. Ich machte es
wie Vogel Strauß und kehrte ihm muthig den Rücken. Allein plötz-
lich fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter. Nach Lüttich, mein
Herr? — Ja, sagte ich. — Haben Sie ... Ihr Billet? — Da. —
Allons fort! Und mit freundlicher Gewalt schob er mich in den Wagen.
5!ein vn^.ixv! rief die Polizei ihre Mützen schwenkend, und lustig flogen
wir weiter. Aber, wie ist das ? fragte ich meinen Nachbar, mit schlecht¬
verhehlter Freude und in übermüthigem Mißmuth. Werden hier nicht
die Pässe verificirt? — Wozu, mein Herr? Wir fahren ja nach Bel¬
gien. Nur wenn man hinaus, nach Preußen, will, wird gefragt. Ueb-
rigens, fuhr er fort, um mich gleichsam zu beruhigen, wenn Sie es
„verlangen," so kann es auch in Verviers geschehen. Sie dürfen es nur
dem Commissär sagen. Unsere Polizei ist sehr exact. —
Wir waren von Aachen um sechs Uhr aufgebrochen. Gelbliche, ge¬
zackte Wetterwolken standen am Himmel, und in der Ferne posaunte
der Donner. Dennoch hatten Viele den offenen Waggon bestiegen, der
pittoresken Aussicht wegen. Ich stand aufrecht und hielt das brennende
Gesicht dem frischen Wind entgegen; gierig schlürfte ich die balsamische
Abendluft, sie schien mir purer Sauerstoff, denn es war Luft der Frei¬
heit. Man mag mich auslachen, aber ich muß gestehen, der Gedanke,
zum ersten Mal im freiesten Land Europa's zu sein, versetzte mich in
eine Art EhaMpagnerrausch. Wie muß erst Dir zu Muthe sein, armer
Teufel! dachte ich mit einem Blick auf mein Vis-.^-ol«, einen kleinen
Mann in grauem Paletot und mit einem kläglichen Mopsgesicht, es war
ein russischer Arzt, der direct von Moskau kam. Wie finden Sie die
freie Luft hier zu Lande? fragte ich mit innerem Jubel. — Passabel,
ich habe den Schnupfen, sagte er, und das Mopsgesicht blinzelte wieder
gefühllos vor sich hin. Du hast nicht nur den Schnupfen, dacht' ich.
Dir sind alle Poren verstopft an Leib und Seele.
Man sieht, ich war im Rausch. Selbst das Pfeifen der Lona-mo-
tive klang mir melodischer als auf den deutschen Bahnen; die Wagen
rüttelten nicht, sondern trugen uns, sanftwiegend, wie Schlitten dahin.
Dies mag Sinnentäuschung gewesen sein. Aber gewiß keine Täuschung
war die fidele Freundlichkeit unserer Eonducteurs; und ich möchte sie al¬
len deutschen Post- und Eisenbahnbeamten zur Nachahmung empfehlen.
Die Grobheit des Deutschen entspringt freilich aus einer ehrwürdigen
Quelle. Er nimmt das Leben viel tiefer; er will seinen Nebenmenschen
erinnern, daß die Erde ein Jammerthal und das Leben eine harte Schule
ist. Diesem frommen Grundzug des deutschen Charakters ist es wohl
zuzuschreiben, daß bei uns sogar Conducteure und Nachtwächter sich häu¬
sig als Schul- und Kerkermeister des Publicums geberden. Auf dem
linken Rheinufer wird dieses patriarchalische Verhältniß schon um Vieles
schlaffer. Hier aber herrscht ganz der französische Ton. Dieses gottlose
Volt denkt nur daran, sich und Andern das Leben leicht zu machen.
So bemerkte ich, daß unsern Conducteurs alle büreaukratische Würde
fehlte; sie hatten keine Spur von einem Bewußtsein ihrer Stellung,
sondern rhaten, als wären sie nur da, uns zu dienen und zu amüsiren,
und nicht, um uns zu beaufsichtigen- Sie sangen und scherzten, hestu-
gen uns Feuer zur Cigarre, und wiesen auf die schönsten Punkte der
Umgegend hin. Mit einem Wort, sie machten die Honneurs von
Belgien.
Ich weiß nicht, wie oft das Posthorn klang, eh' wir nach Lüttich
kamen. Dieser Posthornklang ist buchstäblich zu nehmen. Nach jedem
Halt auf einer Station wird den Dampfrossen das Zeichen zur Weiter¬
fahrt mit einer Trompete gegeben, was lieblich im Vesderthal wider¬
hallte und wunderlich zum Kreischen der Maschine klang. Unsere Fahrt
glich unter den Blitzen am fernen Horizont, dem Rauschen des Abend¬
winds, dem Gesang und Lachen der wallonischen Frauen und Madchen,
die jetzt häufig aus- und einstiegen, den staunenden Ausrufungen der
Fremden, einem Fest- und Freudenzug. Grad nach der deutschen Seite
zu hat Belgien seine wallonischen Thore zu einer Triumphpforte ge¬
macht, die den überraschten Wanderer in ein Feenland zu führen scheint;
allein auch hier hat es alle Zauber seiner wunderbaren Industrie er¬
schöpft zwischen Aachen und Lüttich, wo die Eisenbahn ihre romantischen
Momente hat. Wer des Abends im Vesderthale stünde und sähe hoch
oben den Kampfwagen vorüberbrausen, müßte ihn einer Schlange mir
feurigem Bauch vergleichen, die bald unter, bald über der Erde und
bald durch die Luft' dahin schießt; bald verschwindet sie im Felsen des
Gebirges und kommt nach sechs Minuten in einer Entfernung von drei¬
viertel Stunden weiter heraus, um über die schlanken Pfeiler eines Via»
duces, hoch über den Dächern eines friedlichen Dörfchens, dahinzugleiten.
Die zahllosen Tunnels, die Viaducte und Brücken können sich den kühn¬
sten Römerwerken an die Seite stellen. Der Dampffahrer selbst bemerkt
nur manchmal, auf welch schwindelnden Stegen sein Fuhrwerk mit ihm
forteilt; sein Blick wird abgezogen durch das bunte Gemisch niedlicher
Landhäuser, idyllischer Dörflein in grünen Thalwinkeln, einsamer Hütten
und blitzender Flußkrümmungen, die tief unter ihm vorbeifliegen, wah¬
rend die bewaldeten Vergspitzen mit ihren Schlössern, Kirchen oder Thurm¬
trümmern ihm langer im Auge bleiben.
Wir kamen so spät nach Lüttich, daß wir von dem imposanten An¬
blick, den die alterthümliche Stadt von Guillemins aus gewährt, nur
eine dämmernde Erinnerung geblieben ist. Nur im Wetterleuchten
wurden auf einen Augenblick dann und wann die Thürme von Lüttich
sichtbar, jene finsteren Thürme, von denen so oft die Sturmglocke scholl
in den Kriegen zwischen den Bürgern und ihren souveränen Bischöfen.
Die guten Lütticher scheinen auch keine Sehnsucht nach solch geistlichem
Hofstaat zu empfinden. Vielmehr sind es die entschiedenen" Kämpfer ge¬
gen die „katholische Partei." Ob diese Stimmung in ihrer fürstbischöf¬
lichen Vorzeit wurzelt?! Wer kann dies sagen? Auch Cöln war einst
fürstbischöslich und ist doch immer noch strengkatholisch.
Die Erscheinungen in der Natur sind eine fortlaufende Symbolik,
in ihr findet Alles ein Sinnbild, ein Gegenbild; der Herbst, die Zeit des
Sammelns gereifter Früchte steht dem Vollbringen menschlicher Strebun¬
gen gegenüber, und so sei uns gegenwärtig diese Jahreszeit Veranlassung
zu einem achtsamen Rücksehen aus die Werde, welche die bildende Kunst
in jüngster Zeit unter uns, theils durch die hier vorhandenen künstleri¬
schen Kräfte erstehen ließ, theils bei der letzten öffentlichen Ausstellung
von Kunstwerken heimischer und auswärtiger Künstler zur Anschauung
führte.
Gedenken wir zunächst zweier plastischen Werke, welche die neuere
Kunst zu ihren edelsten Schöpfungen zählen wird; zuerst einer vom Bild¬
hauer Julius Hänel ausgeführten Statue Kaiser Karl's IV., welches
Denkmal Böhmen in dankbarer Pietät diesem verdienstvollen Herrscher
in Prag errichten laßt. Auf reichem, sinnvoll decorirten Piedestal steht
die l4 Fuß hohe Statue, auf dem Haupte die Krone, unter welcher das
ernste ausdrucksvolle Antlitz des Kaisers — der Künstler modellirte es
nach einem auf dem Carlstcin bewahrten Portrait — gebietend umschaut;
der Kaisermantel wallt in herrlichen Faltengebungcn über die Schultern
herab, das Schwert ist in die Seite geborgen, die Hand, die es sonst
führte, ist zu einem Friedensact erhoben, sie hält die Stiftungsurkunde
der Universität Prag, welche der Kaiser 1348 stiftete. Die Statue, de¬
ren Modell 40 Centner wiegt, ist gegenwärtig in Burgschmiets Atelier in
Nürnberg; der Guß, in Bronze ausgeführt, soll bei Gelegenheit der 5l>t>-
jahrigew Stiftungsfeier der Gründung der Universität Prag, 1848 auf
dem Kreuzherrenplatz daselbst aufgerichtet werden.
Das zweite dieser Werke ist eine Arbeit des Professors Rietschel;
es ist das Modell zu der neun Fuß hohen Statue Thaers, welche der
Künstler im Austrage deutscher Landwirthe ausführte und deren bronze¬
ner Abguß, welcher in Lauchhammer vollendet wird, eine Zierde Leipzigs
werden wird. Die Statue ist aufrecht, vorwärts schreitend dargestellt, die
Fußbekleidung die des Landmanns; in der linken Hand hält er ein Buch:
„Grundzüge der rationellen Landwirthschaft von Thaer", in der rechten
Hand, welche emporgehoben, ist der Ausdruck des Bekehrers, Erklären«,
vollkommen ausgesprochen; der Kopf ist nach einer Büste Wichmann's
modellirr, in dem bedeutenden Gesicht sind edle, wohlwollende Züge der
vorherrschende Ausdruck. Die meisterliche Ausführung in beiden Statuen,
die Klarheit ihrer Auffassung, sichern ihnen einen unbestrittenen Werth
unter den jetztzeitigen Kunstschöpfungen.
Von Werken der Malerkunst erwähnen wir diejenigen, welche wah¬
rend der Kunstausstellung einer allgemeinern Theilnahme sich erfreuten.
Im Gebiet des Portraits, für die Mehrzahl Besuchender der Ausstellun¬
gen ein anziehendes Feld, waren nur wenige, aber treffliche Bildnisse vor¬
handen; unter den mannlichen Portraits gedenken wir zweier Bildnisse
von Hrn. Vogel von Vögelst ein, eines vom Professor Hübner
und eines von Hildebrand in Düsseldorf, in welchen gleiche Vollen¬
dung wahrzunehmen, und welche durch meistcrvolle Ausführung und die
ausgesprochenste Aehnlichkeit allen Anforderungen genügten; nächst diesen
boten auch A. Grabt, Röling und Bary tüchtige männliche Por¬
traits. Von Winter halt er in Paris sahen wir ein ausgezeichnet weib¬
liches Bildniß ausgestellt, darin die Aufgabe, Natur und Ideal zu ver¬
schmelzen, auf das vollendetste gelöst war.
Im Fach derHistorie bot die Ausstellung manches Bedeutende; Theo-
bald von Oer gibt in Darstellung einer Scene aus dem sächsischen
Prinzcnraub, wo der aus Kunz von Kaufungcns Händen durch die Köh¬
ler gerettete Prinz in die Heimathburg zurückgeführt wird, ein Bild deut¬
scher Geschichte, deutscher Gesinnung und deutscher Empfindung. Das
Princip des Vorwärts Strebenden scheint der Grundgedanke, welchen
der Künstler in seinem Werke zur Anschauung führen wollte; das gerettete
Fürstenkind sitzt gesichert auf dem v or schreitenden Pferde und blickt lä¬
chelnd nach dem Kloster hin, nach welchem der neben ihm wandelnde
Abt Liborius hinzeigt und ihm ein Asyl bietet; alle Umgebende, die Freien
wie die Gefangenen, richten sich vorwärts, felbst der gefesselte Prin¬
zenräuber scheint in den festen, fast zu redlichen Zügen feines Angesichts
der Welt zuzurufen: Nur „Vorwärts, der Deutsche weiß sein
gut Recht zu gewinnen." Die verschiedenen Gruppen sind harmo¬
nisch zusammengestellt, in jedem Einzelnen der Dargestellten der entspre¬
chende Charakter ausgedrückt, und wie verschieden auch diese Charaktere
sein mögen, so ist das edel Rationelle des Deutschen in einem
Jeden sprechend ausgeprägt. Professor Peschels Gemälde: ,,Jakob
begegnet auf seiner Reise dem Zuge der Engel" ist vom Mini¬
ster Lindenau käuflich erworben worden und wird dem in Altenburg von
Lindenau gegründeten Museum ein reicher Schmuck werden. Ein Werk
voll tiefem Ernst und überwältigender Wahrheit bietet Jhlve in Frank¬
furt in dem großen Gemälde: die Gründung des Hospitals in Compiegne
durch Ludwig den Heiligen; der fromme König trägt mit Hilfe des Kö¬
nigs von Navarra einen Kranken die Stufen zum Hospital hinan, es
ist der erste Kranke, der in das neu erbaute Asyl gebracht wird; mit
gleicher Menschenfreundlichkeit sind mehrere Große des Reichs beschäftigt,
Kranke in Hie bestimmten Räume zu bringen; Mönche, Reisige, Frauen,
sind in ansprechenden Gruppen in dem künstlerisch reich componirter Bilde
vertheilt. Ein Eigenthum des Halleschen Kunstvereins: die lustigen Bauern
von Brackelaer in Antwerpen, sind würdige Verwandte der in diesem Genre
ausgeführten Werke älterer niederländischer Meister.
Professor Bendemann's „Hirt und Hirtin" ist ein von dem Zau¬
ber tief empfundener Poesie durchdrungenes Werk. Eine gleiche dichterische
Aufgabe löste befriedigend Prof. Hübner in dem heitern Cyklus „Amor
>n verschiedener Gestalt." Loths in München „Hirtin mit der weiden¬
den Heerde" ist ein liebliches Idyll. „Der Violinunterricht" vonEppe-
lin, „Die Fischerfamilie am Strande" von Ludwig Most, „Der ehr-
kick)e Schornsteinfegerknabe" von Niemann, „DieSvinnerin" von Geut-
ner, sind hübfchausgeführle Genrebilder; höher stehen Lorenz Fröh¬
lich's Arbeiten. „Amor und Wassernixe" ist ein Bild voll Lieb¬
reiz ; die Färbung und Formen der Gestalten erinnern an die besten al¬
tern Meister; ein kleineres Bildchen desselben Künstlers „Die fischenden
Kinder" bieten eine Fülle von Lieblichkeit und frischem Humor. Wenden
wir uns von diesen heitern Gaben wieder in das ernstere Gebiet der Hi¬
storie. Zwei größere Gemälde, beide Christus den Herrn darstellend, das
eine vom Prof. Bar, das andere vom Prof. Hühner, sind mit gro¬
ßem Fleiße behandelt, führten aber unsern Erinnerungen folgende Anek¬
dote aus Dannecker's Leben zurück- Der göttliche Meister war Dannecker
im Traume erschienen, er tragt die Idee einer 'Ausführung lange mit sich
herum, schafft nach besten Kräften, ohne sich zu genügen. Nach langer
Zeit ist das Bildwerk fertig, von Niemand noch gesehen in seiner Werk¬
statt aufgestellt, doch dünkt es dein Künstler noch sehr unvollkommen.
Da führt der Zufall ein neunjähriges Madchen in seine Werkstätte; das
unschuldige Kind mit den hellen geistvollen Augen soll entscheiden. „Wer
ist dies wohl?" — „O, unser Heiland!" — „Woher weißt du das?" —
„El, so sieht sonst Keiner, der ist einzig!" war die Antwort der
Kleinen und der Künstler getröstet. Ob das Kind bei ähnlicher Frage
über die erwähnten Christusbilder gleiche Antwort gegeben hätte, wagen
wir nicht zu entscheiden. >
Urichs in Braunschweig gibt in einem größern Bilde die Scene,
wo Kaiser Karl V. vor Luthers Grabe steht und Alba, der dessen Ge¬
beine ausgraben lassen will, gebietet, den Todten in Frieden ruhen zu
lassen; die Gestalt des Kaisers, der Ausdruck seines Gesichts, entspricht
seinem Charakter, ebenso charakteristisch ist der böswillige Alba darge¬
stellt; die Träger de« allein seligmachenden Kirche, Cardinäle, Bischöfe,
hat der Künstler mit zu grellen Farben überladen, desto anziehender die
lutherischen Kirchendiener, die gramersüllt nach dem frevelnden Vorhaben
hinschauen; der Ingrimm des Todtengräbers, welcher das Grab öffnen
soll, ist trefflich ausgedrückt. Eine Composttion versöhnender Art ist das
Bild von Bork manu „Der blinde Milton im Lehnsessel", vor ihm
seine schönen Töchter, welchen er seine Dichtungen dictier. „Der Vater
und sein Sohn" von Vogel von Vogel stein ist ein edles, schönes,
durchgehend ansprechendes Gemälde; noch zwei andere Werke desselben
Meisters „Die christliche Märtyrerin^ und „Franzesca ti Rimini mit
Paolo Malatesta in der Hölle", eine Scene aus der Oivniil ('c»ne>!in
des Dante, sind des Meisters Ruf vollkommen würdig. „Jakob wirbt
um Rachel" von Bary, ist eine sinnvoll durchgeführte Composition.
„Das Wiedersehen Josephs und Jakobs" von Prof. Hennig in Leipzig,
„Luther wird von verkappten Rittern nach der Wartburg entführt", von M.
Mühlig, „Die bei einem üppigen Gelag gestörten Mönche" von Sauppe,
„Die erschreckliche Neuigkeit von Wendler Trarbach an der Mosel" sind
insgesammt würdige Arbeiten.
Das Feld der Landschaftmalerei sehen wir in immer erweiterten Krei¬
sen gepflegt; ist es doch, als ob die Natur, welche bei allen Stürmen
und Erregungen der Zeit, der Weltereignisse, in unverrückter Herrlichkeit
ihre siegende Macht bewährt, der Kunst in bewegtern Zeitepochen am
nächsten stehe. Auch in unserer diesjährigen Ausstellung bilden die Land¬
schaften eine große Ueberzahl, und es ist in diesem Gebiet eine fortwach¬
sende Veredlung wahrzunehmen. Unser (Zhorage der Landschaften, Prof,
Dahl, bietet in einer Gegend aus Norwegen, seinem Vaterlande, ein
romantisch-reiches Landscbaftbild; die Ansicht des Hafens von Kopenha¬
gen von demselben Meister, ist ein großartiges, allen künstlerischen For¬
derungen genügendes Werk. Der Waldbrand in einem Urwalde Ameri¬
kas und die Flucht der wilden Thiere aus demselben, war eine Aufgabe,
welche der Künstler, F. W. Wagner, staunenswerth gelöst hat. Die
drei Landschaften vom Hofmaler E. O eh nie: Die Erntegegcnd am
Reinstein im Harz und die Villa d'Este in Tivoli, sind eine Dreieinig¬
keit von Schönheit, Naturtreue und Einfachheit. Der Sonnenuntergang
von Zimmer manu in München ist ein wirklich prachtvolles Bild, so
glänzend und leuchtend und doch voll tiefster Wahrheit; neben dieser darf
eine andere Abendlandschaft von Kummer „Erinnerung an Sirmien"
genannt werden; die wohlige Abendkühle nach einem heißen Tage, der
Friede in der Natur, ist auf diesem Bilde in der weichen Färbung des
Himmels, der Luft, der grünen Matten, trefflich ausgedrückt. Eine Wald-
landschaft von Nitschke möchten wir als eine Waldherrlichkeit bezeich¬
nen. Eine Eichengruppe aus Slawonien, eine Gegend bei Kuffstein im
Innthale, der wilde Kaiser, eine andere in Tvrol, von Robert Kum¬
mer, sind von Werth. Abend auf der Alm, Feuerbeleuchtung, von
M. Müller, ein Bild voll bewundernswerther Lichteffecte. Vurk-
ner und Leypold bieten schöne Winterlandschaftcn. „Der Ge¬
birgssee nach dem Regen" von Kummer, ist ein überaus anziehendes
Bild. Eine schöne Ansicht vom gastlichen Schloß des Major Serre,
Maxen bei Dresden, hat Lichtenstein ausgeführt. Gau ermann in
Wien, Prell er und Hummel in Weimar und die hiesigen Künstler
Sy aarmann, Einbigcr, Pappe ritz, Wolde'mar Herrmann,
Goldstein, Reinhardt, Boll und mancher Andere haben dieser Aus¬
stellung landschaftliche Gemälde geboten, welche sich über das Mittel-
mafiige erheben. Unter Blumen, nach der Natur gemalt, verdient Elise
Wagner in dem dargebotenen Frühlingsstrauß den ersten Preis.
Im Thronsaal des königlichen Schlosses, welchen Prof. Bendemann
im vorigen Jahre mit Frescogemälden schmückte, wurden im Laufe des
Sommers die noch leer gebliebenen Felder unter den vier Hauptgemälden
und den 16 Gesetzgebern noch ausgefüllt. Es sind diese, immer den,
Bilde, unter welchem sie ausgeführt, entsprechenden, sinnvollen Eomposi-
tionen auf Holz, braun in braun, gemalt; sie erinnern an die Arbeiten
des Grabstichels der besten alten Meister.
Unter den Eopien, welche während dieses Sommers auf unserer Ga¬
lerie vollendet wurden, verdient der rühmlichsten Erwähnung die Eopie
der Madonna ti San Sisto, welche Fräulein Sophie Adlersparre aus
Schweden ausführte. Je öfterer wir auch in den drei letzten Decennien
Gelegenheit hatten, von Raphaels höchstem und edelstem Werke Copien
zu sehen und diese zum großen Theile bemitleiden mußten, um so mehr bietet die
Arbeit von Frank. Adlersparre eine wohlthuende Befriedigung. Die volle
Wiedergabe dieses ewigen Werkes wird immer unerreichbar bleiben, aber
die Näherung, welche durch Eopiren möglich, hat die junge vielbegabte
Künstlerin erreicht. Sie führte ihre Arbeit in gleichen Dimensionen mit
dem des Urbildes aus, und es ist diese Copie die erste, durch welche ihr
kunstsinniges Vaterland mit Raphaels edelster Schöpfung bekannt wird.
Frank. Adlerfparce, aus einem der edelsten Geschlechter Schwedens, übt
die Kunst nicht als Erwerb, der angeborene Genius und reine Begeiste¬
rung haben die anspruchlose, tief bescheidene junge Künstlerin Bahnen
zugeführt, auf welchen sie der Kunst lohnende Kranze gewinnen wird.
Die Gewißheit, daß unserm Kunstleben ein immer frischeres Gedei¬
hen erblühen werde, dafür bürgt die Uebersiedelung Julius Schmorr's
nach Dresden, wohin er von München als Director an unsere Kunstaka¬
demie berufen wurde und zugleich eine Professur an der Akademie der
bildenden Künste übernommen hat. Schmorr's anerkannte Meisterschaft,
seine liebenswürdige Persönlichkeit, sein ehrenwerther Charakter können auf
unsere Kunstzustande nur eine belebende und segenwirkende Macht üben.
Diese allgemeine Ueberzeugung hat dem verehrten Mann eine warme un-
getheilte Theilnahme bei seiner Ankunft in der neuen Heimath bereitet,
welche in vielfacher Weise auf das sinnvollste und herzlichste sich kundgab.
Den fünften und sechsten October haben sich böhmische Stande in
Forlseyung des Postulatenlandtages vom 25. Mai 1846 versammelt,
um den LandtagSschluß zu poliren und leider ist der Welt
nicht viel Erbauliches von dieser Versammlung zu verkünden.
Das am 25. Mai zu Stande gekommene Großmuthsvotum der
gleichen Steuerumlage auf Bauer und Herr, hat im Steuerscheine in
Ziffern umgesetzt, die ständische Großmuthsregung mächtig gelüstet, viele
der Herren, welche am 25,. Mai zum Landtage sich nicht eingefunden
hatten, wurden durch den Steuerschein mächtig bestimmt, im October
zum fortgesetzten Landtage zu eilen, nicht um zu berathen des Landes
Wohl, nur des eigenen wegen, um zu reclamiren im Sinne jener Mi¬
norität, welche sich in No. Ü7 der Grenzboten hat vernehmen lassen, um
jenen Großmuthsbeschluß zu ersticken, wenn möglich.
Man dürste fragen, wie das wohl stimme, wie die Steuerscheine
schon ausgegeben, die Steuern zum Theil schon eingehoben sein konnten.
während die Herren Stände noch über den Landtagsscbluß, über dos
epinöse »n und das ^»»molto verhandeln sollen — und dennoch ist es
so, denn die hohe Hofkanzlei hat verordnet, der Landtagsschluß sei nicht
abzuwarten, sondern es sei die Steuer nach dem Postulate stets vor
dem Monat October auszuschreiben.
Der permanente ständische Ausschuß, der Form nach ein dienendes
und besoldetes Organ der Stände, ist aber zugleich Diener seines Vor¬
standes des Regierungspräsidenten, wie Trafaldino der Aracuan laßt
sich von dem Dilemma der Stellung nicht schrecken, man befolgt die Be¬
fehle der Hofkanzlei, gibt dem Kaiser was des Kaisers ist und läßt hin¬
terdrein die Stände donnern; fehlen doch dieser Wolke die Blitze. Hat
man tüchtig gedonnert, so fahrt man zur Tafel, hat besten Appetit, und
der Himmel klärt sich freundlich auf. Das liegt so in der böhmischen
Verfassung. Gedonnert ohne Blitz wurde diesmal bedeutend, zunächst
richtete die Minorität vom 25. Mai, heute zu überwiegender Majorität
aufgedunsen, ihre Donner gegen den Antragsteller jenes Großmuthsvotums,
man hatte eine bisher im Landtag nie erschienene Persönlichkeit zum
Vorkämpfer gewählet, welcher sein Malter speech-ablas in unerquicklicher
Lange gestützt auf die schalen Motive des Protestes in der Beilage
No. 37. Der Ausschuß machte dagegen etwas scheu bemerklich, die Re¬
klamation komme zu spät, die Reparation sei höchsten Ortes genehmigt
und vollzogen, die Steuer bereits ausgeschrieben, es gebe kein Rückwärts
mehr, da wandte die ganze Donnerwuth sich gegen den ersten Antrag¬
steller, der im Mai die Majorität angeblich inducirt, — gegen den Aus¬
schuß, der die Steuer vor dem Landtagsschlusse ausgeschrieben, Präsi¬
dium rief vergebens mit Nachdruck zur Ordnung, und wurde abermals
hart und bitter angegriffen, doch was erträgt man nicht für Gott, Kö¬
nig und Vaterland!
Der Antragsteller wies in unwiderleglicher Rede nach, wie die von
früherer Minorität behauptete scheinbare Ungleichheit eine gar sehr wirk¬
liche gewesen, wie noch heute, ungeachtet jenes Votums, noch immer
reichliche Ungleichheit bestehe, zum Nachtheil des Bauers — daß es nicht
in der Ordnung des Hauses gelegen, die Anträge für den Postulaten¬
landtag früher anzukündigen, diese Formaleinwendung also ganz unhalt¬
bar sei, doch auch dies überzeugte nicht die im Innersten — in der
Casse — verletzte Menge, man tobte und brauste, vergaß auch seinerseits
die Formen des Hauses bedeutend, und lieh Sein Ohr der klaren Rede
des Antragstellers, dieses einzigen parlamentarischen Charakters der Ver¬
sammlung, der Consequenz, Kenntniß der Verhältnisse mit Redegabe ver¬
bindet — und endlich im Tosen des armseligen Sturmes, welcher die
Guldensrage beregt, ward beschlossen — mit Scham und Zagen bericht'
ich's — „Jene Steuergleichheit habe nur für das Steuerjahr 1847 zu
gelten, in Hinkunft wolle man beim Alten verbleiben." Verstummt Lob¬
gesänge! wir begießen das Rauchfaß mit kühlem Wasser, schnell zu lö¬
schen, zu ersticken die glimmende Ruhmeswürze, wir räuchern hinfüro nur
mit Knoblauch und Zwiebel der ständischen Großmuth, und hoffen fest,
die Regierung werde den im blüthereichen Mai unbedingt gefaßten, auch
unbedingt genehmigten Beschluß, für alle Zukunft aufrecht zu halten wissen.
Aus so schöner Maiblüthc reiften so herbe Früchte heran im Okto¬
ber 1846. Ständische Großmut!) wurde von der Kartosselfäule befallen.
Die schönen Tage sind längst vorüber, wo deutsche Journale in
holder Fricdseligkeit nichts zu besprechen wußten, als ihr Theater, das
einzige der freien, wenn auch censirten, Besprechung anheim gegebenes
Object. Sie waren idyllisch diese Tage, wenn auch langweilig wie schwa¬
cher Thee, doch saßen damals weniger Literaten ihren Humor auf der
Festung ab, auch hatten weniger Literaten nachher ex portu zu schreiben
und dennoch müssen Sie eine Theatcrnotiz hinnehmen aus dem histori¬
schen Prag, dem historischen, was so viel bedeutet als ehemaligen, heute
mäusetodten.
Ihr Journal hat jüngsthin eine Beurtheilung unseres Theaterwesens
gebracht, welche wenn auch lückenhaft, doch Wahrheit, wiewohl bittere
aussprach, suum cuiyue ist pflichtmäßiger Wahlspruch eines ehrlichen
Correspondenten, drum sei Ihnen auch berichtet, daß die Theaterverhältnisse
sich im Ganzen etwas gebessert, das Publicum wenn auch nur oberfläch¬
lich, versöhnlich gestimmt haben.
Man hat eine ziemlich gute Schauspielerin, Mad. Pollert aus
Vreslau, gewonnen, welche das Publicum ansprach, und jene frühere
Dame endlich verdrängte, die uns unerträglich geworden, mag sein, daß
der Contrast bedeutend .beitrug, Madame Pollert auf jene Folie
glänzend zu machen. Legt Mad. Pollert übermäßiges Minaudiren ab,
und eine bisweilen ermüdende Maniertheit, so kann sie sich halten, wenn
auch der Kothurn ihr nimmer paßt, so wenig als das Elfengewand, denn
so wohlgenährte Elfen trägen die Lüfte kaum.
Man hat unter Mitwirkung eines Oberregtsseurs Rottmeyer,
ditto aus Breslau, den artesischen Brunnen recht stattlich, den Sommer¬
nachtstraum gar lieblich und nett in Scene gesetzt, und mit letzterem be¬
sonders volle Häuser gemacht, was der Regie wie dem Publicum gleiche
Ehre machen dürste.
Hätten wir die Beruhigung, Herrn Rottmeyer nur als Arrangeur
in Dienste genommen zu wissen, manch' nettem Theaterabende wäre un¬
befangen entgegenzusehen, doch leider hat Herr Rottmeyer noch eine fatale
Nebenetgenschaft, er ist nämlich Schauspieler, und spielt Schau mit un¬
ermüdlicher Passion, in wenigen Tagen schauspielte er sehr Vieles, und
weit mehr als uns lieb war. Mephisto — Shylo? — Don Philipp,
ich lasse ab, im Zeitungsblatt zu melden, was wir schaudernd selbst er¬
lebt. — Denken sie sich Hanswurst als Mephisto, Mephisto als Shilok
und Don Philipp als Herrn Rottmeyer, und Sie haben ein ohngefähres
Bild der Qualen, welche Herr Rottmeyer uns bereitet.
Herr Rottmeyer auf der Scene ist schrecklich, hinter der Scene un-
sichtbar als Commandant der Eomvarsen wirkend, ganz !tiini»ti«z, wenn
auch nicht diesen selbst; drum wünschen wir, Herr Rottmeyer möge stets
im lieblichen Gewände der Unsichtbarkeit gekleidet bleiben.
Die Direktion beginnt des Publicums Urtheil und Wünsche zu be¬
herzigen. Schon wird mehrern jenen zusammengerafften Dorfhistrionen
gekündet, der eckige Herr Paetsch ist in, Abgehen, Tüchtiges wird ge¬
wonnen, die übernommenen Mitglieder, offenbar die besten, werden wie¬
der beschäftigt, das Publicum findet sich allmälig wieder ein, das „Rus-
senthum" beginnt sich zu acclimatisircn, und läßt die Krücke ruhen, die
Intendanz wie die gedruckte Kritik hat sich selber wieder gefunden seit
einiger Zeit. Es ist immerhin eine gute Sache um „nressurv k>c>in
ol'ittiout"^ ihr widersteht endlich doch nichts, nur Geduld muß man ha¬
ben, viel Geduld! Zum Glück ist dies eben ein Artikel, an dem wir
Ueberfluß haben, wir könnten bedeutendes Exportgeschäft damit treiben.
Wir haben mit den Meistern der Tonkunst entschieden Unglück.
In den letzten sechs Jahren ist seit Spontini und Felir Mendelssohn,
Meyerbeer nun schon der Dritte, dessen musikalischen Genie die Ber¬
liner Atmosphäre nicht zusagt. Wenn ich Ihnen aus sicherer Quelle
Melden kann, beabsichtigt nämlich Letzterer seinen hiesigen Wohnort aus¬
zugeben und sich mit seiner Familie nach W im überzusiedeln.(?) Welche
Ursachen zu diesem Entschlüsse hingewirkt haben, ob sie in der Vergan¬
genheit oder in der Zukunft liegen, kann ich Ihnen nicht mittheilen.
Wenn wir gewisse Reibungen zwischen den Oberhäuptern unseres The-
aterinstitutS mit Stillschweigen übergehen, kann es doch auch in rein
künstlerischer Hinsicht einem Componisten wie Meyerbeer nicht verarge
werden, wenn er für seine nun schon so lange im Pulte ruhenden Werke:
der Prophet und die Afrikanerin, endlich eine Bühne zu finden
trachtet, die nicht durch ein mangelhaftes und ungenügendes Personal
den Erfolg so gigantischer Werke auf's Spiel setzt. Weder in Paris
noch in Berlin aber sind, nach Meyerbeer's Zurückhaltung mit den be¬
wußten beiden Partituren zu urtheilen, bis jetzt die Kräfte der Opern¬
personale für seine Intentionen hinreichend gewesen. Das kunstsinnige Publi¬
cum verliert übrigens durch den Abgang Meyerbeer's weniger, als durch
die frühern Verluste Spontini's und Mendelssohn's. Namentlich zeich¬
nete sich dieser durch sein feuriges und hohes Bestreben aus, die Leistun¬
gen der königlichen Kapelle und Singakademie auf den Gipfelpunkt zu
bringen, der durch den inneren Gehalt dieser beiden Institute möglich ge-
macht wird. Meyerbeer hingegen zog sich nicht allein von diesem Ge-
biete möglichst zurück, sondern schwächte selbst den Eindruck seines Auf¬
tretens als Dirigent durch eine Schüchternheit, die bei einer solchen Au¬
torität unerklärlich bleiben muß. Uns thut aber vor Allem ein Dirigent
noth, der die sich auflösenden Bande der musikalischen Disciplin mit
mächtiger Hand zusammenhält. Wir brauchen einen Musiktyrannen,
denn so sehr wir auf allen Gebieten des Lebens für freisinnige Institu¬
tionen sind, glauben wir doch in der musikalischen Verfassung der Oper
und des Orchesters weder an Aristokratie noch an Demokratie und Och-
lokratie.
Signora Viardot Garcia ist nun endlich als Amme in Bel-
lini's Sonnambula aufgetreten. Von dem Triumph, den das Genie
dieser Künstlerin feierte, brauche ich Ihnen kein Wort zu sagen, ich
erspare mir eine Charakteristik ihrer Leistungen bis auf einen späte¬
ren Zeitpunkt. Schweigen kann ich jedoch nicht von dem, unglück¬
lichen Personal, mit dem Sgra. Garcia zu singen gezwungen ist. Der
Graf Gritti, der Impressario dieser Truppe ist es, der uns mit diesem
Häuflein beschenkt hat. Gritti, von der Königstädtischen Bühne beauf¬
tragt, keine Kosten zu sparen, um ein Berlin würdiges Personal zu en-
gagiren, scheint uns für Tölpel genug gehalten zu haben, um mit feinem
Nudel zufrieden zu sein. Diese Leute können nichts. Sie verletzen
durch ihr abscheuliches Detoniren die erste Grundregel, die Sirach Cap.
32. V. 5 den Sängern gibt: „Irret die Spielleute nicht!" Sie zäh¬
len nicht; zählen sie aber, so verzählen sie sich. Sie spielen auch nicht,
obwohl Sgra. Garcia sie mit großem Fleiße darin unterrichtet hatte.
Wie wir hören, sollen jetzt Alle fort und mit'großen Kosten andere Sänger
aus Italien verschrieben werden.
Das großartige, mit dem neuen politischen Organe verknüpfte Lese¬
institut, genannt: Zeitungshalle, ist bis jetzt noch nicht eröffnet worden.
Die Unzuverlässigkeit und Saumseligkeit der hiesigen Arbeiter, die mit
der Ablieferung der Möbel und Instandsetzung der Draperien nicht pünkt¬
lich gewesen sind, verhinderten bis jetzt den Beginn des Unternehmens.
So viel kann ich Ihnen indessen nach einer flüchtigen Betrachtung des
Lesesalons sagen: wir haben nicht ein Institut besessen, das solchen lite¬
rarischen Gehalt, wie den im Prospectus versprochenen mit so viel ge¬
schmackvoller Eleganz und Zweckmäßigkeit der Einrichtung verbindet. Die¬
ses neue Local verheißt nicht allein den Bedürfnissen der politischen Leser
abzuhelfen und die vielen hier anwesenden Ausländer aller Nationen mit
ihrem Vaterlande wenigstens literarisch zu verbinden, sondern auch gleich¬
sam eine Börse des Berliner literarischen Verkehrs zu werden, wozu die
ungemein günstige Lage im Mittelpunkt der Stadt auffordert.
Von dem durch seine Dichtung und treffliches Werk: Das hohe
Lied, rühmlichst bekannten Dr. Titus Ulrich, nähert sich ein zweites
Gedicht seiner Vollendung und dürfte vielleicht gegen Neujahr erscheinen.
Der Prinz von Preußen ist gestern von hier abgereist und ein Tag
früher der Graf von Trautmansdorf, unser Gesandter am Berliner Hof.
Die Verhältnisse zu Preußen sind jetzt ganz besonders rosig angethan,
und was Oesterreich betrifft, so ist's ehrlich gemeint. Oesterreich hat auf¬
gehört, ein Eroberungsstaat zu sein, es hat keine vergrößerungssüchtigen
ilrrierv-i'ensves, und wie jeder mehr auf Erhaltung als auf Erwer¬
bung angewiesene Mensch streckt es den Nachbarn die Hände entgegen,
um mit Allen in gutem Einvernehmen zu bleiben. Die alljährliche An¬
wesenheit der Königin von Preußen in Ischl, die Besuche und Zusam¬
menkünfte des preußischen Monarchen bei und mit dem Fürsten Metter-
nich, haben mehr Persönlichkeit in das Verhältniß beider Höfe zu ein¬
ander gebracht. Zwischen dem Kaiser Franz und Friedrich Wilhelm III.
war die Allianz durch gemeinsame Schicksale nicht blos eine staatliche,
sondern auch eine persönliche. Dieses Persönlichkeitsverhältniß hörte durch
den Tod der beiden Monarchen auf, und es ist daher nicht ohne Wich¬
tigkeit, daß die gegenseitigen Besuche unter den Mitgliedern beider Dy¬
nastien jetzt wieder häufiger werden.
Die Nachricht von der Erkrankung des Erzherzog Palatins in Pesth
erregt hier die allgemeinste Theilnahme, um so mehr, als der greise, hoch¬
verdiente Prinz in seiner Stellung kaum zu ersetzen ist und in seiner
edlen, in Ungarn wie in Oesterreich gleichmäßig populairen Persönlichkeit
die sichersten Garantien zur Harmonie zwischen dem leicht reizbaren Un¬
garn und der übrigen Monarchie liegen und sein Einfluß jetzt um so
nothwendiger ist, als es gilt, die Zollschranken zwischen Ungarn und dem
übrigen Oesterreich aufzuheben und den Adel an der Donau und an der
Theiß für diese Idee und den damit verbundenen scheinbaren Opfern zu
gewinnen. Bei dem kräftigen Naturell des edlen Greises ist zu hoffen,
daß der Anfall leicht besiegt werden wird; auch lauten die Krankheits-
bülletins bereits günstiger.
Die Denkschrift der niederösterreichischen Stande, welche die Grenz¬
boten in No. 38 mittheilten, haben hier das verdiente Aufsehen erregt,
da man in der That diesen Herren eine so würdige und freimüthige
Sprache nicht zugetraut hat. Die ständische Körperschaft darf sich dar¬
über nicht täuschen, daß sie im Publicum bisher wenig Theilnahme fand.
Zwar stoßen die hiesigen Landtage nicht grade auf Antipathien beim Mit¬
telstand, so wie es dem Anscheine nach in Böhmen der Fall ist, aber das
Interesse für sie gibt sich in keinerlei Weise kund, man sah gleichgiltig
zu. Der ständische Ausschuß zählt mehrere treffliche und beliebte Män¬
ner in seiner Mitte, namentlich den Grafen Colloredo-Mansfeld, Graf
Anton Pergen, den Prälat von Meil und den geistvollen, verdienstreichen
Baron Doblhoss, so wie die Ständeschaft selbst genug der intelligenten
und charaktervoller Männer zahlt — aber für ihre Sitzungen und Be¬
schlüsse hatte der Bürgerstand bisher keinen Sinn.
Und wie sollte es auch anders sein, da er in ihrer Mitte nicht vertreten
und durch den Mangel an jeder Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen
auch nicht zum allgemein patriotischen Interesse für die Vertreter des
Grundbesitzes sich angeregt fühlte, und auch nicht die Einsicht erhielt,
ob nicht blos engherzige und egoistische Standesinteressen im Schooße
der aristokratischen Sitzungen verhandelt werden. Das Actenstück, welches
die Grenzboten mitgetheilt haben, hat in dieser Beziehung ein freudiges
Erstaunen erweckt. Man lernte im Allgemeinen daraus kennen, daß der
Gesichtspunkt der niederösterreichischen Standeschast ein weiterer und freierer
ist, und wenn der Mittelstand auch noch nicht absieht, was ihm für
Vortheil durch die Wiederbelebung der alten ständischen Rechte, die doch
durchaus aristokratischer Natur sind, erwachsen soll, so fühlt er doch in
halbem Bewußtsein, daß die ständischen Kräfte ohne Herbeiziehung der
bürgerlichen Besitzer, des Handels- und Gewerbestandes, auf die Lange
erlahmen müssen und daß die landständische Vertretung, wenn sie eine
Wahrheit werden soll, sich allmälig von selbst auf weitere Kreise aus¬
dehnen muß. Der Verfasser jener merkwürdigen Denkschrift ist der
Baron von Doblhoss, eine der bedeutendsteiijund kenntnißreichsten Indivi¬
dualitäten unserer Stadt, und die Stande haben ihm einstimmig eine
Dankadresse dafür police und ihm dieselbe durch das Verordneten-Collegium
zugestellt.
In unsern literarischen Kreisen hat eine Eorrespondenz der Allgem.
Zeitung, in welcher gemeldet wurde, daß der Redacteur der Grenzboten
seit seiner Ausweisung aus Berlin sich hier in Wien befindet, viel Lachen
erregt. Der gute Correspondent schrieb seine Nachricht mit solcher Sicher¬
heit hin, daß er mit vornehmer Bestimmtheit versicherte, Ihrem hiesigen
Aufenthalte und Ihrer Abreise stände nicht das Mindeste entgegen *).
Da dieser so ungeheuer gut unterrichtete Mann sich das Ansehen gibt,
tief in die Geheimnisse unserer Behörden eingeweiht zu sein, so möchten
wir ihn bitten, ein gutes Wort wenigstens für die Grenzboten einzulegen,
gegen die hier in letzterer Zeit mit verdoppelter Strenge zu Werke ge¬
gangen wird.
Der ehemalige Redakteur der Wiener Zeitschrift Herr Friedrich
Witthauer ist in Meran in Tyrol gestorben. Er war Sachse von
Geburt und ein durchaus braver Mann, aber ohne alles schriftstellerische
Talent. Sein größtes Verdienst waren die unparteiischen und durch
strengen Ernst sich auszeichnenden Beurtheilungen des hiesigen Burgthea¬
ters, die er seiner Zeit lieferte. Seiner Zeit, d. h. in jenen schönen Ta¬
gen, wo das Burgtheater noch werth einer ernsten Besprechung war und
wo der Tadel nicht schadete, weil er Hand in Hand mit einem ehrlichen
Lob gehen konnte. Jetzt ist es freilich anders, und weil das Lob auch
der zahmsten Kritik verstummen muß gegenüber der langweiligen Wirth-
fehlst, die jetzt an diesem Theater getrieben wird, muß man gegen den
Tadel durch Herbeirufung der Polizeihofstelle sich waffnen. Es wird bald
an diesem Theater dahin kommen, daß ein neues Stück nicht eher zu¬
gelassen wird, als wenn der Autor nachweist, daß es bereits im vorigen
Jahrhundert geschrieben wurde. Man spricht von der Aufführung eines
neuen Stückes von Laube, das an Schiller's Geburtstag in die Scene
gehen soll, indem Schiller die Hauptperson desselben sein soll. Man
spricht — d. h. ich glaube kein Wort d'ran; ich weiß nicht, wie alt
Laube ist, aber er ist jedenfalls viel zu jung, um Gnade vor den Augen
unserer Bühnenlcitung zu finden, und dann ist ja sein Stück im Jahre
1846 geschrieben) solche Stücke können unmöglich zugelassen Werden.
Bei einem hiesigen jungen Beamten, Namens Nähte, wurde die¬
ser Tage Hausuntersuchung wegen einer in Leipzig erschienenen Brochüre,
„Wiener Kanzleizustande" gemacht; es hat jedoch kein Ergebniß gehabt.
Es ist derselbe, dessen Correspondenzen in den „Jahreszeiten" soviel Scandal
hier machten. Eine c:u>so cvledro — wenn es beim heimlichen Gerichtsver¬
fahren überhaupt eine c-uso colvtirv geben kann — ist endlich zur Entschei¬
dung gekommen. Es ist dies der Proceß des wegenjseiner Brutalität längst
in Verruf gestandenen Feldmarschall-Lieutenants Graf T..., der des ge¬
meinen Betrugs überwiesen, aller seiner Würden entsetzt und zum Gefäng¬
niß verurtheilt wurde, ein Urtheil, dessen Milderung die vornehmen Ver¬
wandten von dem Kaiser erwünschten, der es aber entschieden verweigerte,
obschon der Graf in frühern Jahren sein Kammerherr war. Der Ver-
urtheilte ist der nahe Verwandte eines berühmten ungarischen Magnaten
Rainer.
— Man schreibt aus Dresden: Karl Gutzkow, der mit seiner Familie
nach Berlin übersiedelt, machte hier einen kurzen Besuch von einigen
Tagen. Sein neuestes Drama: Uriel La Costa (5 Acte und in Versen),
kommt zuerst an der hiesigen Bühne zur Aufführung. Eine Notiz im
Nürnberger Correspondenten, welche die Nachricht gab, das Stück sei von
der Intendanz zurückgewiesen, ist durchaus unwahr und beruht wohl zu¬
nächst darauf, daß dieses Drama, welches religiöse Fragen -— wenn auch
nur im Kreise des JudentKums — zur Grundlage hat, auf Schwierigkeiten
stieß, die aber durch Emil Devrient's Vermittlung beseitigt wurden. Der
La Costa wird wohl noch im November zur Darstellung kommen, ebenso
wie Heinrich Laube's „Karlsschüler," (fünf Acte und in Prosa.) Der
Winter scheint überhaupt für unsere Bühne lebhaft sich gestalten zu
wollen, denn auch auf dem Gebiete der Oper erwarten wir ein interessantes
deutsches Product: die Oper Conradin von Ferdinand Hiller, für welche
der Lyriker und Maler Reinik den Text geschrieben hat. Sowohl der Componist
als der Dichter des Libretto leben hier in Dresden, und die Erwartung
ist um so gespannter, als der Stoff diesmal ein acht deutscher und für
dramatische und lyrische Situationen höchst geeigneter ist.
— Die Frau von Meyendorf, die in Cöln der romantische Mittel¬
punkt einer zu Gunsten ihrer Nebenbuhlerin entführten Chatoulle wurde,
ist eine in Paris ansässige, nicht unvortheilhaft bekannte Malerin, die
sogar zur deutschen Poesie in einiger Beziehung steht, wenn auch nur
dadurch, daß Herwegh in einem und demselben Hause mit ihr wohnt
(i'iis Lili-I)«) oder richtiger gesagt ihr Miethsmann ist, da Frau von
Meyendorf jenes Haus als Eigenthum besitzt und sich damit beschäftigt,
es von unten bis oben mit den Erzeugnissen ihrer eigenen Palette aus¬
zuschmücken. Alle diese kleine Nuancen sind für den Romandichter, der
diese abentheuerliche Chatoullengeschichte zum Stoff wählt, unbezahlbar. Denn
voraussichtlich werden sich unsere in ewigen Stossnöthen seufzende Novelli¬
sten zweiten und dritten Ranges diesen fetten Bissen nicht entgehen lassen.
Gräfinnen, Baroninnen, Assessoren und Doctoren, Banquiers, Steckbriefe,
ein berühmter Musiker aus Mißverständniß verhaftet, Assisen, Chatoullen,
und dies Alles in Deutschland in dem polizeigehüleren, ehrlichen Deutsch¬
land! Welch ein fetter Bissen! Wer weiß, wie viele deutsche Verleger
ihren Leib-Romanschreibern bereits Vorschüsse gemacht haben, welche
die Summe, die in jener verhängnißvollen Ehatoulle sich befanden, über¬
steigen. Die verhängnißvolle Chatoulle! pinKIen — gar kein übler Titel!
— Louis Philipp schätzt selbst seine Lebenszeit auf nur noch sieben Jahre.
Bei Gelegenheit der Heirath des Herzogs von Montpensier hat der Kö¬
nig über zweihundert Sträflingen theils die Strafen vollkommen erlassen,
theils dieselben erleichtert. Auch die Gefährten des Quenissets wegen
Mitbetheiligung an dem Attentat gegen Louis Philipp zum Tode und
im Gnadenweg zu Deportation und ewigem Kerker verurtheilt wur¬
den, haben eine Milderung ihres Urtheils erhalten, indem man die
Strafe zu ewigen Kerker, auf sieben Jahre einfaches Gefängniß herabgesetzt
hat. Sie gänzlich frei zu lassen, schien bei der fortdauernden Attentat¬
wuth gegen Louis Philipp gefährlich; aber nach sieben Jahren, denkt
wohl der greise Monarch, sind Attentate auf mein Leben überflüssig.
— Während mit Kühne's „Europa" der Kritik der schönen Literatur
ein neues Organ gewonnen ist, verlautet aus Stuttgart die Nachricht,
daß Menzel nach Preußen übersiedeln und das Literaturblatt aufhören
werde. Die Eotta'sche Buchhandlung soll aus Rücksicht für den lang¬
jährigen Redacteur in der letzten Zeit mit ansehnlichen Opfern den Fort¬
bestand des Literaturblattes erhalten haben, eine Ehrenhaftigkeit, die nicht
alltäglich ist. Räthselhaft scheint es jedoch, warum mit dem Abgang
des Herrn Menzel auch das Eingehen des Literaturblattes verbunden sein
soll. Wir besitzen ohnehin an kritischen Blattern gegenwärtig nur
eine kleine Zahl — warum soll auch noch diese einen Abbruch erleiden?
Ist Wolfgang Menzel unersetzlich?
Die Vereine, die in der Menge und Ausdehnung, in der sie em¬
portauchen, wie oft bemerkt ist, eine eigenthümliche Erscheinung unse¬
rer Zeit sind, haben bewußt oder unbewußt, eingestandener und un-
eingestandener Weise eine entschiedene demokratische Tendenz. Der ab¬
solute Staat beruht auf der Vereinzelung der Individuen in einer un¬
organischen Masse, die sich nicht durch sich selbst bewegt, bestimmt und
entwickelt, sondern von der Verwaltung bestimmt, geleitet und gema߬
regelt wird, also ihre Einheit auch nur in der Verwaltung hat, deren
nicht nur ostensibler Zweck das Wohl der Einzelnen ist. Darum ist
jeder Verein, dessen Zweck über den besondern Vortheil der einzelnen
Theilnehmer hinausgreift und auf die Gestaltung des öffentlichen Le¬
bens in irgend einer Sphäre hinauslauft, an sich ein Ankämpfen ge¬
gen den absoluten Verwaltungsstaat, für dessen positive Thätigkeit er
zur Schranke wird. Die durch das Vereinswesen ihres positiven In¬
halts immer mehr entleerte Verwaltung wird naturgemäß darauf hin¬
getrieben, ihre negative Seite immer schärfer herauszubilden, und in¬
dem sie sich damit als Polizeistaat, bloslegt, erscheint sie zuletzt nur
noch als Fessel, nicht als Gesetz des Volkslebens. Eine zweite Seile
des Vereinswesens ist die nationale, indem die Vereine, über die
zufälligen und willkürlichen politischen Grenzen hinausgreifend, diese
in ihrer Bedeutungslosigkeit aufzeigen und die Einheit des deutschen
Volksbewußtseins und des deutschen Volkslebens anbahnen. Daß die
Regierungen auf die Vereine und besonders auf die, welche sich von
vornherein einen deutschen Charakter zusprechen, ein scharfes Augen¬
merk richten, ist ihnen nach dem Gesagten durchaus nicht zu verdenken.
Freilich macht sich hierbei sogleich ein wesentlicher Unterschied bemerk-
bar, da die Vereine, deren Mitglieder den Regierungen vereinzelt
manche Sorgen und Verlegenheiten bereiten, wie die der Schriftsteller
und Anwälte mit dem entschiedensten Mißtrauen behandelt werden,
während man andere für unschuldig genug hält, um sie nicht nur zu
dulden, sondern sogar durch freundliches Entgegenkommen zu unter¬
stützen, und dafür den ergebensten Dank der Versammlungen selbst
und das Zeitungslob der Munificenz und Liberalität einzuernten. In
diese letzte Kategorie gehört unstreitig auch die jährliche Versammlung
der Philologen. Der Schluß, daß die unschuldigen Versammlungen,
welche sich des väterlichen Schutzes der Regierungen zu erfreuen ha¬
ben, eben deshalb auch die für Gegenwart und Zukunft bedeutungs¬
losesten seien, wäre jedenfalls zu rasch. Es kommt auf diese Ver¬
sammlungen selbst an, was sie aus sich machen wollen, und diejenigen
Bestrebungen, die nicht sogleich auf den Widerstand der Regierungen
stoßen, können eine tiefere und nachhaltigere Wirksamkeit einschließen,
als diejenigen, welche gleich von vornherein als oppositionelle auftre¬
ten und als solche behandelt werden. Wenn die Haltung dieser Ver¬
sammlungen eine demüthig-dankbare ist und ihre Verhandlungen das
eigentliche politische oder auch religiöse Gebiet ängstlich vermeiden, so
liegt auch hierin für sie kein Vorwurf. Daß die Regierungen das
Wereinswesen überhaupt, wenn auch einseitig, dulden und unterstützen,
obgleich es den büreaukratischen Staat unterhöhlt, ist eine anerkennens-
werthe — Milde derselben. Wenn aber Vereine das, was sie inner¬
halb der loyalsten Schranken leisen« können, nicht leisten, wenn sie ihre
Aufgabe engherzig auffassen und die Vereinigung nur als ein Mittel
der Besonderung betrachten, wenn sie die Beziehung zum öffentlichen,
zum Volksleben ausdrücklich verleugnen und ihr letzter Zweck als eine
Standesconservirung erscheint, dann kann ihre Bedeutung bei allem
Aufwande von Mitteln und Phrasen nur eine geringe sein. In wie¬
fern dieser Vorwurf die diesjährige Philologenverfammlung trifft oder
nicht, wird sich aus der kurzen Darstellung derselben, die wir zu ge¬
ben beabsichtigen, von selbst ergeben. Nur dies wollen wir von vorn¬
herein bemerken, daß die Angriffe gegen das Philologenthum, die zu
berühren man nicht umhin konnte, auf eine etwas sehr vornehme Weise
mit einigen philologischen Witzen abgewiesen wurden, und daß es der
Versammlung nicht darauf anzukommen schien, sich über die Stellung
der Philologie in der Gegenwart klar zu werden. In wiefern die
Philologie in einem höhern Sinne des Wortes, nicht in dem gewöhn¬
lichen der Utilität, von praktischer Bedeutung für das Leben, und zwar
für das geschichtliche Volksleben sei, hielt man nicht der Mühe werth
nachzuweisen, während man sich die allerdings viel leichtere nahm, ge¬
gen die Utilisten einige bittere und verächtliche Bemerkungen loszulas¬
sen. Den Vorwurf der Kleinigkeitskrämerei, der den Philologen so
oft und durchgängig nicht mit Unrecht gemacht wird, wies der Prä¬
sident der Versammlung, der Hr. Hofrath Hand, damit zurück, daß
man dem Naturforscher es nicht verüble, wenn er z. B. die Pflanze
bis zur kleinsten Faser mikroskopisch untersuche, bei der Sprache aber
es sich um Geistesformen handle, und somit um etwas Höheres und
Untersuchungöwertheres. Hiergegen ist nur zu sagen, daß der Natur¬
forscher wirklich um so tiefer in das Wesen und die Eigenthümlichkeit
der Pflanze eindringt, je genauer er die Theile, aus denen sie besteht,
kennt, während der Geist der Sprache, um den es sich nur handeln
kann und der mit dem Geist des Volks identisch ist, ans minutiösen
Untersuchungen über einzelne Partikeln nicht heraustritt und klarer er¬
faßt wird, mit andern Worten, daß der Naturforscher auf anatomische
Untersuchungen hauptsächlich angewiesen ist, und durch sie vorzüglich
zur Kenntniß des NatUrlebens gelangt, während die Kenntniß der
äußern Gesetz- und Regelmäßigkeit der Sprache noch nicht die Er¬
kenntniß der Sprache selbst ist und eine verhältnißmäßig untergeordnete
Bedeutung hat und einhalten muß. Auf die briefliche Bemerkung ei¬
nes Nealschulmannes, daß es nicht übel gewesen wäre, wenn die Phi¬
lologen die Trockenheit ihrer Wissenschaft durch die Vereinigung mit
den Realschulmänncm etwas gemildert und verquickt hätten, wurde ent-
gegnet, daß besagter Nealschulmann den heraklitischen Spruch: die
trockenen Seelen sind die besten, nicht zu kennen scheine. Heraklit meint
aber unseres Erachtens nicht sowohl ausgetrocknete, lederartige, als
feurige Seelen, und ob solche der Mehrzahl der Philologen zuzuschrei¬
ben sind, mögen sie sich selbst beantworten. Am Schluß seines Vor¬
trage fand sich Hr. Hofrath Hand bewogen, gegen den Geist der ge¬
genwärtigen Jugend, die der ächten Wissenschaftlichkeit entfremdet, auf
Vielwisser und Vielkönnen hindränge, und von vornherein die prakti¬
sche Ausbeutung desselben im Auge habe, zu declamiren. Hr. Hof¬
rath Hand scheint uns in diefem Urtheil der gegenwärtigen Jugend
Unrecht zu thun; aber wenn es auch richtiger und allgemein giltiger
wäre, als es ist, so läge doch die Schuld einer solchen Erscheinung
nicht sowohl an der Jugend, als an ihrer Erziehung und an den
öffentlichen Anstalten, deren Einrichtung und Thätigkeit von den Be¬
hörden bestimmt wird und an denen die Philologen eine sehr vorherr-
sehende Stellung einnehme». Wenn die Philologen fühlen, daß das
alte Philologenthum vom Zeitgeist überall zurückgestoßen und bedrängt
wird, so hilft es gewiß nichts, über diesen Zeitgeist zu witzeln und zu
klagen, und wenn die Versammlungen der Philologen keine andere
Bedeutung haben sollen, als daß sich dieselben persönlich, in ihrer äu¬
ßern Eigenthümlichkeit, die allerdings grade bei den Philologen nicht
selten originell genug ist, kennen lernen und sich für den Unglimpf der
Zeit durch eine auf einige Tage hergestellte rein philologische Atmo-
sphäre, die in ihrer Dichtigkeit der Zugluft des Zeitgeistes widersteht
und durch gegenseitige CompliiMmte trösten, so sind sie nicht sowohl
ein Zeichen der Lebenskraft, als der innern Schwäche des Philologen-
thums. Wenn wir nicht irren, wurde in einer der gehaltenen Reden
das Bild des Straußes, der den Kopf versteckt, um sicher zu sein, in
Anwendung gebracht. Möchte es nicht auf die Philologen selbst passen?
Diejenigen Verhandlungen, welche die unmittelbarste praktische
Bedeutung hatten, waren die der pädagogischen Section, die von dem
Lateinischschreiben und Sprechen auf den Gymnasien überhaupt aus¬
gehend, sich auf ein immer engeres Gebiet stellten, in dem es sich zu¬
letzt nur um die freien lateinischen Arbeiten handelte. Diese Verhand¬
lungen, welche die ganze Zeit in Anspruch nahmen und keine andere
Frage auftauchen ließen, waren durch Hrn. Köchly aus Dresden ver¬
anlaßt, der seine sonst veröffentlichten Ansichten über den Gegenstand
in gewählter und formvotter, aber etwas breiter Sprache und Aus¬
sprache vortrug und vertheidigte. Seine Hauptgründe gegen das La¬
teinischschreiben und Sprechen waren, daß das Latein seine praktische
Bedeutung als diplomatische, Salon- und Gelehrtensprache verloren
habe, und daß es für den Unterricht und die Lectüre eine Fessel sei,
welche den Fortschritt und die Wirkung derselben aufhalte. Jeder
Unbefangene wird Hrn. Köchly zugestehen, daß die Zeit und Anstren¬
gung, welche in den Gymnasien auf das Lateinischsprechen und Schrei¬
ben verwendet wird, in gar keinem Verhältniß weder zu den Leistun¬
gen an sich, noch zu dem wirklichen Werth derselben stehen. Hieraus
folgt indessen vorläufig weiter nichts, als daß die Frage zunächst eine
methodische werden muß, da die gänzliche Verdrängung der alten Spra¬
chen aus den Gymnasien noch gar nicht in ernstliche Anregung gekom¬
men ist, so lange aber als sie ein wesentliches Lehrobject bleiben, we¬
nigstens das Schreiben derselben eine Nothwendigkeit ist, um die Schü¬
ler sich wirklich in sie hineindenken und fühlen zu lassen. Hr. Köchly
hatte daher unrecht, sich von den Erereitien und Ertemporalien, deren
Nothwendigkeit er ohne weiteres zugestand, sich sogleich auf die freien
Arbeiten zurückdrängen zu lassen und deren Wegfall zu verlangen.
Mit den freien Arbeiten wird im Ganzen weniger Mißbrauch getrie-
ben, als mit den Erereitien, die besonders in den höhern Klassen eine
unverhältnißmäßige Zeit und eine Anstrengung, die den Schülern durch¬
schnittlich im höchsten Grade lästig ist, in Anspruch nehmen. Au¬
ßerdem dienen freie Arbeiten dem Zweck des Lateinischschreibens, die
Schüler in den Geist der Sprache einzuführen, gewiß viel mehr, als
die mühsam zusammengeflickten Erereitien, bei denen der Schüler durch
fortlaufende halbe Andeutungen zu einem beständigen Nachschlagen in
verschiedenen Büchern gezwungen wird und bei dieser ermüdenden Mo¬
saikarbeit zu einem freien Sprachgefühl nicht gelangt. Sobald Herr
Kö.chly die Nothwendigkeit der Erereitien ohne methodische Bedingun¬
gen zugegeben, die freien Arbeiten als solche ausgeschlossen hatte, bot
er verschiedene Angriffspunkte dar. Es wurde geltend gemacht, daß
die freien Arbeiten für den Schüler der höhern Klassen leichter und an¬
genehmer seien, als die Erereitien, und daß das Lateinischschreiben,
auf die letztern beschränkt, seine bildende Wirkung zum großen Theil
einbüße. Die freien Arbeiten nähmen das Selbstdenken des Schülers
in Anspruch und nöthigten ihn, den Gedanken, für den sich die Form
nicht unmittelbar, wie in der Muttersprache, darbiete, zur größten Klar¬
heit und Bestimmtheit durchzuarbeiten. Hiergegen bemerkte Hr. Köchly
-mit Recht, daß der Schüler sich durch das Lateinischschreiben gewöhne,
den Gedanken, den er in seiner tiefern Fassung auszudrücken verzweifle,
zu umgehen, daß also die lateinischen Arbeiten, wie er weiter schloß,
statt die Bestimmtheit des Denkens, vielmehr die Oberflächlichkeit und
Resignation desselben beförderten. Dieser Grund gegen das Lateinisch¬
schreiben als Geistesgymnastik erschien besonders vielen jüngern Theil-
nehmern an der Versammlung, denen Erfahrungen in dieser Beziehung
noch nahe liegen, als schlagend. Durch den Geheimerath Brügge¬
mann aus Berlin wurde die Frage zuerst und entschieden unter den
methodischen Gesichtspunkt gestellt, indem er die Bedeutung und Be¬
rechtigung der lateinischen Arbeiten in der freien Reproduktion antiker
Anschauungen, wodurch das Verständniß des antiken Lebens erst ein
inniges, selbständiges und wahrhaftes werde, erblickte, und während er
hiermit den absoluten Grund für das freie Lateinischschreiben traf, zu¬
gleich die Grenze angab, innerhalb welcher sich dieses zu bewegen habe.
Leider bräche» die Verhandlungen hier, wo sie erst fruchtbar zu wer¬
den begänne», ab, doch erhielt, auch ohne Discussion, die von Hrn.
Brüggemann vorgeschlagene Erklärung: daß man die lateinischen freien
Arbeiten, insofern sie von einer zweckmäßigen, durch die Reproduction
bestimmten Methode beherrscht werden, für ein nothwendiges Bildungs-
Mittel der Gymnasien halte, die meisten Stimmen. Hr. Schulrath
Rost, der den Verhandlungen nicht bis zu Ende beiwohnen konnte,
bat die Versammlung, sich doch so ausdrücklich als möglich für das
Lateinischschreiben auszusprechen, damit das Publicum nicht glaube,
unter den philologischen Pädagogen selbst bestehe in dieser Frage ir¬
gend ein Zwiespalt. Das heißt mit andern Worten : weil die öffent¬
liche Meinung gegen das Lateinischschreibeil ist, so wollen wir uns
grade unbedingt dafür erklären und ihr dadurch imponiren, statt sie
dadurch zu versöhnen und zu belehren, daß wir uns zu einer Reform
dieses Unterrichtszweiges bereit zeigen. Aber die öffentliche Meinung
läßt sich sehr wenig durch kategorische Erklärungen imponiren.
Von den Vorträgen der eigentlichen Philologenversammlung gin¬
gen einige ganz oder beinahe ohne Discussion vorüber, so der des
Hrn. Köchly über die Hekuba, der wenig mehr als eine ErPosition
des Stückes war und am Schluß die Idee desselben sehr vag und
kernlos aussprach, der des Hrn. Fortlage über die Musik der Alten,
der trotz der Geduld und Stille, mit der er angehört wurde, gewiß
nur ein sehr kleines Publicum hatte, die philologische Humoreske des
Hrn. Professor Döderlein über Thersites, die den Nealschulmännern
beweisen konnte, daß die trockne Philologie ihrer zur Auffrischung nicht
bedürfe, und vielleicht aus Mangel an Zeit die Auseinandersetzung der
Dante'sehen Theologie voll Piper. Eine längere Discussion, die im¬
mer die Hauptsache bleibt, riefen der Bortrag des Hrn. Prof. Bergl
aus Marburg über die Dikasterien der Athener und des Hrn. Privat¬
docent Preller aus Jena über die Zwölfgöttergruppe hervor. Der
erste Vortrag bot einen interessanten historischen, der zweite einen my¬
thologisch-historischen Hintergrund, in den sich jedoch der Redner selbst
zu vertiefen scheute. Hr. Professor Lindner aus Leipzig hielt einen
Vortrag über die Methode des Sprachunterrichts oder beabsichtigte es
vielmehr, ohne recht zum Ziel kommen zu können, weil er durch die
Ungeduld der Herren Philologen und die niet>t eben rücksichtsvolle Auf¬
forderung des Vicepräsidenten Göttling, sich kurz zu fassen, mehrmals
unterbrochen und zuletzt gewissermaßen vom Katheder entfernt wurde.
Allerdings war er in der Auseinandersetzung seiner persönlichen Er¬
fahrungen etwas zu mittheilsam, aber der Grundgedanke seines Ver¬
trags, daß man mit dem Unterricht in fremden Sprachen nie vor dem
dreizehnten Jahre beginnen und diese fremden Sprachen nicht neben,
sondern nacheinander eintreten lassen müsse, beherzigenswert!), und an
der Ungeduld und unhöflichen Unruhe, mit der man seinen Vortrag
begleitete, schien die philologische Beschränktheit und Eitelkeit, der es
unbehaglich ist, von Jemand, den sie nicht als Fachmann anerkennt,
Belehrungen zu erhalten, und die von einer Zeitbeschränkung des fremd¬
sprachlichen Unterrichts, den sie am liebsten mit der Muttermilch be¬
gönne, nichts wissen will, keinen geringen Antheil zu haben. Der fol¬
gende Vortrag des Hrn. Fortlage, der sehr lang ausgesponnen im
Grunde nur auf das nächstens erscheinende Buch des Redners über
denselben Gegenstand — die Musik der Alten — aufmerksam machen
sollte, wurde mit demüthiger Ergebung angehört, obgleich, wie wir fest
überzeugt sind, ein sehr großer Theil der Zuhörer ihm nicht folgen
konnte und mochte. Der Inhalt der nicht kurzen Abschiedsrede des
Vicepräsidenten war: Ein Philolog darf nicht sentimental sein, aber
wenn ich bedenke, daß die Philologenversammlung zu Ende ist, so be¬
schleicht mich eine gewisse Wehmuth, Alte Bekannte und Freunde
müssen scheiden, das Band neuer Freundschaften, das sich hier zu knü¬
pfen begann, wird wieder gelöst — nein! es wird nicht gelöst, in Ba¬
sel kommen wir wieder zusammen.
Warum grade Basel mit dieser Aussicht beglückt worden ist, trat
aus dem Commissionsberichte des Hrn. Schulrath Rost durchaus nicht
hervor. Die vorgeschlagenen Städte, zu denen Basel nicht gehört,
wurden durchgegangen und angedeutet, was man zu ihren Gunsten
angeführt habe, so für Braunschweig die Nähe der Germanistenver-
sammlnng, die künftiges Jahr in Lübeck stattfinden wird. Ohne wei¬
tere Würdigung dieser Vorschläge fuhr dann der Hr. Schulrath plötz¬
lich fort: Uns schien Basel der Ort zu sein, der gewählt werden müsse.
Da eine förmliche Einladung von Basel uns nicht vorlag, gegen
die Voraussetzung einer solchen sogar protestirt wurde, und die Lage
im Südwestende Deutschlands eben keine günstige ist, so fragt es sich,
wie sich das Comitee ohne Beachtung der gemachten Vorschläge so
entschieden für die schweizerische Stadt bestimme!, konnte. Von Lübeck,
das die Germanisten aufnehmen, wird, hätten sich die Philologen kaum
weiter entfernen können. — Eine Bemerkung des Herrn Schulrath,
die vielen Beifall fand, wollen wir noch beifügen: Berlin, sagte er,
ist zu groß, um uns zu empfangen. Das ist wohl ganz richtig, aber
ist es denn den Philologen grade so sehr um den Empfang zu thun,
und fürchten sie sich, da, wo sie nicht für die Tage der Versammlung
den Mittelpunkt des ganzen Lebens und Treibens der von ihnen be¬
ehrten Stadt bilden können, für die öffentliche Aufmerksamkeit zu ver¬
schwinden ?
Der merkwürdige Mann, dessen in Deutschland seltne Begabung
und seltnes Geschick ihn ans einen Standpunkt geführt, der in Deutsch¬
land ein einziger heißen muß; dieser Schriftsteller-Staatsmann, wel¬
cher in beiden Eigenschaften zweischneidig ans die Welt wirkte, der
bürgerliche Pair der Vornehmen, mit ihnen Genuß und Ansehn thei¬
lend, mit einem Worte, Friedrich Gentz, über dessen Werth und
Bedeutung bei uns lange Zeit so vielfach gestritten worden, wird gleich¬
wohl noch lange nicht nach Gebühr erkannt. Noch fehlt ein großer,
vielleicht der größte Theil der Belege, aus denen der Umfang seines
Talents und seiner Thätigkeit, sowie die Eigenart seines innern We¬
sens gehörig zu ermessen wäre. Welch neues Licht für die Würdigung
seiner gäben die zehn oder zwölf Bände, zu denen eine Auswahl sei¬
ner Staatsschriften — der Behandlung und dem Ausdruck nach lau¬
ter Meisterstücke — sich aufgehäuft hat, wenn die Zeit ihrer Veröffent¬
lichung nicht als noch zu früh erachtet würde! Aber auch von der
menschlichen Seite her wäre noch mancher neue Einblick zu gewinnen,
ließe noch manche Liebenswürdigkeit sich darlegen, mancher bedeutsame
Zug der Leidenschaft und der Stärke wie der Schwäche des Gemü¬
thes sich verfolgen, wenn aus der unermeßlichen Anzahl seiner Briefe
grade die vertraulichen zahlreicher vorlagen!
Einen erheblichen Beitrag zur richtigen Erkenntniß des Mensch¬
lichen in Gentz könnten auch seine Tagebücher liefern, wären sie noch
vollständig aufzufinden oder zu den noch vorhandenen der Zugang
offen. Denn es gehört zu den Eigenheiten und Widersprüchen, die
sich in Gentz vereinigen, daß dieser im Schachte der Staatsarbeiten
ermüdet arbeitsame und zugleich in den Genüssen der Welt schwelge¬
rische Mann, der stets nur in der Gegenwart leben und die Bergan-
'
gerben wie die Zukunft vergessen, der insbesondere an sein eignes frü¬
heres Leben nicht erinnert sein wollte, — daß dieser selbe Mann von
früherer Zeit im Stillen die Gewohnheit hatte und bis in sein Alter fort¬
übte, von Tag zu Tag aufzuschreiben, was er gerhan hatte, und was
ihm begegnet war! Dergleichen Aufzeichnungen haben viele bedeutende
Männer, einige in der Jugend, andre im Alter angefangen, manche
durch ihr ganzes Leben durchgeführt; von Bonaparte kennen wir solche
Bemühungen, von Lessing und Schleiermacher, von Goethe und Byron,""
— doch allen diesen stand die Sache natürlich an, hatte genügenden
Grund in ihrer Lebensenergie, die keinen Theil ihres Bewußtseins auf¬
gab, sondern mit dessen Gesammtheit wirkte, — bei Gentz hingegen
erscheint das Führen persönlicher Tagebücher als etwas Seltsames
und Außerordentliches, das sich kaum erklären läßt, wenn man darin
uicht einen neuen Gesichtspunkt für die Bestimmung seines Charakters
gelten läßt. Denn es steht fest, daß ihm der Blick in die Vergangen¬
heit zuwider war, daß sie ihn ängstigte und verwirrte, und wenn er
sie dennoch mit getreuen Zügen beharrlich festhielt, so ist das ein Zei¬
chen, daß er neben jener Schwäche zugleich den entschlossenen und an¬
haltsamen Muth in sich trug, sie zu überwinden; seine Tagebücher
sind gleichsam das Recht, das er seinem Gewissen zugesteht, eine Selbst¬
hingabe zu Schuld oder Rechtfertigung, je nachdem das Urtheil sich
wenden möge. Demnach schrieb er, hauptsächlich vom Jahre ISO«
an, jeden Tag in kurzen Worten dessen Begegnisse auf, und fügte
wohl auch den Ausdruck seiner Empfindungen oder seiner betrachten¬
den Gedanken hinzu, wie grade der Augenblick sie lieferte. Er schrieb
mit rückhaltloser Aufrichtigkeit, und merkte auch solche Dinge an, die
man sonst ungern dem Papier vertraut, deren Festhalten oft unnöthig
scheint, und die von fremden Augen gelesen nothwendig den Schrei¬
benden in ein nachtheiliges Licht stellen.
Wir lassen die psychologische Aufgabe, den Zusammenhang zwi¬
schen jener Abwendung von der Vergangenheit und diesem beherzter
Aufschreibetrieb erklärend nachzuweisen, hier auf sich beruhen, sowie die
Untersuchung, welchen näheren Zweck Gentz mit seinen Aufzeichnungen
beabsichtigt, und welchen weiteren Gebrauch er davon sich gedacht ha¬
ben möge. Genug, er führte persönliche Tagebücher, und setzte sie
über ein Vierteljahrhundert hinaus beharrlich fort, theils in französi¬
scher, theils in deutscher Sprache, in klarer freier Schrift, ohne Hehl
oder Verschleierung. Nicht so beharrlich, sondern nur zeitweise, jedoch
gar nicht selten, hielt er neben diesen persönlichen Tagebüchern auch
noch literarische, in welche er die Gegenstände und den Ertrag seines
Lesens einschrieb, ferner solche, die er politische nannte, in welchen er
bestimmte Staatshandlungen in ihrer Abwicklung verfolgte, und von
denen die bekannte Denkschrift über die Octobertage 18W ein glanz¬
volles Beispiel ist.
Gentz bewahrte seine Anmerkungen sorgsam und legte von jeden» Jahre
ein abgeschlossenes Heft zu dem wachsenden Vorrache. Jedoch scheint
er geraume Zeit sie nicht wieder durchgesehen zu haben; denn als er
dies in spätern Jahren einmal that, waren ihm viele der dort erwähn¬
ten Vorgänge gar nicht mehr erinnerlich, oder doch die nähern Be¬
ziehungen entschwunden. Die Aufzeichnung so vieler Einzelheiten,
welche ohne ihren eigentlichen Zusammenhang mit dem übrigen Leben
allerdings mir wenig besagen konnten, zuweilen auch wohl einen fal¬
schen Schein, einen gar nicht gemeinten Sinn durch die Absonderung
empfingen, wurde ihm beim Wiederlesen mißfällig und in vielem Be¬
tracht sogar bedenklich, er beschloß, diese ganze Masse von Heften zu
vernichten, jedoch vorher das ihm damals noch persönlich Wichtige oder
sonst Bemerkenswerthe daraus in gedrängter Kürze auszuziehen und
zu bewahren. Hierbei leitete ihn hauptsächlich der Zweck, die Masse
des jetzt nutzlosen und Ueberflüssigen wegzuschaffen, auch manche Ver¬
hältnisse und Menschen zu schonen, nicht im Geringsten aber die Ab¬
sicht, seine eignen Fehler und Verirrungen zu verdecken, und seine Ver¬
gangenheit in's Schöne zu malen; die rückhaltlose Aufrichtigkeit in
Betreff seiner selbst verläugnete er auch in der neuen Abfassung nicht.
DaS große Unternehmen, diese Auszüge zu machen, scheint Gentz um
das Jahr 1829 begonnen, und in kurzer Zeit, unter allen Geschäfts¬
arbeiten und Zerstreuungen, in denen er stets befangen war, führte er
dasselbe so weit, daß er die solchergestalt ausgebeuteten, bis zum
Schlüsse des Jahres 1814 führenden ursprünglichen Tagebücher den
Flammen übergeben konnte. Bis zu dem genannten Zeitpunkt ist da¬
her nur der Auszug als vorhanden anzunehmen, aus den folgenden
Jahren jedoch sollen, wie versichert wird, noch eine ziemliche Anzahl
der ursprünglichen Notate übrig sein, weil die ausziehende und dann
zerstörende Hand an sie erst kommen sollte. Herzensbeschäftignng, mit
welcher Gentz unerwartet in den letzten Lebensjahren auf's Neue sich
erfüllt sah, und gleich darauf die neuen Erschütterungen der politischen
Welt durch die Julirevolution, haben ihm, wie es scheint, jene Arbeit
aus dem Sinn gerückt, und der Tod ließ ihm keine Zeit, sie wieder
aufzunehmen.
Den Auszug schrieb er offenbar in der Absicht, daß derselbe be¬
wahrt und einstiger Mittheilung zugewiesen würde. Er schrieb ihn
am Abende seines Lebens, mit Wahl und Aussonderung, mit reifem
Urtheil und geübtem Takte, mit der scheulvsen Keckheit, die er bei ge¬
wissen Umständen, ungeachtet sonstiger Zagheit, auch im wirklichen Le¬
ben darzuthun pflegte. Wir erachten es daher ganz im Sinne des nun
schon seit vierzehn Jahren im Grabe Ruhenden, wenn wir'die paar
Bruchstücke jenes Auszugs, die ein glückliches Ungefähr uns zugeführt,
einem größern Kreise von Lesern mittheilen, der dieselben nur als ein
angenehmes und werthes Geschenk empfangen wird. Die Einsicht in
den Menschen Gentz, in das Werden und Treiben einer solchen Per¬
sönlichkeit, wird in jedem Fall dadurch gewinnen, durch die Einsicht
Am 14. April wird „eine angenehme Ueberraschung" genannt, daß
mir der Ji denälteste Hirsch für Verfertigung ich weiß nicht welcher
Vorstellung — 50 Thaler brachte.
In den letzten Tagen des April. Reise zur Gräfin Dönhoff
in Angermünde.
Am 28. Mai. Durch Baron Krüdener eine mit (kleinen)
Brillanten besetzte Uhr vom Kaiser von Rußland zum Geschenk er¬
halten.
I. Juni. Durch Garlicke ein Schreiben von Lord Grenville,
nebst einem Geschenk von 500 Pf. Sterling — das erste dieser Art!
— erhalten.
7. Juni. „Den angenehmen Besuch eines meiner liebsten Freunde,
des jungen (Adam) Müller aus Göttingen gehabt."
6. Juli. Reise zum Marquis Lucchesini nach Meseritz. Aufent¬
halt dort bis zum 10.
25. Juli. Erste sehr nahe Idee einer Reise nach Wien mit Pro¬
fessor Hirt!
29. Juli. Die Bekanntschaft mit Madame d'Escars rechnete ich
damals „unter die schönsten Begebenheiten dieses Jahres!"
Am Ende des Jahres große Geldverlegenheit. Von Garlicke
100 Pf. Sterling erhalten, und mit Lord Carysfort unterhandelt-
Uebrigens zwischen Arbeiten, der diplomatischen Gesellschaft, und dem
bürgerlichen Leben meiner Eltern und Schwiegereltern die Zeit getheilt.
Februar. Sehr merkwürdig, daß mir Lord Carysfort von
einer Seite die Ueberhebung in's Französische der Publication der eng¬
lischen Noten gegen Preußen, und kurz nachher Graf Haugwitz die
der preußischen Noten gegen England in's Deutsche auftrug!
März. Bekanntschaft mit der Prinzessin Louise und Einladung
zu ihr.
Zu Ende März das Buch über den Ursprung des Revolutions¬
krieges geendigt, und den Entschluß gefaßt, das von Hauterive zu wi¬
derlegen. Diese Arbeit wurde in Schöneberg unternommen. Adam
Müller war damals von Göttingen zurück, und ich sah ihn sehr oft.
April. Tiefe Rührung über den Tod eines Hundes. Beweis,
wie sehr alles, was zu den häuslichen Verhältnissen gehört, bei aller
Dissipation auf mich wirkte.
Nachricht von dem Tode des Kaisers Paul. Eindruck, den erst
— die allgemeine Freude, und später die fürchterliche Publicität dieser
Nachricht auf mich machte.
Juni. Beim Prinzen Ferdinand zum Essen eingeladen.
Fürst Karl Schwarzenberg bei seiner Durchreise nach Petersburg
kennen gelernt.
II. Juni. Dreitägiger Aufenthalt bei der Familie Fink in Mad-
lii). — Merkwürdige Reflexionen darüber.
Um diese Zeit fangen auch meine nähern Verbindungen mit
Stadion an.
Bekanntschaft mit dem Herzog Friedrich von Braunschweig-Oels.
Bei ihm gegessen.
August. Eine unbegreifliche Reise nach Freienwalde — mit Mül¬
ler! den ich aber dort in fünf, sechs Tagen gar nicht sah, während
daß ich mich in der sögenannten guten Gesellschaft vom Morgen bis
in die Nacht in unerhörten Dissipationen, zweimal bei Wolfs's, in
rasenden Spiclparthien ze, herumtrieb! Es war so arg, daß ich bei
meiner Zurückkunst nach Berlin bedenkliche Gerüchte über mich (worin
sie eigentlich bestanden, ist nicht gesagt) vernahm, in meiner Familie
sehr kalt aufgenommen wurde, und selbst in's Tagebuch — obwohl
mit der gewöhnlichem Reserve — schrieb: «jiio coelo course se-mbliüt
>»'i,par l'-ut piu« alö »nel <ni<z <Ze tue»!!
Und das alles mitten im äußersten Geld-Derangemenr. Wo ka¬
men die Mittel zu allen den hohen Parthien her? Ich weiß es durch¬
aus nicht mehr zu erklären.
August, September. Verdrießlichkeiten mit der Censur, die mich
nöthigt, viele Stellen in meiner Schrift gegen Hauterive zu streichen
oder abzuändern. Zugleich (soviel sich aus der trockenen und bouton-
nirlen Erzählung ersehen läßt) täglich die fatalsten Geldgeschäfte! Ein
halbes, zwar artiges, doch ernstes Leben mit der Frau! — Und dabei
jeden Abend in Spielparthien, bald in den diplomatischen Häusern,
bald gar auf dem Casino versenkt!
Humboldt kommt um diese Zeit von seiner großen Reise nach
Paris, Spanien ze. zurück. Am 13. September habe ich mit ihm zwi¬
schen Mitternacht lind drei Uhr ein großes Gespräch „wuctuult 6s
er«8-uro5! l^s nlus «-init^e» itllitnvs vt l«!S telittiuiis los >»In8 intime«
et« in-i, vio," — (Aber worin es eigentlich bestand, wird nicht gesagt).
Brinckmann war damals auch in Berlin.
24. October. Abreise Lord Carysfort's von Berlin. Geftänd--
riß, daß ich selbst diese Personen, über den unendlichen Disstpatio-
nen der letzter» Zeit, ziemlich vernachlässigt hatte.
Denselben Abend verlor ich bei O'Farn in der Macedoine —
74 Louisd'or!
Den 23. November. Des Morgens mache ich bei einem Advo¬
katen ein Arrangement, wobei ich 70 Louisd'or erhalte. — (Versetzte
ein Manuscript, welches ich erst zwanzig Jahre nachher wieder ein-
lösete.) — Abends werden diese 70 Lonisd'or bei O'Farn verspielt.
Anfang des Umganges mit der Levin (Varnhagen).
14. November. Mitten unter allen diesen Rasereien entschließe
ich mich, mit meinem Bruder Heinrich nach Weimar zu reisen, und
bleibe dort 14 Tage. Eine Total-Revolution (so wähnte ich!) trug
sich in meinem Innern zu. Aber meine Liebschaft für Fräulein Jm--
hoff — wozu konnte, wozu sollte sie führen?
Effect der Vorsätze voll Weimar. — Am 23. December verlor ich
alles, was ich hatte, im Hasardspiel, so daß ich den ganzen folgenden
Tag herumlaufen mußte, nur einige Thaler zu Weihnachtsgeschenken
aufzutreiben.
Am 1. Januar soupire und spiele ich bei einem gewissen (Gehei¬
men Rath) Buisson, gehe um 1 Uhr nach Hause, vergesse aber den
Hausschlüssel, und muß die Nacht anderwärts zubringen; hier konnte
ich doch nicht umhin zu notiren, ,,q>l' -ipie« I-» rvvol,ni«,n cle »ovem-
i»re e'et»it une asse/. siiiAnliere mnnivre «le «:ninmenevr I.t nouvelle
»nuce."
Doch wurden fortwährend Briefe von 6 bis 8 Bogen an Amalie
Jmhoff geschrieben.
Den 26. Januar finde ich in einer Gesellschaft die Eigensatz,
und sie gefällt mir.
Umgang mit den Prinzen Louis, August und vielen Offizieren.
Im Februar scheint eine ziemlich starke Promesse durch Lord Carys-
fort's Verwendung eingegangen zu sein.
Den 21. Februar, als ich um 2 Uhr Morgens nach Hause
komme, finde ich einen Brief von meiner Frau, „c,in -r (leeide du soll
lie vie" — ,,ot le Ikiiclom.ti» »olre tesoliitinn a ete ^rise,"
— vermutlich die, uns scheiden zu lassen. — Das hindert mich jedoch
nicht, des Abends auf einen Ball zu Pourtales zu gehen, dronte et
ljuitt-.'tutt zu spielen :c.
März. Obgleich ich äußerlich mit meiner Frau gut blieb, mit
ihr aß, in's Theater ging :c„ so hebt doch jetzt die Liaison mit Chri¬
stel (Eigensatz) recht ordentlich an; zwischen dem Prinz Louis, Rahel
und Andern.
13. März. Die Passion für Christel wird förmlich declarirt, und
am folgenden Tage — erlaubt sie mir, sie vertraulich zu besuchen.
Aber gleich darauf (theils durch mein schlechtes Benehmen, theils durch
die Ankunft ihres wahren Liebhabers Zinnow) bricht der Teufel los.
Am 21. begegnet mir Scholtz auf einem einsamen Spaziergange
mit Christel, und erzählt es meiner Frau!
Die große Gesellschaft wird von nun an etwas weniger besucht.
Der Prinz Louis, Kurnatowski, die Familie Cesar, Pauline ze. die
Levin, werden die Hauptfiguren. Alles bezieht sich auf Christel.
Aufenthalt Ivon 3 oder 4 Tagen zu Tegel bei Humboldt's.
Bei meiner Rückkehr nach Berlin am 3. April steht es äußerst schlecht
Mit mir. I5n rentimit elivx moi, in solitucle c>ne ^e tronv-us <I-in8 I»
maisan, Wut ce «zu« je sapins, tont ce «jue je sereins, in'-» jette
«um« tief triinsos «!e desespoii."
5. April. Sollte man es glauben —? „I^e plus pressimt, I«
plus 8v»«idle ac nos in»IIi«l>r« et-'it l'impNLsibilitv «le k-tire un c-t-
«iesu ii, el,ri8te!, «mi av»it »njaurll' In» s»n b^melee." — Und an
demselben Tage führt dem Unwürdigen, der das schreiben konnte, das
Schicksal eine Rimesse von 1000 Pf. Sterling aus England zu!!
Zwischen den Gasthöfen — Stadt Paris, Tarone, Courtois :c.
— Rahel, Kurnatowski — und pro knien-i einige Soireen bei Sta¬
dion und O'Farn, — geht nun die tolle Passion für Christel ihren
Gang. Mit Zinnow hatte ich Freundschaft geschlossen. —
'
Bei Christels Mutter in Treptow werden tagelange Rendezvous
gehalten.
Zinnow verliebt sich in Pauline. Nun bin ich obendrauf bei Chri¬
stel. — „N.-rilltenmit c'oft Jo <1vI1r« complot!^ — Dabei die größte
Intimität mit Zinnow. Wir fressen und saufen in der Stadt Paris,
fahren wie toll im Whisky auf der Promenade, spielen Tarok ze.
Am 4. Mai schlägt mir (Minister) Voß die Erlaubniß zu einer
Reise nach Teplitz ab. — Am folgenden Tage, nach einer Unterredung
mit Grattenauer über meine häuslichen und Geldverhältnisse, seht der
Gedanke, Berlin zu verlassen und meine Ehe zu trennen, sich in
mir fest.
Am 1Z. sagte ich meinem Schwiegervater, da er eine große Amts¬
reise antrat, nach einer ziemlich milden Unterredung — „u>, .nlle»
«toi-liet" — so heißt es im Tagebuch. Mithin muß ich damals meine
Trennung von Berlin schon für gewiß, und für ewig gehalten haben.
— Ebenso scheint am 48. Mai eine Haupterplication mit meinem Va¬
ter stattgefunden zu haben.
Am 21. kommt Lombard zu nur, und sagt mir, der König
werde die Erlaubniß zu meiner Reise ertheilen.
Am 24. zieht meine Frau und Schwiegermutter ohne mich nach
Schöneberg. Der Abschied muß traurig gewesen sein. — Wiederum
höchst fatale Erklärung mit dem Minister Voß über meine bevorste¬
hende Reise. — Endlich Abends ein herzzerreißendes Gespräch mit
meinem Vater, welches damit schließt, daß er, als wir uns verlassen,
einen Anfall von Schwindel bekommt, fallt (ich mit ihm) und sich am
Kopf verwundet. — Und nach solchen Scenen konnte ich von Gott
Verlaßner den Abend noch mit Christel, Zinnow und Bohlen zu¬
bringen !
Indessen söhne ich mich am folgenden Tage mit meinem Vater,
der sich besser befindet, Mutter und Schwestern aus. Und der redliche
alte Mann gibt mir noch Geld zur Reise!
Unterdessen geht die Geschichte mit Christel ihren Gang) bald
in, Frieden, bald im Krieg, aber immer Christel und Christel! — Zu-
letzt am 18. Jtttti bei ihr, — „II 110 mo restait s>>l' ii. mo fetter en-
tierement ludus los nrop-ti^eilf d» ovvi^Ap!" — Und doch spiele ich
an dein nämlichen Abend auf dem Casino Hasardspiele, und verliere
eine große Summe. An eben demselben Tage hatte ich von meinen
Eltern und Schwestern Abschied genommen!
Am 19. nehme ich von meiner Frau Abschied — und am 20.
früh um 3 Uhr fahr' ich mit Adam Müller von Berlin, um es
nie wiederzusehen.
Am 20. Juni mit Müller von Berlin abgereiset, bin ich am
23. über Torgau und Meißen in Dresden angekommen, und hier bis
zum 15. Juli geblieben. Dann mit Graf Frohberg, den ich zufäl¬
lig bei Lerchenfeld's kennen gelernt, nach Teplitz. Sowohl in Dres¬
den als Teplitz nichts als vornehme Bekanntschaften gemacht, Diners
Soupers, Laubparthien, Spiel. — Endlich am 27. Juli, nachdem ich
von Iglau bis Wien mit Frohberg ohne Unterlaß Piket gespielt hatte,
in Wien angekommen, und die Stadt greulich gefunden. Wie und
wodurch eigentlich der Entschluß nach Wien zu gehen definitiv bestimmt
wurde, davon sagt das elende frivole Journal kein Wort.
Die eigentliche Geschichte meiner Anstellung in Wien — kenne
ich selbst nicht. Meine damals äußerst geringe Terrainkenntniß und
die unbegreifliche Magerkeit des Journals läßt mich im Dunkel. Es
scheint, daß von einer Seite Landriani (durch Colloredo und Co-
benzl), von der andern Fasbender daran gearbeitet. Letzterer be¬
wog mich, an eben dem Tage, wo er mich dem Erzherzog Karl Prä-
sentirt hatte, eine Art von Memoire zu schreiben, wodurch ich meine
Dienste anbot, der einzige positive Schritt, den ich je gethan. Das
Schicksal dieses Memoire's ist mir unbekannt. Nach 10 oder 12 Ta¬
gen werde ich durch Colloredo zur Audienz des Kaisers geschickt, der,
wie ich mich deutlich erinnere, keine Lust bezeigte, mich in seine Dienste
zu nehmen. Nichtsdestoweniger ließ mich Cobenzl 5 Tage nachher
(am 6. September) zu sich kommen, und meldete mir, daß der Kaiser
mich mit 40V0 Gulden als Rath in seine Dienste nähme. Ich bat
um Erlaubniß, noch einmal nach Berlin zurückzukehren, die mir auch
gern gewährt wurde.
Hierauf verließ ich Wien in der Mitte Septembers, und reisete
in zwei Tagen nach Prag, hielt mich hier aber vier Tage und dann
noch zwei in Teplitz auf, blos um mit Cholet'ö und Clary's und
Rotterdam'ö und andern vornehmen Leuten Schnickschnack zu treiben;
endlich kam ich am 22. in Dresden an. Hier faßte ich den Entschluß
nicht wieder nach Berlin zu gehen, sondern bat schriftlich um meinen
Abschied, durch einen Brief an den König. Was ich nun weiter thun,
wovon ich leben wollte, (wovon ich bis dahin gelebt habe,) das alles
ist mir jetzt ein Räthsel. In Dresden trieb ich mich, wie gewöhnlich,
mit der eleganten Welt, mit Metternich, Elliot und andern vornehmen
Leuten herum; und ganz zufällig machte mir Elliot am 26. den Vor¬
schlag, mit ihm nach England zu reisen.
Soviel ich mich erinnere, gab mir Metternich einen Wechsel auf 100
Pf. sert. und Armfeldt, dem ich noch den letzten Abend 200 Thaler abge¬
wann, einen ähnlichen auf London mit. Und am I.Octbr. reisete ich allein
von Dresden nach Weimar ab. Dort lasse ich mir vom Herzog 40
Louisd'or vorschießen, schicke meinen Bedienten mit einer Unzahl von
Briefen nach Berlin, und erwarte nun Elliot, der auch glücklich am
6. ankommt. Mit ihm reise ich nun nach Frankfurt, von da zu Was¬
ser nach Coblenz, nachdem ich in Frankfurt meinen Wagen verkauft
hatte; dann über Brüssel, von Elliot auf'S äußerste tyrannisirt, nach
Calais.
Von den öffentlichen Begebenheiten dieses merkwürdigen Zeit¬
raums habe ich in meinen Tagebüchern wenig aufgezeichnet, ob ich
gleich darin lebte und webte, und sie stets früher als das Publicum
erfuhr. Dies Stillschweigen hatte wohl hauptsächlich darin seinen
Grund, daß ich fast immer abgesonderte politische Journale führte, die
jeh später zu vernichten für gut hielt.
Sonderbarer ist, daß ich selbst über meinen Gesundheitszustand in
jenen Tagebüchern sehr sparsame und unvollkommene Notizen finde.
Daß ich seit dem Februar zuweilen unpäßlich und leidend war, ist ge¬
wiß; Mes, daß ich einigemale den alten Frank consultirte. Indessen
scheinen diese vorübergehenden Uebel weder auf meine Geschäfte, noch
nuf Meine gesellschaftlichen Verbindungen Einfluß gehabt zu haben;
und am 2. Mai (meinem Geburtstage) schrieb ich: „N-t «.meo »'«se
'extrömoment'rstiiM« «Ivpuis «>not<zuo» semninvs; j« no Spas pros'g«
'«»tsi Kiön quo llcMK l«s !)<NI« tewps !' VtÄjzuv." In eben diesem
Artikel war ich thöricht genug zu glauben, e-rrri«,« nnlitiqu«
devint I'zur it'vero linie iivvv los 6vvnomvuts— eine denkwürdige
Probe der Stockblindhcit, in welcher verständige Menschen zuweisen
über ihre nächsten Schicksale schweben! — °
Am 8. Mai reisete die Herzogin von Sagan nach Paris, nach¬
dem sie mich in der letzten Zeit, durch gewisse neu angesponnene Ver¬
hältnisse, die mit denen, wovon ich der Vertraute war, nicht gut stimm¬
ten, in mancherlei Verlegenheiten verwickelt hatte. Beinahe hätte ich
mich entschlossen, unaufgefordert ebenfalls nach Paris zu reisen; doch
gab ich dies unverdaute Projecr bald wieder auf.
Am 3. Juni ging ich nach Baden, und brachte den ganzen Mo¬
nat bald dort bald in Wien zu. In Baden gebrauchte ich das Jo-
hannisbad, weil ich die stärkern fürchtete. Meine dortigen Gesellschaften
waren vorzüglich die der Fürstin Bagrathion, der Gräfin Fuchs; F.
Land, jetzt englischer Minister, viele Freunde. — In der Stadt gab
ich, in meiner kleinen, aber sehr gut eingerichteten Wohnung, häufige
und ausgezeichnete Diners. General Langenau, Graf Schulenburg,
die Grasen Kolowrat, Vater und Sohn, Fürst Paul Esterhazy und
Andere sah ich täglich. Gearbeitet wurde gar nicht viel.
Am 16. hielt der Kaiser seinen Einzug in Wien; und am Abend
dieses Tages waren Stadt und Vorstädte auf'ö prachtvollste erleuch¬
tet. ES war die schönste Illumination, die ich je erlebte.
In den ersten Tagen des Juli kamen Fürst Karl Schwarzenberg,
mit dem ich damals viel umging, Graf Stadion, mein getreuer Pilat,
und viele Andere aus Frankreich zurück; Graf Clam-Martinitz aus
London.
Am 15. fuhr ich dem Fürsten Metiernich nach Se. Potter, und
voll da, nach zweitägigem Harren, am 17. nach Moll entgegen, wo
er zwischen 4 lind 5 Uhr Morgens ankam, und von wo ich ihn (am
18.) nach Bnrkersdors begleitete.
Am 20. wurde (auf Veranstaltung des Grafen Ferdinand Palffy)
dem Fürsten vor der Staatskanzlei eine feierliche Nachtmusik gebracht.
Die Fürstin wohnte mit ihren Kindern in Baden; der Fürst war
die meiste Zeit ebendaselbst; und dies war auch mein Fall. — Durch
die Ankunft der Herzogin von Sagan wurde dieser Aufenthalt sehr
stürmisch, und ich mußte die Ehre, Vertrauter und Vermittler zu heilt,
oft theuer bezahlen.
Meine Gesundheit war damals so fest, daß ich mehr als einmal
mitten in der Nacht von Baden nach Wien, oder von Wien nach
Baden fuhr. An letzterem Orte hielt ich mich während des ganzen
Monat August auf. Tägliche vertraute Gespräche mit dem Fürsten,
bald über die öffentlichen Angelegenheiten, bald über seine eigenen, —
der Umgang mit Baron Humboldt, der von Berlin, mit Adam Mül¬
ler, der auf acht Tage zum Besuch gekommen war, — dann mit Ba¬
ron Binder, General Steigentesch, Fürst Windischgrätz, Fürst Wenzel
Liechtenstein, und vielen andern Personen, — endlich jeden Abend eine
l'Hombre-Parthie bei oder mit der alten Gräfin Fekete, — füllten,
neben mancherlei Arbeiten, meine Zeit aus. Die Bäder setzte ich ziem¬
lich regelmäßig fort; und meine Gesundheit, schrieb ich, „so riMü'mit
^lo^i^ieusvmvnt."
Am 15. hatte ich einen schweren Kummer, weil Karl Leiden, den
ich mit der ganzen Zärtlichkeit eines Vaters liebte, sich plötzlich, von
einer Jugendgrille verleitet, von mir entfernt hatte. Die Sache ging
mir so zu Herzen, daß nur die Anwesenheit Adam Müllers und seine
geistreichen und erhebenden Gespräche mich aufrichten konnten. Indes¬
sen kehrte der Flüchtling bereits am 19. wieder zurück, und alles war
vergessen.
In den ersten Tagen des September siel schlechtes und sehr kal¬
tes Wetter eil,, welches den Aufenthalt in Baden unangenehm machte,
mir auch einen leichten Fieberanfall zuzog, der mich mehrere Tage im
Hause hielt. Doctor Koreff, der damals auch in Baden wohnte,
(welches die Fürstin Bagrathion krankheitshalber verlassen hatte) ver¬
schrieb mir einige Arzneien; Fürst Metternich, Gräfin Fuchs, Graf
Louis Schönfeld, Ferdinand Palffy, Felir Woyna, Fürst Löwenstein,
Neumann, besuchten mich häufig. Es wurde mehrmals bei mir die
l'Hombre-Parthie gemacht, an der auch Fürst Metternich zuweilen Theil
nahm. Am 14. konnte ich wieder in's Bad gehen.
An eben diesem Tage erhielten wir die Nachricht von der An¬
kunft des Lord Castlereagh, des Fürsten Hardenberg, des Grasen Nes¬
selrode, und anderer Minister in Wien. Der zu Paris beschlossene
allgemeine Congreß sollte seinen Anfang nehmen. Da keiner der Her¬
ren Lust bezeigte, nach Baden zu kommen, hingegen Lord Castlereagh
den Fürsten Metternich in einem sehr ernsten und feierlichen Billet
aufforderte, das große Geschäft je eher je lieber zu beginnen, so begab
sich dieser am 15. in die Stadt; und als er zurückkam, kündigte er
den unmittelbaren Aufbruch von Baden an. Ich nahm am 16. das
letzte Bad, und zog am 17. in die Stadt.
Hier that sich eine neue Welt auf. Schon am 18. besuchte ich
Nesselrode und seine Gemahlin, mit denen ich von Stunde an in die
freundschaftlichsten Verhältnisse trat. Zu Mittage sah ich bei Hum¬
boldt den Herzog von Weimar, den Kanzler Hardenberg, Minister
Stein, General Krusemark, Graf Solms-Laubach ze. :e. Und Abends
machte ich meinen ersten Besuch bei Lord und Lady Castlereagh.
In einer der vorläufigen, ganz vertraulichen Conferenzen, zwischen
Metternich, Castlereagh, Nesselrode, Hardenberg und Humboldt, war
einstimmig beschlossen worden, mir die Führung des Protokolls zu
übertragen. Und am 23. machte mir Graf Nesselrode diesen Beschluß,
den sämmtliche Minister mit gleichem Empressement gefaßt hatten, be¬
kannt.
Ich werde hier zuerst die Hauptdata meiner Theilnahme an den
Verhandlungen des Congresses, bis zu Ende dieses Jahres verzeich¬
nen, und dann nachtragen, was sich auf das Gesellschaftliche und Per¬
sönliche bezieht. Ich habe früher manchmal sehr bedauert, daß mir in
einem namenlosen Drange von Geschäfte,, und Zerstreuungen nicht die
Zeit geblieben war, ein regelmäßiges politisches Journal über diese
wichtige Epoche zu führen. Heute bedaure ich es nicht mehr. Daß
ich jemals im Stande gewesen wäre, aus dem damals gesammelten
Stoff ein zusammenhängendes Werk zu bearbeiten, ist wenigstens sehr
zweifelhaft. Meine Noten aber, so wie sie mir der Augenblick eingab,
liegen zu lassen, und dereinst, wer weiß welchen Händen zu überlie-
'fern, hielt ich nicht allein für unklug und undelicat, sondern in mehr
als einem Betracht für unredlich und gewissenlos; denn ich stand den
Begebenheiten zu nahe, und wär zu lebhaft davon betroffen, um bei
einer Geschichtschreibung stehen zu bleiben, und mir nicht in unzähligen
Fällen Kritik, zuweilen strenge, auch wohl bittere Kritik zu erlauben.
Und da ich mich nie dazu berufen fühlte, gegen große Männer, die ich
persönlich schätzte und liebte, und denen ich maimichfaltigen Dank schul¬
dig war, das Amt eines Censors auszuüben, so habe ich der Idee,
politische Memoiren zu hinterlassen, ein- für allemal entsagt, und nach
und nach meine sämmtlichen Notate vernichtet. Die letzten noch übri¬
gen haben mir dazu gedient, folgende einfache, gedrängte, aber durch¬
aus der Wahrheit gemäße Skizze zu entwerfen.
An den ersten vertraulichen Besprechungen hatten blos die vier
Cabinetsminister von Oesterreich, Rußland, England und Preußen
Theil. Humboldt wurde hauptsächlich wegen der Hartnäckigkeit des
Fürsten Hardenberg zugezogen. Das erste mir übertragene Geschäft
war die Abfassung einer Deklaration im Namen dieser vier Höfe; der
Entwurf wurde am 29. September angenommen.
An, 30, erschien Fürst Talleyrand zum ersten Male in diesen» Kreise
und führte den spanischen Gesandten Labrador ans. Beide protestirten
gewaltig gegen Form und Resultate der bisherigen Verhandlungen
und unter andern fand am 5,. October eine stürmische Sitzung statt,
in welcher Talleyrand sogar von Austritt sprach. Man vereinigte sich
jedoch endlich dahin, daß außer den Bevollmächtigten der sechs bisher
zur Deliberation gezogenen Mächte, auch noch Portugal und Schwe¬
den daran Theil nehmen sollten; und so kam am 8. October das
mit» «los linn zu Stande, welches nach einer langen und merkwürdi¬
gen Sitzung, seine Geschäftsführung mit einer in diese neue Form ge¬
gossenen Deklaration eröffnete.
Die Bevollmächtigten, welche diese Plenar-Conferenz, wie man sie
auch nannte, bildeten, waren folgende: Oesterreich: Fürst Metternich
und Baron Wessenberg; Preußen: Fürst Hardenberg und Baron
Humboldt; England: Lord Castlereagh (später Wellington), Lord Ste¬
wart, Lord Clancarty; Frankreich: Fürst Talleyrand, Herzog Dalberg,
Graf La Tour du Pin, Vicomte Noailleöi Spanien: Labrador; Por¬
tugal: Graf Palmella, Graf Saldagna, Lobo; Schweden: Graf Lö-
wenhielm; Rußland: Graf Nesselrode, Graf Nasumoffsky, Graf
Stackelberg. Die Versammlung erkannte mich ohne Weiteres als er¬
sten Secretair an, und Hofrath Wanken wurde vom Fürsten Metter¬
nich, dem man das Präsidium übertrug, zu meinem Secundärem ernannt»
Für die deutschen Angelegenheiten wurde ein abgesonderter Aus¬
schuß creirt, der aus den Bevollmächtigten von Oesterreich, Preußen,
Sachsen, Hannover, Baiern, Würtemberg und Baden bestand. Das
Protokoll bei diesem Ausschüsse wurde dem Hofrath Mariens Übertrages.
Die Bevollmächtigten des Königs der Niederlande, der Könige
von Dänemark, Sardinien, Neapel, deö Papstes, der sämmtlichen ita¬
lienischen und sämmtlichen deutschen Fürsten vom zweiten und dritten
Range, hatten an keinem dieser Ausschüsse unmittelbar Theil. Ihre
Geschäfte wurden theils in separat-Conferenzen, theils durch schrift¬
liche Verhandlungen geführt.
Der Congreß in seiner Gesammtheit ist eigentlich nie zur Wirk¬
lichkeit gekommen. Durch die Declaration vom 12. October wurde er
ajournirt. Als aber am 29. October in einer sehr lebhaften Confe-
renz (ver vier Höfe) auf Lord Castlereagh's Antrag in ernsthafte
Ueberlegung genommen wurde, wie man, bei der Menge der anwesen¬
den Bevollmächtigten, und der Schwierigkeit, die Grenze der Zulassung
derselben zu bestimmen, und bei der Menge und Ungleichartigkeit der
Geschäfte, und unzähligen andern Bedenklichkeiten, eine solche Ver¬
sammlung organisiren könnte, so fiel endlich nach einer starken Debatte
(an welcher ich sehr thätigen Antheil nahm), der Entschluß dahin ans,
daß man gänzlich darauf Verzicht thun müsse. Der Congreß, als
solcher, ist daher blos durch seine Schlußacte in's Leben getreten.
Die große Conferenz deS Comite der Acht ward überhaupt, be¬
sonders aber in den ersten Monaten, auch nur selten versammelt; die
wichtigsten Angelegenheiten wurden durch Schriftenwechsel, in sepa-
rat-Conferenzen, und in geheimen Besprechungen verhandelt; und die
große Conferenz war fast nur damit beschäftigt, das, was auf diesen
Wegen schon beschlossen war, zu Protokolliren und festzusetzen. So
wurde in den beiden Sitzungen vom 13. und 17. November die Ueber,
tragung von Genua an den König von Sardinien entschieden.
Die größte und schwierigste Sache, welche die Höfe in der ersten
Periode des Congresses beschäftigte, war die der Territorial-Nestitutio-
nen, und vor Allem die Ansprüche, welche Rußland auf einen großen
Theil von Polen, und Preußen auf das Königreich Sachsen machte.
Der Plan des Kaisers von Rußland, ein neues Königreich Polen un¬
ter seiner Protektion zu errichten, war längst unwiderruflich beschlossen;
seine Truppen hatten den größten Theil dieses Landes besetzt; und ob¬
gleich gegen diesen Plan eine Menge von Stimmen sich erhoben, we¬
der Oesterreich, noch Frankreich, noch England, noch Deutschland da¬
bei gleichgültig bleiben konnten, so zeigte sich doch bald, daß Nußland
und Preußen darüber einig waren, und daß, ohne Krieg mit beiden,
die gefahrvolle Acquisition nicht mehr hintertrieben werden konnte.
Lord Castlereagh allein leistete eine Zeitlang scheinbar tapferen Wider¬
stand, und führte in den Monaten October und November mit dem
Kaiser eine merkwürdige und nachdrückliche Correspondenz, die aber
so wenig wie Talleyrand's Deklarationen und Sarkasmen und Oester¬
reichs Vorstellungen fruchteten. Wir mußten zuletzt froh sein, nur
Gallizien für Oesterreich, und das Großherzogthum Posen für Preu¬
ßen gerettet, und die armselige Republik Krakau geschaffen zu haben.
Hier endet der übersichtliche Auszug, welchen Gentz aus seinen
ersten Notaten angefertigt hat. Die weiteren Notate aber, die dem Verfolg
des Congresses gewidmet worden, sowie mehrere spätere Jahrgänge
derselben, dürften wohl noch einst sich vorfinden, und vielleicht in ge¬
Ein Fenster im vierten Stockwerk eines großen Hauses ans dem
Het?n «In Mlnnv ist jetzt meine ganze Seligkeit; jeder Blick, den ich
hinauswerfe, enthält einen ganzen Himmel an Wonne und süßen
Empfindungen. Der See in seiner blauen Pracht liegt vor mir, und
ich kann es nicht müde werden, hinausznschanen. Er übt eine so
magische Kraft auf mich aus, daß ich Frühstück und Mittagsmahl
über seinen Anblick vergesse. Und kann man denn hier in Genf etwas
Besseres thun, als seine Tage im harmlosen Genusse der Natur hin¬
bringen, wenn man durch Umstände gezwungen ist, nur mit der Herr-'
sehenden Kaste zu verkehren! Nein, es kann sich Niemand einen Be¬
griff machen von diesen Leuten, der nicht eine Zeit lang hier gelebt
hat. An andern Orten findet man dergleichen Menschen wohl auch,
aber nur vereinzelt. Hier sind sie eine compacte Masse, bilden die hö¬
hern Kreise der Gesellschaft lind haben das Ruder des Staats in
Händen- Todter Nnchstabenglaube, sinnliche Frömmelei, weichliche
Ueppigkeit, Engherzigkeit, Unduldsamkeit — das sind die Hauptzüge
ihres Charakters. — — Einen meiner ersten Besuche machte ich bet
der Familie Zc., die bei Cologny an dem Ufer des Sees eine der rei¬
zendsten Campagnen bewohnt. Es ist eine der ersten und angesehen¬
sten Familien Genfs, die auch auswärts vielfach bekannt ist, deren
Namen ich aber aus Rücksicht der Gastfreundschaft verschweigen muß.
Wenn im Verlaufe dieser Zeilen so viel von Herrn Zc. die Rede ist,
der weder eine politische Rolle spielte, noch überhaupt ein außerge¬
wöhnlicher Mensch ist, so geschieht es nur darum, weil er der beste
Typus der hierorts herrschenden Finanzaristokratie ist. Herr A., etwa
50 Jahre alt, ist ein äußerst feiner Mann, fein bis an's Weibische
grenzend; sein mattes Auge hat etwas schmachtendes, vielleicht Leiden¬
des; ein immerwährendes Zittern an den Händen vermehrt diesen Ein¬
druck, und seine Stimme ist ganz entsprechend — vornehm leise und
kränklich empfindsam. Das ganze Wesen dieses Mannes ist so glatt
und leer, daß man ihn nach einer Viertelstunde auswendig weiß und
nöthigenfalls hersagen könnte. Nach den ersten herkömmlichen Begrü-
ßungsphrascn nahm das Gespräch, ehe ich mich dessen versah, eine re¬
ligiöse Wendung. Herr X. fragte mich nach verschiedenen Genfer Geist¬
lichen, die vor Jahren in meiner deutschen Vaterstadt die französischen
Gemeindeseelen besorgt hatten. Ich glaubte diese Unterhaltung am be¬
sten durch die Erklärung abzuschneiden, daß mir diese Herren völlig
unbekannt seien. Aber grade das Gegentheil war der Erfolg. Mit
aufwärts gerichteten Augen und tremulirender Stimme beklagte mich
Herr X., daß mir bis jetzt die genußreiche Bekanntschaft jener ausge¬
zeichneten Christen gefehlt habe und schätzte sich glücklich, mich densel¬
ben in Kurzem vorstellen zu können. Ich verneigte mich stumm, da
ich einsah, daß es hier keinen Ausweg gebe und empfahl mich nach
wenigen Minuten. Tags darauf erhielt ich ein Billet, worin mich
Herr X. zum Mittagessen einlud, mit dem Bemerken, daß er meinem
Wunsche gemäß jene Geistlichen eingeladen habe, auf deren Bekannt¬
schaft ich mit Recht so begierig sei. Ich war sehr ärgerlich über diese
Einladung und lange im Zweifel, ob ich derselben folgen oder absa¬
gen sollte.
Unbegreiflich schien es mir, daß man mich, einen jungen Mann,
dem die Lebenslust aus jedem Blicke sprach, auf solche Weise zu f6-
tirer gedachte. Das sah ja beinahe aus, wie ein Bekehrungsversuch.'
Bekehrung! — Jetzt ward mir auf einmal der ganze Zusammenhang
klar. Der junge X. in Paris hatte mich mehrmals meine religiösen
Ansichten unumwunden aussprechen hören und mir den Vorwurf der
Unchristlichkeit und des Unglaubens gemacht. Beängstigt um mein See¬
lenheil, bot er mir an seine Familie in Genf eine Empfehlung an und
gab dieser in's Geheim Nachricht über die schlechte Verfassung meiner
Seele. Daß es nicht anders sein könne, davon war ich jetzt fest über¬
zeugt (und später hat es sich ganz so bestätigt). Dennoch konnte ich
über diese fromme Perfidie nicht ernstlich böse sein, sondern betrachtete
es als eine herrliche Gelegenheit, diese Menschen von Grund aus zu
studiren. Den folgenden Tag erschien ich bei X., wo sich Herr La-
harpe, eines der Häupter der Momiers, bereits eingefunden hatte. Hr.
X. stellte mich vor und drückte mir sein Bedauern ans, daß Hr. silet
und einige andere Geistliche ihm abgesagt hätten. Darauf begab man
sich zur Tafel, welche von Hrn. Laharpe mit einem langen Gebete er¬
öffnet wurde, während dessen ich Zeit hatte, den köstlich besetzten Tisch
zu mustern, wobei ich gewiß ein sehr andächtiges Gesicht gemacht habe.
Das Gespräch blieb trotz meiner anfänglichen Bemühungen, ihm eine
anoere Wendung zu geben, bei den Artikeln: Frömmigkeit, Religion,
Geistlichkeit, Kirche und dergl. stehen. Dabei hörte ich denn Vieles,
was zur Beurtheilung des Treibens der Genfer Separatisten nicht ohne
Interesse ist, und wovon ich hier das Hauptsächlichste mittheilen will.
Gleich bei der Suppe wurde mir erzählt, daß Herr Laharpe und Hr.
Se. George im Begriffe ständen, eine Reise in das südliche Frankreich
zu unternehmen, wo es ihnen und ihren Freunden gelungen sei, zahl¬
reiche Anhänger zu finden. Das Volk fange dort an, einen lie^out
an den Priestern (den katholischen nämlich) zu haben und da werde
es denn wohl gelingen, ihrem Glauben eine «Nrection plus «ohn^e-
lle^ne zu geben. Weiter erfuhr ich, daß die Hrn. Laharpe, silet
u. s. w. im Jura bei einer Arbeiterbevölkerung, die materiell, mais prin-
eiuulement ein-us le iannort ivI'iAieux sehr vernachlässigt sei, ein Ho¬
spital und eine Schule für geistlichen Unterricht eingerichtet hätten.
Die französische Negierung sei früher genöthigt gewesen, eine Unter¬
stützung für diese Anstalten zu verweigern, jetzt aber (seit 1841) gebe
sie 5000 Fro. jährlich. Ferner: ein katholischer Pfarrer sei zur evan¬
gelischen Religion übergetreten! Es kämen zwar öfters katholische Prie¬
ster angeblich in dieser Absicht nach Genf, allein man müsse sich vor
ihnen hüten, da sie meist andere Zwecke dabei hätten. Auch seien
diese eures sämmtlich unwissende, rohe Menschen; dieser aber sei aus¬
nahmsweise nlein «1'ehrt'it, et«s-r»illant und habe diesen Schritt
nur nach einem ex-unen mur et iruurotuntll gethan. Weiter hätten
Hr. A'. und seine Freunde (sie sagen immer: nous et nos amis) im
Faubourg Se. Antoine in Paris, jenem von der nonulaee In, plus
vile (d. h. von Proletariern) bewohnten Quartiere, aus welchem in
den temps rü.-Utieureux ac I-i, I^rimev alle jene zerstörenden Rotten
hervorgegangen seien, Schulen errichtet, die bereits über 800 Kinder
zählten; und die Polizeicommissäre hätten schon nach Jahresfrist
eine unendliche Besserung wahrgenommen. Als ich über diesen
schnellen Erfolg einen bescheidenen Zweifel ausdrückte, sagte Hr. Zt.:
Monsieur, e'est lit IVir^e moi'Fi<zue de I'vvkMAlle, und fügte zur wei¬
teren Erklärung noch bei, daß z. B. wenn die Eltern fluchten — hier
richtete Hr. X. seine Blicke gen Himmel — die Kinder eine tadelnde
Bemerkung machten! n. s. w. Nach der Tafel, die wieder mit einem Ge¬
bete beschlossen wurde, machten ein Herr und eine Dame ihren Besuch.
„Obgleich," sagte mir Herr X., „dieser Mann sehr reich und auch mein
Verwandter und Professor ist, hat er sich doch an die Spitze einer «col«
primsil-o im ^u-ulier 8t. Leiv-us gestellt, um der maßlosen sittlichen
Verwahrlosung dieses Stadttheils entgegen zu treten, c-n-, Monsieur,
tont co rin'it ^ :r lie ni>,8 1',-ulicilI et «to »Ins I)«u88inA!mIt ^!) est
sorti lie co auartim-. Jedoch sei er bereits mit der <?Alisv natur^Is
in Zwiespalt gerathen, obwohl er nicht gerade Methodist sei, son¬
dern nur „les ni-moipes <l<. zws -ums" etwas stärker ausspreche.
Unter exlise oiitionaiv versteht Hr. X. 1-^ innioiitv «Zu clorAv uni est
tont -t knie riition-lie. Die Orthvdoren theilen sich dann in Momiers
und Methodisten, welche letzteren zwar anch lZ<?8 niincines Wut co-m-
Avli^nos haben, sich aber wirklich als separatistische Kirche erklärt und
eine strengere Kirchenzucht eingeführt haben. Jetzt erst gelang es mir,
die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand zu leiten. Ich sprach
von der tlo elo k. ^. lioiisseau und der Musik, die ich gestern Abend
da gehört habe. Madame A'. meinte darauf, dieses Rousseaudcnkmal
solle man in den See werfen, worauf ich arglos erwiderte: Aller¬
dings hätte diesem großen Manne ein weit schöneres Monument ge¬
bührt. Madame warf mir einen zweifelhaften Blick zu, hielt einen
Augenblick den Athem an und fuhr dann heraus: Durchaus uicht,
mein Herr, durchaus nicht; es ist eine Schande, daß man diesem ab¬
scheulichen Menschen ein Denkmal gesetzt hat, der nicht einmal Scham
genug hatte, seinen frechen Unglauben zu verschweigen. Und Hr.
und Laharpe stimmten alsbald mit ein, und eiferten fanatisch gegen
Rousseau und seine ce»it'<zssic)n8. Ich begann mit der möglichsten Ruhe
eine Vertheidigung meines lieben Jean Jacques. Aber bald verlor sich
meine erzwungene Kaltblütigkeit und ich brach in eine donnernde Phi-
lippina aus gegen Intoleranz, Fanatismus und pietistichen Hochmuth,
der sich nicht scheue, auch das Erhabenste mit seinem Geifer zu be¬
sudeln. Die Blicke, die sich meine Zuhörer während dessen einander
zuwarfen, zeigten mir an, daß es nun Zeit, sei, mich zu entfernen.
Ich bin nicht wieder in dieses Haus gekommen. Welche Propaganda
des Pietismus haben jene Herren triumphirend vor mir entfaltet!
Welcher Fanatismus spricht sich aus in den zahlreichen Proselyten-
fabriken, von denen sie mir erzählt! Ueberall ist ihnen weit mehr
darum zu thu«, die Menschen zu ihrem Glauben zu bekehren, als
ihre Sittlichkeit, und ihre geistige Bildung zu befördern. Oder warum
wäre jener Vorsteher der 6noto primau-s in Se. Gervais mit der
«^uso uittioniUl! in Zwiespalt gerathen, wenn er seine Schüler nicht
in dem grassesten Mysticismus und gefährlichsten Pietismus erzöge?
Denn die vAUse n-ttionale, welche nach Hrn. Z5. und seinen Freunden
Wut i, tut rationale ist, ist nichtsdestoweniger höchst orthodox, sie hat
kein einziges Dogma aufgegeben; sie glaubt an die Transsubstantiation
des Weins und des Brodes, an die Gottheit Christi, an die Dreiei¬
nigkeit, kurz an Alles, was ein orthodoxer Christ glauben muß. Kein
Wunder also, wenn diese Separatisten bei der französischen Regierung
keine Unterstützung fanden, ehe Hr. Guizot und Hr. Salvandv am
Nuder, waren. Diese Momiers und Methodisten sind meistens reiche
Leute der höheren Klassen, die ihre weichliche Sinnlichkeit und geist¬
lose Ueppigkeit mit einer pietistisch-mystischen Religiosität bemänteln.
Ueber Trüffelpasteten, Austern und Champagner wird ein langes Ge¬
bet gesprochen und dann fromm in aller Demuth vor dem Herrn ge¬
schlemmt. Die Unterhaltung geht über die Verworfenheit des Volkes
(im «zuiutior 8t. ^ntoino), das sogar Iiorribile iliotu — flucht!
daß es hungert und im größten Elende schmachtet, das kümmert sie
sehr wenig. Nicht die Theilnahme an dem Loose eines Mitmenschen bewegt
solche fromme Augenverdreher zu einem Almosen, sondern allein ihr
raffinirter Egoismus. Ihr verwöhntes Auge wird durch den Anblick
des Jammers verletzt, ihr vornehmes Ohr durch einen gesunden Fluch
gekränkt, darum, aber nicht aus Theilnahme geben sie Geld her zur
Ernährung und besseren Erziehung des Volkes. Das wahre Elend
in seiner tragischen Größe kennen sie nicht, sie haben keinen Begriff
von den Leiden der Armen; das zeigt sich bei tausend Gelegenheiten.
Ich erinnere mich zur Zeit der Cholera in Berlin einer gewissen Grä¬
fin, die bei der Austheilung der Kleidungsstücke beschäftigt war, die
damals auf Betrieb einer edlen Frau den Armen gespendet wurden.
Sie gab Leuten, die 3—4 Hemden besaßen, noch 6 oder 8 daz»,
weil man mit weniger als einem Dutzend doch unmöglich auskommen
könne. „Warum ißt das arme Volk keinen Kuchen wenn es an
Die Michaelismesse ist überstanden und die Leipziger rücken in ihre
Winterquartiere. Dies ist buchstäblich zu nehmen. Beim Herannahen
der Meßfremden verlaßt halb Leipzig seine Quartiere, wie beim Heran¬
nahen einer feindlichen Armee. Man zieht in die kleinen Hinterstübchen,
auf den Boden, in den Keller. Die großen Familienwohnungen werden
geräumt und die fremden Heerschaaren schlagen ihre Zelte darin auf, zün¬
den ihre Wachtfeuer darin an. Das trauliche Familienzimmer, das ein
kaum eingesegnetes junges Ehepaar zum stillen Hochzcitstempel eingeweiht,
wird schnell wieder geräumt, um einem Lederfabrikanten oder Pelzhändler
Platz für seine Waaren zu machen, die geheiligte Stube, wo eine junge
Mutter so eben ihre ersten Mutterfreuden gefeiert, wird zu einem Ma¬
gazin für Schweineborsten und Quincaillerien, in der bequemen Kammer,
wo der blinde Großvater die letzten Lebensjahre an den gewohnten Wan¬
den herumtappt, hat ein Pariser Friseur seine Haartouren und k'vini»»'»
<1e I^ion feil. Alles ist vermiethet, umgestürzt, entweiht. Die Hälfte
der Leipziger Einwohner wohnt unter der Bedingung, daß sie zwei volle
Monate nicht wohnen darf. Ist ein solcher Feldlager-Monat endlich
Vorüber, ziehen die feindlichen Heeresschaaren endlich fort, so kriechen die
Einheimischen aus ihren Löchern hervor, in welchen sie sich die trübe Zeit
über verborgen hielten, betrachten die Zerstörung, die Risse in Dielen,
Mauern und Tapeten mit traurigen Blicken, und haben dabei nur den
einzigen Trost, daß der Feind nicht sie geplündert, sondern umgekehrt,
daß sie den Feind gebrandschatzt haben und er ihnen jeden Ritz in der
Wand und jedes Loch in der Thüre mit schwerem Gelde bezahlen mußte.
Es war ein sinniger Zufall in diesem Jahre, daß der letzte Meßtaq
am 17. October war und der erste Befreiungstag auf den 18. October
siel, auf den Tag, wo bei Leipzig die große Völker- und Befreiungs-
Macht geschlagen wurde. Dieser für Leipzig so denkwürdige Tag, der in
vielen deutschen Städten noch immer mit einigem Pomp gefeiert wird,
geht hier aus bekannten historischen Motiven lautlos vorüber. Der Sachse
ist ein eifriger Royalist, und wie sollte er den Tag feiern, an welchem
sein früherer König zum Gefangenen gemacht wurde, der Tag, der die
Quelle ward, durch welche der Staat auf seinen jetzigen bescheidenen
Umfang reducirt wurde. Es scheint fast unmöglich, über die Leipziger
Schlacht noch etwas Neues zu sagen, doch hat Kühne in seiner „Europa",
die unter der neuen Leitung durch Eifer und Ernst rasch wieder einzu¬
bringen weiß, was ihr früherer Pfleger vernachlässigt, einen sehr interessan¬
ten Aufsatz gebracht: „Auf den Schlachtfeldern von Leipzig", worin
piquante Parallelen zwischen der Tilly - Schlacht im Jahre 1K31 und
der großen Napoleonsschlacht von 1813 geschildert werden. Auf
dem Museum, wo man Abends im traulichen Gespräche zusammen-
sitzt, hat dieser Aufsatz Anregung zu manchen interessanten Detailerinne¬
rungen gegeben. Einer der ältesten Literaten Leipzigs, der Dr. Becker,
rehabilitirte sich als den Verfasser des allerersten Berichts über die Leip¬
ziger Schlacht, der am 20. October 1813 in den von Brockhaus damals
herausgegebenen deutschen Blättern erschienen ist und in Hunderttausen¬
den von Abdrücken durch die Welt flog. Der alte Brockhaus hatte zu jener
Zeit noch in Altenburg sein Dominik und die „Deutschen Blätter" wa¬
ren erst acht Tage vor der Schlacht concessionirt worden. Die Oester-
reicher hatten damals ihr Hauptquartier in Altenburg und die Concession,
die Brockhaus für sein Blatt erhielt, war in folgenden originellen und
lakonischer Ausdrücken abgefaßt: „Dem F. A. Brockhaus wird hiermit
befohlen, ein Blatt herauszugeben." Unterz. Stadion. Wie sich die
Zeiten andern! Heute wird einem Buchhändler höchstens befohlen, sein
Blatt eingehen zu lassen. Ein Befehl, ein Blatt erscheinen zu lassen,
ist jetzt sicher nicht zu befürchten und hatte wohl damals auch seine ganz
speciellen Motive. Entweder hatte der alte vorsichtige Brockhaus, der
nicht wissen konnte, wohin morgen oder übermorgen der Sieg sich wen¬
den würde, einen Befehl sich erbeten, um für alle eintretenden Even¬
tualitäten ohne Verantwortlichkeit dazustehen, oder man hat im Haupt¬
quartier das Bedürfniß gefühlt, ein Organ für deutsche Interessen in der
Nähe zu haben und hat in kurzem militairischen Styl die Zeitung re-
quirirt, wie Heu und Vorspann. Die „Deutschen Blätter" erschienen
bis zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse, wo man in einem andern Haupt¬
quartier derlei papierene Truppen mit andern Augen betrachtete und ent¬
gegengesetzte Befehle ertheilte. ^om/»«iir min-nitui !
In jenen deutschen Blättern erschien nun am Tage nach der Schlacht
der „Erste Bericht über den großen Sieg bei Leipzig" — ein Blatt, das
noch heute in vielen Bibliotheken als ein denkwürdiges Document auf¬
bewahrt wird und das, wie uns der Verfasser des Buchs „Se. Peters¬
burg im Krankenlebcn" erzählte, er selbst in der großen Petersburger Bi¬
bliothek in Sammt eingebunden gesehen hat. Wohl wenige Personen mö¬
gen jedoch wissen, daß der Literat, aus dessen Feder ganz Deutschland
damals die erste Schilderung über die glorreiche Völkerschlacht, die eS
von den Franzosen befreite, erhalten hat, derselbe »>. Becker ist, dessen
„Rathgeber bei und nach dem Beischlaf" und ähnliche Schriften vielleicht
nicht mindere Verbreitung unter den lieben deutschen Landsleuten gefun¬
den haben, als jenes Franzosenbefrciungs-Büllcrin vom 19. October. Hr.
Ol. Becker lebt jetzt behaglich von den Früchten seines publizistischen und
medicinischen Fleißes als reicher Rentier in der Stadt, vor welcher
Seit sehr lange war für uns keine fo thatenleere, ereignißfaule Zeit,
wie es die letzten Wochen gewesen, die Langeweile, die Unlust, die Nich¬
tigkeit alles Geschehens schien so recht in der Luft zu liegen, es war ein
Uebergang vom Sommer zum Herbst, eine Abspannung, wie zwischen
einer Fieberkcankheit und dem endlichen normalen Zustand. Seit einigen
Tagen aber beginnt es wieder bei uns etwas lebendiger zu werden, die
Zugvögel vom Lande und von den Reisen kehren zurück, die großen Ma-
növres und die Anwesenheit der fremden fürstlichen Gäste an unserm Hofe
haben in mancher Hinsicht die früheren Ruhewochen einbringen wollen. Die
Anwesenheit des Prinzen von Preußen, des Großfürsten Michael, gab
zu verschiedenen Hoffesten Veranlassung, welche aber vielleicht noch häu¬
figer gewesen waren, wenn nicht die Krankheit der Großfürstin Maria
einen so äußerst drohenden Charakter angenommen hätte. Als einen
charakteristischen Zug erwähne ich, daß der Prinz von Preußen sich wäh¬
rend seines ganzen hiesigen Aufenthaltes täglich sämmtliche hiesige Blätter
zuschicken ließ, eine Aufmerksamkeit, welche der lieben Wiener Journalistik
noch von keinem fremden, hier durchreisenden Prinzen erwiesen wurde.
Der Prinz, der als Jnspicient Preußens für unsern Bundescontingent
hier war, soll sich über die österreichischen Truppen außerordentlich aner¬
kennend ausgesprochen haben — immerhin für uns sehr schmeichelhaft,
aber mit welchen Ausgaben wird alljährlich ein solches höchstes Wohlge¬
fallen bezahlt! Und am Ende macht unser Jnspicient nicht dieselben
Redensarten bei Preußen, und all' den andern größern und kleinern
Städchen!
Seit einigen Tagen wendet sich die Aufmerksamkeit von hier zum
großen Theil nach Ungarn, denn hier scheinen sich in der nächsten Zeit
mehrere für die Monarchie äußerst wichtige Dinge vorzubereiten. Wäh¬
rend man im ganzen Lande Vorbereitungen zum 50jährigen Lubiläums-
feste des Palatins machte — der Jubilaumstag war eigentlich schon im
März dieses Jahres gewesen, das Fest aber auf den Wunsch des greisen
Fürsten bis nach vollbrachter Ernte hinausgeschoben worden — circulir-
ten bereits seit einigen Wochen schwankende Gerüchte von seinem Un¬
wohlsein, welche aber, so lange er sich auf seinem Landsitze befand, keine
officielle Bestätigung fanden. Vor einigen Tagen endlich liefen die be¬
unruhigendsten Gerüchte einer sehr weit vorgeschrittenen, und bei dem
hohen Alter des Kranken gefährlichen Unterleibskrankheit (Miserei-v) hier
ein, und die ausgegebenen Bulletins des ersten und zweiten Tages wa¬
ren auch nicht geeignet, die Besorgnisse zu zerstreuen. Am 13. waren
die Bülletins noch immer beunruhigend genug, um die ernstlichsten Be¬
fürchtungen zu hegen, wenn auch momentan auf einige Stunden eine
kleine vorübergehende Besserung eintrat. Der greise Erzherzog Karl eilte
mit seinem Sohne Wilhelm nach Ofen, und auch Erzherzog Stephan,
nach welchem ein Courier geschickt wurde, eilte, nur mit Aufenthalt von
wenigen Stunden hier, nach Ofen. Das Wiedersehen zwischen den bei¬
den greisen Brüdern, zwischen Vater und Sohn soll ein erschütterndes
gewesen sein, um so mehr, wenn man bedenkt, daß dieses traurige Er-
eigniß grade in eine Zeit fällt, wo das ganze Land die glänzendsten
Vorbereitungen zu der so seltenen funfzigjährigen Jubiläumsfeier macht.
Im Volke geht die Sage, daß der Palatin deswegen die Feier seines
Jubiläums im Frühlinge verschoben, weil in der kaiserlichen Familie der
Glaube herrsche, daß kein Mitglied ein Jubiläum lange überlebe. Die
Sache ist eigentlich ganz natürlich, denn wenn man 50 Jahre ein Amt
begleitet, muß man doch zum Geringsten nahe an siebzig sein — das
Volk aber erinnert sich an den baldigen Tod des Kaiser Franz nach seiner
Jubiläumsfeier, und laßt sich den Glauben an seinen Aberglauben nicht
nehmen. — Für die ungarischen Verhältnisse wird aber der Tod des
Palatins von vielbedeutender Wichtigkeit. Bis jetzt war er der ein-
zige Mann im Lande, der noch dazu umstrahlt von dem Nimbus seiner
hohen persönlichen Stellung, seiner Geschäftserfahrung und wirklichen
politischen Milde — man verwechsle diese aber ja nicht mit Liberalismus
— über alle Parteien im Lande stand, er war der einzige Mann, in
welchem sich Alle vereinigten, der einzige Mann, von welchem Conserva-
tive sowohl als Liberale, jene ein um so leichteres Eingehen in ihre
Wünsche, diese ein um so nachgiebigeres Fördern ihrer Hoffnungen er¬
warteten, und manchmal in der That befriedigt sahen. An den Palatin
Erzherzog Joseph knüpfen sich die bedeutungsvollsten Momente der neuern
Geschichte Ungarns, er überkam das Land noch halb im Traumschlaf der
Civilisation liegend, und sah es unter seinen Augen, unter seinen Hän¬
den zu einer politischen Wichtigkeit im österreichischen Staatenleben auf¬
blühen, wie man es von Ungarn so schnell nie gehofft und vielleicht auch
nicht erwartet. Unter seinen Augen gingen die großen Landtagsschlachten
der Jahre 1825, 1836, 1840 u. 1844 vor. Bei den wichtigsten Re¬
formen wird sein Name genannt, und immer war es seine so schwierige,
aber auch glänzend gelöste Aufgabe, den Eifer der einen Partei zu zü¬
geln, die Starrheit der andern zu mildern. Deswegen vereinigten auch
alle Parteien sich in der Verehrung für ihn, und eS wird seinem Nach¬
folger unendlich schwer werden, diesen stillen aber wichtigen Einfluß auf
alle Parteien zu erringen, wie es bei ihm der Fall war. Man mußte
ihn nur oft in der stürmischesten Sitzung der Magnatcntafel mit seiner
eisernen Ruhe dasitzen sehen, wie er leicht mit dem Bleistifte zwischen
den Fingern spielte, und nur im geeignetsten Momente -ein paar Worte
dazwischen warf, welche theils der überfluthenden Discussion eine andere
Wendung gaben, theils die stürmischen Gemüther ganz eigenthümlich be¬
schwichtigte. Es kam nur einige wenige Male vor, daß er die Sitzung
wahrend des Sturmes verließ, und da waren es dann weniger die Fra¬
gen der allgemeinen Landes-Politik, welche ihn zum Rückzüge bewogen,
als ein manchmal, wenn auch selten vorkommendes Eingehen auf per¬
sönliche Verhältnisse, welche von der Politik weit abliegen. Die Ungarn,
mögen sie in ihrem Stolze und ihrem Ausschließungswesen auch zu weit
gehen, doch immer hochherziges, ritterliches Volk, erkannten sehr wohl die
schwierige Stellung, welche der Palatin, vorzüglich in den letzten Jahren,
zwischen dem unaufhaltsam vorwärts strebenden Lande und dem Hofe in
Wien habe, und suchten die bitteren Stunden, welche der alte Mann oft
genug haben mochte, ihm durch die treueste Anhänglichkeit zu vergelten.
Zu dieser Anhänglichkeit trug aber noch viel die schlichte Einfachheit sei¬
nes Privatlebens, sein Jedem bekannter unermüdlicher Fleiß bei, man
ehrte in ihm nicht allein den Fürsten, sondern den zuverlässigen, graben
schlichten Mann, den unermüdlich thätigen Beamten. Er verstand aber
bei aller Schlichtheit es doch vortrefflich, dem gemeinen großen Haufen
der Ungarn, die von einem Fürsten noch etwas asiatische Begriffe haben,
zu imponiren, und wer seine glänzende, an den Orient erinnernde Jubi¬
läumsfeier als Graf der Jazygen und Cumanen sah, mußte sich am deut¬
lichsten davon überzeugen. Obgleich unter seiner Verwaltung die wichtig¬
sten Reformen in Ungarn vorgenommen wurden, obgleich es eben in
den letzten fünfzehn Jahren sowohl auf der Bahn des Liberalismus, als
der des materiellen Fortschritts am meisten geeilt, so wird man ihn bei alle-
dem, was er geschehen ließ, ich sage ausdrücklich: geschehen ließ, dochnicht
zu den Liberalen zählen dürfen. Der Erzherzog Palatin ist im alten System er¬
zogen, und sah in der Befolgung und weiteren Entwickelung dieses Systems die
anderen österreichischen Länder materiell zunehmen, er war also in Ungarn
so weit liberal, als er es in diesem Lande des Fortschrittes sein mußte,
als sich dieser Liberalismus aus einer Verbindung alter und neuer Ideen
zusammensetzen ließ. Deswegen gab er wohl manchen Forderungen der
Opposition nach, aber er selbst ließ sie nie sich gegenüber zu stark aus¬
bäumen, er trat dann als Oesterreicher, als Prinz, als Palatin auf und
setzte mit seiner eisernen Ruhe die Sache durch. Diese Mischung des
Charakters machte ihn aber auch am tauglichsten zum Vermittler zwischen
dem Land und dem Hofe, und machte grade seine Persönlichkeit so wich¬
tig und in der nächsten Zukunft vielleicht unersetzbar. Denn jetzt wirft
man natürlich die Frage auf: wer wird nach dem Hinscheiden des Palatins
diesen wichtigen, einflußreichen und vielleicht schon in nächster Zukunft
schwer in die Wagschale der österreichischen Politik fallenden Posten be¬
kleiden? Die eigenthümliche Stellung, welche Ungarn sowohl im öster¬
reichischen Ländercomplexus, als im österreichischen Staatsleben, als auch
den Ungarn im Osten und Süden angrenzenden Ländern und Staaten gegen¬
über einnimmt, wird von Tag zu Tag nicht allein wichtiger, sondern auch
schwieriger, die Kämpfe des deutschen und slavischen Elements mit dem Magya¬
rischen drohen immer leidenschaftlicher hervorzubrechen, und wenn auch die
Deutschen sowohl in Ungarn als in Siebenbürgen vielleicht deswegen we¬
niger Energie entwickeln, weil sie sich auf eine deutsche Regierung glauben
stützen zu können, so ist das slavische Element ein um so drohenderes
Gespenst, als man jetzt auch jeden Tag eine Schilderhebung der angren¬
zenden südlichen slavischen Stämme, der Bosnier, erwarten muß und das
freie und herrlich aufblühende Serbien die stärksten Sympathien im Süden
Ungarns, in Croatien, Slavonien und Dalmatien hat. Es wird eine
Zeit kommen, und sie ist nicht mehr fern, wo die Regierung offen wird
entscheiden müssen, welchem der drei großen Stämme in Ungarn sie sich
entschieden zuwenden will, und die Wahl wird nicht ohne innern geheimen
Krampf geschehen, weil jeder dieser drei großen Stämme — der magyarische,
slavische, deutsche — eine andere Politik, eine andere Richtung verfolgt.
Welch' ein Mann muß dann als Palatin an der Spitze der ungarischen
Angelegenheiten stehen, um zwischen allen diesen Parteien sich groß und
Sie haben vor einem Jahre die schmähliche Geschichte mit dem
Grafen Tige, Feldmarschall-Lieutenant und ehemaligen Dienst-Kämmerer des
Kaisers gemeldet, der einem Offizier, der ihm eine Cautionssumme von
Fi. C.-M. übergeben, solche ableugnete und diese Lüge durch einen
falschen Schwur bekräftigte — an diesem Manne wurde nun vor eini¬
gen Tagen das Urtheil auf Eassation kriegsgerichtlich vollstreckt, wobei,
da es hei offenen Thüren geschah, viele Zuschauer vom Civil sich einge--
funden hatten, und die Sache war eine Stunde darauf in der ganzen
Stadt verbreitet. Daß man diesem gemeinen Verbrecher, der, wenn
er vom Civil und nicht vom hohen Adel wäre, auf mehrere Jahre in's
Zuchthaus gewandert wäre, nur seine militairische Charge und seinen
Orden nahm, warum man ihm die Festungsstrafe erließ, sogar noch eine
Pension von 15W Fi. C.-M. — freilich dem Namen nach seiner Frau
— gab, darüber wollen wir nicht streiten. Doch kann ich Ihnen mit
Bestimmtheit versichern, daß, wenn nicht der Commandirende von Nieder-
österreich, der Erzherzog Albrecht, auf eclatante Bestrafung gedrungen hätte,
sich die Urtheils- Vollstreckung noch Gott weiß wie lange hinausgezogen
hätte. Die Strenge und die Art der Ausführung des Urtheils mit dieser
Art von Oeffentlichkeit haben bei dem hiesigen Publicum einen sehr guten
Eindruck gemacht, interessant ist es aber dabei zu bemerken, wie sich hie
Volksstimme über den ganzen Vorfall ausspricht. Ich muß gestehen, es
wäre für manche Civilbranche sehr heilsam, wenn man einem oder den?
andern Beamten ein ähnliches Exempel statuiren könnte; aber es ist merk¬
würdig, wie bei den Civilbranchen Einer dem Andern aushilft; gar man¬
cher kleine Beamte verdiente eine verhältnißmäßig nicht geringere Strafe,
als dieser General, aber trotz aller Beweise, die man oft gegen ein solches
Subject in Händen hat, ist es nur in den seltensten Fallen möglich, einen
kleinen Beamten zur Verantwortung zu ziehen. Der niedere Beamten¬
stand hangt, überzeugt von seiner allgemeinen Corruption, so fest zusam¬
men, daß immer Einer von dem Andern geschützt und vertheidigt wird.
Dieser Tage gab es hier eine kleine Revolution im Corrcctionshause,
die nur, nachdem zwei Compagnien Grenadiere in das Haus gedrungen
waren, gedampft werden konnte. Und werden Sie es glauben, daß die
Revolution, wenn wir den Lärm so nennen wollen, meist durch die Phi¬
lanthropie des Hausverwalters entstand? Ein Sträfling beklagte sich über
eine zu kleine Brodportion und wiegelte die andern zu einigen Wider¬
setzlichkeiten auf. Er wurde ergriffen und sollte körperlich gezüchtigt wer¬
den, da übernahm es der Verwalter, statt sogleich Strenge anzuwenden,
durch mildes Zureden die Unruhe beizulegen. Am nächsten Abend aber
begann der Lärm wieder, und zwar gaben diesmal die Weiber das Signal.
Nachdem sie alle Fenster im ganzen Hause, die Tische, Stühle und Bänke
zertrümmert, zerrissen sie die Betten und verbarrikadirten sich mit den
Trümmern und den Strohsäcken in den Zimmern, worauf sie laut Spott¬
lieder zu singen begannen. Als die Grenadiere eindrangen, dauerte es
ziemlich lange, bevor sie diese Bestien in Menschengestalt bewältigen konn¬
ten, und aus der ungeheuern Anzahl von fast 2(10l) Sträflingen wurden
im Ganzen gegen 40 zur Bestrafung herausgehoben. Wenn man auch
gestehen muß, daß eine ihrer Klagen wegen verschlechterter Kost im Ver¬
hältniß zum Zuchthause nicht ganz ohne Grund ist, so darf man sich doch
nicht von falscher Philanthropie hinreißen lassen, und muß nur bedenken,
daß das Correctionshaus den größten Auswurf enthält, während das
Zuchthaus nicht selten der Aufenthalt manches Verirrten ist, den ein un¬
glücklicher Moment so weit gebracht, und daß in das Correctionshaus
meist Jene kommen, welche bereits mehrmals den Cursus durch andere
Gefängnisse durchgemacht. Daß aber unser ganzes Gefängnißwesen einer
Reform entgegenseufzt, weiß hier Jeder, und es ist hoffentlich der Zeit¬
punkt nicht mehr fern, wo man dies durch die That beweist.
D-le Brucker Eisenbahn hatte vor einigen Tagen auch eine schöne
Ueberraschung. Der Brucker Bahnhof befindet sich nämlich schon auf
ungarischen Gebiet und die Zollamtshandlung wurde im Bahnhofe vor¬
genommen. Als nun mehrere Comitate gegen die Anwesenheit österreichi¬
scher Zollbeamten auf ungarischen Gebiete protestirten, machte man in
Brück kurzen Prozeß, jagte die Beamten auf österreichisches Gebiet und
sperrte den Bahnhof. Die Züge fahren also nur bis zur Drehscheibe.
Es ist dabei zu bemerken, daß die Eisenbahn-Verwaltung sowohl als
die Hofkammcr früher bei der ungarischen Hofkanzlei um Bewilligung
der Verlegung der Zolllinie bis in den Bahnhof angefragt und beja¬
hende Antwort erhalten hatten. Das Comitat schien aber davon nichts
wissen zu wollen: ein Beitrag zur Geschichte der Autonomie der Comitate
in Ungarn.
Gestern, .16. Oct., ist im Burgtheater ein Drama von Ernst Ritter,
„Die Gauklerin" (nach einem Roman von Heinrich König) total und
Sie sehen aus der Allgemeinen Zeitung, welche heftige Nachwirkun¬
gen die Ende Septembers hier stattgehabten Verhandlungen über Pöni-
rentiarreform in Frankfurt hervorrufen. Weil diese Verhandlungen, die
das große Verdienst hatten, die Aufmerksamkeit des gesummten Publi¬
kums auf einen für die Menschheit so wichtigen Gegenstand zu lenken,
auf Anregung des l)>. in«it. Varrentrapp Hierselbst stattgefunden haben,
so ist dies Jemandem Grundes genug gewesen, diese Gelegenheit zu ei¬
nem heftigen persönlichen Angriff auf den Genannten zu benutzen. Hier¬
in können wir nur eine Frankfurter Privatfeindschast erblicken, die mit
der Sache selbst nichts zu thun hat; im Uebrigen halten wir es für ver¬
dienstlich, daß ein öffentliches Organ, wie die Allgau. Zeitung, das ^u-
oiittui- vt iUtüi'k p.lrs in dieser hochwichtigen Frage so rasch befolgt hat.
Im Allgemeinen wollen Sie mir folgende Bemerkungen erlauben. An¬
hänger und Gegner des pennsylvanischen Systems kommen darin »verein,
daß das Gefangnißwesen, wie es bisher bestand, nicht länger bestehen
kann, daß es nach dem Ausdruck eines der hiesigen Redner eine Schande
für die Menschheit („uno «ii^rin-« a i'tmmiuiite") ist. Es bedarf also
einer radicalen Umgestaltung, und diese wollen die Einen durch Einfüh¬
rung des Zellensystems, der strengsten Einzelhaft, hervorrufen. Wie schwie¬
rig eine zweckmäßige Durchführung dieses Systems sein würde, das ging
unstreitig aus den Debatten der hier versammelten, für ihren Gegenstand
begeisterten Vertreter desselben selbst hervor, und ihnen scheint im Allge¬
meinen entgegnet werden zu müssen: „Das Gefängnißwesen, wie es be¬
steht, ist schlecht und darf und kann nicht fo fortbestehen; darin stim¬
men wir mit Euch überein. Aber Ihr werdet nichts für die Menschheit
gewinnen und uns nur aus dem Regen in die Traufe oder wenigstens
aus dem Regen in den Regen führen', wenn Ihr an die Stelle eines
mechanischen Systems ein anderes setzen wollt. Es thut noth, daß die
Behandlung der Gefangenen ein Gegenstand der Humanität, ein Gegen¬
stand werde, dem diese ihren Eifer und ihre Sorgfalt zuwende. Dieses
Eifers, dieser Sorgfalt will man sich oder wird man sich aber bei einem
unterschiedslos angewandten System überheben. Ein bloßes neues Sy¬
stem in der Behandlung der Gefangenen wird so große Uebelstände mit
sich führen, als das oder die alten. Was uns noth thut, ist, daß die
verschiedenen Systeme neben einander bestehen, daß durch die Anwendung
aller oder mehrerer der menschlichen Fürsorge Raum gelassen werde. Je
nach dem Alter, je nach dem Verbrechen und Vergehen der Gefangenen
möge sich die Art ihrer Haft richten, es möge die Bestimmung der letz¬
tern selbst einen Theil des Straferkenntnisses ausmachen, die Art der
Haft möge je nach den Umstanden, ja je nach den Wünschen der Ge¬
fangenen bestimmt werden und wechseln :c. u'., nur glaube man nicht
durch ein System, durch eine einförmige Behandlung Aller, eine wirk¬
liche Verbesserung des Gcfängnißwcsens zu erreichen." Sehr gut ist es,
daß diese wichtige Frage als eine Angelegenheit der Menschheit, nicht als
eine Parteifrage behandelt wird. Einer der bedeutendsten hiesigen Libe¬
ralen, Advocat Reinganuni, ist entschieden gegen das pennsylvanische Sy¬
stem, dagegen sprach sich der badische Abgeordnete Welcker mit einer Harte
für dasselbe aus, die davon abschrecken mußte und auch sogleich den Wi¬
derspruch Obermaier's hervorrief. Sehr eindringlich wurde von Mitter-
maier auf die bisherige Beschaffenheit der Gefängnisse hingewiesen, die
Löcher geheißen hatten und gewesen seien. Für Alles habe man Geld
gehabt, für die unnöthigsten Luxusbauten, nur nicht für die Gefängnisse.
Auch in diefem Ausspruch lag, paß nicht in einem ausschließlichen neuen
System, sondern in einer größern dem Gcfangnifiwesen zuzuwendenden
Sorgfalt die Reform desselben zu suchen und zu finden sei. Was Mit-
termaiec's Bemerkung betrifft, so soll, um ein nahe liegendes Beispiel
zu berühren, der nach dem Berichte Aller, die ihn sahen, so höchst trau¬
rige Gesundheitszustand des Professors Jordan hauptsachlich von der Be¬
schaffenheit seines Kerkers herrühren, der so feucht gewesen sei, daß er
täglich ein Maß Wasser ausgedünstet habe.
Die Germanistenvcrsammlung rief hier, wie aus allen Zeitungen zu
ersehen war, einen Enthusiasmus hervor, von dem man nicht weiß, ob
er zu loben oder zu tadeln ist. Wenigstens sind die Urtheile in Frank¬
furt sehr verschieden. Die Einen sagen: „Nur in einer freien Stadt,
wo man keine polizeiliche Bevormundung zu befürchten gehabt, sei diese
Versammlung möglich gewesen, und da für das zweite Jahr Lübeck ge¬
wählt, so zeige sich doch die so oft bezweifelte Bedeutung der freien Städte
für öffentliches Leben im wahren Lichte. Von Lübeck werde man nach
Bremen und Hamburg gehen, um bei Frankfurt wieder anzufangen, und
so die Germanistenversammlungen mit all dem Segen, den sie für Deutsch¬
land haben würden, zu einem Privilegium und Verdienst der freien Städte
machen. Wie sehr die Frankfurter das ihnen widerfahrene Heil zu schä¬
tzen verstanden, gehe aus den Festen und besonders aus dem Umstände
hervor, daß ein Banquierhaus, dessen gegenwärtige Inhaber den Wissen¬
schaften bisher sehr fern geblieben, die vielen großen Männer so glänzend
bewirthete, von dem Festessen im Weidenbusch nicht zu reden, wo Jeder
mehr als zwei Flaschen Champagner getrunken." — Andere widersetzen
sich diesem Lobe und machen dagegen geltend: „So gut es sei, daß sich
die gelehrten Herren auch einmal an's Volk wendeten, so sehr man be¬
rechtigt sei, hierin eine dem Geiste der Zeit dargebrachte Huldigung zu
erblicken, dessen Einflüsse sich sogar die Gelehrten nicht mehr ganz zu
entziehen vermöchten, so sehr hatten dennoch diese Versammlungen nicht
verdient, als ein großes nationales Ereigniß gefeiert zu werden. Es sei
eher ein betrübendes Zeichen, daß das deutsche Volk sich bei den unge¬
fährlichsten Gelegenheiten so enthusiasmirt zeige, und man müsse nur be¬
fürchten, daß der Enthusiasmus zur rechten Zeit fehlen oder daß daS
Feuer, welches sich in stiller und nachhaltiger Ausdauer bewähren soll, in
einem kurzen Champagnerrausche verthan werde. Bei Ronge's und Do-
wiat's Anwesenheit in Frankfurt wie an andern Orten sei der Enthusias¬
mus wo möglich ebenso groß gewesen, und gegenwartig das Interesse an
den Deutsch-Katholiken in Frankfurt ziemlich flau, sowie ja auch die Pro^
fessoren, welche vorm Jahre dem Deutschkatholicismus die glänzendste
Zukunft geweissagt, jetzt, wo er grade der Unterstützung bedürfte, ihre Fe¬
der nicht mehr für ihn rührten. Ob denn die Germanisten die von ih¬
nen behandelten Fragen vor den Augen des Volks in einem andern Sinne
hatten besprechen können, als worin man sie täglich in den Zeitungen
bespreche, und warum ihre Versammlungen so wenig besucht gewesen,
wenn das Volk dort etwas Neues hatte erfahren können*)? Was die
gelehrten Männer betreffe, so verdienten z. B. Jacob und Wilhelm Grimm
ohne Zweifel Jedermanns Hochachtung, aber es sei auch ebenso wahr,
daß sie mit Ausnahme der Kindermährchen nichts für's Volk oder auch
nur für die Gebildeten geschrieben hätten, wenn diese nicht zugleich Män¬
ner von Fach wären. Wenn Parteiführer so gefeiert würden, wie die
Germanisten hier gefeiert feien, so wisse man sich das zu erklären, aber
so wirklich tüchtige und gediegene Männer, als unstreitig zu den Ger¬
manisten gehörten, hätten, falls sie sich nicht etwa für große Männer
hielten, an solchen Ovationen, als den hier erlebten, gewiß nicht Freude
gehabt. Wie wenig die Mehrzahl der Germanisten im Sinne gehabt,
Gelegenheit zu volksthümlichen Versammlungen zu geben, gehe auch aus
der gemüthlichen Weise hervor, worin sie in ihren Trinksprüchen nur bei
sich und ihren abwesenden und anwesenden guten Freunden stehen geblie¬
ben. Nicht einmal den sieben Göttinger Professoren, diesen Säulen des¬
sen, wonach Deutschland ringe, des constitutionellen Lebens, sei ein Toast
ausgebracht und die Armuth an würdigem Stoss so groß gewesen, daß
sogar „„die müdeli Beine des Dr. Euler"" hochgelebt hätten." -— Die
Uebertreibungen auf beiden Seiten fallen in die Augen; aber sie charak-
terisiren die öffentliche Meinung.
Ich hatte mir am 15. Oktober einen Bogen von dem allerfeinsten
englischen Papiere und eine ganz neue französische Stahlfeder zurecht ge¬
legt; auch rosenrothe Dime hatte ich zur Hand Alles war vorbereitet,
um Ihnen sogleich die Nachricht zujubeln zu können: Die Konstitution
ist da, die Reichsstände sind einberufen! Aber der Tag verstrich und die
Reichsstände kamen nicht. Da siel mir ein, daß, wenn auch viele Jour¬
nale aus „gut unterrichteter Quelle" die Einher ufung der Reichsstände auf
den 15. feststellten, viele andere (Korrespondenten „aus bester Quelle" die
Einberufung auf den l8. October, als dem Jahrestag des „großen Völker¬
glücks" festsetzten, und so verschob ich denn meinen Brief noch auf drei
Tage. Leider muß ich Ihnen jedoch heute auf gewöhnlichem Papiere
schreiben, und ich glaube, meine alte zweizackige Stahlfeder und etwas
klebrige Dinte kann noch lange Dienste thun. Gut Ding will Weile,
und sollte man von der langen Weile, die das ewige Auf- und Nieder¬
tauchen unseres Eonstitutionsplans dem Lefepublicum bereits gemacht
hat, auf die Güte seines Inhalts schließen, so dürfen wir eine Constitution
erwarten, vor welcher die nmAiiü euren und die all-u to-vkiitv sich ver¬
stecken müssen. Einstweilen aber wollen wir von andern unverfänglichen
Dingen sprechen, z. B- von der „Deutschen Zeitung", ont^o geheimen
Rathszeitung, ont^o preußisches ^ouin-et des vvbuts, welche gleichfalls
im October hätte erscheinen sollen, aber in Folge des bekannten Dahl-
niann'schen Briefes sich vollständigst zurückgezogen hat. Es ist in der
Geschichte der Journalistik vielleicht ein noch nie dagewesener Fall, daß
ein bloßes Programm, und zwar ein ziemlich nichtssagendes Programm, so
vielen Lärm erregt. In der Thar, unpraktischer, als sie zu Werke
gegangen, hätten die Herren es nicht anfangen können. Sechs oder acht
Männer, denen selbst ihre Gegner die ausgebreitetsten Kenntnisse und
schriftstellerisches Talent nicht absprechen können, thun sich zusammen, um
ein Journal zu begründen. Aber statt entschlossen die Hand an's Werk
zu legen und selbst in die Arena zu treten, klopfen sie erst an allen Thüren,
schicken eine MusterSarte herum und bitten um gütigen Beistand. Hätten
die Herren Beruf zu ihrem Vorhaben gehabt, so hätten sie ihr Journal
frischweg begonnen, hätten in den ersten Monaten selbst die Hauptartikel
geliefert, hätten durch die That der Welt vor Augen gelegt, was sie wollen
und anstreben, und die Gleichgesinnten, die ihrer Farbe Angehörenden
hätten sich nach und nach sicher eingestellt. Acht Gelehrte von Ruf, von
theilweise großem Rufe, sollen nicht durch ein Jahr eine Zeitung ganz
allein schreiben können! Daß sie sich die Kräfte dazu nicht zutrauten,
beweist eben, daß sie keinen Beruf dazu hatten, und daran scheiterte ihr
Programm wie ihr ganzes Unternehmen, Weil sie im Zwiespalt mit sich
selbst waren, weil sie zu klug und theilweise zu ehrlich waren, um das konser¬
vative Princip mit allen seinen Eonsequcnzcn verfechten zu wollen, und weil
sie andrerseits nicht Energie und Freiheit genug haben, um den Entwick-
lungsidecn offen als besonnene oder als entschiedene Organe zu dienen,
brauchten sie der Beihilfe und der moralischen Unterstützung Anderer, um
durch die Menge der Mitkämpfenden die Lücken im Feldzugs - Plane zu
verdecken. Die heutige Voßifche Zeitung enthalt folgendes „Eingesandt":
„Möchte Niemand die Gefälligkeit haben, und das Programm wieder
abdrucken lassen, mit welchem der Geh. Negier.-Rath Pertz seiner Zeit
die Hannöversche Zeitung eröffnet hat? Es bietet merkwürdige Verglei¬
chungspunkte mit Demjenigen, welches der genannte Herr jetzt mit un¬
terzeichnet hat, und ist nicht ohne Interesse für die Entwicklung mancher
Persönlichkeiten." Gestern begrub man hier die älteste Berliner Schau¬
spielerin, die Wittwe Fleck, nach dessen Tode sie den Musiker Schröck
geheirathet hat. Madame Schröck ward im Jahre 1777 geboren und es
fehlte ihr somit blos ein Jahr zu den siebziger. Sie war vierund^
fünfzig Jahre Schauspielerin! Wie viel Stücke hat die gute alte Frau
Die königl. Oper gab gestern zur Feier des 15. October ,,Die bei¬
den Prinzen", Text von Scribe und Mvlesville, bearbeitet von Scribe,
Musik von H. Esser, über die ich Ihnen nach wiederholter Aufführung
ausführlicher berichten werde. Für jetzt nur so viel, daß der Componist,
derzeit Kapellmeister in Mainz, schon eine große Formengewandtheit ver¬
rieth, ohne jedoch gleichen Gedankenreichthum zu bewähren. Man nahm
das Werk als Erstling eines jungen Mannes günstig genug auf, obgleich
es sich, als Kunstschöpfung betrachtet, nicht über das Niveau der Mittel¬
mäßigkeit erhebt. Von neuen Dramen ging gestern bei dergleichen feier¬
lichen Gelegenheit eine uralte Scharteke von der Frau von Weißenthurn
über die Breter des königl. Schauspielhauses. Eine von den Rührko¬
mödien, wo man nach Durchsicht des Zettels gleich weiß, wie es Alles ge¬
hen und kommen wird. Den Namen habe ich leider vergessen. Unsere
Berichterstatter können nicht genug Bericht erstatten, wie sie mit dem
Schlaf gekämpft haben und wie langweilig es gewesen. Desto kurzwei¬
liger mag es in der Königstadt hergegangen sein, wo man ein poetisches
Attentat an Griseldis gewagt hatte."
Ein historisches Lustspiel voll Humor und Ironie „Die Herzogin
von L. Klein, dem Dichter der Zenobia, das ich vor einigen Wochen von
ihm selber in einem Zirkel unter literarischen Freunden vorlesen hörte,
und das damals zur Versendung an alle Bühnen vorbereitet wurde, ist
von der königl. Intendantur unter Bedingung einiger Veränderungen und
Abkürzungen zur Darstellung angenommen worden, während das ständi¬
sche Theater zu Prag dasselbe remittirt hat, mit dem Bemerken, daß die
Censurbehörde die Annahme desselben untersagt habe. Ein ähnlicher Fall
hat sich jedoch auch kürzlich hierselbst zugetragen, denn als bei der Anwe¬
senheit des Tenoristen Herrn Kraus aus Wien die Aufführung der Stum¬
men von Portici beabsichtigt wurde, kam auf desfallsige Anfrage höhern
Orts der Bescheid: daß die genannte Oper unter den heutigen Umstan¬
den mißliebig und vom Einstudiren derselben sofort abzustehen sek.
Trotz dieser Beschränkungen gedeiht unsere Tagesliteratur. So brachte
die neuerscheinende Zeitungshalle gestern den ausführlichen Bericht über
die erste Sitzung des hiesigen königl. Kriminalgerichts nach dem neuen
Untersuchungsvecfahren. Wenn es sich auch zuerst um ein paar gewöhn¬
liche Diebstahlsvcrvrechcn handelte, so erblickt der Redacteur des betreffen¬
den Artikels doch mit Recht darin den Embryo eines neun libralen
Z. Z.
Emanuel Geibel, in dem wir stets einen rechten Minnesänger von
altem Schlage vermutheten, beweist jetzt, daß er auf jenen schönen Titel
vollen Anspruch habe, indem er sich, wo es Noth thut, ganz nach Art
seiner Brüder aus vergangenen romantischen Zeiten, auch ein schönes,
scharfes, glänzendes Schwert umgürtet: ein ächter Bertrand de Born.
Daß er hier und da gerne in glänzenden Burgen einkehrt und sich an
ihrer romantischen Pracht erfreut, und daß er den Glauben an ver¬
gangene Herrlichkeiten, an die sonst Niemand mehr glaubt, mit Gewalt
festhält — ist vielleicht noch ein Beweis mehr für den romantischen
Troubadour. Die zwölf Sonette, die eben so viele Schwertstreiche gegen
den neuen Feind als Weckrufe und Liebeskusse für's Vaterland sind, wer¬
den gewiß das Schönste bleiben, was die angedrohte Gefahr aus deutschen
Herzen zu Tage rief. Es mußte vielleicht auch grade ein Kind Lübecks
sein, das die schönsten Lieder gegen Dänemark zu singen bestimmt war,
da ist es denn gut, daß sich Emanuel Geibel erhob, der für den Norden
und seine Zustände und seine Poesie so viel Sinn hat und ihn in schöner
südlicher Form besingt wie Keiner. So sind diese zwölf Sonette gegen
Dänemark wirkliche politische Gedichte und nicht bloße politische Ex-
pectorationen und unharmonisches Gezeter geworden, wie wir an dergleichen
leider Gottes schon seit Jahren gewöhnt sind. Als eine Probe, wie groß
und wie poetisch Geibel seinen Stoff aufgefaßt, wollen wir nur ein So¬
nett, das dritte, mittheilen. Wer alle zwölf kennen will, mag sie kaufen,
sie sind bei Aschenfeldt in Lübeck erschienen und kosten nur vier Groschen.
Das Leipziger Theater hat das Verdienst einer Dichtung, deren sel¬
tene Schönheiten bisher blos in literarischen Kreisen gewürdigt wurden,
zu ihrem Recht: zum vollen Leben der Darstellung verhelfen zu haben.
Dies Verdienst ist ein reelles, weil die Direktion sich der Gefahr aussetzte,
beim Mißlingen des Stücks von allen prüden Splitterrichtern sich ange¬
klagt zu sehen, ein solches Thema vor den Augen frommer Christen zur
Schau gestellt zu haben. In der That ist die Haupthandlung des Stü¬
ckes aus einem Stoff so delicater Natur gewebt, wie er auf deutscher
Bühne noch nicht gewagt wurde. Ein schwangeres Mädchen, welches,
verlassen von dem Bräutigam und die Entdeckung ihres Geheimnisses von
den strengen Aeltern fürchtend, sich selbst den Tod gibt, ist der Mittel¬
punkt, die Heldin des Dramas. Dieser Stoff mag dem Einen zu ein¬
fach, dem Andern zu unsittlich scheinen: diese „einfache", „unsittliche" Ge¬
schichte ist nichtsdestoweniger eine der merkwürdigsten Productionen deutscher
Dramatik, und die deutsche Literatur hat seit Goethe's Hermann und Dorothea
wenig Erzeugnisse, in denen die Charaktere mit solcher tief psychologischer
Wahrheit, mit solcher plastischen Individualisirung gezeichnet sind. Aller¬
dings ist andererseits das Drama Maria Magdalena ein vollständiger
Gegensatz zu Goethe's heiter lieblichem Idyll. Hier ist Alles düster; der
wühlerische Poet hat sich ganz in ^die Nachtseite des Lebens vergraben.
Von der Mutter, die gleich im ersten Acte vom Schlag gerührt wird,
bis zur Tochter, die am Schlüsse sich in den Brunnen stürzt, brechen
fast alle diese Menschen physisch oder moralisch zusammen. Und darin
liegt die Hauptsünde des Dichters; alle Fenster und Zugänge seiner Dich¬
tung sind mit schwarzen Tüchern behängt, nirgends eine versöhnende Aus¬
sicht ins Freie, Helle, Erlösende. Es weht eine Siroccoluft in dieser Schö¬
pfung, die Alles niedersengt. In diesem Stücke siegt Niemand — Alles
unterliegt! Mit Recht schließt der alte Meister Anton mit den Worten:
„Ich verstehe die Welt nicht mehr" — die Welt, in der nur Pein, nur
Fall, nur Unglück, nur Nacht ist, wäre auch nicht verständlich!
"
Wir gehören nicht zu den Prüden, die an den „interessanten Umständen
der Heldin großen Anstoß nehmen. Wie gefährlich auch dieses Thema ist,
wie haarscharf auch die Grenzen sind, deren leiseste Ueberschreitung ins
Widerliche führen würde, die Gewalt eines wahrhaft poetischen Geistes
hat diese Gestalt mit dem Jnstinct einer Somnambulen auf die äußersten
Spitzen geführt, viae daß sie stürzt. Der Charakter der Maria Magda-
lena ist wahr vom ersten Wort bis zum letzten; aber Wahrheit ist noch
nicht Schönheit, und mit dieser Kraft zu gestalten, hatten wir dem Dich¬
ter ein edleres Material gewünscht. Nicht die „Gefallene" ist's, was uns
peinigt, sondern die Art ihres Falles. Maria Magdalena ist nicht wie
Gretchen ein Opfer unendlicher Liebe, ein Resultat naiver Unerfahrenheit,
sie ist das Opfer einer bornirten Gutmüthigkeit. Sie hat sich ihrem
Bräutigam hingegeben, den sie nicht liebt, sie hat sich ihm an dem Abende
hingegeben, an welchem sie ihren Jugendgeliebten wiedersah, sie gab sich
hin, um die Eifersucht, die Vorwürfe ihres Bräutigams zu entwaffnen
und nicht einmal sinnliche Aufregung hat sie überrascht— „sie war kalt!" —
Alle diese Motive sind psychologisch wahr, aber sie schließen die sittliche
Idee aus. Maria Magdalena ist unsittlich, nicht in dem gewöhnlichen
Polizei- und Kasseeklatschbegriss, sondern im Sinne der höhern Moral.
Ihr Bräutigam hat sie betrogen, aber sie hat ihn noch früher betrogen,
sie hat sich seinen Armen überlassen ohne Liebe, im Momente, wo ihre
Seele mit einem Andern sich beschäftigte, gönnte sie ihm den Preis, der
ihn von ihrer Liebe überzeugen sollte! Die Kindesmörderin Gretchen,
die einem mit zauberhafter Schönheit und geistiger Gewalt begabten Mann
in der ganzen Trunkenheit eines unerfahrenen Kindes sich hingibt, ist
sittlich, aber Maria Magdalena ist durch und durch Verstandesweib,
selbst in dem Momente der höchsten Vergessenheit hat nicht das Ge¬
fühl sie übermannt, sondern nur Nachgiebigkeit aus halben Verstandcs-
gründen. Maria Magdalena ist mathematisch wahr — Gretchen aber
ist's poetisch. Dieser wunde Punkt, im Charakter der Hauptperson, wird
dem Stücke bei dem großen Publicum, dessen conventionelles Sittlichkeits-
gefühl schon bei der bloßen Behandlung eines solchen Themas Convulsio-
nen affectirt, von starkem Nachtheile sein. Der höhern Kritik, dem tie¬
fer Eingehenden auf das Genie eines Poeten wird er jedoch die Freude
an der außergewöhnlichen Gestaltungskraft des Dichters nicht verkümmern.
Man muß bedauern, daß die Caprize des Goldschmieds grade eine Kohle
wählte, um sie mit der wunderbarsten Goldfassung zu umgeben, und nicht
lieber einen vollen Diamant in seinen Ring gesetzt hat, aber man kann
darum nicht anstehen, den Meister für einen Cellini zu erklären, wenn
man die Lebenswahrheit der Gruppen, die Harmonie und den Geist ihrer
Anordnung betrachtet. Was diesem Trauerspiele vor Allem einen großen
Werth verleiht, das ist die Wahrheit seines Pathos. Da ist nichts Er¬
borgtes aus den Ueberresten der romantischen Schule, kein deklamatori¬
sches Gas zur Füllung der hohlen Situation, es ist auch nicht der Iss-
land'sche Jammer, dem man gleich im ersten Acte durch eine Collecte
von so und so vielen Thalern ein Ende machen könnte, es ist der wirk¬
liche Conflict unserer Familienzustande, die Schilderung wahrer, dem Le¬
ben abgelauschter Verhältnisse. Kein Bild, keine Phrase, schweift über den
Horizont dieser kleinbürgerlichen Stube hinaus und doch ist es eine wahre und
ächte Tragödie im großen Style, wenn auch mehr von Rasiermessern und
Polizeidienern, als von hochklingenden Schwertern und Königen die Rede
ist. Die Gestalt des Meisters Anton würde jedes Goethe'sche oder Shak-
spear'sche Drama zieren. Ueberall ist das ächt Menschliche dem Dichter
zur Seite, seine Lieblinge, seine Helden, wie seine Teufel tragen nirgends
Masken, werden nirgends zur Fratze — es find wahre menschliche Ant¬
litze ohne Schminke und Puder. Überraschungen und jähe Jntriguenwen-
dungen darf man freilich in dem Stücke nicht suchen. Im Gegentheil: gegen
die theatralischen Oekonomiegesetze vergeht sich der Dichter dadurch, daß er
die überraschendste Wendung und die größte Leidenschaftlichkeit gleich am
Schlüsse des ersten Actes eintreten laßt. Und doch fesseln die beiden
folgenden bis zum letzten Athem der Handlung. In jeder Scene drangen
sich die zartesten psychologischen Züge, von denen manche dem gewöhn¬
lichen Zuschauer allerdings entschlüpfen. Der reiche Kaufmann mit seiner
eitlen Scham: man könnte in der Stadt wissen, daß seine Frau wahn¬
sinnig sei — welch einen Contrast bildet er gegen die wirkliche Schande,
die er in die arme Familie gebracht und gegen die größere, die ihr
noch bevorsteht. Aber solche Nuancen sind wie zufallig und absichtslos
von dem Dichter hingeworfen, und das Publicum ist gewöhnt, derlei
Dinge faustdick unter die Nase geschmiert zu bekommen, ehe es darauf
merkt. Nichtsdestoweniger war der Erfolg dieser Borstellung, an welche
keine deutsche Bühne bisher sich wagen wollte, ein entschieden günstiger.
Die Frauen haben ein Bischen die Köpfe geschüttelt und die Familien¬
väter haben bedauert, ihre siebzehnjährigen Töchter mitgebracht zu haben.
Nun, so möge man sie das nächste Mal zu Hause lassen, sie können ja
mittlerweile, die Ul^steres (to I^ris und MoustAcKo von Paul de Kock
lesen!
Wie an andern Universitäten zeigten sich in Gießen, und zeigen sich
noch immer die Nachwehen des Rausches, welcher die deutsche Studenten¬
welt nach den Befreiungskriegen ergriffen hatte; hier und in Jena war
er ja bekanntlich am stärksten. Deshalb mußte sich hier nothgedrun¬
gen ein größerer Katzenjammer, als anderswo einstellen. Kein Land
hat wohl der Frankfurter Untersuchungscommission verhältnißmäßig so
viele Opfer geliefert als Hessendarmstadt. In Gießen war der wahre
Herd des excentrischen Demagogentreibens. Darum ist auch kein Land
mehr abgekühlt worden, als Darmstadt, keine Universität hatte mehr
Mark verloren, als Gießen. „Verflogen ist der Spiritus; — das
Phlegma war geblieben!"
Nach Auflösung der Burschenschafter tummelte sich in Gießen der
flachste esnrit 6« eoins. Dieser Ausdruck ist als akademischer terminus
eigentlich eine contraclietio in rin'ecto. So bewährte es sich auch in
Gießen. Der Corpsphilister desavouirte Kunst und Wissenschaft, wo
sich dieselbe nicht als Würze oder prunkvolles Ornament des flachen
Treibens der Burschenwelt mit Glaces und Champagnerflaschen in
eine Kategorie einrangiren lassen wollte, als „philiströs." Die wis,
senschaftlichen und literarischen Fehden, welche damals alle Welt be¬
wegten, — in Gießen fanden sie keinen Boden. Die Halleschen und
deutschen Jahrbücher eristirten hier nur für den Gelehrten. — Jung¬
oder Althegclianer, Heine oder Börne, Bettina oder Rahel? „„Keins
von beiden!"" erwiderte der Gießener Studiosus, und trank behaglich
seinen Schoppen. Man trank Bier, hofirte den Damen, paukte sich,
rasselte mit den Sporen, rauchte Tabak und sprach von Corps- und
Renonceconventen. Die Logik der Gießener Musensöhne kannte nur
drei große Kategorien, welche ihre Weltanschauung normirten: Corps¬
studenten, Kameele und Philister, und diese drei waren im tiefsten
Grunde Eins. Nirgends Sinn für allgemeinere Interessen; der Uni-
versitätSindifferentismus, den Rüge in seinen Halleschcn Jahrbüchern
so sehr rügte, walzte sich hier in breitester Behaglichkeit im Kothe. In
allen burschikosen Kreisen herrschte eine wahrhaft chinesische Abgeschlos¬
senheit; die Carricatur des aristokratischen, in sein Bischen Fachwissen¬
schaft sich gründlichst einpferchenden Professorentreibens. Zu diesem
Uebel gesellte sich, als das Studentenleben auf dem Punkte stand, ei¬
nen frischeren Aufschwung zu nehmen, als schon hier und da der Ge¬
nius der Zukunft in einzelnen Köpfen spukte und man laut nach libe¬
raler Wissenschaftlichkeit und Abschaffung der prüden Corpsknechtschaft
rief, ein neuer Hemmschuh des Fortschritts — unser famoser sen¬
tier plan. Wir sind nicht gesonnen, diesen Streit, in welchem so
viel Schlechtes und Gutes, pro und comet-u vorgebracht worden ist,
von Neuem aufzurühren. Herr v. Linde, welcher als Kanzler die
protestantischen Ludoviciana noch immer mit ultramontaner Autorität
überschattet, hat mittlerweile andere Fehden sich auf den Hals gela¬
den; und zudem ist uns die wahrscheinlich durch ihn vermittelte (?)
Absetzung des Gymnasiallehrers Noack, der ebenfalls in diesem Streite
die Feder gerührt, noch in zu gutem Andenken. (Wir verweisen übri¬
gens Diejenigen unserer verehrten Leser, welche sich detaillirt über die
Studtenplanangelegenheit zu belehren wünschen, auf die bezügliche
Broschüre des Prof. Dr. A. Fritzsche. Man kann in diesem Schrift¬
chen viel Erbauliches lesen (der Herr Verfasser ist protestantischer
Theolog), wenn man anders eine gute, gesunde Geduld und starke
Nerven hat. Mag Fritzsche auf eregetifchem Gebiet Tholuck's Gegner
sein, auf politischem ist er jedenfalls dessen Geistesverwandter.)
Welche Zwecke auch der Aufstellung dieses Studienplanes zu
Grunde lagen — ich kann mich nicht überreden, daß sie sehr tiefer
Natur waren. Ein wenig Patriarchalismus (Gießen hat mich von
Weitem das Ansehen einer orientalischen Stadt), versetzt mit dem
Streben nach Uniformität, mag wohl zu Grunde siegen haben. —
Leute, welche später gleiche Kragen, dieselbe Frisur und Einen Kanzlei-
styl haben, müssen schon auf Gymnasium und Universität die Aus¬
wüchse ihrer Originalität über den bureaukratischen Kamm eines sol¬
chen Reglements scheeren lassen. In Gießen legt man einen Haupt-
accent auf die praktischen, errieten Disciplinen; die Forstwissenschaft,
welche nach rationalen Principien die Waldungen lichtet, erfreut sich
hier eines absonderlichen Gedeihens; man pflanzt bei uns die Wälder
nach der Schnur: wollte man vielleicht auch ein System der Gedanken
in dieser Weise pflanzen? Herr Geheimerath Schleiermacher in Darm¬
stadt schien dergleichen anzustreben; wenigstens tadelte er in einem
gegen den Studienplan gerichteten Brochürchen, daß, da mehrere Do¬
centen Logik lasen, nicht angegeben sei, welche Logik den Zwecken der
Regierung am meisten entspräche. Wenn die Sachen so stehen, so
haben wir also 38 Logiker in Deutschland und sind somit von
Haus aus unlogisch. Da lohnte es sich wirklich der Mühe, nach dem
Muster des Zollvereins, „unter des durchlauchtigsten deutschen Bundes
schützenden Privilegien" eine allgemeine deutsche Bundeslogik
zu organisiren.
Der Geist der Reformen, welcher schon seit längerer Zeit unsere
Hochschulen umzuschaffen bemüht ist, konnte auch Gießen nicht unbe¬
rührt lassen. Allein auch hier strebte man früh, dem akademischen
Embryo die bunte Schlafkappe über die Ohren zu ziehen. Die wei¬
land „Allemannen" trugen sich mit Ideen zu einem akademischen Lese¬
verein, man wies sie jedoch an die Landeszeitung und das Frankfurter
Journal, das „ja in jedem Wirthshause zu finden sei." Einige Zei¬
tungen wurden später doch von der Opposition gehalten; allein jetzt
ist das auch schon wieder vorbei.
Es läßt sich übrigens nicht verkennen, daß diese Opposition für
Gießen sehr segensreich gewesen ist. Fängt auch nachgerade innerhalb
ihrer selbst der Corpskobold wieder an zu spuken; ist auch das akade¬
mische Tribunal, das sie errichtete, nur eine Carricatur und mehr eine
kokette Concession an die Forderungen der Zeit, als ernstlich gemeint:
so ist doch durch diese Opposition ein regerer Sinn für Wissenschaft
und Sitte erwacht. Diese Opposition frißt keine Franzosen, lebt nicht
blos von Meth und Arndt'schen Liedern und betrachtet das Turnen
nur als eine gesunde Motion. Man kann überhaupt von Gießen
tagen, daß gegenwärtig ein frischer, strebsamer Geist dort zu Hause ist.
Der Geist der Slud'entenwelt ist im Ganzen ein gesunder. Die Gie¬
ßener Gemüthlichkeit artet jedoch zu oft in faulen Nihilismus ans;
als Hauptrepräsentanten derselben betrachten sich die Oberhessen. Man
setzt sich oft Tage lang auf das Zimmer eines Bekannten, plaudert,
raucht Tabak und begnügt sich mir der aschgrauen Fachwissenschaft,
über welche die allgemeine Bildung nicht selten schnöde vernachlässigt
wird. In dieser Beziehung könnten die Gießener Studenten bei ihren
Commilitonen in Heidelberg und Berlin in die Schule gehe».
Die Schule! Ich will nicht gradezu den Stab brechen über die
Darmstädtischen Gymnasien, habe jedoch die Ansicht, daß es Herrn
Schmitthenner bei seinem Panegyricus derselben einst sehr zu Statten
kam, daß Thiersch in München zugleich auf die rheinpreußischen, nas-
sauischen und kurhessischen Bildungsanstalten seinen Angriff berechnet
hatte, und daß es eben die Principien eines Thiersch waren, denen
seine taktfester Streiche galten. Daß man unsere Gymnasien keineswegs
als Muster hinstellen kann, davon ist schon der Umstand ein schlagen-
der Beweis, daß die jungen Leute sie so häufig in einem Alter von
—17 Jahren, also noch unreif an Geist und Körper, mit der Uni¬
versität vertauschen. Freilich hat man auch in andern Ländern noch
keine Gymnasien, wie sie sein sollten (wie sehr sehlt es nicht den mei¬
sten Philologen an Methode und pädagogischen Takt!), auch anders¬
wo herrscht noch der traurige Unfug, daß die lateinische und griechische
Grammatik mehr Selbstzweck als Mittel ist, und nicht blos bei
uns haben die Stockphilosophen (sit vvni-r verbo!) vorzugsweise ihre
paar Lesarten in Augen: allein man lernt doch anderswo wenigstens
so viel, daß man mit Nutzen weiter studiren kann, — was auf darm¬
städtischen Anstalten gar häusig nicht der Fall ist. In Gießen ist man
in der Prima noch nicht über die Schwierigkeiten der Grammatik hin¬
aus; hier wird keine Mythologie, keine Archäologie, nicht neueste Ge¬
schichte, kein Altdeutsch und überhaupt deutsche Grammatik nur noth¬
dürftig in den untern Klassen getrieben; auch Mathematik und Natur¬
wissenschaften werden schnöde vernachlässigt. In Darmstadt treibt
man von dem Allem etwas: es herrscht dort, wie es scheint, ein sü߬
licher Dilettantismus; die Mehrzahl der vou Darmstadt kommenden
Studenten dichtet.
Mittelalterliche Kurzsichtigkeit verlegte die Universitäten häusig an
kleine, vom Weltverkehr gesonderte Orte, weil man die Ansicht hegte,
hier könne der Studiosus besser seinen Cicero und seine Kirchenväter
auswendig lernen und spitzfindigen Unsinn über die x-olle?^ und
x(>öl/,is aushecken. Es war die Zeit, als ein Menzer und Feuerborn
nach dem alten Gießener Sprichworte:
„Menzer und Feuerborn
Haben die Welt verworr'n"
mit solchen Spitzfindigkeiten noch Deutschland allarmirte, als die
Studenten noch so rüde waren, daß ihres nächtlichen Gebrülls wegen
anständige Leute die Stadt verließen, als noch der Ephorus mit seinen
Stipendiaten im Speisehaus zu Tische saß und einer der armen seu-
blosen das Tischgebet sprechen mußte. Ja, damals harmonirte es
ganz trefflich mit dem Zeitgeiste, die Studenten so viel als möglich
auf sich selbst zu beschränken. Aber dem modernen Studiosus, für den
Schule und Leben keine Gegensätze mehr sein sollten, muß der Wellen¬
schlag eines bewegten, großstädtischen Lebens um die Ohren rauschen.
Beamtenphilisterthum, Engherzigkeit, FanüliSmus im schlechtesten Sinne,
blindes Brotstudium, kurz die ganze Misere unseres deutschen Lebens wird
nirgends besser gedeihen, als in solchen kleinen Universitätsstädten. In
einem Krähwinkel, wo der Student die Hauptrolle spielt, wo er mit
seinen Boreaden und Bändchen ein Gegenstand der Bewunderung für
alle schöne Augen ist, wird er nie von seinem erclusiv corporativen
Wahnsinn curirt werden und sich als Glied einer großen Nation em¬
pfinden lernen.
Gießen ist ein Nixlnm compositum aller möglichen Städtephysio¬
gnomien. Man könnte es im Sinne Plato's (beileibe nicht im politischen!)
eine demokratische Stadt nennen. Rustikos ist sein Ansetzn nicht, diesem Prä-
dicate widerspricht sein Fabrikanten- und Kcuifmannsgeist, obgleich die
Stadt viel Ackerbau treibt, welcher vor noch nicht so langer Zeit die
Gassen mit Dorfidyllenduft erfüllte. Die Stadt ist zugleich raffinirt und
grobknochigt; an ihren beiden Extremitäten leidlich gebaut, inwendig trüb
und schmuzig. Die Bürger („Philister" zu sagen schmeckt zu sehr nach
dem Landsmannschafter) sprechen einen fatal platten Jargon, welcher
ein schickliches Daguerreotyp für die niedrigsten Stände, wie für die
Kante-volev abgibt. Man kann auf den ersten Blick den feinfühligen,
feingebtldeten Darmstädter, welcher, wie Börne sagt, „eine Woche vor¬
her von der Oper des kommenden Sonntags spricht," von dem schwer¬
fällig sich gerirenden Gießener unterscheiden.
Gießen ist wohlhabend und sucht sich sowohl im Luxus, als in
Aufführung neuer Gebäude großem Städten zu nähern. Und dennoch
hat es nicht eine Restauration, nicht ein anständiges Caso. Derb,
realistisch-prüde ist sein ganzes Ansehn. Flüchten wir uns daher aus
dieser materialistischen Derbheit in den Bereich des Geistes. Wir wol¬
len ein Mal bet den Herren Docenten anklopfen und beginnen gebüh¬
rendermaßen bei den „Philosophen." Htllebrand, zur Zeit rühm¬
lichst bekannt durch seine „Geschichte der deutschen Nationalliteratur
von Lesstng bis auf die Gegenwart," ist jetzt einer der genanntesten
hiesigen Lehrer. Wenngleich die frühere Uncultur der Universität diesen
trefflichen Docenten der Unverständlichkeit zieh (woran Wohl auch seine
bombastische Terminologie mit Schuld haben mochte), so möchten wir
ihm doch — wenigstens in Bezug auf seine Vorlesungen — keine allzu
schwindlige Tiefe schuld geben. Sein in vielen Beziehungen brillanter
Vortrag charakterisirt sich mehr durch das gemüthliche Conserviren des
gelehrten Eklektikers, als durch die aus einem Kerngedanken sprudelnde,
unwiderstehliche Consequenz des Systems. Seine Blüthezeit scheint
erst in unsern Tagen zu beginnen. Unsere ganze Zeit nimmt bekannt¬
lich jenen historisch-gelehrten Charakter an, welcher.der Individualität
und philosophischen Richtung eines Hillebrand ungleich mehr zu ent¬
sprechen scheint, als die frühere erclusive Anmaßung der Systeme. Die
Zeit, wo sich die Studiosen gebildeter Universitäten mit Hegel'schen
Stichwörtern duellirten, ist glücklicherweise vorüber; die Extreme be¬
ginnen sich nachgerade zu vermitteln, und diese besonnene Vermittlung
scheint von jeher Hillebrand's Sache gewesen zu sein. Sein Eklekti¬
cismus trifft in seinen Resultaten vielfach mit der Hegel'schen Schule
zusammen; aber er war zu stolz, zu geistreich, um sich von dem alt-
und junghegel'schen Taumel mit fortreißen zu lassen. Er mußte dar¬
um früher (als Hegel's Rival in Heidelberg und später auch in Gießen,
welches vor Liebig kein Ort war, in welchem ein Docent sich goldene
Sporen hätte verdienen können) — er mußte darum früher in ein be¬
scheidenes Dunkel zurücktreten. Seinen philosophischen Schriften ge¬
bricht es zu sehr an dem Mark des frischen Gedankens. Wohlthuend aber
ist es zu sehen, wie er mit stets offner Receptivität, nirgends vornehm
herabsehend auf eine moderne Richtung (woran sich viele seiner College»
in und außerhalb Gießen ein Beispiel nehmen könnten!) in seiner Li¬
teraturgeschichte den Riesenkampf mit der Abstraction meist glücklich zu
bestehen und seine gediegene Gelehrsamkeit in ansprechender Form mit
einem so lebendigen Stoffe zu vermählen sucht. Diese Literatur--
geschichte tritt wahrhaft ergänzend zu Gervinus hinzu. Die Sprache
ist, trotz mancher abstracten Ungelenkigkeit, doch im Ganzen lebendig
und dem Gegenstande entsprechend: sie hat etwas Nestorisch-Ehrwür¬
diges, welches wir keineswegs mit einem ungewaschenen Recensenten
in den Blättern für literarische Unterhaltung, als „breites Geschwätz"
bezeichnen möchten. Wie wenig der treffliche Verfasser von jeher von
der Idee des Schönen durchglüht war, davon liefert auch der Umstand
einen schlagenden Beweis, daß er (der abstracte Denker) als junger
Mann Romane: „Paradies und Welt" u. a. in. geschrieben. Der
genannte Roman empfiehlt sich zwar durch ein reiches Gemüth, doch
läßt er die philosophische Natur des Verfassers nie zu einer lebensvol¬
len concreten Fassung kommen. Zudem ist er auch in einer Periode
geschrieben, wo es überhaupt schaal und trift in unserer Literatur aus¬
sah, in den zwanziger Jahren nämlich, wenn wir nicht irren. Der
Kampf der Poesie mit der Abstraction ist stets ein rührendes Schauspiel,
und er wird ehrwürdig, wenn man ein ganzes reiches Leben daran setzt.
Wir weisen Hillebrand eines Theils wegen dieses literarhi¬
storischen Verdienstes, andern Theils wegen seiner nach allen Seiten
hin umfassenden liberalen Wissenschaftlichkeit, als „Professor wie er
sein soll", unter den Gießener Docenten die erste Stelle an. Doch freuen
wir uns, dieser Schilderung eines verdienten Veteranen die eines jün¬
geren Docenten anreihen zu können, welcher seit einigen Jahren den
früher so sterilen Boden der Ludoviciana mit modernen Elementen be¬
fruchtet; was Hillebrand's gelehrter Besonnenheit nie recht zusagen
wollte. Lebendig, und mit fast französischer Rapidität der Gedanken
und des Vortrage, nach allen Seiten hin anregend, sucht Moritz Car¬
riere, ein bekannter Literat, in seinen philosophischen und ästhetischen
Vorrrägen, die Bande des Gießener gelehrten und ungelehrten Chine-
senthumö so viel als möglich zu lockern. Er ist weniger gründlich,
als anregend, aber voll der vielseitigsten Kenntnisse in allen Fächern
(in der Logik entnimmt er seine Beispiele meist den Naturwissenschaf¬
ten), zu deren Studium er die jungen Leute anregt, indem er ihnen
die interessantesten und prägnantesten Punkte derselben lebendig vor
Augen zu führen weiß. Dabei besitzt sein Vortrag die Wärme der
Ueberzeugung. Ein solcher Docent fehlte Gießen. Man nennt Car¬
riere ungründlich, und bedenkt gar nicht, daß die besten, die nützlich¬
sten Docenten höchst selten solche Meerwunder von Gelehrsamkeit, solche
mumienhafte Conglomerare von versteinerten Citaten sind, welche sich
eher für Geld sehen, als hören lassen sollten! Ca^ritZre's Verdienste
bei der Universität sind jedoch bis jetzt noch wenig anerkannt worden.
Man hat seine auf Hegel basirende Richtung für halben Wahnsinn
aufgeschrien z man hat sich alle jene Umtriebe gegen ihn erlaubt, wo¬
durch die höhere deutsche Universitätspedanterie aus -uno Zopf ihren
Neid gegen Geistesfrische und feurigen Ueberzeugungseifer von jeher aus¬
zulassen Pflegte.'
Gießen hat noch zwei andere philosophische Pnvatdocenten, Schil¬
ling und Crönlcinz doch ist der Letztere kürzlich zum Redacteur der
Freiburger Zeitung berufen worden. Der Erstere zeichnet sich durch
einen schönen Vortrag und eine, wir möchten sagen, zu große Grund-
lichkeit aus, durch eine geistige Engbrüstigkeit, welche ihm den zu
einer größeren literarischen Schöpfung nöthigen Athem zu rauben
scheint. Doch hat er kürzlich ein Werkchen über Leibnitz geschrieben.
Der Geist der Zeit und die Sympathien der deutschen Jugend sind
dem Systeme, dessen Anhänger er ist (den Herbartischen) von jeher
zuwider gewesen. Diese Erscheinung wiederholt sich auch in Gießen.
Nun müssen wir von der Gteßener und also im.Allgemeinen auch
von der Hessen-Darmstädtischen Theologie reden! Es ist dies eine
schwierige Sache. Wir leben in einer Zeit der Stichwörter und
einseitigen Parolen (in der theologischen Welt besonders); man
läuft Gefahr, für einen Mucker oder sonst Gott weiß was? gehalten
zu werden, wenn man zu stolz ist, ein Rationalist zu sein. Doch der
Rationalismus und mit ihm die Gießener theologische Facultät wird
nicht so unbescheiden sein, sich ohne Weiteres mit dem Fortschritt zu
identificiren; und hoffentlich wird auch kein Leser in der unparteiischen
Kritik einer rationalistischen Facultät sogleich reaktionäre Tendenzen
wittern. Charakter und Wesen des Nationalismus ist Halbheit, gründ¬
liche Halbheit — jenes zwitterhafte Achseltragen und philiströse Ko¬
kettiren mit einer anticipirten, sogenannten „rechten Mitte" — jene be¬
queme Religion vorsichtiger Comptoirbedienten — jene blutlose Unent-
schiedenheit, von deren energielosen Trügern Dante's Virgil die schö¬
nen Worte spricht:
,Misc;Iiiats sono a. qnsl oattivo poro
Dsgll angsli, oll« non durou ribslli,
tur fsclsli a vio, ins, per s« lor»."
Dieses „Fürsichbleibcn" war von jeher der Fluch der Rationali¬
sten. Die Himmelöstürmerei, welche im vorigen Jahrhundert so fleißig
in England und Frankreich betrieben ward, war den deutschen Herren
zu gefährlich. Sie zogen sich eine langweilige Moral heraus — eine
Moral, welche in den Stunden der Andacht noch immer ihr breites
Wesen treibt. Sie wollten ein wenig Vernunft und ein wenig Glau¬
ben haben — Alles für den Hausbedarf. Mit gelehrten Hornbrillen
musterten sie die Bibel, um in ihr ihren gesunden Hausmannöverstand
it la Nicole wiederz'ufinden. Der Fanatismus des gesunden Haus-
mannsverstandes kehrte sich von Anfang an zerstörend gegen alles Tiefe
in Kunst und Wissenschaft. Die Gesangbücher tractirte er auf eine
schmähliche Weise; jeder körnige, kräftige Ausdruck, jede Spur von al-
terthümlicher Naivetät ward mit Füßen getreten; ja die Philiströsität
des bon sei,« desavouirte sogar den Werther und desavouirt noch im¬
mer die ganze moderne Literatur von Lord Byron an, hatte aber da¬
für auch das Glück, schon von Lessing, ihrem anfänglichen Partner,
sich abgewiesen zu sehen. Der Rationalismus schmähte die Romantik
und möchte noch heutzutage jede Spur von Poesie aus unserm Leben
verbannen. Hegel trat auf —die Rationalisten lachten oder verketzer¬
ten ; die Julirevolution erschütterte Europa — die Rationalisten sperr¬
ten sich vorsichtig gegen ihre Einflüsse ab, glaubten in den Chorfüh¬
rern der Fleischesrehabilitation und des jungen Deutschlands den leib¬
haftigen Satan zu erblicken.
Der ächte Rationalismus hat, wie die Restauration, nichts vergessen
und nichts gelernt. Noch immer nehmen sich die rationalistischen Kan¬
zelredner den Cicero zum Vorbilde; noch immer erheben sie, wenn sie
in die Philosophie pfuschen, diesen „schludrigen" Philister, der sich bei
allen Systemen sein Schäfchen zu scheeren wußte, auf den Schild.
Noch immer möchten die Rationalisten alle Tiefen der Natur und des
Menschenherzens mit ihrem Schwalle impertinent breiter Tautologien
ausfüllen und alle Welt zu Amphibien machen. Denn zur Gattung
der Amphibien (hört es, ihr Naturforscher!) — zur Gattung der Am¬
phibien gehört der ächte Rationalist. Oder ist dieses vorsichtige Schwan¬
ken und Herumwählen zwischen Vernunft und Glauben nicht ächt
amphibienartig? Ein Rationalist „kann auf dem Lande und im Was¬
ser leben", freilich mit entschiedener Vorliebe für das Wasser. Wir
wollen mit dieser Schilderung keineswegs diejenigen ehrenhaften Män¬
ner verletzen, welche zur Zeit unter dem Namen „Nationalisten" für
den religiösen Fortschritt fechten; sie haben Konsequenzen gezogen, zu
denen sich der ächte Rationalismus, wie er besonders hier und da auf
Kathedern sein Wesen treibt, nie verstanden haben würde. Allein auch
ächte, alte Rationalisten laufen jetzt' mit dem großen Haufen und ste¬
cken in ihrem Nummer Sicher die Lorbeern des Freisinns in die Tasche;
auf diese isj es hier abgesehen! Von dieser Sorte haben wir auch in
Gießen einige Exemplare. Dennoch wollen wir nicht zu streng mit ihnen
verfahren, da auch sie in neuester Zeit vom Strome der Zeitbewegun¬
gen mit fortgerissen, wenigstens eine negative Bedeutung gegenüber ei¬
ner prätentiösen Romantik gewinnen. Unsere Zeit zerstört; überlassen
wir das Aufbauen einer glücklichern Epoche!
Ganz Hessen-Darmstadt bezieht von Gießen her seinen fast offi-
ciellen Rationalismus ; nun ist aber einmal alles Offieielle widerlich,
besonders in Religionsangelegenheiten, und darum können wir auch
diesen großh. hessischen Nationalismus nicht sehr hoch anschlagen. Wir
können dies auch deshalb nicht, weil er dem ganzen Leben in allen
Ständen eine so trostlos nüchterne Farbe gibt (obgleich wir Gott dan¬
ken, daß bei uns keine preußische Poesie fortkommt!) Außerdem ist
dieser Rationalismus als officieller von Haus aus intolerant und da,
wo er anfängt, sich tolerant zu geberden, beginnt sein Schwanken, da
es ihm nur mit Accenten und Grammatik wahrhaft Ernst ist, und ein ge¬
heimes Mißtrauen in seine eigne Kraft ihn beunruhigt. Es hat in Hessen-
Darmstadt Zeiten gegeben, wo nicht pietistisch gepredigt werden dnrftei
andererseits entblöden theologische Professoren sich nicht, trotz ihrer Opposi¬
tion gegen Hengstenberg und Tholuck, Privatdocenten, welche der Hegel'-
schen Richtung angehören, die Anwartschaft auf die Professur abzu¬
sprechen. Wir rechnen dahin die Herren Fritzsche und Knobel. Der
erstere ängstigt die ganze theologische Jugend mit seinen griechischen
Accenten. Der letztere überweist in seiner Moral die Kunst als „un¬
männlich" den Frauenzimmern, bringt die Poesie unter die Rubrik:
„Scherzlüge" und verschüchtert die Leute noch mit dem kategorischen
Imperativs eine Willensästhetik und ihre Cultivirung durch Schiller
scheint er nicht zu ahnen; gleicherweise bleiben auch Aristoteles und
Spinoza's Ethik in dieser Moral schier unberücksichtigt. Ein Pendant
zu Fritzsche und Knobel bildet Hasse; er ist jedoch noch zu jung und
unbedeutend, als daß sich etwas Erhebliches von ihm sagen ließe.
Desto mehr läßt sich von Crodn er sagen, welcher wohl auch im Weg-
scheider'schen Nationalismus stecken mag, aber doch ungleich mehr Frei¬
sinn und oppositionelle Courage an den Tag legt, als seine Herren
Collegen. Er ist einer jener zähen, besonnenen Historiker, welche, so¬
bald sie historischen Boden unter den Füßen fühlen, so standhaft und
tapfer sind, wie Michel Mort, der Heros von Kreuznach. Crodner
bewährt sich in seinen neuesten Fehden gegen Herrn Kanzler von Linde
ganz als Michel Mort der historisch-kritischen Forschung. Dieses sein
festes Auftreten ist durchaus tüchtig und ehrenhaft; er ist ein Prote¬
stant mit Leib und Seele. Nur verfällt er in seinen kirchengeschichtli¬
chen Vorträgen bei der Darstellung der mittelalterlichen Verhältnisse
in den Fehler der meisten rationalistischen Historiker; er hat keinen liebe¬
voll innigen Sinn für die Auffassung der Individualitäten. Sobald
er den Katholicismus zu Gesicht bekommt, verfolgt er ihn mit seiner
ganzen kritischen Schärfe durch das ganze Gebiet der Kirchengeschichte,
welche so zu einer bloßen, einseitigen Kritik wird. Darüber geht denn
natürlich die warme, lebensvolle Darstellung der einzelnen Perioden
verlöten. In dieser Beziehung könnte er von Neander lernen. Er ist
für eine gute Geschichtschreibung, ähnlich, wie Schlosser, zu schroff uno
charaktervoll. Ueberhaupt ist diese charaktervolle Schroffheit auf dem
historisch-kritischen Gebiete dem Nationalismus eigen; eine Eigenheit,
welche ihn auch wohl zur Zeit bei der großen Masse, welche Partei¬
farbe haben will, so sehr in Aufnahme bringt. Demungeachtet möch¬
ten wir ihn für die theologische Praris nicht empfehlen. Der Ratio¬
nalismus macht dieselbe fahl und nüchtern. Das reine Menschenthum
genügt ihm nicht; nur zur Hälfte reißt er das kirchliche System ein
und ist unhöflich genug, den Leuten die Trümmer als Wohnung an¬
zuweisen. Auf der Universität (in Gießen wenigstens) legt er einen
ausschließlichen Werth auf den philologischen Theil der Theologie, füt¬
tert die jungen Leute mit Accenten zu Tode, so daß sie nüchtern und
leer an Geist und Herz die Hochschule verlassen und dann gar häufig
zur Revange dem Pietismus anheimfallen. Gießen hat nicht einen
tüchtigen modern gebildeten Dogmatiker. Die Studiosen, ohne Anre¬
gung und von mittelmäßigen Gymnasien kommend, sind darum meist phi¬
losophisch rüde; sie versäumen Das, was bei den Theologen die Haupt¬
sache ist, eine vielseitige, menschliche und mithin ästhetische Bildung.
Und doch muß ein guter Prediger vorzugsweise ästhetisch gebildet sein,
denn es läßt sich bis zur evidentesten Gewißheit nachweisen, daß der
Eindruck einer guten Predigt stets ein ästhetischer ist. und kein anderer.
Die Ehre der Gießener Theologie der allgemeinen Bildung ge¬
genüber rettet noch einigermaßen G. Baur, ein geistvoller, vielseitig ge¬
bildeter Docent, Eklektiker mit entschiedener Hinneigung zu Schleier-
macher, der übrigens auch schon lange auf Beförderung harrt, wahr¬
scheinlich deshalb, weil er es verschmäht, an dem Zopfe theologischer
Pedanterie in die Höhe zu klettern.
Wir kommen zur Philologie. Sie ist in Gießen eben nicht
überflüssig besetzt. Osann, als Ordinarius, Otto, als Extraordinarius,
H. Fritzsche, Privatdocent. Osann ist über seiner Gelehrsamkeit alt
und grau geworden; er schließt sich feindlich gegen jede neuere Rich¬
tung ab und sieht als Direktor des philologischen Seminars das ein¬
zige Heil in einer minutiösen Textkritik. Otto ist geistreich, gelehrt und
für jedes moderne Element empfänglich; doch scheint es ihm an der¬
jenigen idealen Durchbildung zu mangeln, ohne welche in der Wissen-
schaft, wie im Leben, nie etwas wahrhaft Großes geleistet worden ist.
Fritzsche ist noch zu jung und unbedeutend. Adrian, früher Herausgeber
des rheinischen Taschenbuchs und Universitätsbibliothekar, vertritt
die neuern Sprachen. Doch kündigt er die Vorlesungen nur an.
Seine Verwaltung der Universitätsbibliothek hält die Studiosen sehr
dial (er ist Censor von Gießen). Die Bibliothek mag wohl nur als
für die Docenten vorhanden angesehen werden. Alles patriarchalisch!!
Man scheint überhaupt in Gießen vor jedem jugendlichen Elemente
große Furcht zu hegen. Ein Privatdocent muß besonders protegirt und
mehr noch als unverdächtig sein, wenn er avanciren soll. So harrt
auch Otto, den modernen Richtungen angehörig, schon lange vergebens
auf eine verdiente und angemessene Beförderung. — Die Geschichte ist
in Gießen nur von einem Manne (man denke!), von Schäfer, ver¬
treten. Er hat ein gründliches Werk über portugiesische und spanische
Geschichte geschrieben, doch ist er zu trocken und farblos. Neben einem
Schlosser und Dahlmann darf man ihn kaum nennen. So müssen
denn die historischen Studien in Gießen auf eine unverantwortliche
Weise darniederliegen. Jungen Leuten erschwert man den Zutritt zum
Katheder. Früher las S chmitthenner mit großem Applaus Ge¬
schichte; die Gießener hielten ihn für einen höchst bedeutenden Historiker,
weil er durch Zötchen und Anektdötchen zu unterhalten wußte.
Was soll man von der Jurisprudenz sagen? In Gießen huldigt
man durchweg dem Romanismus. Culminationspunkt des Freisinns
ist hier: Verhör bei offenen Thüren und Pennsylvanisches Abtödtungs-
system. Da die Frankfurter Germanistenversammlung es verschmäht
hat, die Romanisten einzuladen, so wird es das verehrliche Publicum
auch uns verzeihen, wenn wir sein Gedächtniß nicht mit Namen von
Gießener Romanisten behelligen. V. Grolmann, ein outrirtes Talent,
und Hillebrand, ein junger Docent, vertreten noch einigermaßen
„das alte, gute Recht." Uebrigens kann man sich in Gießen Kennt¬
nisse im Altdeutschen nur durch Selbststudium aneignen!
Cameral- und Staatswissenschaften vertritt Schmitthenner, ein in
seiner Universalität merkwürdiges Talent, dem es jedoch an dem rech¬
ten, energischen Mittelpunkte zu fehlen scheint. Seine Thätigkeit als
Landtagsdeputirttr verräth wenig Charakter und Farbe.
Man legt in Gießen einen Hauptaccent auf die cracker Discipli¬
nen; Liebig mag das Hauptsächlichste dazu beigetragen haben, der
Universität diesen Schwerpunkt zu geben. Wir können jedoch über
Naturwissenschaften, Medicin u. tgi. nichts specielles sagend, weil die.
selben nicht unseres Faches sind. Wir müssen übrigens wünschen, die
Universität möge sich vor österreichischem Realismus bewahren. Auffallend
ist die Erscheinung, daß die Professoren dieser Disciplinen sich noch
vor den übrigen durch aristokratisches Benehmen auszeichnen. Wenn
doch die deutschen Docenten endlich einmal von dem irrigen Wahne
abließen, als eristirten Universitäten und Studenten nur deshalb, da¬
mit sie desto bequemer dominiren und ihre Gelehrsamkeit auskramen
könnten! Ein deutscher Professor ist gar zu häufig ein Louis XlV.
en miniuture: „iVuniversitv o'ost um!"
Diese Professorenaristokratie sperrt die armen Studenten auf eine
bedauerliche Weise von allen Bildungsquellen ab. In Gießen haben
sie noch dazu kein Museum, wie in Marburg und Heidelberg, und an
der Universitätsbibliothek wegen der Illiberalität der Direction die
allerdürftigste Ressource. Rechnet man dazu, daß Gießen ein Kräh¬
winkel ist, wo sich nur in einigen höhern Kreisen ein gewisser Fond
von Bildung findet, so begreift man leicht, daß es Zeiten geben konnte,
wo die Gießener und Würzburger Prüderie Sprichwort war. Die
Bürger geriren sich den Studenten gegenüber sehr massiv; sogar in
dem städtischen Clubb ist nur das philiströse Element, das burschikose
dagegen nicht einmal mit einer berathenden Stimme vertreten.
So muß denn gar manches frische, jugendliche Talent in diesem
Universitätsbann verschrumpfen. Denn es ist in der That bedauerlich,
daß grade auf Gießen ein so ausdörrender Mehlthau gefallen ist. Wir
möchten behaupten, daß in keinem deutschen Lande verhältnißmäßtg ein
so großer Reichthum an ungeläuterten Talenten, an gebundener Kraft,
an frischer Originalität vorhanden sei, als in Hessendarmstadt. Das
Volk vereinigt auf die glücklichste Weise die Vorzüge der nord- und
süddeutschen Stämme in sich; der Geist der Studentenwelt wird
trotz aller Schnürbrüste und beengenden Hemmnisse mit jedem
Tage strebsamer, und eine zeitgemäße Reorganisation der höhern
Bildungsanstalten würde jedenfalls Treffliches erzielen. Doch wird die
neue Eisenbahn, von Frankfurt nach Cassel, schon das Ihrige beitra¬
gen, Gießen wie Marburg in das große Wellculturnetz hineinzuziehen.
Indessen sind wir vollkommen überzeug!, daß die hessendarmstädtifche,
in andern Beziehungen treffliche Regierung und Verwaltung, welche in
neuerer Zeit durch die unglücklichen Weidig'schen Händel weit härter
getroffen ist, als sie es verdient hätte, schon längst auf die Hebung
dieser höhern Culturverhältnisse bedacht gewesen wäre, wenn nicht ge¬
rade in diesem Zweige der Ultramontanismus und Jesuitismus die
edlern Keime geistigen Lebens mit Füßen träte.
Sie meinen, verehrter wandernder Redacteur, ich säße so zurück¬
gezogen und einsam fest in der leipziger Vorstadt und erhielte und er¬
kaufte so viel Bücher, und verwendete so viel Zeit auf Lectüre, daß
es Ihren Lesern von Interesse sein müßte, wenn ich periodisch und mit
kurzen Worten das schilderte, was ich gelesen. Wichtiges würde ich
mir ja nicht entgehen lassen, und das recensirende Erzählen sei mir ja
doch ein Bedürfniß. Man räume damit auf äußerlich und innerlich, auf
den Büchertischen und im Haupte.
Erwarten Sie nur nichts Systematisches: das Laufende eignet sich
nicht dazu. Erwarten Sie auch nichts Vollständiges: wir erfahren immer
erst nach Jahren, was voll geworden ist und was Stand gehalten —
soll doch endlich auch das Literaturblatt des Morgenblattes mit seiner
heftig ausziehenden Vollständigkeit an ungenügender Theilnahme des
Publikums zu Grabe gehen. Und erschrecken Sie nicht, wenn ich zu¬
weilen und gleich zu Anfange in literarisch ganz unfruchtbare, entlegene
Gegenden mich verliere. Ich befinde mich eben in China, an der Hand
eines ungemein kundigen Führers: Karl Friedrich Neumann ist
der Name desselben. Sie wissen, daß er in München wohnt und daß
die vortrefflichen Berichte über das himmlische Reich in der Allgemeinen
Zeitung von ihm herrühren. Er hat soeben in einem Bande die „Ge¬
schichte des englisch-chinesischen Krieges" herausgegeben, und ich kann
Sie versichern, daß dies Buch ein außerordentliches Interesse gewährt.
Ich möchte sagen, das Interesse eines Romans, wenn dies für solide
Leser nicht zweideutig klänge. Nicht die Phantasie des Autors, aber
eine für uns phantastische Wirklichkeit gibt den romanartigen Reiz.
Und Neumann, der an Ort und Stelle gewesen, schildert nicht nur
lebendig, sondern er schildert von dem Hintergrunde unsres deutschen
Standpunktes. Dadurch entsteht die oft witzige und immer lehrreiche
Wirksamkeit seiner Schilderung. Es ist gar zu überraschend, oft blitz¬
artig erschreckend, wenn die unwandelbaren Grundsätze des Mittelreiches
gewissen Grundsätzen eines uns nahe stehenden Reiches ähnlich lauten
und in der Stunde der Prüfung kraftlos zerbrechen. „Eine genauere
Kenntniß der Geschichte des Mittelreichs und seiner Institutionen," sagt
Neumann sehr richtig im Vorworte, „scheint in unsern höchstbewegten
Zeiten, abgesehen von ihrem eignen selbständigen Werthe, selbst ein prak¬
tisches, ich möchte sagen ein vaterländisches Interesse darzubieten. ES
zeigt nämlich die Geschichte China's und aller Länder seines Cultur-
systemö, wie thöricht es ist, die Macht eines Staates einzig und allein
auf einer Äußerlichen mechanischen Ordnung, auf veraltetem Herkommen
und auf einer geistlosen, gewinnsüchtigen Industrie aufbauen zu wollen.
Es lehrt diese Geschichte, daß Derjenige seinen eignen Untergang vor¬
bereitet, welcher glaubt, die selbständige, ewig Neues gestaltende Geistes¬
kraft und die sich maßgebende moralische Ueberzeugung entbehren zu
können."
Daß wir nun auch grade dem beliebten Symbole, dem Zopfe in
größter Ausbildung hier begegnen, das erhöht den witzigen Eindruck.
Ich kann mir nicht versagen, einige Gedankenpunkte des ChinesenthumS
auszuzeichnen für unsere Erbauung.
„Von einem Schöpfer im biblischen Sinne des Worts, von einer
Schöpfung aus Nichts" hat man in China nie etwas gewußt. „Alles
wird aus dem Urgethüme, der Himmel sowohl wie die Erde, der Mensch
und die übrigen Wesen." Da gibt's kein Paradies, keinen Sünden¬
fall; der Mensch entwickelt sich von der Thierheit auf frei, und bringt
es doch, wie mit Paradies und Sündenfalle, zum System des Despo¬
tismus. Nicht historisch, wie anderswo, sondern logisch. Tugend und
Gerechtigkeit heißen die Grundpfeiler des Staates — klingt dies
nicht verführerisch? Aber was wird aus Tugend und Gerechtigkeit,
wenn das jedem Menschen „angeborne Streben nach Aus- und Fort¬
bildung, nach Neuem und Ungewöhnlichem gebannt und bis in's Ein¬
zelne mit eiserner Folgerichtigkeit entfernt gehalten wird?" Keine Ver¬
änderung, selbst nicht im Unscheinbarsten! das hat Tugend und Ge¬
rechtigkeit zu hohlen, lügnerischen Worten, das Volk zu einem seichten,
äußerlichen, in Wahrheit nichtigen Volke gemacht. „Die Freiheit un¬
serer gelehrten Republik," sagt der chinesische Jesuit P. Ko, „ist blos
Gnade; der Drache des Gesetzes verfolgt das Talent und das Genie
auf ihren glänzendsten Flügen; das Schwert des Gesetzes, daS ub^r
ihrem Haupte schwebt, trifft sie bei der geringsten Abweichung von der
vorgeschriebenen überlieferten Norm."
„Das Harun, zu Deutsch der „„Pinselwald,"" oder das oberste
Schreiberevllegium, ist keineswegs, wie fälschlich behauptet wird, eine
Akademie im europäischen Sinne des Worts ; es ist keine von Herrschcr-
und Beamtenlaunen unabhängige wissenschaftliche Anstalt, welche sich
unter den Würdigsten des Landes ihre Genossen auswählt. Im Gegen¬
theil, die Mitglieder der Behörde werden unmittelbar vom Fürsten selbst
geprüft, und wenn ihre sogenannten Kenntnisse und Ansichten Beifall
erhalten, wenn sie sich durch unbedingte Anhänglichkeit an die höchste
Person auszeichnen, allergnädigst zu Mitgliedern ernannt. Das Harun
ist eine Regierungsbehörde wie jede andere, sie führt die oberste litera-
rische Polizei im Lande und bildet eine Art Censurgericht. Die Pro-
vinzialgelehrten, welche ihre Werke aus kaiserliche Kosten gedruckt wün¬
schen — einen Ehrensold kennt man in China nicht und die Sprache
hat kein Wort dafür — senden sie nach Peking, wo das Harun be¬
stimmt, ob sie dieser Auszeichnung werth sind oder nicht." Das Re¬
sultat zeigt, wohin solche gründliche Aufsicht führt: Es entsteht nichts
mehr und Erstarrung und Tod sind die Folge. „Auch müssen sich diese
immer noch verdächtigen Gelehrten des Harun in allen ihren Ver¬
richtungen mit den Präsidenten der Sittenbehörde oder des Cultus¬
ministeriums benehmen, welche darüber wachen, daß jede freie Bewegung
unterdrückt und blos nach den herkömmlichen geistlichen Formen, nach
der landesüblichen Liturgie gehandelt werde."
Eine merkwürdig psychologische Aufgabe bieten die wenigen Chi¬
nesen dar, welche im Gegensatze zu der allgemeinen Feigheit, dem na¬
türlichen Ergebniß eines seit Jahrtausenden despotistrteir Landes, mit
einem gewissen Heroismus sich die Kehlen abschnitten bei dem Siege
der Engländer. Es ist dies der Heroismus der formellen Verzweiflung.
Hinter ihnen der Herr, welcher die Niederlage auch noch züchtigen wird,
vor ihnen ein barbarisches Element, welches sie ihrem ganzen Gedan¬
kenkreise nach verachten müssen und welches sie doch unwiderstehliche
Macht entwickeln sehen. Die Welt ist verrückt, hinweg aus ihr! ist
ihr natürlichster Schluß, und wer noch einen Rest moralischer That¬
kraft besitzt, schneidet sich die Kehle ab.
Nelken wir uns zu einem tröstlichen Gesichtspunkte, der uns glück¬
licherweise näher liegt. Da ist ein Buch mit einem gepanzerten und
mit Lorbeer bekränzten Ritter. Das ist ein guter, sehr antichinesi¬
scher deutscher Ritter, Namens Hütten.
August Büret bye in einem Bande eine Lebensgeschichte Ulrich's
von Hütten gegeben und zwar in der Absicht, ein populäres Buch zu
liefern. Ob ihm dies in ganzer Ausdehnung des Wortes gelungen
sei, müssen wir vom Urtheile des Populus, heutiges Tags Publicum
genannt, erwarten. Die gewisse Kraft, welche einschmeichelnd und
nachdrücklich zugleich Popularität zu gewinnen pflegt, ist Büret nicht
grade eigenthümlich, aber er ist ihr in diesem Buche näher gekommen,
als in irgend einem frühern, besonders durch ein sehr anerkenneils-
werthes Streben nach Einfachheit. Die Art der Quellenbenutzung ist
etwas wunderlich, insoweit von Quellen die Rede ist, welche das Hütten-
Thema schon zu einem schiffbaren Flusse gemacht haben. Er läßt
nämlich Ranke, Hagen, Meiners ze. oft wörtlich sprechen und zeigt
uns durch beigefügten Namen des Historikers an, daß er hiermit die An¬
sicht eines Andern zu der seinigen mache. Demgemäß sagt er denn
auch im Vorworte, daß er nicht mit fremden Federn glänzen wolle,
indem er ihnen hier und da eine andere Färbung zu geben suche, daß
er aber- auch den als tüchtig erkannten Ausdruck nicht Paraphrasiren
möge. Ich fürchte nur, die Einheit des Buches leidet darunter ein
wenig und mit ihr der größere Eindruck, welchen es machen kann, so¬
bald die ganze Darstellung ans der Persönlichkeit des Autors hervor¬
strömt. Wenn also die Ansichten Ranke's, Hagen's ze. über Hütten
von Büret nicht blos eingestrent, sondern durch dessen Auffassung und
eigne Wiedergabe vermittelt würden, so wäre ein weiterer Schritt zur
Popularität gewonnen. Das Publicum ist indessen vielleicht der Mei¬
nung, es sei wünschenswert!), dergestalt in Kürze und den Hauptpunk¬
ten die Ansicht berühmter Historiker unverändert mitgetheilt zu er¬
halten, und damit gibt es dem Herausgeber Recht. Der schön ge¬
druckte, übersichtlich und interessant abgetheilte Band ist jedenfalls eine
willkommene Gabe, doppelt willkommen in einer Zeit, welche die Streit-
fragen Hutten's allesammt wieder in brausende Bewegung gesetzt hat.
Jesuiten. Eine historische Ergänzung nach entgegengesetzter
Seite bietet ein anonym erschienenes Bändchen mit folgendem Titel:
„Das Innere der Gesellschaft Jesu. Eine durch Documente des Ordens
gegebene Darlegung der Erziehung, Bildung, des innern Ganges, der
Verwaltung, des Bestandes und der Wirksamkeit der Gesellschaft in
unsern Tagen." Ich weiß von dem Verfasser, daß er viele Jahre
blos darauf verwendet hat, das Institut der Jesuiten durch eigne An^
schauung kennen zu lernen, daß er zu dem Ende in fremden Ländern,
namentlich in Frankreich, soweit es möglich war, in die Häuser der
Jesuiten eingedrungen ist, und daß wir von ihm ein ausführliches
Buch über dies Thema zu erwarten haben. Bei den Lesern der Grenz-
boten ist besondere Aufmerksamkeit vorauszusetzen. Sie haben die pi-
kante Wendung gesehen, welche In un S, jetziger Redacteur der Berliner
Zeitungshalle, dem Thema zu geben wußte, und haben die interessan¬
ten Mittheilungen Köberle's gelesen. Der anonyme Verfasser dieses
nur wie ein Botschafter vorausgcsendeten Bändchens hat ein ganz
anderes Verhältniß zu der Frage: Was sind eigentlich die jetzigen
Jesuiten? „Diejenigen, welche Wahrheit geben konnten," sagt er,
waren zu sehr Partei, die sie geben wollten, waren zu wenig unter¬
richtet. Alls der neuern Gesellschaft sind wenige gegen sie zeugende
Schriften hervorgegangen, denn die beiden Mittheilungen über das Kol¬
legium Se. Michael zu Freiburg und über das Noviziat zu Se. Ächeul
bei Amiens haben, letztere nicht genug Autorität und liefere Kenntniß
der Gesellschaft selbst, erstere nicht die erforderliche Ausdehnung, Llin
einen Ueberblick über das Ganze zu geben. Die bloßen Parteischriften,
wie sie aus mancherlei Ansichten in Deutschland und Frankreich er¬
zeugt sind, können nicht in Betracht kommen, da sie außer den eignen
Meinungen der Verfasser keinen Werth besitzen; die von ver Gesell¬
schaft selbst veröffentlichten sind zur Gewinnung möglichst vieler Gunst
geschrieben; die von ihren Freunden leiden an den Mängeln beider
Parteien, obschon sie in der Regel behaupte,,, frei vou aller Rücksicht
zu schreiben. „Ja" setzt er hinzu, „die bloße, selbst gründliche Kennt¬
niß des Instituts genügt dazu nicht; denn wer kann behaupten, was
in diesem geändert worden, was außer ihm liegt, wer kann den eigen¬
thümlichen Geist in seiner so seltsamen Lebensäußerung erfassen aus
dem bloßen Buchstaben. Es wird immer nur der hineingebrachte Geist
sein, nie aber der ursprüngliche oder geltende. Hier nur setze ich den
Inhalt der nachstehenden Blätter hin. Ich will die Gesellschaft Jesu
rein, auf sie selbst mich stützend, hinsetzen, wie sie ist, wie ich sie ver¬
standen habe. Thatsachen, ruhige Wahrheit, der nackte Gang des le¬
benden Instituts ist mein Zweck, von jedem fremden Einflüsse mich be¬
wahrend, werde ich nur in leichten Andeutungen nothwendige Aeuße¬
rungen meiner Ansicht einflechten. Wahrheit, das von beiden Parteien
zur Losung erhobene Wort, wohlan! ich gebe sie. Ich gebe sie, ohne
einen Anspruch auf andere Bedeutung als die, das von mir mit
schweren, selbst ungewöhnlichen Opfern Errungene zu richtiger Feststel¬
lung der öffentlichen Meinung und zur Aushülfe auf den einzig rich¬
tigen Standpunkt parteiloser Erkenntniß verwendet zu haben."
Die Leser mögen nicht besorgt sei», daß ein also verklausulirtes
Buch am Ende gar jesuitisch für die Jesuiten geschrieben sei. Der
Verfasser ist ein ehrlicher Norddeutscher, und schon dieser vorläufige
Band schließt nach Mittheilung der statistischen Daten in seinen
Schlußbetrachtungen dahin ab, daß er — der Abneigung gegen die
Jesuiten Recht gibt.
Dieser Daten halber ist allerdings dieses Bändchen von außeror¬
dentlicher Wichtigkeit.
Das kann ich von einem „Jahrbuche des deutschen Elementes in
Ungarn" nicht sagen, welches ,,mit Originalbeiträgen namhafter
Schriftsteller" von Karl Maria B e nker t so eben herausgegeben wor¬
den ist, und eine literarische Verbindung und Vermittelung zwischen
den Deutschen und Magyaren errichten sott. Zu dieser dankenswer-
then Aufgabe ist es in keiner Weife angethan, nicht in der Anffassungs-
fahigkeit des Herausgebers, nicht in den Beiträgen. Letztere erschei¬
nen zusammengerafft, ohne irgend ein vereinigendes Princip und von
grell ungleichem Werthe. Die Einleitung des Herausgebers aber,
burschikos und lebendig, fährt an den entscheidenden Punkten, inner¬
halb welcher Trennung oder Vereinigung entschieden werden muß,
windig vorüber. Das Thema ist ein ungemein schwieriges, da die
Berechtigung der Magyaren unsern Landsleuten gegenüber eine viel
stärkere ist, als die der Slaven in Ländern, welche seit Jahrhunderten
Deutschland einverleibt, mit lediglich deutscher Cultur und zur Hälfte
mit deutschen Bewohnern angefüllt sind. In Ungarn kann es gründ¬
licher Bildung nur langsam gelingen, dem deutschen Elemente eine
tüchtige Stellung zu verschaffen, eine Stellung, tüchtig für die Ma¬
gyaren und tüchtig für uns, die wir eine organische Verbindung bis
an's schwarze Meer mit allen Kräften erstreben müssen. Solch ein
deutsches Element, welches sich in deutscher Sprache magyarisch ge¬
berdet, kann uns nicht im Geringsten nützen und wird auch in seinem
lüderlicher Style den Magyaren von keiner Bedeutung sein. Das
Beste was es zu Stande bringen kann, wäre eine Anregung für die
Deutschen in Ungarn: einen gründlichen literarischen Mittelpunkt in
einer Monats- oder Vierteljahrsschrift zu suchen, damit die schwierige
Stellung des deutschen Elementes ein Organ für Speculation und
Verständigung gewänne.
Eilen wir zu organisirten Schöpfungen, die in ihrem Kreise ab-
geschlossen sind und deren Betrachtung' ersprießlicher ist. Die letzten
Monate haben manches Werthvolle gebracht. Darunter die ersten
zwei Bände einer gesammelten Ausgabe „Schriften" von Eduard Boas,
ein neuer Roman der Gräfin Hab n, ein Roman von S es ü all n g. Eine
Dame, Caroline von Göhren, tritt zum ersten Male auf mit einem
Roman in zwei Bänden, Johannes Scherr, den ich nur als kritisch
historischen Darsteller neuerer Literatur gekannt, desgleichen sein „Pro¬
phet von Florenz," welchen er Wahrheit und Dichtung nennt, ist zwar
der Jahreszahl nach schon im vorigen Jahre erschienen, er hat aber
wohl unter der Fluch das Schicksal gehabt, neu, das heißt unerörtert
zu bleiben. Louise Mühlbach bringt in drei Bänden einen „Roman
in Berlin", N ort manu, ein neu hervortretender solider Oesterreicher,
ein Nvvellenbuch in zwei Bänden, Ludwig Storch die erste Abtheilung
seines „deutschen Leinwebers" unter dem Titel: „Philipp von Oestreich",
Klencke, „das (dreibändige) deutsche Gespenst," von Stern berg da¬
gegen ein illustrirtes „Tulu." Die „Urania" den andern Taschenbü-
ehern voraus bringt neue Novellen von Auerbach, Gutzkow, Sternberg,
Therese, Gerstäcker ze. und die Theaterliteratur daneben ist für diese Sai--
son zahlreicher denn je mit Originalarbeiten ausgerüstet. Da ist der
„deutsche Leinweber" von Storch und Adami schon als Drama einge¬
richtet, da bietetS chücking als Lustspiel eine satinschePosse „Anno 1769
oder die Belagerung von Graßlingen," Feld manu als Verspottung der
Lindwuth „Ein Mädchen vom Theater," Benedir, ein harmloses, in
geschickter Schürzung von Situationen erheiterndes kleines Lustspiel
„der Vetter", Berg er, Verfasser der „Bastille" und „Marie von Me-
dicis", einen „Jean Bart" als Lustspiel, Gustav Freitag ein geistvolles,
interessantes Schauspiel „die Valentine", Gutzkow ein sorgfältig ausge¬
arbeitetes Stück aus dem Judenthume „Uriel Acosta", welches außer
seiner dramatischen Führung noch den besonderen Reiz eines dogmati¬
schen, für die jetzige Zeit namentlich anziehenden Themas, darbringen
wird, Bauernfe it zwei neue Lustspiele, Friedrich H a l in ein noch unge¬
nanntes Stück, dessen Beendigung^ täglich zu erwarten steht. Sieht
dies nicht wie erfreulicher Reichthum aus! Und so Manches ist noch
unterweges, oder mir noch nicht bekannt, wie „das Pfand der blauen
Schleife", dem Gerüchte nach von einem Herrn von Puttlitz, ein rei¬
zendes Interesse darbieten soll. Der Lyriker und Epiker gedenk' ich
dabei noch gar nicht, und erwähne nur beiher, daß von Nord manu
ebenfalls ein Band Gedichte unter der Presse, daß Moritz Hartmann
mit Beendigung eines zweiten Bandes beschäftigt und nur um einen
Titel in Sorgen ist, da „Kelch und Schwert" einzig bleiben soll und
„Neuere Gedichte" als zu geographisch nicht beliebt ist, daß endlich
Alfred Meißners Ziska Außerordentliches verspricht.
Bei der Morgenröthe hat Alles ein verheißungsvolles Ansehen.
Betrachten wir nun Einiges unter Nüchterirer Beleuchtung.
Eduard Boas. Die Sammlung seiner „Schriften" ist auf
zwölf Bände angelegt, und die zwei ersten liegen vor uiis. Der erste
„heitere Novellen" betitelt, enthält drei Erzählungen, voir denen „der
Buchbinder" und „Bennos Jugendleben" einen eigenen Und nicht un-
interessanter Charakter des Erzählens darstellen. Sre wollen Zu-
stände in größerem Umkreise, zum Beispiele Handwerkerleben schildern,
und einen Charakter entwickeln, an welchem sich typisch unser jetziges
Faustleben spiegelt. Faust fragt heutiges Tags nicht mehr nach jen¬
seitigen Dingen, sondern er fragt: was soll man nach absolvirten Stu¬
dien werden, um leidlich glücklich zu sein, Held oder Doctor/ Künstler
oder Privatmann? Dies Thema behandelt die zweite Novelle, und es
ist der Boasschen Weise nachzurühmen, daß sie sich durch die doktri¬
näre Absicht nicht in doctrinäre Durchführung einspannen laset. Die
Entwickelung des Benno eilt munter und natürlich von Gei'rrebkld zit
Genrebild- in's Leben hinein und befriedigt uNsie Anforderungen, bis
wir an die letzte Höhe kommen. Von dieser macht der Autor ein zü
wohlfeiles Zugeständnis) an die alltägliche Form der Erzählung. Ge^
rügt uns indessen auch der Ausgang nicht, der Weg hat uns ange¬
sprochen, und ich glaube wohl, daß das große Lesepublicum viel An¬
theil nehmen kann, an den Boasschen Formen. Der Buchbinder
ist in der That eine durch Einfachheit wohlthuende Geschichte. Es
mag an ihr zu tadeln sein, daß sie durch ausführliche Schilderung
des Handwerkerlebens in der Einleitung auf einen Kreis sich sticht,
welcher für die eigentliche Erzählung acht nöthig und noch weniger
Kern und Mittelpunkt ist; aber man Mum't' diese Rowmrtik det
Handwerksburschen gern in den Kauf. — Der zweite Band belügt
die „Pepita", welche sich schon zahlreiche Freunde erworben, und bringt
unter dem gemeinschaftlichen Titel: „Italienerinnen" mehrere solcher
anmuthigen Epen, deren schalkhafte Gattung Eduard Boas als etwas
ganz Originales ansprechen darf.
Schücking's „Eine dunkle That" ist Zeugniß eines geistvollen
Autors und ausgestattet mit manchem guten Detail. Gegen das
Ganze bin ich in einer ungünstigen Stellung, insofern mir die roman¬
tische Art der Erzählung veraltet und uninteressant erscheint. Die Mo¬
tive kommen hinten nach! Dies ist mit eine« Worte die Form die.-
ser romantischen Erzählungswcise. Auf Geheimnissen herumzutanzen
ehe man weiß, ob diese Geheimnisse der Rede werth sind, das ist ein
Verlangen, über welches nur eine große Genialität der Darstellung
hinwegbringt. Ich finde dann auch diesen Romanband da am besten,
wo der Verfasser in der Mitte deS Bandes ein hinreichendes Stück
Boden vor uns aufgedeckt hat und nun gezwungen ist, mit benann¬
ten Größen in natürlicher Entwickelung zu verfahren. Schücking wird
seine schönen Kräfte viel ergiebiger verwerthen, wenn er sich entschließt,
seine Erzählungen beim Anfange anzufangen. Die dunkle That spielt
übrigens in Westphalen und im vorigen Jahrhunderte. Sie besteht
in der Beseitigung mehrerer Kinder durch ein rachsüchtiges Frauen¬
zimmer und ist längst geschehen, als die Helden und Heldinnen des
Romans einander begegnen. Sie ist also nur ein Hintergrund, wel¬
cher uns als solcher nicht besonders lockt und welcher eigentlich nur
zur Erklärung dient, nicht aber zu dramatischer Bewegung.
Von den drei Damen, welche uns Romane bringen, erlaube ich'mir nur über eine, die Gräfin Hahn, ein Urtheil. Die andern beiden,
Louise Mühlbach und Caroline von Göhren, begegen sich in For¬
men der Darstellung, welche meiner Empfänglichkeit zu weit abliegen.
Von Louise Mühlbach, die sehr fleißig producirt, habe ich sehr lange
nichts gelesen und ich muß gestehen, daß dieser „Roman in Berlin"
einen großen Fortschritt der Verfasserin neben frühern Büchern bekun¬
det. Das Thema selbst, Berliner Zustände und Figuren, die sich nach
allen Seiten durchkreuzen und vor zwei Jahren Berliner Geheimnisse
betitelt worden wären, ist mit Sicherheit angefaßt und in guter mo¬
ralischer Absicht so ausführlich angelegt, daß es eine breite BeHand¬
lungsweise verträgt. Dies wird gewiß von einem-großen Theil des
Publicums dankbar anerkannt werden. Für mich ist diese Breite der
Zustände und Charaktere nur dann genießbar, wenn ihr die geistige
Energie eines Sue auch große Stärke verleiht. Ohne solche Energie
der Fassung werde ich das Mißbehagen nicht los, eine romantische
Statistik vor mir zu haben, die mir nicht hinreichend Statistik ist, weil
sie eben romantisch sein will, und nicht Roman genug, weil sie auf
Statistik Ansprüche macht. — Noch übler ist mein Verhältniß zu der
„Adoptivtochter" von Caroline von Göhren. Dieser Roman ist die
Ausführung des dritten Abends aus Andersen's „Bilderbuch ohne Bilder."
Es ist ein gar mißlich Ding, etwas in zwei Bände auszudehnen, was
schon eine kurze gute Form gefunden hat. Die Verfasserin hat denn
auch offenbar ein ganz anderes Publicum vor Augen, als uns Schrift-
steiler, und sie muß darauf bestehe», daß ihr Buch von anspruchslosen
Damen beurtheilt werde.
„Sibylle," ein neuer zweibändiger Roman der Gräfin Hahn, ist da ¬
gegen an uns gerichtet. Ihn dürfen und müssen wir näher betrachtein
Obenein werden die Leser und Leserinnen dieser geistreichen Frau immer
schwieriger und unsicherer in ihrem Urtheile, und seit dem vorletzten
Romane, Clelia Conti, der allerdings nicht leicht Jemand befriedigen
konnte, grollt die Unzufriedenheit mit dieser Schriftstellerin so kalte, als
ob sich die Entthronung eines frühern Lieblings in'S Werk setzen wollte.
Sibylle wird deshalb bereits härter angelassen, als recht sein mag;
sie ist um nichts schwächer, als ein früherer Roman; im Gegentheile,
sie ist besser als Clelia Conti und manches andere Buch der Verfasse¬
rin. Das abfällige Urtheil erklärt sich nur daher, daß die Leser jetzt
erst zu der Einsicht kommen, welche dem Kritiker längst vor Augen lag,
zu der Einsicht, daß Form und Inhalt dieser Verfasserin sehr schmal ist
und auf die Länge nicht genügen kann. All' diese Romane sind Va¬
riationen desselbigen einzigen Thema's und Variationen innerhalb der¬
selben Figuren. Je öfter das wiederkehrt, desto ärmer erscheint es.
Auch in Rücksicht auf Gedanken; nicht daß es an Gedanken fehlte —
nein, diese werden immer zahlreicher, aber immer dünner, immer kraft¬
loser, weil sie fortwährend von derselben Wurzel abgeschält werden.
Klänge es nicht zu wunderlich, so könnte man das Bild einer Zwiebel
zur Versinnlichung gebrauchen. Haut um Haut wird abgelöst, bis
man auf Häutchen um Häutchen kommt. Man liest jetzt schon Seiten
lang, ohne irgend einen Eindruck zu erhalten, weil die Folgerungen
und Betrachtungen bis zur Unscheinbarkeit dünn gehäutet sind, und
weil auch die Verfasserin augenscheinlich zu handwerksmäßig täglich
schreibt. Statt mit Sparsamkeit in ihrem ausgeleerten Kreise den etwa
noch übrigen Rest zusammenzudichten, zerstreut sie ihn durch tägliches
Aussperren. Statt auf Composition zu denken und vermittelst der
zwei oder drei Gedanken, um welche sich der Roman bewegt, glücklich
zu täuschen, wird sie immer schlaffer in der anfänglichsten Form, in
der biographischen. Diese chronologisch hinschleppende Form hat ohne¬
dies den Uebelstand, neben der Hauptfigur alle andern Figuren nur in
dürftigem Profil zu zeigen, Alles immerfort nur in der einen Beziehung
darzubieten. ES ist befremdlich, daß eine so kluge Frau in der eigent¬
lichen Kunst so gar nichts lernt, als ob sie in dem einen Punkte durch¬
aus mit Herrn von Sternberg harmoniren müßte. In Betreff der
Sprache selbst hat sie sich übrigens um einen Grad gebessert? der Jargon
gesellschaftlichen Ausdrucks mit der „Aureole," mit dem „illustre" und
„magnifique" ist in diesem Romane ziemlich beseitigt, wenn auch keines¬
wegs ganz. Das muß ihr anch sehr schwer werden, da sie abgeschlossen
lebt und nur den immerwährenden Scheltworten von außen nachgibt,
nicht aber selbst empfindet, daß dieses Kauderwelsch von schlechtem Ge¬
schmacke sei.
Sibylle erzählt ihre Lebensgeschichte. Sie ist eben wieder ein
weiblicher Faust, der nicht lieben kann. Der Anfang dieses unvermeid¬
lichen Thema's ist mit frischer Kraft geschrieben und lockt. Dann ver¬
sinkt das Buch in die herkömmlichen Spinngewebe des einen Gedan¬
kens: der liebenswürdige Gatte genügt nicht, der Freund „captivirt",
aber überwältigt nicht, auch dann nicht, als der Gatte gestorben ist
und der Freund treue Ansprüche zeigt. In dieser Gegend wird das
Buch gradezu langweilig. Sibylle gibt endlich nach und heirathet
Otbert und wird von diesem untreu behandelt. Wie sie diese Untreue
auffaßt, der Schluß des ersten Bandes — das ist genial gedacht und
empfunden und lockt uns in den zweiten Band, obwohl wir uns ein¬
gestehen, daß für einen zweiten Band nichts vorbereitet ist und Alles
aus dem Nichts neu geschaffen werden muß. Das gelingt denn auch
nicht, obwohl der Musiklehrer Fidelis, dessen tiefe Liebe zu ihr jetzt in
den Vordergrund tritt, eine schone Gestalt ist. Wir wissen bereits zu
gut, daß er dieser „immensen, aber leeren Seele" Sibyllens keine ei¬
gentliche Liebe abgewinnen kann; wir sind durch die uninteressante bio¬
graphische Form zu sehr auf eine bloße Begräbnißgeschichte vorbereitet
und als diese traurige Entscheidung mit Fidelis eingetreten ist, sind
wir wiederum ohne fortdrängenden Lebenskeim des Romanes und des
Endes herzlich bedürftig. Dieselben Modulationen ein und desselben
Gedankens gähnen uns an, wir sind geneigt, Blatt für Blatt zu über¬
schlagen, bis ein neuer Liebhaber auftritt, den Sibylle für den Lieb¬
haber ihrer Tochter hält. Wie immer in diesen Büchern, haben wir
reisen und reisen, es mit diesem und jenem Orte versuchen, viermal,
fünfmal neu anknüpfen und in Ermangelung einer Einheit „allendlich"
denn auch wieder in einem Bauerhause der Schweiz kurz vor dem
Ende des Buches einen neuen Roman anheben müssen. Dieser neue
Roman mit dem „bewilderten" Wilderich ist für den Grundgedanken
der Sibylle sehr gut gedacht: weil Sibylle nicht lieben kann, verkennt
sie Wilderich's Liebe zu sich, glaubt ihre Tochter geliebt, zieht ihre
Tochter in so falsche Hoffnung hinein und vernichtet ihr Kind dadurch,
daß das Mißverständnis; an den Tag kommt.
Dies ist Sibylle, deren Inhalt einen interessanten, ja tragisch-ein¬
dringlichen Roman gegeben hätte, wenn er in einem Bande und mit
den Hülfsmitteln der Erzählungskunst geschrieben worden wäre. Ich
bin weit davon entfernt, in die Vorwürfe einzustimmen, daß dies mo¬
derne Frauenthema von Frauen dargestellt, eine verderbliche Einseitig¬
keit in unserer Literatur errichte. Ich halte es im Gegentheil für ei¬
nen Gewinn, daß dies Thema erörtert und daß es von Frauen erör¬
tert werde, welche ersichtlich neue, uns Männern nicht erreichbare Ge¬
sichtspunkte und Empfindungen einführen. Aber ich leugne nicht, daß
wir hiermit bereits auf dem Punkte angelangt sind, welcher eine Ver¬
armung und Vcrwässerung in spitzfindigen Ausführlichkeiten mit sich
bringt, und daß einem Talente, wie dem der Gräfin Hahn, eine en¬
gere und strengere Fassung nöthig wird, wenn diesem ganzen Frauen¬
wesen ein dauerndes Plätzchen in der Literatur gesichert werden soll.
Mit Ausnahme der Gesellschastöworte, welche im literarischen Style
durchaus als Ungeschmack erscheinen, möchte ich auch den einzelnen
Wortneuerungen deutschen Ausdrucks nicht so entgegentreten, wie dies
vorherrschend geschieht. Dergleichen Neuerungen müssen der Eigen¬
thümlichkeit gestattet werden, und wenn auch vielleicht „allendlich" und
„bewildert" nicht aufgenommen werden, so soll man doch solch eine
.Quelle der möglichen Bereicherung nicht verstopfen. Die Mittelmäßig¬
keit braucht freilich keine neuen Ausdrücke, weil sie nicht eigen denkt
und nichts Neues zu sagen hat. Wer aber dazu getrieben ist, dem
soll das Herkommen nicht spöttisch entgegen gehalten werden. DaS
Unpassende findet von selbst keinen Zugang, also auch keine Dauer.
Das kleine Mahl war beendet, Marie hob das Tischtuch hinweg,
und Mar saß Roberten jetzt allein gegenüber. Ruhe und Behag¬
lichkeit herrschten in dem kleinen Zimmer. Alles war reinlich und
«Rank, Alles einschmeichelnd und traulich, selbst den alten Nußbaummö-
beln sah man es an, daß sie hier ein stilles Familienglück bewachten.
Robert, um dessen breiten Mund schelmische Gutmüthigkeit lagerte,
dessen lebenswarmes Auge und braunes Haar, in welches die 6<1 Jahre
noch keine Silberfäden gesponnen, sein Alter Lügen strafte, hatte schon
lange seinen jungen Freund beobachtet, der das Haupt auf den Arm
gestützt, sinnend in die Flamme des Lichtes starrte. Jetzt aber stand
der alte Jäger kopfschüttelnd auf, öffnete die knarrende Thür eines
Schrankes, suchte und suchte, bis er endlich ein kurzes, doppelläufiges
Gewehr hervorlangte, welches von oben bis unten sorgfältig mit Tü¬
chern umwunden war. Bedächtig nahm er die leinene Puppenschale
von dem schönen Instrument, setzte sich wieder an den Tisch und fing
an den Lauf und das Schloß zu putzen.
Aber wie oft er auch nach Maxen hinüberfchielte, er gab nicht
Acht auf das, was um ihn vorging. Endlich konnte Robert das
Schweigen nicht länger ertragen. „Wer das Ding so vor sich sieht,"
begann er, „der läßt sich vielleicht von der netten Außenseite bestechen,
aber ich lobe mir doch mein altes Kaliber mit einem Laufe, denn mein
Wahlspruch wird bleiben: Wer auf den ersten Schuß nicht trifft, der
lasse seine Hand lieber ganz von jedem Gewehre!"
Max warf jetzt einen flüchtigen Blick auf die Doppc>>s,in^.
„Ein neuer Stütz, nicht wahr?" fragte er zerstreut. „Ihr habt
ihn wohl kürzlich gekauft? denn ich sah ihn noch nie im Hause."
„Das will ich glauben!".meinte der Alte lächelnd, „aber gekauft
habe ich ihn nicht. Se. Durchlaucht schenkte mir ihn, als er noch
Prinz war, und erzählte mir dabei, wie er einst dann eigenhändig
einen Wilddieb niedergeschossen. Da sieh nur das Wappen." Dabei
wies er auf ein silbernes Gepräge über dem Schloß. „Ich habe das
Ding" fuhr er geschwätzig fort, „immer eingeschlossen gehalten, und
weiß Gott, wie mir es einfiel, daß ich es morgen bei der Herrenjagd
tragen sollte — vielleicht erkennt der Herzog das Geschenk und den
Beschenkten wieder. Das war ein lustiger Tag, wo ich es als Beute
heimbrachte, es war in demselben Herbste, wo du einst, als ein hilf¬
loser Bursche Mitleid heischend in meine Hütte kamst. Draußen an
der Grenze hatte ich die Fährte eines Hirsches wahrgenommen, und
er war schon ein Stück in's Land hineingegangen. Flugs laufe ich
hinüber auf das Schloß, und melde es dem Prinzen. Ein ächter
Waidmann, hängt er gleich Flinte und Tasche über, und so machten
wir Beide allein uns auf den Weg, beschlichen den Zwanzigender, und
erlegten ihn glücklich. Als wir nun so auf dem Haidekraut saßen,
und der Prinz mit mir theilte, was mir deine Marie als Imbiß in
die Tasche gesteckt, da wurde er redselig und erzählte mir die Geschichte
mit dem Wilddiebe. Er war auch einmal nur von einem Jägerbur¬
schen begleitet, hier herum in den Wald gegangen, da trifft er auf
zwei Männer mit grauen Kitteln und einen Jungen, die mit Büchsen
über den Schultern herumstreichen. Ohne Verzug legt er an, und
schießt den Aelteren der Beiden nieder. Damals hauste grade in der
Umgegend der berüchtigte Grauschütz, wie ihn die Bauern nannten,
ein verwegener Geselle, der wohl drüben an der Grenze seine Woh¬
nung hatte. Der Prinz versicherte mir nun, daß es der Beschreibung
nach derselbe gewesen wäre, den seine Kugel niedergestreckt, auch ver¬
scholl seitdem der Name des Grauschützen und bis heutigen Tages hat
sich-in unsern Landen nie wieder solch ein Freibeuter sehen lassen, denn
wenn einmal ein Bauersmann hier und da ein Häschen wegpafft,
nun so drückt man ein Auge zu — denn das ist noch keine Wild¬
dieberei !"
„Aber die andern Beiden?" fiel ihm Mar rasch in's Wort, „was
sagte der Prinz von den beiden andern Wildschützen?"
„Ja ?o Null die hätten den Getroffenen aufgehoben und fort¬
geschleppt. Aber Se. Durchlaucht waren damals schon ein Mann mit
dem Herz auf dem rechten Flecke. Immer ihnen nach, durch Gestrüpp
und Felsgestein. Einmal hätten die Beiden Miene gemacht, den Ge¬
fallenen niederzulegen, und sich zur Wehr zu setzen, aber der Prinz
sandte ihnen eine Kugel, die dem Jungen den Hut vom Kopf riß<
und da sahen sie wohl, daß es auf kein spaßen abgesehen war, hoben
die Leiche des Grauschützen wieder auf, und entkamen endlich, weil sie
mit den Waldwegen besser vertraut waren, als Se. Durchlaucht."
„Ich hörte die Geschichte schon von andern Leuten," sprach Mar,
indem er wieder sinnend in das flackernde Licht starrte, „es ist der
Grauschütz gewesen, der damals geschossen wurde, auch sein Begleiter
ist später an einer Wunde gestorben, denn der Prinz hatte sie weit
verfolgt und seine Kugeln setzten den Leichenträgern arg zu — nur
der Bube soll davongekommen sein."
„Wohl ihm! er wird die Lehre nicht vergessen," versetzte der
Waidmann.
„Er wird sie nicht vergessen I" sprach ihm Mar in hohlem Tone
nach, und die alten Nußbaummöbeln knisterten geheimnißvoll bet die¬
sen Worten. — Aber der alte Robert war einmal im Erzählen, und
da brach er nicht leicht ab.
„Als wir nun damals selbander gefrühstückt hatten," fuhr er fort,
„trieben wir Leute in der Umgegend auf, die das Wild nach Hause
bringen sollten, und der Prinz befahl, das Geweihe über dem Ein-
fahrtSthore des Jagdschlosses zu befestigen, und ließ darunter eine
kleine kupferne Tafel setzen mit den Namen „Prinz Michael und Ro¬
bert", weil er den ersten, ich den zweiten Schuß gethan, ja hätte er in
seiner Doppelflinte nicht noch einen dritten Schuß bereit gehabt, der
Zwanzigender könnte noch heutigen Tages herum spazieren. Die kleine
Kupfertafel ist freilich im Regen grün geworden, und man sieht sie
kaum, wenn man so flüchtig vorübergeht, aber diese Flinte hier hat
nicht geröstet, und ich bewahre sie wie ein theures Erbstück, denn Se.
Durchlaucht schenkte sie mir damals, als wir zusammen im Haidekraut
saßen. Ich verschloß und versteckte sie aber, damit die Leute nicht
glauben möchten, ich wolle ein Gepränge daraus machen."
„Wie?" fuhr Mar jetzt auf, „das ist dieselbe Flinte, durch die
jener Grauschütz fiel? Zeigt her!"
Hastig ergriff der junge Mann das blitzende Doppelrohr; Robert
aber wandte sich an Marien, die wieder eingetreten und sich still an
den Tisch gesetzt halte.
„Sieh nur den Kennerblick! Wie der Junge das Ding zu dre¬
hen versteht! Wie er bald roth bald blaß wird! Ja auf solche Sa¬
chen muß man ihn zu bringen wissen, da ist er gleich Feuer und
Flamme!"
„Himmel! was ist das?" unterbrach ihn ängstlich Marie, „seht
nur Vater, wie seine Lippen zittern und sein Auge rollt!"
„Hahaha!" lachte der Alte, „was ihr Frauenzimmer doch für
ängstliche Schranken habt! bin in meiner Jugend accurat so gewesen!
Hahaha! accurat so, sage ich Dir."
„Vater!" rief Mar jetzt plötzlich, „es muß furchtbar sein, auf ei¬
nen Menschen zu zielen. Furchtbar!
„Warum denn?" fragte der Alte, „dessen Blicke mit sichtlichem
Wohlgefallen auf Maxens kräftiger Gestalt und seinen kühnen Augen
ruhten, „warum furchtbar? Der Prinz versicherte mir damals, es sei
der schönste Tag seines Lebens gewesen, und der Mensch wäre das
edelste Wild. Er hätte geglüht, wie vom Feuer spanischen Weines,
seine Hand hätte vor Erwartung gezittert, und deshalb wären auch
seine Kugeln am Ziele nur vorbeigeflogen."
Mar stand hoch ausgerichtet da, die Büchse lag in seinem Arme,
krampfhaft hielt seine Hand das Schloß umspannt, als läge er auf
der Lauer, und als sollte im nächsten Augenblick der rothe Strahl auf
ein Opfer gezückt werden. Seine Nasenlöcher waren weit geöffnet,
sein Mund fest zusammengepreßt, und Fieberschauer schüttelten seinen
Körper, da entfiel ihm nach dem letzten Worte des Alten plötzlich das
Gewehr, und schlug klirrend auf den Tisch, daß der Messingleuchter
hoch emporsprang, auf den Fußboden rollte und das Licht verlöschte.
Marie that einen heftigen Schrei, aber der Alte verlor seine Fassung
nicht, holte einen brennenden Holzspan aus der Küche, zündete die
Kerze wieder an, und prüfte sorgsam sein Gewehr, ob es durch den
Fall nicht gelitten hätte. Mar saß bleich in einem Stuhle und holte
tief Athem.
„Nun sage mir Junge," fing Robert jetzt an, „was Dich ange¬
wandelt?"
„Es war Nichts!" antwortete Mar kurz, „das schwere Bier, das
uns Marie heute Abend vorgesetzt, hat vielleicht mein Blut in Wal¬
lung gebracht. Nun ist's vorüber!" .
„Höre Mar!" sing Robert jetzt an, „geh mir gleich zu Bett. Du
mußt morgen frühzeitig auf, denn um 6 Uhr müssen draußen an den
Schluchten schon alle Vorkehrungen getroffen und Nachricht auf dem
Schlosse sein, wo der Zehnender heute Nacht Quartier gemacht hat.
Gott, wie die Zeiten schlecht werden! In meiner Jugend machte man
nicht viel Lärmens um solch' ein Stück Wild. Aber wenn sich jetzt
so ein Thierchen blicken läßt, da schickt man gleich nach dem Schlosse
und trommelt die Leute meilenweit aus der Umgegend zusammen, daß
der seltne Gast ja nicht wieder entwische! Na mir ist es aber Recht,
schon um des alten Schlosses willen, denn das ist ungesäubert geblie¬
ben, seit der selige Herr zu Grabe ging, und das muß nun schon
6 Jahre her sein. — Geht Kinder, geht zu Bett, und Du, Marie,
gib hübsch Acht, daß Dein Eheherr nicht im Schlafe wandle, wie er
dies manchmal zu thun pflegt. Gute Nacht, Ihr Kinder!" —
Aber Mar konnte nicht schlafen. Zwei Stunden lag er schon
auf dem zerwühlten Kissen, und kein Schlummer wollte sich auf seine
Augenlider senken. Endlich hielt er es nicht länger so aus, er stand
auf und schlich in die Nebenstube, in der Hoffnung, das Klopfen sei¬
nes Herzens zu beschwichtigen, indem er in dem kleinen Raum auf-
und abging. Aber immer waren es dieselben Bilder, und dieselben Ge¬
danken, die ihn ängstigten, und immer unruhiger und unsteter wurden
seine Schritte. Mechanisch ergriff er endlich das kleine Lämpchen, was
er angezündet hatte, schlich zurück in die Schlafkammer und blieb hier
träumend vor Mariens Bett. Mit unsäglicher Wehmuth betrachtete
er die schlummernde. Ihre Augen waren fest geschlossen, aber der
Mund, ein wenig geöffnet, verzog sich manchmal in ein Lächeln, als
gingen liebe Traumgestalten an ihr vorüber. Die breiten Flechten ihres
kastanienbraunen Haares waren dem engen weißen Nachthäubchen ent¬
flohen und legten sich schmeichelnd um ihren Nacken. Ein kleines
Crucifir aus Elfenbein geschnitten, eine feine Tyrolerarbeit, hing an
einem schmalen schwarzen Sammtbändchen an ihrem Halse, und hob
und senkte sich bei den ruhigen Athemzügen der Schlummernden. —
Mar seufzte tief auf. Eine kurze Zeit lang verschwand der trübe
Ernst aus seinen Zügen, und sein Auge gewann den Ausdruck der
innigsten Liebe. Das Buch der Erinnerung schlug sich vor ihm auf
und zeigte ihm von Blatt zu Blatt die freundlichsten Bilder. Es war
ihm, als beträte er erst heute, wie damals ein armer elternloser Knabe,
das gastliche Haus Roberts. Er sah Marien den Verlaßnen wie
eine Schwester liebreich aufnehmen. Dann war es wieder der Tag,
wo er zum ersten Mal mit Robert in den Wald ging, und der Alte
sich kindisch freute, daß sein Pflegling so geschickt die Jagdflinte zu
handhaben wußte. Und dann der Abend, wo die sinkende Sonne die
Wipfel der Eichen so glühend geküßt, und er Marien hinter den Flie¬
derdusch im Garten gezogen hatte, um dem Beispiel der scheidenden
Himmelskugel zu folgen. Wie sie später mit erröthenden Wangen
und klopfendem Herzen vor Robert getreten, ihm ihre Liebe gestanden
und sein Jawort erbeten hatten. — Alles war so rosenfarben, so rein
und ungetrübt, bis endlich die nahe Gegenwart ihre Rechte ausübte,
und den Träumer an den schwarzen Flor mahnte, der sich mächtig
über seine Zukunft breitete. Das Lämpchen in seiner Hand fing an
zu zittern, eine drängte sich zwischen seinen Wimpern durch, es war
ihm, als solle er die Schlafende an sein Herz pressen, und nur die
Furcht, sie zu wecken, lähmte seine Glieder. Da fielen seine Augen
auf ein Söckchen, das sich in den Spitzen des Nachthäubchens verber¬
gen wollte. Leise zog er ein Messer hervor und raubte die Locke. ES
ist das letzte Mal vielleicht, dachte er, daß ich sie gesehen. O warum
mußte dieser Wurm die Blüthe meines Lebens benagen, daß die Frucht
herb und unreif zu Boden falle!
Langsam schlich er wieder in das Nebenzimmer, aber auch hier
litt es ihn nicht lange. Hinaus, hinaus in die Nachtluft trieb es ihn.
Mechanisch griff er nach seiner Mütze und seiner Flinte, aber schon an
der Thüre kehrte er noch einmal zurück, um aus den Tiefen einer
Truhe ein Packetchen hervorzusuchen. Dann schlich er vorsichtig, um
Niemand zu wecken, die hölzerne Treppe hinab, ein Sprung über den
Gartenzaun, und er war im Dunkel des Waldes. Hier breitete er
sein Päckchen aus, und zog eine graue, von Dornen und Waldgestrüpp
zerfetzte Blouse hervor, die er geschickt über seine Kleider warf und mit
einem Riemen um die Hüfte befestigte. Dann brach er auf und irrte
planlos in den Wald hinein, bis dieser sich plötzlich lichtete, und ein
kleiner, von Heidelbeerkraut versteckter Fußpfad ihn auf einen kahlen
Felsenvorsprung führte.
Es war eine Mondnacht, aber schwere Gewitterwolken ließen nur
dann und wann die glänzende Scheibe flüchtig hervortreten. Ein die-
fes Thal dämmerte zu Malens Füßen, ihm gegenüber in Büchsenschuß-
weite lag auf der Höhe der Thalwand ein langes Gebäude, das
Jagdschloß des Herzogs. Die Fronte seiner Fenster war hell erleuch¬
tet, und da es still im Thal und Walde, die Lust aber gewitterschwer
war, so drang das Klirren der Gläser und das Schmettern der Musi
deutlich zu Maxens Ohr. Hinter dein Schlosse lagerten feste Wolken¬
schichten, und das Wetterleuchten zeigte auf Augenblicke deutlich die
Formen des Daches und die kleinen Thürmchen am Giebel des Schlos¬
ses. Tief unten im Thal trieb ein Bach ein schweres Mühlenrad,
und dann und wann fuhr ein tiefer Athemzug der Nachtluft durch die
Laubwände des Thales, daß die Eichen mächtig schauerten und ihre
schweren Blätter erzittern machten.
„Sie trinken und musiciren drüben", sprach Mar, der eine Zeit
lang schwelgend in die Nacht gestarrt, „so sorglos sind die Menschen!
Hinter ihrem Giebel droht doch ein Wetter! Freilich", rief er dann
wildlachend, „freilich ist es kein Wetter mit Donner und zündendem
Strahl, sondern nur ein Leuchten und Flackern — ein Schuß ohne
Kugel.'
Wieder und immer wieder erklangen die Gläser und folgten die
schmetternden Fanfaren von dem Schloß herüber, ja bisweilen konnte
man einzelne Stimmen unterscheiden, unterbrochen durch das Lachen
einer vergnügten Menge.
„Wie das jubelt und lärmt!" begann Ma.r wieder, „Sie trinken,
scheint es, seine Gesundheit! Trinkt nur, stoßt an, aber hütet Euch,
Gläser Splittern zuweilen. — Sonst war es mir so wohl, wenn ich
frohe Menschen hörte, warum muß grade dieser Frohsinn mir so in's
Herz schneiden? O Gott! warum so zeitig mich an das Furchtbare
mahnen? Fast seit einem Jahre kenne ich, was es heißt, glücklich zu
sein, der Becher ist noch nicht leer, und mein Durst so groß, warum
schon jetzt ihn gewaltsam von meiner Lippe reißen?"
Der Mond brach eben hell durch eine Wolkenschlucht, und tief
in dem Grunde wurde der silberne Streifen des Baches sichtbar. Deut¬
lich schimmerten die weißen Wände des Schlosses über dem dunkeln
Laub des Waldes, und das Kerzenlicht in den Fenstern verschwand
vor dem mächtigern Strahle. Mar blickte auf,;>>aber nicht hinüber
nach dem Schlosse, sondern nach links, wo das Thal einen Bogen
beschrieb, an dessen Ende ein sonettes Häuschen neugierig über die
Büsche blickte, es war des NevierjägerS Wohnstätte. Da dünkte es
Maxen, als er so hinüberschaute, eine Frauengestalt zeige sich an dem
einen Fenster, aber in demselben Augenblick verschwand die momentane
Beleuchtung, und Alles lag wieder in gespensterhaften Dunkel. Die
Fenster des Schlosses glühten wieder, wie die leuchtenden Augen eines
Nachtvogels, der Wach rauschte ungesehen und geheimnißvoll in der
Tiefe, und das Försterhäuschen, ein Tropfen Milch auf den dunkeln
Wellen der Laubwaldung, war düster und unkenntlich.
„Wenn ihre Arme sich jetzt sehnend nach mir ausbreiteten!" flü¬
sterte der junge Waidmann, „sie ahnt vielleicht, daß ich sie verlassen!
Gibt es denn keinen Ausweg? Keinen? Ein Dämon hat mir seine
Höflingsdimste erwiesen, ein Teufel mischte die Karten, die Gelegen¬
heit mahnt und ich muß folgen! Aber wie? wenn ich den Zufall
von mir wiese, wenn ich mir selbst Aufschub verschaffte, wenn ich diese
Höllenlist mit List vereitelte? Es ist Selbstbetrug! Es ist Täuschung!
Verzeiht mir, ihr mahnenden Schatten, aber noch bin ich zu jung zu
dieser That!"
Rasch stand er auf, ein schwacher halbverschleierter Mondstrahl
fuhr über den nördlichen Theil des Thales, und zeigte noch einmal
das Försterhäuschen, einen sehnsüchtigen Blick warf der trübsinnige
Nachtwandler noch hinüber, dann eilte er mit kecken Sprüngen die
Thalwand hinab, und bald verbargen ihn ganz die breiten Stämme
der Eichen und Buchen.
„Wißt ihr schon?" klang es aus Aller Munde, als Robert früh
am andern Morgen zu den versammelten Jägern trat.
„Was gibt es denn?" frug dieser, „Ihr seht Alle so verblüfft
und mißgestimmt drein."
„Fünfmal haben die Wächter in dieser Nacht eine Büchse knallen
hören", antwortete Einer, „unser Wild ist wahrscheinlich verscheucht
und über die Grenze geflohen."
„Dann ist es ja vorbei mit der Freude!" versetzte Robert ärger¬
lich, „und Se. Durchlaucht kann «„verrichteter Sache mit all' dem
Troß wieder abziehn."
„Freilich wird's nicht anders werden", antwortete ein alter Jä¬
gersmann, „es ist ein boshafter Streich, den man uns gespielt hat,
denn nur unsere Nachlässigkeit, wird es heißen, sei an Allem Schuld."
„Aber wer sollte es gewesen sein?" fragte Robert weiter.
„Ja wer?" erwiderte der vorige Sprecher, „Einige von den Trei¬
bern, die in der Haide übernachtet haben, haben einen Mann in grauem
Kittel, die Flinte im Arm, draußen in der Dämmerung herumschleichen
sehen, sie hielten ihn für den Geist des Granschützen, des berüchtigten
Wilddiebes, schlugen ein Kreuz und ließen ihn vorüber."
„Alberne Possen!" rief Robert noch ärgerlicher, als vorher, „ich
hätte ihn anrufen, und ein Wort mit ihm reden wollen! Aber sprecht
doch, weiß der Herzog schon um das Geschehene?
„Noch nicht", antwortete der alte Jäger, „aber seht, da kommt
schon der Bote wieder, den wir weggeschickt. Nun Freund", wandte
er sich an den Bauer, der eben athemlos bei der Gruppe anlangte.
„Nun Freund, können wir auf den Zehnender noch rechnen oder nicht?"
„Allerdings", scherzte der Bote, „der Zehnender hatte noch einige
Kleinigkeiten in den herzoglichen Landen zu besorgen, und schob des-
halb seine Abreise aus."
Jetzt wurde wieder Jubel unter den Jägersleuten, und man
schickte sogleich auf's Schloß, dein Herzog anzuzeigen, daß Alles ihn
erwarte.
Eine halbe Stunde später langte die Savalcade der hohen Herren
und Damen im Thale an, und ein kräftiges Hurrah der Jägersleute
begrüßte ihren fürstlichen Kameraden. Es war ein herrlicher frischer
Morgen. Die Tiefe des Thales lag noch in Schatten, denn die Sonne
stand noch nicht hoch über dem Horizont, der Erdboden aber dampfte
und trocknete das nasse Laub. Dichte Nebelstreifen zogen aus den
Gebüschen, verhüllten auf Augenblicke die Wipfel der Eichen und wur¬
den verzehrt, sowie der erste Strahl der Sonne sie traf. Eine Schaar
Singvogel begrüßte den Zug mit ihrem einfachen, herbstlichen Zwit¬
schern. Aufgescheucht flogen sie davon, setzten sich in gemessener Ent¬
fernung wieder in die Zweige und warteten so lange, bis das Stam¬
pfen der Rosse sie wieder vertrieb, es schien, als könnten sie sich nicht
sattsehen an den Herren und Damen in strahlendem Putze. Herzog
Michael war ein schöner kräftiger Mann, mit feurigem Auge und einer
vollen, Jugendlust verrathenden Stimme. Ihm zur Seite ritt die Gräfin
Amalie von Weißenthorn, eine junge Witwe, von junonischem Körper¬
bau und geistreichen, kecken Gesichtszügen. Der Herzog war noch un-
verheirathet, die Gräfin ihrer Schönheit wegen berühmt und besungen
in deutschen Landen, sie war von hohem Adel und dem Fürsten eben-
bürtig, was Wunder also, daß die Leute flüsterten. Beiden sah man
es nicht an, daß sie die Nacht auf dein alten Schlosse durchschwärmt,
Beide waren munter und frisch, die Gräfin hatte mit dem Herzog ge¬
wettet, daß sie zur frühsten Stunde bereit sein würde, ihm am näch¬
stell Morgen ein Stück Weges das Geleit zu geben, und der Herzog
war vergnügt, daß er seine Wette verloren. Aber so langsam man
auch ritt, in einer Stunde war man bereits am Ziele, d. h. der Boden
wurde so steinig und uneben, daß der Fürst absitzen, und die Caval-
cade der hohen Herren und Damen von ihm Abschied nehmen mußte.
Der Herzog zog nun fröhlich und vertraulich mit seinen Jägern
waldeinwärts, scherzte mit den alten bekannten Gesichtern und lachte
die Graubärre aus, wenn er der Erste war, der eine steile Thalwand
erglimmt hatte. So traf man in kurzer Zeit auf eine Abtheilung von
Wildtreibern, die den Herzog nur erwarteten, um den Zehnender vor
die fürstliche Büchse zu Hetzen; Mar war unter ihnen und sollte das
Treiben leiten. Der Plan der Jagd war sehr einfach. Ein enges
Thal mündete nach Norden über der Grenze im Nachbarland, aber
Leute waren ausgestellt, die den König des Waldes von diesem Aus¬
weg zurückscheuchen sollten; nach Süden theilte sich das Thal in meh¬
rere Schluchten, die aber sämmtlich durch steile Bergwände geschlossen
wurden. Gelang es also, den Hirsch landeinwärts zu treiben, so mußte
er unfehlbar in eines dieser natürlichen Netze gerathen, und das enge
Terrain einen sichern und leichten Schuß möglich machen. Während
man den Fürsten mit diesem Plane vertraut machte, begab sich Robert
zu Maren, der in Gedanken versunken an einem Baumstamm lehnte.
„Warum so finster und mürrisch? und abseits von den Andern?"
redete er ihn freundlich an. „Höre es ist nicht Recht, was Du heute
gethan. Ohne Abschied bist Du diesen Morgen von Marien gegangen,
und das arme Kind ängstigt und peinigt sich nun, als hätte sie Dich
gekränkt. Du weißt, ich gebe nicht viel auf die Phantasterien der Frau¬
enzimmer, aber das war ja eine leichte Mühe, Du hättest ihr diese
Thränen ersparen sollen. Und dann warum heute grade in dieser ab¬
getragenen schwarzen Jacke? Warum nicht in dem grünen knappen
Rocke mit den Silberknöpfen und der Herzogskrone? He! schämst Du
Dich vielleicht ein Fürstendiener zu sein?"
„Zürnt mir nicht, Vater", rief Mar mit schlecht verhehlter Leiden¬
schaft, indem er die Hand des Alten ergriff und warm drückte, „zürnt
mir nicht! Ich bin unwohl heute, ich weiß nicht, wo meine Gedanken
geblieben sind, es wird sich bessern, hoff' ich."
Robert wollte gehen, aber Mar hielt ihn noch zurück. „Hört,
Vater", flüsterte er ihm zu, „sollte es sich zufällig treffen, daß Ihr heute
Abend eher als ich nach Hause kämt, dann umarmt mein Weib, küßt
sie recht innig, und sagt: das käme von um!"
Robert drückte ihm gerührt die Hand, aber bemerkte dabei nicht,
wie eine große Thräne in Marcus gesenkter Wimper hing, einige Mi¬
nuten später und der Eine ging rechts, der Andere links nach seinem
Posten. Das Treiben begann jetzt, allein mit schlechtem Erfolge, denn
das gejagte Thier entzog sich seinen Verfolgern, indem es wider Be¬
rechnung die steilen Thalwände hinankletterte und sich hier im Geklüfte
verbarg. Aber höher hinauf konnte es nicht, denn der Boden wurde
felsig und erhob sich fast überall senkrecht in die Lüfte. Immer von
Neuem verscheuchte man es wieder von dort aus, aber dennoch kam
es nie zum Schuß; ein einziges Mal versuchte der Herzog eine Ku¬
gel, aber sie hatte entweder gar nicht getroffen, oder nur leicht verletzt.
Endlich um Mittag stürzte sich das edle Thier in das Thal hinab,
aber trotzdem, daß die Jäger in engen Zwischenräumen standen, wußte
es zwischen ihnen durchzuschlüpfen und stürzte sich landeinwärts, die
Meute hinterher. Der Herzog war zwar voran, aber da ein brennen¬
der Durst ihn quälte, bog er seitwärts in den Wald, um einen Bach
zu suchen, denn er war sehr erhitzt und mußte fürchten, seine ehrlichen Leute
möchten ihm Vorwürfe machen und sich weigern, wenn er um einen Trunk
bäte. Aber der Bach war matt und trocken, und der Fürst mußte lange su¬
chen, ehe er ein Becken fand, worin sich einige Hände voll klares Was¬
ser gesammelt hatten. Als sein Durst gestillt war, eilte er wieder in's
Freie, aber es war still geworden auf dem Waldwege, die Jagd hatte
sich in eine Schlucht gezogen, nur aus der Ferne hörte man das Ru¬
fen und Toben, und das verrätherische Echo ließ zweifeln, woher der
Schall käme. Eine Zeitlang verfolgte der Herzog die frischen Spuren
im Sande, aber bald wurde der Boden felsig und der Fürst stand z,wei-
felnd, ob er in die Schlucht zur Rechten oder zur Linken einbiegen
sollte. Er entschloß sich rasch zu Letzterem, sprang über Gestrüpp und
Brombeerhecken hinweg, und fand sich bald allein in der größten
Einöde des Waldes; immer matter drang das Gebell an sein Ohr,
er hatte die falsche Richtung gewählt. Das Knallen einiger Flinten
ließ ihn mit Gewißheit vermuthen, die Jagd sei jenseits der Thalwand
zu seiner Rechten, und beflügelt durch die Besorgnis?, zu spät zu kom¬
men, und den bittern Gedanken, von dem spöttischen Lächeln eines schö¬
nen Mundes bei der Heimkehr begrüßt zu werden, entschloß er sich
rasch, den Thalrücken hinaufzuklettern. Mühsam arbeitete er sich em¬
por, ein tückischer Zufall entführte ihm dabei sein Jagdgewehr, und
muthwillig hüpfte es die Felsenabsätze hinunter. Der Fürst aber klet¬
terte mit verdoppeltem Eifer aufwärts; endlich war die Thalhöhe er¬
stiegen und hell und freudig schollen die Jagdrufe und das Bellen der
verfolgenden Hunde zu ihm herauf. Als er eben im Begriff war, an
den Rand des Abhanges zu treten, sah er dicht vor sich einen jungen
Mann, in grauem Leinwandkittel, der mit gespanntem Gewehr hinter
einem Busche lauerte.
„Hierher Mann!^' rief ihm der Herzog zu, „gebt mir Eure Büchse,
ich habe die meinige drüben im Thal verloren. Geht und sucht sie,
ich lasse Euch dann heute Abend ein Fundgeld zahlen."
Aber zu des Fürsten Erstaunen sprang der junge Waidmann auf,
schüttelte wild seine schwarzen Locken, und die Flinte immer noch
schußfertig im Arm haltend, rief er ihm 'zu:
„Erkennt Ihr den Ort wieder, Fürst? Vor 7 Jahren habt Ihr
hier auch Hatz gehalten, damals aber galt es zwei Männern und ei¬
nem Buben!"
„Was soll das jetzt?" rief der Herzog, einen Schritt zurücktretend,
und den kecken Redner vom Scheitel bis zur Sohle messend, „Laßt
Eure alten Geschichten, und gebt mir rasch Euer Gewehr, denn eine
Minute verloren, Alles verloren."
„Alles verloren!" erwiderte der trotzige Mann im grauen Kittel.
„Mitwäre es, Herr Fürst, wenn jener Bube, dessen Vater Ihr da¬
mals niedergeschossen, wenn jener Bube, dem Eure Kugeln die Mütze
vom Kopfe gerissen und die Wange blutig gezeichnet, wenn jener Bube
groß gewachsen jetzt vor Euch stände, die geladene Büchse im Arme,
eingedenk des gemordeten Vaters und der eignen Narben, wenn er
jetzt vor Euch stände und mehr denn eine Minute Zeit hatte, Euer
Fürstenkleid nicht mehr achtend, als Ihr die grobe Blouse seines Vaters?"
„Nun wohl!" rief der Fürst, „Du siehst, ich bin waffenlos und
mein Gefolge fern, so schieß denn, wenn Du Muth hast!"
Der kecke Bursche legte das Rohr an, aber seine Hand zitterte,
als sie nach dem Drücker am Schlosse suchte; da knallte es plötzlich
auf der Felswand gegenüber, der Fürstenmörder sank getroffen, und
seine graue Blouse färbte sich roth in der Gegend des Herzens. Der
Fürst trat auf den Gefallenen zu und schaute ihm in das blasse, jugend¬
lich schöne Gesicht, dessen Züge der tödtliche Schuß erstarren gemacht.
„Es dauert mich das junge Blut," sprach der Herzog mit wahrer
Regung, denn er war nicht unempfänglich für die Schönheit. „Es ist
schade um den frischen Burschen; aber wein," fügte er hinzu, sich um¬
blickend, „wem danke ich meine Rettung?"
Da bogen sich vor ihm die Zweige auseinander und majestätisch
drängte sich der verfolgte Hirsch durch die Gerten der Buchen. Mit
seinen klugen Augen betrachtete er eine kleine Weile die Gruppe auf
dem Felsengestrüppe, dann, als hätte er in ihnen seine Feinde erkannt,
war er mit einem Ruck nach Rechts entflogen und setzte in die dies¬
seitige Schlucht hinab.
Der Fürst stieß in das kleine, silberne Horn, das ihm zur Seite
hing, um die Jagd zu versammeln, und der Erste, der diesem Ruf ge¬
folgt schien, war der alte Robert. Athemlos stürzte er auf den Fürsten
zu, faßte seine Hand und mit Küssen sie bedeckend, rief er mit hastigen
Worten:
„Er hat Euch doch nicht verletzt, Durchlaucht? Nein, er hat es
nicht, ich sehe es an Eurer Durchlaucht lächelnder Miene. Ach, daß
mir altem Manne noch solches Glück im späten Alter begegnen muß,
meinem Fürsten das Leben zu retten! Und schaut nur, Durchlaucht, mit
demselben Dinge, was Ihr mir damals schenktet, als wir selbander den
Zwanzigender erlegt hatten. Nimmermehr hätte ich geglaubt, daß solch
ein Doppellauf so sicher tragen würde! Aber laßt doch schauen, wer
ist denn der freche Gotteslästerer? He, Mann! wenn du noch einen
Tropfen Blut in Dir hast, so sage, wer Du bist!"
Aber der Getroffne drückte sein Haupt nur tiefer in die blutigen
Kissen des Haidelbeerkrautes. Robert sprang auf ihn zu, riß den Ge-
fallnen gewaltsam empor und starrte ihm in's Gesicht, aber kaum hatte
er jene Züge wiedererkannt, da wurde es ihm eiskalt um's Herz und
errief: „Unglücklicher! Du? Du durch mich? OGott! warum mußtest
Du solchen Frevel begehen wollen?"
„Vater!" rief Mar mit sterbender Stimme, „Ich habe den Fluch
in Euer Haus gebracht. Als ich Eure reine Schwelle betrat, war der
Mord in meinem Herzen schon begangen. Meinem sterbenden Vater
gab ich den Schwur in das Jenseits hinüber, seinen Tod vergelten zu
wollen. Vater, vergeht mir, wenn Ihr könnt, und tröstet Marien!"
„Ihr kanntet den Unglücklichen?" fragte der Fürst theilnehmend
den im Schmerz Versunkenen.
„Er war mein Tochtermann!" erwiderte Robert dumpf und drückte
dem Gefallenen die Augen zu. —
Mittlerweile hatten sich die Jäger um die Grupp-e versammelt
und fragten, was vorgefallen sei.
„Geht nach Hause, guten Leute!" sprach der Fürst zu ihnen. „Ein
beklagenswerther Unfall hat sich zugetragen. Eine Kugel, die dem ver¬
folgten Thiere gelten sollte, tödtete diesen jungen Mann! Laßt uns
aufbrechen und die Jagd einstellen, und begräbt mir Euren Kameraden
mit allen Ehren, denn er fiel um meinetwillen!
Endlich kann ich Ihnen Näheres über die schon vielfach gerühmten
Cartons zu dem projectirten cmniw s-rien, zwischen Schloß und Museum,
berichten. Die Großem derselben werden etwa 20 Fuß hoch und gegen
25 Fuß breit. Sie sollen Flachen der Wände ausfüllen, welche durch
nischenartige Felder, die man mit gemalten Statuetten verzieren wird,
getrennt sind. Bis jetzt ist mir Einer davon, angefertigt von Peter von
Cornelius, zu Gesichte gekommen. Er führt uns die Pest, die Theue¬
rung, den Krieg und den Tod vor, wie sie auf das menschliche Geschlecht
herabstürzen. Es laßt sich vielleicht mancherlei gegen die logische Theilung
dieser Idee einwenden, indem ja die drei Erster» den Tod schon in sich
fassen, also entweder sie den Tod überflüssig machen, oder der Tod sie
ausschließt, und wenn man nicht so weit gehen will, wo er sie doch wenig¬
stens zu seinem Hofstaat macht und um sich gruppirt. Cornelius hat
indessen durch die Reihefolge seiner Gestalten den Tod gleichsam als' die
letzte Instanz dieser hereinbrechenden Leiden hingestellt und so diesen Zwei¬
fel niedergeschlagen. Als vier kolossale Neitersigurcn hat sich der Meister
diese Ideen realistrt. Links im Bilde die Pest im orientalischen Costüm,
Bogen und Pfeile in der Hand, hat sie eben das todbringende Geschoß
auf die Sterblichen entsandt. Ueber und hinter ihr mit markirt hebräi¬
schen Gesichtszügen die Theuerung. In der einen Hand tragt sie eine
Wage, wahrend sie die andere emporhebt und zwei Finger, wie es scheint,
um die Verdoppelung der Preise anzuzeigen, starr ausstreckt. Unter ihr,
im Mittelpunkt des Bildes, sehen wir den Krieg mit gezücktem Schwerte,
eine kräftige und ausdrucksvolle riesige Gestalt, auf vorbaumcndem Rosse.
Rechts, als letzte Reitersigur, stürzt der Tod auf wildjagendem Rosse
wie aus der Höhe herab, mit beiden Handen die Sense schwingend und
mit gewaltiger Armbewegung Alles vor sich wegmähend. Er erscheint
unstreitig als der Gelungenste unter den Vieren. Von großer Wirkung
ist die glückliche Idee des Malers, dem Tode einen humoristischen An-
flug zu geben. In der That erweckt es seltsame Schauer, in dem Ge¬
sicht dieses hagern mitleidlosen Mannes noch einen Zug des Spottes und
der Ironie zu erblicken. Diese ganze Gruppe ist so arrangirt, daß sie
sich von der Mitte aus nach beiden Seiten des Bildes in die Höhe
krümmt. Unter ihr nun, mannichfaltig gruppirt, liegen die wehrlosen
Opfer dieser Welttyrannen. Links, so daß der Raum nach der Höhe zu
ausgefüllt wird, zwei Weiber, welche wie bittend und abwehrend die Hände
erheben; die eine äußere von beiden, halt in dem Arme ein verstorbenes
Kind, dessen hinten übergebeugte Haltung von unnachahmlicher Schön¬
heit in der Zeichnung ist, die andere sucht von ihrem noch lebenden, sich
an sie anklammernden Kinde, den anstürmenden Tod abzuhalten. Von
diesen beiden sehr hervortretenden Frauen zieht sich nun nach Rechts oben
hin, gleich niedergemähten Halmen, eine Masse Sterbender und Todter.
Hierdurch wird mit dem kolossalen Rosse des Todes eine dem Auge nicht
ganz angenehme Parallele gebildet, die der Maler im linken Flügel des
Bildes glücklich vermieden hat. Werke dieser ernsten Gattung haben ihre
Hauptbedeutung und ihr Hauptverdienst in der Composttion und Zeich¬
nung, so daß die Farbe der Freskobehandlung kaum wesentlich mehr thut,
als diese beiden Elemente zur möglichst klaren Anschauung zu bringen.
Auf diese glückliche Combination, dieses ineinander Aufgehen von Farbe
und Zeichnung, wie es der Oelmalerei so hülfreich zur Seite steht, muß
diese etwas kalte und schroffe Gattung der Kunst, die schon Michel An-
gelo eine Malerei für Männer, im Gegensatz der Oelmalerei nannte, wohl
ein für allemal verzichten. Die Farbe kann hier wohl noch nachträglich
zu Hülfe kommen, wo es Individualisiren und Charakrerisiren gilt, aber
sie wird nie, wie so oft in den Oelbildern, uns entschädigen können für
Mängel der Composttion. Der Freskomaler muß uns nun einmal ge¬
danklich zu beschäftigen wissen. Angewiesen auf den hohen Ernst des
Lebens, auf eine würdige Stätte, an das sein Werk, wie ein Denkmal
erhabener Gefühle und Ideen, für immer unverrückbar bleibt, muß er
auf die Schmeichelei der Sinne verzichten und durch Anregung der Re¬
flexion und inneren Würde zu wirken wi^ en. Die Freskomalerei spricht
den Reiz des Mannes aus, die Oelmalerei den des Jünglings. Wir
können demnach wohl, nach Betrachtung dieses riesigen Cartons, unser
Urtheil über denselben als abgeschlossen betrachten. Die Phantasie, vor¬
eilig wie sie ist, macht sich gern ein Luftbild von einem ersehnten Ob¬
jecte. So ging es auch mir; ich habe geglaubt, mehr von diesem Werke
ergriffen zu werden, als es wirklich der Fall war, nun ich ihm gegen¬
überstand. Es ist doch bei aller Kraft nicht genug Ursprüngliches in
der Composttion, das ohne warmen Anhauch des Genies mehr zusam¬
mengestellte als Vererbte fällt wieder auseinander vor dem Betrachter,
der einen regen Sinn für die Totalität eines Kunstobjects mitbringt.
Wir enthalten uns gern und bescheiden jedes Einwandes in die Zeich¬
nung, die, wie alle Schöpfungen von Cornelius, das Product einer glück¬
lichen Naturgabe und immenser Studien ist, und lehnen uns nur gegen
diese complicirte Darstellung auf, die wieder in ihrer Gesammtheit uns
am Ende des Orts, für den sie bestimmt ist, nicht würdig erscheint. Wenn
die Gräber der verstorbenen Fürsten mit Gemälden dieses Inhalts ge¬
schmückt werden, so ist dies eine üble Schmeichelei für die Lebenden.
Obgleich ein Herrscher die Seinigen auch nicht vor Pest und Tod schü¬
tzen kann, so vermag er doch Krieg und Theuerung von ihren Häuptern
zu wenden, und es sieht ein Gemälde, das auf möglichst lange Dauer
berechnet ist und den brutalen Sieg von vier so gewaltigen Ungeheuern
über Schwache und Wehrlose darstellt, weniger wie eine Huldigung als
wie eine Satvre auf die dahingegangenen Mitglieder der zu verherrlichen¬
den Dynastie aus, was doch wohl nun und nimmermehr dem Maler in
den Sinn gekommen ist. So gehört auch ein eignes Genie dazu, die
Conception des Geistes nach den äußern Bestimmungen zu regeln, das
Unpassende zu vermeiden, das Schrankenlose zu beschränken und das Ge¬
eignete möglichst klar auszudrücken- Kunstprincipien, deren Verletzung
man noch so oft unabsichtlich bei Festspielen und Prologen verletzt findet
So stehen auch wir am Vorabend eines neuen Gerichtsverfahrens.
Das Princip der Mündlichkeit soll vor der Hand bei Civilprocessen ein¬
geführt werden und der Criminalproccß erst dann folgen, wenn Richter
und Advocaten in den mündlichen Vortrag sich eingelebt haben. Der
Plan zu mündlichem Gerichtsverfahren datier sich nicht von heute, sondern
liegt bereits seit mehreren Jahren zur Begutachtung vor. Er fand alur
bei der Hofjustizstelle viele entschiedene Gegner, die namentlich auch das
Argument vorbrachten, daß die ganze juristische Erziehung in Oesterreich
bisher auf den schriftlichen Proceß hinauslief und daß daher bei einer so
radicalen Umwälzung der Gerichtsordnung die gegenwärtige Generation
kaum die Männer finden würde, die der Aufgabe genügen könnten. In der
That, bei dem Mangel an jenem öffentlichen Leben, das den Redetalenten
die Gelegenheit gibt, sich zu üben, bei der Perhorrescirung aller nicht
officiellen öffentlichen Reden bei feierlichen und halb- und viertelfeierlichen
Gelegenheiten, Banketen u. s. w., bei dem Mundkorb, mit dem der Oester¬
reicher in die Wiege gelegt wird und bis zum Grabe sich tragen muß,
erscheint jener Einwand ziemlich motivier, und hätte man blos auf ihn
gehört, so dürfte nicht nur der gegenwärtigen, sondern auch der zukünftigen
Generation die Wohlthaten einer Proceßordnung entzogen bleiben, deren die
gebildetsten Völker Europa's sich erfreuen. Glücklicherweise gibt es in unsern
höchsten Kreisen Männer, die an eine moralische Macht im Menschen noch
glauben, die zu der geistigen Kraft österreichischer Volksstamme mehr Ver¬
trauen haben, als die bisherigen Matcrialismustendenzen ihnen zumuthe-
ten. Vielleicht sagten sich diese Männer, daß, so gut die Poesie
in Oesterreich trotz der gewaltigen Hemmnisse, die ihr von allen Seiten
in den Weg gelegt wurden, zu so glänzendem Durchbruch gekommen ist,
daß die österreichischen Lunker an der Spitze deutscher Literatur der Gegen¬
wart stehen, eben so gut wird auch das rednerische Talent und die Klar¬
heit rhetorischer Gedankenordnung rasch aufblühen, sobald nur der Boden
dazu da ist. Mit dem Hinblick auf diese Reformpläne wurde im vorigen
Jahre das summarische, mündliche Verfahren bei sogenannten Bagatellcn-
processen eingeführt, obschon die Summe von 200 Fi., bis zu welcher es
festgesetzt wurde, keine Bagatelle mehr ist. Erwähntes Summarvcrfahren
hat zwar begründeten Tadel gefunden (f. Grenzboten Ur. 18 l. I.), da
dem Richter zu viel Gewalt eingeräumt ist und er, abseits aller Oeffent-
lichkeit, keiner Eontrole unterliegt. Bei einer radicalen Reform der Ge¬
richtsordnung würde man jedoch diese Uebelstande von vorn herein beseitigen
müssen, und diese Reform wurde schon damals in Aussicht gestellt. Die
Frage ist jetzt nur: wann werden wir die Schwelle übertreten, an der
wir jetzt stehen und wird nicht die beabsichtigte Reform abermals bei der
guten Absicht stehen bleiben, ohne zur vollen That zu werden?
Eine zweite Frage ist: werden die Verhältnisse unserer Advocatur
dieselben bleiben, wie sie jetzt sind, oder wird man es nicht endlich für
angemessen finden, bevor man dem mündlichen Proceß die Gerichtsschranken
öffnet, für eine gute Zahl tüchtiger Anwälte zu sorgen? Die barocken und
widersinnigen Zustande unserer Advocatur würden für die Feder eines Swift
und für den Stift eines Hogarth einen unerschöpflichen Stoff bilden.
Wien mit seinen 425,000 Einwohnern hat nur achtzig Advocaten! Früher
zählte man ihrer zweihundert. Der verstorbene Kaiser Franz aber, dessen
politische Ansichten dem unabhängigen Advocatenstande nicht hold waren, setzte
die Zahl auf das erwähnte Häuflein herunter. Mittlerweile hat die Be¬
völkerung um mehr als ein Drittheil sich gesteigert, der Geschäftsverkehr
hat um die Hälfte sich vermehrt und hat, wie natürlich, die Zahl der
Processe in gleichem Maße erhöht; nichtsdestoweniger steht Alles beim
Alten: Achtzig Advocaten üben das Monopol und brandschatzen das
Publicum. Es ist bei uns keine seltene Erscheinung, daß ein Advocat nach
einer Praxis von acht bis zehn Jahren sich ein großes Haus baut oder ein
splendides Gut sich ankauft. Theurere Processe, als bei uns, dürfte es
kaum in England geben. Die Folgen davon sind leicht zu errathen:
Zuerst hat dieses Monopol ein Heer von 40V „Winkler" (Winkeladvoca-
ten) hervorgerufen, bei welchen die Halbbemittelten ihre Zuflucht suchen,
und hier wieder in anderer Weise ausgesogen und, was noch schlimmer,
betrogen werden. Der Staat, indem er dem einen Uebel steuern wollte,
hat grade das entgegengesetzte, viel nachtheiligere Uebel hervorgerufen.
Es ist derselbe Fall, wie mit den hohen Zöllen, die den Schmuggel be¬
günstigen. Der Winkler, unwissenschaftlich, erwerbbegierig und unver¬
antwortlich, verlockt zu manchem Proceß und verlängert diesen, soweit es
geht. Und grade die unbemittelten und ärmern Klassen sind seine größte
Beute. Die große Zahl unserer jungen und wissenschaftlich tüchtigen
Juristen fleht sich auf der einen Seite von der Phalanx der Monopolir-
ten und andererseits von dem Heuschreckenschwärme der Winkler, deren
Gewerbe zu treiben sie zu stolz sind, in ihren Lebenswegen abgeschnitten.
Unsere jüngern Rechtsgelehrten müssen sich glücklich schätzen, wenn sie
bei einem jener monopolirten Fabrikherrn eine Anstellung erhalten und für
bis 6VV Fi. jährlich ihm zur Hand arbeiten, was er sich dann mir
eben so vielen Tausenden bezahlen laßt. Ich könnte eine Reihe der ta¬
lentvollsten und kenntnißreichsten jungen Doctoren des Rechts namhaft
machen, die, nachdem sie bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Jahre die eif¬
rigsten Studien betrieben, endlich froh sind, in der Kanzlei eines Advocaten
eine Stelle zu erhalten, die sie geistig weit überragen, und dies für einen
Gehalt, mit welchem der geringste Handlungscommis sich kaum begnügen
würde. Dieses Proletariat unserer Justizgelehrten ist eine traurige Folge
jener wunderlichen, unzeitgemäßer Monopole, die nur Schaden und gar
keinen Nutzen schaffen, die den Verkehr beschränken, die Geschäfte erschweren
und das Publicum, zumal das minder bemittelte, aus eine grausame Weise
besteuern. Hier ist eine Reform ebenso nöthig wie in unsern gesammten
Von Dr. Wilhelm Jordan in Leipzig, dessen jüngste Schicksale so
allgemeine Theilnahme erregten, ist soeben eine bedeutende historische Arbeit
erschienen: Geschichte der Insel Hapel und ihres Negerstaa¬
tes (Leipzig, Verlag von Will). Juranv). Der Verfasser, der bei seiner
schriftstellerischen Thätigkeit, insoweit sie dieAustände und das Gedankenleben
des gebildeten Europas betreffen, so bittere Erfahrungen machen mußte,
und einen Theil seiner Arbeiten jetzt im Gefängniß abbüßt, flüchtet sich
hier — geistig wenigstens — auf die fernen Antillen. „Hapel" — sagt
er in der Vorrede — „ist die verjüngte Bühne einer in vier Jahrhun¬
derten zusammengedrängten Weltgeschichte.
In vier Jahrhunderten sehen wir auf diesem paradiesischen Eiland,
dessen tropisch gewaltige Treibhauskraft auch in seiner Geschichte zu wal¬
ten, dessen vulkanische Natur auch seine Bewohner anzustecken scheint,
vier verschiedene Bevölkerungen nacheinander austreten und drei derselben
unter gräßlichen Kämpfen und unerhörten Greueln fast spurlos verschwinden.
Unter der Hand der Spanier verbluten die Eingeborenen; die Spa¬
nier müssen den Franzosen weichen; die Franzosen endlich, als der elek¬
trische Funke ihrer Revolution bis über den Ocean hinüberzuckt, den zum
Gefühl ihrer Menschheit erweckten Negern.
Weniger denn eine Million dieser rohen, durch keine Künste der
Cultur, sondern nur durch Rache und Freiheitsgefühl erstarkten Menschen¬
masse — denn ein Volk darf man sie in dieser Zeit noch nicht nennen —
besiegt und vernichtet, von der Tücke des Klimas unterstützt, ein Heer
derselben Soldaten, die am Rhein, in Italien, an den Pyramiden hun¬
dertfache Triumphe errungen und entreißt die „Perle unter den Colonier»"
demselben allmächtigen Manne, vor dem alle Fürsten Europas zittern.
Und durch alle diese Kampfe, furchtbar wie sie vielleicht noch nir¬
gend gekämpft wurden, durch diese ganze Entwickelung, selbst in ihrer heu¬
tigen Fortsetzung, zieht sich eine durchaus einzige Eigenthümlichkeit; die
streitenden Parteien sind hier nicht blos durch Interessen, sondern durch
eine Naturverschiedenheit, durch die Race geschieden.
'
Die Geschichte Hapelö ist zugleich ein großes Stück Naturge¬
schichte des Menschen. Sie führt einen Beweis, schlagender denn
alle Gründe, welche bisher die Wissenschaft für und wider geltend gemacht,
den Beweis, daß alle Formen des Menschentypus gleichermaßen befähigt
sind, theilzunehmen an den höchsten Genüssen, mitzuwirken an den höch¬
sten Leistungen unseres Geschlechts. Denn sie zeigt uns, wie unter den
allerungünstigsten Bedingungen die verachtete Race, obgleich nicht nur
durch keine Schule der Bildung langsam emporgeführt, sondern sogar
mit grauenvoller Absicht verwahrlost, sich mit einem Ruck emporringe
aus der aufgedrungenen Verworfenheit und aufs Tiefste ergriffen und
begeistert wird von dem Gedanken der Freiheit. Dieselben Männer,
welche man ihrer wilden Heimath entrissen, um sie als Bich zu verkau¬
fen, die der Uebermuth der Weißen für ein Mittelding zwischen Mensch
und Affe erklärt, dieselben Männer sehen wir, den Rücken noch zernarbt
von der Sklavenpeitsche, auftreten als begabte Feldherren und geniale
Begründer einer neuen, völlig unvorbereiteter gesellschaftlichen Ordnung.
Gewiß, wenn irgend eine, so ist diese Geschichte, deren Charakter
ich mit flüchtigen Strichen angedeutet, unserer Theilnahme und wissen¬
schaftlichen Betrachtung würdig.
Doch außer dem Interesse, das sie rein um ihrer selbst willen ver¬
dient, hat sie noch ein zweites nicht minder großes, das auf ihren Be¬
ziehungen zu den Fragen beruht, die jetzt die alte Welt gewaltig bewegen.
Der Nerv dieser Geschichte ist die Ueberwindung der Sklaverei. Die
Sklaverei beginnt aber nicht erst mit dem Negerhandel. Dieser ist im
Wesentlichen und seiner Entstehung nach nichts Anderes, als die euro¬
päische Leibeigenschaft, nur in vollendet ausgeprägter, schamlos enthüllter
Gestalt nach der neuen Welt übertragen. Ebenso aber Hort die Sklave¬
rei noch nicht auf mit der Aufhebung des Menschenhandels und der
Selbstbefreiung oder Freilassung der Schwarzen. Die Zahl der weißen
Sklaven ist unvergleichlich größer und für ihre Emancipation wird noch
nichts gethan. Während die amerikanische Sklaverei eine mehr gewalt¬
sam und plötzlich eingeführte ist, ist die europäische, der nur der einge¬
standene Name, nicht die Gräßlichkeit fehlt, eine natur- oder richtiger
kulturwüchsige, durch den Entwickelungsgang der Industrie allmälig erzeugte.
Was hierin auf Hapel geschehen, ist ein sprechendes, warnendes
Beispiel für Europa.
Europa steht auf einer schwindelnden Höhe der Cultur, aber ihre
Blüthe wächst aus Moder. Die unerhörte Entwickelung der Industrie
ist emporgetrieben durch die furchtbarste Sklaverei der Massen.
Wohlan, man werfe einen Blick nach Hapel! In seiner jüngsten
Vergangenheit haben wir einen Miniaturspiegel der Zukunft Europas,
die nothwendig eintreten muß und wird, wenn der Angstschrei der er¬
drückten und abgezehrten Träger der ganzen Gesellschaft kein Gehör fin¬
det und die Sklaven gezwungen werden zur Selbstbefreiung.
Auch Hapel hatte im Jahre 1789 eine staunenswürdige Culturüp¬
pigkeit erreicht, aber nur durch entsetzlichen Mcnschenverbrauch. Die Fes¬
seln wurden gewaltsam gesprengt; in dem grausenhaften Vernichtungs¬
kriege der Befreiten gegen ihre Unterdrücker ging die ganze emporgefchwin-
delte Herrlichkeit in Trümmer, die Cultur ward fast zur Barbarei, und
erst nachdem ihr Paradies zur Wüstenei geworden, erbten es die armen
Sieger.
Furchtbare Lehre der Geschichte!"
Gutzkow ist 'zum Dramaturgen beim Dresdner Hoftheater ernannt
worden. Wie wir hören, ist sowohl von seiner Seite als von Seiten der
dortigen Intendanz vorläufig blos ein dreijähriger Contract abgeschlossen
worden, und nur, wenn beide Theile mit den Ergebnissen und Erlebnissen
dieser Zeit zufrieden zu sein Ursache haben werden, dürfte der Contract in
einen lebenslänglichen sich verwandeln. Die Dresdner Hofbühne ist so¬
mit gleich der Stuttgarter den übrigen Bühnen in der Feststellung eines
Princips vorangegangen, in dem wir das einzige Mittel zur Hebung der
mit Verfall bedrohten deutschen Theater erblicken. Die deutschen Bühnen
müssen unter die Leitung wissenschaftlicher, literarischer Männer kommen,
wenn sie nicht mit jedem Tage mehr zu bloßen Anstalten der Geldspecu-
lation herabsinken sollen. Die Berliner Hofbühne geht diesem Schicksale
mit jedem Tage mehr entgegen; das Wiener Burgtheater ist seit dem
Tode Schreivogel's jedes Jahr seinem bedrohlichen Verfall näher gerückt.
Ohne bestimmtes geistiges Ideal, ohne Sicherheit des Geschmacks, ohne
Verständniß der Zeit, ohne nationalen Stolz, gehen die meisten Bühnenlen¬
ker den Weg des veralteten Schlendrians, oder suchen die Neuzeit nur auf
den Bretern der Pariser Vorstadtbühnen. Von einer umsichtigen Be¬
nutzung der nationalen Talente, von einer Hebung des Geschmacks bei
dem großen Publicum, von einer Belebung jugendlicher Geister ist nir¬
gends eine Spur. Die dilletantische Halbbildung fast aller unserer Büh¬
nenleiter tappt im Dunkeln bald nach diefem bald nach jenem Hülfsmittel,
fast Alle stehen unter ihrer Aufgabe, kein Einziger steht kritisch und sicher
mit Hellem Blicke über ihr. Dies hat nicht nur auf die Bühnen, es
hat auch auf das Publicum einen nachtheiligen Einfluß. Denn dies
blinde Herumtappen, diese komischen Mißgriffe werden gar wohl bemerkt.
und die Folge ist, daß das Publicum das Vertrauen und den Glauben
an dem Geschmack der Bühnenleiter verliert, und bei jedem neuen Stücke
mit einem gewissen Opposirionsgciste, mit einem überwiegenden Hang zur
Kritik in's Theater geht und manchem Stücke den Stab bricht, welches
es bei einer unbefangenen Stimmung viel günstiger aufgenommen hatte.
In diefem Punkte ist eine Aenderung des rc-Aime durchaus nothwendig.
Das Publicum muß zu der Ueberzeugung kommen, daß ein bedeutender Mann
von anerkannt literarischem Verdienste und kritischer Scharfe, die Production
und die Darsteller sorgsam prüft, bevor sie ihm vorgeführt werden. Die jün¬
ger» Theaterdichter müssen mit einem Manne verhandeln können, der ihnen
die Mängel der eingesandten Stücke mit Geist und Sachkenntniß analvsirt und
sie nicht blos mit einigen höflichen nichtssagenden Worten bequem zurückweist.
Die Schauspieler müssen einen Rathgeber zur Seite haben, dessen gei¬
stige Ueberlegenheit sie anzuerkennen gezwungen sind, und der bei der Charak¬
teristik und Individualisirung der einzelnen Gestalten ihnen Winke gibt,
die ihnen manchen bittern Ausfall der Kritik nach der Vorstellung erspart
und die Verzerrung und die Fehlgriffe verhütet, bevor sie vor die Lampen
treten. Wie weit Gutzkow diese Aufgabe lösen wird, muß die nächste
Zukunft lehren. Wir sind keineswegs gesonnen, im Voraus einen blin¬
den Panegvriker zu machen, und diese kleine Notiz soll keine bloße Reclame
sein. Gutzkow hat alle Mittel, um diese Aufgabe zu lösen. Ein Schrift¬
steller, der in Mitte der Zeit und ihrer Bewegungen lebt, ein vorzugs¬
weise kritischer Geist, voll Scharfsinn und Beobachtungsgabe, ein prakti¬
scher Bühnendichter, der mit der Technik des Theaters tief vertraut ist und
die dramatischen und schauspielerischen Kräfte in ganz Deutschland genau
kennt, ein solcher Mann ist unsers Erachtens vollkommen berufen, die Mis¬
sion, die er übernommen, glänzend zu erfüllen. Eine andere Frage ist jedoch,
ob der neue Dramaturg die nöthige Hingebung für seinen neuen Beruf mit¬
bringt, ob er das nöthige Wohlwollen zur Beurtheilung der dramatischen
Werke Anderer besitzt, ob er Richtungen, die der seinigen entgegenste¬
hen, mit objectiven, vorurtheilslosen Geiste beurtheilen wird, und vor Allem,
ob er die Geduld und die Ausdauer besitzt, welche die epinöse Laufbahn
eines unter der Obergewalt eines Intendanten, für den erclusiven Ge¬
schmack einer Hofbühne wirkenden Dramaturgen nöthig macht. Wir
wünschen dem verdienstvollen Schriftsteller alles erdenkliche Glück zu Lösung
seiner bedeutenden Aufgabe; wir werden seiner Thätigkeit eine theilnehmende
Aufmerksamkeit schenken, gerne bereit, ihn in allen schönen Intentionen,
die wir bei ihm voraussetzen, zu unterstützen, aber auch eben so bereit,
uns zu seinen entschiedensten Gegnern zu erklären, wenn er seine Aufgabe
durch eigne Schuld verfehlt. —
Nicht ohne beklemmendes Weh schreiben wir diesen edlen Dichter-
«amen nieder, der wie ein sich verhüllender Priester durch die deutsche
Literatur geht, nicht genng verhüllt, daß nicht die Strahlen, die eine
Glorie um sein Haupt ziehen, in unsere finstern dramatischen Zustände
ein spärliches Licht geworfen hätten. Aber wie segensreich hätte die¬
ses Licht werden können, wäre es an würdigen Stoffen entzündet wor¬
den! Die Melpomene Grillparzer's, den prächtigsten Sternenmantel ans
den Schultern, durste ihren tragischen Dolch nicht an der höchsten
Aufgabe des dramatischen Dichters, an der vaterländischen Geschichte,
wetzen, sie mußte damit nach hohlen Phantomen zielen und machte da¬
durch kein Blut fließen, das, wie sie es so leicht vermocht hätte, zum
belebenden Herzblut des deutschen Dramas geworden wäre. Gebeug¬
ten Hauptes saß sie im Kerker, nach allen Seiten hin beengt, und
spielte mit den Erscheinungen, die eine aufgeregte Phantasie i>n Fin¬
stern auf die leeren Wände malt, den Dolch furchtsam in die Scheide
steckend, so oft sie die Waffe eines Kerkermeisters klirren hörte. Grill¬
parzer's Muse wollte nicht dem österreichischen Staatsprincipe die
historischen Füße zu küssen, darum schwieg sie; allein auch dieses
Schweigen wird zum Verbrechen, wenn es mir eines kühnen Risses
bedurft hätte, um sich von den heimathlichen Fesseln zu erlösen. Aber
Grillparzer blieb in Oesterreich und seine Muse im Gefängniß.
Grillparzer's Name wird in auswärtigen Didaskalien, in der deut¬
schen Literaturgeschichte wenig genannt, von jedem Oesterreicher jedoch
mit Liebe und Bewunderung, in welche sich das Bedauern mischt, den
herrlichen Genius nicht nach seinem Verdienst gewürdigt zu sehen. So
innig wir jene liebende Bewunderung theilen, können wir doch in der
Vernachlässigung von Seite der dentschen Kritik nur die nothwendige
Consequenz einer Stellung erkennen, zu welcher sich Grillparzer mit
Verrath an seinem erhabenen Berufe lebenslänglich verurtheilt hat.
Als die Befreiungskriege zu Ende waren und das deutsche Volk
von seinen materiellen Drangsalen erlöset, nun zu einer höher» Be¬
freiung hätte schreiten und sich mit dem Bewußtsein seiner Mündigkeit
und nationalen Selbständigkeit hätte erfüllen sollen, als Schiller längst
todr war und Goeche den bedeutendsten Theil seiner dramatischen Wirk¬
samkeit geschlossen hatte, damals hätte das deutsche Volk des großen
Dramatikers bedurft, der zur Erhebung seines Selbstgefühls nach in¬
nen mitgeholfen hätte, wie die unmittelbar vorangegangenen Freiheits¬
dichter der Jahre 1813 und 1814 es nach außen gethan hatten.
Die Wachtfeuer des Bivouaks geben eine schlechte Theaterbeleuchtung
ab, das Volk, das den Vorhang einer neuen deutschen Zeit gewaltsam
aufriß und eben selbst ein großes Schauspiel aufführte, konnte nicht
Muße finden, sich geduldig vor den Vorhang eines Schauspielhauses
hinzusetzen; hier mußten noch die Lieder eines Körner, Schenkendorf,
Rückert ausreichen, die auf dem Marsch zu singen waren und den
Muth einer jugendlichen Brust noch in dem Moment anfeuern konn¬
ten, als diese Brust schon von der Tvdeskugel berührt wurde. Aber
das Volk kehrte vom Schlachtfelde heim, die versprochenen Früchte sei¬
ner Thateir zu ernten. Der Friede sollte nicht gleichbedeutend mit
Ruhe, sondern der Beginn einer neuen Volksthätigkeit sein, die sich
noch wtrkungsreicher als gegen den äußern Feind gegen den innern
gerichtet hätte, der in Gestalt verrosteter Institutionen und mittelalter¬
licher Zustände störend und zerstörend fortwucherte. Damals wäre es
an der Zeit gewesen, die Bühne zu einer Tribune deö erwachten, be¬
geisterungstrunkenen Volks zu erheben, ihm die Gebilde seiner Geschichte
mit Shakspear's Griffel heraufzubeschwören und wie jeder Dichter ein
Seher, aus der Vergangenheit lehrend und warnend die Zukunft zu
deuten. In Wechselwirkung hätten sich der Geist deö Volks und seine
Bühne aneinander aufgerichtet, und Deutschland besäße heute vielleicht
ein Theater, das nicht, ohne Herz für die Nation, den Kopf nur von
französischen Vaudevilles angefüllt hätte und sich nicht blos nach dem
Rhythmus italienischer Opernmelodien auf den Beinen erhalten würde,
sondern der bestimmte kernhafte Ausdruck einer von politischem Ernst
durchdrungenen Nationalität wäre. Der Dichter für diese erhabene
Sendung fehlte, aber nicht das Talent dazu, denn durch eine Ironie
des Schicksals keimte es eben in dein thcilnahmslvsen Oesterreich em¬
por, mitten unter erdrückende»! Bureaustaub nud ohne Spur politi¬
schen Bewußtseins. Im Jahre 1817, zwei Jahre vor den Karlsbader
Beschlüssen, trat Franz Grillparzer auf, mit einem Drama, das, ein
Nachzügler der „Schuld", die selbst eine dramatische Schuld zu nen¬
nen, nicht an den Geist, der damals in Deutschland herrschte, sondern
nur an den Geist der Schicksalötragödie anknüpfte.
Grillparzer hat durch die „Ahn fr an" seinem deutschen Ruhm un¬
endlich viel geschadet und sich den Weg zu einer Anerkennung erschwert,
die über die der Thcaterdireetorcn, wenn sie eben die volle Cassa zäh¬
len, hinausgeht. Denn dadurch, daß dieses Stück mit so großem Glück
über die sämmtlichen deutschen Bühnen ging und das Publieum in
Masse zu der unverständigen Begeisterung brachte, mit der Kinder ei¬
ner grauenhaften Gespenstergeschichte lauschen, ließ es keine von Grill-
parzer's spätern meisterhaften Schöpfungen, was Bühnenwirksamkeit
betrifft, neben sich aufkommen, und die deutsche Kritik glaubte deshalb
mit Grillparzer fertig zu sein, wenn sie ihre Lanzen gegen die Blößen
jener Schicksalstragöbie gerichtet hatte. Trotzdem ist die „Ahnfrau"
das Werk eines dramatischen Genies, von überschäumender Jugend-
kraft gezeugt, und wenn eS auch statt tragischer Schrecken nur jene
hervorbringt, die der Theatercostnmeur mit mehr oder minder Geschick-
lichkeit in seiner Gewalt hat, bleibt es doch von einem Zauber poeti¬
scher Schönheiten umflossen, der eS um so tiefer bedauern läßt, daß
sich so reiche Gewänder um die Gestalt eines unsinnigen Popanzes
breiten.
Nun mochte Grillparzer verlegen sein um den Stoff für seine fer¬
nern Gebilde und wandte sich verlangend dem Urquell der Geschichte
zu. Als hätte sein Genius ungeduldig das Feld nicht erwarten kön¬
nen, auf welchem er sein Flügelroß besteigen darf, wählte er gleich ei¬
nes der ersten, daS ihm Klio bieten konnte, die griechische Geschichte.
Es gibt jedoch wieder Zeugniß davon, wie sehr der Mangel eines po¬
litisch durchgebildeten Volksgeistes in Oesterreich auch seine künstleri¬
schen Talente nach unfruchtbaren Richtungen drängt, daß die Geschichte
Griechenlands, des ersten Staats, in welchem die Menschheit zum Be¬
wußtsein ihrer selbst gekommen, in welchem der erste frische Morgen
des Abendlandes anbrach, während sich über das Morgenland schon
der erstarrende Abend des Todes gebreitet hatte, daß Griechenland, in
Welchem Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Sprache sich zuerst als ab¬
gesonderte Bildungshöhen aus der früher verschwommenen Entwicke¬
lung des Menschengeistes erhoben und zur Gestaltung von menschheits¬
würdigen Staatsverfassungen beitrugen, die von der Gottesstimme des
Volks durchklungen wurden, daß ein solches Land, eine solche Geschichte,
dem reichbedachten Grillparzer keine andere Anregung zu dramatischen
Schöpfungen bot, als uranfängliche Sagen und Mythen, durch welche
Griechenland noch halb mit dem Traumleben der ältesten orientalischen
Völker zusammenhing. Er schrieb die Trilogie „das goldne Vließ"
und wenn die diesem Werke vorangehende „Sappho" und das ihm
nachfolgende Drama „des Meeres und der Liebe Wellen" auch
dem schon zum vollständigen Charakter sich entwickelnden. Griechenland an¬
gehören, ist doch in ihnen keine Spur jener historischen Anschauung,
durch welche der Dichter in den irdischen Leib der Geschichte den himm¬
lischen Prometheus-Funken wirft<
„Sappho" — im Jahre 1818 erschienen und eine Rolle der un¬
vergeßlichen Schröder, mit der das Stück auch fast von allen deutschen
Bühnen verschwand — ist ein lyrisches Drama von überwältigender
Schönheit. Freilich wird man in der Darstellung dieses antiken Stof¬
fes vergebens nach den Reizen der Antike suchen und nicht an Goe¬
the's Iphigenia darf man sich erinnern, wenn man zum Genuß der
Grillparzer'schen Sappho ein empfängliches Gemüth mitbringen will.
Den Hauptcharakteren fehlt die objective Gestaltung, die abgegrenzte
Bestimmtheit, jene griechisch heitere Ruhe, in der sich noch Schmerz
und wilde Leidenschaft mit harmonisch brausenden Wellen bewege».
Sappho, die Dichterin, nimmt ihrem Autor den Griffel aus der Hand,
durch dessen Zauberkraft er sie plastisch hätte hinstellen sollen, um sich
damit vor dem Zuschauer in lyrischen Monologen selbst abzuconterfeien;
Sappho, die Priesterin aus Lesbos, gelangt in Grillparzer's Stück
nicht einmal zur pantheistischen Sinnlichkeit der Alten, die den letzten
Gürtel mit erhabener Geberde abstreift, weil sie noch im Naturdienst
den Gottesdienst feiert. Phaon, von den olympischen Spielen als Sie¬
ger heimkehrend, also ein irdischer Halbgott, mit dem Anrecht, unter
die olympischen Götter versetzt zu werden, im ersten Vollgenuß einer
errungenen Unsterblichkeit, für welche der christlich modernen Zeit das
Volksleben, der Glaube und das Abzeichen fehlt, Phaon, der Dichte¬
rin Sappho nicht nur gleichberechtigt gegenüber, sondern nach griechi¬
scher Anschauung über ihr stehend, weil er würdig, daß sie ihr Sai-
tenspiel zu seinem Preis tönen lasse, — zu welcher traurigen Unter-
ordnung schrumpft er in Grillparzer'S Drama mit Absicht des Dich¬
ters zusammen I Mag ihm der Schauspieler auch durch Costumbehelfe
zur antiken Außenschönheit verhelfen, vor dem Geist des Zuschauers
wird er immer in ganz ungriechischer Gestalt, gebeugten Hauptes und
gebrochenen Kniees erscheinen. Diese Verkemmng der Antike zieht sich
durch das ganze Werk, br.icht selbst aus tief psychologischen Enthüllun¬
gen des weiblichen Herzens, die mehr auf den in alle Zeiten überge¬
gangenen Amor, dem ein geraubter Kuß noch Wonne und Verbrechen
zugleich ist, als auf den griechischen Eros zielen, und dehnt sich bis
auf die lächerliche Kleinigkeit aus, daß Melitta, im Wunsch zu ster¬
ben, ausruft:
„Nehmt mich hinaus zu Euch, ihr Götter!"
Dieses voll der Romantik duftende, katholisch verhimmelnde „hinaus"
ist schon nach dem Sinne, den es hier ausdrücken soll, nicht helleni¬
sche» Charakters, abgesehen davon, daß es, nach griechischer Vorstel¬
lung vom Tode, eigentlich heißen müßte: laßt mich hinunter, denn
Elysium und Tartarus, die Statten abgeschiedener Seelen, liegen in
der Unterwelt.
Will man aber bei Grillparzer'S Sappho von der Forderung nach
einem ächten dramatischen Gebilde abstehen, das aus der Zeit, der eS
entnommen, mit feiner, Tinten und Farben nicht verwischender Hand
herausgeschält wäre, will man sich auch um die mit überaus geschick¬
ter Oekonomie in fünf Acte gegliederte Handlung nicht allzusehr küm¬
mern, sondern sich geschlossenen Auges vor die Bühne lauschend hin¬
setzen, so wird man sich von diamantensprühendcn Strömen einer hei¬
ßen, tiefen Lyrik überfluthet und das Herz davon zum reinsten poetischen
Genuß fortgerissen fühlen. Dieser lyrischen, nicht dramatischen Wir¬
kung sind sowohl die vielen Auflagen, die Sappho im Druck erlebte, als
die wenigen Vorstellungen, die ihm auf der Bühne wurden, zuzuschreiben.
Jung, ruhmbekränzt, die Brust noch voll schöpferischen Dranges,
reiste null Grillparzer 1819 nach Italien, eine Reise, nach der jeder
Dichter als nach einer Selbstbelohnung trachtet, wenn er sich derselben
bereits würdig bewiesen. Wie reich an großen Schöpfungen er da¬
mals noch seine Zukunft glaubte, davon zeugen die Worte, mit denen
er von Rom schied:
„Nun lehr' ich heim mit stolzem Sinn
Und Schafs' in gesättigter Ruh,
Was jung soll sein, wie ich es bin,
Und alt soll werden wie du."
Die erste Frucht dieser Reise war eine begeistert zürnende Elegie,
ein prachtvolles Gedicht an Italien, das in dem Wiener Taschenbuch
„Aglaja" mitgetheilt werden sollte. Es War bereits ungefährdet durch
die Censur gegangen, es lag bereits auf dem Verkaufstisch gedruckt
vor, als man plötzlich antikirchliche Sympathien darin wittern mochte
und aus allen Eremplaren des Taschenbuchs dos Gedicht von Cen¬
surwegen herausgeschnitten wurde.
Grillparzer aber blieb in Oesterreich!
Im Jahre 182! brachte das Hofburgtheater seine Trilogie „das
goldne Vließ," wovon sich besonders der dritte Theil „M ete a" durch
das Spiel der Schröder auf einige Zeit auf der Bühne erhielt. Auch
hier muß man an den Geist des Alterthums und die Gesetze seiner
Kunst vergessen und sich mit der unbefangenen Neugierde eines em¬
pfänglichen Kindes vor die Courtine begeben, dann wird man sich der
Scenenreihe dieser Tragödie nicht ohne tiefes Entzücken überlassen kön¬
nen. Gleichen die griechischen Mythen zum Theil gestaltlosen Fels-
ungethümen, welche die Phantasie des fernen Beschauers zu menschli¬
chen Physiognomien, zu bestimmten Formen zusammenfügen und den
verschiedensten Deutungen unterwerfen kann, und haben sie wirklich in
späterer Zeit bald den Geographen dazu gedient, den Umfang der
Erkenntniß bei den Alten zu ermessen, bald dem Historiographen darin
nach den Sitten und Gebräuchen heidnischer Völker zu forschen; haben
sie der Koömogente und der Philosophie Materialien zur Beurtheilung
der Wissenschaft und des NeligionSgcistes geliefert und sind sie endlich
von klassischen Dichtern selbst durch tragische Hebel aus ihrem Raume
gerückt worden, um in ganzer Entsetzlichkeit vor den Augen späterer
Generationen zu erscheinen; warum sollten sie sich nicht auch dazu
hergeben dürfen, einmal vom mildernden, versöhnenden Mondlicht der
Romantik beschienen zu werden? Dieses Mondlicht breitet sich über
Grillparzer's „Medea"; die Felsungethüme, die im Sonnenlicht der
Antike mit so starrer, unversöhnlicher Furchtbarkeit emporragen, ver¬
schwimmen im romantischen Zweifellicht zu sanfteren Formen, und las¬
sen sogar zu ihren altersgrauen Füßen ganz junge Nachtviolen des
Gefühls aufschießen, deren heißen leidenschaftlichen Düften sie sich ge¬
währender zuneigen, als ihre antike Würde erlauben sollte. Den be¬
sten Beleg dafür gibt uns die ergreifend schöne Scene, in der Medea,
von Eifersucht gestachelt und krampfhaft nach Allem fassend, was ihr
das Herz des Gatten wieder zuführen könnte, sich Jason'S Lieblings-
lieb lehren ließ und nun da er kommt, und ihrer nicht achtend mit der
Nebenbuhlerin verkehrt, in allen Steigerungen der Leidenschaft, von
der kindisch frohen Hoffnung des Gelingens bis zur trostlosesten Ge¬
wißheit des Verlustes die Worte wiederholt: „Jason, ich weiß ein
Lied!" Diese Scene wird lächerlich, wenn man die sentimentale Me-
dea des Drama's mit der mordgeübten Tochter des Königs Acetes
verwechselt, die dem sie verfolgenden Vater den zerstückten Leib ihres
Bruders als Hinderniß in den Weg warf, und die Scene wird erha¬
ben, wenn mau in Medea nur das Weib steht, in seiner urgewaltigen
Leidenschaft, mit schmerzbeflügelter Hand den Schleier ziehend von den
Schönheiten, aber auch von allen Schrecken und Abgründen des weib¬
lichen Herzens. Dazu kommt Grillparzer'S heiße Sprache, die sich im
Gefäß antiker Formen vergebens abkühlen will, und durch den grie¬
chisch-mythischen Stoff hinpulset, als ob warmes rothes Blut durch
eine Statue des Phidias flösse. Diese Sprache ist so eigenthümlich
würzigsüß, daß man ihr die haarsträubende Tragik, die sie unterdrücken
will, gar nicht recht glauben kann, und verfolgt man sie bis zu ihrer
Urquelle, so entdeckt man das überschäumende Meer von Poesie, das
in Grillparzer'S Seele erhabene lyrische Wellen wirft.
Endlich schien es, als wolle Grillparzer einen realem Boden für
seinen Kothurn suchen, als im Nebel schwimmende griechische Mythen.
Zugleich war zu hoffen, daß er sich durch die Wahl eines Stoffes aus
deutscher, aus österreichischer Geschichte zum ächten National-Dichter
erheben werde. Er schrieb das Trauerspiel: „KönigOttokar's Glück
und Ende," das, in der Charakteristik markiger und mit festerer Hand
gezeichnet, als seine früheren Dramen, bei unläugbar großen Vorzü¬
gen, von welchen die mancherlei Mängel überschattet werden, die we¬
niger dem Dichter, als einer nicht ganz unparteiischen historischen
Auffassung zuzuschreiben, das würdige Vorspiel zu einem Cyclus hi¬
storischer Nationaldramen hätte, bilden können, die bei Ermangelung
eines Shakespeare als Dichter, doch denselben nationalen Werth für
Deutschland errungen hätten, den Shakspeare's historische Dramen in
allen Zeiten für England besitzen. Allein die großen Schwierigkeiten,
die sich der Aufführung anfänglich entgegenthürmten (sie fand im Jahre
1825 statt und zwar nur auf dringende Verwendung der Erzherzogin
Sophie, der man auch die Aufführung von Wilhelm Tell im Hof¬
burgtheater zu danken hat), die vielen Kränkungen, die ihm bei dieser
Gelegenheit mochten zugefügt worden sein, bewogen ihn, nicht etwa
Oesterreich zu verlassen, das sich des einzigen großen Dichters, den es
damals besaß, nicht würdig bewiesen und in entgcistetem Starrsinn
und aus Furcht, daß sich einige spitzige Dornen darunter verstecken
könnten, die Krone der poetischen Verherrlichung nicht annehmen wollte,
nach der jedes intelligente Volk der Weltgeschichte als nach seinem
höchsten Ruhme ringt; solche Umstände bewogen ihn vielmehr, lieber
seinen eigentlichen dramatischen Beruf zu verlassen und sich wieder der
theatralischen Einkleidung von Phantomen zuzuwenden, die kein Volks¬
herz begeistern können und denen kein Pulsschlag der Gegenwart zupocht.
Er schrieb: „der treue Diener seines Herrn," ausgeführt I83l),
und dichtete mit dem ganzen Aufgebot seines reichen lyrischen Talen¬
tes die Liebestragödie von Hero und Leander, fand aber mit diesen
Dramen keinen bleibenden Erfolg, der ihn für das Aufgeben eines
würdigeren Terrains nur einigermaßen hätte entschädigen können.
„Der treueDiener seines Herr n" zumal erscheint uns fast wie
die allegorische Darstellung seines Schicksals, wie die Apotheose einer
Dienstbarkeit, der er seine Muse nicht entziehen konnte oder mochte.
König Andreas von Ungarn, im Begriff, mit seinem Heer gegen den
Feind zu ziehen, übergibt seinein treuen Diener Bancbannus die Ne¬
gierung, und betraut ihn zugleich mit der Sorge für die rückbleibende
Königin und ihr Kind. Herzog Otto von Meran, der Bruder der
Königin, aus Frankreich kommend, wild, sittenlos und von der Köni¬
gin, die ihm mit blinder Schwesterliebe ergeben ist, in seinem Treiben
mehr unterstützt als gehindert, untergräbt während der Abwesenheit des
Königs das Lebensglück des Bancbannus, indem er dessen Gattin Errp,
die ihm längst mit Zorn und Verachtung begegnete, durch Hilfe der
Königin in sein Zimmer lockt, wo sie auf sein Drohen und Bitten
nicht einmal das Wort Verachtung zurücknehmen wollend, und sich
endlich in seiner Gewalt sehend, keinen Ausweg findet, als sich den
Dolch in'ö Herz zu stoßen. Die Brüder und Verwandten der todten
Errp und ihres Gatten Bancbannus halten indeß den Herzog Otto
selbst für den Mörder, sie wiegeln das Volk auf, und drohen die Burg
zu stürmen, wenn die Königin nicht den vermeintlichen Mörder ihrer
Rache überliefert. Die Königin weigert's und sieht ihrem und ihres
Kindes Untergang durch die Hände des empörten Volkes entgegen.
Da erscheint Bancbannus, und obwohl Schmerz und Rache in seinem
Herzen lodern, bleibt er eingedenk der Pflicht, die er seinem Herrn und
König gelobte; er rettet die Königin und ihr Kind und selbst den Tod¬
feind Herzog Otto, als sich die Königin nur um diesen Preis will
retten lassen, er führt dem zurückkehrenden König das aufgewiegelte
Volk beschwichtigt entgegen, überliefert seinem Richterspruch oder seiner
Gnade die Stifter des Aufruhrs, seine eignen Brüder und Verwandte,
zum Lohne dafür nichts begehrend, als fürder einsam seinem Schmerz
leben zu dürfen, durch das Bewußtsein getragen, „der treue Diener
seines Herrn" gewesen zu sein. Die Idee dieses Trauerspiels findet
mehr in einer unwillkürlichen Hinneigung des Gemüthes, als in
einer geistigen Ueberzeugung ihre Begründung, und ist eben des¬
halb nicht groß genug, daß der tragische Fall des Helden, der
an ihr untergeht, von der tragischen Erhebung des Zuschauers
begleitet sein könnte. Allein die Charakteristik ist von psycholo¬
gischen Lichtblitzen umgeben, wie sie früher nur Shakspeare noch
Heller stammen, und später nur Grabbe gleich herrlich leuchten ließ,
und die Tendenz erscheint mit einer Glaubensinnigkeit entfaltet, die
hinwieder mehr an Calderon, als an Shakspeare mahnt. Die Cha¬
raktere, namentlich die des Herzogs Otto und der Errp, hätten zu
selbständigen Tragödien entwickelt werden können, aus dem ganzen
Drama jedoch scheint uns Grillparzer's Schicksal selbst, wie aus einem
halbklaren, arabeökenvcrziertcn Spiegel entgegenzuschimmern. Der treue
Diener seiner Heimathsliebe, ließ er den besten Theil seiner ihm
angetrauten Muse hinmorden, erlaubte sich keinen Widerstand, beschwich¬
tigte vielmehr den Aufruhr, der sich dagegen in seinem Innern erho¬
ben haben mochte und überlieferte, was er noch unter solchen Umstän¬
den als ihm verwandt darbieten konnte, dem Richterspruch oder der
Gnade der österreichischen Censur.
Mit dem dramatisch unbedeutenden Trauerspiel „des Meeres
und der Liebe Wellen" scheint er von der Tragödie Abschied genom¬
men zu haben, denn hierauf erschienen nur noch im Jahre I8Z4 ein
„dramatisches Mährchen" ohne tragische Elemente: „der Traum
ein Leben" und später ein „Lustspiel!" Das Erste mahnt nur durch
den Gegensatz im Titel, nicht aber durch gleich tiefsinnige Gestaltung des In¬
halts an das berühmte Drama de la Barna's. Dem Vernehmen nach
ist es eine Jugendarbeit des Verfassers und soll nicht für die Hvfbühne,
sondern für eine untergeordnete, die Massen durch äußeres Schauge¬
pränge lockende Bühne bestimmt gewesen sein. Auch hat es außer in
Wien, wo man viele Sorge auf eine schöne und wirksame Ausstat¬
tung verwandte, nirgends sonderlichen Erfolg gehabt, vielleicht weil
nur das Wiener Publicum noch so kindlichen Sinnes ist, sich einem
Mährchen auch von der Bühne herab unbefangen hingeben zu können.
Viel Anziehendes liegt in dem Stücke, dessen Stoff schon Voltaire zu
einer anmuthigen Erzählung benutzte, mit Phantasie ist es geschrieben
uno mit manchen wirkungsreichen psychologischen Coups ausgestattet,
der theatralische Fehler liegt nur darin, daß in der materiellen Sicht¬
barkeit, in den zu den Ohren dröhnenden Manövres der Breterwelt die
zauberhafte, in Duft und Nebel schwimmende Mührchenwelt zu Grunde
geht; abgesehen von dem ästhetischen Fehler, daß das Grillparzer'sche
Mährchen nicht die Symbolik einer tief in's Menschenleben eingreifen¬
den Lehre gibt, was bei einem dramatischen Mährchen um so uner¬
läßlicher wäre, sondern höchstens die triviale Klugheitsregel entfaltet:
Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Versenkt man sich jedoch
recht tief in den syrenenhaften Zauber der Grillparzerschen Dramen¬
poesie, die auch gewaltig aus diesem Werke „der Traum ein Leben"
tönt, so möchte man fast glauben, daß, weil die ächte dramatische
Poesie in Oesterreich lange Zeit nur ein Traum war, der Himmel ihn
in's Leben rief, damit — der Traum ein Leben werde.
Nicht wenig gespannt war das Wiener Publicum, als das Hof¬
burgtheater im Jahre 1838 ein Lustspiel von Grillparzer ankündigte.
„Weh dem, der lügt!" wurde aufgeführt, allein nur dreimal, was in
Wien gleichbedeutend ist mit „durchfallen." Mögen die Gerüchte von
Cabalen, die ihm bei dieser Gelegenheit gespielt wurden, auch nicht
ungegründet sein und mögen die Schauspieler auch nicht Alle den Geist
ihrer Rollen mit gehörigem Verständniß gewürdigt haben, die größte
Schuld an der Theilnahmslosigkeit des Publicums trägt doch das
Stück selbst und nicht jenes ist dafür anzuklagen, wenn sein Geläch¬
ter in Scenen rege wurde, wo der Dichter eine ganz andere Auffassung
beabsichtigt hatte. Ein Lustspiel im erhabensten ästhetischen Sinne hätte
die Idee, die dem Werke zu Grunde liegt, abgeben können, wenn nur
die Ausführung mit der Intention gleichen Schritt gehalten hätte.
Gern steht man von der Forderung ab, daß das Lustspiel immer daS
Kleid der Zeit trage, in der es entstanden und direct stets Charaktere
und Zustände der Gegenwart reflectire, wenn es nur für allgemeine
menschliche Thorheiten und Schwächen ein drollig verzerrender Spiegel
wird, in dessen Hintergrund der versöhnende Ernst lauert; gern überläßt
man dem Lustspiel historische Formen und Gewänder verschollener Vergan¬
genheit, wenn nur der Geist die darin herrschende Idee mit unerbittlicher Fa¬
ckel in die Verirrungen des eben gegenwärtigen Jahrhunderts dringt und
die Schatten, die sie dann werfen, zu heitern Gestalten und Spielen zusammen¬
fügt. Eine solche Idee glänzt in „Weh dem, der lügt"; allein statt einer¬
seits das Täuschende und Lügenhafte in dem, was der Mensch stolzen
Mundes als Wahrheit verkündet, mit heiterer epikuräischer Skepsis an¬
zudeuten und zur Wahrheit des Genusses einzuladen, statt andererseits
mit frohlockenden Jubel den Lügenschleier zu reißen von allen ge¬
schminkten Sünden und prunkenden Krankheiten unserer Zeit, verkrüppelt
die Idee kümmerlich unter der Wucht einer fast ganz interesselosen
Handlung. Wohl hört man zuweilen ein fernes Rollen, das wie
Humor lautet und nimmt ein schwaches Wetterleuchten des Witzes
wahr, doch kommt weder die ernste Pilatusfrage: „was ist Wahrheit?"
noch die für ein Lustspiel geeignete feine Weltironie zum Vorschein,
die allen menschlichen Bestrebungen, Träumen und Systemen ein lä¬
chelnd warnendes: „weh dem, der lügt!" zurufen würde. Handlung
und Staffage, dem französischen Geschichtsbuch von Thierry: „liscits
6v leurs in^roving'liens" entnommen, wären in den Händen eines Tieck
oder sogar Fouauv zu einem anziehenden, ächt romantischen Gebilde
geworden, auf der Bühne aber wurden sie unerquicklich und die Auf¬
nahme war, wie bemerkt, eine höchst mißfällige. Vielleicht hat die
Aristokratie dazu beigetragen, die, sonst karg mit Zeichen deS Beifalls
oder Tadels, es nicht verschmähte, sich bei folgender Stelle zischend aus
den Logen zu beugen:
„Gib nicht für einen Ahn, so alt er ist,
Den ersten ans, den äU'sten aller Ahnen,
Ihn, der da war, eh' noch die Sonne war,
Der niedern Staub geformt nach seinem Bild.
Des Menschen Antlitz ist sein Wappenschild."
Seitdem wurden von Grillparzer nur noch zwei dramatische Frag¬
mente „Scipio"und „Libussa" im Druck bekannt. In österreichischen
Blättern lassen sich viele poetische und prosaische Klagen über sein
Verstummen hören; wir können es jedoch nur billigen, wenn er, viel^
leicht zur Erkenntniß gekommen, mindestens durch vielsagendes Schweigen
ausdrückt, was ihm seine amtliche Stellung mit Worten zu sagen ver¬
wehrt, daß Oesterreich seiner großen Dichter nicht würdig, daß es für
dieselben keine Pflege, keine Anerkennung, keine Werthschätzung hat;
am wenigsten für den Dramatiker, der zum versammelten Volke spricht,
mit von den Händen der Censur zusammengepreßter Kehle jedoch keine
dichterwürdigen Laute hervorbringen kann.
Außer seinen Dramen schrieb Grillparzer viele kleine lyrische
Dichtungen, in Almanachen und Journalen zerstreut, wem aber etwas
davon zu Gesichte gekommen, der vergißt es nicht so leicht, wie man
sonstige Journal- lind Almanacherzeugnisse vergißt. Die Lieder aus
Gastein z. B., die das Taschenbuch Aglaja brachte, sind von gedanken¬
schwerer Innerlichkeit, die Frende darin mild und sanft, von jener fei¬
nen Sehleiertrübe umflossen, ohne welche auch der höchste Genuß nicht
in's Dichterherz einzieht, der Schmerz darin gesund und natürlich und
dennoch tief ergreifend. Wie sehr ist der Mangel an einer vollständi¬
gen Sammlung seiner lyrischen Gedichte zu bedauern! Sind sie viel¬
leicht in Lyrik gesetzte Dramen seines eignen Lebens, die er keusch ver¬
hüllt, die er nicht, wie jene Dramen, zu denen ihm die Welt den Stoff
gegeben, auch der Welt wieder überliefern kann?
In den Händen des ächten Dichters verwandelt sich, wie in denen
des mythischen Königs Alles zu Gold; er weiß auch den gewöhnlich¬
sten Dingen und Beziehungen eine glänzende Bedeutung mitzutheilen.
Der einst sehr berühmten schwäbischen Tänzerin, Therese Heberle, schrieb
Grillparzer folgende Zeilen:
„Freund Zlmor, sag'mir nur:
Seit wann bist du ein Schwäberle?
Ob Adelung auch bebe,
Statt Rose sagst du „Reseele"
Und „Heberle" statt Hebe."
An eine liebliche Dame Wiens, eine der geistig angeregtesten unter
den sonst geistigen Beziehungen nicht zugänglichen Frauen Wiens, richtete
Grillparzer die folgenden tiefsinnigen Worte:
„Des Weibes urerstem, tiefinnerstem Sein
Bleibt treu nur die Frau auf die Länge;
Sie wirkt, was sie wirkt durch sich selbst und allein,
Des Mannes Herr ist die — Menge."
In Prosa schrieb er eine Novelle: „Das Kloster von Sendomir"
und einen Aufsatz über dramatische Kunst.
Von seinem äußern Leben ist wenig zu berichten und der Biograph
wäre bald fertig mit ihm. Er ist am 15. Jänner 1791 in Wien ge¬
boren und blieb ununterbrochen an den Staatsdienst gekettet. Eine
große Seele lebt sehr einsam in Wien, dem „Capua der Geister," wie
er selbst es nennt. An großen politischen Anregungen fehlt es, weil
es an einem öffentlichen Leben fehlt, diese muß sich der Wiener Poet
auf Reisen suchen. Reisen machte er denn auch und zwar, außer der
schon erwähnten nach Italien, auch nach England und Frankreich.
In Paris besuchte er Börne, der zu seinen ersten Lobrednern gehörte,
und, ihn mit den andern Dramatikern seiner Zeit vergleichend, begeistert
ausrief: Grillparzer ist ein Dichter! Im Jahre 1843 segelte er nach
Griechenland, doch sollte er sich nicht lange auf dem classischen Boden
bewegen, den seine Phantasie so oft schon früher betreten hatte, als
sein Fuß. Die Septemberrevvlution war nämlich eben aus^ebrochen;
ein Deutscher konnte selbst mit Geringachtung der Lebensgefahr nicht
zum ruhigen Studium gelangen. So sehen wir ihn in einer seiner
edelsten Lebensfreuden nicht weniger, als in seinem heiligsten Beruf ge¬
stört und verkümmert.
Auf seine Bildung mochte wohl der gediegene Schreivogel nicht
ohne Einwirkung geblieben sein; ihm widmete er auch seine „Sappho,"
eine Huldigung, die ,' wie sie den Schüler ehrt, auch eine große für
den Meister ist, denn Grillparzer hat niemals, gleich Friedrich Halm
U.A., mit Widmungen wohlberechnete Ordens- und Titelspeculationen
getrieben und auch keines seiner übrigen Werke sonst Jemand zugeeig¬
net. Ueberhaupt bewahrte er oft eine eiserne Gesinnung und war es
ihm unmöglich, gegen manche Zustände und Personen positive Oppo¬
sition zu bilden, so hat er es doch negativ gethan, durch Verstummen,
wenn er nicht nach seiner Ueberzeugung sprechen konnte. Drum fand
er auch keinen Mäcen, wie er selbst nie einen gesucht hatte. Kein
König sandte ihm die wohlfeilen Auszeichnungen, die nur den Geber
geehrt hätten, die aber Grillparzer gewiß zurückgewiesen hätte. Kein
Orden verunziert seine ehrliche Brust, keines jener Bänder, mittelst deren
man heut zu Tage an ein großes Talent immer gerne einen kleinlichen
Charakter knüpfen möchte. Archivdirector ist er, nicht um einen Titel
zu tragen, sondern um leben zu können, denn das Hofburgtheater hat
ihm den verdienten Ehrensold immer' nur spärlich zugemessen. Wird
er aber von oben her gedrückt und vernachlässigt, wird ihm bei jeder
Gelegenheit der geschmeidige Aristokrat Friedrich Halm (Freiherr von
Münch-Bellinghausen) vorgezogen, so wenden ihm dafür seine StrebenS-
genossen und alle gesinnungstüchtigen Männer eine Verehrung zu, wie
sie noch keinem andern Dichter in Oesterreich geworden. Ein kleines
Zeichen dafür war das Festmahl, das ihm zu seinem 53. Geburtstage
veranstaltet wurde, das Album, welches ihm bei dieser Gelegenheit
überreicht wurde, und wenn auch nicht die Gesinnung Aller, die sich
darin einschrieben, unverfälschtes Gold ist, so ist es doch schon die größte
Ehrenbezeugung für Grillparzer, daß sich alle Wiener Schriftsteller ein¬
schreiben mußten, die eine tüchtige Gesinnung auch nur zur Schau
tragen wollten.
Uebersicht man sein ganzes literarisches Wirken, so glaubt man
in das Atelier eines großen Bildhauers zu blicken, in welchem ein
Erdbeben das Meiste umgestürzt hat und von den erhabensten Götter¬
bildern eben nur so viel Göttlichkeit und Reiz übrig ließ, um die Ver¬
nichtung tief betrauern zu lassen. Ist er schuldig? ist er blos unglück¬
lich? Man möchte ihn für das erstere halten, wenn man so Herrliches
zerstört weiß, weil er nicht den Muth oder die Kraft hatte, die österreichi¬
schen Literaturfesseln abzustreifen; man mochte wieder in Mitleid um
ihn vergehen, wenn man ihn trauernd ruhen sieht auf den Ruinen
einer Poesie, der eine deutsche Unsterblichkeit aufbehalten gewesen wäre,
auf ungebornen Werken, die er, statt sie zu schaffen, in seiner Seele zu
Trümmern zerschlagen mußte.
Wie wir Ur. 144 der Prager Zeitung lasen, wurde auf den 5. Ok¬
tober dieses Jahres „in Angelegenheiten des Landtagsschlusses für das
Jahr 1847" eine Landtagsversammlung berufen. Fast ebenso lauteten
die Einladungsschreiben, welche der Landesausschuß an die im Landtage
eingeführten und folglich daselbst zu erscheinen berechtigten ständischen Mit¬
glieder ergehen ließ. Nun ist diese am 5. und 6. October gepflogene Be¬
rathung beendet und ich beeile mich, Ihrem geschätzten Blatte einige Data
derselben mitzutheilen, welche um so beachtenswerther sein dürsten, als die
Beschlüsse dieser Versammlung in ihren Folgen für Stande und Re¬
gierung eine hohe Wichtigkeit haben und noch haben dürften.
Die vielseitigen Zweifel, Klagen und Angriffe, welche der von 41
ständischen Mitgliedern am 25. Mai gefaßte Beschluß (siehe Grenzboten
Ur. 28 und Ur. 30) im Lande hervorrief und welche auch in der Bei¬
lage zu Ur. 37 der Grenzboten einen edlen Vertreter fanden, ließen dem
Gesagten zufolge vermuthen, daß diese Landtagsversammlung sehr zahlreich
besucht werden würde. Es war jedoch nicht der Fall; Jagden, Wettren¬
nen und andere Vergnügungen hatten Viele und, was besonders gerügt
zu werden verdient^ die Mehrzahl jener Mitglieder des H e rrenstan d es,
die am 25. Mai l. I. durch ihren einhelligen Sinn sich unsern aufrich¬
tigen Dank erwarben, abgehalten, zur Berathung über einen so wichti¬
gen und interessanten Gegenstand am genannten Tage zu erscheinen, so
zwar, daß am 5. blos 53 und am 6., zum Beweise des geweckten Ei¬
fers, 43 ständische Mitglieder erschienen.
Wie bereits gemeldet wurde, bewilligten unsere Stande wie immer
„und aus Anlaß der in Gallizien vorgefallenen bedauernswerthen Ereign
nisse" die ganze pio 1847 postulirte Steucrsumme von 5,507,603 Fi.
16 Xr. und zwar 4,990,551 Fi. 4 Xr. als ordentliche Quote, dann
469,994 Fi. 10 Xr. als Zuschuß und endlich 47,057 Fi. 52 Xr. (da daS
Erfordernd dieser seit 1846 mehr postulirten Summe denselben bisher
authentisch nicht aufgeklärt wurde.)
a) als außerordentlichen Zuschuß,
ferner die Gebäudezinssteuer mit 18^ Proc. gleichfalls zur Gänze: da»
von 18 Proc. als ordentliche Steuer, dann Proc. als außeror¬
dentlichen Anschuß, woran sie in der ersten Landtagserklärung vom
25. Mai l. I. das ständische Votum bitt- und beziehungsweise auf den
letzten Punkt die Erklärung und Anzeige knüpften, daß
b) in den künftigen Grundsteuerpostulaten die Bemerkung der Nach¬
sicht von Proc. an der Auschußquote der früher angelegten
Steuersumme weggelassen werden möge (weil der Ausdruck der a. h.
Nachsicht, als einer längst vergangenen Aeitperiode angehörig, sich ohne¬
hin nur als eine bloße Förmlichkeit herausstelle); daß
<:) die sonst in den Grundsteuerpostulaten bestandenen Artikel hinsicht¬
lich der General-Landesbegrenzung und des Straßenbaues in die künfti¬
gen Grundsteuerpostulate wieder- aufgenommen werden; und daß
die Stände sich bewogen fanden (für das Wohl der Unterthanen
und mit Hinblick auf die Ur. 23 der Grenzboten Seite 78 wörtlich ci-
tirten a. h. Entschließung vom II. April l, I.) unter Aufhebung des
bisher bestandenen Unterschiedes in der Besteuerung der Dominical- und
Rusticalgründe auf Grundlage der Josephinischen Steuerregulirung und
deS sich hiernach ergebenden Nepartilionsmaßstabes, ohne den bisherigen
Abschlag von I^Z Xr. beim Dominical- und von Zkc. bei dem Ru-
sticalgulden, die Steuer gleichmäßig repartiren, „somit Obrigkeiten und
Unterthanen rücksichtlich des Grund und Bodens gleichmäßig besteuern zu
wollen."
Letzterer Beschluß war es, gegen welchen so viele Gemüther aufge¬
regt, so viele Waffen geschärft wurden, gegen den auch, am 5. und 6.
October, bisher in der Landtagsstube selten gesehene Kämpfer auftraten
und welchen man widerrufen und vernichten wollte. Man nannte ihn
illegal, behauptend, daß er gegen die ausdrückliche Weisung der Nov. Doct.
^.g. IX und des Hofd. vom 12. August I7ÄI gefaßt worden sei, wäh¬
rend grade jene Novelle^) dasjenige auf dem Landtage zu berathen ge¬
stattet, was die königl. Propositionen enthalten, die Steuern aber das
Hauptobject der Propositionen bilden, die Art der EinHebung und Re¬
paration derselben mit der Steuerbewilligungsfrage in wesentlicher Ver¬
bindung steht und von ihr um so weniger getrennt werden kann, als
Se. Majestät in jedem Postulaten-Rescripte wörtlich fordern: daß die
Stande vorher, d. h. bevor sie, um den Landtag bei Zelten zu beenden,
die bereitwillige Erklärung zur Annahme der Postulaten geben, „die Art
und Weise, durch welche sie die Postulata einzusehen gedenken, vorläufig
zur Genehmigung anzeigen."
Das Hofdecret über vom 12. August 1791 ez. II*), auf welches
sich berufen wird, die Postulata nicht zum Gegenstand haben kann, weil
diese dem Landesausschusse früher gar nicht bekannt fein können, da selbe
nach der mit ihnen geschehenen Eröffnung des Landtages gleich dem er¬
sten Landtagssecretair zur Verfassung des geistlichen Votums übermittelt
werden und dieses dann die Grundlage der eigentlichen Landtagsberathung
— wie dies am 25. Mai l. I. auch der Fall war — bildet, hierbet
aber erst jedem Mitgliede möglich ist, auf die Steuer sich beziehende An¬
träge zu stellen.
Man sagte ferner, es bestehe ke me Steuerungleichheit, dieser Steuer¬
nachlaß sei nicht zeitgemäß, folglich nicht politisch ?c. Eine theil¬
weise Antwort auf diese Einwendungen enthalt der Aufsatz des Grenzbo¬
ten Ur. 40, daher ich mich deren Widerlegung um so mehr enthalten zu
können glaube, als einer der Gegner dieses Beschlusses seine hierüber aus
einer ähnlichen Verhandlung des Jahres 182? geschöpften Ansichten dem
Landesausschuß für die nächste ständische Versammlung zur Jnstruirung
und Begutachtung übergeben zu wollen versprach und somit dieses runo
nun litis noch eine weitere Besprechung und gründliche Würdigung fin¬
den wird.
Vor der Hand blieben aber alle Einwendungen gegen den Beschluß
der Herren Stände vom 23. Mai l. I., eine Chimaire, da
I) der Landesausschuß, trotz der von den Ständen im Jahre 1844
erhaltenen Weisung: „die Reparation und Ausschreibung der Steuer je¬
desmal nur auf „Grundlage eines ständischen Beschlusses einzuleiten" —
zufolge der oft besprochenen a, h. Entschließung vom II. April 1^46
(nach welcher, sobald die Erklärung der Stände über das Postulat er¬
folgt ist, die Einleitungen wegen Anfertigung der Reparationen und An¬
lagscheine :c. zu treffen und diese Arbeiten in der Art zu betheiligen sind,
daß noch vor Eintritt der Steuereinhebungsperiode für das nächste Ver¬
waltungsjahr die Steuerausschreibung, auch wenn der betreffende Land¬
tag noch nicht geschlossen wäre, auf die normgemäße Art in gehöriger
Zeit an die Dominien und Magistrate erfolge") veranlaßt wurde, die
Steuerrepartitionen und Anlagscheine herauszugeben und somit eigentlich
factisch den Landtag zu schließen, und
2) da Se. Majestät in der besagten a. h. Instruction vom 25,. Au¬
gust l. I. jenen Beschluß vom 25. Mai über die Steuergleichheit gestatteten.
Bei der Wichtigkeit dieser a. h. Instruction vom 2b. August glaube
ich das Wesentlichste daraus anführen zu müssen. Es heißt daselbst:
„Es liege in der Absicht Sr. Majestät, daß bei der Aufführung der
„Summe der postulirten Steuern die Worte und Ziffer der LandtagS-
instruction beibehalten werden."
„Da serner durch die von den Standen vorgeschlagene Aenderung in
der bisherigen Grundsteuerrepartition der sowohl von Uns als auch von
Unserm in Gott ruhenden Herrn Vater wiederholt an den Tag gelegten
Willensmeinung die UMlegung der Grundsteuer nach einem billige» und
die Verhältnisse des belastetet, Grundbesitzes berücksichtigenden Maßstabe
vorzunehmen näher gerückt wird, so gestatten Wir, daß vom Beginne Ve«
Verwaltungsjahres 1847 an die Umlegung der Grundsteuer in der von
den bösen. Standen angetragenen Art vollzogen werde, bis Wir hierüber
weitere geeignete Verfügungen erlassen"*).
Wie nun der Inhalt dieser a. h. Instruction darthut, wurde über
die oben von mir mit » und c bezeichneten Bitten der Stande um Wie¬
deraufnahme der Artikel hinsichtlich der Generallandesbegrenzung und deS
Straßenbaues, ob sie in den künftigen Grundsteuerpostulaten erscheinen
werden, kein Bescheid gegeben; die unter u aber angedeutete Bitte
ward, wie dies aus dem Befehle: „daß die Worte und Ziffer der Land-
ragsinstruction beibehalten werden", zweifellos hervorgeht, gar nicht ge¬
nehmigt, und der in Folge von den Ständen in der ersten Landtagser¬
klärung vom 25. Mai 1846 oben sul, 6 angezeigten, in der a. h. In¬
struction aber als bloßen Vorschlag bezeichneten Aenderung der bishe¬
rigen Grundsteuerrepartition bei ihrer Genehmigung der immerhin folgen¬
reiche und die ständischen Gerechtsame wesentlich berührende Beisatz ange¬
hängt: „Bis Se. Majestät hierüber weitere geeignete Verfügungen
erlassen." Mit catonischer Ausdauer bekämpfte man nun am 5. Octo-
ber die Einführung der Steuergleichheit und stellte nach langer Debatte
den Antrag: den Steuecnachlaß von 35V,VVV Fi. als ein Geschenk an
das Rusticale blos pro 184? anzusehen. Der Antrag wurde jedoch ver¬
worfen. Ebenso siel den folgenden Tag der Antrag auf eine zweite
Landtagsschrift, in welcher allen aus dem a. h. Rescripte vom 25. Au¬
gust 1846 erwachsenden und obenerwähnten Bedenken eine genaue Wür¬
digung und Wahrung hätte gegeben werden können, und es wurde be¬
schlossen, zum Landtagsschluß zu schreiten. Weil man sich aber theils
gegen jene Bedenken der a. h. Instruction vom 25,. August, hauptsäch¬
lich aber gegen die Meinung schützen wollte, als sei der SteuergleichheitS-
beschluß der Stände vom 25. Mai ewige Norm für alle Zukunft, so
wurde weiters ein im Landtagsschlusse aufzunehmender Vorbehalt votirr.
Doch die auf den Borbehalt sich beziehenden Amendements hatten ein
trauriges Schicksal. Um die aus den Worten der a. h. Instruction „bis
Wir hierüber weitere geeignete Verfügungen treffen werden" fließenden
wichtigen Resultate zu umschiffen, wurde vorgeschlagen, in die Pvstula-
tenbewilligung in c> ^u. i847mit der neuen Modifikation in der Steuer-
repartirung statt der Worte: „Vom Jahre 1846 angefangen" — die
Worte: „Für das Jahr 1847" zu setzen. Wie es einer so Vyrenvollen
Corporation, -As die Stande sind, geziemte, fiel dieser diplomatische An¬
trag. Ein zweiter und vielleicht der geeignetste, ging d^hin, über die ge¬
nannten Worte die Bemerkung beizufügen: die S^inde seien der sichern
Hoffnung, daß die bemerkten a. h. Verfügungen nur mit ihrvr Ein¬
willigung und ohne störenden Einfluß auf ihre Privilegien und Freiheiten
stattfinden werden. Auch dieser Vorschlag siel, und folgenschwer zog nun
auf dem Gedankenhorizont die neue Idee heran, es solle in dem Land¬
tagsschluß der Beisatz gestellt werden: „Die Stände bewilligen unter den
angegebenen Modificationen die Steuer vom Jahre I8t7 angefangen
„„ohne alle Consequenz für die Zukunft, welcher Antrag, da er aller lo¬
gischen Consequenz entbehrt"" mit der möglichst großen Majorität ver¬
worfen wurde. Endlich dictirte ein ständisches Mitglied eine, auch von
der Mehrheit angenommene, Verwahrung, jedoch blos in das Landtags-
protokoll, welchem das Schicksal bevorsteht, in dem ständischen Archive zu
schlummern und da nach dem Lichte höherer Regionen — doch wohl ver¬
gebens — zu seufzen.
Nach diesem Vorgange kann wohl nicht bezweifelt werden, daß die
versammelten Herren Stände die Nothwendigkeit einer Verwahrung gegen
den Inhalt der a. h. Instruction einstimmig fühlten, allein sie hatten die
Parabel, in welcher ein sterbender Va.ter seinen drei Söhnen die Pflicht
und Vortheile der Einigkeit durch co Ruthenbund zeigt, vergessen und
so kam es dahin, daß, ohne einen Vorbehalt in den Landtagsschluß auf»
nehmen zu können, Schlußlied der höchst folgenwichtige Beschluß gefaßt
wurde:
„Nach dem wörtlichen Inhalte der a. h. Instruction den Landtags-
schluß zu verfassen", wodurch dieselbe daher in allen ihren Punkten an¬
genommen wurde.
Dadurch aber haben unsere Stände in einem Falle, wo es sich um
ihr ältestes, ich möchte sagen, noch einzig ihnen belassenes Recht der Steuer-
bewilligung und Reparation handelte, der Mitwelt ein neues glänzendes
Beispiel ihres felsenfesten Vertrauens in die Gerechtigkeitslirbe ihres Mo¬
narchen geliefert, und diese ist fürwahr die sicherste Garantie, daß diese
Hingebung, dieses Vertrauen durch entsprechende Genehmigung bescheide¬
ner Wünsche entgolten werden wird.
Man muß sich wundern, daß die deutsche Journalistik so gesegnet
mit Reformen aller Art in der wichtigen Anklage gegen die Gymna¬
sien noch immer zurückbleibt. Wäre die Frage nicht interessant genug,
weil sie nicht augenblicklich in einer Kategorie der politischen Tages¬
fragen einzureihen ist? Sie ist mehr als interessant, sie ist verzweifelt
wichtig. Ganze Generationen hängen von ihr ab, denn die Bildung
ganzer Generationen ist von ihr abhängig; wir sind stolz darauf, daß die
Frage bei uns in Sachsen für ganz Deutschland lebendig gemacht wor¬
den und die Stimmung dafür bereits so erwärmt ist, daß die Anregung
nicht mehr ohne Folgen bleiben kann. Allem Anschein nach ist auch
die Regierung im Wesentlichen auf Seite der Reform (?) und wir
erwarten mit Zuversicht, daß so wie Sachsen einst in sogenannter klassi¬
scher Schulbildung in deutschen Ländern voranging, so werde es auch
jetzt darin vorangehen, Einrichtungen umzugestalten, welche von der
Zeit überholt worden und in ein Zopfthum ausgeartet sind. Letzteres
ist vielleicht zu stark, denn man kann nicht sagen, daß die Gymnasien
neuerer Zeit ausgeartet wären, aber sie haben nichts gelernt und nichts
vergessen und deshalb ist ihnen der Zopf fo lang gewachsen, daß jetzt
die erforderliche Bewegung eines Gymnasiallehrers und eines Gym¬
nasiasten gradezu unmöglich ist.
Da>r Gymnasiallehrer ol-. Köchly in Dresden hat diese Reformfrage,
welche seit Jahrzehnten zu wiederholten Malen vergeblich angeklopft,
diesmal mit Glück in die öffentliche Verhandlung eingeführt, und die
speciellen Vorschläge, welche er macht, werden von dem Publicum und
auch von unbefangenen Gymnasiallehrern als gut und billig begrüßt.
Er verlangt, daß nicht mehr alle Gymnasiasten zu Philologen ausge¬
bildet werden, will sagen, daß sie nicht mehr bis zur ersten Classe hin¬
auf vorzugsweise im Lateinischen und Griechischen unterrichtet werden.
Das Erlernen dieser Sprachen soll in den untern Classen erledigt, und
soll dergestalt betrieben werden, daß fernerhin nicht mehr die gramma-
tische Tiftelei und die Sylbenstecherei der Lesarten die Hauptsache
bleibe, sondern daß die Fähigkeit erworben und geübt werde, ein latei¬
nisches und griechisches Buch kourant lesen und verstehen zu lernen.
Das specielle Eingehen und Deuten bleibe Denen überlassen, welche
diese philologische Aufgabe zu ihrer Lebensaufgabe machen wollen.
Ferner sollen die mathematischen Wissenschaften anders und prak¬
tischer gelehrt werden. Theils nicht mehr in der theoretischen Allge¬
meinheit, welche so gar wenig Erfolg zeigt) theils im Einzelnen sorg¬
fältiger und eindringlicher.
Ferner soll die deutsche Sprache und Literatur gründlicher gelehrt,
und es sollen die jetzt wichtigen europäischen Sprachen Französisch und
Englisch so gelehrt werden, daß der Gymnasiast sie lernt, was bisher
Von dem beiläufig gestatteten Französisch nicht gerühmt werden konnte.
Ich weiß nicht genau, ob in den Ncformvorschlägen auch die so
nöthige gründliche Besserung in den Disciplinen der Geschichte, Geo¬
graphie und Physik gefordert wird, verbürge überhaupt nicht, daß die
Reform natürlich so verlangt werde, wie ich hier ausgesprochen; aber
das Wesentliche ist so, und da soeben die Köchly'schen Vorschläge in
einer Broschüre erschienen, so kann ich auf diese verweisen. Mir ist
es in diesem Berichte nicht blos um Citirung der Vorschläge, sondern
um eine Belebung und Ausführung derselben zu thun. Da muß ich
denn zuerst mit Nachdruck darauf hinweisen, wie dieser Reformgedanke
bei der Philologenversammlung in Jena aufgenommen worden ist. Er
ist mit Spott aufgenommen worden, um das Kind beim rechten Na¬
men zu nennen. Ein erschreckendes Zeugniß, wie tief bestehende Cor-
porationen in sich verrotten können. Der Vorsitzende hat diese Lebens¬
frage mit einer witzigen Wendung abgemacht, und weil diese witzige
Wendung eine auch für uns populäre Angelegenheit — offene Briefe
machen heute kein Glück — in sich schloß, so hat man ihr zugejubelt,
und hat das, was einer solchen Versammlung die vollkommenste wirk¬
liche Belebung hätte sein können, burschikos und in Wahrheit gedan¬
kenlos beseitigt, um lieber Vorträge anzuhören, welche wenigstens eben
so gut durch den Druck ihre Bestimmung erreicht hätten. ES ist also
ganz so hergegangen, wie einst bei kirchlichen Concilien, welche so
lange hochmüthig und kastenmäßig die Reform abwiesen, bis sie ihnen
von außen her aufgezwungen wurden. Die Jena'sche Versammlung
hat sich hiermit bitterlich gerichtet, und ihre Nachfolgerinnen werden
bereuend eiNzuregistriren haben, was im Bereich ihrer Kaste von au¬
ßen her ohne ihr Zuthun geändert und gebessert worden ist.
Zweitens muß ich auf ein Grundübel aufmerksam machen, was
bis jetzt nur nebenher oder gar nicht berührt worden ist. Die Gym¬
nasiallehrer sind principiell nur Gelehrte und viel zu wenig Lehrer.
Ihre pädagogische Vorbildung wird viel zu sehr als Nebensache an¬
gesehen und sollte doch die Hauptsache sein. Die begabtesten Kinder
des Landes werden ihnen in der wichtigsten und einzigen Entwickelungs¬
zeit dieser Kinder anvertraut, und es ist mehr oder minder gutes Glück,
ob diese Lehrer, denen man das Wichtigste anvertraut, denn auch leh¬
ren können. Bei ihrer Anstellung ist die Hauptfrage, ob sie das Er¬
forderliche wissen, nicht aber, ob sie ihre Wissenschaft in der ihnen be¬
vorstehenden Laufbahn verwerthen, das heißt, mit Talent übertragen
können. So ist der verkehrte Ruhm entstanden, daß der Gymnasial¬
lehrer in der abstraften Wissenschaft ganz wie der Universitätslehrer
sich auszeichne durch Programme und Schriften, statt daß er seinen
Ruhm darin suche, in der Eindringlichkeit und Wirkung seines Unter¬
richts sich auszuzeichnen. Daher die befremdliche und betrübliche Er¬
scheinung, daß so oft die durch Gelehrsamkeit glänzenden Gymnasial¬
lehrer für den Gymnasiasten die unergiebigsten Lehrer sind. Sie sind
eben keine richtigen Gymnasiallehrer. Das Talent zum Lehren muß
eben das Hauptmoment des Eramens sein bei denjenigen, welchen wir
unsere Kinder für so lange Zeit anvertrauen.
Hierin muß ein Grundpfeiler der Reform aufgebaut werden.
Wie wäre es denn sonst auch möglich, daß folgende Zustände
und Resultate bestehen könnten: Der Gymnasialcnrsus umfaßt sechs
bis neun Jahre. Fragen Sie in Leipzig nach, und man wird Ihnen
neun Jahre als Gymnastalzeit nennen. Welch' ein Zeitraum! Und
was ist das Resultat? Was kann und weiß der Jüngling, welcher
zur Universität entlassen wird? Lateinisch und Griechisch weiß er, aber
er kann es nicht. Legen Sie ihm ein Buch vor, das ihm nicht „er-
ponirt" worden ist, und verlangen Sie, daß er Ihnen ein Capitel aus
Eicero oder Plato vortrage. Sie werden erleben, daß der dürftigste
Wortsinn ihm unüberwindlich zu schaffen gibt und daß er durchaus
nicht im Stande ist, irgend einen Autor, er müßte denn trockne Daten
trocken darstellen, geläufig zu lesen. Was würden Sie zu dem Lehrer
sagen, der Ihren Sohn nur halb so lang in einer Sprache täglich un¬
terrichtet und ihn nicht so weit gebracht hätte, ein Buch in dieser
Sprache geläufig zu lesen! Ist dies nicht ein Zeugniß, daß ungern-
gerd gelehrt wird? Wäre solch' ein dürstig Resultat nicht bei guter
Lehre in halb so viel Zeit zu erreichen? Oder glauben Sie der
Phrase, es sei das klassische Alterthum den jungen Leuten trotz so un¬
genügendem Wortverständnisse eingeimpft worden? Glauben Sie ihr
ja nicht. Was wir von klassischen Formen in unsern Sinn eingeprägt,
das haben wir in späterer Zeit, wenn uns das Brotstudium dazu
Zeit und Muße ließ, mühsam angeeignet. Dem Gymnasiasten ist in
der grammatischen Tifielei und in dem vergleichenden Lesartenschwalle
nichts Wesentliches erschlossen worden.
Und wie steht es beim Abgange vom Gymnasium mit den neuen
Disciplinen? In der Geschichte ist alte Geschichte ausführlich betrie¬
ben worden. Die wichtigste neuere Geschichte Europa's seit der Re-
formation hat im Verhältnisse eine Nebenrolle gespielt. In der Geo¬
graphie ist eS noch viel schlimmer. Ich habe als Tertianer in Leipzig
Privatstunde nehmen müssen in der Geographie, weil ich in den un¬
tern Classen nur etwas alte Geographie und von der neuern nur ein
lückenhaftes Stückwerk erlernt hatte, mir aber der Wahrheit gemäß
mitgetheilt wurde, daß in den höhern Classen keine Gelegenheit vor¬
käme, jene Lücken in der neuern Geographie gründlich zu ergänzen.
Fragen Sie jetzt genau nach und Sie werden entdecken, daß dies noch
nicht besser geworden ist. Soll ich die verschwimmende Kenntniß der
Mathematik, die nichtige der Physik, die oberflächliche der deutschen
Sprache und Literatur erwähnen? Und dafür neun Lebensjahre!
Will man heutiges Tages seinen Knaben so vorbereiten bis zum acht¬
zehnten Jahre, wie er vorbereitet sein muß, um wirklich ausgerüstet
in diese oder jene Laufbahn einzutreten, so bleibt nichts übrig, als ihn
Griechisch und Lateinisch privatim erlernen und ihn übrigens in eine
Real- oder Handelsschule eintreten zu lassen, wenn diese vorhanden
und nur im Annähern der Tüchtigkeit vorhanden ist.
Diesem Zustande muß und kann abgeholfen werden durch gründ¬
liche Reform der Gymnasien.
Das Vorwort des Verfassers gibt über den Grund, Sinn und
Zweck des Commentars zu Goethe's Gedichten klare und verständige
Rechenschaft; das Unternehmen entspricht einem gegründeten Bedürfniß
und begegnet richtigen Erwartungen; wir können hinzufügen, daß die
Ausführung durch Einsicht und Sorgfalt eine gelungene heißen kann.
In der Jugend lesen wir unsere Dichter freilich ohne allen Com-
mentar', wir folgen ihnen entzückt durch Hell und Dunkel, und das
Uebermaß des Genusses, den wir aus dem Verstandenen schöpfen, führt
uns über das weniger Klare leicht hinweg, ja nicht selten liegt auch
in diesem noch ein Reiz des Ahndungsvollen, der den Genuß erhöht.
Ebenso wenig, wie das allseitige Verständniß des Inhalts, kümmert
uns der tiefe Bezug des Gedichts zu dem Dichter, wir singen sein Lied
und fragen nicht wie es entstanden sei, nur feiern wohl den Namen
des Dichters, aber lassen es bei dem Namen bewenden.
Dies Ergreifen der bloßen Sache in ihrem groben Sein, ohne
Sorge wegen ihres Zusammenhanges und ohne Rückblick auf ihren
Urheber, findet sich auch in ganzen Zeitaltern, in solchen nämlich, welche
noch die Kindlichkeit eines unreifen Zustandes darstellen, und daher
überhaupt im Volksleben, sofern es mehr oder minder stets einem sol¬
chen Zustande angehört. Alls diesem Grunde wissen wir auch so we¬
nig über die Entstehung der großen Urdichtuugen, über die Dichter der
Ilias und Odyssee, der Gesänge vom Eid, der Nibelungen; und so
singt noch immer das Volk froh lind fromm seine Welt- und Kirchen¬
lieder, wie sie das fliegende Blatt und das Gesangbuch namenlos dar-
bietet und fragt nicht, wo sie herkommen, ans welchen Verhältnissen
sie stammen oder wie die Zeit sie mag verwandelt haben.
Wir dürfen diese Art des Genusses und des Verbrauchs der Poesie
nicht schelten; sie hat vielmehr den größten Werth und die entschie¬
denste Berechtigung in der Bildungsstufe, auf der sie entsteht und ge¬
deiht. Aber ebenso wenig läßt sich verkennen, daß eine höhere Stufe,
ein reiferes Alter, eine entwickeltere Zeit andere Ansprüche machen, ei¬
nen andern Genuß der Poesie fordern und erlangen.
Hier stellt sich uns das Gedicht als kein abgeschlossen Selbstän¬
diges dar, sondern als Theil eines großen Ganzen, als Einzelheit ei¬
ner unendlichen Schöpfung; in seiner augenblicklichen Bestimmtheit ist
es nicht ohne Vor und Nach zu denken, nicht ohne den Zusammen¬
hang mit andrem Lebensausdruck. Hier kommt das Recht der Gestalt,
ihrer Mannichfaltigkeit und Wandlung zur Sprache, hier beginnt die
geschichtliche Umsicht, die Erkenntniß des Ursprünglichen und nachge¬
bildeten, die Vergleichung der Erzeugnisse, die Scheidung ihrer Bestand¬
theile. Und vor Allem drängt sich die Frage nach dem Urheber auf,
der uns bald ebenso wichtig wird, als seine wunderbaren Gaben, ja
wichtiger, denn höher als das Geschaffene steht uns mit Recht der
Schöpfer, wem: wir auch nur durch jenes ihn zumeist erkennen und
bewundern. Nun sind wir nicht mehr zufrieden, die Geschenke des
Meisters nur im Ganzen hinzunehmen, wir streben in das Innere zu
dringen, die Stoffe und Gestalten zu erfassen, das Einzelne in seine
feinsten Verzweigungen zu verfolgen. Wir erforschen die Ursprünge,
die Triebfedern, wir wollen Einsicht hal'en in die Bedingungen des
Entstehens, Theil haben an dem ganzen Leben, aus welchem die Dich¬
tung hervorgewachsen ist.
Es ist kein geringer Fortschritt in unsrer Literatur und in unserm
Nationalleben, daß die Werke unsrer größten Schriftsteller mehr und
mehr in der angegebenen Weise Gegenstand wissenschaftlicher Erklärung
werden, durch Schriften, Vorträge, auf Universitäten, in Schulen; daß
die Jugend solchergestalt frühzeitig zu den Schätzen hingeleitet wird,
die dem ganzen Vaterlande gemeinsam und seiner noch frischen Gegen¬
wart angehören. Daß dies geschieht, braucht in keiner Weise zum
Nachtheil unsrer Studien des classischen Alterthums zu gereichen, diese
können vielmehr im schönsten Vereine mit jener zusammengehen und in
bester Fürsorge grade für die deutsche Geistesbildung dürfen wir den
Wunsch aussprechen, daß nie der Tag kommen möge, der unsern Eifer
und unsre Tüchtigkeit auf dem Felde der griechischen und lateinischen
Philologie verlöschen sähe! Wir wollen von dem, was bisher unser
Ruhm und Gewinn war, nichts aufgeben und verlieren, wir wollen
die alten Güter treu bewahren, nur neue hinzufügen.
Bisher ist auch nur in diesem richtigen Sinne die deutsche Phi¬
lologie bearbeitet worden, von bewährten Kennern und Freunden der
altclassischen. Den löblichen Arbeiten Delbrück's, Göschel's, H o ff-
meister's und vieler Andern, die wir gebührend anerkennen, gesellt
sich nun das vorliegende — von Heinrich Vieh off unternommene
Werk. Goethe's Dichtungen vor andern gestatten und begehren, daß
begleitende Commentare ihnen sich anschließen. Auch hat schon eine
ganze Literatur sich um diese Werke hergelagert und wächst von Jahr
zu Jahr. Doch sind die lyrischen Gedichte Goethe's bisher weniger
bedacht worden und hier zuerst unternimmt ein Commentar sie in ihrer
Gesammtheit zu umfassen. Der Ausleger hat die Hülfsmittel, die sich
ihm — nicht immer ausreichend — darboten, fleißig benutzt; es liegt
in der Natur der Sache, daß bei solchen Arbeiten immer ein weites
Feld der Berichtigungen und Ergänzungen offen bleibt; die Fülle des
Lebens glüht hier innerlich und äußerlich so reich und tief, daß noch
in späten Zeiten neue Funken herauösprühen werden. Was bei den
vorhandenen Hülfsmitteln möglich war, ist geleistet worden; das zur
Aufhellung äußerer Umstände und Beziehungen Dienliche ist aus Le¬
bensnachrichten .und literarischer Kenntniß fleißig zusammengebracht;
wo eS den geistigen Inhalt und dessen Deutung galt, ist aus den
Tiefen der Forschung das Nöthige zu Tage gefördert worden. Als
Proben, wie beiden Richtungen hier entsprochen wird, dürfen wir die
den Gedichtet! „Prometheus" und „Ilmenau" gewidmeten Erklärungen
beispielsweise nennen.
Von dem Reichthums, der in den Goethescher Schriften liegt,
hier ausführlich zu reden, ist nicht unser Zweck. Jeder, der diese Ge¬
webe anfaßt, wird bald gewahr, daß ihre Fäden aus der weiten Welt
zusammenlaufen, in die weite Welt wieder hinausreichen. Oft schlie¬
ßen wenige Zeilen große Fernsichten auf; der Name Merck, kaum ge¬
kannt und schon der Vergessenheit anheimfallend, ist durch Goethe's
treues Gedenken zu neuem Leben erwacht, und die dankenswerthen
Bücher von Karl Wagner und Adolf Stahr sind gleichsam als
Commentar jener Stellen in Goethe's „Wahrheit und Dichtung" rühm¬
lich an das Licht getreten. Aber wie auch das Kleinste oft stille Le¬
benskeime birgt, welche der Commentar berufen ist zu erwecken und zu
erhalten, davon wollen wir ein artiges Beispiel nachweisen. Wir lesen
jetzt in Goethe's zahmen A'enim folgende vier Zeilen:
„Was auch als Wahrheit oder Fabel
In tausend Büchern dir erscheint,
Das Alles ist ein Thurm zu Babel,
Wenn es die Liebe nicht vereint "
Wie viel Heller und wärmer, wie persönlich belebter wird aber der jetzt
allgemein gehaltene Spruch, wenn ihn die Erklärung beleuchtet, daß
die zweite Zeile ursprünglich lautete:
„In mancher Sprache dir, du holdes Kind, erscheint,"
und daß im Frühjahr 1805, als Friedrich August Wolf mit sei¬
ner jüngern Tochter „die in allen Reizen der frischen Jugend mit dem
Frühling wetteiferte," in Weimar zum Besuch war, Goethe dem dar¬
gereichten Stammbuche derselben diese Zeilen einschrieb, nicht ohne An¬
spielung, daß die liebliche Tochter durch die Nähe eines solchen Vaters
den Ruf hatte, mancher Sprache kundig zu fein! —
Da dir Mißbrauch mit Fremdwörtern trotz Allem, was dagegen ge¬
schrieben wurde, immermehr überHand nimmt, und auch bessere Schrift¬
steller sich eben keine Mühe geben, ihn zu vermeiden, so wir es sehr
verdienstlich, daß ein so verbreitetes Blatt, wie die Allgemeine Zeitung,
diesen Gegenstand zu Anfang dieses Jahres von Neuem zur Sprache
brachte, und daß die Redaction derselben zugleich daran erinnerte, wie
man sich gewöhnen solle, die Muttersprache auch im täglichen Leben, auch
im Drange des Augenblicks, nicht zu verläugnen. 6u<w cap»r I-ipiiZem
5!!<>jet! «'!ni,>in>t>, ich darf also hoffen, auch mit diesen Bemerkungen ge¬
hört zu werden.
Der gerügte Mißbrauch ist so groß, so gar nicht im Abnehmen be¬
griffen, daß ein Schriftsteller ihn oft desto weiter treibt, je unterrichteter
er ist. Ich greife die erste beste Schrift aus vielen von ähnlichem In¬
halte heraus: „Die protestantischen Freunde. Eine Selbstkritik von Dr.
Aschiesche, evangelischem Prediger, 1846." Sind nicht folgende Stellen,
und das ganze Buch ist in der Weise geschrieben, ein Mißmasch aus allen
Sprachen ? Seite 96: „Der Methodismus reißt die Kirche von derGemeinde
und ihrem Bewußtsein los, indem er die Wiedergeburt isolirt. Statt sie
als den organischen Erfolg der permanenten Pragmatik der Kirche —
aufzufassen, schmilzt (se. schmelzt) sie der Methodismus zu einem mecha¬
nischen Acte ein, der sich forciren läßt; sie wird ein künstlicher, mehr oder
weniger tumultuarischer Verlauf, vermöge dessen durch eine doctrinelle
Manipulation die Gemeinde so lange bearbeitet wird, bis — sie oder daS
Individuum bekehrt, bis sie durch Mystagogen zur Epoptie gelangt ist.^
S. 163: „Die protestantischen Freunde haben ihre Mission erfüllt.
Keine Macht der Erde wird das radiren können, was" u. s. w.
Und diese Schrift ist obendrein als „Sendschreiben" an den schlich¬
ten und ungelehrten Uhlich gerichtet. — Kennt oder beachtet doch Herr
Aschiesche selbst, obgleich er als ein Mann von Kenntnissen und Bil-
dung erscheint, nicht immer die Bedeutung der fremden Wörter, welche
er gebraucht! Er sagt z. B. stets „der antike Supranaturalismus" statt
der alte, denn der antike müßte ein heidnischer, ein griechisch-römischer
sein. Er sagt S. 81: „Die heiligen Schriften des neuen Testaments
sind — doch nur ein Product des heiligen Geistes, der als Factor und
Exponent über der Schrift steht, sie sind also eine Autorität zweiter Jn<
stanz." Aber die zweite Instanz ist bekanntlich grade die höhere und Hr.
Zschiesche läßt also der Schrift gegen seinen Willen den Platz, welchen sie
über dem heiligen Geiste der protestantischen Freunde einnimmt.
Endlich bereichert Hr. Zschiesche, um nur deutsche Wörter vermeiden
zu können, sogar die fremden Sprachen, und bildet für das Deutsche
„Langeweile" ein französisches „Enuuyement."
Wollen wir indeß über dem Balken in dem Auge des Hrn. Aschiesche
und so vieler Andern den Splitter in dem eigenen nicht übersehen, so ist
zunächst nichts entschiedener zu tadeln, als daß wir im täglichen münd¬
lichen und schriftlichen Verkehr uns fast ausschließlich auch solcher Fremd¬
wörter bedienen, für welche die besten deutschen Ausdrücke vorhanden sind,
daß wir Fundamente legen, Caution leisten, Argumente gebrauchen, Mo¬
tive haben u. dergl. in., da doch Niemand etwas gegen: Grundlage
Bürgschaft, Beweisgrund, Beweggrund einwenden kann. Womit können
wir es auch nur entschuldigen, daß wir sagen: negiren und Negation
se. verneinen und Verneinung, Resultat se. Ergebniß, Product se. Er;eug-
niß, Eclat se. Aufsehen, Realität se. Wirklichkeit, Tradition se. Ueberlie¬
ferung, Indignation se. Unwille, Exil se. Verbannung, Illusion se. Täu¬
schung, Activität se. Thätigkeit, Complication se. Verwicklung, graduell
und Differenz (beides in Neander's Kirchengeschichte) se. stufenweise und
Zwistigkeit, Remonstrationen se. Gegenvorstellungen, notorisch se. bekannt
oder allgemein bekannt, risquant se. gewagt, principiell se. grundsätzlich,
arrogant se. anmaßend, franco se. frei und frankiren se. frei machen, Fac¬
tum und factisch se. Thatsache und thatsächlich, induciren se. verleiten,
consisciren se. einziehen, und tausend Anderes? Dem Ausländer sogar,
der unsere Sprache lernt, fällt es auf, und er tadelt uns, wenn er hört,
wie Wir uns amüsiren und uns ennuviren, wie wir Chagrin und Plaifr
haben, da doch sich vergnügen und langweilen, Verdruß und Vergnügen
haben das beste Deutsch seien.
Daß man in dem Bestreben und in der Forderung, die Fremdwörter
zu verbannen, auch schon zu weit ging, und dadurch den Spott und eine
der beabsichtigten entgegengesetzte Wirkung hervorrief, ist bekannt. Wollte
nur Jeder für's erste da, wo, wie bei den angegebenen Beispielen das
deutsche Wort sich von selbst darbietet, das fremde meiden-), so wäre
schon Viel gewonnen, für die schwierigeren Fälle könnte man jedesmal
Demjenigen folgen, der für ein schon herkömmlich gewordenes fremdes
Wort einen glücklichen deutschen Ausdruck fände. Niemand sollte, obwohl
es täglich geschieht, sagen dürfen: der specielle Fall se. der besondere, Nie¬
mand : Detail, detailliren, die sich ohne Mühe deutsch geben oder um¬
schreiben lassen, Niemand: amalgamiren, obgleich es selbst jene unver¬
gleichliche Goethe'sche Epistel entstellt; für Lectüre kann „das Lesen"
oder „die Lesung" nie eine Schwierigkeit machen; objectiv darf aufge¬
geben werden, da selbst Hr. Zschiesche gegenständlich sagt. Statt „ein
cousequenter Mann" wird sich nicht wohl sagen lassen: ein folgerichtiger
Mann, aber Goethe sagt: ein Mann von Folge*); Konsequenz dagegen
kann stets durch Folgerichtigkeit gegeben werden. Ein origineller Mann wird
wenigstens zuweilen durch ein eigenthümlicher Mann ersetzt werden können,
Originalität heron öfter durch Ursprünglichkeit; für Mystifikation, mystisi-
ciren, welche sich durchaus nicht zum Deutschen schicken, haben wir die
alten „Uz, uzen", welche hier in der Gegend noch im täglichen Gebrauch
sind und um so eher in die Schriftsprache zurückkehren können.
Auch Worte, wie Indifferentismus, sind unerträglich mit dem deut¬
schen Ausdruck. Bediente man sich statt dessen nur hartnäckig des fast
nicht gebrauchten Kallsinns, so würde man damit auch bald den jetzt mit
dem Worte Jndifferentismus verwachsenen Begriff verbinden. Warum
soll man nicht sagen: Kaltsinn in religiösen Dingen oder religiöser Kalt"
Sinn se. Jndifferentismus in religiösen Dingen oder religiöser Jndifferen¬
tismus? Oft läßt es sich auch durch Gleichgültigkeit geben; und sind
zwei Ausdrücke für einen nicht ein Vorzug? Das lateinische „Interesse"
wird sich, wie in der Allgemeinen Zeitung richtig bemerkt wurde, nicht
immer entbehren lassen, sehr oft (und in Privatinteresse allezeit) kann
Vortheil an seine Stelle treten^ „Privat" ist nicht mehr zu vertreiben,
und i^ondermann, welches E. M. Arndt noch immer schreibt, mag auch
darum kein Glück gemacht haben, weil es an Sonderling erinnert.
Ueberhaupt können und müssen wir gegen Wörter, welche aus dem
Lateinischen gekommen sind, duldsamer sein, als gegen die aus den leben¬
den Sprachen, mir welchen wir, wie mit der französischen, in tägliche
Berührung kommen. In Bezug auf sie heißt es (auch dies jedoch cum
Al-i>iio Lillis): I^rinciniis okst-r! Aus dem Lateinischen besitzen wir
Wörter, bei welchen, wie bei Wein, welches Deutsche wie Gallier zugleich
mit der Sache von den Römern empfingen, Niemand mehr an den frem¬
den Ursprung denkt.
Wahrend man in Deutschland den 18. October auf eine Weise
feiert, welche mit dem allerorts da neu auflebenden Volksgeiste in einigem
Zusammenhange steht, geht man hier der Sache aus dem Wege und
außer der Parade im Jnvalidenhause erinnerte uns nichts an den Jahrestag
des Ricsenkampfes. Und doch waren zwei schöne Gelegenheiten dagewesen,
wo man dem Volke die Tage des Ruhmes in's Gedächtniß hatte zurück¬
rufen können: man hatte die Feier ebenso an die Enthüllung des Schwan-
thaler'schen Meisterwerks, des neuen Brunnens auf der Freiung, als an
die Einweihung der neuen Kirche auf der Jagerzeile knüpfen können.
Nun wurde aber der neue Brunnen am Abend vorher, als es schon
finster war, in aller Stille und ohne irgend eine Feierlichkeit enthüllt und
wäre nicht die Freiung einer der Häuptplatze Wiens, wo eine immer¬
währende starke Passage stattfindet, die Ueberraschung wäre vollkommen
gelungen. So aber blieb man, als man im Dunkeln doch etwas von
dem Enthüllungsgeschäfte bemerkte, stehen, und es mögen wohl tausend
bis fünfzehnhundert Menschen dagewesen sein, als die weiße Hülle fiel
und das wunderbar schöne Werk, vom weißen Lichte der fernen Gas¬
lampen beleuchtet, sich der erstaunten Menge zeigte. Es war freilich keine
officielle Feier, aber das Bravorufen, Händeklatschen, die freudigen Ausru¬
fungen waren um so wahrer. Jetzt, nach acht Tagen, sieht man den Brun¬
nen noch immer von Hunderten von Menschen umgeben, man kann sich nicht
satt sehen an der Poesie, der Schönheit und Grazie jeder einzelnen Figur,
und wer über die Freiung geht, verweilt gern immer einige Augenblicke
vor dem Kunstwerke, um sich daran zu erfreuen und zu erquicken. Aus
einem Bassin von grauem gesprenkeltem Granit erhebt sich ein Basalt¬
fels (leider nur ein künstlicher), von welchem eine Säule emporsteigt,
deren Aufsatz mit einem Kranze von Eichenblättern umsponnen die Figur
der Austria trägt, während auf dem Basaltfelsen um die Säule herum
die Figuren der vier Hauptflüsse Oesterreichs, Donau, Elbe, Weichsel, Po,
stehen. Es liegt, ohne dem entschieden ausgeprägten Charakter eines je¬
den einzelnen nur im Geringsten zu schaden, eine unaussprechliche Grazie
über diese Gestalten ausgegossen, eine Harmonie und Ruhe, welche auf
den Geringsten im Volke einen sichern Eindruck machen. Man muß
nur das Urtheil der Menge hören, wie Alles einstimmig im Lobe ist,
und der gesunde Sinn unsers Volkes tritt wieder einmal recht erfreulich
hervor. Alle vier Figuren stehen aufrecht da, eine Abweichung von der
allgemeinen Auffassung, Flußgötter oder personificirte Flüsse liegend zu
versinnlichen. Während der Po, eine männliche Figur, ernst freundlich
dasteht und den Schlüssel Italiens emporhebt, hält die Elbe, ein reizen-
deS Frauenbild, eine Muschel, als Symbol ihres Ausflusses ins Meer, in
der einen Hand und stützt sich mit der andern auf eine groteske Gnomen¬
maske (Rübezahl), welche aus einem Felsen emporsteigt. Auch die
Weichsel, eine kräftige, volle, acht sarmatische Weibersigur, das lang über
den Rücken hinabfließende Haar aus dem Kopfe durch ein Netz gehalten
und den Leib von einem Bärenfell umgeben, hält als Zeichen ihrer Ver¬
bindung mit der Nogat einen Schlüssel in der Hand, während die ?^onau,
die plastisch schönste, reizendste Figur der Gruppe, mit etwas gedrücktem
Auge in die Sonne blickt und mit der linken Hand das lange Haar em¬
porhält. Die Figur der Austria im kaiserlichen Mantel, über welchem
prachtvoll das reiche ausgelöste Haar in Locken über den ganzen Rücken
hinabfließt, steht mit der Mauerkrone auf dem Kopfe, den Hals etwas
gebeugt, als blickte sie auf den Platz hinab; die erhobene Rechte hält
den Speer, während die Linke sich auf den Schild mit dem kaiserlichen
Wappen stützt. Von einer Aehnlichkeit dieser Figur mit Maria Theresia,
wie man früher wohl gesprochen, ist hier keine Spur, und strenge ge¬
nommen wäre es auch nicht statthaft gewesen, wenn die Bürger die
Initiative ergriffe:? hätten, der großen Kaiserin ein Denkmal zu errichten,
während der Hof noch nicht daran zu denken scheint. Die Kosten
dieses schönen Denkmals betragen auffallend wenig, etwas über 53,(100
Fi., während jenes in der Burg, welches freilich viel kolossaler ist, über
480,l)l)t> Fi. betrugen, aber während der deutsche Meister Schwanthalec
auf alles Honorar verzichtete und sich nur die Modellkosten mit 3750
Fi. erstatten ließ, bekam der Ritter Marchese ein Honorar von IW,09l)
Fi. Von Seiten der Bürgerschaft ist beschlossen, Schwanthaler das Eh¬
renbürgerrecht und die große goldene Salvatormedaille, sowie von der
Denkmünze auf die Erleuchtung des Brunnens 2> Exemplare in Gold
und 40 Exemplare in Silber zu übersenden; ob der Hof, dessen Haupt¬
stadt der große Künstler mit einem so herrlichen Werke geschmückt, etwas
für ihn thun wird, davon hört man noch nichts. Wie bei uns aber immer
eine kleine Krähwinkelei mit unterlaufen muß, so ist es auch hier der
Fall, das Zollamr begehrt nun von der Stadt einen Eingangszoll von
9000 Fi. für die Figuren, in der Stadt erzählt man die weisen Aoll-Thebaner
hätten die Statuen unter der Rubrik „Quincaillerien-Waaren" gesetzt! —
Der Bürgermeister Czapka hat mit diesem Brunnen einen nicht zu be¬
schreibenden Sieg in der öffentlichen Meinung errungen, denn alle jene
Stimmen, welche ihn so hart angriffen, daß er das Werk nicht von ei¬
nem einheimischen Künstler ausführen ließ, sind nun verstummt, man ist
nun durch den Augenschein überzeugt, daß die hiesige Kunst auch nur
etwas Aehnliches nicht zu leisten im Stande gewesen wäre. Es ist vor
einigen Wochen ein neuer Brunnen in der Vorstadt Mieder errichtet
worden, freilich viel kleiner als dieser neue, aber dafür um fo plumper,
poesieloser, und doch hatte man mit der Ausführung die hier sehr renom-
mirten Architekten van der Null und von SiccardSburg, und den besten
hiesigen Bildhauer, Rammelmayer, beauftragt. Und blicken wir auf ein
anderes Kunstwerk (?), welches in diesen Tagen ebenfalls dem Publicum
übergeben wurde, die neue Kirche in der Zägcrzeile, so muß man geste-
hen, daß sowohl der Architekt, Professor Rößner, als die Maler Führich,
Kuppelwiescr und Schulz, welche das ganze Innere al fresco ausmalten,
das Möglichste thaten, um den harmonischen Eindruck eines vollendeten
Kunstwerks, eines in allen Theilen gleichmäßig wirkenden Gotteshauses
nicht zu realistren. Vorzüglich Fühuch's Fresken sind, wenn auch in der
Zeichnung nicht mißlungen, so doch in Hinsicht der Ausführung
unendlich tief unter seinem Rufe stehend, und die ganze Kirche mit ih¬
rem Säulengang, den gemalten Wänden und dem mangelnden oder wenig¬
stens sehr beschränkten Lichte, ist grade nicht geeignet, die Idee eines Gottestem¬
pels, und vorzüglich eines katholischen Tempels, zu verwirklichen. Man wollte
einmal ein Werk, ganz von Inländern hergestellt, errichten, hier ist es.
Vielleicht, daß dieser mißlungene Bau aber doch das Gute hat, daß man
endlich zur Erkenntniß kommt, wie viel in dieser Hinsicht bei uns noch
zu thun übrig ist, vielleicht, daß dieses die bereits beschlossene Regenera¬
tion unserer Akademie beschleunigt, denn unsere Kunst hat seit zwei Jah¬
ren so viele Niederlagen erlitten, daß man wohl endlich da, wo es nö¬
thig ist, zur Besinnung gekommen sein kann.
Im nächsten Jahre sollen zwei neue öffentliche Bauten unternom¬
men oder vielmehr gleich in Angriff genommen werden, welche für Wien
ein unabweisbares Bedürfniß geworden sind, nämlich ein neues großes
Bürgerspital und ein Irrenhaus. Von ersterem sind bereits die Pläne
fertig und es soll für die Zahl von Pfründnern eingerichtet wer¬
den; ob aber der Platz, den man dazu erwählte, neben dem Gloggnitzer
Bahnhof ein günstiger ist, möchte ich bezweifeln. Wo soll die für Krank«
oder Kränkliche so nothwendige Ruhe in der Nähe eines Bahnhofs her¬
kommen, wo, vorzüglich im Sommer, bis spät in die Nacht fast stünd¬
lich Züge kommen und abgehen, dann das ewige Hämmern in den Ma¬
schinenwerkstätten, der Kohlendampf und all' die kleinen Unannehmlichkei¬
ten, die selbst den gesunden Reisenden, der sich nur eine kurze Zeit bei
dem Bahnhofe aufhält, so sehr molestiren. Freilich liegt der Bahnhof
sehr hoch, und hat also schon im Wesentlichen den Vortheil einer gesun¬
deren Luft gegen die Stadt, aber dieser Vortheil wird durch die eben be¬
rührten Nachtheile wohl überwogen. Was das Irrenhaus betrifft, so
spricht man davon, als von einer ausgemachten Sache. Leider sind aber
die Verhandlungen darüber weder bei der Hofkammer noch im städtischen
Amte so weit gediehen, daß man den neuen Bau als ganz sicher ange¬
ben könnte. Und doch ist der Zustand des hiesigen Irrenhauses ein sol¬
cher, daß er nicht allein gegen die Einrichtungen ähnlicher Anstalten in
andern großen Städten, sondern selbst gegen die Irrenhäuser in man¬
chen Provinzstädten unendlich zurücksteht. So abschreckend der hiesige
„Narrenthurm", ein unförmlicher, runder, fester Thurm von Außen ist,
ebenso unfreundlich, düster und an die fürchterliche Bestimmung erinnernd
ist er auch im Innern. Nicht allein, daß zu wenig Zellen für die An¬
zahl der Kranken sind und also in mancher Zelle mehrere beisammen sein
müssen, sind diese Zellen auch zu beschränkt und schon der Bau derselben
ist nicht geeignet, jene Reinlichkeit und jenes heitere, wohnliche We-
sen ihnen zu verleihen, welches für Geisteskranke so unendlich wohl-
thätig ist. Die Regierung hat nun freilich bereits seit einiger Zeit, eben
weil sie die Unzweckmäßigkeit der großen öffentlichen Anstalt einsah, die
Bewilligung zu mehreren Privat-Verpflegungsanstalten für Irrsinnige
gegeben und es befindet sich auch eine solche recht gut eingerichtete
in der Nahe der Stadt, aber leider ist damit noch nicht die Nothwendig¬
keit eines Anbaues und einer Vergrößerung der Staatsanstalt weggefallen.
Es ist eine Appellation der Humanität an die Regierung, wenn man sie
zum kräftigen, raschen Einschreiten auffordert.
Vor einigen Tagen ist der 71 Jahre alte Peter von Boor, der
wegen Banknotenverfalschung verurtheilt war, im Zuchthause gestorben.
Er soll daselbst mit Härte behandelt worden sein und es circuliren
in dieser Hinsicht Gerüchte, wobei ein ziemlich hochgestellter Mann sehr
compromittirt erscheint, und welche einen Beitrag zu den Al^stvrvs et»
Vienne geben könnten. Ein hoher Beamter der Nationalbank, erzählt
man — habe seinen Verwandten bei der Bank zu placiren gesucht,
und es fand sich um so leichter eine Gelegenheit, als dieser sich mit
der Anfertigung einer neuen Art von Banknotenpapier beschäftigte,
welche man dann dem Staate vorlegen wollte. Schon die wahrend der
Untersuchung von Boor hin und wieder gemachten Aeußerungen wur¬
den bestens benutzt, aber als eine Papierprobe fertig war, begab sich je¬
ner hohe Beamte zu Boor in's Gefängniß, legte ihm die Proben vor
und fragte ihn um seine Meinung. Boor sah das Formular an und
erklärte, binnen zwei Tagen es nachmachen zu wollen. Nun versprach
jener Beamte dem Boor nicht allein mehr Freiheit, sondern sogar einen
Strafnachlaß zu erwirken, wenn er ihn in seine Geheimnisse einweihen
wolle. Boor, im Vertrauen auf das Wort dieses Mannes, that es und
kaum war dieser im Besitze der Geheimnisse, welche er nun dazu benutzte,
um sie als von seinem Verwandten erfunden auszugeben und diesem die
Stelle zu sichern, als Boor strenger und schärfer als bisher gehalten
wurde und auch in der That nicht lange im Gefängnisse lebte. Man
erzählt sich nun die vorliegende Geschichte mit verschiedenen Varianten
und Ansätzen und wie bei allen Gerüchten solcher Art, wo die Phantasie
freien Spielraum hat, ist wohl kaum der zehnte Theil, ja vielleicht das
Ganze unwahr. Nichts desto weniger kann es nicht schaden, wenn man
höhern Orts die Volksgerüchte erfährt. Vielleicht dürften Nachforschun¬
gen nicht überflüssig sein. Die Demoralisation ist hier wie überall im
Steigen. Nahrungslosigkeit und Theurung häufen sich auf eine fürch¬
terliche Weise, man merkt es nicht, daß in demselben Maße Ver¬
gnügungssucht und Verschwendung abnehmen; aber bezeichnend ist es,
daß vor wenigen Tagen an einem Nachmittage 14 Kaufleute sich insol¬
vent erklärten, eS ist bezeichnend, daß dem Criminalgerichte über hundert
Wechselverfälschungen jetzt vorliegen, bezeichnend aber auch, daß so eine Menge
Quartiere hier frei stehen. Es ist dieses ein Beweis, daß der Zudrang nach
Wien abgenommen, weil die Ernährungsschwierigkeit hier viel größer geworden.
Hat man doch vor Kurzem eine förmlich organisirte Diebesbande entdeckt,
meist aus Burschen von 8 — 12 Jahren bestehend. Das sind traurige
Aspecten für den Winter und für die Zukunft unserer Bevölkerung.,
In unserm Staats- und Kunstorganismus haben sich in letzter Zeit
mehrfache Personalveranderungen gedrängt. Daß der Justizminister Herr
von Könneritz sein Portefeuille niedergelegt hat, ist theils zu bedauern,
insofern als er mit entschiedenem ministeriellen Talente eine allseitige
Kenntniß der Rechtswissenschaft und gegenwärtigen Rechtsgestaltung ver¬
band, theils aber ist dieser Schritt erfreulich, insofern er eine unum»
wundere Anerkennung des konstitutionellen Princips enthält. Herr von
Könneritz vermochte nicht, seine Ansicht über Oeffentlichkeit und Münd¬
lichkeit der Strafrechtspflege den Kammern gegenüber aufrecht zu erhal¬
ten, und er verließ einen Posten, auf welchem er etwas mit seiner in¬
nern Ueberzeugung Unvereinbares in Vollzug zu setzen genöthigt worden
wäre.
Da Ihnen schon von anderwärts über Schmorr von Earolsfeld be¬
richtet worden, so kann ich nur auf Anlaß feines hiesigen Empfanges die
Bemerkung nicht unterdrücken, daß es doch ein ganz eignes Ding um
den Kunstenthustasmus ist. Noch ist es kein Jahrzehnt, daß in der Düs¬
seldorfer Schule eine Mefstaserscheinung erblickt ward, daß man die Mei¬
ster, wie einen Schadow, Bendemann, Lessing, über die Sterne überhob,
nichts sehen wollte, als Düsseldorfer Bilder. Und ebenso eifrig ist man
jetzt bemüht, diese Schule auf Kosten der Münchener herabzusetzen, ihr
alles das als Fehler vorzuwerfen, was man früher als schön und un¬
vergleichlich erkannte! Das ist die fliegende Hitze eines Strohfeueren¬
thusiasmus, der sich am Ende doch selbst nicht dessen klar bewußt ist,
was er will.
öl. Köchly, dessen Name auch bereits in den Grenzboten auf Anlaß
der Philologenversammlung in Jena genannt wurde, hat hier, wo er als Lehrer
an der Kreuzschule angestellt ist, einen Verein zur Gymnasialreform in das Le¬
ben gerufen, und bezweckt eine Gelehrtenschule zu begründen, in welcher
die Vorbildung zur Universität nicht auf dem bisherigen Wege, durch
gelehrte Wälder eines tiefounklen Formencultus geführt, sondern wo den
für das Wirken im Leben berufenen Jünglingen das Ziel ihrer Bahnen
in dem freien Sonnenlichte der Gegenwart gezeigt werden soll. Und ob
es wohl Zeit ist, daß die Scholastik dem Flügelschlage der Zeit weicht!
Wir haben übrigens in Dresden bereits eine Gelehrtenschule, in welcher
die Emancipation von der starren Fürstenschulentheorie schon vorlängst
ins Leben getreten, als zweckmäßig und heilsam erkannt worden ist —
nämlich die Erziehungsanstalt des Geheimen Schulrath Dr. Blochmann,
vereint mit dem Vitzthumschen Geschlechtsgymnasium, deren Ruf aber lei¬
der! wohl im Auslande verbreiteter ist, als im Inlande. In diesem
Institute werden dem Studium der Geschichte, der Mathematik, der Li¬
teratur, der neuern Sprachen, nicht nur dem Namen, sondern auch der
Sache nach, wenigstens gleiche Rechte mit dem der alten Sprachen ein¬
geräumt, und für den Lehrcursus über diese gilt in den obersten Classen
.das Princip eines Auffassens der römischen und griechischen Literatur im
Geiste der Antike, nicht das eines conjecturirenden Sprachformalismus.
Daß die Herren Schulmänner doch so selten vergessen wollen, daß sie
nicht nur Philologen, sondern auch Juristen, Mediciner, Theologen, kurz
Männer für die weite Welt, nicht für die enge Schule vorzubilden ha¬
ben! Von allen Seiten wird dem Köchlyschen Unternehmen, als einem
durchaus zeitgemäßen, Glück und Gedeihen gewünscht.
In diesen Tagen ist auch eine wichtige Entscheidung für das hiesige
Theater gefallen. Die Direction mag denn doch wohl zu der Ueberzeu¬
gung gelangt sein, daß die nach Ed. Devrients Rücktritt von der Ober¬
regie eingeführte doppelköpfige Regie wie alles Doppelköpsige ein querköpfi¬
ges Unding ist; wenigstens stachen die „Fortschritte auf der Bahn des
Rückschritts" gegen die glänzenden Resultate der Devrient'schen Periode
zu grell ab, als daß sie nicht selbst einem nur auf der Stufe des Cassen-
interesses Verharrenden hätten in die Augen springen müssen. So ist
denn >.),-. Carl Gutzkow als Dramaturg beim hiesigen Hoftheater ange¬
stellt worden: der Name deö Gewählten beweist, daß die Wahl eine der
Bedeutung des Kunstinstitutes angemessene ist. Es würde voreilig sein,
über die Vortheile schon jetzt zu sprechen, welche das Theater von dieser
Oberleitung zu erwarten hat: der Wirkungskreis, in den Gutzkow hier
eintritt, ist, was namentlich dessen praktische Ausführlichkeit anlangt, für
ihn jedenfalls ein so durchaus neuer, daß wohl erst nach Jahresfrist ein
einigermaßen begründetes Urtheil darüber zu sprechen ist, ob die getroffene
Wahl eine glückliche war oder nicht. Aber von einer andern Seite kön¬
nen wir Gutzkow's Berufung nur als ein erfreuliches Ereigniß für Dres¬
den bezeichnen: seine Persönlichkeit kann einen Kern für ein so lange
schon vermißtes literarisches Streben und Leben bilden. Von seinem Uriel da
Costa, welcher noch im Laufe dieses Jahres zur Vorstellung kommen
wird, verspricht man sich Großes. Vor der Hand wird alle Thätigkeit
des Theaters auf Laube's „Karlsschüler" concentrirt, welche auch hier ein¬
mal allgemein an unsers Schiller's Geburtstag erinnern sollen. Ich be¬
halte mir vor, über beide Stücke Ihnen ausführlich zu schreiben.
C. v. Holtev hat hier dreimal öffentlich gelesen; Ed. Devrient hat
begonnen, einem Kreise seiner Freunde dramatische Dichtungen zu lesen
und wird damit in den bevorstehenden Wintermonaten fortfahren; auch
die Abonnementsconcerte unter Ferdinand Hiller's Leitung beginnen wieder
mit nächstem Monat; kurz überall, allüberall Kunst! Endlich zeigen sich
auch dem erwartungsvollen Dresdner Anfänge zu dem Museumbau, die
denn zugleich die Gewißheit geben, daß die Zweifel, welche neuerdings
über die Wahl des Bauplatzes angeregt worden sind, keinen Anklang, ja
sogar, wie man hört, sofortige Beseitigung durch allerhöchste Hand gefun-
den haben. So wird denn das Museum an der nach dem Theater zu
gelegenen Seite des Zwingers aus dem Boden des italienischen Dörfchens
Es wird Ihnen und Ihren musikalischen Mitbürgern nicht ohne
Interesse sein, von einer executirten Aufführung der Kompositionen des
Fürsten Nadziwill zu Goethe's Faust in den Räumen der Singakademie
zu vernehmen, da Sie ja in Ihrem kunstsinnigen Leipzig den Meister
besitzen und warm verehren, das unter den jetzigen Umstanden unserem
berühmten Gesangsinstitut seinen frühern Ruhm allein vindiciren könnte.
Es ist in der That befremdend, daß Berlin die einzige Stelle, die es
dem Schöpfer des Paulus und Sommernachtstraumes mit würdigem
Stolze anbieten durfte, ihm nicht nur vorenthielt, sondern auch Leitern
fernerhin übergab, die selbst die geringen Aenderungen, welche durch Men¬
delssohn's Einfluß momentan hervorgerufen wurden, wieder einschlummern
ließen. Gewisse Animalia verfallen nach dem Willen des Weltschöpfers
um diese Zeit in einen höchst angenehmen und nützlichen Winterschlaf.
Leider wahrt dieser Austand bei unserer berühmten Akavemie das ganze
Jahr hindurch und macht sich den Naturkundigen nur in den fünf Win¬
termonaten durch fünf lethargische Lcbensandeutungcn besonders interessant,
die man in Berlin mit dem Kunstausdruck „Abonnementsconcerte der
Singakademie" bezeichnet hat. Sie wissen, daß dieses Institut wesent¬
lich in das geheimste Leben der vornehmern Berliner Familien eingreift.
Wie Ibykus mit geheimnißvollen Schauer in Poseidons Fichtenhain tritt,
so führt die Berlinerin ihre Töchter in diese heiligen Hallen, in denen
sie selbst einst ihre Stimme erschallen ließ und ach! vielleicht auch noch
erschallen laßt. So hat sich naturgemäß die Akademie in zwei Legionen
getheilt: in die große Akademie, d. h. in jene Prätorianer, die allein
bei Aufführungen mitwirken und sich durch Reife der Jahre wie der
Kunstbildung auszeichnen, und eine sogenannte kleine Akademie, die,
wie ich Ihnen unter dem Siegel des Briefgeheimnisses mittheile, sich
selbst mit dem zarten und vielversprechenden Namen „Küchlein" belegt
hat und bei gereiften Jahren die Reihen der ersten Classe rekrutirt. Die¬
ses jüngere hoffnungsvolle Geflügel gewöhnt sich in besondern Zusammen¬
künften die Untugend des Detonirens ab und ernährt eine nicht unbe¬
trächtliche Anzahl hiesiger Gesanglehrer. Hieraus wird ersichtlich, welch
eine Menge Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Liebhaber und Gelieb¬
ten bei den Uebungen und Aufführungen der Sänger Spannung und
Theilnahme zeigen. Daraus entsteht dann aber für den armen Vorstand
die nicht kleine Verlegenheit, an Tagen, wie der gestrige, wo ein entschei¬
dender Schlag geführt werden soll: Raum zu schassen. Wahrend andere
Concertgeber, wie z. B. der arme Nagiller, der sein Concert am Mon¬
tag fast verödet sah, nicht wissen, wie sie die großen Säle mit Musikern
und Zuhörern bevölkern sollen, hat sich die Direction gezwungen gesehen,
eine Anzahl Damen der ersten Classe (schrecklich, aber wahr!) von der
Ausführung auszuschließen. Selbst Billets zum Raum der Zuhörer sol¬
len nicht, wie billig, verabfolgt sein. Wenn der Vorstand auch vollkom-
men gerechtfertigt erscheint durch die Nothwendigkeit, mittelst Verwerthung
der numerirten Plätze eine Erhöhung der Einnahme zur Deckung der
Kosten zu erzielen, hat der genannte Schritt doch eine bedeutende Gäh-
rung hervorgebracht und die Zahl der Mißvergnügten beträchtlich ver¬
mehrt. Natürlich geht es jetzt über den armen Vorstand her, der schon
an und für sich seine liebe Noth Mit dem Einstudiren, mit alle den
schnellen Tempis, mit krankgewordenen Deklamatoren und jähzornigen
Contrabässen hat. Noch besitzen wir ein Institut, genannt philharmoni¬
sche Gesellschaft, das sich befleißigt, im Instrumentalgcbiet ein Pendant
der Singakademie zu werden. Dieser Dilettantenverein greift energisch
und kräftig, vielleicht nur allzukräftig, von seiner Seite bei Aufführun¬
gen ein. Solisten unter den Blase-Jnstrumenten gibt die Kapelle dazu
her, und es bleibt dem Zuhörer die angenehme Aufgabe, durch Heraus¬
lauschen der größern Discretion seinen musikalischen Scharfsinn in Un¬
terscheidung der Künstler und Dilettanten zu üben. Wenn schon diesem
Tonclubb meistens jugendlicher, ja theilweise pueriler Individuen energi¬
sche Kraftäußerungen nicht verübelt werden können, um so weniger, ja
seltener dergleichen ihm öffentlich gestattet werden, bedürfte es doch
gestern der ganzen Grandezza des Dirigenten und feiner weisen Mäßi¬
gung der Tempi, um der vorschnellen Jugend einen Damm entgegenzu¬
stellen. Nichtsdestoweniger fand man im Ganzen die Aufführung zufrie¬
denstellend — man ist hier nicht wählerisch. Der große Musard, Gebie¬
ter von zwölf Contrabässen, und der kleine Gertl in der Königstadt, ein
Fabius Cunctator, erziehen die Berliner jetzt so, daß ihnen das Rumpeln
eines bösartigen Basses süß und ein schneckenartiges Allegro sogar an¬
genehm vorkommt. Genug, die Compositionen zum Faust, an und für
sich Sprößlinge eines dilettantistrenden, wenn schon begeisterten Musi¬
kers, wurden wieder dilettantisch und begeistert vorgetragen. Daß für
ein verwöhnteres Ohr eigentlich Fehlgriff über Fehlgriff in Auffassung,
Erecution und Direction vorkam, dürfte hier in Berlin nicht erlaubt fein
zu sagen; ich schreibe es Ihnen daher nach Leipzig mit der Bitte, den
großen Componisten des Paulus zu ersuchen, sich für feine nächste An¬
Die Gcenzboten enthielten vor einiger Zeit einen Aussatz: Die
Heidelberger Historiker. Da Schlosser unter diesen obenan steht und die
übrigen, auch Gervinus, größtentheils von ihm ihren Ausgangspunkt ge¬
nommen haben oder nehmen, so dürften einige Bemerkungen über die
von Dr. Krieg? in Frankfurt für's deutsche Volk bearbeitete Weltgeschichte
auch für das größere Publicum von Wichtigkeit sein.
'
Die Ventersche Weltgeschichte, so vortrefflich sie auch geschrieben war,
ist theils veraltet, theils, da viele Köche den Brei verderben, durch die
verschiedenen Ueberarbeitungen, welche sie erfahren, ungenießbar geworden,
die Rotteck'sche konnte, weil ein gar zu einseitiger Standpunkt darin
durchgeführt war, in Deutschland nicht durchdringen, also ist eine volks¬
tümliche Weltgeschichte ein wirkliches Bedürfniß. Ist aber die Schlosser-
Kriegk'sche Arbeit geeignet, dies Bedürfniß zu befriedigen, verdient sie den
Namen einer populairen Geschichte, einer Geschichte für's Volk? Wir
müssen dies leider verneinen und bedauern, daß Schlosser sie beharrlich
für eine solche ausgeben mag, daß der Verleger verleitet wurde, eine auf
den größten Absatz berechnete Auslage davon zu veranstalten und, um
diese abzusetzen, alle die Mittel, als Anpreisungen durch Literaten und
pomphafte Ankündigungen, anzuwenden, gegen deren Gebrauch von An¬
dern Schlosser sich so oft und so stark erklärt hat. Nichtsdestoweniger
ist der gewünschte Zweck nicht ganz erreicht, und man versucht jetzt die
Menge der übrig gebliebenen Exemplare unter dem Aushangeschilde eines
„Zweiten unveränderten Abdrucks" an den Mann zu bringen. Dies
Mittel ist nicht zubilligen, wir müssen es sagen, wie sehr uns der Verleger
auch dauert, besonders wenn es wahr wäre, daß er für eine so bequeme Be¬
arbeitung von Werken, die schon sein Eigenthum waren, ein unverhält-
nißmäßig hohes Honorar zu zahlen habe. Der Vortheil Weniger darf
dem Interesse Vieler nicht vorgehen, und bei aller Anerkennung des frag¬
lichen Werks glauben wir doch dazu beitragen zu müssen, daß es nicht
in die Hände solcher Unvermögenden gebracht werde, die zugleich unfähig
sind, es zu benutzen. In zwei Beurtheilungen ist bereits auf die Unzu¬
länglichkeit desselben als Volksschrift aufmerksam gemacht worden, von
A. Boden in Ur. 187 der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung und
kürzlich auch in den Brockhausischen Blättern sür literarische Unterhaltung.
Da die letztere offenbar von einer der ganzen Schlosser'schen Richtung
und Schule feindlichen Seite ausgeht, so übergehen wir sie und theilen lie¬
ber das Hicrhergchörige aus der erstern mit, in welcher zwar gleichfalls
die „Selbstüberschätzung" Schlosser's und seiner Schule leise gerügt wird,
die aber seinen Verdiensten volle Anerkennung zollte und das fragliche
Werk nicht überhaupt, sondern nur in Bezug auf den Zweck tadelt, wel¬
chen es durchaus erfüllen soll. Boden sagt u. A.:
„Es würde überflüssig sein, in einer gelehrten Zeitschrift mit der
Anzeige dieser „Weltgeschichte für das deutsche Volk" eine Würdigung
der allgemein anerkannten Verdienste zu verbinden, die sich der mit sol¬
cher Rüstigkeit fortwirkende Geheimerath Professor Schlosser zu Heidel¬
berg als Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber erworben hat ... .
Inwiefern jedoch die Schlosser'schen Arbeiten zu einer „Weltgeschichte
für's Volk" geeignet seien, inwiefern die letztere als solche uns
mehr oder weniger gelungen scheine, darüber wollen wir, nachdem wir sie
näher eingesehen, unsere Meinung offen aussprechen. Die „Einleitende
Vorrede des Verfassers der Weltgeschichte" gibt auf befriedigende Weise
den Plan an, nach welchem diese geschrieben wird, und wir können den
Bedacht und Fleiß des Verfassers wie des Bearbeiters nur loben. Aber
wie vielen Lesern eine Schlosser'sche allgemeine Weltgeschichte von mäßi¬
ger Vändezahl in möglichst populairer Form auch angenehm sein wird,
wie sehr also das Unternehmen in dieser Beziehung für erwünscht gelten
kann, so scheint mir doch eine solche für's Volk oder, nach den Ankündi¬
gungen der Verlagshandlung und nach der Stärke der veranstalteten Aus¬
gabe, für möglichst viele Abonnenten bestimmte Arbeit kein so glücklicher
Gedanke zu sein. Man wird mir hierin gewiß gern beistimmen. Die
vor uns liegenden Bande umfassen die Geschichte der alten Welt und
geben unter Benutzung des ersten Theiles der Weltgeschichte, wenn auch
abgekürzt und zusammengezogen, die an dessen Stelle getretene Universal-
historische Uebersicht im Wesentlichen, und so viel als möglich wörtlich,
wieder. Wer nun die letztere kennt, wird mir zugeben müssen, daß sie
mit ihren geistvollen Darlegungen, z. B. der griechischen Cultur, Poesie,
Philosophie und Geschichtsschreibung allenfalls für den unterrichteten Kauf¬
mann, den studirten Geschäftsmann, aber vielleicht schon nicht für den
Volksschullehrer, geschweige für das Volk und die Jugend, welche doch
aus einer „Weltgeschichte für's Volk" ihre ersten Geschichtskenntnisse
schöpfen soll, zurecht gemacht werden könne. Dazu setzt sie viel zu viel
voraus und Alles, was zur Ausfüllung dieser Lücke bei dem vorliegenden
Werke wie unwillig eingeschaltet wird, ist für den Gebildeten störend und
für den Ununterrichteten ungenügend. Dies tritt besonders auffallend in
der Geschichte der Griechen hervor. Gewiß mußten in einer Weltge¬
schichte für's Volk die bekannten homerischen und herodot'schen Geschich¬
ten in der bisher üblichen oder wo möglich in besserer Weise nacherzählt
werden. Da dies aber nicht zum Tone und Inhalte der Universalhisto¬
rischen Uebersicht paßt, so unterblieb es. Aber daß es unterbleibt, ist na¬
türlich nicht minder drückend für die Verfasser einer populairen Weltge¬
schichte, sie sehen sich also genöthigt und lassen sich herbei, gelegentlich zu
sagen, daß die Cyklopen eine Art Halbgötter gewesen, und einige home¬
rische Helden mit ihren Schicksalen und die zwölf Arbeiten des Herkules
und Aehnliches so trocken und so kurz als möglich herzuzählen. Oben¬
drein sind diese Einschiebsel nicht ohne Unrichtigkeiten.
Der etwas auf die Spitze getriebene Vorwurf, der in unserer heu¬
tigen Nummer gegen den trefflichen Grillparzer erhoben wird, weil er
nicht in seiner Jugend auswanderte und seiner Muse die Freiheit gerettet
hat, wird Jedermann, der den edlen und reinen Charakter dieses Dichters
und die Verhältnisse, unter denen er zuerst aufgetreten ist, näher kennt,
ziemlich ungerecht finden. Man kann Grillparzer bedauern, daß sein
seltner Genius nicht in freier Luft sich entfalten konnte, aber anklagen
darf man ihn deshalb nicht. Die Liebe zur Heimath hat eine ebenso
große Berechtigung wie der Drang zur Poesie; wenn alle deutsche Schrift¬
steller, die ihre Gedanken tagtäglich unter dem Messer der Censur bluten
sehen, auswandern sollten, dann würden bald die Eunuchen des Rheini¬
schen Beobachters und Consorten sich für die Könige deutschen Schrift-
thums proclamiren lassen. Oesterreich ist noch um viele Grade schlimmer
daran als Deutschland, aber wer will es leugnen, daß die Gegenwart
Grillparzers in seinem Vaterlande vielen edlen jüngern Geistern ein Sporn
und eine Aufmunterung wurde, sich von der Cloake niederer Possenreißerei
loszusagen und den Weg zur Poesie einzuschlagen. An Grillparzer haben
sich Grün und Lenau herangebildet; Halm und manche andere schwächere
dramatische Potenzen, die aber nichtsdestoweniger das Edle anstrebten, hat
die Nahe Grillparzers in ihrem Thun ermuntert und aufrecht erhalten.
Vielleicht wäre der Geschmack in Wien längst eine vollständige Beute
Nestrov's und Seinesgleichen geworden, wenn Grillparzer nicht dort lebte.
Zudem war zur Zeit, als Grillparzer auftrat, für den aus Oesterreich
flüchtenden Schriftsteller der Weg noch hundertmal dornenvoller. Ist
noch heute, wo Eisenbahnen und Buchhänolergclegcnheiten den persön¬
lichen und literarischen Verkehr vielfach erleichtern, der nach Deutschland
zur freiern Geistesthätigkeit sich sehnende österreichische Schriftsteller durch
unzählige Querbalken und Polizeigewalten gehemmt — ist noch heute der
in Deutschland lebende Oesterreicher in dem Momente, wo ihm seine heimath¬
liche Behörde die Verlängerung des Passes verweigert, gezwungen, von Ort zu
Ort umherzuirren und ohne feste Wohnstätte bald dort bald da auf kurze
Fristen sein Heil zu suchen: wie erst zu jener Zeit, wo ein Adelsbrief
viel leichter zu erlangen war, als ein Paß in's Ausland und wo die
Kettenbrücken von Munkacz und Spielberg viel rascher hinab und hinauf
rollten, um jedes freie Wort mit langjährigem Kerker zu strafen. Das
Princip hat sich seit jener Zeit wenig geändert, aber die Praxis hat wenigstens
einen Theil ihrer Formen aufgegeben und ein österreichischer Schriftsteller,
der den Muth hat für seine Ueberzeugung zu leben, ist heute so glücklich,
blos seine persönliche Ruhe, sein eignes Schicksal in die Schanze schlagen
zu dürfen; er braucht wenigstens nicht für die Ruhe und das Glück der
Seinen daheim zu zittern, wie in frühern Jahren. Grillparzer aber hatte
eine alte Mutter, deren einzige Stütze und Ernährer er war!
Indessen haben wir bei dieser Gelegenheit einen Blick auf das kleine
Häuflein österreichischer Schriftsteller geworfen, die gezwungen oder frei¬
willig ihren Aufenthalt außerhalb ihres Vaterlandes nahmen und die
Zahl derselben zeigte sich zu unserem eigenen Erstaunen viel größer als
man wohl vermuthet. Fast jede Provinz des Kaiserstaates hat ihr Con¬
tingent dabei. Wir wollen hier blos Diejenigen aufzählen, deren Namen
uns bekannt sind, und man wird sich gewiß wundern, wie zerstreut und
zersprengt dieses kleine Häuflein von Männern ist, deren Thätigkeit und
Kräfte ihr Vaterland so trefflich brauchen könnte. Da sind die Oester¬
reicher Dukter in Darmstadt, D r ax l e r - M a n fr ed in Wiesbaden,
Francis Grund in Philadelphia (bis vor einigen Monaten nordameri¬
kanischer Consul in Antwerpen, einer der ausgezeichnetsten Publicisten
deutscher und nordamerikanischer Presse, Verfasser der bei Cotta erschei¬
nenden Werke.- Die Aristokratie in Amerika — das Untersuchungsrecht
u. s. w. und der Hauptcorrcspondent der Allgau. Zeitung aus Amerika
wo er seit 18 Jahren, nachdem er von Oesterreich auswanderte, Bürger
ist), Johannes Nordmann in Leipzig (von dem soeben das „Novellen¬
buch" und ein Band Gedichte erschienen), Pipitz in Zürich (Verfasser
des Buches: Die Jacobiner in Wien) Herrmann Rottet in Stuttgart,
Heinrich Börnstein in Paris; — die Tyroler: Hormayer in Bre¬
men, Fallmerayer in München, Fenner v. Fennenberg in Ulm,
Schon, berg-Gervasi in Berlin; — die Mähren: Dr. Schöll (Bi¬
bliothekar) in Weimar, Steinschneider (Philolog. Schriftsteller) in
Berlin, der Czeche Celakowsky (in Breslau?); — die Deutschböhmen:
Moritz Hartmann, Karl H erlo ß so h n, I. Kuranda in Leipzig, Al¬
fred Meißner in Dresden, Franz Schuselka in Hamburg, Spor¬
schi l in Leipzig;—die Ungarn: Karl Beck in Berlin, Eduard M a u t r e r
(„Gedichte" bei Georg Wigand) in Leipzig, Tertzky in Zürich (Verfasser
der Romane „Adolay", „Tory", „der Zeitkrüppcl" unter dem Pseudonym
Anton Vilnay), Johann Hör.irik in Tübingen (Verfasser der
Schrift Kampf mit Hierarchie und Kirche in den Jahren 1841—45);
— der Gallizier Aadwarnackv in (Paris, ständiger Mitarbeiter des
Journal et« ävliitts); — die Lombarden: Graf Arivabene in Brüs¬
sel (Oeconomik not"ni(juv etc.), der Triestiner Debreau in Paris
(Hauptmitarbeiter an dem Journal I-r nresse). Und noch manchen an¬
dern Namen könnten wir nennen, wenn wir nicht durch ein kürzliches
Beispiel von Neuem die Erfahrung gemacht hätten, welche nothwendige
Pflicht es für die deutsche Journalistik ist, bei anonym erscheinenden
Schriften österreichischer Autoren, die sorgsamste Discretion und Vorsicht
auch dann noch zu beobachten, wenn der Name des Verfassers sogar
schon ein lautes Geheimniß. Leicht wird das gedruckte Wort zu einem
Anklageact und man provocirt die Aufmerksamkeit vielleicht auch da, wo
sie nichts sehen wollte. Es geht jetzt in Wien das Gerücht, Baron Andriani,
der letzthin als der Verfasser der Schrift Oesterreich und seine Zukunft
genannt wurde, sei zu seinem Chef, dem obersten Kanzler, berufen und
dort befragt worden, ob er wirklich der Verfasser jenes Buches sei. Dieser
soll hierauf eine nicht ablehnende Antwort gegeben haben, worauf der
Kanzler ihm den wohlmeinenden Rath ertheilte, seine Entlassung aus dem
Staatsdienste nachzusuchen. Sei dies nun bloßes Gerücht oder wirkliches
Factum: es muß uns eine neue Lehre sein, uns darauf zu beschränken,
bei ähnlichen Gelegenheiten nur solche Namen zu nennen, deren literarische
Thätigkeit von ihnen selbst offen vertreten wird, oder deren vollständige
Lossagung von ihrem Geburtslande sie allen Unannehmlichkeiten enthebt-
Zwei Namen wird der Leser vielleicht noch vermissen, und nur mit
zitternder Hand schreiben wir sie zur Completirung nieder: den des Tvro-
lers Sylvester Jordan in Marburg und des Ungarn Nicolaus Lena»
in — Winnendenü Sind es die Unglücklichsten dieser kleinen Phalanx?
O wenn jeder von all den Genannten seine Schicksale, seine innern und
äußern Kämpfe, die Risse seines Herzens und seiner Lebensfaden erzählen
würde, das gäbe eine moderne Odysso, in der Gefängniß und Irren¬
haus vielleicht noch nicht als die fürchterlichsten Asyle erscheinen könnten!
Die zwei wichtigen süddeutschen Kammern, an die gar viele Hoff¬
nungen sich knüpften, haben ihre Arbeiten in diesen, Jahre beendet.
Da wir beide ans eigner langer Beobachtung genauer kennen, so
wollen nur hier in kurzen Umrissen eine vergleichende Charakteristik der¬
selben zu geben versuchen.
Baden hat unter den neuern deutschen Constitutionen, Kurhessen
abgerechnet, die freisinnigste, Baiern die feudalistischste Wahlordnung.
In Baden wählt das ganze Volk sich frei feine Abgeordneten, die nur
das badische Bürgerrecht zu besitzen und einen höchst niedrigen Steuer¬
satz zu zahlen brauchen; in Baiern wählen bestimmte Stände sich ihre
bestimmten Vertreter, die zu dem Stande, von dem sie erwählt werden,
gehören und in dem Kreise, wo dies geschieht, angesessen sein müssen.
Dort wird daher die Intelligenz, hier der Besitz mehr repräsentirt, dort
ist mehr Theorie, hier mehr Praris. Eine Oppositionspartei bildet
sich bei diesen Wahlgesetzen natürlich leichter in Baden als in Baiern.
Jene hat über mehr geistige Mittel zu gebieten und vermag nach be¬
stimmten Plänen zu handeln; da die Mitglieder sich schon'von früher ge¬
nauer kennen, können sie sich bei ihrer Wählbarkeit gegenseitig unterstützen
und auf jede Weise mehr zusammenhalten. In Baiern ist dies schwerer
der Fall; Adel, Geistlichkeit, Universitäten, Städte und Landgemeinden
wählen sämmtlich unabhängig voneinander ihre Vertreter, Männer, die
sich sonst im Leben fern flehen, oft sich kreuzende Interessen zu vertre¬
ten haben, bei der größern Ausdehnung des Königreichs weit voneinander
entfernt wohnen, ja bisweilen an dem Einflüsse provinzieller Eifer¬
süchtelei leiden. Von den badischen Deputirten z. B. wohnen 9 in
Mannheim, 5 in dem nahen Heidelberg. 6 — 8 in Karlsruhe; die
bairischen sind vom Böhmerwald bis zum Bodensee, von der französischen
bis zur sächsischen Grenze zerstreut ; in Baden sind fast ein Drittheil Ad-
vocaten, ein zweites Drittheil Regierungsbeamten; in Baiern sind
Bierbnuier wie Prediger, Käsehändler wie Barone bunt durcheinander
und kaum ein Drittheil sämmtlicher Abgeordneten hat seinen akademi¬
schen Cursus durchgemacht. Die Feinde der badischen Opposition können
dieser daher leichter dieLilnasen vorwerfen: sie sei nur „gemacht, das
Volk selbst nehme nicht daran Theil, sondern nur die unruhigen Köpfe
einign-Städte, die sich durch Machinationen aller Art einen Platz in der
Kammer zu erringen gewußt hätten" u>s.w>; in Baiern hingegen kann diese
so beliebte Phrase auch nicht einmal einen Schein von Anwendung finden.
Ist hier Opposition, so wurzelt sie gewifi tief im Kern deö Volkes,
ist erst durch langjährigen Druck entstanden, aber auch nur schwer wie¬
der zu besiegen, obgleich sie sich vielleicht weniger in Reden gegen das
Ministerium äußert, als in unbedingtem Mißtrauen gegen Alles, was
von demselben ausgeht. Ist auch in der Theorie das freisinnige ba¬
dische Wahlgesetz dein bairischen weit vorzuziehen, so hat eS in Wirk¬
lichkeit doch mehrere Schattenseiten. In Baden ist jeder Bürger Ur¬
Wähler, abgesehen von seinem sonstigen Besitz. Leider ist der materielle
und intellektuelle Zustand unserer unteren Stände gegenwärtig noch
nicht der Art, daß sie lebhaftes Interesse an dem öffentlichen Wohl
nehmen und sich auch ans Mangel an Zeit viel um die laiwständischen
Angelegenheiten bekümmern' könnten. Einem bedeutenden Theil der
badischen Wähler ist es daher ganz gleichgültig, wem sie ihre Stimme
giebt, sie folgt dem Beispiele ihrer vornehmern Mitbürger, oder läßt
sich durch Geld, Wein oder Versprechungen von Seiten der Beamten
oder ihrer Brodherren dazu bewegen. Daher denn diese Wahlum¬
triebe, die nirgends in ganz Deutschland stärker wie in Baden vor¬
kommen, diese Einwirkungen der Regierung, diese Rundreisen der libe¬
ralen Deputirten, diese nachherigen Debatten in der Kammer über
Rechtmäßigkeit der Wahlen, die so viel Zeit rauben und so viel persön¬
liche Erbitterung erzeugen, die nachher während des ganzen Landtags
sich oft auf so unangenehme Weise bemerkbar macht« In Baiern
kommt Alles dies fast niemals vor, man hört nicht von Einwirkungen
der Regierung, von Wahlumtrieben, von Bestechungen u. s. w., es
geht hierin Alles viel gesetzlicher zu. Freilich kommen dafür in Baden
nicht diese Sorten von Urlaubsverweigerungen, selbst bei Advocaten
vor, wie sie beim letzten Landtage in Baiern so viel gerechten Unwillen
im ganzen Volke hervorriefen. Ein ungeheures Uebergewicht gegen die
dänische hat die badische zweite Kammer, in ihrer trefflich und klar
ausgearbeiteten Verfassungsurkunde. Diese ist in Baiern so unklar,
so verschiedener Auslegungen fähig, so voller Schlupfwinkel, daß außer
den Bndgetbewilligungen die Stände nur äußerst geringen Einfluß ha¬
ben und ein gewandter Minister mit ihnen machen kann, was er will.
Treffend verglich ein geistreicher Redner in der bairischen Kammer
(Dekan Wagner aus Baireuth) ihre Verfassung mit einem weichen
Stück Wachs, aus dem die geschickte Hand des Modelleurs durch ei¬
nen unmerklichen Druck ein Engelsantlitz in eine Teufelslarve umwan¬
deln könne, und das jetzige Ministerium sei dieser Modelleur. Auch
die Bestimmung wegen Errichtung der Ausschüsse, ihrer Ergänzung,
ihrer Pflichten n. s. w. ist in Baden weit trefflicher wie in Baiern,
wo sie im höchsten Grade unzweckmäßig ist. Einzelne wenige Mit¬
glieder werden dort durch Arbeiten furchtbar gequält, während die
übrigen den ganzen Landtag nichts zu thun haben, die Geschäfte auf
alle Weise verzögert, die Sitzungen aufgehalten, und die aus gegen¬
seitiger Unkenntniß geschehenen Fehler bei der ersten Wahl der Aus¬
schußmitglieder können für den ganzen Landtag nicht mehr abgeändert
werden. Einen fernern, unendlich mächtigen Vorzug hat der badische
vor dem bairischen Landtag darin, daß er durch eine freiere Presse un¬
terstützt wird. Trotz der vielen Klagen, die in Karlsruhe über die
Bedrückungen der Censur vorkommen, ist die badische Presse doch
«»gemein viel freier wie die bairische. Die liberalsten bairischen
Blätter, der „Nürnberger Courier" und der „Nürnberger Correspon-
dent", die einzigen, welche der Erwähnung werth sind (die „All¬
gemeine Zeitung" widmet natürlich den bairischen Zuständen verhält¬
nißmäßig nur geringe Aufmerksamkeit und kann daher nicht als bairi-
sches Blatt im begrenzten Sinne betrachtet werde ), dürfen nicht halb so
freimüthig über die innern Angelegeicheüen sich aussprechen, wie die
„Mannheimer Abendzeitung", das dortige „Journal", die „Seeblätier zu
Constanz". Daß aber eine Opposition eine» sehr schlimmen Stand hat,
wenn sie nicht von einer tüchtige» Presse auf alle Weise unterstützt
wird, ist ja allgemein anerkennn; wo diese fehlt, da dnn.U ihr Wirken
auch nicht in's Blut und Leben des Volles, sie wird stets vereinzelt
dastehen, und von einem gewandte» Ministerium leicht gestürzt wer¬
den können.
Baden ist im Allgemeinen el» viel mehr geistig ausgebildetes Land
Wie Baiern, seine Bewohner sind weit lebendiger, regsamer und Alt'
theil nehmender an den innern Angelegenheiten des Landes. Nur
ni» großer Theil von Franken und ganz Rheinbaiern vermag sich im
Allgemeinen hierin mit Baden ans gleiche Stufe zu stellen; bei den
übrigen bairischen Provinzen ist dies entschieden nicht der Fall. Da nun,
wie vorhin bemerkt, auch das nicht an Stand und Ort gebundene
Wahlsystem dort die Intelligenz vorzugsweise begünstigt, so steht in
ihrer Gesammtheit die badtsche Kammer auf einer weit höheren geisti¬
gen Stufe wie die bairische. Nicht daß es dieser an in jeder Weise
ausgezeichneten Männern fehlte, man wird deren unter den 130 bai-
rischen Deputirten ebensoviel, aber — auch nicht mehr, wie unter den
to badischen herausfinden können. Wir bekennen offen, daß wir
in der bairischen Kammer einige bessere Redner gefunden haben, wie
in der hierin so berühmten ganzen badischen, dennoch stehen sie in ersterer
vereinzelter da, wie in letzterer. Der Geschäftsgang in der badischen
Kammer ist viel rascher, die Diskussionen sind dort viel lebendiger.
Es werden daselbst nicht so lange, vorher zu Hause ausgearbeitete Re¬
den gehalten, es wird freier, gleich vom Augenblick eingegeben gespro¬
chen. Die ganze Kammer kommt darin der französischen Depntirten-
Kammer, von deren Einrichtungen sie bekanntlich Manches entlehnt
hat, viel näher.
Zudem finden auch in Karlsruhe nicht die oft endlosen Wiederholun-
gen derselben Dinge, wie es in München so ost geschieht, statt. Die förmlich
ausgebildete Oppositionspartei Badens macht vorher einen festen Feldzugs-
plan für die einzelnen wichtigern Sitzungen und vertheilt die Rollen an die
einzelnen Streiter. Jeder Redner hebt daher einen besondern Grund
in seiner Rede vorzugsweise hervor, greift auf einem verschiedenen Ter¬
rain wie fein Vorgänger oder Nachfolger an, da ihm schon vor der
Sitzung bekannt war, was dieser in der Hauptsache sprechen würde,
und er sich also danach hat einrichten können. In München geschieht
vies nicht, da es keine förmlich organisirte Oppositionspartei dort gibt
und die einzelnen Redner außer den Rheinbaiern und einigen wenigen
Andern, die sich vorher besprechen, außerhalb den Kammern fast nie
mit einander verkehren. So arbeitet Jeder, unbekannt mit der Absicht
des Andern, seine Rede zu Hause aus, und ist dies geschehen, so er¬
laubt es die liebe Eitelkeit nicht anders, sie muß auch vorgetragen
werden, gleichviel ob schon 5—6 Vorgänger in mehr oder weniger gu¬
ten Worten ganz dasselbe gesagt haben. Dadurch ereignet es sich häu¬
fig, daß oft ein Dutzend Redner in München nacheinander aufgetreten,
die mit mehr oder weniger Geist und mehr oder weniger Rhetorik,
ganz dasselbe sagen, und so der Kammer nur unnöthige Zeit rauben.
Diese Nichtachtung der Zeit ist überhaupt in München recht zu Hause,
es gibt da Redner, z. B. Banquier Schätzler aus A"gsburg, Prost
Edel aus Würzburg, die unter einigen Stunden die Rednerbühne so
leicht nicht verlassen, und dabei wenig Anderes vorbringen, als was
man in jedem Compendium finden könnte. So etwas geschieht in
Karlsruhe entschieden nicht, und die Kammer selbst würde schon nicht
die Geduld haben, solche langathmige Redner wiederholt anzuhören.
Daher währen in der Regel dort die Sitzungen von 9-^ bis 12^, und
in München von 9 bis 2^ Uhr, und die Landtage dort vier, hier aber
7—8 Monate. Was dagegen in München nie stattfindet, ist das willkür¬
liche Abschweifen von den durch die Tagesordnung bestimmten Fragen,
wie in Karlsruhe besonders von einigen Rednern der Opposition, na¬
mentlich Welcker, Hecker, Rapp so oft geschieht. Diese halten sich oft
nicht im Mindesten an die Tagesordnung, sondern bringen in ihren
Reden Gegenstände vor, die oft nicht im geringsten Zusammenhang
mit dem eigentlichen Redezweck stehen. Daher hört man dort so oft
des Präsidenten Mittermaier halb bittenden, halb strafenden Zuruf:
„Aber, meine Herren, ich muß bitten, doch nicht gar zu viele Abschwei¬
fungen zu machen und beim Gegenstand selbst zu bleiben," was in
München nur äußerst selten vorgekommt, obgleich der dortige erste
Präsident Freiherr von Rotenhan hierin bedeutend strenger wie der
badische ist. Auch der Ton der Debatten selbst, ist in München viel
ruhiger und leidenschaftsloser als in Karlsruhe. Man merkt da
gleich, daß Baden ein kleines Land, mit kleinlichen Verhältnissen ist,
daß früherer persönlicher Haß zwischen manchen einzelnen Mitgliedern
besteht, der sich nur in ihren Reden gegeneinander Lust zu machen
sucht. Daher die Erregtheit, die Heftigkeit, welche einzelne Redner
so sehr dort charakterisiert, der Gebrauch der Worte „Lüge", „Büberei"
u. s. w., welche wir daselbst schon vernommen, und welche in keiner
anständigen Gesellschaft und vielweniger uoch in einer Ständekammer
gebraucht werden sollten. Die Abgeordneten Rapp, Mathy und Hecker
von der Opposition, und Buß und der Chef des Justizministeriums
Jolly von der ministeriellen Seite, zeichneten sich vorzüglich durch die
oft unangemessene Heftigkeit ihrer Reden aus, und es bedürfte häufig
der ganzen Gewandtheit des Präsidenten Mittermaier, um, noch ärge¬
ren Excessen vorzubeugen. Offen bekennen wir, daß trotz aller Inlet,
ligenz und dem regen Eifer für den Fortschritt, den man in der badi¬
schen Kammer so vielfältig findet, uns manche Sitzungen derselben den
unangenehmsten Eindruck gemacht haben, und wir bei manchen Dis--
aufstören mehr an eine Studentenversammlung als an eine Kammer
der Vertreter des Volks, die in ernster Berathung über das Wohl
desselben versammelt waren, erinnert wurden.
Was in der badischen Kammer angenehm auffällt, ist die rege
Theilnahme, mit der fast beständig alle Abgeordneten den einzelnen
Reden wie dem ganzen Gang der Verhandlung folgen, wahrend in
der bairischen oft die Hälfte theilnahmslos vor sich hinstarrt und mit
ganz andern Gegenständen beschäftigt ist. Auch die Zuschauer folgen
in Baden der Verhandlung mit ganz anderer Aufmerksamkeit wie in
Baiern und nehmen viel regeres Interesse daran. Die nur geringen Platz
gewährenden Zuschauer-Tribünen in München sind größtentheils blos
von fremden Studenten, ZeitungSreferenten und einzelnen Leuten der
höhern Stände besetzt lind auch dies nur bei besonders wichtigen Fragen,
z. B. bei der Willich'schen Reclamatwn, der Klage über Bedrückung
der Protestanten, der Vermehrung der Klöster n. s. w,, sonst aber in
der Regel nur leer. In Baden aber, wo die Tribünen gewiß zwei¬
mal so viel Mensehen wie die zu München fassen, sind dieselben stets
drückend voll mit Personen aus allen Ständen angefüllt und die Zu¬
hörer stehen oft Stunden lang auf den Gängen, um nur etwas von
den Debatte«: zu hören. Und doch hat Karlsruhe nur 24,öl)l) und
München I0et,0l)0 Einwohner, das ganze Großherzogthum Baden nur
1,20l),vttV, Baiern aber 4,20»M0 Einwohner. Aber den Münchner
Bürger interessirt auch Alles mehr wie grade die Ständeversammlung,
und würde man ihm das Maas Bier um einen Pfennig wohlfeiler
verkaufen, könnte seinetwegen die ganze Constimtion aufgehoben wer¬
den. Da ist es ganz' anders in Baden, da nimmt das Volk selbst
Antheil an den Kämpfen im Ständesaal und zeigt auf jede Weise,
wie sehr die ganze constitutionelle Freiheit schon bis in sein Innerstes
gedrungen ist.
Der Standpunkt, auf dem die Oppositionspartei beider Kammern
sich befindet, ist ein sehr verschiedener. Mit Ausnahme von 10 bis 12
Mitgliedern, größtentheils Rheinbaiern, ein Land, das entschieden die
lebendigsten, regsamsten Deputirten sendet, ist der übrige Theil der
bairischen Opposition auf dem letzten Landtage von der Gesinnung, die
man in Baden conservativ nennen würde. Er opponire nur gegen das
Reactions-Princip deö Herrn von Abel, was dieser um jeden Preis
in Allem durchführen will, er will nur diesen, dem er alles Unheil zu¬
schreibt, von seinem Platze stürzen, im Uebrigen ist er ganz zufrieden,
wenn die Sachen nur nicht schlimmer werden, wie sie vor einigen Jah¬
ren waren, an dem Fortschritt, wie ihn die badische Opposition oft
sogar auf ungestüme Weise verlangt, denkt er nicht. Die Herrn Baron
Gumpenberg, von Lerchenseldt, die Pfarrer Wagner, Bauer, Würth,
Götz u. s. w., mit die tüchtigsten Männer der bairischen Opposition,
würden in Baden mit ihren jetzigen politischen Gesinnungen eher auf
der ministeriellen, als auf der opponirenden, Seite sitzen. Nur die Guts¬
besitzer von Closen und Schmelzer aus AUbaiern, wie die Rheinbaiern
Willich, Stockinger, Heintz, Christmann, können sich der badischen äu¬
ßern linken Seite schon nähern, obgleich sie noch lange nicht so radi-
cal in Gesinnung und mehr noch im Auftreten, wie diese sind.
Die Abgeordneten Zittek, Mittermaier, Christ, Schmidt, denen die ba¬
dischen radikalen Blätter so ost die Halbheit ihrer Gesinnung mit höh¬
nenden Worten vorwarfen, gehörten nach derselben der äußersten Op¬
position in München an. Dort will man nur das Bestehende erhal¬
ten und den Fortschritt in gemäßigter ruhiger Weise gemacht wissen;
in Karlsruhe aber von der äußersten, aus 8 bis 10 Mitgliedern be-
stehenden Linken, Veränderung in allen staatlichen Verhältnissen, und
zwar möglichst an einem Tage. Es ist dies ein ungeheurer Unterschied
zwischen diesen beiden Oppositionen, die in beiden letzten Kammern so
viel das Ministerium angriffe«?, demselben so ost einen harten Schlag
beibrachten. Auch das Verhältniß der Kammern zu dem ihnen gegen¬
überstehenden Ministerium selbst ist ein ganz verschiedener. Herr von
Abel, denn von diesem allein kann nur die Rede sein, ist entschieden
mit der gewandteste, aber zugleich reactionairste und der schroff ultra¬
montanen Richtung ergebenste unter allen Ministern unserer neunund¬
dreißig verschiedenen deutschen Staaten. Daß, so lange er das Ru¬
der in Händen führt, keine Aenderung zum Bessern, wohl aber eine
allmälige stets vermehrte Beeinträchtigung jeglicher Freiheit eintreten
wird, weiß in Baiern nicht allein die Opposition der Kammern; da«
her mußte diese alle Mittel aufbieten, um Hrn. v. Abel von seinem Platze zu
entfernen und kein noch so großesOpfer scheuen, wenn sie dies dadurch hätte
"langen können. Dies ist aber nicht immer mit voller Kraft von ihr
geschehen, denn es fehlte ihr Einheit und fester Plan; darum hat
zwar Herr von Abel sie so oft besiegt lind steht jetzt sogar fester, wie
er je gestanden, und die Resultate des ganzen letzten Landtags sind
daher für die Gegenwart für nichts anzuschlagen, wie auch schon der
Landtagsabschied, der aus der Feder des Herrn von Abel geflossen,
dem Blindesten begreiflich machen mußte.
Ganz anders aber in Baden. Die beiden der Kammer haupt¬
sächlich gegenüberstehenden Vertreter der Regierung, Geheimerach Ne-
benius und Beck, sind mit die liberalsten , dem Fortschritt ergebensten
Männer, die an der Spitze einer deutschen Verwaltung stehen; ja, wir
behaupten sogar, daß, so lange alle übrigen deutschen Verhältnisse der
Art sind, wie es jetzt noch der Fall ist, und so lange der deutsche Bund
sein bisher befolgtes Princip nicht aufgibt, es für den Minister eines
kleinen deutschen Staats, der durch unendlich viele Verhältnisse ge¬
bunden, eine Unmöglichkeit ist, den Fortschritt in jeder Weise mehr zu
begünstigen, wie es Nebeniuö thut. Darum wurde seine Erwählung
im ganzen Lande von der liberalen Partei mit Freude begrüßt, lind
man betrachtete sie mit Recht als ein Zugeständniß, das die Regie¬
rung der Opposition, die den früher mächtigen Minister von Vlitters-
dorf vom Posten gedrängt, aus Noth gemacht hatte. „Nur wir, die
Opposition, haben das Ministerium Beck-Nebenius geschaffen, und wir
halten es auch trotz der ihm feindlichen reactionaircu Partei, dem es
viel zu liberal ist, denn man soll einsehen, daß es das einzige Mini¬
sterium ist, was mit uns fertig zu werden vermag!" dies sind die Worte
eines der Führer der badischen Opposition. Deshalb hat auch das
Ministerium in der entscheidenden Budget-Bewilligung mit bedeutender
Majorität seinen Willen durchgesetzt, obgleich ja sonst in der Kam¬
mer die Opposition stärker als die ministerielle Seite war. Wenn
trotzdem das Ministerium in jeder Sitzung sehr heftige Angriffe er¬
fahren mußte, so geschah dies theils, um es mit Gewalt fortzutrei¬
ben mehr und mehr zu bewillige,,, theils um die reactionaire Hof«
und Adelspartei einzuschüchtern, damit sie ja dies Ministerium, was
doch noch diesen Stürmen Trotz zu bieten vermochte, nicht wieder ver¬
dränge, um eins nach ihrem Sinne zu bilden, theils aber auch aus
alter Angewohnheit einzelner Redner, die nun einmal nicht anders zu
sprechen vermögen. Hierin haben viele Oppositionsredner gar arge
Verstöße begangen und sich und ihrer ganzen Sache dadurch unendlich
geschadet. Der allgemein geachtete Greis Nebenius hat Worte, wie
„Büberei" und „Schandthat" in Empfang nehmen müssen (?), so daß er
wiederholt den Großherzog um seine Entlassung gebeten hat. Es hätte
aber der radikalen Opposition kein härterer Schlag geschehen können,
der ihr mehr im ganzen Lande geschadet hätte, als wenn es geheißen,
sie habe das Ministerium NebeniuS gestürzt, daher diese Entlassungs¬
gesuche große Bestürzung bei ihr erregten; aber im ganzen übrigen
Deutschland, namentlich in den nicht konstitutionellen norddeutschen
Staaten, haben diese einzelnen unangemessenen heftigen Reden bei al¬
len Freunden des Fortschritts einen peinlichen, bei allen Feinden dessel-
den einen triumphirenden Eindruck gemacht lind der konstitutionellen
Förderung unendlich geschadet. Letztere argumentiren: „Seht, so wird ein
anerkannt liberales Ministerium in einer Kammer behandelt, es muß doch
nicht viel Gutes an einer Sache sein, die solches zuläßt." Als ob
einzelne Unbesonnenheiten einzelner Mitglieder das unendliche Wohl,
was diese Constitutionen den durch sie gesegneten Völkern schon ge¬
bracht haben, zu beeinträchtigen vermöchten?
Dies ist der Unterschied zwischen beiden Kammern; die bairische
kämpfte gegen, die badische für ihr Ministerium. Erstere hat ihren
Zweck nicht erreicht, weil sie nicht kräftig und einstimmig genug auf¬
trat, letztere hätte ihn fast vernichtet, weil einzelne ihrer Mitglieder zu
heftig waren. Wir haben oft bedauert, daß nicht ein Tausch stattfin¬
den konnte, und hätten die Abgeordneten Hecker, v. Soiron, Napp,
Welcker, Mathy, Bassermann, aus der badischen in die bairische, die
hingegen Wagner, Bauer, v. Lerchenfeldt, v. Gumpenberg aus der
bairischen in die badische gewünscht; gewiß, in mancher Hinsicht Hütte
dieser Wechsel sür beide Kammern keine üble Wirkung gehabt.
Hier eine Vergleichung der einzelnen bedeutendern Mitglieder bei¬
der Kammern zu geben, würde wohl zu weit führen und wir müssen
uns begnügen, blos eine Parallele ihrer ersten Präsidenten zu liefern.
Beide haben sich den fast ungetheilten Beifall der Kammern erworben.
Mittermaier, der Präsident der badischen zweiten Kammer, führte
sein oft unendlich schwieriges Amt mit Glück lind Geschick durch und
hat, was in Baden viel sagen will, es so ziemlich beiden Par¬
teien recht gemacht. Eine vieljährige Uebung zahlreichen Versamm¬
lungen aller Art als Leiter vorzustehen, große Rednergabe, lang¬
geübtes Talent durch den Wirrwarr der verschiedensten Diskussio¬
nen dennoch das Richtige herauszufinden und dabei eine Gabe,
wenn es ihm geeignet scheint, nichts zu hören und zu sehen,
und so den Rednern oft mehr Freiheit, wie ihnen der Geschäftsord¬
nung nach Zustände, zu lassen, dies sind Eigenschaften, welche ihm auf
seinem Platze so sehr zu Statten kamen, ihn allen Parteien so an¬
genehm machten. Obgleich der Präsident Mittermaier stets dem Fort¬
schritt ergeben ist und sich oft mit Wärme dahin ausspricht, so gehört
er doch nach der Bezeichnung in Baden der „Mitte" an, für einen
Präsidenten, der Allen gerecht sein soll, offenbar das Beste.
Stets suchte er daher vermittelnd einzuschreiten, die Aufgeregtheit zu
besänftigen, die Streitenden zu versöhnen, und zwar möglichst durch
Wilde und Ueberredung. So lange als möglich vermied er es, be-
stimmt aufzutreten, und nur trenn es gar nicht anders mehr gehen
wollte, machte er und zwar dann ganz bestimmt, von seinem Rechte
als Präsident Gebrauch und brach die zu heftigen Diskussionen ab.
Aber man merkte ihm an, wie ungern dies geschah. Sehr kam
ihm bei seiner Stellung die genaue persönliche Bekanntschaft mit fast
allen einzelnen Deputirten und die Achtung, die er noch als früherer
Lehrer einer großen Mehrzahl derselben genießt, zu Statten.
Freiherr von Rotenhan, der Präsident der bairischen zweiten Kam¬
mer, wäre in Karlsruhe nicht an seinem Platze gewesen, obgleich er es in
München vollkommen war; die Gewandtheit Mittermaiers, das diplo-
matische'Talent zu vermitteln, das Bestreben, es möglichst Allen recht zu
machen, fehlten demselben gänzlich; an Nuhe, Leidenschaftslosigkeit,
strenger Unparteilichkeit und Vertrauen erweckender Würde konnte er
sich vollkommen mit demselben messen, ja hat ihn wohl hier und da
darin übertroffen. Herr von Notenhan hat in allen wichtigen Dingen
stets mit der Opposition gestimmt, aber ängstlich vermieden, ihr als
Präsident nur den mindesten Vorzug zu geben, ja er ist hierin vielleicht
bisweilen gar zu weit gegangen und hat das Ministerium be¬
vorzugt. Ist dies geschehen, wie hier und da behauptet wird, so ge¬
schah es nur aus zu peinlichen Gerechtigkeitsgefühl, damit ja die
Gegner nicht behaupten konnten, weil er stets gegen sie stimme, suche
er auch noch als Präsident ihnen zu schaden. Als Redner ist derselbe
vrrhältnißmäßig nur wenig aufgetreten, er hat dann klar, logisch und
verständig, aber sonst nicht ausgezeichnet, blühend, geistvoll oder ge¬
wandt gesprochen, in welch letzterer Eigenschaft vorzüglich Mittermaier
ihm überlegen ist. Zu vermitteln suchte Herr von Rotenhan nur we¬
nig, sondern ließ jede Partei nach Gutdünken reden und handeln, so¬
bald nur der Anstand nicht dadurch verletzt und die Geschäftsordnung
nicht gestört wurde; drohte es, hierzu zu kommen, so schritt er mit we¬
nigen ernsten Worten ein und erfüllte seine Präsidentenpflicht mit Strenge.
Was nun, um zum Schluß dies auch noch zu erwähnen, die äu¬
ßere Einrichtung beider Kammern betrifft, so ist die zu Karlsruhe ent¬
schieden zweckmäßiger. Besonders die dortige Bestimmung, daß die
Deputirten sich ihre Plätze frei wählen können, ist besser als wie die
in München, wo die Sitze verlooft worden, und Alles ohne Unterschied
der Meinung bunt durcheinander sitzt. In Karlsruhe nimmt die Opvosi»
lion die linke Seite des Saales ein und wird daher nach französischer Art
kurzweg die „Linke" genannt, die gemäßigte Partei Mittermaier und der
Pfarrer Zittek an der Spitze, die Mitte, daher auch nur so, oder das
,,Centrum" genannt, die schroff ministeriellen, ja das jetzige Ministerium
oft weit in der Conservativität oder Reaction ihrer Gesinnungen über-
treffenden Abgeordneten aber die rechte Seite, daher auch als „Rechte"
bezeichnet. In München kann man dergleichen Bezeichnungen auch
nicht gebrauchen, wie denn überhaupt, mit einigen Ausnahmen, die
Parteien dort nicht so scharf sich abzeichnen.
Die ganze Erscheinung der badischen Kammer, die sehr viele, theils
ehrwürdig schöne Köpfe, z. V. v, Itzstein, Mittermaier, theils jugendlich
kräftige, wie Buhl, Hecker, Bassermann, Mitglieder zählt, ist sowohl
im Ausdruck der Gesichter im Allgemeinen geistvoller, wie im äußern
Auftreten eleganter, wozu schon viel beiträgt, daß sämmtliche Mitglie¬
der stets im Frack erscheinen. In München dagegen findet man gar
manche etwas stupide Bierbrauergesichtcr, und die Abgeordneten
sitzen im Paletot und ganz wie es ihnen beliebt, angezogen da. Zum
Gegensatz erscheinen in München stets alle Minister und sonstige Ver¬
treter der Regierung in voller Uniform, mit großen Ordensbändern,
in Karlsruhe aber nur im einfachen Leibrock; der Saal selbst hat in
Karlsruhe eine runde, in München eine, lange Gestalt, und ist dort
zwar kleiner, aber viel zweckmäßiger eingerichtet wie in letzterer Stadt.
Die Sitze der Abgeordneten, die in Karlsruhe mit grünem, in München
mit rothem Tuch ausgeschlagen sind, haben in ersterer Stadt bequeme
Tische mit schließbaren Fächern vor sich, was in letzterer gänzlich fehlt.
Die Zuschauer-Tribünen fassen in Karlsruhe noch zweimal so viel
Sitzplätze und ebenso viel Stehplätze wie in München, wo dieselben
sehr eng und schlecht eingerichtet sind. In München dagegen kann
man sich an einer Masse Bedienten in Hoflivree erbauen, die Ord¬
nung unter den Zuschauern erhalten, was in Karlsruhe gänzlich fehlt;
dort bedarf man auch eines Billets, was man übrigens unemgeldlich
ohne weitere Umstände erhält, um in den Saal zugelassen zu werden,
was hier aber nicht nothwendig ist. Störend fällt es aber in Karls¬
ruhe auf, daß während der Discussion ein Bedienter der Kammer mit
Circnlären und Missiven bei den einzelnen Mitgliedern herumgeht und
sie unterschreiben läßt, was allerdings auch in Paris, Brüssel u. f. w
der Fall ist.
Dies eine kurze, aber unparteiische vergleichende Schilderung bei¬
der Kammern. ^
Sie wünschen einige Aufschlüsse über Das, was in nächster Zu¬
kunft in unserm so aufgeregten und unglücklichen Lande sich vorberei¬
tet? Solche Frage dürften vielleicht keine drei Personen in Galizien
zu beantworten im Stande sein, und unter diesen drei Personen ist
vielleicht auch nicht eine, die es mit Bestimmtheit thun könnte. Es ist
nicht zu leugnen, daß seit der Anwesenheit des Hof-Commissairs Grafen
Stadion offenbar ein bestimmter und energischer Regiernngsplan zur
Umgestaltung der Urbarialverhältnisse sich vorbereitet. Die strengen
Formen des Standrechts, die weniger in den Städten als auf dem
Lande Schrecken einjagen, sind keineswegs vom Standpunkte einer mi߬
verstandenen Humanität zu tadeln, vielmehr wurden sie von allen Deut¬
schen, die in Galizien ansässig sind und von allen nach Ordnung, Ge¬
setz und Schutz sich sehnenden Einwohnern als eine Nothwendigkeit
anerkannt, sowohl den ununterbrochen fort conspirirenden Edelleuten
gegenüber, die plan - und nutzlos nur die Fäden noch mehr verwirren
und ohne Hoffnung auf Erfolg nur noch eine größere Zahl von Fa¬
milien in unsägliches Leid stürzen, als hauptsächlich den zügellosen
Bauernhorden gegenüber, welche sich in den letzten Monaten in wahre
Räuberbanden umgewandelt haben und sich wie die Bestie, die Blut
geleckt, nach Erweiterung ihres Mordgeschäfts sehnten. Bevor man
etwas thun kann, muß vor Allem Leben und Eigenthum gesichert sein;
die spanischen Provinzen sind in den letzten Jahren oft genug bei viel
geringfügiger« Gelegenheiten in Belagerungszustand versetzt worden.
Und bei uns handelt es sich nicht blos um politische Emeuten, son¬
dern um räuberische Anfälle und Mordthaten. Glauben Sie nicht,
daß, weil ich ein Deutscher bin, mein Herz erbittert g"gen die Polen
ist, die uns allerdings mit Augen ansehen, bei denen Einem nicht be¬
haglich werden kann. Wir Deutschen hier in Galizien dürfen uns
rühmen, großmüthiger als die Poleii zu sein, denn während diese uns
zwar mit Stumpf und Stil ausrotten mochten, ist in unserer Mitte
die aufrichtigste Theilnahme für das Schicksal dieser unglücklichen Na¬
tion rege, und wäre nur irgend eine Aussicht da, daß ihr geholfen
werden könnte, unjere besten Wünsche sollten sie begleiten. Aber diese
Aussicht war eine Utopie gleich von Anfang dieser unglückseligen Ver¬
schwörung und ist in gegenwärtigem Augenblicke ein Wahnsinn. Stunde
Galizien jetzt unter eigner vollständig unabhängiger Nationalregierung,
es hätte kaum ein anderes Mittel zur Herstellung der Ordnung in sei¬
nem zerfleischten Innern als die Intervention einer nachbarlichen Macht
anzusuchen, oder Städte und Güter unter der Brandfackel und unter
dem Mordbeil fallen und vernichtet zu sehen. Um wie vielmehr ist es
Pflicht der bestehenden Regierung, dem Gesetze Achtung, dem Leben
und Eigenthum Schutz zu sichern. Das Standrecht wird hoffentlich
wenig Opfer finden, da die Proklamation desselben einen großen Ein¬
druck hervorgebracht hat und viele Conspiranten von ihren Phantas-
magorien und noch mehr Bauern von ihren Naubplänen abschrecken
wird; aber selbst wenn ein Paar hundert Köpfe von Neuem fallen
mußten unter der Wucht des Ausnahmsgcsetzes in der verzweifelten
Lage, in der das Land sich befindet, ist Sicherheit und Ordnung da¬
durch nicht allzutheuer erlauft.
Eine andere Frage aber ist: Wozu wird die Negierung die Zeit
benutzen, in welcher das Land unter solchem Ausnahmsgesetze steht?
Welche Saal wird sie ausstreuen in dieser großen Pause? Wozu hat
sie sich nach Monaten endlich entschlossen, um die Rückkehr der frü¬
hern Zustände und ein abermaliges Durchbrechen des Dammes zu
verhüten? Denn jetzt oder nie! Dies sagt sich hier Jedermann, Freund
wie Feind der Regierung. Was in Wien bei dem letzten Aufenthalte
des Grasen Stadion daselbst in der Staats-Conferenz beschlossen wurde,
oder ob überhaupt ein entscheidender Beschluß bereits gefaßt wurde,
darüber herrscht allenthalben das tiefste Geheimniß. Wohl aber bin
ich im Stande, Ihnen die Beschlüsse mitzutheilen, welche eine eigens
dazu ernannte Hofcommission zur Reorganisation sämmtlicher galizi-
scher Zustände bereits im Juli der höchsten Entscheidung vorgelegt hat
und die Grundsätze, von denen man dabei ausgegangen ist. Sie dür¬
fen diese Mittheilung als authentisch betrachten, und es steht zu hoffen,
daß ein guter Theil jener Commissionsbeschlüsse binnen Kurzem die
Sanction erhalten wird, obschon die vielfachen Modifikationen nicht
vorhergesagt werden können, die namentlich durch die persönliche An¬
schauung und die Berichte des kaiserlichen Hofeommifsairs eintreten
mögen, da jene Commission ihr Gutachten vor der Ernennung des
Grafen Stadion abgegeben hat.
Jene Grundsätze, wie sie nach den Beschlüssen der erwähnten
Commission lauten, sind in zweiundzwanzig Paragraphen zu¬
sammengefaßt. Nach dem Wortlaut des ersten einleitenden Paragra¬
phen werden alle jene Grundbesitzungen, die nach dem gegenwärtigen
Stande der Gesetze „unterthänige" Gründe sind, zum Nntzungseigen-
thum ihrer rechtmäßigen Besitzer erklärt und diesen alle damit verbun¬
denen Befugnisse und Rechte gegen Erfüllung der auf diesen Gründen
haftenden Verbindlichkeiten zugestanden. (Doch werden hierbei alle Ge¬
setze, welche die Theilung unterthäniger Gründe nur unter ge¬
wissen Beschränkungen gestatten und den Grundherrschaften die Erwer¬
bung unterthäniger Güter verbieten, in voller Kraft aufrecht erhalten.)
Auf jenen Gütern, wo herrschaftliche und bäuerliche Grund¬
stücke oder auch letztere untereinander in kleinen Parzellen dermaßen
zum Nachtheil der Bewirthschaftung durcheinander vermengt liegen und
deren Zusammenlegung in abgerundeten, von einander abgesonderten
Grundstücken sich als nothwendig darstellt, wird den Grundherrschaften
und den bäuerlichen Grundbesitzern (.letztern jedoch nur dann, wenn die
Mehrzahl derselben in einer Gemeine darnach Verlangen trägt) das
Recht vorbehalten, die Zusammenlegung der Gründe mittelst Austausch
zu verlangen. Eine eigens aufzustellende Provinzialbehörde wird über
die Nothwendigkeit solcher Abrundungen und Austausche, sowie über
die Mittel, dieselben zu bewerkstelligen, erkennen und entscheiden, ohne
daß diese Verhandlungen jedoch den Fortgang, den die Regelung der
Verhältnisse zwischen Herrschaften und Unterthanen nach der Bestim¬
mung der nachfolgenden Paragraphen aufgehalten werden dürfen.
Der zweite bis fünfte Paragraph spricht hierauf die vollständige
Ablösung der Nobotpflichligkeiten aus: Alle Schuldigkeiten und Lei¬
stungen, welche nach dem bisherigen Stand der Gesetze von den unter-
thänigen Gründen aus was immer für einem Titel und in was im¬
mer für eine Art in Frohnen, Zinsen oder Naturalien, an die Guts>
Herrschaft rechtmäßig geleistet wurden, werden gegen Entschädi¬
gung der Betheiligten aufgehoben. Die Entschädigung hat
in dem Werthe dieser Urbarialleistungen, wie solcher in den bisherigen
Steuerkatastern zum Behufe der Bemessung der Urbarialsteuer veram-
schlagt ist, zu bestehen, jedoch nur in so weit, als dieselbe die Hälfte
des reinen Ertrags der mit diesen Leistungen belasteten Gründen nicht
übersteigt. In jenen einzelnen Fällen aber, in welchen durch die Er¬
mittelung dieser Entschädigung 1 bis 30 Procente übersteigender Aus¬
fall an dem zur Steuerbemessuug angegebenen derzeitigen Urbarialer-
trage in Gelde ergibt, wird dieser durch eine, an die berechtigte Herr¬
schaft zu entrichtende mit dieser unzertrennlich verbundenen Rente ver¬
gütet werden. Diese Rente wird von dem Lande (da sich die
Vortheile einer zweckmäßigen Regulirung der bäuerlichen Verhältnisse
über alle Classen seiner Bewohner verbreiten müssen) getragen
und durch einen Zuschlag auf die directen Steuern her¬
eingebracht. Die erwähnte Entschädigung von dem Reinertrag der
Vauerngründe*) ist dem Obereigenthümer in vierteljährigen Renten zu
entrichten. Bei der Eintreibung von Rückständen wird die Regierung
den Grundherrschaften den gesetzlichen Schutz nach dem über die Ein¬
treibung der Grundzinse im Allgemeinen bestehenden Vorschriften, auf
das Kräftigste angedeihen lassen.
Von dem Zeitpunkte an, wo das Gesetz die Umwandlung der
Frohnen in eine Geldrente sich decretirt, werden sechs Jahre als eine
Uebergangsepoche gezahlt werden, innerhalb welcher es sowohl den
Grunvherrschaften als den bürgerlichen Gemeinden (in letzteren nach
Stimmenmehrheit) zusteht, die Abtragung der Geldrente in entgeltli¬
chen Dienstleistungen zu fordern oder anzubieten, worauf die Gegen¬
partei einzugehen verpflichtet ist. In solchen Fällen wird die er¬
mittelte Geldrente auf Frohntage (in den zur Bemessung der Urbarial-
steuer bestehenden Preisen) zurückzuführen sein, doch darf die Zahl
dieser Frohntage in keinem Falle die Zahl der bisher geleisteten Froh¬
nen überschreiten. Nach Verlauf dieser sechs Jahre hat die Robot
gänzlich aufzuhören. Doch bleibt es auch dann den Herrschaften wie
den Grundholven überlassen, freiwillige Verträge abzuschließen, mit¬
telst welcher eine gewisse Zahl von Arbeitstagen an die Stelle der
Geldrente gesetzt werden. Verträge dieser Art dürfen jedoch nie auf
einen längern Zeitraum als neue sechs Jahre abgeschlossen werden^
Auch dürfen bei neuen Ansiedlungen nie mehr periodische Dienstlei¬
stungen, Zehenden oder „Laudemien" bedungen werden.
Mit dem Aufhören der Frohnen hört natürlicher Weise die Ver¬
pflichtung der Grundberrschaft auf, ihre Unterthanen zur Verbrodung
und zum Anbau zu unterstützen. Die Regierung wird darauf bedacht
sein, für künftige Unterstützung unterthäniger Grundbesitzer in Noth¬
fällen einen Fond zu bilden. Für die (unter Haftung der Herrschaf¬
ten) bisher aus öffentlichen Fonds bereits ertheilten Vorschüsse haben
die Herrschaften zur Zeit der Aufhebung der Frohnden nur noch für
jenen Theil zu haften, welcher dann von den Unterthanen schon ein¬
gebracht, dem Fond aber nicht zurückgezahlt war, oder nach den der
Herrschaft diesfalls gegebenen Rückzahlungsfnsten bereits eingebracht
und zurückgezahlt sein sollte.
Ferner wird mit dem Aufhören der Frohnen auch die Urbarial-
steuer der Grundherrschaften nicht mehr in den jetzigen Verhältnissen
bemessen werden, sondern nach dem Maßstabe, welcher dem künftigen
Aequivalent ihrer Urbarialbezüge entspricht.
Im Neunten Paragraphen werden die Wald- und Weidcverhält-
nisse erwähnt. Die zu Gunsten der unterthänigen Grundbesitzer beste¬
henden Weiderechte auf herrschaftlichen Gründen, ebenso wie die Holz-
und Weiderechte in den herrschaftlichen Waldungen, und die in man¬
chen Gemeinden bestehenden Gemeinschaften zwischen Herrschaft und
Unterthanen werden vor der Hand mit den für dieselben bestehenden
und noch zu erlassenden Gesetzen aufrecht erhalten. Doch bleibt es
den interessirten Parteien unbenommen, wegen Aufhebung, Ablösung ze.
Verträge abzuschließen, deren Zustandebringung nachdrücklichst zu er¬
leichtern die landesfürstlichen Behörden angewiesen werden, sowie über>
Haupt dieser Gegenstand noch späteren Bestimmungen vorbehalten bleibt.
Die Frohnen, zu welchen die Häusler und Jnnleute verpflichtet
waren, werden dort, wo dieselben an den für die unterthänigen Grund¬
besitzer bestehenden Wald- und Weide-Rechten keinen Theil nehmen,
ohne alle Entschädigung aufgehoben; dagegen werden diese Häusler
und Jnnleute dort, wo sie diese Rechte mitgenießen, die Hälfte der ge¬
setzlich zu leistenden Frohntage, jedoch nur in den zur Bemessung der
Urbarialsteuer angegebenen Preisen in Gelde zu entrichten haben. Nur
die auf herrschaftlichen Gründen angesiedelten Häusler werden die
volle Zahl der schuldigen Frohntage, versteht sich auch nur in den zur
Bemessung der Urbarialsteuer angegebenen Preisen derselben in Gelde
zu entrichten haben. — Als solche Häusler werden jedoch nur jene
anzusehen und zu behandeln sein, welche nebst dein Grunde, auf wel¬
chem das Haus steht, entweder gar keine, oder nur so wenig dazu
gehörige herrschaftliche Gründe erhielten und besitzen, daß die von
demselben entfallende Grundsteuer nicht 1 si. 2V kr. beträgt, ansonsten
dieselben bezüglich ihrer Leistungen, wie alle übrigen Grundbesitzer zu
behandeln sind. Auf Ansiedlungen, welche im Grunde zwischen den
Herrschaften und Unterthanen geschlossenen Verträge zu Stande ge¬
kommen sind, hat in der Regel das gegenwärtige Gesetz volle Anwen¬
dung. Da indessen in solchen Verträgen, namentlich in jenen, welche
über Ansiedelungen auf Gütern, die im Besitze des Staates oder der
unter seiner Aufsicht stehenden Farbe sind oder waren, abgeschlossen
wurden, bereits die Verleihung eines mehr oder minder vollständigen
Eigenthums an die Unterthanen stattfand, und auch die Robot, wenig¬
stens zum größten Theile, in Getreidezinse oder in stehende oder nach
den Getreidepreisen wandelbare Geldzinse umgestaltet wurde, so wird
solchen Ansicdlungsgemeinden die Wahl gelassen, entweder bei den
Stipulationen der bestehenden AnstedlungSverträge stehen zu bleiben
oder zu verlangen, daß die Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes
darauf angewendet werden. Im letztern Falle wird den Ansiedlungs-
gemeinden das Nutzungseigenthum ihrer Gründe, wenn sie nicht bereits
das vollständige Eigenthum haben, eingeräumt und ihre Giebigkeiten
und Leistungen in eine stehende, ablösbare Grundrente nach den Grund¬
sätzen des gegenwärtigen Gesetzes verwandelt, welche die Hälfte deS
Reinertrags des unterthänigen Grundbesitzes nicht übersteigen darf.
Eine gleiche Wahl steht auch denjenigen Gemeinden zu, welche mit
ihren Herrschaften Aboltiionsverträge geschlossen haben, wodurch die
Roboten ganz oder zum Theile in Getreide- oder stehende oder wan¬
delbare Geldzinse umgestaltet wurden. Auch diese können bei den ein¬
gegangenen Contractstipulationen stehen bleiben oder verlangen, daß die
Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes in der oben angedeuteten.
Art darauf Anwendung finden. Diese Gemeinden können selbst ver¬
langen, daß die Abolitionscontracte aufgehoben und die Bestimmungen
des gegenwärtigen Gesetzes auf ihre frühern Urbarialverhältnisse ange¬
wendet werden, wenn sie dies vortheilhaft finden und nach den Stipu¬
lationen des Abolitionscontractes hierzu berechtigt sind.
Die Gemeinden können nur nach der Mehrheit der unterthänigen
Grundbesitzer ihren Beschluß fassen und müssen solchen binnen drei
Monaten, vom Erscheinen dieses Gesetzes gerechnet, den Steuerbezirks-
Obrigkeiten kund thun, widrigenfalls angenommen wird, daß sie bei
den dermal bestehenden Contracten stehen bleiben wollen.
Ist die Rente auf diese Art festgestellt, „so steht es jedem, zur
„Zahlung derselben verpflichteten Grundbesitzer frei, durch den Erlag
„des zwanzigsachcn Betrags dieser Rente als Capital, nicht nur seinen
„Grundbesitz von der Zahlung derselben zu befreien, sondern auch das
„vollständige Eigenthum seines Grundbesitzes zu erwerben, und der
„Obereigenthümer wird verpflichtet sein, dem dahin gerichteten Ansprüche
„des Nutzungseigenthümers gegen Erlag dieses Capitals Folge zu geben,
„wenn der Ablösungsbetrag eines oder mehrerer Grundholden den Be¬
itrag von 100 Fi. erreicht."
Nur wird der Erlag des Ablvsungscapitals, wie es sich von selbst
versteht, unter den zur Sicherung von Rechten dritter Personen, durch
die bürgerlichen Gesetze vorgeschriebenen Vorsichten zu geschehen haben.
Es versteht sich zwar von selbst, wäre aber auf das Feierlichste
anzukünden, daß bis zu dem Zeitpunkte, wo die neuen Schuldigkeiten
der unterthänigen Grundbesitzer in dieser Art bestimmt und denselben
zur Entrichtung vorgeschrieben sein werden, sie ihre bisherigen Schul¬
digkeiten an Diensten und Abgaben fortan unweigerlich bei sonst zu
gewärtigenden schweren Strafen, zu leisten haben werden. Behufs der
Ausführung dieser Maßregeln und der dazu führenden Ermittelung des
unterthänigen individuellen Grundbesitzes mit seinen Lasten und Ein¬
führung der Grundbücher werden folgende Grundsätze angetragen:
Zur Ausführung dieser Maßregel wird eine eigene Provinzial-
Commission bestellt, welche in der Hauptstadt des Provinz ihren Sitz
haben und in den Kreisen Untercommissionen bestellen wird, welche aus
einem leitenden politischen Commissair und einem Oekonomieverständigen
unter Beiziehung vertrauenswürdiger Gutsbesitzer gebildet, mit dem
Detail der Ausführung beschäftigt sein werden.
Ehe die Provinzial-Commission mit ihren Hülfsbehvrden ihre un¬
mittelbare Wirksamkeit beginnt, werden die Steuerbezirks-Obrigkeiten
oder die an deren Stelle tretenden landesfürstlichen ersten Instanzen be¬
auftragt werden, in einer angemessenen Frist nach den ihnen hinauszu-
gebenden Jnstructionen und Formularien auf Grundlage der vorhande¬
nen berichtigten Grundmatrikeln mit Benutzung der bestehenden Evidenz-
Haltungsregister und rücksichtlich der Urbarialleistungen mit Benutzung
der Urbarialfasstonen und bestehenden sonstigen Verhandlungen und
Entscheidungen Operate zu verfassen und vorzulegen, aus welchen der
individuelle unterthänige Grundbesitz nach dem dermaligen factischen
Besitzstände mit den darauf haftenden» bisherigen Rechten und Verbind¬
lichkeiten und den nach obigen Grundsätzen künftig zu entrichtenden
Leistungen zu entnehmen sein wird.
Die Provinzinl-Commission wird sonach den Zeitpunkt wahrneh¬
men, mit welchem ihre unmittelbaren Operationen ohne Besorgnis)
einer Hemmung aus Anlaß der nicht vollzogenen Vorarbeiten begon¬
nen werden können, und mit diesem Zeitpunkte zur Ausstellung der
Untercoimnissionen in den Kreisen schreite».
Die Aufgabe dieser Untercommissionen wird es sein, nach den
ihnen zu gebenden Instruktionen die vorgelegten Operate gemeindeweise
an Ort und Stelle zu verificiren, und auf Grundlage dieser Verifici-
rungen den erhobenen individuellen Grundbesitz mit Rücksicht auf die
etwa stattgefundenen Arorndirungen mit seinem Reinertrage festzu¬
stellen, — bezüglich der etwa bestehenden Wald- und Weiderechte,
dann der Gemeinschaften die ihnen in den obigen Absätzen zugewiesenen
Verrichtungen zu Vollziehen, sohin mit Rücksicht auf diese Ergebnisse
und die verificirten Urbarialleiftungcn die für dieselben nach obigen
Grundsätzen zu berechnende Entschädigung in Gelde individuell aus-
zumitteln und in der entfallenden Geldrcnte auszudrücken, endlich über
die sonach festgestellten Verhältnisse und Leistungen eine förmliche Er¬
ledigung auszufertigen, und der Provinzial-Commission vorzulegen,
welche diese Operate mit deren Erledigung prüfen, und falls sie an-
standlos befunden werden, entweder selbst genehmigen oder höher»
Orts zur Genehmigung vorlegen, und diese, wenn sie erfolgt, den
Operaten deisem wird.
Die genehmigten Operate werden den Parteien kund gegeben,
aus denselben die einzelnen Besitzungen mit den auf dieselben entfallen¬
den Schuldigkeiten in die Grundbücher, deren Form und Führung
mittlerweile gesetzlich bestimmt sein wird, eingetragen, und diese den
zu deren Führung berufenen Behörden übergeben werden.
Die in dem gehörigen Zuge genehmigten Operate haben die volle
Wirkung rechtskräftiger Entscheidungen.
Mit diesen Operationen ist in den westlichen Kreisen zu beginnen,
und gegen Osten nach Maßgabe der sich darbietenden Nothwendigkeit
und Thunlichkeit kreisweise fortzufahren, auf die Bukowina aber
nicht auszudehnen, auf welche die angetragenen Maßregeln keine An¬
wendung finden.
So lauten die Anträge, die von einem in Galizien lange wirk¬
samen höherem Regierungsbeamten im Verein mit einer in Wien
aus mehrern Hofräthen der verschiedensten Branchen zusammen-
gesetzten Commission ausgearbeitet wurden. Der ganze Plan ist in
seinen Hauptzügen ein volksfreundlicher, obschon den Rechten des Adels
kein Jota genommen wird, als was die Civilisation der Zeit überall
nöthig gemacht bat, wo die agrarischen Verhältnisse einer geregelten
Ordnung sich erfreuen.
Nichts destoweniger sind mittlerweile vier Monate verstrichen, ohne
daß man dem Ziele näher gerückt ist. Die Stimme der mittlern Stände
hier zu Lande behauptet die Ansichten des kaiserlichen Hofcommissairs
sei im Allgemeinen den aristokratischen Prärogativen zu sehr geneigt,
um einer so durchgreifenden Reform sich günstig zu zeigen, die aller¬
dings, wenn sie einmal ins Leben gesetzt würde, auch in Böhmen,
Mähren und Oesterreich von den bäuerlichen Grundbesitzern gefordert
würde und dem aristokratischen Principe in der ganzen Monarchie ei¬
nen Theil seines bisherigen Einflusses rauben würde. Dem mag sein
wie ihm wolle, wenn der Staat, wenn die Dynastie etwas zur Fest¬
stellung der Zukunft in Galizien thun will, fo muß es jetzt geschehen —
jetzt oder nie. Oesterreich hätte vom factischen Standpunkte aus
bem galizischen Adel gegenüber in diesem Augenblicke das Recht, sich
als Eroberer zu geriren. Wohlan, so erobere es im Interesse der Ci¬
vilisation, der Menfchenrechte und der Humanität, es erobere fünf Mil¬
lionen Menschen ans den Händen von hunderttausend kleinen Tyran¬
nen, indem es ihnen persönliche Freiheit und Eigenthum sichere. Was
hat Oesterreich jetzt noch zu fürchten, jetzt, wo das Aergste geschehen
ist? In frühern Jahren konnte man sich mit dem Gedanken täuschen,
die Localverhältnisse müssen trotz aller Ungerechtigkeit und Nachtheile
beibehalten werden, um den Adel nicht aufzuwiegeln. Jetzt aber, wo
diefer von selbst die Fahne des Kriegs aufgepflanzt hat, wo er selbst
an dem morschen Gebäude zuerst gerüttelt hat — jetzt hat die Regie¬
rung das Recht, die Pflicht, Das auszuführen, was sie aus unseliger
Unter den Redensarten, welche die hyperloyalen deutschen Staatsphi-
losophen oder vielmehr Staatssophisten mit besonderer Vorliebe im Munde
führen, steht besonders die eine obenan: daß Frankreich der Erbfeind Deutsch¬
lands sei, ungefähr ebenso wie die Osmanen ehedem die Erbfeinde des
christlichen Namens genannt wurden; daß Germanien Niemanden mehr
zu fürchten habe, als die treulosen, arglistigen Gallier, und es daher
die Pflicht jedes ächten Deutschen sei, diese von Grund des Herzens
zu hassen. Ich erlaube mir entgegengesetzter Meinung zu sein, näm¬
lich zu glauben, daß das gegenwärtige Deutschland nicht nur keinen
Grund habe, das jetzige Frankreich zu fürchten und es darum zu has¬
sen, sondern daß unter allen Allianzen, die Deutschland schließen könnte,
in der dermaligen Weltlage keine so sehr seinem wahren Interesse
entspricht, keine ihm so entschiedene Vortheile bieten dürfte, als eben
die mit seinem gallischen Nachbar.; daß die gewichtigsten Gründe der
Staatsraison das möglichst baldige Zustand ebur gen einer «»toute vor-
«Ziulv zwischen diesen beiden Ländern fordern.
Es ist die orientalische, diese am Znkunftshimmel Europens
gleich einer schwarzen Wetterwolke hängende Frage, die Deutschlands
und Frankreichs innige Vereinigung um so gebieterischer heischt, da ihre
Lösung vielleicht näher sein dürfte, als Viele glauben. Sie ist unstrei¬
tig die wichtigste, deren Erledigung der Weisheit der Cabinette noch
vorbehalten ist.
Im Südosten Europas wankt das alterschwache Reich der Os-
manli unaufhaltsam dem Grabe entgegen, und mit welcher Anstren¬
gung die Mehrzahl der Großmächte sein klägliches Scheinleben auch
zu fristen sich bemüht, es wird ihr nimmer gelingen, die Fermente der
Auflösung auch nnr zu schwächen, die in dem entnervten Körper wüh¬
len und durch Rußlands Tücke fortwährend neue Nahrung erhalte»,.
Es ist hier keine andere Lösung möglich, es muß getheilt werden, und
diese Theilung wäre schon längst erfolgt, wenn sie nicht so unerme߬
liche Schwierigkeiten böte. Vergegenwärtigen wir uns zuvorderst, worin
diese Schwierigkeiten bestehen.
Ohne Zweifel darin, daß von den bislang alliirten beiden der
vier hier zunächst betheiligten Großmächte die eine genau dieselben
Beutestücke will, wollen muß, welche die andere begehrt und dieser nicht
lassen darf, ohne ihren theuersten Interessen tödtliche Wunden zu schla¬
gen. Zuvörderst: was will England? Aegypten, Syrien und ein Paar
Jnselchen im Mittelmeere; das ist so augenfällig, daß es gar keiner
weitern Ausführung bedarf. Von der bekannten Genügsamkeit des
meerbeherrschenden Albions steht zu erwarten, daß es sich einige Stücke
von Kleinasien und Arabien auch noch gefallen läßt. Ist aber das
mit ihm seither verbündete Frankreich nicht durch die Staatsraison ge¬
zwungen, dasselbe Aegypten und Syrien ebenfalls zu begehren; kann
es diese Länder der Meereökönigin überlassen? Gewiß nicht! Wenn
das schwächliche Geschöpf, die vnd«ut« nur<lialt>, auch einer ungleich
kräftigern Constitution genossen und nicht schon jetzt an der spanischen
Heirathöfrage den Hals gebrochen hätte, diese totale Unvereinbarkeit
der Interessen Englands und Frankreichs in dieser Frage müßte ihm
über kurz oder lang ganz unfehlbar das Lebenslicht ausgeblasen haben.
Ganz dasselbe ist mit den beiden andern, seither alliirten Gro߬
mächten, mit Rußland und Oesterreich, der Fall. Was will Rußland?
Constantinopel, den Bosporus, die europäischen Provinzen der Türkei.
Ja, die will Oesterreich, wenigstens großentheils, aber auch und wenn
es sie auch nicht für sich selber wollte/ darf es diese Beutestücke Ru߬
land überlassen? GewiA wenn das je, — es ist freilich undenkbar, —
geschehen sollte, wenn der Knutenstaat mit seinein Niesenleibe Oester¬
reich auch von der Seite umgarnte, wenn er die Donau, das schwarze
Meer ganz in seinen Klauen hat, dann dürfte Oesterreich nicht allzu¬
viel Zeit vergönnt sein, an sein Testament als europäische Großmacht
zu denken.
Es folgt hieraus, daß um nur überhaupt eine Lösung der orien¬
talischen Frage, sei es nun eine friedliche oder nicht friedliche, möglich
zu machen, vor Allem eine Umbildung im Heerlager der europäischen
Großmächte nöthig ist, d. h. daß die bislang verbundenen, deren In¬
teressen in dieser Angelegenheit keine Ausgleichung zulassen, sich trennen
und mit der Macht alliiren, mit welcher eine solche Ausgleichung aller¬
dings möglich ist, und wenn ich nicht sehr irre, so hat die Heirath
Montpensier's den Anstoß zu dieser Umbildung gegeben. Hier sind
nun allerdings verschiedene Combinationen möglich; es kann Oester¬
reich mit England, es kann Frankreich mit Nußland sich verbinden.
Bleiben nur zuvörderst bei diesen Allianzen stehen. Welchen Nutzen
hat Oesterreich von einem Bündnisse mit Großbritannien? welchen hat
dieses von einer Allianz mit dem Hause Habsburg in der Angelegen¬
heit zu erwarten? Die geschichtliche Erfahrung gibt darauf eine ganz
unzweideutige Antwort. In den letzten Kriegen war nicht nur Eng¬
land, sondern das halbe Europa mit Oesterreich verbündet, ohne die
Franzosen abhalten zu können, diesem nicht nur Italien zu entreißen,
sondern sogar bis Wien vorzudringen. Stürzt sich Frankreich auf diese
Halbinsel, was England, was das ganze übrige Europa völlig außer
Stande ist zu verhindern, so wird Oesterreichs Kraft gegen Rußland
total paralysirt, jedes erfolgreiche Auftreten gegen dieses in den türki¬
schen Provinzen ihm unmöglich. Ebenso sind die Franzosen zu einer
Zeit, wo ihre Seemacht noch lange nicht ihre gegenwärtige Höhe er¬
klommen, als sie Algier noch nicht besaßen, mit großer Heeresmacht
nach Aegypten gekommen, welches nebst Syrien zu erobern und gegen
die vereinte Kraft Frankreichs und deS von dem letztern Lande nicht
allzufernen Moskowitenstaates zu behaupten das alsdann auf sich al¬
lein angewiesene Großbritannien denn doch zu schwach sein dürfte.
Größer« Nutzen hat Nußland allerdings, wie sich schon aus dem
Vorstehenden ergibt, von einer Allianz mit Frankreich gegen Oesterreich
zu erwarten, aber keineswegs auch gegen England, mit welchem jenes
zur See schon für sich genug zu thun haben würde. Ohne Groß-
britanniens Zustimmung wird der Czaar Constantinopel, für ihn die
Perle der türkischen Beute, im , lücklichsten Falle wohl zeitweilig erobern,
aber nie behaupten, nie besitzen können. Und was ist das schwarze
Meer für Rußland, wenn die Dardanellen sich im Besitze Master John
Bull's befinden, welcher liebenswürdige, im Zugreifen gar nicht blöde
Theerjunge diese, wenn der Moment gekommen, in seinen Pfötchen hal¬
ten wird, ehe man sich dessen versieht. Und welche Macht der Erde
wäre dann stark genug, sie ihm zu entreißen?
Nun ist aber noch eine dritte Gruppirung möglich, nämlich daß
England mit Rußland, daß Oesterreich mit Frankreich sich alliire, und
diese Combination, will mich bedünken, ist den beiden andern bet wei¬
tem vorzuziehen, weil sie allen vier Mächten ungleich größere Vortheile
bietet. Betrachten wir zunächst die Allianz zwischen Rußland und
Großbritannien.
Des Letztern Schwergewicht in der Wagschale der Weltverhält¬
nisse beruht nicht in seiner Stellung auf dem europäischen Festlande;
seine Grenzen rückt der Czaar, wie viel er von diesem auch an sich
reiße, um keines Haares Breite näher. Es ist mithin mehr als jede
andere Großmacht im Stande, dem heißen Verlangen Rußlands nach
den europäischen Provinzen des Osmanenreichs Befriedigung zu ge¬
währen und, wie schon angedeutet, auch im Stande, den Besitz der¬
selben und zumal Constantinopels ihm zu verschaffen, ihm zu sichern.
Ebenso unterliegt es keinem Zweifel, daß Rußland um diesen Preis
den bescheidenen Wünschen John Bull's bezüglich Aegyptens und Syriens
ein Genüge thun kann, thun wird und zur Behauptung Syriens, wie schon
berührt, ihm sehr ersprießliche Dienste zu leisten vermag. Ich brauche,
um mindestens die große Wahrscheinlichkeit dieser Combination noch
augenfälliger, noch einleuchtender zu machen, daß das Petersburger
Cabinet hierzu längst entschlossen ist, nur an die Vorgänge von 1840
zu erinnern.
Um, was damals zum unendlichen Verdrusse des Autokraten ge¬
scheitert ist, wieder anzubahnen, buhlt derselbe seit einigen Jahren wie¬
der sehr eifrig um eine erneuerte Allianz mit Großbritannien. Was
deM Abschlüsse derselben bislang im W?ge stand, erfahren wir vielleicht
später; möglich, daß es das junge Königreich Griechenland gewesen,
welches der Czaar noch gerne ganz, ungetheilt mit in den Kauf haben,
die Meereskönigin ihm aber vorläufig in der Ausdehnug noch nicht
bewilligen will; möglich auch, daß die holde Dame gegen ihren juchten¬
duftenden Anbeter seither nur darum die Spröde spielte, um sich noch
kostbarer, diesen zu noch größern Gegeneinräumungen geneigt zu machen.
Ich müßte mich aber sehr irren, wenn die Heirath Montpensier's so-
thane Sprödigkeit nicht um ein Bedeutendes minderte, und das pfiffige
Rußland verkennt das so wenig, daß es jetzt, um für diese Sprödig¬
keit sich zu rächen, auch vortheilhaftere Bedingungen mit England ab¬
zuschließen, sich die Miene gibt, als beabsichtige es eine Allianz mit
Frankreich, obwohl ihm an einer solchen, wie vorstehend dargethan
worden, doch bei weitem nicht so viel gelegen sein kann, wie an einem
Bündniß mit dem stolzen Albion.
Es ist jetzt (ich muß bei dem Gegenstande doch etwas verweilen)
in öffentlichen Blättern wieder viel die Rede von einer Allianz zwischen
Rußland und Frankreich, und ängstliche deutsche Politiker trösten sich
damit, daß Kaiser Nikolaus ein viel zu entschiedener Feind der Juli¬
revolution und ihrer Principien, von zu intensiven persönlichen Anti¬
pathien gegen die Dynastie Orleans erfüllt sei, um mit dieser, um mit
dem heutigen Frankreich sich zu verbinden. Paperlapapp! der Scheide¬
wand ist eben nicht viel zu vertrauen. Für seine ohne russische Er-"
laubniß bewerkstelligte Revolution findet Frankreich, für ihre Jllegw'
anat findet die Dynastie Orleans in Se. Petersburg ganz bestimmt
Verzeihung, sobald der natürliche Edelmut!), die angeborne Clemenz
und Versöhnlichkeit des russischen Autokraten durch das Staatsinteresse,
durch die Anforderungen der Staatsraison einige Verstärkungen erhalte,.
Aber dafür, daß Frankreich sich unterstanden hat, das junge Königreich
Griechenland zu gründen — kein Zweifel, Frankreich ist der eigentliche
Gründer desselben —; daß es ihm behülflich gewesen und noch immer
ist, aus dem Ehaos, in welches zunächst russische Intriguen es gestürzt
und fortwährend zu stürzen suchen, zu einem geordneten constitutionellen
Staatswesen allmälig sich emporzuarbeiten; daß es, in seinem wohl¬
verstandenen Interesse, bei Zeiten dafür gesorgt, daß, wenn die Sterbe¬
stunde des Osmanenreichs schlägt, die griechischen Bevölkerungen des¬
selben an einen andern bestehenden Staat griechischer Religion — und
das ist die Hauptsache — sich anschließen können, an einen Staat, der
mit Oesterreichs und Frankreichs Unterstützung wohl im Stande ist,
im Besitze dieser neuen Erwerbungen sich zu behaupten: für diese Tod¬
sünde (sie ist der wahre Grund des Hasses des russischen Autokraten
gegen das Juli-Frankreich und die Dynastie Orleans) wider den hei¬
ligen Geist der russischen Politik gibt es in Se. Petersburg keine Ab¬
solution. Nur wenn Frankreich diese seine Schöpfung fallen lassen,
wenn es sich dazu verstehen würde, sie der russischen Großmuth preis-
zugeben, dürfte es Gnade finden vor den Augen des Czaren. Aber welches
französische Ministerium möchte wohl so verblendet sein, Griechenland
mit seiner vortheilhaften Lage, mit seinen schönen Seehäfen im Mittel¬
meere, mit seinen tüchttgen Seeleuten der russischen Clemenz zu über¬
lassen? Wenn man erwägt, daß aus den hier angedeuteten Gründen
Master John Bull von der Anwesenheit Griechenlands in der europäi¬
schen Staatenfamilie, von dem ihm unentbehrlichen Protektorate Frank¬
reichs über dasselbe sich gar wenig erbaut fühlen kann; wenn man
sich erinnert, daß besagter Master eben darum die wohlwollenden Be¬
mühungen Rußlands, Griechenland zu verwirren und zu zerrütten,
unter der Hand nach Kräften unterstützt hat und zweifelsohne fort¬
während unterstützt, so wird man unschwer erkennen, daß hier noch ein
bei der dereinstigen Lösung der orientalischen Frage sehr wesentlicher
Punkt vorhanden ist, in welchem die Interessen Rußlands und Gro߬
britanniens ebenso sehr Hand in Hand, als die Rußlands und Frank¬
reichs auseinander gehen.
Aber auch für dieses Letztere hat eine Allianz mit Rußland, will
mich bedünken, jetzt lange nicht mehr den Werth, den sie früher gehabt
haben mochte. Jene, die gegenwärtig an eine solche wieder glauben,
berufen sich auf das, was kurz vor der Julirevolution zwischen Ru߬
land und Frankreich abgekartet worden. Aber dabei wird, scheint mir,
nur eine Kleinigkeit übersehen. Damals besaß Frankreich noch nicht
Algier, welche Erwerbung seiner auswärtigen Politik eine durchaus
veränderte Richtung gegeben hat und geben mußte. Nach dem Mittel-
meere sind jetzt vorzüglich seine Blicke gerichtet, und von welch großem
Nutzen könnte ihm hier die Freundschaft Rußlands sein? Das Einzige,
was ihm diese zu bieten vermöchte, müßte vor Allem, wie eben gezeigt
worden, mit einem so großen Opfer grade im Mittelmeere erkauft wer¬
den, daß auch, ganz abgesehen von den unermeßlichen Anstrengungen,
die Vonnöthen wären, jenes Einzige zu erringen und, was noch un¬
gleich schwieriger, zu behaupten, mit Recht gefragt werden dürfen: ob
bei dem Handel der Verlust nicht großer als der Gewinn wäre. Und
wozu ihn eingehen, da es für Frankreich eine andere, ihm weit vor¬
theilhaftere, mit keinem Opfer verknüpfte Allianz gibt? Es ist die mit
Oesterreich. Was die innige Verbindung mit Spanien dem französischen
Staate — wahrlich nicht allein der Dynastie Orleans! — so werth¬
voll macht, läßt ihn auch die mit Oesterreich wünschen, die jetzt schon
nicht unbedeutende und mit der steigenden Entwicklung seiner Seemacht
noch weit bedeutender werdende Stellung desselben im Mittelmeere, seine
schönen Häfen, der tüchtige Stamm von Seeleuten, welchen es in seinen
Küstenländern besitzt. Dazu kommt noch ein zweites, weit wichtigeres,
schon angedeutetes Motiv einer Allianz zwischen Frankreich und Oester¬
reich. Kein anderer Staat ist so sehr im Stande, besitzt so dringende
Aufforderung wie dieses, wenn die Katastrophe des Osmanenreichs
eintritt, für das junge Königreich Griechenland gegen den russischen
Autokraten zu streiten, und wenn ich nicht sehr irre, heischt das Oeste»
reichs wahres Interesse noch weit gebieterischer als Frankreichs Staats¬
vortheil. Aber noch aus einem andern Grunde ist die Allianz des
Letztern für Oesterreich von unendlichem Werthe. Dieses vermag seine
ganze ungetheilte Kraft gegen Rußland nur dann zu wenden, wenn
sein Rücken gedeckt, wenn es Italiens sicher ist, wenn es seine Groß«
Polizeimeister-Stelle dort zeitweilig mit voller Beruhigung niederlegen
darf. Und nur Frankreich kann ihm diese Sicherheit gewähren und
muß sie alsdann in seinem eignen Interesse ihm gewähren, und das
bietet immer die verlässtgste Bürgschaft, damit Oesterreich Griechenlands
mit vollem Nachdrucke sich annehmen, dem Küstenstaate tüchtige Wichse
versetzen könne. Wenn das Wiener Cabinet seinen wahren Vortheil
versteht, wird eS darum auch, beiläufig bemerkt, die reformatorischen
Bemühungen des jetzigen Papstes nicht durchkreuzen und erschweren,
sondern im Einverständnisse mit Frankreich unterstützen lind fördern.
Nur durch Reform, durch Umbildung unerträglicher, unhaltbarer Zu¬
stände wird die fortwährend bedrohte Ruhe in jener unglücklichen Halb¬
insel dauernd hergestellt, nur durch Reformen hier die öffentliche Meinung
mit Oesterreich versöhnt, nur durch Reformen kann der Revolution vor¬
gebeugt werden. Ich dächte, das hätte man erst jüngst in Galizien so
eindringlich erfahren, daß man das in Wien doch endlich begreif.» sollte.
Ich komme jetzt auf die Gründe, die auch dem übrigen Deutschsand,
Preußen und den Zollvereinöfiaaten, eine Allianz mit Frankreich ge¬
bieten.
Daß Preußen wie Deutschland im Allgemeinen keinen grimmigem,
keinen furchtbarem Feind besitzt, als den russischen Autokraten, ist zwar
zur Genüge bekannt, eS dürfte jedoch nicht überflüssig sein, die Motive
dieser Feindschaft etwas näher zu betrachten. Der Czar fürchtet näm¬
lich den trotz aller hermetischen Absperrung, zwar mühselig und lang¬
sam, aber sicher sich Bahn brechenden Einfluß des germanischen Geistes
auf die inneren Verhältnisse seines Stacues, des Geistes, dessen nicht
so augenfällige, stille und tiefgreifende, der des rastlos fallenden Wasser¬
tropfens, der auch den Stein aushöhlt, vergleichbare Einwirkung allein
fähig sein möchte (der Champagnergeist der Franzosen entbehrt dieser
nachhaltigen Kraft, weshalb der Selbstherrscher aller Reußen den franzö¬
sischen Geist auch lange nicht so sehr wie den deutschen haßt), unter
einem in Barbarei und Thierheit so völlig versunkenen, geistig so ver¬
kümmerten Volke, wie das russische, fruchtbare Keime der Civilisation
auszustreuen, ihm Begriffe von Menschenwürde und von Menschenrechten
einzuflößen. Der Czar fürchtet ferner, Preußen möchte dereinst seine
glorreiche Mission begreifen lernen, die Sympathien umfassend benutzen,
welche in den russischen, weiland deutschen Ostseeprovinzen für den stamm-
und glaubensverwandten Staat schlummern. Darum werden dort so
enorme Anstrengungen gemacht, um den Protestantismus auszurotten,
um mit ihm die wirksamste Handhabe zu vernichten, deren der gefähr¬
liche Nachbar dort einst sich bedienen könnte; darum finden alle staat¬
lichen Verbesserungen, durch welche Preußen seine innere Einheit wie
seine Nationalkraft und damit seine Macht nach Außen erhöhen, sowie
seine Verbindung mit dem übrigen Deutschland noch fester schürzen
kann, in Nußland den entschiedensten Widersacher. Und doch hält dieses
gegen Preußen die Maske der Freundschaft vor, die wahre Gesinnung
bricht freilich mitunter sehr deutlich durch, — muß sie vorhalten, weil
es für den Czarenstaat von unendlichem Werthe ist, bei der einstigen
Lösung der ihm so überaus wichtigen orientalischen Frage sich Preußens
zu versichern, es in das Schlepptau seiner Politik zu nehmen.
Die Bundesgenossenschaft dieses Staates ist sür den Fall des
Eintrittes der Katastrophe im Oriente von großer, ich möchte sagen
von entscheidender Bedeutung, wegen der Hindernisse, die er der freien
Bewegung Oesterreichs wie Rußlands in der Türkei zu bereiten ver¬
mag. Beiden Mächten ist diese nur dann möglich, wenn sie ihren
Rücken gedeckt, also von Preußen nichts zu besorgen haben. Es läßt
sich daher voraussehen, daß dessen Freundschaft von diesen Beiden für
den in Rede stehenden Fall sehr eifrig nachgesucht werden wird, am
eifrigsten aber unstreitig vom Czaren. Gelingt es demselben auch nur,
Preußen zur bewaffneten Neutralität zu bewegen, so ist schon der Zweck
erreicht, Oesterreich zur Theilung seiner Kräfte zu zwingen. Während
es mit der einen, größer« Hälfte gegen Nußland kämpfte, würde es
mit der andern, wenn auch kleinern Preußens Parteilosigkeit, in
die es alsdann kein zu großes Vertrauen setzen dürfte, überwachen
müssen. Glückt der russischen Diplomatie aber der Meisterstreich, an
Preußen einen thätigen Bundesgenossen zu gewinnen, es alt Oester¬
reich in einen Waffentanz zu verwickeln und somit den Kampf um die
türkische Erbschaft ebenso zum Theil auf deutschem Boden ausfechten
zu lassen, wie im Anfange des vorigen Jahrhunderts der spanische
Erbfolgekrieg auf demselben ausgestritten wurde, dann wird sie sich in
Wahrheit rühmen dürfen, gar drei Fliegen mit einer Klappe erwischt
zu haben. Einmal wird der Gewinn des besten Stückes der türkischen
Erbschaft dem Petersburger Cabinette dadurch wesentlich erleichtert;
dann würden die frommen Wünsche, welche dieses für Deutschlands
innere Zerklüftung, Abschwächung und Erniedrigung tagtäglich zum
Himmel sendet, eine glänzende Erfüllung finden, die Deutschen so zer¬
rissen und entkräftet werden, daß sie auf lange hinaus Lust und Fähig¬
keit verlieren dürften, die völkerbeglückenden Intentionen des Selbst¬
herrschers aller Reußen zu durchkreuzen. Drittens wird dieser mithin,
wenn er sich eines Tages bemüßigt finden sollte, die Oesterreich und
Preußen bislang noch belassenen slavischen Provinzen mit ihren unter
Rußlands Scepter sich so überaus, glücklich fühlenden Bruderstämmeu
zu vereinen, auf die Einsprache der fraglichen Staaten, weil diese so
gutmüthig gewesen, sich gegenseitig abzuschwächen, eben keine sonder¬
liche Rücksicht zu nehmen nöthig haben.
Preußen leidet an einem sehr gröhlen, an einem sehr schmerzlichen
Mangel; ihm fehlt der räumliche Zusammenhang zwischen seinen öst¬
lichen und seinen westlichen Provinzen. Dieser preußischen Bruchkrank¬
heit ist aber nur durch Veränderungen in Deutschland selbst auf Kosten
anderer deutschen Staaten abzuhelfen; es kann daher auch gar nicht
zweifelhaft sein, daß die Katastrophe im Oriente solche veranlassen
wird. Nun ist allerdings nicht zu läugnen, daß das officielle Preußen
in seinen Reden und Landtags-Abschieden große Achtung vor dem
Bestehenden, vor dem historisch Begründeten, vor deutschem Wesen,
vor deutscher Sitte an den Tag legt, es ist aber auch nicht minder
wahr, daß der preußische Adler, wenn es zum Zugreifen kam, von
jeher mehr ausländischer Mode sich angeschmiegt hat, daß zwar sein
Gemüthe stets fromm und christlich gesinnt gewesen, daß aber in dem
Conflicte zwischen Gemüthe und Schnabel, nicht nur in den Tagen
des freigeisterischen großen Fritz, sondern auch zu andern frommem
Zeiten, der irreligiöse Schnabel gewöhnlich den Sieg über das religiöse
christliche Gemüthe davon getragen. Und wenn man ehrlich sein will,
wird man zugeben müssen, daß es das Vollmaß politischen Blödsinnes
und der Legitimitätspinselei wäre, wenn Preußen den unwiederbring¬
lichen Moment, wo zwei Gruppirungen der Großmächte um seine
Allianz werben, nicht dazu benutzte, für seine Bruchkrankheit sich das
zweckmäßigste Heilpflaster auszukitten. Eine Allianz Preußens gegen
Oesterreich können wir uns kaum denken, da dieses nicht nur die so
oft und heftig proclamirte deutsche Einheit vollkommen zerstören würde,
sondern auch einen Zustand der Dinge herbei führen würde, die an
die Zeiten des dreißigjährigen Krieges mahnten. Bei jeder Allianz
gegen Frankreich würde Preußen jedoch vor Allem seine Rheinprovinzen
bedroht sehen. Dagegen würde es im Verein mit Oesterreich und
Frankreich ein Heilpflaster finden, durch welches eS keinen Riß in den
Zollverein brächte, wodurch vielmehr diesem selber ein unermeßlicher
Vortheil erwüchse. Es ist freilich wahr, daß Oesterreich sich nicht so
leicht zur Bewilligung dieses Heilpflasters entschließen dürfte, aber
sicher, daß es sich dazu wird entschließen müssen. —
Die dringende Aufforderung, die sonach Preußen, damit es von
der dereinstigen Lösung der orientalischen Frage die vortheilhafteste und
gründlichste Heilung seines bösen Gebrestes ernte, die sonach der Zoll¬
verein besitzt, damit diese anch ihm zum Segen gereiche, alsdann mit
Oesterreich und Frankreich Hand in Hand zu gehen, wird aber noch
wesentlich verstärkt durch ein gewichtiges Moment des deutschen Welt¬
handels. Gleich Oesterreich und Frankreich muß nämlich auch der
Zollverein dafür sorgen, daß die Donau nicht unter russische Herr¬
schaft salle, daß die orientalischen Märkte von Rußland und England
Andern nicht verschlossen werden, was, wenn diese beiden Haie die
Löwenmttheile der türkischen Beute an sich reißen sollten, bet der erclu-
siven Handelspolitik derselben, ganz gewiß erfolgen wird. Der Ver¬
kehr mit dem Oriente ist schon jetzt von großem Belange für Frankreich
und Deutschland, und wird voraussichtlich zu noch weit größerer Be¬
deutung sich erheben, wenn jenen, von der Natur so reich gesegneten
Provinzen erst einmal die Wohlthat geordneter europäischer Verwal¬
tung zu Theil geworden. Die Concurrenz der, noch immer und wohl
noch lange, in den Windeln liegenden russischen Industrie im Oriente
hat Großbritannien nicht zu scheuen, wohl aber die der deutschen und
französischen. Es wird daher zweifelsohne die größten Anstrengungen
machen, diese beiden dort zu verdrängen. Mit der französischen, von
einer großen Seemacht unterstützten, wird ihm das nicht gelingen, wohl
aber mit der deutschen, und am leichtesten mit der des Zollvereins, der
gar keine Seemacht besitzt, wenn ihm Frankreich nicht zur Seite steht,
wenn Preußen durch Verträge mit dieser Macht in der Beziehung
nicht Vorsehung trifft. — Wo Gründe von so entscheidender Bedeu¬
tung, wie die hier dargelegten, für die Allianz Preußens und des
Zollvereins mit Frankreich sprechen, dürste es kaum noch vonnöthen
sein, auch auf die übrigen minder gewichtigen aufmerksam zu machen.
Doch will ich, zu allem Ueberflusse, hier noch daran erinnern, daß dem
Zollvereine, wenn er endlich einmal daran denken sollte, die ihm so
überaus nöthige Marine sich zuzulegen, die Unterstützung und der
Schirm Frankreichs ebenso trefflich zu Statten kommen, als gerne
gewährt werden dürsten; daß die Schleswig-holsteinische, richtiger die
Sund-Frage (denn daß der Sund umgetauft, russischer Religion werde,
das ist der eigentliche Sens an dieser) doch einmal über kurz oder
lang, Preußen und den Zollverein gegen Rußland und England in
die Schranken rufen muß. Frankreich kann hier mindestens neutral
bleiben , findet aber wahrscheinlich in seiner veränderten Stellung zu
England und Deutschland ein genügendes Motiv letzteres zu unter¬
stützen, während es dem, gegen den Zollverein so erbitterten Albion
(für welches es, beiläufig bemerkt, eine Kleinigkeit ist, dafür zu sor¬
gen, daß aus der beregten Umlaufe des Sunds ihm keine Unbequem¬
lichkeiten erwachsen) überaus erwünscht sein muß, jenem eine so hä߬
liche Brille auf die Nase zu setzen, seiner, immer impertinenter werden¬
den, Entwicklung einen solchen Hemmschuh anzulegen. Man sieht,
wie auch in dieser, Deutschland so nahe berührenden, Angelegenheit
deS Czarenstaates und Großbritanniens Interesse Hand in Hand
geht. —
Wann werden diese Beiden, nachdem sie in der orientalischen
Frage wieder, wie im Jahre 1840 einig geworden, wohl auf ihre
Beute sich losstürzen? Sobald es ihnen gelingt, Deutschland und
Frankreich wieder aneinander zu Hetzen; wahrscheinlich warten sie auch
nur den Hintritt Louis Philipps ab. —
Möchte dieser Deutschland und Frankreich vereint, gewappnet
finden zur Vereitelung der schlimmen Anschläge ihrer ärgsten Feinde,
vollkommen einverstanden über die zu dem Behufe, im beiderseitigen
wohlverstandenen Interesse, zu ergreifenden Maßregeln. Daß Frank¬
reich dem Bunde auch Master John Bulls Brüderchen, den kleinen
Jonathan (der aber ein schönes Wachsthum und, gleich allen im
Wachsen begriffenen Jungen, einen wahren Wolfsappetit entwickelt)
zuführen wird, darf nicht bezweifelt werden. Die verdächtigen Liebes¬
blicke, die der Bursche der Jungfer Canada schon seit geraumer
Zeit zuwirft, sind der französischen Diplomatie gewiß nicht entgangen,
so wenig wie es ihr entging, daß die Copulation des Herzogs von
Montpensier mit der spanischen Infantin am schicklichsten in dem Mo-
mente vorgenommen werde, wo die Kalifornien und noch andere Stücke
Meriko's in den geräumigen Magen des kleinen Jonathan spazieren.
Von allen Cabinetten war das zu Washington von dem bevorstehenden
Abschlüsse der Heirath Montpenster bestimmt am frühesten unterrichtet;
man bemerke, wie fein das abgekartet gewesen, wie trefflich sich das
gegenseitig unterstützt. —
Wenn irgend etwas, so mochte die hier vorgeschlagene Gruppirung
der Großmächte zunächst im Stande sein, zu einer friedlichen Lö¬
sung der orientalischen Frage zu führen, und selbst diese, die Erhaltung
des Weltfriedens so bedrohend« Angelegenheit, ohne Störung desselben
zu erledigen; die schwarze Wetterwolke auch für Deutschland in be¬
fruchtende Regenschauer aufzulösen, wie denn überhaupt die Erhaltung
des europäischen Friedens durch eine Allianz zwischen Deutschland und
Frankreich mir weit kräftiger verbürgt zu werden scheint, wie durch die
zwischen Frankreich und England. Dieses und Rußland werden, wenn
Oesterreich, Preußen, das übrige Deutschland und Frankreich, mit Nord¬
amerika im Hintergrunde, vereint ihnen zurufen: „Halt da, Ihr Schnapp¬
hähne; ehrlich getheilt! Wir sind ebenso nahe Anverwandte des theuern
Verblichenen wie Ihr!" sich wohl dazu bequemen müssen, auf die Lö¬
wenportionen der türkischen Erbschaft zu verzichten und selbe so zu
vertheilen, daß hierdurch das Gleichgewicht unter den Großmächten
nicht gestört werde, das Interesse Aller gebührende Berücksichtigung
finde.
Von dein Kampfe für oder gegen Principien, Ideen, Meinungen,
Systeme ist noch kein Staat fett geworden; wohl aber sind schon mäch¬
tige Monarchen dadurch zu Grunde gegangen, wie z. B. die Philipps
des Zweiten. Wenn es überhaupt von jeher thöricht und fruchtlos
gewesen, gegen Meinungen, gegen Ideen zu streiten, so muß das im
Zeitalter der Eisenbahnen vollends als baarer Unsinn erscheinen. Die
Principien der innern Politik, die persönlichen Sympathien oder An¬
tipathien, die Vorliebe der Machthaber sür dieses oder jenes System,
dürfen durchaus von keinem Einflüsse auf die auswärtige Politik,
auf die Allianzen mit dem Auslande, für diese darf nur das In¬
teresse des Staats, der Staatövortheil maßgebend fein. Wo man daS
vergißt, werden Böcke, wie der im Jahre 184V gemachte, immer un¬
vermeidlich sein, aber nur nicht immer so glücklich wie damals noch
rechtzeitig zurückgenommen werden können.
Meine historischen Studien und Arbeiten haben mir Gelegenheit
genug gegeben, den Witz, den Scharfsinn deutscher Staatsmänner und
Diplomaten früherer Tage zu bewundern. Demungeachtet muß ich
bekennen, daß die Allianz Oesterreichs und Preußens im Jahre 1840
mit England und Rußland doch weit über mein Vorstellungs-Vermö-
gen ging. Diesen beiden Haifischen, die täglich so fromme Wünsche
für die Wohlfahrt des gesammten Deutschlands zum Himmel empor¬
steigen lassen, diesen wollte man auch gar noch helfen, die Löwen¬
antheile der türkischen Erbschaft einzusacken, und damit sie in diesem
Geschäfte ja nicht gestört würden, ihm mit voller Muße und Bequem¬
lichkeit obzuliegen, zeigte man nicht übel Lust, war man ganz nahe
daran, Deutschland in einen Waffentanz mit Frankreich zu verwickeln,
wollte also wieder einmal für Master John Bull die Kastanien aus
dem Feuer holen, wieder einmal mit deutschem Gut und Blut die Zeche
bezahlen! Es sind damals in Deutschland noch allerlei andere, wenn
auch nicht ganz so, doch annähernd sublime Studien der höhern Di¬
plomatie zu Tage gekommen. So ist mir z. B., als ich las, daß dem
unsterblichen Sänger des NheinliedeS ein gewisser Pokal mit sehr huld¬
vollem Handschreiben Übermacht worden, eingefallen: wie lange König
Otto in Athen wohl noch spaziere,: gehen möchte, wenn Frankreich ihn
aufgeben, nicht mehr im Stande sein würde, ihn auf seinein überaus
wackeligen Throne festzuhalten?
Doch, rechten wir nicht länger über das Vergangene, um so we¬
niger, da es in der Hallt der gütigen Vorsicht andere, als die bezweck¬
ten, sehr erfreuliche Resultate zeitigte. Sorgen wir nur Alle, Jeder
in seinem Kreise, so weit er es vermag, dafür, daß solche Böcke in
Deutschland nicht mehr geschossen werden, nicht mehr geschossen
werden können; unbekümmert darum, daß Jene, die diesem
undankbarsten aller Geschäfte ohne Menschenfurcht, mit Energie und
Freimuth sich widmen, ganz anderer Remunerationen, als silberner
Pokale, sich zu getrösten haben.
Sie haben vor Kurzem über Lessing's Abgang von Düsseldorf und
den daraus entspringenden Veränderungen im Kunstleben ausführlich be¬
richtet; die jüngste Zeit hat indeß Alles zum Guten gewendet, und für
die Zukunft der Kunstschule «in besseres Prognostikon gestellt, als in je¬
nem Bericht ausgesprochen war. Lessing hat sich nunmehr entschlossen,
in Düsseldorf zu bleiben; nachdem ihm die ehrenvollen Antrage der
Frankfurter anfangs sehr annehmbar geschienen, hatte er bei genauer
Erwägung aller Pflichten einer Lehrerstelle dennoch eingesehen, daß er
mit Annahme der Professur viel von seiner freien künstlerischen Thätig¬
keit einbüßen würde. Dieser Umstand und die unablässigen Bitten seiner
Freunde bewogen ihn, die angeknüpften Unterhandlungen mit dem Di¬
rektorium des Städelschen Instituts abzubrechen und sich für einen fer¬
nern Aufenthalt in Düsseldorf zu entscheiden.
Es ist, als ob mit diesem Entschlüsse unseres großen Meisters eine
neue Phase für die Schule und ihrer Mitglieder begonnen habe; mit
Lessing wollten viele andere Koryphäen fort, mit Lessing haben sie die
beabsichtigte Veränderung reiflich erwogen, und ebenfalls mit seinem Ent¬
schlüsse auch den ihrigen kund gethan, nämlich: hier zu bleiben.
Als nun die neue Kunde von der glücklichen Wendung der Dinge
im Orte bekannt wurde, reifte in wenig Tagen der Entschluß bei der
gesammten Bürgerschaft, dem allverehrten Meister Lessing, der seit zwanzig
Jahren ihr Mitbürger gewesen und es auch ferner bleiben wolle, auf so¬
lenne Art ihre Freundschaft und Hochachtung zu bezeugen. Es geschah
am 31. October in Form eines glänzenden Abendessens; läge es irgend¬
wie in der Aufgabe Ihres Blattes, derartige Festivitäten speciell zu schil¬
dern, so würde ich nur mit Vergnügen von den schönen Toasten auf
das Wohl des Gefeierten sowie seines alten Meisters von Schadow, auf
das Zusammenleben der Bürger und Maler und auf eine schöne Zukunft
der Kunst und ihrer hiesigen Schule berichten. So aber muß ich mich
beschränken, Ihren Lesern mitzutheilen, daß die Demonstration der Bür¬
ger an die Herren der Kunst für letztere von großer Bedeutung sein wird,
Geschaart im Kreise um ihren hochverdienten Director schwuren die Jün¬
ger der Akademie, in fester Vereinigung fortzupflanzen, was er geschaffen ;
Hand in Hand mit ihnen schlössen die Bürger der Stadt einen schönen
Bund für's fernere Ausammenleben und die Losung Aller war: Verein¬
tes Streben zu Ruh und Frommen des Ruhmes der Düsseldorfer
Schule.
Während solchergestalt die rheinische Kunstschule unter sich Triumphe
feiert, geht der böse Geist mit hochgcschwungenem Gänsekiel aus der Ber¬
liner Ausstellung umher, zu suchen, wen er verschlinge. Es sind halt
mal wieder die Düsseldorfer Bilder — und es ist 'ebenfalls halt wieder
das alte Lied von der Düsseldorfer Sentimentalität! Jenen Kritikern
geht es grade so wie (nach Kalisch) unserm Adel — sie leben von histo¬
rischen Erinnerungen. Statt sich eine Waffe aus neuer Werkstatt zu
schmieden, greifen sie zu der längst verschimmelten Partisane, hervorgeholt
aus der Rumpelkammer der weiland brühenden Düsseldorfer Romantik;
mit diesem uralten Sündenbock stoßen sie durch die Leinwand der neuen
Bilder, und beweisen damit, daß der zehnjährige Rost, den der neue
Aufschwung unserer Schule auf die alte Waffe gelegt, dies alte Eisen
noch nicht zerfressen hat. Wenn doch die Mitglieder der Düsseldorfer
Schule endlich einmal Ablaß erhielten für ihre uralten Sünden! Die
hartherzigen Berliner Beichtvater können es aber nimmer verschmerzen,
daß die Sünderin, Düsseldorfer Schule genannt, trotz aller Beschimpfung
immer noch schön ist, und daß sie diese ihre bürgerliche Schönheit den
Wünschen und Lüsten des alten Aristokraten, Berliner Akademie benannt,
nicht preisgeben will. Wir kennen einige Falle, wo jener Ablaß von
einzelnen Sündern bei diesem oder jenem Tetzel erhandelt worden, legen
aber darauf kein Gewicht, weil dabei Beichtvater und Sünder auf glei¬
cher Stufe moralischen Werihes standen. Wir wollen auch gerne ge¬
statten, daß eine angemessene Buße und Pönitenz für manches hier
begangene Vergehen auferlegt werde mag immerhin die Geißelung
den Sünder hart verwunden, sie gehört einmal dazu, die Sühne verlangt
ihr Opfer. Aber statt der neuen Vergehen immer wieder das alte Ver¬
brechen vorzunehmen, immer wieder das alte Medusenhaupt als Schreck¬
bild anzuwenden — das ist ebenso ungerecht wie absurd.
Die in Heften erscheinende humoristische Besprechung der Berliner
Ausstellung hat u. A. „ein Vernet'sches Bild in's Düsseldorf'sche über¬
setzt" in Holzschnitt gegeben, worin sie alle lebensvollen Figuren des
französischen Malers versentimentalistrt, d. h. schlaff und süßlich darstellt.
Vor zehn Jahren hatte dieser Witz treffend genannt werden müssen, jetzt
aber geht es damit wie mit den alten Nantiaden und sonstigen Berliner
In unsern Mauern befinden sich gegenwärtig zwei interessante Fremde:
Karl Gutzkow und Frau von Bacharach, die Verfasserin mehrerer ge¬
schätzten und vielgelesenen Romane. Karl Gutzkow wird seinen Aufent¬
halt Hierselbst nur auf drei Wochen einschränken, um alsdann nach Dres¬
den zu gehen. So ehrenwerth seine neue Position dort auch >sein mag,
so scheint sie uns doch streng genommen unvereinbar mit dem Innern
eines productiven Autors. Verdrießliche Verwickelungen, langweilige und
abspannende Amtsgeschäfte, zeitraubende Correspondenzen sind unzertrenn¬
bar von den Functionen eines Dramaturgen. Ob nun durch längere
Wirkung dieser Verhältnisse nicht die producrive Stimmung geschmälert
oder wenigstens beeinträchtigt wird, muß die Folge zeigen. Uebrigens
scheint dieser Gutzkow nun schon seit längerer Zeit dem Geschmack des
Publicums und der Schauspieler größere Concessionen zu machen, als
das Recht der dichterischen Unabhängigkeit zuläßt. Allerdings hat das
theatralische Element gerechte Ansprüche an den Autor, allein die Grenz¬
linie muß scharf gezogen werden, wo. man ihm Satisfaction gegeben hat
und nun das Gebiet des Waltens originaler und unbeschränkter Kräfte
anhebt.
Französische Autoren machen sich im theatralischen Moment zu gel¬
tend, deutsche Dichter im Dramatischen. Ein Ideal bleibt noch immer
ein Werk, das hierin richtige Proportionen aufzuweisen hat. Karl Gutz¬
kow steht bis jctzc noch immer dem Feldlager der Franzosen näher, als
dem der Deutschen. Vielleicht führt ihn der Uebecdruß in unsere Reihen
hinüber und die Einsicht, wie viel leichter der Ruhm erreicht wird, auf
der Bühne temporair angenehm zu sein*).
Vom Namen Gutzkow kommen wir wie von selbst auf den seines
alten Widersachers Menzel. Dieser ist wirklich im Anzüge und wird in
etwa drei Wochen in unserer Mitte anlangen. Er ist berufen, die zum
Januar notorisch erscheinende deutsche Zeitung in's Geleise zu bringen,
nachoem er glücklich die Literaturbeilagen des Morgcnblatts aus dem
Geleise gebracht hat. Man dürfte ihm seine vergangenen Sünden hier
nicht vergess.n haben und der Empfang von Seiten der hiesigen Litera¬
tur möchte nur wenig an arabische Gastfreundschaft erinnern.
Der Gesellschafter des Professor Gubitz hat eine Umwandlung er¬
fahren. Seine Literatur- und Kunstspalten haben sich als Monatsschrift
unter der Redaction des talentvollen Anton Gubitz constituirt. Die Con¬
cession des Gesellschafters oder vielmehr der Mangel einer solchen (venu
er stammt aus dem goldenen Zeitalter der Journale, wo sie dergleichen
nicht bedurften) ist so beschaffen, daß er selbst die politischen Zustande in
den Kreis seiner Besprechungen ziehen darf. Wenn er dessenungeachtet so
wenig leistet, liegt dies nur an der verrosteten Feder des Professor Gu-
bitz, der nicht allein in seiner eigenen Zeitschrift, sondern auch in der
Vossischen Zeitung, fern von allen höhern Gesichtspunkten, auf eine Kri¬
tik dringt, die ihn mit frischern ästhetischen Ansichten schon lange in ge¬
heimen Conflict gebracht hat. Die von Anton Gubitz in einigen scharf
durchdachten Aufsätzen ausgesprochenen Ansichten zeigen eine erfreuliche
Lossagung von den Principien des Professor Rötscher, die früher den
Leistungen des genannten jungen Kritikers stofflich und stilistisch ein un¬
angenehmes graues Kolorit gaben.
Der Conccrtjammcr geht jetzt in Berlin los. Hoffentlich werden
einige kritische Räucherungen, wenn schon nicht mit Weihrauch, unter¬
nommen werden, um die Heuschreckenschwärme der anziehenden Virtuosen
abzuschrecken, sonst dürften wir bald auf dem Standpunkte eines der
frühern Winter sein, wo man den Berlinern die Concertbillette gratis
und franco zuschickte, mit der artigen aber dringenden Bitte, doch nur
ja zu kommen. Wir warnen denn auch alle Virtuosen, unser Spree-
Athen zu betreten, wenn sie sich nicht eminenter Fähigkeiten bewußt sind,
und auch dann noch den Muth und die Börse besitzen, eine Zeitlang der
allgemeinen Gleichgilcigkeit zu trotzen. Als das erste Opfer dieser Saison
ist am Dienstage der allerdings ausgezeichnete, jedoch nicht von dem
Vorwurfe der Charlatanerie freizusprechende Hornvirtuose Viviers aus
Paris gefallen. Sein Concert war trotz der mächtigen Subsidien einer
Anzahl Freibillets nur halb gefüllt und die Gunst, welche er vor einem
Jahre genoß, hat sich ihm diesmal nicht zuwenden wollen. Wer hier
einmal willkommen war, komme nicht zum zweiten Male. Nur künst-
lerischen Größen, wie Mad. Viardot, Fräul. Lind, die Gebrüder Müller,
wird stets ein freies Logis in der allgemeinen Beliebtheit reservirt.
Stehende muilkalische Aufführungen sind die Symphoniesoireen der
königl. Kapelle, die Quartette der Herren Zimmermann u. a. in, und die
Trioab-roe der Gebrüder Stahlknecht und des Pianisten Sleifensand.
Wenn schon die Berliner Kapelle bei weitem hinter der Virtuosität des
Pariser Conservatoire's zurückbleibt, muß man doch eingestehen, daß viele
treffliche Bestandtheile da sind, um Aehnliches zu leisten. Nur eignen
sich die zeitweiligen Dirigenten, Henning und Taubert, nicht dazu, die
Kapelle auf dem Wege der künstlerischen Entwicklung zur Reife zu führen.
Ersterer, an unheilbarem Phlegma laborirend, ist bis jetzt noch nicht zum
Vorschein gekommen; Letzterer ist trotz äußerer lebhafter und unstatthafter
Action doch kein genialer Anführer des Orchesters. Er hat keinen Blick
für die Feinheiten Beethoven's. Die gröbern Züge sieht er, aber der
Mangel an einer ureigner Natur rächt sich schwer diesem Titanen gegen¬
über. Man muß selbst Componist in der Symphonie und zwar ein
großer sein, um Beethovens Werke einzustudiren und zu leiten. Die
Execution der Pastoralsymphonie argumentirte vorgestern diese Behauptung.
Correccheit, ein so großes Verdienst sie bei einer geringern Kapelle sein mag,
ist erst die Basis, auf der ein Orchester, aus lauter ausgezeichneten Künstlern
bestehend, ein fein nüancirtes und ausgearbeitetes Gebäude errichtet. Eine
Symphonie von Ricks Gabe gefiel ungemein.
Zum Geburtstage der Königin steht uns eine neue Oper von Karl
Eckert: Wilhelm von Oranien, bevor. Unterdessen müssen die Musketiere
der Königin herhalten. Man hofft, diese unangenehme Speise den Ber¬
linern zuletzt doch noch mundrecht zu machen. Mit Austern und Caviar
hat man zwar schon manchen Gaumen bekehrt, aber mit den Musketieren?
Diese Waffe Macht kein Glück bei uns, weshalb Mad. Birch-Pfeiffer
ihre Anna von Oesterreich auch nicht „die drei Musketiere" taufte. Die
königl. Sängerin Fräul. Mary leidet seit geraumer Zeit an einer bedenk¬
Gestatten Sie, daß in Ihrem hochgeachteten Blatte eine kleine An¬
gelegenheit zur Sprache komme, die, obgleich in dem engen Kreise eines
unserer Universirätssäle spielend, dennoch nicht ganz ohne höhere Wichtig¬
keit ist. — — — — Die drückende und abnorme Lage der hiesigen
zum großen Theil noch ins Ghetto gebannten Juden ist fast sprüchwört¬
lich geworden und die Regierung hat in letzterer Zeit von selbst den Be¬
weis gegeben, daß sie die mittelalterlichen Ausnahmsgesetze, welche die hie¬
sige zahlreiche jüdische Bevölkerung (1<t,0W Seelen) erdrückt, zu mildern
sucht; sie hat die enorme und fast unerschwingliche Judensteuer von selbst
nach Ablauf der nächsten sieben Jahre für aufgehoben erklärt, sie hat die
Zulassung israelitischer Privatdocenten an der hiesigen Universität (wenn
auch vor der Hand nur für hebräische Literatur) möglich gemacht und
überhaupt mannigfache Aelchen gegeben, daß es ihr an gutem Willen zur
Einführung einer zeitgemaßcrn LegiSlation in Bezug auf die hier mehr
wie in allen deutschen Staaten gedrückten israelitischen Unterthanen
nicht fehlt. Wenn in dieser Beziehung die Schritte unserer Gesetzgeber
allerdings noch immer nicht jenen der übrigen Regierungen Deuschlands
(von Frankreich und England zu schweigen) gleich kommen, so liegt das
vielleicht in jenem Princip der Behutsamkeit, die einen bekannten Haupt¬
zug der österreichischen Regierung bildet. Offenbar rechnet sie auf die
Unterstützung der Intelligenz und der Gebildeten, die wie allenthalben in
Deutschland, so auch in Oesterreich, die Absurdität und die unpolitischen
Folgen der mittelalterlichen Judengcsetze einsieht. Um so trauriger ist es,
wenn gerade von dieser Seite Dinge geschehen, die Alles in die alte
Nacht zurück zu stoßen drohen, wenn die Universität, die ihrem Berufe
nach eine Hüterin und Vorbereiten« des Lichts und der Humanität sein
soll, zum Schauplatz mittelalterlicher Judenscenen wird. Beeilen wir uns
zu sagen, daß der allergrößte Theil unseres Lehrstandes in dieser Beziehung
vollkommen auf der Höhe der edelsten Bildung und Toleranz steht und
daß selbst in den geistlichen Lehranstalten (wie in dem Pieristengymnasium )
ein Beispiel von Unduldsamkeit gegen die israelitischen Studenten zu den
größten Seltenheiten gehört. Um so auffälliger und widerlicher ist es,
wenn ein weltlicher Universitätslehrer, ein bloßer Sprachlehrer sich zu sol¬
chem Beispiele berufen fühlt und durch sein Verfahren die Ausbreitung
einer versöhnlichen Toleranz und die vorbereitenden Schritte der Regie¬
rung in den Weg tritt.
In den an der k. k. Karl Ferdinand'schen Universität durch Herrn
Professor Francesconi abgehaltenen Vorlesungen über italienische Sprache
traf benannter Herr Professor am Eingange des Schuljahres 48^S die
Anstalt, den Hörern israelitischer Religion ohne Unterschied ihres akademi¬
schen Grades einen besondern Platz in den hintern Banken der letzten
Abtheilung anzuweisen, während es allen übrigen Zuhörern freistand, wie
ehedem ihre Plätze nach Belieben zu wählen, mit dem Bemerken, dies
geschehe im Sinne einer allerhöchsten Entschließung. Mittwoch den 28.
October wurde ein israelitischer Hörer, der in einer der vordern Bänke der
mittlern Abtheilung Platz genommen hatte, aus dem Eollcgio deshalb von
Herrn Professor Francesconi ausgewiesen und mußte den Saal verlassen.
Am 3l). Oct. setzten sich fünf Hörer der Logik nach früherer Abgabe ihrer
Meldungsscheine vor Ankunft des Herrn Professors in die dritte Bank
mittlerer Abtheilung; zu ihnen setzte sich auch ein nicht akademischer Zu¬
hörer, während die andern israelitischen Zuhörer in den Bänken hin und
wieder zerstreut saßen. Als Herr Prof. Francesconi ins Collegium kam,
betrat er das Katheder, überschaute das Auditorium und seine ersten
Worte, auf die oben erwähnten Logiker deutend, waren folgende: „Die
da setzen sich aus die hintern Bänke." Auf abermalige Wiederholung diefer
Worte erklärte der Logiker F>... bestimmt und entschieden, er werde die¬
ser Weisung nicht Folge leisten, mit dem Bedeuten, es sei weder von
irgend einem der Herren Professoren, noch vom Studiendirector selbst je¬
mals ein solcher confessioneller Unterschied gemacht worden. Hr. Professor
Francesconi rief nun entrüstet, er müsse heraus und gleich den Saal
verlassen. Aus diese Aufforderung erfolgte eine unruhige Bewegung im
^aale. Hierauf forderte der Hr. Prof. dem Logiker F . . . und hierauf
den übrigen fünf israelitischen Zuhörern die Angabe ihres Namens, Stu¬
diums und ihrer Wohnung ab, unter stets erhöhter Aufregung eines
Theils der Zuhörer und fortwährendem Toben und Lärmen gegen die
sechs erwähnten israelitischen Zuhörer, welches Toben Hr. Prof. Frances¬
coni dadurch zu stillen bemüht war, daß er die Anwesenden ersuchte, ihm
durch Voreiligkeit eine Sache nicht zu verderben, welche, wie er sich aus¬
drückte, erst brecht w-lgniüljuv" zu werden anfange. Mit freudigem Ge¬
sichte rief Hr. -Prof. Francesconi: „Meine H. H.! Wir werden künftig
nur brave Schüler haben, die Schule wird vom Auswurfe befreit wer¬
den; ich hoffe, wir werden uns gegenseitig verstehen" u. tgi. in. Diese
Ausdrücke verursachten ein noch heftigeres, von Kundgebung judenfeind¬
licher Gesinnung begleitetes Toben im Saale, welches der Hr. Professor
folgendermaßen stillte. Er forderte sämmtliche Herren Hörer der Rechte
auf, ihre Sitze zu verlassen und wies ihnen, als sie zusammengetreten
waren, eine Abtheilung im Saale an. Dieselbe Aufforderung erging an
die Herren Hörer der Philosophie und an die Schüler der Humaniora,
und auch diesen wurden gemeinschaftliche Platze angewiesen. Als erwähnte
fünf israelitische Logiker den Herren Hörern bei der Einnehmung der jetzt
erst angewiesenen Platze sich anschließen wollten, befahl der Hr. Professor
drohend denselben, sich nicht vom Platze zu rühren. Er erbat sich hier¬
auf Schreibmaterial und ersuchte einen Herrn, seine Worte aufs Papier
zu bringen. Zugleich ersuchte er die Herren Hörer der Rechte, ihm in
der Wahl der Ausdrücke behülflich zu sein und die Billigung oder Mi߬
billigung einzelner Phrasen frei auszusprechen. Nun dictirte der Herr
Professor unter Auratheziehung einzelner Hörer ein Gesuch an die k. k.
Hochlöbl. Studien-Hofcommission, zu dessen Unterfertigung er die Herren
Hörer aufforderte, da dasselbe in ihrem Namen an die hohe Behörde ge¬
richtet werden sollte, während er selbst die Angelegenheit bei namhaft an¬
geführten hohen Staatsbeamten und bei Sr. Majestät vorbringen wollte.
Während des Dictircns konnte der Herr Professor nicht umhin,
durch die Worte: Es sei doch ein freudenvoller Tag für ihn; die Herrn
Techniker würden heute in Folge seiner guten Stimmung eine Borlesung
wie niemals erhalten und mit der Bitte, ihn durch Unruhe nicht in sei¬
nen glücklichen Ideen zu stören, kein Vergnügen am statt gehabten Vor¬
falle kund zu geben. Nun rief der Herr Professor die Herren Hörer
der Rechte, der Philosophie und Humaniora zur Unterschrift. Ein Theil
der Anwesenden leistete der Aufforderung Folge, während ein anderer
Theil sich demselben durch Entfernung aus dem Hörsaale entzog. Einer
der Herrn Hörer, ausdrücklich vom Herrn Professor zum Unterschreiben
aufgefordert, erklärte offen, er werde nicht unterschreiben. Nachdem mit
dieser Angelegenheit bereits H Stunden verflossen waren, rief der Herr
Professor namentlich zwei der Herrn Hörer der Rechte und zwei der
Herrn Hörer der Philosophie, denen sich zwei Schüler der Humaniora
freiwillig anschlössen, um besagte sechs Individuen bis in die Judenstadt
zu begleiten. Als dieselben erklärten, keiner Begleitung zu bedürfen, sagte
der Herr Professor: „Wenn ich will, bedürfen Sie eines sehr starken
Geleites", worauf ein furchtbares Schreien im Saale erhoben wurde und
man unter andern Drohungen die Worte hörte: zum Fenster hinaus.
Nur mit Mühe gelang es dem Herrn Professor die verursachte Aufregung
zu dampfen. Ernst um ihre persönliche Sicherheit besorgt und Thätlich¬
keiten fürchtend, warteten die sechs Betheiligten den Verlauf der Sache
ab. Als hierauf um halb 2 Uhr, eine halbe Stunde nach der gesetzlichen
Schlußzeit der Vorlesung, einer der israelitischen Logiker W... W.....
des langen Wartens müde sich nach Hause begeben wollte, sah er sich
im Saale sogleich von einer Menge Anwesenden umgeben, die ihn ge^
waltsam aufhielten. Der Herr Professor eilte von dem Katheder herab,
erfaßte ihn heftig beim Arme und rief: „Wohin wollen Sie?" Als
dieser einfach erwiederte: „zum Essen", entließ ihn der Herr Professor,
gebot jedoch zwei Studierenden ihm zu folgen. Auf dieser Weise ge¬
langten auch die übrigen nach Hause.
Dies ist der authentische Hergang der Sache, wie sie von den be¬
theiligten und tiefgekränkten israelitischen Studenten in einer Eingabe
an den hochwürdigen Herrn ^?tudiendircctor P. Aeidler, sowie an die
k. ?. Stadthauptmannschaft treu geschildert wurde. Wir dürfen es ge¬
trost dem Urtheil der öffentlichen Meinung überlassen, ein solches Ver¬
fahren zu qualificiren. Wenn an einer Universität ein Professor selbst
das Aelchen gibt zu grenzenlosen» Scandal und zur Aufreizung der jugend¬
lichen Gemüther — was ist dann erst von dem Pöbel zu erwarten?
Nie ist es einem Lehrer je in den Sinn gekommen, die israelitischen Zu¬
hörer auf andere Bänke zu verweisen, als die christlichen und die trau¬
rige mittelalterliche Zsolirung des Ghetto in die Hallen der Wissenschaf¬
ten hinein zu schieben, in welchen alle Geister gleich sind. Herrn Fran-
cesconi ist es zuerst vorbehalten gewesen, ein solches Kunststück auszuüben.
Die maßlose Heftigkeit dieses Mannes, die Ort und Gelegenheit so voll¬
kommen vergessend, durch fanalisches Thun und Wort solche Scenen her¬
beiführt, macht ihn zu ganz andern Beschäftigungen würdig, als zu der
Ehre an der ältesten Universität Deutschlands das Lehreramt zu versehen
— und wäre es auch nur das Amt eines Sprachlehrers. Wenigstens
ist das Beispiel unerhört, daß ein Professor in offenem Collegium die
Studentenschaft auffordert, ein unmittelbar im ersten Augenblicke der
Leidenschaft von ihm dictirtes Gesuch an die k. k. Hofstudiencommissivn
zu unterschreiben.
Gestatten Sie Herr Redacteur die Ausdrücke u. s. w.
„Denn das ist kein guter Baum, der faule Früchte trägt" — heißt
es im heiligen Evangelium, und dieses paßt buchstäblich aus unsere
hiesigen Hebräer, welche sich nicht begnügen damit, daß man ihnen den
Besuch christlicher Schulen und Collegicn gestattet, wie es nicht in Rom
und nicht in Neapel der Fall ist, sich auch noch vermessen, mit ihren
langen Nasen und Schlitzaugen (bravo! Herr Einsender!) sich in der
Mitte der christlichen Studenten die besten Plätze auszusuchen, statt froh
zu sein, daß man sie überhaupt da duldet und nicht in den Trödelmarkt
sendet, wo sie hingehören, und wir haben dieser Tage in den Vorlesun¬
gen einer unserer geistreichsten und hochgelehrtesten Herren Professoren,
dem größten Kenner der italienischen Sprache und Literatur, den Oester¬
reich vielleicht besitzt, der hebräischen Nation eine Lehre gegeben, an die
sie hoffentlich denken wird und die den andern Herren Professoren wohl
zum Beispiel dienen wird, wie man mit dieser von unserm Heiland ge¬
zeichneten Kaste umgehen muß. Herr Prof. Francesconi, welcher besser
weiß, was man der Würde eines Hochschullehrers schuldig ist, als andere
von jüdischem Reichthum und Schwägerschaft (?) geblendete Herren, hat,
nachdem in seinem Lehrsaale die Ruhe und die augenblickliche Ordnung
durch die Gegenwart und durch den Ungehorsam jüdischer Menschen ge¬
stört wurde, sogleich Mittel gefunden, ihnen mit voller Energie zu be¬
gegnen. Er hat seine Achtung vor den christlichen Studenten dadurch
bethätigt, daß er diese selbst aufforderte, ein Gesuch an den k. ?. Hof¬
studienrath abzufassen und was ich in dieser Zeitschrift hier zum Abdruck
einsende, weil es am Besten die Uebergriffe schildert, welche man sich
gegen den ausgezeichneten Mann zu Schulden kommen ließ.
Um die allerhöchste Entschließung vom 23. Nov. 1825 nach ihrem
wahren Geiste beobachten zu lassen, hat unser Professor der italienischen
Sprache für gut befunden, eine besondere Einrichtung in seinem Eollcgium
wegen der Besetzung der Plätze einzuführen und da« um so mehr, da die
Anzahl der Hörer der italienischen Lehrkanzel auf eine auffallende Weise
in diesen Tagen gewachsen ist. Nach dem Sinne der allerhöchsten Ent¬
schließung, deren Lectüre er uns einmal mit allem Nachdruck gemacht
hat, hätte der Professor die Juristen» die Philosophen, Schüler der Hu-
manoria und die Beamten, sonst keinen, aufnehmen sollen. Um aber
auch Andern, welche es wünschen, eine in der Ansicht der hohen Regie¬
rung so wichtige Sprache auch lehren zu können, hat der Professor ein
besonderes Studium, eine besondere Beobachtung der Bänke und derjeni¬
gen, welche auf denselben Platz zu nehmen pflegen, gemacht. Das Re¬
sultat dieser Beobachtung war, daß die mittlern Reihen der Bänke be¬
ständig von Jsraeliten besetzt waren. 5>L. Die israelitischen Zuhörer be¬
stehen: aus einer sehr unbedeutenden Anzahl von Juristen, Philosophen
und Hörern der Humanoria und keine Beamten; b. aus einer sehr be¬
deutenden Anzahl von nur durch die Gefälligkeit des Professors einge¬
schriebenen, sehr selten die jährliche Prüfung machenden Zuhörern, welche
nach dem Sinne der allerhöchsten Entschließung nicht den geringsten An¬
spruch auf einen Unterricht in der italienischen Sprache in einem über¬
füllten Collegium machen können. Dies gilt um so mehr für die un¬
zähligen israelitischen Gäste, welche besonders am Samstag das Collegium
der italienischen Sprache als einen Erholungsort zu besuchen pflegen. Bei
solchen Umständen und in dem Bewußtsein, immer nach dem Sinne der
allerhöchsten Entschließung zu handeln, ersuchte er zu wiederholten Malen
die Herren Jsraeliten, nicht in den mittlern Reihen der Bänke, sondern
in der Reihe der rechten Seite des Professors Platz zu nehmen und das,
weil er auf diese Art gewiß war, daß die diese Collegien besuchenden Js¬
raeliten meistentheils Leute seien, welchen wir auf der Straße ganz müßig
begegnen und welche gewöhnlich die ersten sind, das Collegium zu besu¬
chen. Seine Bitte fand bei den meisten Israeliten den besten Erfolg;
an dem heutigen Tage aber, wo er glaubte, daß man nie mehr brauchen
werde, ein Wort über eine solche zweckmäßige Einrichtung zu sprechen,
stellten sich sechs Herren Jsraeliten in die mittlere Reihe gegen die wie¬
derholten Bitten und Ermahnungen des Professors, der Mehrzahl ihrer
Glaubensgenossen einen grellen Contrast darbietend, welche die ihnen an¬
gewiesenen Platze ganz ruhig und in der besten Ordnung einnahmen und
einen noch grellem Contrast uns allen Unterschriebenen gegenüber machend,
welche wir auf einen einzigen Wink und Spruch die besondern für Ju¬
risten, Philosophen, die Schüler der Humanoria und Gaste angewiesenen
Platze gleich annahmen. Die Art und Weise, wie die sechs Logiker ge¬
gen alle, uns recht gut bekannte akademische Gesetze, gegen allen, einer
Universität geziemender Anstand den Ermahnungen des Professors geant¬
wortet haben, hat uns in die größte Entrüstung und Bestürzung gebracht
und wir verdankten den wiederholten innigsten Bitten des Professors den
friedlichen Ausgang einer Sache, welche bei einer so unerhörten und viel¬
leicht in den Annalen der akademischen Universität nicht zu findenden
Widersetzlichkeit gegen die akademischen Gesetze einen andern Ausgang
hätte haben können. Unser auffahrendes Blut wurde durch die Bitten,
durch die Beschwörungen des Professors besänftigt, unsere auf den Lippen
schon stehenden Drohungen wurden von der Bitte und gleichsam den
Händen des Professors zurückgehalten. Damit aber der einer Universität
geziemende Anstand gänzlich beobachtet werden könne, haben sich die unter
dem Gefertigten mit einem * bezeichneten Akademiker sich freiwillig dem
Professor angeboten, die sechs unwürdigen Mitglieder nach Hause zu be¬
gleiten. (Folgen die Unterschriften.)
Man kann aus dieser Anzeige ersehen, welche hohe> Humanität Herr
Professor Franccsconi mit seinen andern ausgezeichneten Geistesgaben ver¬
bindet, denn ihm allein haben die sechs erwähnten jüdischen Studenten ihr
Leben zu verdanken. Wenn die Juden darauf hinweisen, daß in frühern
Jahren, namentlich bei Herrn Spirk, niemals solche Vorgänge stattfan¬
den, so mögen sie vielleicht in jener Zeit weniger dünkelhaft gewesen sein,
auch waren wohl jene Vorlesungen nie so beliebt und so stark besucht,
Laubes neuestes Drama: „die Karlsschüler" ist am II. November
(dem Geburtstage Schillers) an drei verschiedenen deutschen Bühnen zur
Aufführung gekommen: in München, Dresden und Manheim. Bis jetzt
kennen wir blos den Dresdner Erfolg und dieser war ein glänzender!
Der Versasser, der behufs der nusiz en haomo nach Dresden gereist war,
wurde von dem übervollen Hause gleich nach dem zweiten Acte gerufen
und am Schlüsse des Stückes noch einmal; auch die Schauspieler mu߬
ten mehreremals erscheinen und die Darstellerin der Gräfin von Hohen-
heim wurde im vierten Acte sogar bei offener Scene gerufen. Dieser
vierte Act ist der glänzendste Punkt des Stückes und ist nicht nur das
Beste, was Laube bisher geschrieben hat, sondern überhaupt eine der ge¬
lungensten Proouctionen der jüngern Dramatik. Bis zum vierten Acte
sind die „Karlsschüler" ein gutcomponirtes Jntriguenstück in Scribeschem
Genre mit mehrern sehr picanten Scenen (namentlich jener, wo Schiller
das Schubartische Gedicht die „Fürstengruft" in Gegenwart des Herzogs
lesen muß) und fortwährender Spannung, aber ohne jene höchste Auf¬
gabe zu lösen, die wir bei einem Drama voraussetzen, dessen Held der
schwungvollste und edelste deutsche Dichter ist. Im vierten Acte aber wachst
das Stück mit seinem Helden, der Horizont erweitert sich zu einer wahr¬
haft schwungvollen und genialen Charakteristik; der vierte Act der „K'.rls-
schüler" ist eine poetische Production in ächt deutschem Sinne und
der fünfte Act, der bloß der theatralischen Oekonomie, schließt würdig daS
Ganze ab. Wir werden auf die Einzelnheiten dieses Stückes in einer
späteren Nummer zurückkommen, weil es, obgleich keineswegs frei von
Mißgriffen, ohnstreitig eine der gelungensten und dankeswerthestcn Berei¬
cherung des deutschen Repertoirs ist.
— Von dem zweiundachtzigjährigen Dichter des Liedes: „Fröhlich und
wohlgemuth, wandelt das junge Blut", dem greisen Schmidt von Lübeck,
ist so eben die dritte Auflage seiner Gedichte (bei Hammerich in Altona)
erschienen. Wahrhaft rührend ist das letzte Lied der Sammlung: „Am
achtzigsten Geburtstag."
Der liederreiche Greis verlebt den Nest seiner Tage in Altona.
Mögen Diejenigen, die ein freundliches Wort über seine so eben ver¬
sandten Gedichte zu sagen haben, sich mit ihrer Besprechung beeilen, da¬
mit sie den Dichter noch vor Thorschluß erreichen und erfreuen.
— Wenn hundert Hennen zusammen ihre Eier in einem Hofe legen
wollten, so würde dies kein solches Gegacker geben, wie wir seit drei
Monaten über das El hören müssen, welches in Berlin in der Form
einer neuen Zeitung erscheinen soll. Die deutsche Zeitung wird erschei¬
nen — sie wird nicht erscheinen — sie wird vielleicht doch erscheinen —
sie wird wahrscheinlich nicht erscheinen — Herrn Dahlmanns Brief ist
ablehnend, Herrn Dahlmanns Brief ist zusagend — erstes Programm —
zweites Programm und so in's Unendliche! Es wundert uns nur, daß
der Michaelis-Meßkatalog nicht bereits dreißig bis vierzig Brochüren über
diese große Frage angekündigt hat. Der Oster-Meßkatalog wird hoffent¬
lich dies nachtragen — um einem dringenden Bedürfnisse abzuhelfen.
Die Grenzboten brachten uns in Ur. 23 vom Jahre 1846 einen
gediegenen Aufsatz des Geh. Rathes Casper über die Geographie
der Verbrechen. In demselben sind auch über die Wirksamkeit des
öffentlichen Schulwesens gegen die Zunahme der Verbrechen einige
Bemerkungen enthalten, welche eine nähere Beleuchtung verdienen.
Der geehrte Statistiker scheint sich darüber zu wundern, daß ge¬
richtliche Thatsachen ein so trauriges Zeugniß von der Rechtlichkeit**)
des gebildetsten Standes in Frankreich ablegen. Wir dagegen wun¬
dern uns über jene Verwunderung, deren Gegenstand wir aus den
obwaltenden Umständen sehr wohl erklärlich finden.
Ohne uns auf Streitfragen der psychologischen Theorien einzu¬
lassen, dürfen wir in pädagogischer Betrachtung so viel als entschieden
richtig anerkannt und praktisch begründet ansehen, daß es bei ver Bil¬
dung der Jugend für das nachfolgende Leben auf zwei Hauptpunkte
ankommt : Entwickelung der geistigen Fähigkeiten an würdigen Gegen¬
ständen, welche den Geist zugleich mit nützlichen Kenntnissen bereichern,
und Regelung des Willens und der Bestrebungen uach sittlich guten
Grundsätzen. Jene ist die besondere Aufgabe des Unterrichts, diese die
besondere Aufgabe der Erziehung, Daß beide Aufgaben als ein un¬
trennbares Ganzes in dem öffentlichen Schulwesen noch nicht zusam¬
mengefaßt worden, darf man nicht den Schulen, wohl aber eher den
Staatsbehörden, welche für eine zweckmäßigere Einrichtung jener zu
sorgen haben, zur Last legen.
Für den niedern und den höhern Unterricht der Jugend wird durch
öffentliche Anstalten, welche wir Schulen zu nennen pflegen, in Frank¬
reich nochdürftig, in Deutschland unbestreitbar besser gesorgt. Um die
Erziehung der Jugend ist es dagegen in beiden Ländern ziemlich gleich
schlecht bestellt, Sie liegt fast ganz außerhalb der eigentlichen Absicht
des öffentlichen Schulwesens. Ihr hilft der allgemeine Charakter des
Volks und der Zustände desselben nach oder schadet ihr. Wie die
höchst wesentlichen äußern Einflüsse auf die Erziehung des Einzelnen
überall durchaus zufällige sind, so ist auch das endliche Ergebniß ein
eben so zufälliges, dem gewöhnlich alle verständige Berechnung von
vorn herein mangelt. Ob Einer in die gefahrvolle und verabscheu-
ungswürdige Laufbahn des Verbrechers gegen die Staatsgesetze ge¬
worfen wird oder nicht, hängt in der That mehr vom Unglücke oder
Glücke, das ihn trifft, als von der Erziehung ab, die ihm im höhern
Sinne meist gar nicht zu Theil geworden ist.
Denn das älterliche Halts sorgt in den mittlen Schichten der
staatlichen Gesellschaft durchschnittlich wenig oder dürftig, in den ober»
und den untern beinahe gar nicht für die naturgemäße Entwickelung
des sittlichen und des rechtlichen Bewußtseins der Jugend. Dort hin¬
dern vielfache Berufsgeschäfte die Aeltern, die Erziehung der Kinder
nach einem wohldurchdachten Plane oder aus Mangel an Kenntnissen
in der Erziehungskunst wenigstens mit gehöriger Einsicht zu leiten;
hier das Uebermaß an sinnlichen Zerstreuungen und Genüssen oder die
quälendste Noth und namenloses Elend. Ja in der überwiegenden
Zahl der hierher gehörenden Fälle muß man den unmittelbaren Ein¬
fluß der Aeltern ans die Kinder als einen verderblichen betrachten.
Nur in den mittlen Schichten der Gesellschaft ist er unter besonderer
Gunst der äußern Lage theilweise ein wohlthätiger, bisweilen ein so
vortrefflicher, als man ihn nur denken mag; in den obern vernichtet
er gewöhnlich schon früh das sittliche, in den untern das rechtliche
und meist auch das sittliche Bewußtsein allein durch das tägliche Bei¬
spiel und die stetige Anschauung dessen, was eben verwerflich ist, von
der Wurzel aus. Ja, schützten nicht der Besitz und die Landesgesetze
die Glieder der obern, so würde man wahrscheinlich aus ihnen weit
»»ehr Verbrecher zählen, als so der Fall ist. Kür die Binder aus den
obern wie aus den untern Schichten sind deshalb Bewahranstalten ein
sehr dringendes Bedürfniß.
Die Kirche, wie sattsam bekannt, übt gegenwärtig auf die Seelen
der Gläubigen einen ziemlich beschränkten Einfluß aus, weshalb ich
gegen statistische Beziehungen der Art einiges Mißtrauen hege. Das
Volk liest viel und das Verfänglichste, das Verbotene am eifrigsten
und liebsten, und wer nicht selbst liefet oder lesen kann, hört wenig¬
stens von dem Gelesenen. Das Uebel wurzelt oft tief an Stellen,
an denen es der dein vertrauten Umgänge mit dem Volke sich Entzie-
hende gar nicht sucht. So gehören zu den Schriften, welche die er¬
staunlichste Umwälzung in der religiösen, der kirchlichen, selbst in der
politischen Sinnesweise des Volks erzeugt haben, die im rechten Volks¬
tone gehaltenen naturwissenschaftlichen und nächst ihnen die erdkund¬
lichen, die technologischen und landwirtschaftlichen, wegen des Anreizes
zum Weiterdenken, welchen sie uach allen Richtungen des gemeinen Lebens
geben. Eines der zahlreichen Beispiele, welche ich kenne, möge veran¬
schaulichen, was ich meine. Auf einer Gebirgsreihe durch Schlesien
traf ich mit einem — wie ich glaube — katholischen Bauer zusammen.
Wir plauderten Vielerlei mit einander. Aus meinen Fragen nach dem
landesgemäßen Vorkommen von Steinen, Pflanzen und Thieren, deren
Beschaffenheit, Benutzung und Lebensweise, meinte er entnehmen zu
dürfen, daß ich Gelehrter sei. Es entspann sich hierauf ungefähr fol¬
gendes Gespräch zwischen uns, dem ich leider die eigenthümliche Fär¬
bung des naiven Bolksausdrucks nicht verleihen kann.
Der Bauer. Also die Planeten da droben sind wirklich Erden.
Nun, das habe ich schon gelesen und von unserm Schulmeister gehört,
der ein großer Sterngucker ist. Auch Menschen sollen da droben woh¬
nen. Sagen Sie mir doch, gibt's auch gut katholische Christen un¬
ter ihnen?
Ich. Das weiß ich nicht zu sagen.
Der Bauer. Nicht? —- Ja doch! so steht's mit den Gelehrten,
sie wissen sonst Alles; aber wenn's auf den Christusglauben ankommt,
da wissen sie nicht mehr, als unser eins. Und kann doch nicht anders
sein, ich mag hin und her denken, wie ich will. Wenn's einmal Men¬
schen da droben gibt, werden sie auch sündigen, wie wir hier unten,
und der liebe Herrgott wird sie in seiner Allbarmherzigkeit auch erlösin
wollen. Unser Herr CKristuS ist also gewiß schon dort gewesen oder
wird noch dorthin gehen, um sich von Juden oder Heiden kreuzigen zu
lassen. Meinen Sie nicht?
Ich. Davon wissen wir durchaus nichts, können auch schlechter¬
dings nichts davon wissen.
D e r Bauer. I je doch! — Sie sprechen fast wie unser Pfarr¬
herr und Haben's ihm wohl abgelernt, nur werden Sie nicht so böse
über meine einfältigen Fragen, wie er. Kann aber nicht anders sein;
wenn einmal Menschen da droben wohnen. Ich bedauere nur unsern
lieben Herrn Christus, der gar nicht fertig wird, den grausamen Mar¬
tertod zu erleiden. Daher kommt auch gewiß so viel Elend im Lande.
Denn wenn der liebe Herr Christus auf allen den unzähligen Ster¬
nen in der Welt herumreisen muß, um die armen Menschen zu erlö¬
sen, bat er freilich nicht Zeit und Gelegenheit, sich um uns elendes
Volk hier unten zu bekümmern.
In dieser Weise ließ ich den Bauer sich weiter aussprechen, schweigend
zuhorchend, ich lernte mehr von ihm, als ich ihm zu lehren vermochte. Am
Ende überraschte mich die plötzliche Wendung seiner Rede mit der
Frage: „Oder ist an Dem, was uns die Priester einreden wollen^
überhaupt gar nichts?" — Ich war froh, mich hier nach einem Wege
erkundigen zu können, welcher uns trennte und mich aus einer Verle¬
genheit befreite, in die ich leider oft durch dieselbe Frage dem gemei¬
nen Manne gegenüber gerathen bin, da mich die Natur weder mit den
Anlagen eines Sendboten unter die Heiden noch eines Mkehrcrs der
Ungläubigen begabt hat.
Was Preußen betrifft, so ist die kurze Dienstzeit im Heere für
den gemeinen Mann ungefähr das, was für den Gebildeter» im gu¬
ten wie im schlimmen Sinne ehemals das Leben auf der Universität
war. Er beobachtet schärfer, als man gewöhnlich glaubt, und um so
mehr vom Reize der Neuheit der Dinge um ihn her angezogen; er er¬
weitert seinen Gesichtskreis und dringt in Lebensverhältnisse ein, welche
ihm anders ewig fremd geblieben sein würden. Wie käme sonst wohl
ein thüringer Holzfäller im entlegenen Harze zu der Aeußerung: „Wir
kleinen Leute können nicht zu unserem Spaße und Vergnügen fromm
spielen, wie die großen Herren in Berlin und Potsdam", wenn er
nicht in der Berliner Garde gedient hätte?
Die Berührungen zwischen den Landleuten und den Städtern,
deren Wälle und düstere Stadtthore mit den städtischen Vorrechten
fast zugleich fallen, sind häufiger und inniger geworden. Der Bauer,
welcher sein Gut abgelöst hat, betrachtet sich als Freiherrn, und der
Bürger sieht auf ihn nicht mehr stolz herab, sondern in ihm einen
Ebenbürtigen. Jener redet mit dem Gebildeten in der Sprache der
Gebildeten; er kannegießert nicht mehr, wie vordem, zur Belustigung
städtischer Zuhörer, sondern bespricht oft recht verständig öffentliche An¬
gelegenheiten, obgleich noch etwas derb und fast ohne Ausnahme aus
dem Gesichtspunkte der materiellsten Interessen. Was kirchliche Fra¬
gen betrifft, so hat er seine eigenen Gedanken. Ein Bauer beschwich¬
tigte die den Zeitungen entnommenen Befürchtungen seiner Genossen
in der Dorfschenke hinsichtlich der Berliner geistlichen Berathungen vor
Kurzem mit den Worten: „Wenn dort beschlossen wird, was uns nicht
gefällt, so gehen wir Sonntags nicht nach der Kirche, sondern in un¬
sern Feldern spazieren,"
Der Unterricht muß sich seiner wesentlichen Beschaffenheit nach
an den Verstand wenden, denn er soll vom Schüler geistig erfaßt und
durchdrungen, d. h. verstanden und so viel als thunlich auch begriffen
werden. Daraus entspringt die (jetzt oft gescholtene) einseitige Ver¬
standesbildung, welche das nachfolgende Leben weit häufiger zu gemei¬
ner Klugheit erniedrigt, als zu Weisheit erhebt. Es fehlt eben die
Erziehung dabei, welche die andere Seite des Bildungsgcschäfts ist
und den Unterricht zu vollkommener Bildung ergänzt. Deshalb ha¬
ben auch die Klagen über die Schädlichkeit der Verbreitung deö Un¬
terrichts einen scheinbaren Grund für sich, welcher auf Machthaber,
sofern sie die innern Zustände des Volks blos oberflächlich kennen und
alles Heil von der Verwirklichung ihrer deshalb erfahrungsunsichern
Ansichten erwarten, verderblich zurückwirkt, weil sie, ohne Zweifel von
den besten Absichten geleitet, Wahres und Falsches nach willkürlichen
Vorstellungen vom wahren Bestände der Dinge durcheinander mengen
und das Uebel nicht da zu finden wissen, wo es in der That sitzt.
So hat man, ganz unzweifelhaft in der besten Absicht, Anordnungen
für die Weise, in den Religionskenntnissen und dem überlieferten kirch¬
lichen Glauben zu unterrichten getroffen, welche, ich mag nicht grade
sagen, mit den herrschenden Ansichten und dem gemeinen Bewußtsein
der Zeitgenossen, aber offenbar mit dem Wesen des Schulunterrichts
im grellsten Widerstreite steht. Denn in allen übrigen Zweigen des
Schulunterrichts dringt der Lehrer auf das innigste Verständniß des
Gegenstandes und muß, als guter Lehrer, dieses aus allen Kräften zu.
bewirken suchen; im sogenannten Religionsunterrichte dagegen weicht
er von seinem Verfahren gänzlich ab; er beruft sich auf ein äußeres
Ansehen, begnügt sich mit einem halben, oft sogar, durch den Gegen¬
stand dazu gezwungen, mit keinem rechten Verständnisse des Gegen¬
standes und läßt auswendig lernen, was dem Schüler, von ihm nicht
gefaßt, nicht verstanden, für die Schulzeit wenigstens ein Fremdes
bleibt; denn als Knabe, als angehender Jüngling selbst noch befindet
er sich ja nicht auf der Höhe der Erkenntniß unserer Philosophen,
welche zwischen dem Wissen und dem Glauben haarscharf unterscheiden.
Wie schon Knaben in dieser Beziehung zu denken pflegen, mag
von vielen mir bekannten Beispielen eines darthun. Ich war vor
Kurzem unbeachteter Ohrenzeuge des Gesprächs zweier Gymnasialfer-
taner, die Otio und Julius heiveu mögen, und theile eS der Haupt¬
sache nach mit, wie es in mei»em Gedächtnisse noch lebt, mit Ueber-
gehung der ärgsten Aeußerungen jener kleinen Freigeister, weil sie die
mildeste Censur unterdrücken würde und hier nicht ohne genügenden
Grund. Deshalb greife ich ihr lieber vor.
Otto. Hast dit schon die Gebote und die Artikel auswendig
gelernt?
Julius. Dazu habe ich gar keine Lust, denn ich verstehe wenig
davon und finde diese Geschichten sehr langweilig. Aber in der Schule
wird's wohl gehen) wir helfen einander ein.
Otto. Hör' mal! Vom Ehebrecher weiß uns der Lehrer doch
gar nichts Rechtes zu sagen. Er ging immer darum herum, wie die
Katze um den heißen Brei und sprach von ganz andern Dingen; es
muß hinter dem Ehebrecher was ganz Besonderes stecken, das er uns
nicht sagen will.
Julius. Ja, das ist wahr! — Aber wenn ich nur erst erfah¬
ren hätte, was das heißt: „Empfangen vom heiligen Geiste" und:
„Niedergefahren zur Höllen".' Da blieb der Lehrer mit alter seiner
Gelehrsamkeit im Quarte stecken."
Otto. Und warum da steht: „Geboren von einer Jungfrau",
mag auch nicht Jeder wissen. Ich meine, es sollte heißen : „Von der
Frau Joseph."
Julius. So viel ist klar: Lateinisch und Rechnen versteht der
Lehrer, denn da sollen wir immer selbst denken z aber auf die Religion
und den Katechismus hat er sicherlich nicht ordentlich studirt.
Otto. Darum sagte er auch neulich, als wieder so ein Hoppaß
vorkam, wenn wir nur erst zum Pfarrer gingen, da würden wir Alles
gründlich erfahren.
Julius. Nun bin ich begierig, was der uns sagen wird. In
der Kirche möchte ich sterben vor langer Weile.
'
Otto. Hör'mal! Sags aber nicht weiter, denn ich darf nichts
ausplaudern. Neulich erzählte mein Vater der Mutter über Tische,
der Minister wolle noch viel mehr Religion in der Schule haben.
Julius. Rum das käme mir gelegen.
Man glaubt kaum, ans welche wunderlichen Einfälle Schüler sich
verirren und welch' eine widerkirchliche Gesinnung unter ihnen grade
da herrscht, wo der Religionsunterricht nach dem Katechismus mit dem
lebhaftesten Eifer für kirchliches Leben von den Lehrern ertheilt und
betrieben wird. Es fehlt unserer Jugend sammt und sonders, der
pietistischen nicht minder als der rationalistischen, die Pietät, d. h. die
fromme, gläubige Hingebung an ein höheres Ansehen, welche vor
hundert Jahren noch alle Verhältnisse des Lebens durchdrang, jetzt
aber aus ihnen lange gänzlich und, wie es scheint, unwiederbringlich
entwichen ist. Die Verbindung der Kirche mit der Schule ist gegen¬
wärtig eine pädagogisch-widernatürliche, unglückselige und wird von
Jahre zu Jahre der Kirche selbst immer verderblicher. Daher sollte
man sie bei guter Zeit noch völlig auflösen. Allein die Geistlichen,
von einem seltsamen Wahne befangen, halten streng auf sie und suchen
ihre Macht, der sie wie einem trügerischen Scheinbilde nachjagen, über
die Schulen zu erweitern, ohne von dem erfolglosen Streben befriedigt
werden zu können. Nordamerikanische Zustände darf man ihnen als
klaren Nachweis ihres Irrthums und ihrer Befangenheit kaum zu
nennen wagen, denn sie werden von der europäischen Geistlichkeit durch¬
weg tief verabscheut. Sie will eben die Gemüther beherrschen, aber
nicht von der Gemeinde abhängen, die religiösen und kirchlichen Be¬
dürfnisse derselben in ihrem eignen Sinne, nicht im Sinne der Gemeinde-
Glieder zu befriedigen. Viele Geistliche scheinen, dem Verfahren nach
Zu urtheilen, wirklich zu meinen, ein beliebiger Ausspruch werde da¬
durch wahr, daß er den Leuten voll Kindesbeinen an eingeprägt, aus¬
wendig gelernt und brav wiederholt wird. Ja, wenn die Leute keine
Schriften weiter lesen wollten, als die von den Geistlichen gebilligt
werden! Die Schulen sind jedoch wenig geeignet, ein solches Verfahren
"ut großem Glücke und Erfolge anzuwenden. Die Jugend kommt oft
weht deswegen weniger gottesfürchtig, als man wünscht, aus den
Schulen zurück, weil in ihnen die Religionskenntnisse nicht genug, nicht
w alter Weise eifrig genug getrieben werden, sondern eben deshalb,
und weil jeder von den Regierungen anerkannte Katechismus der schul¬
gemäßen Behandlung zu arg widerstrebt.
Steht es um die Erziehung der Kinder mißlich, so noch weit mehr
um die richtige Leitung der angehenden Jünglinge während der sittlich
gefährlichsten Lebensjahre, d. h. vom dreizehnten bis achtzehnten. Der
junge Mensch, welcher nicht mehr Knabe sein will, beobachtet die Er¬
wachsenen, denen er sich gern gleichstellt, ohne sich von ihnen sonder¬
lich beachtet oder doch richtig genommen zu werden, angespannt, ahmt
ihnen leidenschaftlich blind nach, hält sich aber vorzugsweise an Aeußer-
lichkeiten, die er mit der Sache selbst verwechselt. Daher ist die Zu¬
ziehung solcher jungen Leute zu den Gesellschaften, den Vergnügungen,
den Genüssen der Erwachsenen nicht blos bedenklich, sondern jenen fast
ohne Ausnahme verderblich und erzeugt allerlei Uebel, deren Wurzel
man anderwärts vergebens sucht. Von dem nächsten Beispiele, den
unmittelbaren Umgebungen, den Freundschaften hängt daher sehr oft
die Sinnesweise, das sich entwickelnde und befestigende sittliche Gepräge,
also das innere Lebensglück des Menschen ab. Und wer leitet den
jungen Menschen durch jene Gefahren? Wer sorgt um ihn? Selten
Jemand ernstlich. Denn ein großer Theil der jungen Leute muß bei
Herren dienen, wer nicht gefällt, wird fortgejagt, Keiner erzogen; ein
zweiter, sich selbst und seinen Gelüsten überlassen, arbeitet in Fabriken
um spärlichen Lohn, Keiner wird erzogen; ein dritter befindet sich in
der Lehre bei Gewerksmeistern, die aber nicht mehr, wie ehemals, auch
außer den Arbeitsstunden ihre Lehrlinge in Zucht und Ordnung halten,
Keiner wird da erzogen; ein vierter genießt höhern Unterricht in Gym¬
nasien, Gewerböschulen u. s. w. und spielt gern, falls es irgendwie
angeht, den unabhängigen Herrn. Dieser ist hauptsächlich vielfachen
und starken Versuchungen zu unsittlichen und unrechtlichen Handlungen
ausgesetzt und unterliegt ihnen häufiger, als daß er sie inkräftig be¬
siegt. Aus ihm ergänzt sich aber der Stand der öffentlichen Beamteten,
der einflußreicheren Kaufleute, der Vorsteher umfassender gewerblicher
Anstalten u. s. w., überhaupt der Stand, dessen Glieder dem Volke
Führer und Beispiele sittlichen und rechtlichen Lebenswandels sein sollen.
Und wie wenige von ihnen, im Ganzen genommen, sind wirklich erzogen,'
obgleich die meisten wohlunterrichtet!
Es ergibt sich nun aus unsern Betrachtungen folgender Schluß:
1. Von einer öffentlichen, richtig geleiteten Erziehung der Jugett'^
ist weit mehr als vom bloßen Unterrichte für die Hebung und BefeM
gnug des sittlichen und rechtlichen Lebens in der staatlichen Gesellschaft
zu erwarten.
2. Der Wirkungskreis der öffentlichen Schulen, sofern sie bloße
Unterrichtsanstalten sind, ist ein zu einseitiger und als solcher ein viel
zu beschränkter, um dem staatlichen Leben die rechten Früchte zu
tragen.
3. Von der nachhaltigen Wirkung des Schulunterrichts in einem
bestimmten kirchlichen Glaubensbekenntnisse auf das spätere Leben hegt
man unrichtige Vorstellungen und viel zu günstige Erwartungen, wel¬
che die Schulen beim besten Willen nicht zu erfüllen vermögen, weil
das Wissen ohne mit ihm verbundene, vielfach beobachtete und beur¬
theilte Uebung ein unfruchtbares bleibt/)
4. Die häusliche Erziehung wird nicht etwa blos durchschnittlich,
sondern vielmehr in der weit überwiegenden Zahl der Fälle, mit Ur-
kunde in der Erziehungskunst, mit Ungeschicke oder Unlust behandelt,
genügt daher den billigsten Anforderungen nicht, ja sie wirkt häufig
auf die gesunde Entwickelung des sittlichen und des rechtlichen Bewußt¬
seins verderblich ein und vertilgt sogar das wenige Gute, welches die
Schule noch stiftet und in ihrer jetzigen äußern Stellung stiften kann,
bald wieder, insofern die Kinder durch das augenscheinliche Beispiel, ja
durch offene Aufforderung der Aeltern zu Unsittlichkeiten und Gesetz¬
widrigkeiten verleitet werden.
5. Besondere Beachtung von Seiten des Statistikers, der über die
Wirksamkeit der Schulen für das staatliche Leben ein sichereres Urtheil,
als bisher gewöhnlich, fällen will, verdient der wichtige Umstand, daß
der Schulunterricht für den größern Theil der Jugend viel zu früh
abgebrochen wird und Fortbildungsschulen gegenwärtig noch eine große
Seltenheit sind; daß während der sittlich gefährlichsten Lebensjahre die
Jugend meist so gut wie gar nicht erzogen und für die Abwendung
der Gefahren nur Unzureichendes gethan wird; endlich, daß die höhern
Schulen das Recht haben, Schüler fortzuschicken, welche entweder d«S
Erforderliche nicht leisten, oder ein sittlich böses Beispiel geben*).
6. Niemanden darf es also befremden, wenn die statistischen
Ergebnisse bei den Gerichten mit den Bemühungen der Staatsbe¬
hörden, das öffentliche Unterrichtswesen zu befördern, nicht nur nicht
im rechten Einklange, sondern bisweilen in schreienden Widerspruche
stehen").
Da nun die öffentlichen Schulen von Seiten der Staatsregierung
wohl die (einseitige) Bestimmung haben, die Jugend zu unterrichten,
aber nicht — wenigstens im Ganzen nicht ausdrücklich — auch die
Bestimmung, die Jugend zu erziehen; da selbst der öffentliche Unter¬
richt ein mangelhafter ist und an UnVollkommenheiten, welche weder
den Schülern, noch den Lehrern zur Last gelegt werden dürfen, leidet:
so sind auch die Schulen hinsichtlich der Erfolge des Unterrichts für
den Staat nur theilweise und bedingt, hinsichtlich betrübender Erschei¬
nungen aber, welche im Gebiete des sittlichen und rechtlichen L-ebens
der Staatsglieder vorkommen, so gut wie gar nicht verantwortlich.
Was unsere Statistiker und Staatsmänner bei ihren Berechnungen
und mitunter etwas voreiligen Schlüssen sich anmerken mögen.
„Wenn, um aller göttlichen Gnade willen, soll denn einmal jeu«
goldene Zeit anbrechen, wo die Erziehung der Kinder nicht mehr der
Erziehung junger Gänse gleichen wird, welche eben auch von keiner
andern Gans zur Weide gegackert werden, als von derjenigen, die sie
ausgebrütet hat? Ist es unausführbar und wird es unausführbar
bleiben, daß der Staat feine Kinder (in manchen, ja in vielen Fällen)
vor ihren Aeltern oder sonstigen, Aelternstelle vertretenden Verwandten
sichere und sich so feine künftigen Bürger rette?"
Die Nachrichten über das Befinden des Palatins lauten zwar
für den Augenblick günstig, aber Privatbriefe aus seiner Umgebung in
Ofen wollen leider nicht an eine dauernde Besserung glauben. Die
gesunkenen Kräfte des hochbetagten Greises in Folge einer vorgenom¬
menen Leistenbruch-Operation.lassen noch immer das Schlimmste erwar¬
ten, und eine scheinbare kurze Besserung gibt immer doch nur einen
schwachen Hoffnungsschimmer. Die Verhandlungen zwischen dem Für¬
sten Metternich und dem ungarischen Kanzler, Grafen Appony, waren
in der letzten Zeit sehr häufig; es handelte sich darum, für alle mög¬
lichen Fälle vorbereitet zu sein. Wenn es das Unglück wollte, daß
der allgemein verehrte Greis jetzt stürbe — nebenbei gesagt, hat einer
der Hofkapellmeister bereits ein Requiem für den Palatin geschrieben,
und derselbe Kapellmeister ist um jetzt selbst gefährlich erkrankt — so
würde die Regierung wohl kaum, wie man hier allgemein glaubt, den
ungarischen Landtag sogleich zusammenberufen, sie würde gewiß von
ihrem constitutionellen Rechte einer sechsmonatlichen Frist Gebrauch
machen, um so mehr, da im März k. I. ohnehin der Landtag einbe¬
rufen wird. Sie würde in dieser Zwischenzeit nicht allein Gelegenheit
haben, sondern auch Gelegenheit suchen müssen, sich sowohl von der Stim¬
mung im Lande genau zu unterrichten, als auch die Männer, welche
M dieser Würde vorgeschlagen werden, zu sondiren und sich ihrer zu
versichern. Bei der Wahl eines Palatins hat die Regierung das Recht,
vier Candidaten, darunter einen Prinzen des Hauses, vorzuschlagen.
Von den andern drei Candidaten muß einer der lutherischen, einer der
helvetischen Confession angehören. So weit die Stimmung in Ungarn
bisher laut geworden, muß man glauben, daß das Land unter den
kaiftrl. Prinzen nur den Erzherzog Stephan als Palatin anzunehmen Lust
hat; würde dieser nicht ernannt, so würde die Wahl dann auf einen
Magnaten fallen, und als die drei Kandidaten aus dem Magnaten¬
stande nennt man den Fürsten Esterhazy, den Grafen Stephan Sze-
cheni und den Gouverneur von Siebenbürgen, Graf Teleki. Letzterer,
ein entschieden freisinniger Mann, gewandt und gelehrt, praktisch und
erfahren, hat die meisten Sympathien und auch die meisten Chancen
für sich — es müßte dein: sein, daß die Regierung den Erzherzog Ste¬
phan mit vorschlüge, was aber immer noch problematisch ist. Die grade
jetzt erfolgte Ernennung deö Präsidenten der Studiencommission und
des Censurcollegiums in Ofen, Herrn von Szögöny, zum zweiren Vice-
kanzler der ungarischen Hofkanzlei beweist, wie die Regierung jetzt be¬
müht ist, die fähigsten Köpfe Ungarns in ihre unmittelbare Nähe
zu bringen. Hr. von Szögöny ist einer der entschiedensten Anhänger
des Appony'schen Systems, jung, thatkräftig und grade liberal genug,
um zu erkennen, wie man mit den Ungarn umgehen müsse. Uebrigens
hat aber auch grade jetzt die ungarische Opposition durch die Ent¬
weichung des Direktors der ungarischen Handelsgesellschaft einen der
empfindlichsten Stöße erlitten. Die Handelsgesellschaft, sowie der Schutz¬
verein waren Phantasten der ungarischen Ultranationalen, zu Papier ge¬
bracht von Hrn. von Kossuth, einem Manne, der als Journalist nicht
ohne Feuer, sonst aber ohne alle Lebenspraris ist. Durch Beides wollte
man sich von Oesterreich oder vielmehr von den verhaßten Deutschen
emancipiren. Durch die Handelsgesellschaft selbst mit Frankreich, Eng¬
land und Amerika in Verbindung treten, während sonst der Produkten¬
handel Ungarns meist durch die Hände Wiener Kaufleute ging.
Durch den Schutzverein wollte man eine inländische Industrie erzwin¬
gen, um Oesterreich seinen großen Markt Ungarn abzuschneiden. Aber der
Schutzverein scheiterte 1) an den mangelhaften Creditverhältnissen des
Landes, 2) an dem Gesetze der Aviticität, welches den Grundbesitz auf
adeligen Boden dadurch unsicher macht, daß nach ungarischen Gesetz nach
Jahren noch ein Anverwandter des Verkäufers auftreten und gegen Rücker¬
stattung der ehemaligen Verkaufssumme sich wieder in den Besitz des verkauf¬
ten Gutsantheils setzen kann; ein Gesetz, durch welches schon an und für
sich jeder Ausländer von Errichtung von Fabriken, zu welchem Behufe
er doch nothwendig Grundeigenthum erwerben muß, zurückgeschreckt
werden muß; 3) an dem Mangel von Arbeitskräften und der dadurch
hervorgebrachten Theuerung des Arbeitslohnes; 4) an dem Mangel
guter Communicationsmittel in dem Innern des Landes, denn es las¬
sen sich doch unmöglich alle Fabriken in der Hauptstadt anlegen,
oder alle Fabrikszweige in der unmittelbaren Nähe der wenigen gut
erhaltenen Hauptstraßen betreiben :c. :c. Ich könnte hier noch meh¬
rere Gründe angeben, aber dieses sind die am meisten in die Augen
springenden, wenn auch alle diese Gründe, so wichtig sie sind, bei ei¬
nem thatkräftigen und praktischen Volke, wie die Engländer oder Ame¬
rikaner, von keiner so großen Bedeutung wären, indem diese sie durch
Beharrlichkeit bald überwunden hätten. Aber suchen wir alles Edle bet
den Ungarn, nur nicht Beharrlichkeit. Der Ungar hat in seiner Sprache
ein eignes Wort, welches so viel bedeutet wie „ungarisches Stroh¬
feuer" und man weiß es, wie sehr der Ungar seine Sprache in Ehren
erhält. Wer seine Phantasie zu erhitzen, seine Begeisterung zu erregen
versteht, der hat bei ihm gewonnenes Spiel, ebenso wie im Gegentheil
wieder Jener, der nicht dem ersten Angriffe des ungarischen Enthusias¬
mus nachgibt, der ihm zu widerstehen versteht und klug die Folgen
abwartet; man sieht, der Ungar ist noch ganz wie sein Scythischcr
Vorfahre, ungestüm im ersten Angriff, ist dieser abgeschlagen, so wer¬
den nur fliehend noch einzelne Schüsse abgesendet. So war es mit
dem Schutzvereine, sür welchen sich in den ersten Monaten über eine
Million Menschen erklärt hatten und der nach einem Jahre so weit
War, daß er nicht einmal mehr die wenigen Beamten seines Haupt¬
bureaus in Pesth bezahlen konnte und dann, um seine Finanzen und
den gesunkenen Handelsgeist zu heben, ein Ballfest veranstaltete, wobei
aber auch einige hundert Gulden weniger als die Kosten eingingen.
Man darf nicht übersehen, daß die Idee des Schutzvereins bei einem
Volke wie die Ungarn, in einem Lande von der Größe und Bevölkerung
Ungarns, von der ungeheuersten Wichtigkeit für die österreichische In«
dustrie hätte werden können, aber um so imposanter gegen das übrige Oe¬
sterreich auftreten zu können, hätte Ungarn erst selbst eine vielfach entwickelte
Industrie haben müssen, Straßen, um diese Industrie im Lande selbst flüs¬
siger zu machen, und Geld, um eine solche Industrie auf den höchsten
Punkt zu treiben. Dann hätte es zu Oesterreich sagen können: Wir
schließen unsern Markt dem millionenfachen Absatz euerer Waaren und
erhöht ihr den Ausgangszoll unserer Producte, so lahmt ihr nur selbst
Mehrere Zweige eueres Handels, während wir dann Fiume zum unga-
rschen Odessa machen. Aber bei den Ungarn war so etwas nicht zu
fürchten, die ganze Geschichte war ein Champagnerrausch, der Mehrere
ZU Boden warf. Wie unpraktisch die Ungarn überhaupt in staatsökono-
mischen Dingen denken, beweisen sie auch schon daraus, daß sie hier
Wie überall bei dein großen schönen Hause, das sie bauen wollen, zu-
erst das Dach machen und dann erst «n den Grund denken: sie
wollten ihre Industrie emancipiren und begannen zuerst mit dem
Schutzverein, und dann mit dem Fabriks-Verein, d. h. dem Verein
zur Errichtung von Fabriken im Lande; denn, sollte man es glauben,
als der Schutzverein gegründet wurde, hatte das ganze große Un¬
garn keine einzige Spinnfabrik, keine einzige Baumwollwaarenfabnh
Eine Tuchfabrik, zwei Porcellanfabriken, zwei Seidenfabriken in Pesth,
eine Glasfabrik, ein paar Eisenhämmer auf den Coburg'schen Gütern,
einige Papierfabriken und mehrere Cigarrenfabriken; das übrige
waren meist zünftige Gewerbe, als Handschuhmacher, Gerber, Hut¬
macher :c. :c., von einer Industrie im Großen nirgends eine Spur
Diese Industrie, so nothwendig, um den Schutzverein eine Wahrheit
sein zu lassen, sollte nun der Fabriksverein ins Leben rufen, und in
der That figurirten auf den Subfcripttonslisten neben den bescheidenen
Ziffern des vorsichtigen Kaufmaimsstandes, die vielen Nullen des ho¬
hen Adels, so daß man glauben sollte, es müßten Millionen zusam¬
menfließen. Aber endlich, als es zu den Einzahlungen kam, schmolzen
diese großen Subscriptionösummen zu so bescheidenen Ziffern zusam¬
men, daß auch diese Sache zusammenfiel. Unter die Tendenzen des
Fabrikvereins gehörte es auch, Jene, welche in Ungarn Fabriken er¬
richten wollten, durch Vorschüsse zu unterstützen; welche Bedingungen
machte aber da der Verein? Für's Erste natürlich vollkommene Sicher-
stellung des Darlehens, dann sechs Procent Interessen und endlich je¬
derzeit Einsicht in die Bücher des Geschäfts; es waren dieses die klüg¬
sten Bedingungen, um Jedermann von einem Anlehnsgesuche abzuhal¬
ten. Und nun muß man denken, was aus der ungarischen Handels¬
gesellschaft werden mußte, da ihr mit unumschränkter Vollmacht aus¬
gerüsteter Director rein eine Creatur jener Männer war, welche an
der Spitze der oben genannten Vereine standen. Von dem Momente
an, wo nach dem Rechnungsabschlusse des ersten Jahres diese Partei
es durchsetzte, daß Szabo unumschränkte Vollmacht erhielt, waren schon
erfahrene Kaufleute hier und in Pesth der Meinung, daß die ganze Sache
einen schiefen Gang nehmen würde, denn hier kannte man Szabo nur
als einen jungen Menschen ohne Erfahrung und Geschäftskenntniß, in
Pesth aber als einen Schwindler, Radamonteur und — Bankrotcur!
Die Gesellschaft kann unter den jetzigen Verhältnissen, wo sich die Fäl¬
schungen in der Buchführung immer mehr und mehr herausstellen, froh
fein, wenn sie mit einem Schaden von 2»v,Wi) Fi. durchkomme. Auch
wurde in der letzten Generalfltzung vor einigen Tagen beschlossen, daß
die Gesellschaft alle ihre Verpflichtungen, die Szabo bis zu seiner Flucht
eingegangen, decken und dann unter einem Ausschusse von mehrern der
ersten und erfahrensten Kaufleute Pesths fortbestehen werde, und in
der That läßt sich noch eine schöne Zukunft für dieses Unternehmen
hoffen, denn Ungarns unerschöpflicher und vielfacher Productenreichthum
wird einem klugen und gewandten Kaufmanne immer glückliche Com¬
binationen erfinden lassen. Szabo ist in Salzburg wieder erwischt worden.
Mit ihm ist das Project einer ungarischen Flotte, wo er selbst am
besten den ersten Mastbaum hätte vorstellen können, sowie auch die für
jetzt uimusführbare Idee einer Eisenbahn von Vukovar nach Fiume,
und überhaupt noch manche Raketen eines Ultra-MagyarismuS in's
Meer gefallen; daß dieses aber, wie Kossuth jammernd ausruft, der
härteste Schlag für Ungarns Größe seit Jahrhunderten sei, ist eine
lächerliche Phrase; ein junger Mensch — Szabo ist einige zwanzig
Jahre — hat einen dummen Streich gemacht, damit Holla!
Ein Preuße und ein Oesterreicher, zwei Schriftsteller, in deren
Wirken der Enthusiasmus für deutsche Nationalität und Größe den
Grundzug bildet, behandeln in ihren neuesten Publikationen die Frage
der Judenemancipation. Was ist noch Neues in dieser Frage zu sagen
übrig? Ist nicht Alles schon vorgebracht worden? Im Namen der
Menschheit, im Namen des Rechts, im Namen der Liebe, im Namen
der Vernunft, im Namen der Freiheit sind die schönsten, glühendsten
und überzeugendsten Worte gesprochen worden; im Namen des Fana¬
tismus, im Namen des Vorurtheils, im Namen des Hasses, des
Mißtrauens, des Zunftneids und des Egoismus sind nicht minder
glühende Worte und erschöpfende Gründe zur Welt gekommen. Den¬
noch hat in den letzten Jahren die Judenfrage eine neue Wendung
genommen. Viele hochherzige Männer haben die Judenemancipation
im Namen deutscher Ehre, im Namen des christlichen Vortheils ver¬
langt, während die Gehässigkeit der Gegner die neue Taktik erfanden,
jene Stimmen, die für die Rechte der Juden sich erhoben, als lauter
jüdische Stimmen auszuschreien. Diese Taktik ist nicht ohne Erfolg
geblieben und die Erfahrung lehrt, daß ein großer Theil des Lesepu-
blikums jene Aufsätze, welche die Tagespresse gegen die herrschenden
Judengesetze enthält, rasch überschlägt, weil man immer Avvokaten in
der eigenen Sache dahinter vermuthet. Der christliche Schriftsteller,
dem das schreiende Unrecht, das an den Juden begangen wird, aus
Herz geht, leistet daher der Sache einen doppelten Dienst, wenn er
mit seinem ganzen Namen in die Arena tritt. Von diesem Gesichts-
punkte aus lasse,, wir hier einige der jüngsten Urtheile, die in dieser
Angelegenheit gefällt wurden, sprechen, um so mehr als die streng
deutsche Anschauung darin dominirend ist, und manche neue Wendung
sich herausstellt, die eben nur ein Ergebniß ver jüngsten Zeit sein konnte.
„Wie sehr das reactionäre conservative Element selbst den Völkern
Deutschlands noch im Blut steckt, beweist das Schicksal der deutschen
Juden. Eine Reform, die wesentlich von den Völkern ausgehen und
vollbracht werden könnte und sollte, geht eben so langsam von statten,
wie die Reformen, die von den Regierungen abhängen; und fast wört¬
lich dieselben nichtigen Bedenklichkeiten, mit denen die Minister ihre
Reaction zu beschönigen suchen, hört man selbst von sonst freisinnigen
Volksmännern gegen die Emancipation der Juden vorbringen. Schon
daß auf die polnische und sociale Lage einer so großen Zahl unsrer
Mitbürger das Wort angewendet wird, welches den Begriff von heid¬
nischer Sclaverei voraussetzt, bezeichnet den unsre christliche Cultur
beschimpfenden Uebelstand verdammend genug.
Es ist in neuester Zeit allerdings hierin etwas besser geworden —
und wer wird nicht auch in dieser Beziehung mit freudiger Verehrung
auf Baden blicken — aber es geschieht zu wenig, und wenn auch
mehr geschähe, es wäre umsonst, weil eben Alles geschehen soll. Noch
immer ist der Wahn vorherrschend, es komme in der Judensache von
christlicher Seite auf eine gnädige Herablassung, auf eine christliche
Barmherzigkett an. Es ist bei weitem noch nicht zur Anerkennung
durchgedrungen, daß es eine strenge und ganz gemeine Rechtspflicht
für uns ist, die Juden in die bürgerliche Rechtsgleichheit eintreten zu
lassen. Von allen gewöhnlichen Bürgerlasten lassen wir sie gleichen
Antheil mit uns tragen und legen ihnen überdies noch einige besondere
Lasten auf; aber von den gewöhnlichen bürgerlichen Rechten, Ehren
und Vortheilen schließen wir sie aus.
Doch nicht die weitere Darlegung dieses empörenden Unrechts ist
der Zweck dieses Aufsatzes. Ich will vielmehr im Interesse unsrer
eigenen Freiheit und Nationalwürde für die Befreiung und Berend-
tigung der Juden sprechen; ich will in kurzen Sätzen zeigen, daß wir
durch Unterdrückung und Knechtung der Juden den Despotismus be¬
festigen, unter dem wir selber seufzen, daß wir unsre Nationalität be¬
schimpfen, so lange wir die Juden von derselben ausschließen wollen.
Das wirksamste Haupthindernis; der Judenerlösung liegt unstreitig
blos in unsern christlichen Vorurtheilen und persönlichen Antipathien.
ES gibt freisinnige Männer, welche es offen aussprechen, daß sie von
Unserer Ungerechtigkeit gegen die Juden vollkommen überzeugt sind,
daß sie aber dessen ungeachtet durch ein gewisses Etwas, durch ein
angeerbtes, ja angebornes Vorurtheil, durch eine unbezwingliche Ab¬
neigung verhindert seien, für die gänzliche Aufhebung jener Ungerech¬
tigkeit zu stimmen. Allein, wenn auch uicht geläugnet werden kann,
daß in den jetzigen Volkszuständen der Juden noch mancherlei vor¬
komme, was eine gewisse Abneigung erregen kann, und wenn es serner
nur allznwahr ist, daß die mit der Muttermilch eingesogenen Vorur¬
theile das ganze Leben beherrschen; so ist es doch eben für diejenigen
Freisinnigen, die wirklich von einem Vorurtheil, von einer Antipathie
gegen das Judenthum und gegen die Juden besessen sind, um der all¬
gemeinen Freiheit willen die dringendste Pflicht, für die Judenfreiheit
zu wirken. Denn lassen wir persönliche, angeerbte Vorurtheile und
Neigungen in politischen Dingen herrschen, so rechtfertigen wir da¬
durch die uns allen feindlichen Vorurtheile und Neigungen derjenigen,
die uns alle beherrschen. Wie wir es den Juden machen, so machen
sie es uns. Aus angeerbten Vorurtheilen, aus persönlicher Antipathie
gegen die Demokraten, gegen die „Antichambre, die in den Salon drin¬
gen will," versagen uns die Herrscher die staatsrechtliche Anerkennung
und Freiheit. So lange wir aus gleichen Gründen gleiches Unrecht
an den Juden verüben, anerkennen wir das despotische Princip, nach
welchem in Staats- und Nationalsachen persönlichen Antipathien und
Vorurtheilen ein herrschender Einfluß eingeräumt wird.
ES gibt freisinnige Volksmänner unter uns, die dem Princip nach
das Recht der Juden auf staatsrechtliche Gleichstellung und Freiheit
anerkennen, aber dennoch gegen die unversäumte und vollständige
Durchführung dieses Princips stimmen, weil, wie sie sagen, die Juden
für die Freiheit noch nicht reif seien, sondern erst nach und nach durch
stufenweise Concessionen herangebildet werden müßten. Buchstäblich
dasselbe setzt die despotische Partei unserm eigenen Freiheitsstreben ent¬
gegen. Sie ist zwar auch schon so weit gebracht, daß sie die staats¬
rechtliche Freiheit dem Princip nach nicht mehr negiren kann; aber sie
ist gegen die unversäumte und vollständige Durchführung dieses Prin¬
cips, weil, wie sie sagt, die Völker überhaupt und besonders die deut¬
schen Völker für die Freiheit noch nicht reif seien, sondern erst durch
stufenweise Concessionen herangebildet werden müßten. Wagen wir
es nun, über ein Volk, welches ein Theil unsers eigenen Volkes ge¬
worden ist, die Unmündigkeitserklärung auszusprechen, so ermächtigen
wir dadurch die herrschende Partei, dasselbe Urtheil über uns selbst
zu fällen.
Die Gegner der Judenfreiheit behaupten hartnäckig, dieselbe ließe
sich ohne die größten Nachtheile nicht durchführen, die Juden seien
nun einmal nicht darnach, sie könnten und wollten sich nicht eigentlich
und organisch unserm Volksleben anschließen, sie würden immer ein
fremdes und feindliches Element bleiben. Weist man nun gegen diese
Behauptung ganz einfach auf Frankreich und England hin, so erwidern
jene Judenfeinde kurz und schlecht, in Frankreich und England seien
andere Verhältnisse. Ganz genau so machen es nun die Feinde der
deutschen Freiheit überhaupt. Sie behaupten fortwährend, Preßfrei-
heit, Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und Juryverfassung des Gerichts¬
wesens und eine wahrhaft constitutionelle Freiheit sei mit den ganz
besondern und sehr schwierigen deutschen Zuständen unvereinbar. Weist
man nun gegen diese grausame Behauptung auf die Macht und das
Glück Frankreichs und Englands hin, so wird man kurz mit der Be¬
merkung abgefertigt, in Frankreich und England seien eben ganz an¬
dere Verhältnisse. Wenn wir also in einer so wichtigen Richtung der
Freiheit gegen das englische und französische Beispiel blind sind, so
rechtfertigen wir dadurch gewissermaßen das Verfahien unsrer Regie¬
rungen, die uns in Betreff der Freiheit überhaupt gegen jenes Beispiel
blind machen wollen.
Es ist aber überdies geradezu gelogen, wenn behauptet wird, die
Juden würden sich niemals wahrhaft mit unserm ^olköthum vereini¬
gen. Sie haben sich ja ungeachtet aller Unterdrückung, Ausschließung
und Beschimpfung bereits so vollständig nationalisirt, daß Juden in
den ersten Reihen unsrer patriotischen Kämpfer stehen. Sie haben alle
unsere innern und äußern Nationalkämpfe mit Treue und Begeisterung
angekämpft, sie sind in den fernsten Weltgegenden die Träger deutscher
Sprache und Bildung, zu allen unsern großen Nalionalwerken h.»ben
sie Geist und Gut beigesteuert und auf allen Gebieten der deutschen
Kunst, Wissenschaft und Literatur, glänzen als Sterne erster Größe
jüdische Namen. Das also, was die Juden für unser Nationalleben
leisten, nehmen wir an, eignen es uns zu, lassen es als deutsch gel¬
ten ; den Juden selber aber wollen wir den deutschen Charakter ab¬
sprechen, wollen sie von der deutschen Nationalität ausschließen unter
dem Vorwand, sie wollten und könnten nicht deutsch sein?! Durch
dieses ungerechte Verfahren beschimpfen wir die deutsche Nationalität.
Denn wenn die Juden nicht deutsch sind, wenn sie nicht werth sind,
es zu werden, warum nimmt dann die große deutsche Nation von den
verachteten Fremdlingen Almosen an, warum schmückt sie sich mit den
geistigen Werken derselben ?
Bis zu welchem Grade unsre Juden deutsch sind, beweist ein für
unsere Culturgeschichte äußerst merkwürdiges neuestes Beispiel, nämlich
der Verfasser der Dorfgeschichten, der edle Berthold Auerbach. Gewiß
wenige Leser dieser lieblichen und einfach großartigen deutschen Volks¬
bilder werden es auch nur für denkbar gehalten haben, daß diese
Dorfgeschichten von einem Juden geschrieben seien. Und doch ist Ber¬
thold Auerbach ein Jude und zwar ein aus einer armen Dorfjuden¬
familie stammender Jude. Geist, Scharfsinn und Witz hat man den
Juden immer zugestehen müssen; hier habt ihr nun einen Juden, der
als Repräsentant derjenigen Eigenschaft gelten kann, die man sonst ge¬
wöhnlich für ein Urprivilegium der urdeutschen Natur hält; hier habt
ihr einen tief gemüthlichen Juden. Hier habt ihr einen Juden, der
unser eigentliches deutsches UrVolk in seinem innersten Wesen belauscht
und erkannt hat, und dessen Herz das wärmste Mitgefühl für alle
Freuden und Leiden dieses deutschen Volks empfindet. Und nun sage
Jemand, daß dieser liebe Berthold Auerbach nicht deutsch sei!
Wer selber ächt deutsch ist, der muß die deutscheu Juden als
deutsche Mitbürger anerkennen; wer die Freiheit überhaupt will, der
muß auch für die Freiheit der Juden wirken. Und ihre Befreiung
hängt recht eigentlich von uns ab. Nicht nur die deutschen Kammern
können für sie wirken, sondern jeder deutsche Mann, wenn er damit
anfängt, sein angebornes Vorurtheil und seine persönliche Antipathie
gegen die Ju^'n abzulegen. Die deutschen Städte, in deren Weichbild
kein Jud wohnen oder sogar nur schlafen darf, die deutschen Zünfte,
die keinen Juden aufnehmen, die deutschen Städtecollegien, die den jü¬
dischen Mitbürgern Sitz und Stimme verweigern, die deutschen gelehr¬
ten und geselligen Vereine, die durch Ausschließung der Juden beweisen,
wie ungebildet unt ungesellig sie sind, — sie Alle und jeder einzelne
Deutsche erweise den Juden Gerechtigkeit, und die Regierungen werde»
um so lieber nachfolgen^ je nothwendiger sie die Juden brauchen."
„Die Emancipation der Juden hängt mit den deutschen Preßzu¬
ständen auf das Innigste zusammen. Sehr oft antworteten die Gegner
der Ansichten, die in der deutschen Presse sich am klarsten geltend ma¬
chen, auf die am lautesten ausgesprochenen Forderungen, mit einer Hin¬
weisung darauf, daß so viele Juden in der Presse thätig seien. Sie
glauben damit dann meist, den von den Juden in den Zeitungen ver¬
theidigten Ansichten, auch für die Christen den Gnadenstoß gegeben zu
haben. Sie haben aber nichts gethan, als einen Grund mehr für —
die Emancipation der Juden angeführt.
Vier Landtage in Preußen sprachen sich für die Emancipation
der Juden aus. Die Regierung antwortete allen, daß ihre „Anträge
bei der bevorstehenden legislativen Berathung dieses Gegenstandes näher
erwogen werden sollten." Der Antwort an die Rheinländer aber fügte
die Negierung noch besonders hinzu: „Wir wollen indessen Unsern ge¬
treuen Ständen schon jetzt nicht vorenthalten, daß Unsere Absicht nicht
dahin geht, die Juden in Beziehung auf die politischen Rechte Unsern
christlichen Unterthanen völlig gleich zu stellen, und halten Uns auch
überzeugt, daß der so weit gehende Antrag bei der Mehrzahl der Letz¬
teren keine Unterstützung finden würde."
Die schlestschen Stände hatten insbesondere auf Zulassung der
Juden zu akademischen Lehrstellen, sowie als Bürgermeister angetragen;
und in Antwort hierauf erklärt die Regierung, „daß es nicht ihr Wille
sei, die Juden zu Aemtern zu befähigen, welche ihnen eine obrigkeit¬
liche Gewalt über die christlichen Unterthanen gäben."
Somit ist die Regierung gesonnen, die politische Ungleichheit der
Juden den Christen gegenüber aufrecht zu erhalten. Sie beruft sich
W dem Ende selbst auf das Vorurtheil der Massen, die, wie sie glaubt,
im Gegensatze zu der Ansicht der Landstände, „dem so weit gehenden
Antrage keine Unterstützung" zukommen lassen würden. Diese Berufung
ist um so auffallender, als sie das System der Regierung umstößt, da
sie gewiß ihre Gründe hat, warum sie nur Leute, zu den Landtagen be¬
ruft, die zehn Jahre Grundbesitz haben und so und so viel Steuern
zahlen.
Das Vorurtheil der Massen mag noch vielfach gegen die Eman¬
cipation der Juden sein, aber die ganze deutende Welt verwirft dies
Vorurcheil. Es gibt auch außer Preußen noch Staatsmänner, die da
meinen, daß man den Juden wenigstens die politischen Rechte nicht
zuerkennen dürfe. In einzelnen Theilen Deutschlands scheint man Zu¬
stände, wie die des Elsasses, die schlimm genug sind, zu befürchten,
und bedenkt nicht, daß diese Zustände Folge von Allsnahmeverhältnissen,
Folge alten Herkommens und vor Allem Folge des Umstandes sind,
daß der deutsche Bauer alle seine höhern Geschäfte französisch betreiben
muß und dazu eines Uebersetzers und Führers bedarf, — und endlich,
daß der französische Grundbesitz durch das französische industrielle Schutz¬
system überall auf eine furchtbare Weise verschuldet ist.
Ohne die pol irische Emancipation der Juden aber ist auch die
bürgerliche nicht möglich. Das politische Element greift gegenwärtig
so tief in das bürgerliche und gesellschaftliche Leben über, daß wer von
den politischen Rechten allsgeschlossen ist, sich auch in allen andern
Beziehungen im bürgerlichen und gesellschaftlichen Leben unbehaglich
finden muß. Das größte Unglück der Allsschließung ist, daß der Zu¬
rückgesetzte sich selbst als einen Benachtheiligten, als einen Zurückge¬
setzten betrachtet. So würde also, selbst wenn man auch von all den
socialen Stellungen, die die politischen Rechte, Aemter, Würden, Orden
geben, nicht sprechen wollte, dennoch die moralische Emancipation, die
Versöhnung, die gesellschaftliche Gleichstellung gar nicht möglich sein,
wo die politische, die staatsrechtliche nicht zugleich mit stattfände.
„Die Emancipation der Juden muß also vollständig sein, wenn
sie überhaupt stattfinden, den gehofften Nutzen haben, moralische, ge¬
sellschaftliche Aussöhnung und Gleichstellung herbeiführen und verwirk¬
lichen soll." Nicht um etwas mehr oder weniger, so oder so viel
handelt es sich, sondern um Alles oder Nichts > um Etwas, das sich
nicht theilen läßt, um Freiheit und Recht.
Die Frage ist also einfach: Müssen und sollen die Juden eman-
cipirt werden?
Daß man diese Frage nur noch stellen kann, ist kaum begreiflich.
Sie ist eine der wunderbarsten Mißtöne in dem tollen Concerte unse¬
rer Zeit. Ist es nicht eine Art Hohn, von der „Judenemancipation"
zu sprechen? Wie wollte ich Euch geißeln, wenn ich ein Jude wäre!
— Und der Rothschild, der die Wage ü^er Krieg und Frieden in der
Hand hält? Und Mevcrbeer, Mendelsohn sind sie nicht als die ersten
Künstler der Welt anerkannt? und die zahllose Schaar deutscher Schrift¬
steller, die unbedingt über die ganze deutsche Presse gebieten?
Judenemancipation? Seit Ihr denn in Folge des Unrechts
Eurer Väter mit Blindheit geschlagen? Seht ihr denn nicht, daß es
sich einfach um die Emancipation der Christen in Deutschland han¬
delt, die von den Folgen der Ausnahmsstellung, die die Gesetze unserer
Väter den Juden gemacht haben, erdrückt werden?
Gleichstellung der Juden mit den Christen in politischer, bürger¬
licher und gesellschaftlicher Beziehung ist nicht mehr die Emancipation
der Juden, sondern die der Christen. „Ja, Christenemancipation durch
die Zernichtuug der Ausnahmsgesetze der Juden" ist eins der unerläßlich¬
sten Bedürfnisse der Zeit für uns Christen. Denn der, der da sagt:
„die Ersten sollen die Letzten und die Letzten sollen die Ersten sein,"
hat sein Gesetz an uns vollzogen; und als wir glaubten, den Fuß auf
den Nacken unserer Mitmenschen zu setzen, hat er uns in des Bedrohten
Hand gegeben, daß er uns niederhalte und erdrücke.
Seht um Euch; gibt es in dieser Welt eine Stellung, die Anse¬
hen, Macht, Genuß bietet; und Ihr werdet sie öfterer von einem Ju¬
den denn von einem Christen besetzt finden. Alle Christenmächtc krie¬
chen zu Kreuz vor dem Judenkönige der Bank. Fragt den nächsten
hohen Herrn, dem Ihr begegnet, auf welchen Ball, zu welchem Tanze
er heute gehe? — und Ihr könnt Drei gegen Eins wetten, daß er
Euch einen Juden nennen wird. In der letzten Soiröe, in der ich
gestern erst war, machte ein deutscher Baron, Chefpräsidentensvhn aus
L., den Spaßvogel, und die Dame des Hauses lachte von Herzen ob
der Schnurrn des hohen Herrn. Ich weiß nicht, ob sie Rachel heißt,
aber sie trägt den Namen auf Stirn und Nase in orientalischen Schrift-
Zügen ausgedrückt. Beschmcißt Euch eine stolze Pracht-Carosse mit
Koth, sie gehört diesem oder jenem jüdischen Banker. Sprechen alle
Blätter von einem Künstler, so seid zum Voraus überzeugt, er ist ein
Jude, denn alle Blätter, mit seltener Ausnahme sind in der Hand von
Juden, und die ihnen nicht unmittelbar untergeben sind, die versehen
-sie wenigstens in Mehrzahl mit ihren Beiträgen und Correspondenzen.
Der ganze Ton der deutschen Presse, der deutschen politischen Schrift-
stellerei hat einen sehr starken jüdischen Beigeschmack, und die öffent¬
liche Meinung in Deutschland lebt vorherrschend von den Ansichten,
die jüdische Schriftsteller auf- und anregen. Es ist um Deutschland
und um Christenthum gänzlich geschehen, wenn Ac deutsche Christen¬
emancipation nicht bald stattfindet, wenn die Juden nicht durch die
gleichen Gesetze auf die Höhe der christlichen Weltanschauung und der
deutschen Volksauffassung hinaufgehoben werde»».
Die Ursache dieser Zustände liegt in den Ausnahmsgesetzen, die
auf den Juden zu lasten scheinen und die ihnen in der That nur zur
Unterlage, zur Folie dienen. Die Gesetze schließen den Juden von ei¬
ner Menge Erwerbszweige, insbesondere von allen bürgerlichen Aem¬
tern, deren Zahl in Deutschland Legion ist, aus. Es gibt viele deut¬
sche Länder, wo der Jude nicht Schuster und nicht Schneider werden
darf, in allen aber darf er werden: Kaufmann und Banker, Künstler
und Schriftsteller.
Die Armen, sie sind gezwungen, Kaufmann, Banker, Künstler,
Schriftsteller zu werden; sonst dürfen sie nichts werden; nicht Schnei¬
der, nicht Ackerbauer, denn sie haben meist kein Zunft- und kein Ei¬
genthumsrecht; nicht Hofrath und nicht Büttel, denn sie sollen keine
„obrigkeitliche Gewalt über christliche Unterthanen" haben. Der christ¬
liche Unterthan wird Schuster lind Schneider, Hofrath und Büttel.
Mitunter freilich verläuft sich auch Einer unter die Kaufleute und
Banker, die Künstler und Schriftsteller. Aber sie sollen zusehen, daß
sie nicht Schiffbruch leiden.
Die Ausschließung zwingt nicht nur jeden tüchtigen Juden —
und es gibt deren scheinbar wenigstens um so mehr, als der Druck
überall erkräftigt, so lange er nicht zerdrückt — Banker, Künstler oder
Schriftsteller zu werden, sondern bringt ihn auch in jeder Beziehung
in eine bevorzugte Lage. Als Juden, ausgeschlossen von den Christen,
haben sie ein Recht, eine Pflicht und das Bedürfniß, sich fester Einer
an den Andern anzuschließen. Der jüdische Banker, der in Gefahr
kommt, kann auf alle seine Glaubensgenossen rechnen; der christliche
steht in seinem Rechte auf eignen Füßen und fällt meist, sobalo er nur
wankt.
Der jüdische Künstler kann seiner Glaubensgenossen an der Bank,
auf der Börse und in der Presse stets sicher sein. Sie bilden überall
und vor Allem an der Presse, durch die Ausschließung ganz naturge¬
mäß ein geschlossenes Ganze, eine gezwungene Phalanx, gegen die der
Christ, den sein Recht vereinzelt, nicht ankann.
Ich habe angestanden, ehe ich diese grellen Farben, wie wahr sie
auch sind, aufzutragen mich entschloß. Ich stand an, zauderte und
frug mich: „Soll ich die Wahrheit sagen?" weil ich fürchtete, einem
Juden damit wehe thun zu können. Ich könnte die angedeuteten Zu¬
stände noch durch die schlagendsten Beispiele belegen. Aber ich habe
nicht Lust, irgend Jemanden persönlich zu verletzen, am wenigsten aber
einen Juden. Ja, jeder Jude muß als solcher, als Ausgeschlossener,
als Paria für jeden christlichen Ehrenmann eine geheiligte Person sein,
auf der der Strahlenschimmer des unverdienten Unrechts, des unbe¬
fugten Drucks der nichtverschuldeten Hintansetzung ruht. Die Aus¬
schließung der Juden von Gesammtheit und Gesammtpflicht wird in
unserer Zeit, bei den Gefühlen und der Denkart des neunzehnten Jahr¬
hunderts — ein Vorrecht für jeden einzelnen Juden und den ganzen
Stamm. Die Sohne des neunzehnten Jahrhunderts schämen sich des
Unrechts ihrer Väter, und in diesem Schamgefühl liegt die unbeding¬
teste moralische Emancipation aller Juden. Und diese moralische Eman¬
cipation wird dann nothwendig bei der gesetzlichen und politischen Zu¬
rücksetzung zu einem persönlichen Vorzug für jeden einzelnen Juden.
Das ist die natürliche Folge des Widerspruches zwischen Gesetz und
Zeitgeist. — Die Ausschließung der Juden von dem Gesammtrechte
zwingt sie, sich in die höchsten, die besten, die ergiebigsten Stellungen
der Gesellschaft hineinzudrängen. Sie wird für alle Juden unter sich
zu einem unsichtbaren Freundschafts- und Verbindungsmittel, sie wird
für alle Christen, den Juden gegenüber, ein Mittel zur Ausschließung
von den Stellungen, die die Juden einzunehmen gezwungen sind. Sie
wird für die Juden, den Christen gegenüber, zu einem Schritte, der sie
überall schützt, wo sonst Anmaßung, vorlautes Wesen und unbefugte
Keckheit, alle die gräßlichen Folgen langjähriger Sclaveret und Aus¬
schließung, in ihre natürlichen Grenzen zurückgewiesen werden würden.
Und deswegen verlangen wir Christen: „Gleiche Rechte ohne alle
„Ausnahme sür die Juden, und somit Emancipation der Christen von
„dem auf uns lastenden Drucke des Judenthums."
Der Herzog von Schleswig-Holstein-Glücksburg ist hier gewesen und
bei Hofe mit allen ihm zukommenden Ehren empfangen worden. Er
hatte den zweiten Tag gleich eine lange Unterredung mit dem Fürsten
Metternich und denkt man daran, wie sich Oesterreich gleich Anfangs in
der Schleswig-Holsteinschen Angelegenheit benommen, welche Jnstructio-
nen nach Frankfurt gingen und wie der österreichische Beobachter hier kei¬
nen Schritt der Opposition unerwähnt ließ, so muß ,'es nur wundern,
warum der Herzog nicht früher schon seinen Blick nach Wien wandte,
der einzigen Macht, die selbst auch mit weniger Vorbehalt als Preußen
sich für die deutsche Sache der Herzogthümer ausgesprochen. Man
hat sich leider in Deutschland gewöhnen müssen, Oesterreich wie einen
Menschen zu betrachten, der zwar in seinen vier Pfählen ein ehrlicher
Mann, aber für seine Umgebung kalt, verschlossen, theilnahmlos und egoi¬
stisch dasteht.
Die Anwesenheit eines zweiten „hohen Hauptes" geht hier spurlos
vorüber, jenes des Vladika von Montenegro. Es ist eine Ironie deS
Anfalls, daß er hier die Erlaubniß von Petersburg abwartet, um jene
nordische Kaiserstadt zu besuchen. Sie werden fragen, wozu es nothwen¬
dig ist, erst die Erlaubniß zur Reise einzuholen? Der Vladika ist Pensio¬
nair von Rußland, er bezieht jährlich ein paar tausend Dukaten daher,
und wenn der Diener eine Aufwartung machen will, muß er doch erst
fragen, ob er kommen darf und angenommen wird! Also in Oesterreich,
dem natürlichen Schutzherrn der untern Donaugegenden, wartet dieser
Fürst einer dortigen Provinz die Erlaubniß ab, in die Residenz des Usur¬
pators der Fürstenthümer zu kommen! Als der Vladika vor einigen
Jahren das erste Mal hier war, wurde er mit vieler Auszeichnung empfangen;
hatte dieser Mann damals mehr Bedeutung? Ist der wichtige Schluss
sel, den er in der Hand halt, jetzt unsicher? In der That: Rußland
hat mit goldenem Finger diesen Schlüssel .in sich genommen und da¬
durch eine Festung für sein einstiges Reich an der untern Donau
gewonnen. Montenegros unbezwungene Berge werden in nicht gar
serner Zukunft eine wichtige Rolle in jenen Gegenden spielen, denn
man ist keinen Tag sicher, daß nicht die Nachricht einlauft, Bos¬
nien, Albanien, die Herzegowina sind gegen den Islam aufgestanden;
Montenegro, eingekeilt in diesem Winkel, ist der Schlüssel jener herrli¬
chen Provinzen, und Rußland wird sich diese Gelegenheit, ja kann und
darf sie sich nicht entgehen lassen, ebenso wenig, als sie Oesterreich sich
früher entgehen ließ. Werfen Sie einen Blick auf die Karte, welche weite
Wohnung dann unser Nachbar in unserem Rücken nimmt!
Ein Theil der hiesigen untergeordneten Beamtenwelt hat sich kürzlich
in einer Eingabe an den Hoftammer-Präsidenten gewendet und in Hin¬
sicht auf die fo enorm zunehmende Theuerung um einen sogenannten
„Theuerungsbeitrag" gebeten, weil es Vielen, ja den Meisten nicht mehr
möglich ist, mit Familie von ihrem äußerst geringen Gehalte zu leben.
Sie weisen darauf hin, daß auch der König von Baiern seinen Beamten
für den bevorstehenden Winter einen Theuerungsbeilrag bewilligt, und
hoffen nun sowohl von der Huld des Kaisers, als der Vorsorge des Prä¬
sidenten, eine ähnliche Gnade, oder einfacher gesagt: ein ähnliches Almosen.
Der Präsident Kübel antwortete ihnen aber: er sehe sich leider genöthigt,
ihnen die ihm selbst so dringend scheinende Bitte abzuschlagen, indem die
Finanzen des Staates jetzt unmöglich in der Lage seien, eine so uner¬
wartete und außerordentliche Ausgabe bewilligen zu können. Er hätte noch
wahrer gesprochen, wenn er unsern jetzigen Zustand eine bittere Armuth
genannt hätte. Aber dcrHof, dem, wenn auch nicht diese Eingabe, so doch die
jetzige Theuerung und das jämmerliche Besoldungsverhältniß unserer nie¬
dern Beamten bekannt sein muß, sollte hochherzig als milder Rettungsengel
auftreten. Man vergesse nicht, wie ein solcher Austand den Geist
unserer Beamtenwelt demoralistren muß! Welcher Familienvater soll
sowohl der Versuchung, der Bestechung widerstehen, wenn er bei dieser Zeit
seine leidende Familie damit unterstützen kann? und mit welchem Gefühle
erfüllt dann der Arme seine Pflicht, wenn er sich im Dienste eines Staates
sieht, der seinen Beamten zur Zeit der Noth wenigstens nicht in etwas
die rettende Hand bietet? Man hat die allzu niedern Besoldungen schon
lange als einen Krebsschaden des österreichischen Beamrcnwesens erkannt,
und man muß, um nur ein Beispiel zu geben, nur die Grenzdistricte
bereist haben, um zu sehen, wie der Beamte mit seinem niedern Ge¬
halte sein Gewissen betäubt und selbst die Hand zur Defraudation
bietet. Es gibt vorzüglich beim Eameralwesen Beamte, welche von den
betreffenden Parteien einen jährlichen Gehalt beziehen, der oft größer ist
als jener, welchen der Staat ihnen gibt, und nicht wenige Beamte auch
in andern Dikasterien rechnen die sogenannten „Neujahrsgeschenke" unter
ihre regelmäßigen Einnahmen. Wenn auch die Finanznoth in gegenwär¬
tiger Zeit groß und drückend ist, das Bedürfniß der Armuth ist es nicht
minder, und es ist ein großes, heiliges Recht, worauf der treue Diener von
seinem Herrn Anspruch hat. Zudem wäre streng genommen die Ausgabe
nicht so kolossal, als sie vielleicht im ersten Augenblick erscheint, denn sie
wäre vorzüglich nur in einigen großen Städten und auch da nur auf die
Dauer von ungefähr vier Monaten nothwendig. Hoffen wir von der Milde
unseres Hofes und von der Vorsorge Kübel's, daß in dieser traurigen
Angelegenheit etwas Gutes geschehe.
Sie sehen schon daraus, daß die von mir bereits früher gemeldete
Negociation eines neuen Urlebens in der That eine begründete war, nur
suchte man bisher nach Mitteln, um den häßlichen Ausdruck „Anleihe"
zu umgehen, oder sind sie bereits gefunden? Man will 39 Millionen
Bankscheine auf drei Procent creiren und sie nach und nach auch der¬
art dem Verkehr übergeben, daß sie wie Banknoten cicculiren sollen, da¬
her denn auch die Ziffern der einzelnen Bankscheine von der verschieden¬
sten Höhe sein werden. Zudem werden die 5K Papiere auf 4^ herabge¬
setzt (?), aber Alles dieses wird doch nicht hinreichen, um die Krisis, in wel¬
cher wir uns befinden, zu überstehen und die Ankunft Rothschild's, welche
auf den 29. d. bestimmt ist, wird von der Staatsverwaltung wie von
der Börse mit Sehnsucht erwartet. Letztere, nämlich die Börse, befindet
sich in einem Zustande, wie er seit Jahren nicht vorgekommen, wie er
aber von allen Vorsichtigern und scharfsichtiger« über kurz oder lang in
Aussicht gestellt war. Die Verluste gehen in das Ungeheuere und die
noch immer steigende Verwirrung lähmt den Credit, der niemals hier so
ruinirt war, wie jetzt. Wer auch baares Geld hat, zieht es von der
Börse zurück und wendet es auf den Geer^idehandel, welcher jetzt bei uns
zu einem wahren Kornwucher sich gestaltet hat. Alle Welt kauft jetzt
„Früchte" und alle Welt speculirt auf Steigen; es liegen ungeheuere
Vorräthe in den Magazinen von Privaten aufgespeichert, während die
Theuerung hier auf einen äußerst hohen Grad gestiegen ist und für den
Winter noch n.hr fürchten läßr. Und so wie es hier ist, ist es in den
Provinzen; auch dort speculirt alle Welt auf den Hunger seines lieben
Nächsten, und es ist so weit gekommen, daß selbst Adel und hohe Geist¬
lichkeit so tolerant werden, unter die Kornjuden zu gehen. Und glauben
Sie, daß ein Steigen der Nahrungsmittel nothwendig ist? Gewiß nicht,
denn weder Böhmen, noch ein großer Theil Ungarns haben schlechte Ern¬
ten gehabt, aber der Wucher ist überall hinterdrein und preßt dem Armen
seinen letzten Kreuzer aus. Und dabei fallen auch Geschichtchen vor, die,
wären sie nicht so gar ernst, recht komisch sein könnten. Ein geistlicher
Herr, der . . . von . . ., trieb in der letzten Zeit mit aller Strenge die-
noch ausstehenden Steuern ein, verkaufte, was grade gut wegzugeben war
und ließ dafür von seinen Wirthschaftsbeamten 2999 Metzen Getreide
ankaufen, wobei das Gerücht im Volke ging, daß sie erst später bei hö¬
hern Preisen verkauft zu werden bestimmt sind. Erzherzog Stephan, der
von dieser Geschichte hörte, fuhr eigens nach....., wo der geistliche Herr
höchlich erstaunt und überrascht war, Se. kaiserl. Hoheit ankommen zu
sehen. Der Prinz sagte ihm viel Lobendes über seinen menschenfreund¬
lichen Entschluß eines so bedeutenden Getreideankaufs und schloß mit den
Worten: er werde hoffentlich das Getreide dazu anwenden, es bei ein¬
brechender Noth unentgeltlich an die Armen seiner Diöcese zu vertheilen.
Man kann sich das süßsaure Gesicht des geistlichen Hirten denken, wie der
edle Prinz ihn so liebenswürdig zur Wohlthätigkeit preßte.
Die Nachrichten aus Galizien lauten höchst beunruhigend. Wenn
etwas im Stande ist, uns diesen Winter vor einem neuen Ausbruche,
zu bewahren, so ist es der Mangel an baarem Gelde, der Mangel an
Lebensmitteln, der in Galizien herrscht. Noth und Mißwachs, die nun
bereits seit zwei Jahren dieses unglückliche Land verheeren, sind durch die
verstärkten Militäreinquartierungen nur noch vermehrt worden und werden
es immer mehr, denn so eben haben wieder drei Regimenter Befehl er¬
halten, nach Galizien einzurücken. Die militärische Besetzung des Landes
ist so vollständig als möglich, und man könnte fast sagen, daß jeder
Bauer an einem Soldaten einen Aufseher hat. Denn das Militär wird
>n kleinen Abtheilungen, je nach der Größe der Dörfer, auf dem Lande
einquartiert, und die 'Anzahl ist fo bemessen, daß immer ein Soldat auf
Zwei, höchstens drei Häuser kommt. Kommt es nun dazu, daß der Bauer
mit Zwangsmitteln auf das Feld getrieben werden muß, um es zu be¬
stellen, so macht er seine Arbeit so schlecht und ruinirt lieber den Acker,
als daß er das adelige Gut, das nach seiner Ansicht nur ihm gehört,
ordentlich bebaut. Bei einem Theil der galizischen Bauern sind durch
die letzte Revolution alle Ideen von Rechtsgefühl und Eigenthum er¬
loschen, er verlangt mit lauter Stimme, daß Alles sein Eigenthum
bleibe, was er in der Revolution gestohlen und geraubt, er verlangt für
den Mord seiner Gutsherrschaft jetzt nichts weniger als ihr Besitzthum.
Daß in der Revolution nicht Alles richtig und menschlich zugegangen,
kommt nun immer mehr und mehr am Tage, und jetzt hat man den
bisherigen Kreishauptmann von Bochnia, Reindl, seines Amtes entsetzt.
Es wurde in diesen Blattern einmal die Ansicht ausgesprochen, daß die
Regierung in Galizien nur zwei Wege habe, entweder den Bauer frei zu
machen und für alle Zeiten sich an ihm eine Stütze zu erziehen, oder
das ganze Land, Adel und Bauer mit eiserner Strenge niederzuhalten.
Die Regierung hat bisher noch keines von Beiden gethan, sie hat in
ihrer beliebten Manier einen Mittelweg gesucht und ist damit noch nicht
vorwärts gekommen. Sie hat den Adel noch mehr aufgebracht, weil
sie den Bauer begünstigte, und diesen, weil sie ihm, seiner Meinung
nach, zu wenig that. Und in der That, was die Regierung in Gali¬
zien that, zeigt Alles nur von momentaner Ratlosigkeit. Wer den
galizischen Bauer kennt, weiß, wie tief, wie viehisch dieser Menschenschlag
noch ist, er weiß, wie schwierig es ist, diese verdumpften, von Branntwein,
Aberglaube und Schmuz entmenschten Seelen für irgend etwas Höheres
empfänglich zu machen. Und während nun auf dieser Seite sich die Wi¬
dersetzlichkeit in ihrer empörendsten Gestalt fortnährt, wird sie in den Krei¬
sen der Gebildeten von den gefährlichsten Feinden, die es geben kann —
den Frauen— wach gehalten. Alle Emissäre der Propaganda zusammen
haben nicht den zehnten Theil so viel gewirkt, als die Polinnen, und
wenn die Polen ruhig sein wollten, der glühende Geist der Frauen würde
es nicht zugeben. Es ist dies einer der charakterischcstcn Züge polnischen
Charakters. Die Ernennung des Grafen Stadion hat gar heftigen Wi¬
derspruch in Galizien gefunden und es ist zu fürchten, daß dieser junge,
zwar energische, aber nicht immer bedächtige Staatsmann sich dort immer
mehr und mehr dem Rande eines Kraters nähert. Daß er sich noch
nicht ganz in seine Verhältnisse gefunden, beweisen seine häufigen Reisen
nach Wien, wo er sich einen Theils Rath, theils ausgedehntere Voll¬
macht holte, während man andrerseits nicht übersehen darf, welche Ver¬
dienste er durch Schnelligkeit im Arbeiten und Erledigen sich bereits er¬
worben. Daß aber für Galizien mehr als je zu fürchten ist, beweist die
einfache Thatsache, daß während des Aufstandes das Standrecht in drei
Kreisen publicirt war, jetzt aber — in zwölf Kreisen.
Die Erfindungen jagen sich. Am Mittwoch sind in ^Gegenwart
durchaus glaubwürdiger Personen, von denen mir das folgende interessante
Factum mitgetheilt wurde, Versuche mit einem neuen explodirenden Plä-
parat angestellt worden, welches sowohl die Schießbaumwolle, als auch
das Schießpulver überflügelt. Man soll mit einem Pistol und mäßiger
Ladung eine Kugel durch drei zweizeilige Breter getrieben haben. Die
Masse besteht aus einem röthlichen Pulver, welches der Professor Erd¬
mann, wenn ich nicht irre, Pharmaceut bei der Charit«! oder königlichen
Thierarzneischule, aus dem Steinkohlentheer erzeugt hat. Gleich der
Schießbaumwolle entzündet sich das Präparat urplötzlich, verbrennt mit
einer dem Phosphorlichte ähnlichen Flamme und hinterläßt nicht das ge¬
ringste Residuum. Außerdem sott der Erfinder die Wohlfeilheit des neuen
Products außer Zweifel gestellt und sogar behauptet haben, daß es billi¬
ger als Pulver und Schießbaumwolle herzustellen sein werde. Die Er¬
findungen, Menschen schneller und leichter aufzureiben, mehren sich also;
ach, wer erfindet ein Präparat, Menschen schneller und leichter zu ernäh¬
ren? Ist denn die Chemie nur eine diabolische Wissenschaft, die aus
ihrem Füllhorne nichts als Zerstörung über die unglücklichen Sterblichen
ausstreuen kann und nicht auch einige Fruchtkörner für sie in geheimer
Verwahrung hält. Ihr Weisen und Männer der Wissenschaft, strengt
euren Scharfsinn an und findet einen Stoff, mit dem man leicht und
wohlfeil tausend hungrige Menschen sättigen kann. Das ist der Stein
der Weisen des neunzehnten Jahrhunderts, und es mag dem tiefdenken¬
den Geiste eine erhabene Hoffnung für die Zukunft nach seinem Tode
sein, neben Columbus, Guttenberg und Luther, als neben Phalaris,
Berthold Schwarz und Professor Schönbein genannt zu werden
Die Noth aber mehrt sich. Die öffentliche Sicherheit wird auf eine
Schauder erregende Weise gefährdet. Einbrüche, ja Raubanfalle mit be¬
waffneter Hand, sind keine Seltenheiten mehr, und das öffentliche Ge¬
richtsverfahren dürfte nur zu bald Gelegenheit finden, über einige ecla-
tante Verbrechen, welche ihrer Zeit durch die öffentlichen Blatter bekannt
geworden sind, Recht zu sprechen. Es steht indessen dahin, ob alle diese
Gesetzesübertretungen mit dem Nothstande der armen Klassen zusammen¬
hangen, indem man die Tugend und Reinheit der menschlichen Natur
nicht genug bewundern kann, wenn man bedenkt, wie gering die Zahl
der Eigenthumsverletzungen im Verhältniß zu der Zahl der Darbenden
ist, denn nur freche Diebe, vielfach gestrafte Verbrecher waren es, die in
der letzten Zeit diese kecken Erbrechungen von Zuwelenladen gewagt haben.
Uebrigens geschieht von Seiten der Behörden und der öffentlichen mild-
thätigen Anstalten Mancherlei, um den heranrückenden Feinden, Kalte
und Hunger, zu begegnen. Die Holz- und Suppenvertheilung hat ih¬
ren Anfang bereits genommen und ist man zu gleicher Zeit auf die höchst
zweckmäßige Einrichtung gekommen, durch erwärmte Locale die Verzeh¬
rung der Suppe an Ort und Stelle möglich zu machen. Noch spricht
man, wie ich schon wiederholt gehört habe, von einer Bäckerei, die auf
Staatskosten das Brod zu einem billigern Preise als die städtischen Bä¬
cker verabfolgen wird. In wiefern sich diese Dinge realisiren werden,
müssen wir abwarten, so viel aber steht fest, daß die Controlle der Po¬
lizeibehörden in Betreff des Gewichts der Bäckerwaaren eine geschärfte
geworden ist. Man hat Strafen auf die Unterlassung des AusHängens
der gesetzlichen Brodprcise gesetzt. Möchte man ähnliche Maßregeln doch
auch im Fleisch- und Brennholzverkauf ergreifen.
Am fünfzehnten November wird die Kunstausstellung geschlossen.
Man hat den Plan gefaßt, Horace Vernet und einigen Berliner Künst¬
lern, unter denen ich Ihnen den geistreichen und fleißigen Eybel nennen
kann, silberne, nicht goldene, Medaillen als Erinnerung an die diesmalige
Kunstausstellung, sehr bunten Angedenkens, zu übersenden. Was der
reiche Horace Vernet, der nun schon mit allen möglichen europäischen
und orientalischen Schmeicheleien, Orden und Geschenken überschüttet ist,
zu dieser silbernen Denkmünze sagen wird, möchte ich wohl wissen, um
so mehr, da er sehr böse gewesen sein soll, als er erfahren hat, daß die¬
ses schon zwanzig Jahr alte Bild: das Schlachtfeld von Hastings, zur
Ausstellung gekommen sei. Der Neid unter einer gewissen Klasse der
Berliner Maler ist übrigens so groß, daß man ausgesprengt hat, Eybel
habe sein Bild: der große Kurfürst bei Fehrbellin (beiläufig gesagt, die
beste Berliner Arbeit in dem Akademiclocal) nicht selber gemalt, sondern
durch den Schlachtenmaler Rechlin machen lassen. Daß dieser kleinliche
Klatsch von allen besser denkenden Malern gemißbilligt wird, darf ich
Ihnen wohl nicht erst betheuern.
Der Scandal, mit dem Herrn -Francesconi die hiesige Universität
verunzierte, wird seine Beurtheilung von Seiten der Behörden erhalten,
denen die ganze Angelegenheit vorliegt. Mittlerweile begnügt sich dieser
weise Mann mit den Scenen des ersten Tumults nicht, sondern setzt sie
zur Erbauung der Zuhörer weiter fort. Folgendes ist die wörtlich treue
Copie einer Anrede, die er am 3. November Abends- im HHxsale der
nat. Sprache II. Jahrgangs hielt. Die israelitischen Zuhörer — wenig¬
stens die meisten — sind wegen der Kränkung, die ihnen widerfahren,
an diesem Abende weggeblieben.)
„Meine Herren! Die Bank, auf der neulich bei jenem grenzenlosen
„Scandal jene sechs Verführten saßen, soll leer bleiben fünfzig Jahre, ent¬
leibt, profanirr für ewige Zeiten. Meine Herren! die Studien-Hofcom-
„mission wird uns loben, uns erheben; hätten mich nicht die Behörden
„geschützt, ich stünde nicht mehr auf dieser Kanzel, ich würde nicht mehr
„zu Ihnen sprechen; man hat mich verklagt, aber hier bin ich Studienhof-
„commission, hier bin ich Oberhaupt, Alles. Niemand, das Gubernium
„darfnicht mehr annehmen, ich nehme noch an; aber es könnten ja sechs
„Sträflinge, die dem Strafhause entsprungen sind, — sechs Tieger, sechs
„Wilde herkommen, und ich soll sie aufnehmen? Ich, ich hätte sollen die
„Schurken, die Kerls in Stücke zerreißen lassen, denn ich bin Italiener;
„ich mäßigte mich, ich rettete ihnen das Leben, und das loben die Be¬
hörden. Ich, meine Herren, fürchte mich nicht, Sie sehen ja, ich gehe
„ohne Stock aus, ich bin ein Italiener, ich fürchte mich nicht vor Hundert;
„und wenn sie mich stürzen, dann gehe ich in mein schönes Waterland zu-
„ruck; ich werde mein Brod noch immer finden. stereotypen haben mir
„mein Collegium verdorben, und Jsraeliten sind es! was kann ich dafür -/
„ich habe sie nicht zu Juden gestempelt. Beamte weigern sich, mein Col¬
legium zu besuchen, aus Furcht, neben den stereotypen des Samstags
„zu sitzen zu kommen. Aber nein, nein, nicht durch Verfolgung dieser
„Kerls will um meine Katheder ich kommen. Professor Müller ist gestor¬
ben: sein Blut über ihr Gewissen. Er trug vor in der Physik, ich in
„der Logik. Da kamen wir eine Viertelstunde zusammen im hintern Zimmer
„beim Schmiedr; da sagte er: „Ich muß sterben, meine Schüler, meine
„Landsleute bringen mich um." Herr Professor, rief ich, Sie werden ja
„verehrt! „Ja, aber Zwei schreiben in ausländischen A e itschrif-
„ren! O Licht außer dem Lichte der Schöpfung!" Ich weiß, sie wer-
„den es nach Leipzig und Hamburg schreiben, aber ich werde eine Ant-
„wort geben, wie sich's gehört. Ein Complott haben sie gegen mich
„gesponnen, zum Bettler wollen sie mich machen, Geld hat es mich ge¬
kostet. Arme sechs Verirrte, arme Spfer eines verruchten ComplottS,
„blinde Werkzeuge! Was ist der Unterschied zwischen diesen Narren und
„denen aus dem Tollhause. Ihr Protokoll ist lächerlich, sie verklagen mich
„und ich, ich habe ihnen dis Leben gerettet, den» sie waren erdrückt
„worden. Verboten ist den Sechs worden, das Collegium zu besuchen."
Wie finden Sie dieses Muster von Kathederbereotsamkeit? Wie fin¬
den Sie diese Roheiten in dem Munde eines Iugendlehrers? Man
kann die Leidenschaft, die im ersten Augenblicke zu Excessen greift, viel¬
leicht entschuldigen; — wo aber Kopflosigkeit und Wuth eine chronische
Krankheit ist— da ist Abhülfe nöthig! Wie ich in meinem ersten Briefe
meldete, hat Herr Professor Francesconi, um die israelitischen Hörer auf
andere Bänke, als die christlichen, verweisen zu können, sich auf ein altes
Gubernialdcccet vom 23. Nov. 182» (an das seit vielen Jahren Niemand
gedacht) berufen. In diesem Dccrer heißt es nämlich: „Schüler, welche
sich der Prüfung nicht unterziehen und dadurch andere Ausgezeichnete
verhindern, sind nicht zu berücksichtigen." Ferner heißt es: „Beamte und
höhere Akademiker haben den Vorzug vor den niedern und Nicht-Akade-
Mikern." Bei den Vorlesungen über italienische Sprache und Literatur
sind nun in der Regel sehr viele Nichtakademiker, junge Leute, die sich
dem Kaufmannsstande widmen, zugegen, da bei unserer staatlichen Ver¬
bindung mit dem lombardisch - venetianischen Königreiche die italienische
Sprache und Eorrespondenz wichtige Bestandtheile des kaufmännischen
Wissens sind. Die Juden, durch die Zustände unserer Legislation hauptsäch¬
lich auf den Handel angewiesen, sind darum unter den Hörern der nat.
Sprache zahlreich vertreten, aber die christliche Kaufmannschaft gewiß nicht
in minderer Zahl. Diese Nichtakademiker haben dem Wortlaute jenes
längst vergessenen Decrets nach allerdings den Akademikern und Beamten
nachzustehen, aber wer will in einer Versammlung von so vielen hundert
Köpfen, von denen die meisten dem Professor unbekannt sind, die Nicht¬
akademiker von den Akademikern unterscheiden? Dem Vorgänger deö Hrn.
Francesconi, dem allgemein beliebten Professor Spirk, ist es nie in den
Sinn gekommen, diese Unterscheidung zu machen, obgleich seine Vor¬
lesungen den Saal so füllten, daß die Zuhörer oft bis zur geöffneten Thüre
standen. Aber der Weisheit des Herrn Francesconi war es vorbehalten,
die große Frage zu lösen. Da die meisten Juden Kaufleute sind, so
machte er kurzen Proceß und verwies Alle in die Hinterbänke. Aber wer
ist Jude? wer nicht? Wehe dem, der schwarzes Haar und eine gebogene
Nase hatte! Heil dem Glücklichen, der stumpfnästg ist und semmelfarbige
Locken hat! Jenes Gubernialdecret lautete nach der Auslegung des Hrn.
Francesconi: Alle Gesichter, die eines Zusammenhangs mit den fünf Büchern
Moses verdächtig sind, werden verurtheilt, auf einem abgesonderten Platz zu
sitzen. Die Thatsache ist, daß durch die geniale Erfindung des weisen Herrn
Francesconi, vollberechtigte (jüdische) Akademiker grade jene Zurücksetzung
erhielten, vor welcher sie das Gubernialdecret schützen wollte, während
Nichtakademiker, wenn sie nicht das Judenthum im Gesichte trugen,
unter den Privilegirten sitzen durften — abgesehen davon, daß es aber¬
witzig ist, eine Classeneintheilung nach Gesichtern und Nasen einzuführen.
Gegen diese Barbarei und Ungesetzlichkeit haben nun jene fünf Hörer der
Logik (der sechste war allerdings ein Nichtakademiker) als sie der Pro¬
fessor in die hintern Bänke wies, protestirt, und sie konnten dies mit
vollem Rechte, denn das Gesetz ist für sie. Wer Billigkeits- und Ehr¬
gefühl besitzt, wird das Benehmen der jungen Leute sicherlich nicht tadeln.
Man schiebt den Juden ja so gerne Feigheit und Kriecherei zu, und
hier sollen fünf Jünglinge, denen ein schreiendes Unrecht geschieht und
die in Gegenwart von einigen hundert Menschen beschämt werden, sich
fortschleichen, ohne zu mucksen. Denn, als sie ihr Recht in Anspruch meh»
men, geräth der Professor durch den bloßen Widerspruch in eine Berser¬
kerwuth , als wäre ein Student ein gemeiner Soldat, der es wagt, ge¬
gen seinen General sich zu widersetzen. Herr Francesconi rühmt sich,
daß er die sechs jungen Leute nicht hat in Stücke reißen lassen und
doch hat er noch edlere Proben von Enthaltsamkeit gegeben: er hat nicht
ein Mal die Bank hereinholen und ihnen 25 Stockprügel aufhauen las¬
sen, wie es einem subordinationswidrigen Soldaten geschieht.
Den erwähnten sechs jungen Leuten ist übrigens der Besuch der Vor¬
lesungen von der Behörde untersagt worden. Bei der nächsten Vorlesung
theilte Herr Francesconi Zettel aus, auf welchen das erwähnte Gubernial-
decret von 1825 abgedruckt war; die oben citirten Stellen waren groß
gedruckt. Der ehrwürdige Studien - Director, der Herr Prälat Zeidler,
wohnte der Vorlesung am 31. October persönlich bei und setzte sich, um
durch seine Gegenwart jeden Tumult niederzuhalten, in eine der Bänke,
in welchen ein israelitischer Zuhörer saß. Diese Ruhe scheint aber dem
nach Spectakel lechzender Hrn. Francesconi nicht zu erquicken. Denn in
der nächsten Vorlesung hielt er vor den Hörern des ersten Jahrgangs
eine noch süßere Rede, von der ich den Eingang citiren will.
„Meine Herren! Heut ist die Luft rein, das erste Mal seit fünf
„Jahren rein; Triumph, Triumph! seit fünf Jahren das erste Mal, daß
„die stereotypen Gesichter fehlen, die, um der Kälte zu entgehen, herein¬
kommen und sich in die mittlern Bänke setzen. Wer ist Unterdrücker?
„wer Unterdrückter? Der Prälat war Samstag hier; noch war es hier
„nicht rein, der Jsrondato saß neben ihm. Meine Herren! Ich habe
„viel Geld dafür ausgegeben (für den Abdruck des Gubernial-Dekretes)
„und ich werde das großgedruckte (die großgedruckten Stellen deS
Gubernial-Decrets) „orientalisch, hebräisch sagen. Diese Stelle will ich
„commentiren, wie der heilige Thomas nicht commentirt wurde. Diese
„Lumpen, diese perfiden Kerls drohen mir mit der Veröffentlichung. Drei
„Briefe habe ich erhalten. O, o! meine Herren! Lxori^rv »An>ni8 nostris
„ox ossilms »Itor, ruft Prof. Müller aus dem Grabe mir zu. Noch-
„mals, ja aus unsern Gebeinen wird aufstehen ein Rächer! Man wird
„eS erfahren, es wird ans Tageslicht kommen, ja veröffentlicht soll eS
„werden, wer ein Schuft, wer ein Lump und wer ordentlich ist. O, die-
„ser jüdische Schurke, der mir droht, mich zu veröffentlichen" u. s. w.
Ist dies genug? — — Was würden wohl die Studierenden an
irgend einer deutschen Universität dazu sagen, wenn man vom Katheder
herab fünf ihrer College» — und wären es Türken — per „Kerls/V
„Schufte," „Lumpen" -c. tractiren möchte! Ist Oesterreich deutsch?
Oftmals wurde auf den großen Vortheil hingewiesen, der dem fran¬
zösischen Theaterdichter daraus erwächst, daß ein Stück, wenn es die
Feuerprobe eines Pariser Theaterabends bestand, ein Schicksal für ganz
Frankreich gesichert hat. Der Pariser Dramatiker legt seinen Dichtungs¬
proceß sogleich der allerhöchsten Znstanz vor und hat diese entschieden, so
geht das Urtheil der kleinern Instanzen ohne Einfluß vorüber. Der
scharfsinnigste Kritiker in Lyon, Marseille, Bordeaux und Straßburg kann
dem Stücke keinen Schaden mehr zufügen und der mißlungenste Erfolg
in zehn Provinzialstädten wiegt den einen Succeß in Paris nicht auf.
Wie schlimm dagegen ist der deutsche Dramatiker daran. Das ist ein
wahres Spießruthenlaufen über die sämmtlichen Bühnen der neunund¬
dreißig deutschen Vaterländer. Jede Stadt hat ihr souveraines Urtheil,
und was in Wien ein Lorbeer war, kann sich in Berlin in eine Dor¬
nenkrone umwandeln, die Triumphpforte, die Stuttgart aufgebaut hat,
kann Leipzig wieder ganz umstürzen. Die Majorität der Städte entschei¬
det hier; allein — von welchen tausend Zufallen hangt diese Majorität
ab! Zehn Bühnen fehlt der Darsteller für diese oder jene Rolle und von
allen zehn tönen Trauerbotschaften und vernichten so den guten Ruf, den
die Dichtung an andern Orten, wo ihr Recht ihr geworden, errungen hat.
Daher dieses ewige Kreuz- und Querseuer von hundert Widersprüchen
und Urtheilen, deren Pulverdampf das wahre Schicksal eines neuen Stücks
in den ersten Monaten gar nicht erkennen lassen und Feinden und Freun¬
den und Cliquenwesen und Particularinteressen den weitesten Spielraum
lassen zu übertriebenen Lobe wie zu übertriebenen Tadel. Es wäre kein
geringes Verdienst unserer jüngern Theaterdichter, die großentheils die
journalistische Schule durchgemacht haben und die praktischen Publicitäts-
und Erfolgsfragen besser und näher kennen, als die Bühnenfchriftstellcr
früherer Zeit, wenn sie die Mittel fanden, um diesem nicht unwesentli¬
chen Nachtheil deutscher Dramenschicksale abzuhelfen.
Heinrich Laube scheint bei der Versendung seines neuesten Dramas
diesen Umstand im Auge gehabt zu haben. Er hat den Versuch gemacht,
sein Stück an einem und demselben Abende an mehrern Bühnen zugleich
aufführen zu lassen, wobei ihm der Umstand zu Gute kam, daß Schiller
der Held des Stücks ist und der Geburtstag desselben ein plausibler Grund
wurde, um die Aufführung gleichzeitig an verschiedenen Punkten für den
II. November festzusetzen. So liegen uns denn bereits Berichte von
zwei Hauptbühnen (Dresden und München) und mehrern kleinern vor,
die über das Schicksal der „Karlsschüler" ein entschiedenes Urtheil erlau¬
ben. Ein Erfolg, der an den entgegengesetzten Ecken Deutschlands gleich¬
mäßig sich herausstellt, wird zu einer Thatsache, die sich nicht umstürzen
und ableugnen läßt, und glücklicherweise siel diese neue Procedur so ent¬
schieden zu Gunsten des Autors aus, daß das Beispiel wahrscheinlich bald
Nachfolger finden wird. Referent hat der Aufführung in Dresden bei¬
gewohnt, wo das Stück in fünf Tagen drei Vorstellungen bei überfüllten,
Hause erlebte und die Beifallsbezeugungen stets den gleichen Wärmegrad
hatten. Ein Theil dieses ungewöhnlichen Erfolges ist dem Stosse oder
vielmehr der Hauptperson des Stückes zuzuschreiben. Die populärste
Gestalt der deutschen Literatur, der Lieblingsdichter der Nation, für den
alle Jünglingsherzen feurig klopften, in dessen Dichtungen Männer und
Greise die heiligsten Schwärmereien ihrer Jugend wieder auftrauchcn sehen,
Friedrich Schiller in seiner eignen Persönlichkeit, in seinen eignen Lebens¬
kämpfen auf der Bühne zu finden, hat einen so gewaltigen Reiz, daß
wohl Niemand ausbleibt, der je für die Glocke, für die Bürgschaft, für
Posa, Moor und Wallenstein geschwärmt hat. Und diesen Liebling aller
deutschen Herzen aus dem Kampf gegen eine tyrannische Macht, aus
Lebensgefahr und von der drohenden Vernichtung seiner ganzen Zukunft
gerettet zu sehen, ist an und für sich ein so dankbarer Scoss, daß er
selbst mit weniger Tüchtigkeit der dramatischen Behandlung der Sympa¬
thien des Theaterpublicums gewiß sein könnte. Laube hat hier den glück¬
lichsten Griff unter allen seinen dramatischen Arbeiten gethan, und das
Bewußtsein, daß er auf einem sichern Boden steht, hat ihn bei der Aus¬
arbeitung mehr Schwung, mehr Freiheit und mehr Natürlichkeit gegeben
Die „Karlsschüler" sind ein höchst erfreulicher Wendepunkt in der Entwick¬
lung dieses Bühnendichters. Die Laube'schen Dramen hatten bisher den gemein¬
samen Fehler, daß sie an Ueberkünstelung litten. In allen diesen Stücken
wird der unparteiische und leidenschaftlose Beobachter ein reiches und
tüchtiges Büynentalent anerkennen; aber er wird zugleich die Bemerkung
machen, daß der Dichter zu sich selbst kein rechtes Vertrauen hat und
statt sich in sich selbst zu versenken und von innen heraus zu schassen,
nach äußerlichen Hülfsmitteln greift und durch raschen Scenenwechsel,
durch coupirte Dialoge, durch vielfach verschlungene Knoten und Auf¬
lösungen dem Interesse zu Hülfe kommen zu müssen glaubt, Wer die
innere Mechanik eines Stückes praktisch kennt, wird bemerken, daß Laube
zu allen diesen Hülfsmitteln durch einen einzigen Dämon getrieben wird,
durch die Furcht: langweilig zu werden. Deswegen gönnt er sich nicht
Zeit, seine Charaktere tiefer zu motiviren, die Situationen innerlich vor¬
zubereiten und die poetischen Momente, die sich ergeben, fest zu halten.
Jener Dämon jagt ihn hastig von Scene zu Scene.^ Das breite Pathos
der Schiller'schen Nachahmer, das zähe und langsame Getrippel der bür¬
gerlichen Jammer- und Nothstücke Jffland'scher Schule schweben ihm
drohend vor, und darum stürzt er sich oft in Extreme. Sein schlestschcs
Naturell ist erregt, productiv und poetisch genug, um ihm stets neue
Stoffe zuzuführen, in welchen meist ein frisch pulstrendes Lebenselement liegt;
aber die schlesische Leichtblütigkeit nimmt ihm andererseits die Ruhe und
den Nachdruck, um die poetischen Elemente seiner Stosse vollständig her¬
auszumeißeln und er hilft sich mit theatralischer Drappirung und componirter
Effecten. Offenbar hat ihn der große Succeß, den die Scribe'schen Stücke
auf der deutsche» Bühne finden, auf diesen Weg geführt; das Piquante
der Situationen, das Interessante der Scenerie wurden ihm zur Haupt¬
aufgabe, während die psychologische Wahrheit, die kernige Seelenhaftig-
keit nur in zerstreuten Lichtpunkten den deutschen Dichivr verrathen.
Vom Standpunkt der heutigen Bühnenzustände und der herrschenden
Geschmacksrichtung ist Monaldccchi, Struensee, Gottsched und Gellert
hoch anzuerkennen, und nur Leidenschaftlichkeit und Partheihaß können
diesen ein reiches Verdienst absprechen. Wir würden begreifen, daß eine
Bühne, von der Scribe und die ganze französische Dichtung ausgeschlos¬
sen ist, sich gegen die Anerkennung dieser Dramen sträubt. Aber in ei¬
ner Epoche, in welcher Scribe und seine DichtungS^cnossen die Haupt¬
matadore deutscher Theaterabende sind, ist die Prüderie und die plötzliche
Ascetik, gegenüber einem deutschen Autor derselben Schule ein schreiende
Ungerechtigkeit. Auf diese Weise geben wir den Franzosen ein Privile¬
gium in unsrer eigenen Mitte — sie allein behalten das Recht, in dieser
Form vor uns >zu treten. Das einheimische Talent, daß dieselbe Berech-
gung für sich in Anspruch nimmt und mit gleicher Gewandtheit und mit
gleichem Geist in die Arena tritt, wird mit Härte und mit der entzügeltsten
NachsiVhtslosigkeit verfolgt. Dem Fremden' gegenüber stimmt man die
Anforderungen bis auf das Minimum herab, welches sogar die letzten Dra¬
matiker der pariser Vorstädte hofbühnenfähig macht. Dem deutschen Au¬
tor gegenüber aber spannt man die Anforderungen fo hoch, daß sie kaum
das höchste Genie zu befriedigen im Stande waren. Zopf und Schwert,
das Urbild des Tartüffe, Monaldecchi, Struensee u. s. w. stehen nicht
nur keinem Scribe'schen Stücke nach, sondern sie haben obendrein den
höhern Werth für uns, daß sie bei aller französischen Form doch von
deutscher Gedankenwelt durchzogen sind und theilweise deutsche Charactere
popularisiren. Was kümmert uns der l)no et» liioiitiliou und andere
französische Liebescelebritäten, von denen unsre deutsche Bühne wimmelt?
Ist es ein geringes Verdienst, wenn die jüngern Dramatiker bei gleichem
Talent und obendrein auch noch mit mehr poetischem Hauch unsere
Bühne mit der historischen Skizzirung deutscher Charaktere bevölkern?
Volle lebenswarme Charakteristiken waren allerdings wünschenswerther,
als äußere geistreiche Umrisse; da aber die Bühne die Skizze einmal
adoptirt hat, warum will man grade, daß der Deutsche sich ihrer begebe ?
Warum die ganze Berserkerwuth der Kritik gegen ihn allein? Die
deutschen Schulmeister verlangen von jedem neuen Stücke, daß die Welt¬
geschichte damit von Neuem begonnen werde; sie haben lange Recepte
vor sich, nach denen sie die Mixtur bereitet haben wollen; aber jedes
Recept lautet anders. Die Briten, die Spanier, die Franzosen halten
aber kein Recept und darum fanden sie ihre Dramatiker. Das Theater
entwickelt sich aus dem Volk und aus seinen Stimmungen, nicht aber
aus den Vorschriften kritischer Adepten. Wenn die Franzosen sich nach
der ästhetischen Kritik gerichtet hatten, so stünden sie heute noch tui
Boileau und den drei Einheiten; aber weil sie die Pedanten heisern lie¬
ßen, fanden sie ihre moderne Bühne.
Was wir über Uriel Accosta gehört und was wir von den „Karls¬
schülern" gesehen haben, überzeugte uns, daß unsere beiden fruchtbarsten
jüngern Dramatiker in sich selbst noch einer edlen Entwickelung entgegen
gehen. Die Karlsschüler sind ein großer Fortschritt Laubes. In den drei
ersten Acten ist er noch ganz der Alte. Pikanter Situationswcchsel, ein-
und abspringende Reden, geistreiche Schlagworte, etwas forcirte Komik
und die meisten Effecte äußerlicher Natur. Aber der vierte Act wachst
plötzlich zu einer großen und herrlichen Dichtung auf, voll deutscher Seele,
voll tiefster Innerlichkeit. Die Charactere sind prägnant und gestählt,
die Empfindungen sind tief und voller Schwung. Es ist der Moment,
wo der Herzog Karl die Räuber gelesen hat und voller Ahnung der Zeit,
die mit dieser Dichtung heranwachst, voll Bewußtseins des revolutionä¬
ren Geistes, der in Deutschland herannahet, den Untergang Schillers
beschließt. Die Unterredung mit seiner Frau, die mit aller Macht den
Dichter, ihren Liebling, vertheidigt, die Unterredung mit Schiller selbst,
den er noch ein Mal von der Bahn, die er gewalt, abzubringen suchr,
indem er ihm sogar den geliebten Besitz „Lauras" (die natürliche Tochter des
Herzogs) in Aussicht stellt, die Standhaftiqkeit des bedrohten Dichters,
seine Entsagung und Hingebung, alles dies ist mit großen poetischen
und meisterhaften Augen hingestellt. Der vierte Act der Karlsschüler ge¬
hört zu den besten, was wir im deutschen Drama besitzen. Folgt Laube
dem Genius, der ihn bei dieser Schöpfung beseelte, so wartet noch eine
reiche Zukunft seiner. Dieser vierte Act muß ihm Zutrauen zu seiner
innern Welt geben, er muß ihm den Beweis liefern, wie viel lohnender
der Erguß einer edlen Einfachheit, als die geistreichste und mühevollste Sce-
nencomposition ist. Es fehlt den drei ersten 'Acten (der fünfte ist blos we¬
gen der äußern Oekonomie vom vierten getrennt) an trefflichen Scenen
nicht; die Scene namentlich, wo der Herzog die Karlsschüler bei ihren
nächtlichen Versammlungen überrascht und Schiller die <S2chubart'sah?
„Fürstengruft" lesen muß, ist voll ergreifender Wirkung. Dennoch hät¬
ten wir an diefen Acten viel auszusetzen; das Verhältniß der Frauen im
Schlosse ist offenbar zu patriarchalisch und bürgerlich, namentlich einem so
harten Character wie dem Herzog gegenüber. Die Generalin genießt ein
Privilegium des Freimuths, das unmotivirt ist, eben so ist Lauras Kin-
desverhaltniß zu dem „OnkelDurchlaucht" wohl Manchem räthselhaft, weil
der Dichter sich gescheut hat, es bestimmt anzugeben und die Andeutun¬
gen nicht ausreichen. Eben so ist auch die kleine Piquanterie, daß die
(Gräfin) Gattin des Herzogs Anfangs den „Triumph der Liebe" von
Schiller an sich gerichtet glaubt, nicht nur zwecklos, sondern sogar beein¬
trächtigend für die Charakteristik. Nichtsdestoweniger wußte Laube alle
diese kleinen Fehlgriffe mit Grazie zu verdecken und der vierte Act strömt
dann wie eine schöne Morgensonne über alle diese kleinen Nebel hinweg,
um sie zu vergolden. Einen großen Forcschritt zeigt dieses Stück auch
in Bezug auf den Dialog. Die früheren Dramen Laubes sündigen oft
durch ihre zu stark aufgetragenen Zeitbeziehungen — namentlich Gott¬
sched und Gellert. Die Karlsschüler, obgleich durch und durch politisches
Drama, welches fast in jedem Acte unserer Zeit einen vollen Spiegel
vorhält, erscheint dagegen so entfernt von allen absichtlichen Schlagworten, es
ist alles so organisch und natürlich aus der Situation herausgearbei¬
tet, daß man nirgends den Pferdefuß der Tendenz hinter dem Mantel
hervorgucken sehen kann. Und doch ist das Drama durch und durch
Tendenzstück, und doch ist dieser Schiller, der wegen einer Dichtung ver¬
folgt wird, auf welche die Nation stolz ist, ein lebendes Bild unserer
Zeit, und doch ist dieser Herzog mit seiner ästhetischen Bildung, mit sei¬
nen tyrannischen Erziehungsplänen und seinem historischen Recht ein ganz
modernes, wohlbekanntes Procotyp, und doch ist dieser pietistische General
Rieger und dieser junkerhafte Hauptmann Silberstein in den Straßen
unserer Hauptstädte leicht zu finden. Die Dresdner sagten von mehrern
Stellen der Karlsschülcr, es sei „starker Taback." Nun denn, schnupft,
rief't und — helf Gott!
Gespiele wird dieses Stück in Dresden mit großer Präcision, ob¬
gleich es an andern Bühnen, wo der erste Liebhaber weniger naiv und
selbstbewußt ist, wahrscheinlich noch besser gespielt werden kann. Die
weiblichen Rollen sind vortrefflich besetzt. Wir haben Fräulein Bayer nach
Jahren ein Mal wiedergesehen und waren erstaunt über die treffliche Ent¬
wickelung dieses großen Talents. Auch Fräulein Berg und Lebrun wa¬
ren voll Einfachheit und Wahrheit. Die Herren hingegen durchweg mit¬
telmäßig; Herr Emil Devricnr gradezu unausstehlich. Dieser Schauspie¬
ler scheint drei bis vier numerirte Schubladen für alle Rollen zu haben,
das ist der Posa-Schubladen, der Richard Wanderer-Schubladen, der
Polimbroke-Schubladen und der: Sie ist wahnsinnig-Schubladen; was
dazwischen liegt, wird nicht anerkannt^ Frühstück, Mittagmal, Vesperbrod
oder Nachtmal, phlegmatisch, cholerisch, sanguinisch, melancholisch — eins
von den Vieren steckt in dem Thiere, denkt Herr Emil Devrient. Ach
und weh dem Thiere, in dem eine fünfte Nuance steckt: rein dich oder
ich frefi dich. Der Schiller des Herrn Emil Devrient war ungereimt.
Alljährlich wandern viele Deutsche nach Italien, um ihre schönen
Träume unter dem lachenden Himmel des Südens zu verwirklichen. In
den Abenden des Winters sitzen sie daheim und beginnen ihre Studien,
um die Reise, ausgerüstet mit Allem, was Natur, Kunst und Alterthum
in reicher Fülle dem Fremden dort bieten, durchdringend und kundig zu
genießen. Wer greift da nicht nach den Werken Waiblingers, dem jun¬
gen hoffnungsvollen Dichter, dessen stürmischer Geist nicht Rast noch
Ruhe fand in dem Brausen des tobenden Lebens, der geworfen wurde,
wie die Welle des Meeres, bis er zerbrach und zerstieb an den felsigen
Gestaden des Schicksals?
Wie erwärmend und beglückend sind seine glühenden Beschreibungen
Italiens. Jener wunderbare Aether, der über Feld und See und an den
Bergen dieses Landes liegt, hat uns Waiblinger mit einer echten Mei¬
sterhand hingezaubert. In seinen Schriften finden wir den wirkli¬
chen Himmel Italiens erschlossen und wärmen uns in unserm nordischen
Winter an der Sprache seines feurigen Herzens.
So werden auch viele Reisende sein Grab suchen, wenn sie nach
Rom kommen, um hier ihm still zu danken für den Genuß, den er ih¬
nen jenseits der Berge bereitet hat. Auch ich wanderte, eingedenk der
Beschreibung seiner stillen Gruft, hinaus an die Porta ti Se. Paolo
entlang zur Pyramide des Cestius, um hier an drei Gräbern zurückden¬
kend zu verweilen. Drei Gräber dreier junger Dichter, alle drei vielfach
im Leben verkannt, alle drei fern von ihrer Heimat begraben, alle drei
untergegangen im Wellenschlage des kämpfenden Geistes. Und die drei
Gräber waren die der englischen Dichter: Shelley — Keats — und unseres
Waiblinger. An der Stadtmauer, vor der alten Pyramide, liegen zwei Kirch¬
höfe, in Rom verstorbene Künstler fremder Nationen, fanden hier ihre
Stätte, wo die glühende Sonne sie im kühlen Grabe noch wärmt.
Keats schlaft auf dem alten Friedhof, auf feinem Grabe eine Leier
mit der bezeichnenden Inschrift:"
„it^rv lips »no, xvliuss n.»in<- >v:>,8 volle i» wuter.
Auf dem neuen Friedhofe glänzen stattliche Monumente vieler reicher
Lords und Gentlemen. Oftmals herantretend, glaubte ich die Gesuchten
zu erspähn — vergebens — da ging ich trauernd an der dunklen Mauer
entlang — vereinsamt liegen nur Wenige in dem kühlen Schatten. Da
fand ich Shelley. Ein dunkelgrauer Sandstein,, der sein Grab deckt,
spricht von ihm, und drei wunderbare Zeilen darauf berühren uns ma¬
gisch und rufen dem Bekundeten das Leben, das Schicksal und die poe¬
tisch-metaphysische Tendenz seines Wirkens zurück. Die Worte, die dun¬
kel auf dem Steine stehen, lauten:
'
„NotliiliA ut lVim tritt ballt iÄtlo,
„Kul <1c>du 8»l?or !l SL.'l-nimm^l;,
„treu Lvmotlun^' l'lau in>«I stiungx!.^
Doch war ich immer nicht zufrieden, fehlte mir doch noch Waiblin¬
ger. Sein Grab, so sagte mir ja die Vorrede zu seinen Werken, ist nicht
von seinen deutschen Brüdern vergessen worden, deutsche Künstler in Rom
setzten ihm kein Denkmal. Ich suchte — da zeigte man mir einen verfallenen
Grabhügel — nicht fern von der Stelle, wo der Sohn unseres Göthe ruht —
kein Epheu, keinen Kranz, keine Blume, kein Zeichen einer dankbaren Liebe
fand ich, nur das verbrannte Gras wucherte auf dem oahingesunkenen
Hügel. Trauernd dachte ich an Deutschland zurück, wie es seine Söhne
und Brüder nicht achtend vergißt; wo andere Völker, selbst in weiter
Ferne, ihren Talenten Dank und Liebe zollen und sich felbst dadurch eh¬
ren, läßt Deutschland seine Liebe für seine Brüder erkalten.
Nur noch eins will ich sagen, es sind viele deutsche Bildhauer in
Rom, und Waiblinger hat ja auch so manchen Freund in Deutschland
— auf! laßt die Grenzboten zu unserm Boten und Sammler wer¬
den, um unserm Dichter ein Denkmal zu setzen, sei es auch noch so ein¬
fach, und schreiben wir dann darauf: „Von feinen deutschen Brüdern."
Blondlockig, blauäugig — ein ziemlich sicherer Grieche und ge¬
wiß ein vortrefflicher Lateiner — so trar er, Adalbert, noch nicht acht¬
zehn Jahre alt, aller Erwartung voll, die erste Reise nach der Univer-«
sitae an. Wir lassen ihn selbst erzählen:
Der Vater und die Mutter hatten mir das Geleite bis Dresden
gegeben. Dentschland wußte noch nichts von Dampfwagen und Ei¬
senbahnen, die fünf Jahre später die Wanderpoesie zu vernichten be¬
gannen, und zwischen Dresden und Leipzig lagen zwei Tagereisen,
wenn man nicht grade mit der Eilpost fuhr, deren rasche Bewegung
nach der Meinung meiner Mutter der Brust schadete, wie sie nach der
Ansicht meines Vaters nicht geeignet war, einen Kasten mit Betten,
einen zweiten Kasten mit Büchern, einen dritten Kasten mit Wäsche
und Kleidern und endlich — nebst Mantel, Hutschachtel, Regenschirm
und Fußsack — den jungen Studenten selbst auf eine billige Weise in
die Universitätsstadt zu bestellen.
Aber es gab Lohnkutscher, die den unbestrittenen Vorzug hatten,
daß ihren Abgang zu versäumen ganz unmöglich war, weil sie einen
Jeden ihrer Passagiere an Versäumniß weit übertrafen und auf den
Achsen ihrer schwerfälligen Fuhrwerke hatten noch viel verwickeltere Exi¬
stenzen Raum, als die eines angehenden Studenten. Der Wagen, der
mir hinlängliche Besinnung lassen sollte, mich auf den Eintritt in die
akademische Laufbahn, ja selbst auf den Aufbruch dazu vorzubereiten,
stand in der großen Brüdergasfe. Die Abfahrt war früh sechs Uhr
angesagt. Eine halbe Stunde vorher flössen die ersten Thränen mei¬
ner Mutter, aber als wir auf dem Platze anlangten, wo ich mich von
ihrem Halse reißen sollte, war nur erst das Halts des Lohnkutschers
sichtbar und auch dies nur darum, weil es bereits gestern schon auf
dem Platze gewesen; von einem > Wagen hingegen und von Pferden
durchaus nichts zu erkennen. Eine Stunde später traf jedoch das erste
Gepäck zu dem meinigen ein, um acht Uhr eine zweite Person, die
sich einen Stuhl auf die Straße heraus und ein Buch aus der Ta¬
sche holte, um sich die unberechenbare Zeit bis zum Aufbruche durch
Lesen zu vertreiben, und um neun erklärte der Lohnkutscher, daß es
fortgehen solle, sowie ein gewisser Reisender angelangt sei, der aus
Töplitz erwartet werde. Er komme von dorther gleichfalls mit dem
Lohnkutscher, weshalb seine Ankunft zwar nicht auf die Minute zu be¬
stimmen, aber doch mit Wahrscheinlichkeit im Zeitraume des Vormit¬
tags vorauszusetzen sei.
Dieser glückliche Aufschub gab nach und „ach allen Dresdner
Freunden meiner Familie Gelegenheit, sich nochmals um mich zu ver¬
sammeln. Ein wohlbeleibtes Mitglied des Finanzministeriums schlug
vor, die traurige Stunde der Trennung in einer nahen Handlung mit
italienischen Waaren zu erharren. Einige Gläser alten Weines über¬
wältigten meinen jungen Kummer. Sogar der Schmerz meiner Mut¬
ter zerstreute sich etwas, als sie zufällig hörte, daß andere Studenten
mit ihrer ganzen Einrichtung für zwei Thaler nach Leipzig befördert
würden, während sie für meine Fahrt einen Ducaten zugestanden hatte.
So ist ein kleiner Aerger oft ein heilsames Mittel wider ein großes
Bangen. Gegen elf Uhr trat zu unserer maßlosen Überraschung ein
Bote des Lohnkutschers in das Gewölbe, um zu melden, daß die Pferde
vor den Wagen gelegt seien.
Das Gewicht des Augenblicks ließ der tiefbewegten Gesellschaft
nicht den unbefangenen Muth, das schreiende Mißverhältniß wahrzu¬
nehmen, welches zwischen den drei Pserdekräften und dem Umfange
des unglaublich hoch bepackten Wagens bestand, den jene drei Pferde¬
kräfte - das dritte Thier auf der Wildbahn gehend — in Bewegung
setzen sollten. Nur die Gäule selbst — wunderbar fest ist mir ihr Bild
im Gedächtnisse sitzen geblieben — schienen ihre Aufgabe keineswegs
zu unterschätzen. Das erste Roß, wenn ein mit brauner, mit hier
und da etwas beschabter Haut überspanntes Pferdegerippe jenen rit¬
terlichen Namen zu tragen berechtigt war, senkte den Kopf so tiefsin¬
nig gegen den Fußboden, als studire eS Geognostik aus der Beschaf¬
fenheit des Dresdner Straßenpflasters, oder als wünsche es viel lieber
ebenso tief unter den gewürfelten Steinen zu ruhen, als es jetzt dar-
über hinweg zu stolpern hatte. Das Geschirr schlotterte haltlos um
feilte dürren Schultern und war nebst der Andeutung eines vormals
geführten Schweifes das Einzige an dem Thiere, welches einige Be¬
weglichkeit verrieth. Das zweite Pferd blickte melancholisch grad' aus,
schloß dann, wie weim es sich eine herbe Erinnerung vor die Seele
rufe, die träumerischen Augen - ich vermuthe, daß es Betrachtungen
über die enorme Länge des Wegs vou Dresden nach Leipzig bei so
geringer Breite eben desselben anstellte — und dann schauderte ihm,
im wörtlichsten Sinne, die Haut. Das Pferd blieb nämlich mit allen
Gliedern ruhig stehen, aber die Haut zuckte und zitterte am ganzen
Körper hin und her, als ob sie nirgends angewachsen wäre. Das
dritte Pferd war eine unvermählt gebliebene Schimmelin; auch engli-
sirt war sie worden in glanzvollern Tagen. Mehr braucht von dieser
mißhandelten Unschuld nicht bemerkt zu werden.
„Lebe wohl und schreibe sogleich, wie Du angekommen, was Du
für eine Wohnung genommen, wer Deine Wirthsleute sind und wie
Du mit dem Kaffee zufrieden" — sagte die Mutter an meinem linken
Arme — „säume nicht, sogleich die nöthigsten Collegia zu belegen und
gib mir Nachricht, bei wem Du die Institutionen hörst", sprach der
Vater, mich von der rechten Seite zurückhaltend.
„Laß Dir nichts von der Wäsche wegkommen, Du hast doch den
Zettel dazu in der Brieftasche? Auch das Gewicht Deiner Federbet¬
ten habe ich Dir aufgeschrieben. Unredliche Menschen nehmen manch¬
mal ein paar Pfund heraus; gib ja ordentlich Acht und theile auch
Dein Geld gut ein. So wie Deine Zeit! Geh' nicht in schlechte Ge¬
sellschaft. — Und am allerwenigsten zu einer verbotenen Verbindung.
Beim Auspacken der Kleiderkiste sei selbst zugegen, denn Deine Mund¬
tasse liegt oben auf. Grüße alle Bekannten angelegentlich von mir,
an die Du Briefe hast und warte nicht Wochen lang, bevor Du Deine
Besuche abstattest. Betrinke Dich nicht, Du bist zu jung, um so viel
zu vertragen, als Andere! In dieser Beziehung hatte ich eine stattli¬
chere Meinung von mir, aber es war kaum Zeit zu hören, keineswegs
aber zu widerlegen. Ich stand schon mit dem einen Fuße im Wagen¬
tritte, aber nachdem die Mutter gesprochen, fiel der Vater mit einem
kräftigen Schütteln meines Arms ein:
„Halte Dir keinen Hund, das bringt Verlegenheiten und Händel!
Und trage keine Sporen, es ruinirt die Kleider. Ueber Deine Ausga¬
ben führe Buch und Rechnung. Und wenn Dir's fehlt, so borge nicht
etwa, sondern schreibe uns Dein Bedürfniß, damit wir selbst Rath
schaffen. Hüte Dich vor Liebschaften - erinnerte der Vater auf seiner
Seite, wobei er die Stimme etwas mäßigte.
— Und vor Duellen — das versprich mir heilig, mein Sohn. Keine
Duelle! und so fahr' denn hin unter Gottes Schutz Und unsern besten
Wünschen", fügte die besorgte Mutter desto lauter von der andern hinzu.
Ich befand mich, wie erwähnt, zwischen Thür' und Angel. Mit
dem Kopfe tauchte ich bereits freiheitssehnsuchtsvoll in das Innere des
Wagens, während die bedrängte Seele sammt dem Rumpfe noch drau¬
ßen war und von den älterlichen Ermahnungen zurückgehalten ward.
Grade bei der Erwähnung der Duelle aber blickte ich zum ersten Male
mit Bewußtsein auf die Insassen des Wagens und fühlte meine Auf¬
merksamkeit plötzlich gefesselt durch ein Paar braune Augen und eine
lebendig blühende Miene voll der bittersten Ironie. Augen und Miene
saßen jedoch nicht vereinzelt auf dem Rückplatze der Kutsche, sondern
sie bildeten vielmehr den allerpassendsten Zusammenhang mit der kur¬
zen energischen Gestalt eines schnurrbärtigen jungen Mannes, der offen¬
bar seit Jahren schon und in der edelsten Form war, was ich über¬
morgen in Leipzig werden wollte: akademischer Bürger.
Ich weiß nicht, ob es Spott oder Mitleiden war, womit mich
der alte Student betrachtete, aber ich weiß, daß mich der öffentliche
Unterricht auf einmal so heiß beängstigte, daß ich mich mit einer ent¬
schiedenen Bewegung losriß und um jeden Preis den Platz zu gewin¬
nen suchte, der mir im Wagen frei gelassen worden war. Ein Rat¬
tenkönig freundschaftlich nach mir ausgestreckter Hände folgte der küh¬
nen That. Ich drückte eine jede der dargebotenen Rechten, aber die
meiner Mutter küßte ich und preßte sie an meine Wangen.
„Alles hat seine Zeit!" sagt ein Weiser des alten Testaments.
Auch ein Dresdner Lohnkutscher vermochte der Ewigkeit nicht für die
Dauer zu trotzen. Wir fuhren ab, worunter man sich die knarrende
Bewegung eines Lastwagens vorzustellen hat, in dessen Innern sich
eine Höhle für vier Passagiere in der Kutsche und zwei im Kabriolet
befand. Der „sanfte Heinrich", der die Pferde lenkte, saß in der
Schoßkelle. Es war ein alter Studentenkutscher dieser „sanfte Hein¬
rich" und auch sonst nicht ohne Verdienst. Jeden Augenblick, den,er
seiner Pflicht auf der Straße abzumüßigen vermochte, widmete er dem
Dienste der Menschheit, indem er die schädlichsten Getränke vertilgte,
deren Genuß der Gesundheit Anderer zum Unheil' gedeihen konnte.
Sein tief aufgeackertes Antlitz und die Nöthe seiner kolbigen Nase leg-
ten Helles Zeugniß für den Eifer ab, mit welchem er der Sache der
Mäßigkeitsvereine vorarbeitete.
Das nachgrüßende Auge meiner Mutter war noch laiige in mei¬
ner Erinnerung, als es nicht mehr in meinem Blicke war. O selige
Wehmuth des Abschieds, mit der ich meinem unermeßlichen Glücke
entgegenging!
Wiewohl uns das langsame Vorrücken des Wagens über die
Schloßgafse durch das Georgenthor lind über die Gbbrücke hinüber
noch keineswegs über unsere Kräfte angestrengt hatte, so gab uns doch
ein Anhalten in der jenseitigen Neustadt Gelegenheit zur Erholung,
Zugleich erfuhren wir, daß unser- Wagen noch nicht überladen sei,
denn es wurden ihm zwei kleine, aber sehr schwere Fässer zugerollt
und zu oberst auf dem Verdecke festgeschnürt, ohne einigen Widerspruch
von Seiten der Pferde, obschon sie sich alle drei mit großer Bestürzung
darnach umsahen- Dann räh'te unsere Arche mit mindestens drei Nad-
umschwingungen Schnelligkeit in der Minute durch die meißner Gasse
und über den Palaisplatz, so daß wir jeden der Vorübergehenden schon
von Weitem ankommen sahen und feilte Gestalt noch lange verfolgen
konnten, wenn wir an ihm vorbeigezögert waren. Auch die Inschrift
auf dem Japanischen Palais lasen wir so ungestört, daß sie sich uns
unvergeßlich einprägte. Die öffentliche Bibliothek ist darin aufgestellt
und die Inschrift des Gebäudes lautet: I>)udu«'u p-tems. Ehe wir
von einem Lapidarbuchstaben bis zum andern gelangten, die sich dem un¬
bedachten Fußgänger nur zu leicht entziehe», verflossen Pausen, welche
den Gebrauch des umfängstlichen Lericonö erlaubt hätten, und so rei¬
sten wir offenbar mit dem größten Nutzen.
Die Stadt lag hinter uns; die Gesellschaft hatte Muße wie zu
allem Möglichen, so auch in sich selbst einzukehren. Ich begann meine
Reisegefährten zu mustern. Zuerst meinen Nachbar auf dem Vorder¬
platze, den Töplitzer Badegast. Wir standen in den ersten Tagen des
Mai, und doch hatte der Heilquell schon so viel an ihm bewirkt, daß
er grade noch lebendig nach Hause zu kommen hoffte, wenn ihm ein
Theil der Kräfte übrig blieb, mit denen er zu Ende März die Magde¬
burger Vaterstadt verlassen. Alles um ihn her war Pelz und Bette
und er selbst nichts Anderes, als eine große Lähmung. Das Gesicht
stak zur vorzüglichern Hälfte in einer Mütze, die mehr umgestülpter Muff
als Mütze war. Der Hals ward mit einem Wildkatzenfell und der
Mittelkörper mit einer Wolfsschur vor Verkühlung geschützt, der Rücken
lehnte an einem Pfühle und über den Schooß war ein Federbett ge-
breitet. Dabei klagte er fortwährend über die rauhe Luft und über
die Unsicherheit seiner Erwärmungsanstalten, womit er diesen und der
Mittagssonne um so bittereres Unrecht that, als wir übrigen Passagiere
so eifrig schwitzten, als ob wir damit dem Kranken die Geschmeidigkeit
seiner Glieder zurückgeben wollten. Wenn der Badegast übrigens sprach,
so hustete er, und noch häufiger hustete er, ohne zu sprechen.
Ihm gegenüber saß ein Student, in dem ich ein altes Haus er¬
kannt zu haben glaubte, obschon mir die landsmannschaftlichen Farben,
die er trug, fremd waren. Bei der außerordentlichen Ehrfurcht, mit
der ich sein stolzes Haupt, einige leichte Narben in dem Gesichte und
das Verbindungshaut betrachtete, welches sich um seine Brust schlang,
wäre es mir außerordentlich erwünscht gewesen, wenn er sich mit einem
kameradschaftlichen Worte an mich gewendet hätte. Allein seit jener
ironischen Miene beim Abschiede würdigte er mich auch nicht eines
Blickes mehr, sondern starrte stumm und verdrießlich bald aus dem
Wagen hinaus in den Staub der Straße, bald auf eine Person, die
Schulter an Schulter an seiner Seite und mir mithin Antlitz in Ant¬
litz saß, während ich sie erst jetzt entdeckte, wo mein Auge der Augen¬
bewegung des alten Hauses schüchtern nachging. Der Moment, wo
ich von ihm als Commtlito erkannt ward, mußte jedenfalls einer der
freudigsten meines Lebens werden; aber er beeilte sich nicht. Ich hatte
indeß sieben Duelle auf dem Brustbande angemerkt gefunden und noch
schien die Reihe nicht geschlossen, sondern nur durch die Wendung des
Bandes gegen den Rücken unterbrochen. Wie nämlich aus den histo¬
rischen Landkarten die Schlachtfelder durch zwei gekreuzte Schwerter be¬
zeichnet werden, so merkt der Student auf seinem Brustbaude ebenfalls
durch gekreuzte Schwerter und wenige beigefügte Buchstaben die von
ihm ausgefochtenen Duelle und deren Jahrestag an. Ein solches
Band, wie schmal es immer sei, halt die Brust, um die es sich schlingt,
außerordentlich warm, viel wärmer als unser Badegast in seiner Wolfs¬
schur saß! Inzwischen war jeder meiner Blicke, der auf jene Symbole
wackerer Studentenschaft hinflog, eine neue Huldigung für deren
Träger.
Die Züge des alten Hauses, welches die Pappeln am Wege sehr
verächtlich und mich zu meiner steigenden Beunruhigung gar nicht an¬
sah, erheiterten sich in der Regel um einige Grade, wenn er auf den
vierten, mit ihm rückwärtssitzenden Passagier blickte. DaS war ein
junges Mädchen, dessen Kopf von einem grünen Schleier verhüllt ward.
Als sie diesen Schleier bei einer Biegung des Wegs, die den Luftzug
veränderte und den Staub von uns abtrieb, etwas zurückschlug, war's
wie nach einem Sonnenaufgange im Wagen, Ich fühlte mich von
einer Schönheit angestrahlt, daß ich die geblendeten Augen niederschlagen
mußte. Wäre der Magnet des Duellbandes nicht zu stark gewesen
und hätte ich nicht gehofft, den achten Zweikampf, vielleicht sogar ei-
nen neunten darauf zu entdecken, so hätte ich meine Blicke wahrschein¬
lich niemals wieder erhoben. Der Frühling war zu uns in den Wagen
gestiegen; mit lächelnder Miene streckte er mir die Knie entgegen. Er
hatte Grübchen in den Rosenwangen und einen Kirschlippenmund. Er
war zum Küssen schön und zum Mitverliebtwerden jung. Um allen
Preis der holdesten Anmuth mit Einem Satze zu begreifen: für die
Reisegesellschaft eines solchen Mädchens fuhr selbst der Dresdner Lohn-
kutscher zu schnell. Ein Jeder mußte mit den Minuten geizen, die er
mit dieser Gefährtin zusammen verlebte.
Hätte ich nur bestimmt gewußt, ob sich alle Studenten „Du"
nennen, und ob es nicht etwa eine schmeichelnde Schulfabel war, daß
auch der jüngste Fuchs berechtigt sei, von dem bemoostesten Haupte so
überschwengliche Vertraulichkeit zu fordern, so hätte ich den ehrfurcht-
gebietendcn Genossen doch wohl angeredet. Vielleicht, daß er nur den
ersten Schritt der Annäherung von mir erwartete. Wir kamen an den
Seeplatz Zitschewig. Ich hätte ihm den Namen des Dorfes nennen,
oder sonst eine geistreiche Einleitung zu weiten» Gespräche treffen können.
Aber ließ sich die persönliche Anrede nicht umgehen? Und stand nicht
auch ich auf den sonnigen Höhen des Lebens, an der Pforte der Aka¬
demie wenigstens, so daß mir wohl ein verwegnes Wort ziemte? Der
sanfte Heinrich hielt vor dem Gasthofe das Gespann an, was er mit
einer Leichtigkeit verrichtete, daß es fast schien, als ob das Gespann
ans Schwäche von selbst Halt machte. Ich faßte mir endlich ein Herz
und sagte laut und männlich: „Das ist Zitschewig."
Eine geraume Weile ließ mich der hochgeehrte Gefährte auf Ant¬
wort warten, indem er nach einer Richtung hin blickte und hörte, in
welcher ich durchaus nicht saß und gesprochen hatte. Dann faßte er mich
fest in's Auge; ich raffte meine Haltung zusammen, daß die Schnuren
meiner blauen Piquesche darunter seufzten; — ging mit seinem Blicke
von meiner Stirn bis auf die Brust herab, das heißt, so weit ihm
das mir benachbarte Krankenlager die Aussicht auf mich gestattete,
und sprach darauf mit großem Ernst: „Ja, Fuchs, Zitschewig."
Ich hatte aussteigen wollen, aber einer Fortsetzung des also an¬
geknüpften Zwiegesprächs gewärtig, blieb ich regungslos und gespannt
auf meinem Platze, wobei mir das Lächeln gar nicht gefiel, mit wel¬
chem sich das alte Haus in der Betrachtung einer großen Schachtel
ausruhte, die ich in den Händen hielt. Sie war von dem Finanzmann
in der italienischen Handlung zärtlich fürsorgend mit Lebensmitteln voll¬
gepfropft worden.
„Du bist also diesen Weg schon öfterer gereist?" fuhr er fort --
und mit wollüstigen Entzücken bestätigten mir meine Ohren die Rechts-
beständtgkeit des Du-Comments.
„Nur einmal. Es war zu einem Schulfeste in Meißen," fiel ich
eifrig ein. „Ich habe einen Freund dort, der- in Prima sitzt. Auch er
wollte für Ostern das Maturitätöeramcn" —
„Still von Penalibus," unterbrach mich der wichtige Mann mit
unbeschreiblicher Würde. Dann nahm seine Miene plötzlich wieder die
beißende Ironie an, die eigentlich die lange Reihe der gekreuzten Schwer¬
ter auf dem Bande recht natürlich zu erklären im Stande war. „Bist
Du auch damals wie heute auf dem Vorderplatze gefahren, indessen
eine Dame Deinetwegen auf den Rücksitz verwiesen ward?"
Es bedürfte einer längern Frist, bevor ich den Sinn des häßlichen
Vorwurfs, dann seine einschneidende Wahrheit und damit schließlich
auch den Grundbegriff, weshalb ich bis dahin von Seiten des Stu¬
denten mit der augenscheinlichsten Nichtbeachtung behandelt worden
war. Aber kaum hatte ich auch nur einen Theil des Tadels aufge¬
faßt, als ich zum Schrecken des Kranken und mit dessen Bette, welches
sich in meine Füße verwickelte, aus dem Wagen schoß und Entschuldi¬
gungen und Bitten, daß die Dame meinen Platz einnehmen möge,
durcheinander mischte. Ich hatte mich des Sitzes bedient, den ich eben
für mich offen erblickte; ich hatte nicht geahnt, daß meine gute Mutter
ohne die Reisegesellschaft weiter zu mustern, den Lohnkutscher genöthigt
hatte, mir des höhern Betrags meiner Zahlung wegen den besten Platz
zuzusichern, lind daß, da der Badegast unvertreibbar war, die junge
Dame zur Entrüstung des Studenten, der ihr die bequemere Seite des
Wagens abgetreten hatte, auf die andere Hälfte verwiesen worden war.
Während ich mich peinlich um meine Rechtfertigung bemühte, klärte
sich das Angesicht des Mannes^ auf dessen gute Meinung mir Alles
ankam, zu einer weniger zweideutigen Freundlichkeit auf. Er half so¬
gar dazu, daß sich das Fräulein entschloß, auf den dringend angebote¬
nen Wechsel einzugehen. Der sanfte Heinrich hatte sich und die Pftrve
getränkt, das Bett war zu dem Badegäste zurückgekehrt und nachdem
noch eine Flasche rothen Landweins auf meine Bestellung gebracht und
in eine Seitentasche des Wagens versenkt worden war, rollten wir
weiter.
Ich zog nach einiger Zeit einen Gummibecher aus meinem Reise¬
sacke hervor, löste den Kork der Flasche und den Deckel der Schachtel
und suchte durch die Einladung zu meinem Mahle das gute Verhält¬
nis; mit den Mitreisenden zu befestigen. Leider war der Student so
stolz, jede Theilnahme an dein Imbisse mit dem Bemerken abzulehnen,
daß in Meißen zu Mittag gespeist werde. Indessen dehnte sich der
Weg dorthin doch ziemlich lang aus)- ich wiederholte mein Anerbieten
bei jedem Gegenstande, den ich der Schachtel entnahm, und als sich
selbst das Fräulein zu einer mit NheinlachS belegten Semmel halte
bestimmen lassen, ward auch das alte Haus vermocht, einige Schnitten
Bayonner Schinkens mit eingemachten Gurken zu versuchen. Ich hatte
ihm zu diesem Behufe die ganze Schachtel gereicht, mit der er plötzlich
zu meinem athemlosen Erstaunen einen Handwerksburschen beschenkte,
der einen Zehrpfennig von uns forderte. Auch den Weinrest sammt
der Flasche fügte er der Gabe großmüthig hinzu, und schon fürchtete
ich selbst für den Gummibecher, weshalb ich ihn rasch in den Reisesack
rettete.
„Es reist sich unbequem mit so vielem Ballast," erklärte er mir
beiläufig, „und die Wirthshäuser an der Straße sind ganz gut ver¬
sehen."
Auch das Fräulein schaute etwas verwundert auf zu solcher Ei¬
genmächtigkeit, die ich mich anstrengte, recht liebenswürdig zu finden,
obschon sie mich außer einer Braunschweiger Schlackwurst auch noch
einen ganz unangetastet gebliebenen Straßburger Käse kostete.
Dann kam die Rede auf Reiseveranlassung und Lebensverhältnisse.
Der Student kehrte aus Breslau nach Leipzig zurück und war ein
Mecklenburger, der den Ausflug nach Schlesien nur unternommen hatte,
um Land und Leute kennen zu lernen. Von dem Riesengebirge und
der Verbindung der Silesen ans der Breslauer Universität sprach er
mit großer Befriedigung. Schlechter hatten ihm die Gasthöfe im Ge¬
birge und unter den Studenten die Polen gefallen. „Unter den Silesen,"
sagte er, „sind prächtige Jungen, Bursche, die Haare auf den Zähnen,
die Klinge beständig blank und auf der Mensur das frischeste Forellen¬
blut haben. Ich hoffe, daß wir von Leipzig aus in ein perpetuirliches
Cartel mit ihnen treten. Auch die Adersbacher Felsen sind der Mühe
werth. Die Polen hingegen sehen verwildert aus, trinken Schnaps,
schlagen mit dem Knüppel drein und ein anständiger Kerl geht ihrer
Rohheit aus dem Wege. Den Elbfall konnte ich ebenfalls nicht be¬
suchen, weil noch zu viel schmutziger Schnee in den Bergschluchten lag."
„Du bist also Leipziger Student und trägst die Silesenfarben
nur —?"
„Weil ich mein Band mit dem des Subseniors tauschte. Der
herrlichste Mensch, mit dem jemals ein Schmollis getrunken ward!
Ich heiße Perglow und bin bei den Seminolen."
Wenn ich vorhin von dem überwältigenden Eindrucke erzählte,
den es auf mich hervorbrachte, daß das Fräulein ihren Schleier lüftete,
so kann damit nur verglichen werden, was ich empfand, als mein
Nachbar seinen Namen nannte. Es war der gefeierte Name eines der
berühmtesten Häuptlinge, die damals in der Bewunderung der Studen¬
tenwelt und in den Erzählungen lebten, denen wir Schüler mit beben¬
der Ehrfurcht lauschten, wenn uns die Ferien irgend einen gutherzigen
Kameraden zuführten, der auf der Universität nicht ganz vergessen hatte,
daß er einst auf dem Gymnasium Freunde besaß. Warum hatte ich
nicht eine ganze Schiffölast von gepökelten und geräucherten Waaren,
sie seiner Verfügung unweigerlich zu überlassen, anstatt der elenden
Schachtel, mit der er dem Anscheine nach etwas willkürlich verfahren!
Zugleich gehörte er der Genossenschaft meines Stammes an, — des
Stammes der Seminolen, wenn es mir erlaubt ist, wie ich den Namen
des Häuptlings etwas veränderte, auch ti^> uoch fortblühende Lands¬
mannschaft mit einem indianischen Worte zu bezeichnen.
„Du bist Perglow! Und auch ich bin durch Schicksal und Nei¬
gung Seminole!" rief ich ihm in schöner Begeisterung zu. Er nickte,
wie eben ein berühmter Krieger nickt, der einen Rekruten ohne Ahnen
und Thaten zu seinem mächtigen Banner treten steht.
Die Reihe der Mittheilungen war an dem Fräulein. Sie reiste
in ihre thüringische Heimath, nachdem sie eine kranke Tante den Win¬
ter hindurch in Tharant gepflegt. Julie von Eichmann war ihr
Name.
„Dich brauchen wir nicht erst um Auskunft zu bitten, Fuchs,"
sprach der Seminolenhäuptling und das gefährliche Lächeln spielte wie¬
der um seinen Mund, „da wir Zeugen davon gewesen sind, wie die
Familie Polonius vou Dir Abschied nahm. Befolge die Mahnungen
Deines Vaters und Du wirst ein überaus glückliches Examen bestehen,
und wenn Du die Warnungen Deiner Mutter nicht in den Wind
schlägst, Dein glattes Gesicht und das volle Gewicht Deiner Feder¬
betten dereinst unversehrt nach Hause zurückbringen."
„Hättest Du keine Mutter, Perglow, daß Du die ängstliche Sorge
der meinigen verspotten kannst?" fragte ich, verletzt von einer Andeu-
tung, deren verletzende Spitzen weniger mich als meine Aeltern trafen.
„Sonst wären Deine Worte unverzeihlich."
Da nahm das Antlitz des großen Kriegers eine so treuherzige
Miene an, daß jeder Zug von Hohn daraus verschwand. „Keine Mut¬
ter?" fragte er, „ein vollkommener Student kann der freilich nicht wer¬
den, der seiner Mutter folgt, indem er das Duell vermeidet und dem
Vater gehorcht, indem er die Verbindungen seiner Kameraden flieht,
deren Reiz mit ihrem Verbote zu besiegeln die Regierungen selten säu¬
mig sind. Aber ich wollte Dich nicht beleidigen, denn auch meine
Schritte möchte ein geängstetes Mutterherz überwachen und leiten,
wenn ich etwas folgsamer wäre. Darauf meine Hand."
Wir fuhren in das engere Elbthal ein, in welchem sich das tau¬
sendjährige Meißen erhebt. Die Stadt blickt so romantisch über den
schönen Fluß, die Albrechtsburg mit dem gothischen Afradom so mit¬
telalterlich von der Höhe herab, daß die Stadt gar nicht recht in die
neue Staatsverfassung und Geschichte paßt. Sie ist zu poetisch für
die nüchterne Neuzeit. Das wußte die Eisenbahn, die später die alten
Völkerstraßen veröden machte und sie ließ deshalb Meißen seitwärts
liegen. Die Lohnkutscher waren gerechter. Sie lagen oft länger in
Meißen, als es selbst der Weinbau der Landschaft verantworten mag,
der alle Arten europäischen Traubenbluts versendet, besonders Asmanns-
Häuser, Burgunder und Champagner. Aber verschämter Weise niemals
Meißner!
Das Fräulein war so liebreizend, daß ich viel darum gegeben
hätte, wäre es mir erlaubt gewesen, ihr gewisse kleine Neisedienste zu
leisten, wie z. V. den, ihr beim Aussteigen aus dem Wagen die Hand
zu reichen. Aber Perglow ließ mir in dieser Beziehung gar nichts
übrig und bis zu dem Versuche, mit seiner Artigkeit zu wetteifern, ver¬
stieg sich meine Keckheit nicht. Vielmehr sah ich mich dem kranken
Badegäste zugesellt, für den auch der Seminolenhäuptling die sehr er¬
hebliche Rücksicht nahm, sich das Tabaksrauchen in der Kutsche zu
versagen. Während daher Perglow in Meißen unsere junge Dame
an seinem Arme in den Gasthof zur „Sonne" geleitete, war ich dazu
verurtheilt, das fahrende Krankenbett in ein wandelndes Lazareth um¬
gestalten zu helfen. Flott und schmuck schritt das eine Paar vor uns
voraus, indeß der sanfte Heinrich und ich kaum stark genug waren,
ein stöhnendes Bündel von Fellen und Betten nachzuschleppen.
Nach der Mahlzeit, die wir an der Gafthofstafel einnahmen, der
Badegast vermochte kaum einige Löffel Suppe hinterzuschlürsen, wor¬
auf ich ihn auf ein Sopha schleifte und wieder unter Decken und Kis¬
sen begrub, entfernte sich Perglow in die Stadt. Er wollte nachfra¬
gen, ob einige Freunde schon wieder zur Universität abgereist oder be¬
reit wären, eine Flasche mit ihm bei dem braven Küpermeister Baum¬
garten zu trinken, einem Manne von so unbefleckten Rufe, daß ihn
kein Student unbesucht ließ, der auch nur eine Viertelstunde Meißner
Aufenthalts erübrigen konnte. Wir hatten behagliche Zeit zu einem
Gelage, denn Heinrich fütterte und war überhaupt nicht der Charak¬
ter, der mit boshafter Eil' auf der Abfahrt bestand, so lange noch Ein
Passagier zu zaudern verlangte. Der Seminolenhäuptling theilte mir
seine weintrinkende Absicht mit und gestattete mir, ihn bei Baumgar-
ten zu erwarten. Diese Erlaubniß würde den Umständen nach als
ein Befehl für mich gegolten haben, wäre mir nicht ein sehr lockender
und verrätherischer Plan in den Sinn gekommen. Ich ließ Perglow
ruhig seine Runde antreten und bemerkte dann ganz zufällig, daß doch
inzwischen für die Unterhaltung unserer Dame sehr schlecht gesorgt sei,
worauf ich ihr einen Spaziergang zur Beschauung der Meißner Merk¬
würdigkeiten vorschlug. Als sie mein Anerbieten genehmigt hatte, quälte
mich nur der Gedanke, daß wir dem Häuptlinge in der Stadt begeg¬
nen könnten, was ein harter Schlag für mich gewesen wäre. Des¬
halb beschleunigte ich meinen Weg durch die Stadt mit Julien und
fühlte mich erst glücklich geborgen, als wir die Treppe zu ersteigen be¬
gannen, die gegen die Albrechtsburg hinaufführt. Ihr Arm lag dabei
auf dem meinigen, von Zeit zu Zeit ruhten nur aus und sahen ein¬
ander an. Ich empfand so viel, daß ich wenig reden konnte und um
einige Mannichfaltigkeit in unser Gespräch zu bringen, zählte ich laut
die Stufen. Wir waren aber entsetzlich rasch oben und mit der letz¬
ten Ziffer die Unterhaltung schon wieder zu Ende. Aber im Anblicke
der alten Stadt und frühlingöfrifchen Landschaft verklärte sich das
Antlitz des Mädchens, und als Julie die Gegend als die schönste pries,
die sie gesehen, vergaß ich mich vor ihrem lieben Lächeln bis zu der
Aeußerung:
„Was Ihnen die Gegend, das sind Sie mir — das schönste
Mädchen, welchem ich jemals begegnete!" Ich erschrak vor mir selbst
nach dem Worte, daß ich mich vorwärts an die Mauerbrüstung retten
mußte und gewiß roth anlief, wie ein gesottener Krebs, während ich
eine arme Hauslaubpflanze ausrupfte, die zwischen dem verwitterten
Mörtel herausgewachsen war.
„Sie scheinen die Meißner Berge schon zu kennen, da Sie gar
kein Auge dafür haben", sprach meine Begleiterin nach der langen
Pause, die ihr meine am Bodett haftende Verlegenheit ließ. „Wollen
wir nicht weiter gehen?"
„O ja — in den Dom. Er steht offen, wie ich sehe, und auch
auf den Thurm hinauf müssen wir."
Aus dem Innern quoll tiefer Orgelklang. Der Dom rührt noch
aus der Zeit her, wo der frömmste Gottesglaube gothische Tempel
schuf, deren erhabene Formen wir kaum nachzuahmen, nicht zu über¬
treffen vermögen. Auch der Afradom von Meißen ist ein zu Stein
gewordenes seliges Gebet von Millionen, und die Andacht von Jahr¬
hunderten schwebt in und um ihn. Wir traten ein und schritten lang¬
sam und feierlich bewegt bis zum Hochaltar. Jenseits desselben führt
die Treppe auf den Thurm empor. Ich war wohlvertraut mit ihren
Windungen, und von den Orgeltönen umwogt, folgten wir der Stiege,
abermals Arm um Arm geschlungen. Empor, empor, bis wir auf dem
Austritte standen, wo sich das Thal mit seinen Gärten, der Strom
mit seinen Schiffen vor unsern Blicken aufthat.
Anfangs waren wir still, dann war es etwas Schwärmerisches
oder Heiliges, was wir sprachen. Wie es dahin gedieh, weiß ich nicht
mehr, aber ich muß Julien um einen Kuß gebeten haben, denn sie sah
mich darauf verwundert, aber nicht- zornig an.
„Einen Kuß — und hier auf der Höhe vor aller Welt? Aber
grade darum — das heißt, wenn Sie nur versprechen, den Ermahnun¬
gen Ihrer guten Mutter mehr gehorchen zu wollen, als den Anwei¬
sungen und dem Beispiele unseres Begleiters — küß' ich Sie."
Für einen Kuß von ihr hätt' ich Alles zugesagt und auf Erfor¬
dern zugeschworen.
„Wie gut Sie sind, Julie!" jauchzte ich. Ich umarmte sie und
wir küßten uns ganz langsam und wohlbedächtig. Auf dem Herab¬
wege erinnerte ich jedoch, daß eS mir scheine, als ob das Fräulein
keine ganz gute Meinung über Pcrglow hege, worin sie im größten
Unrecht sei.
„Ich meine nur, Sie sollen ihn nicht auf Kosten Ihrer Zukunft
bewundern", antwortete Julie. Seit wir uns im Namen meiner Mut¬
ter geküßt hatten, kam sie mir wie meine Schwester vor, und ich dachte
ihrer Rede nach, als wär's ein Orakelspruch gewesen.
Durch die Berührung ihrer Lippen nicht zuversichtlicher geworden
oder gar begehrlich, war ich dennoch so unbefangen und vertraut zu
ihr, daß weder meine Gedanken im Gefühle, noch der Ausdruck im
Gedanken erstickte wie vorhin. Ich vermochte ihr Alles zu sagen, was
ich von Freude und Hoffnung in der Brust hatte, und der Hoffnung
besonders trug ich viel in mir.
Julie selbst rief mir den Küpermeister Baumgarten in's Gedächt¬
niß zurück, als wir wieder unten in der Stadt waren. Ich begab
mich dahin und fand Perglow in Gesellschaft von einem sehr langen
Studenten mit einem desto kürzern Rocke. Ebenfalls ein großer Krie¬
ger, dem ich bald vorgestellt war. Er hatte die Seminolenmütze auf
dem röthlichen Haupthaar auch im Zimmer nicht abgelegt, vermuth¬
lich weil er sie mit dem Halstuche verwechselte, wovon auch nicht eine
Spur an seinem entblößten Nacken zu entdecken war. In seiner Lin¬
ken hielt er eine starke „Flöte", worunter man sich einen Stock vorzu¬
stellen hat, der dann auch musikalisch wirken konnte, wenn er in rhyth¬
mischen Schwingungen auf den Rücken irgend eines mit Stimme be¬
gabten Wesens niederfiel. Mit der Rechten umspannte er eine Fla¬
sche, aus welcher er mir ein Glas füllte, welches beinahe größer als
die Flasche war. Ans das Mittrinken beschränkte sich übrigens meine
ganze Theilnahme an der Unterhaltung, da sie sich ausschließlich auf
Personen und Zustände erstreckte, die ich erst näher kennen lernen sollte.
Der sanfte Heinrich kam selbst uns abzurufen. Er war fo dienst¬
fertig, daß er die angebrochenen Flaschen leeren half, nur um uns
desto rascher zu befördern. Perglow führte wieder die Dame, ich trug
meine Hälfte von dem Kranken an den Wagen. Aber als es an's
Einsteigen kam, wollte Perglow, um zu rauchen, mit einem Passagier
des Cabriolets tauschen. Es war der lesende Passagier, den er dazu
einlud. Auch ging der Aufgeforderte auf den Wunsch des Häuptlings
ein und siedelte mit der Bibliothek zu uns über. Da fand er aber,
daß ihm das Licht ungünstig falle, mit welcher Umschreibung er ver¬
muthlich den Badegast meinte, vor dessen Nachbarschaft er offenbar
heftig zurückschrak.
„Nun, so lesen Sie einmal eine Station lang nicht!" rieth ihm
Perglow.
„Ich muß aber lesen!" sagte der Passagier, „ich bin ein wan¬
dernder Naturforscher und studire eben Sachsen."
„Am zweckmäßigsten doch durch den Augenschein! In Klappen¬
dorf geb' ich Ihnen Ihren Cabrioletplatz zurück."
„Bis Klappendorf grade muß ich lesen."
Dabei war er schon wieder ausgezogen, hatte das Cabriolet er¬
klommen und sich in den Inhalt des Buchs, welches an der Reihe
war, so innig vertieft, daß die Rede an ihn rein verloren ging, die
der Seminolenhäuptling über Literatur im Allgemeinen und Naturge¬
schichte des Kameels im Besondern hielt. Das Wort „Kameel" sprach
er dabei accurat so aus, als ob er den lesenden Passagier damit im
Allgemeinen bezeichnen und im Besondern beleidigen wollte.
„Wenn ich mir hier, die Bewilligung des Fräuleins vorausge¬
setzt, eine Cigarre anzündete, so mordete ich ein Menschenleben durch
Stickhusten!" schloß Perglow den Sermon und setzte sich, von Wein
und Aerger ziemlich aufgeregt, auf den alten Platz. „Aber draußen
vor der Stadt — und wenn ich deshalb auf'S Verdeck steigen muß,
kann ich mir die süße Gewohnheit des Daseins nicht länger versagen."
Ich ahnte unendlichen Vortheil von der Abwesenheit des Häupt¬
lings und das traulichste Zwiegespräch mit Julien, daher war ich be¬
flissen, dem Gefährten ein Lager auf dem Verdeck als ein wahres Lot¬
terbett üppiger Ruhe zu schildern. Erst pries ich den Reiz der Ge¬
gend, die er überblicken würde, dann besprach ich mit dem Häuptlinge
die verschiedenen Arten des Rauchers mit einer so feinen Ausarbeitung
aller Einzelheiten, daß ihm der narkotische Duft bei der bloßen Erin¬
nerung durch den Mund und die Nase prickelte. In der Nähe der
Klosterruine, die nicht weit hinter Meißen liegt, war auch seine Be¬
gierde so lebhaft aufgereizt, daß er den Kutschenschlag öffnete und mit¬
ten im Fahren aus dem Wagen sprang, was bei der äußerst vorsich¬
tigen Bewegung der Rosse wenig Gefahr hatte und dem sanften Hein¬
rich, nach einem Besuche bei Baumgarten, durchaus nicht Wunder
nahm. Der Kutscher sah sich auch nach dem Zurückbleibenden nicht
weiter um, wir im Innern aber gewahrten darauf an dem Geräusch
über unsern Häuptern, daß Perglow über die Kisten des Hintertheils
emporgestiegen und somit auf der Höhe des Fortschritts angelangt war,.
Der Kranke stöhnte kläglich, und wir durften auf einen Trauer¬
fall gefaßt sein, ehe wir Leipzig erreichten. Um ihm eine bequemere
Lage einzuräumen, setzte sich das Fräulein zu mir herüber und ordnete
das Bett des gelähmten Badegastes nach dieser Veränderung sorgfäl¬
tig von neuem. Er dankte ihr, auch ohne Perglows Cigarre, mit ei¬
nem tiefgefühlten Husten, und nur Gesunden sprachen dann von See¬
bädern und Sauerbrunnen und von der Heilquelle in Tharant, die
mehr auf den Bergen wächst und in den Lüften webt, als aus dein
Felsen springt. Der Wasserstrahl, den die Erde gibt, wir wußten nicht,
ob er sehr mächtig und genesungskräftig sei. Aber an der Frische der
Tharanter Haine und an dem wundenheilenden Hauche der Natur,
der sich über die waldigen Höhen des Weiseritzthales ergießt, zweifel¬
ten wir nicht, die wir noch an keiner Wunde gelitten. Juliens Tante,
die dort genesen, war eine milde, sanfte Frau und das Mädchen sagte,
die Pflege sei ihr leicht geworden. Aber wenig Gesellschaft habe die
Dame bei sich gesehen, denn das Nervenübel, an dem sie krankte, habe
vor allen Andern innere und äußerliche Ruhe verlangt. Doch sei der
kleine Ort auch im Herbst und Winter viel bewegt gewesen durch die
dortige Akademie.
„Für Forst- und Landwirthschaft!" fiel ich ein. „Wir haben eine
zweite ältere und noch berühmtere Akademie im Lande, in Freiberg,
für's Bergwesen. Die Studenten an beiden gelten in Leipzig für sa-
tisfactionsfähig." Zu dem „in Leipzig" fügte ich noch ein „bei uns"
hinzu, aber ein sehr leises, weil noch völlig zukünftiges. Mit der an¬
erkannten Satisfactionsfahigkeit glaubte ich aber den Akadenüsten in
Tharant und Freiberg keine geringe Auszeichnung nachgerühmt zu ha¬
ben. Fräulein von Eichmann versetzte nur leichthin:
„So, so." Sie schien die Wichtigkeit des Zugeständnisses nicht
vollkommen zu übersehen. „Wir kamen mit den jungen Leuten selten
in Berührung", fügte sie hinzu. — Ich war'jedoch ein schlauer Fuchs.
Daß siebzig bis achtzig Studenten der Forstwissenschaft ein Mädchen
in dem engen Thale von Tharant sollten unbeachtet und ungeduldige
gelassen haben von der Jugend, Schönheit und den geistigen Vorzügen
Juliens, das dünkte mir nicht glaublich. Also fragte ich sie gradehin,
in welcher Weise sie der Gegenstand der akademischen Aufmerksamkeit
gewesen.
„Ich darf mir dergleichen nicht einreden", erwiderte das Fräulein,
und ihre langen Wimpern wehten dabei mit schalkhaftem Ausdruck über
dem halben Auge. „Nur einmal, nach einem Balle, erwiesen mir die
Studenten die Ehre, mir ein Zeichen ihrer freundlichen Erinnerung zu
geben. Sie stellten sich Nachts unter meinem Fenster auf und feuer¬
ten dort ihre Gewehre ab, was eine Art von Ständchen sein sollte,
welches sie mir brachten. Es waren einige Dutzend Doppelröhre, die
auf einmal loskrachten und das grade in einer Zeit, wo meine arme
Tanne endlich nach langer nervöser Schlaflosigkeit einigen Schlummer
gefunden hatte. Es war eine sehr gute Frau, allein der Schrecken
hatte sie fast getödtet und ich war lebhaft bemüht, mir dergleichen ge¬
räuschvolle Artigkeiten nicht ferner zuzuziehen."
Ob nicht dennoch ein Bündniß der Neigungen die Folge des Tha-
ranter Winters gewesen war, leuchtete aus der Erzählung dieses Vor¬
falls freilich nicht ein. Wir geriethen darauf wieder in Jean-Paulsche
Stimmung. Es ist so verzeihlich, mit achtzehn Jahren überschweng¬
lich sein, das Paradies aus einer Rosenknospe zu riechen und himm¬
lische Unendlichkeit in einen Händedruck zu schließen. Eine Rosenknospe
hatte sich Julie in Meißen an die Brust gesteckt und wenn sich unsere
schweifenden Gedanken begegneten, so thaten es auch unsere Hände.
Ich streckte den Kopf aus dem Wagen und richtete ihn sehr ver¬
renkt gegen den Deckpassagier, um ihm Cigarren anzubieten, falls er
nicht genug versorgt sein sollte. Denn Perglow's Abwesenheit war
doch sehr ersprießlich.
„Laß gut sein, Fuchs", ertönte es von oben. „Ich liege zwar
auf einem Prokrustesbette und habe überdies ein Fäßchen zwischen den
Knieen zu halten, wenn ich nicht sammt demselben herunterfliegen soll.
Aber die Cigarre ist im Brande, daß sie der gesammten englischen
Kriegsflotte zur Lunte dienen könnte."
Der Kutscher spitzte bei dieser Unterhaltung, die sehr laut geführt
werden mußte, die Ohren und richtete sich von seinem Platze empor.
Seltsamer.Weise hielt mit einem Ruck der Wagen, und der sanfte
Heinrich hatte sich so unsanft aus der Schoßkelle geschnellt, daß er
wie ein Graspferd bis in den feuchten Straßengraben hinüber gehüpft
war, eine bedeutendere Entfernung, als jemals eines der Pferde, die
er lenkte, in den besten Tagen seiner Blüthe auf Einen Ansatz zurück¬
gelegt hätte.
„Herr Jesus! Es sitzt Einer aus dem Wagen!" schrie der Sanfte
und das Haar sträubte sich auf seinem Scheitel empor, von dem der
Hut weit weg entflogen war. „Und das Verdeck raucht wie ein
Schornstein!"
„Ich bin's, Heinrich!" entgegnete sehr gelassen der Seminolen-
anführer. „Meine Cigarre und da — wahrhaftig ein Stück alter
Packleinwand ist angeglimmt. Hocke nur wieder auf. Es ist nicht
drei Pfennige werth, und ich drücke den Brand mit zwei Fingern aus."
„Herr Jesus, Herr Perglow! O du mein Himmel, das Unglück!
Machen Sie, daß Sie herunter kommen oder wir sind Alle verloren.
. Es sind drei Centner Pirschpulver in den Fässern und der Wagen
brennt!" schrie Heinrich.
„Schießpulver — und der Wagen brennt!" dröhnte ein mehr¬
stimmiges Echo nach.
„Kirschpulver?" fragte der naturforschende Passagier und schaute
träumerisch aus den Blättern auf. Aber das Entsetzen, welches er in
jeder Miene las und die rasende Eile, mit der die Insassen des Wa¬
gens ans Heinrichs Wort ans der Kutsche stürzten, belehrte ihn au¬
genblicklich, daß es sich um eine fürchterliche Gefahr handle. Er gab
nicht blos, ohne alles weitere Besinnen, seinen wohlvertheidigten
Platz, sondern selbst das Buch Preis, um die allgemeine Flucht sofort
mit anzutreten. Die Entladung der Pulverfässer selbst hätte uns kaum
rascher auSeinanderbnngen können, als es die Furcht vor ihrem Auf¬
fliegen, bei der Nachricht, der Wagen brenne, that. Wie ich Julien
zugleich mit mir ins Freie hinausflüchtete, wäre nur jetzt unmöglich
zu erklären. Eine Minute nach der Katastrophe schon wußte ich nicht
mehr, ob sie mich aus dem Wagen hinaus riß, oder ich sie und wer
von uns beiden eigentlich von dem Andern an die Hecke hinüberge¬
tragen ward, in deren Dornen eingehakt wir uns wieder fanden.
Perglow war ohne weitläufiges Messen der Höhe vom Wagen her¬
abgesprungen und hatte seinen Füßen nicht Zeit gelassen, ihm irgend eine
Verletzung anzumelden. Wie ein Sturmwind brauste er zu uns herüber.
Der Sanfte duckte sich wie ein feiger Soldat vor dem Kartät¬
schenhagel unter den Graben und nur die Pferde schienen wohl un¬
sern Schrecken, nicht aber dessen Ursache zu begreifen, die sie wie uns
bedrohte. Sie standen, offenbar sehr zufrieden mit dem Aufenthalte,
still, und wenn ich den Ausdruck einer Schimmelphysiognomie zu be¬
urtheilen befähigt bin, so lächelte eines der Thiere sogar bestialisch
schadenfroh zu unserer grimmigen Verwirrung.
Das Alles erfordert mehr Zeilen, um es zu erzählen, als es
Secunden brauchte, um es zu erleben.
Perglow war in der Nähe der Hecke eingetroffen, deren Gesträuch
vornämlich für Juliens Seidenkleid eine eben so zudringliche, als das
Weiterfliehen behindernde Anhänglichkeit verrieth.
„Was thun wir jetzt, — will mir denn Niemand löschen helfen?"
erklang der unterirdische Nothruf Heinrichs.
„Löscht Ihr denn, indem Ihr Euch in den Graben werft?" ant¬
wortete Perglow, indem die Lebensfarbe langsam in seine Wange zu¬
rückkehrte. „Du pflichtvergessener Schlingel hast das Pulver heimlich
aufgeladen! Schneide die Pferde los! Dann magst Du nun auch er-,
leben, wie Dein Wagen auffliegt. Das Beste ist, wir ziehen uns'
einige hundert Schritt die Höhe hinauf. Da haben wir wenigstens
noch so viel von dein Bettel, daß wir den Wagen in die Luft ge¬
hen sehen."
„Mit allen meinen Habseligkeiten?" rief ich.
„Laß sie zum Geier sein. Hätte mich der Esel, der uns fuhr,
nicht gleich mit dem Schlimmsten erschreckt, so hätte ich die Lohe des
brennenden Lappens auf der Stelle erstickt"---
„Vielleicht ist noch Rettung möglich, wenn wir uns hinanwagen.
Meine Bücher, Kleider, Betten -"
„Mein neuer Hut — und der Kranke! der Kranke -— Niemand
hat an ihn gedacht — liegt noch in der Kutsche!" schrie Julie auf
und rang die Hände, was anßer dem Hute, dem unglücklichen Bade¬
gäste wenigstens zur Hälfte galt.
Auf die Erwähnung des Kranken sagte der Häuptling kein Wort,
aber seine Bewegung gegen den Wagen hin, der bis ans die aufklaf¬
fenden Thüren und ein dünnes Rauchwölkchen ganz unbescholten und
harmlos aussah, war auffordernd genug. Ich folgte. Erst, als wir
unmittelbar vor dem Fuhrwerke standen, war zu erkennen, daß die
Packleinwandfetzen in hellen Brand übergegangen waren. Unser An¬
griff war in unausgesprochener Uebereinstimmung darauf gerichtet, den
Badegast aus dem Innern heraus zu holen. Aber noch war eine
Spanne zwischen uns und der Kutsche, als Prrglow sagte: „Die
Fässer bringen wir am Ende schneller weg, als einen unbeholfenen
Menschen leib."
Dies Wort änderte unsern Entschluß. Von hinten auf stiegen
wir auf das Verdeck, über das Cabriolet empor kam uns der Sanfte
entgegen, der nach der ersten tövtlichen Bestürzung wieder Muth und
Regsamkeit gewonnen hatte, als er Perglow selbst an den Feuerherd
zurückkrhren sah. Er bezeichnete uns mit heiserem Ton und bebender
Hand die beiden Pulverfäßchen. So schwach das Flämmchen war,
welches nach ihren Reifen hinleckte, so bedürfte es doch nur einiger
durchgesickerter Körner, und was und wo waren wir im nächsten Au¬
genblicke? An einem Gran der Mischung Salpeter, Schwefel und
Kohle hing unser Leben. Die Arme, die sich gegen die Fässer aus¬
streckten, schienen ein Bewußtsein der Gefahr zu haben, nach der sie
langten. Eine schmerzliche Empfindung rieselte durch ihr Mark und
pflanzte sich durch den Körper fort.
„Ist gewiß kein Pulver weiter auf dem Wagen?" fragte
Perglow.
„Nicht eine Prise sonst, daß ich wüßte," versetzte Heinrich.
„So sind wir diesmal mit dem Schrecken daven gekommen,"
fuhr der Häuptling fort, und trat die angegangene Leinwand mit
den Füßen aus.
Die Fässer aber lagen weit hinüber geschleudert jenseits der
Straße. Wie wir sie mit gemeinschaftlichem Schwunge bis dahin
geworfen, steht nur nebelhaft vor meinem Gedächtnisse. Sie waren
sehr schwer, auch schwer anzufassen an den schmalen Rändern. -
Unsere Körper hatten auf dem Wagen keinen zuverlässigen Haltepunkt.
Daß die Fässer dennoch fortgeschleudert wurden, ohne daß Einer von
uns, oder noch wahrscheinlicher alle Drei ihrem Gewichte nachstürzten,
ist ein mathematisches Räthsel.
Aber wir standen wohlbehalten aufrecht und sie lagen beseitigt
im nächsten Acker. Wir vertilgten jede Spur des Brandes bis auf
den Schmuzflecken, den der verkohlte Zunder auf einer der Kisten zu-
rückgelassen, und während der sanfte Heinrich noch oben im Verdecke
umhernestelte und schnürte, stiegen wir hinab und riefen die Entfer¬
nung jeder Gefahr aus. Dann besannen wir uns auch wieder auf
den Badegast. Es war so mäuschenstill im Wagen, daß wir einen
Todten hervorzuziehen fürchteten. Die hilflose Verzweiflung des auf¬
gegebenen Mannes mußte furchtbar gewesen sein. Was war wahr¬
scheinlicher, als daß sie ihn getödtet hatte!
„Fuchs — was ist das?" fragte Perglow, der seineu Augen
nicht traute. „Ist der Kerl in sein Bettstroh gefallen und hat sich
darin verkrümelt?"
„Fußsack, Wolföschur und Alles, was er um sich trug, liegt hier
im Wagen — aber der Mensch dazu fehlt," entgegnete ich, nicht min¬
der überrascht.
„Sollten ihn die Cabrioletpassagiere herausgelangt haben? Aber
davon nimmt der Eine drüben an der Haferfeldecke Hoffmann'sche
Tropfen, wie es scheint, um sich den Schrecken ans dem Leibe zu
treiben, und der Naturforscher sucht schon wieder nach seinem Buche,
kein Dritter ist zu sehen!"
„Am Ende ist der Badegast in aller Stille aufgeflogen. Him¬
melfahrtig genug sah er aus dazu. Oder hätte das Fräulein irgend
eine Kunde von seinem Schicksale?"
Die Dame saß bei der Dornenhecke und weinte. Auf unsere
Frage antwortete sie, weil ihr vor innerer Bewegung die Stimme
versagte, mit einem abwehrenden und verneinenden Wi-ekelt ihres Ta¬
schentuchs. Das Verschwinden glich der Zauberet und wir schüttelten
wahrhaftig die Pelze und Betten durch, als könnten nur den Ge¬
lähmten, in einen Däumling verwandelt, in der Tasche der Wolfs--
Schur entdecken.
„Meine Herren, wollten Sie mir jetzt wohl helfen das Pulver
wieder aufladen?" fragte der sanfte Heinrich mit beispiellos unbefan¬
gener Miene vom Verdecke herab.
„Ein Bündel Prügel wollen wir Dir aufladen, wenn Du Dich
unterstehst, drei Ceniner Pulver und sechs Reisende noch einmal auf
einem und demselben Wagen zusammen zu bringen !" war die ent¬
schiedene Meinung des Seminolenhäuptlings und mithin auch meine
unumstößliche Ansicht.
„Oho, das Pulver kann doch nicht im frischen Acker liegen
bleiben!"
„So rolle es die Elbe hinunter, dort wird es am Besten aufge¬
hoben sein."
„In Klappendorf will ich das Pulver zurücklassen, wenn Sie
das verlangen. Aber bis dorthin muß es noch mit." Der Kutscher
verstummte nach diesem Satze, denn ein Mann, der die Straße daher
geschritten kam, schien die Bitte um unsern Beistand zu erledigen, falls
sich der Wanderer irgend bewegen ließ, seine rüstigen Glieder gegen
ein Trinkgeld zum Hinaufreichen der Fässer herzuleihen. Seine Gestalt
war ganz dazu angethan, ihm eine tüchtige Kraftanstrengung zu ge¬
statten, nur war sein Anzug nicht der eines Tagelöhners und bei nä¬
herem Anschauen schien uns das Gesicht bekannt.
„Ist eS denn wahr, wie Sie riefen, daß alle Gefahr vorüber?"
fragte er schon von fern. Wir waren keiner Erwiederung fähig. Der
Töplitzer Badegast, in neuer verbesserter Auflage, schritt auf uns zu
und seine Lähmung schien auf uns übergegangen zu sein, in so star¬
rem Erstaunen standen wir.
„Wo in aller Welt kommen Sie her?" fragte Perglow.
Der Verzauberte zeigte auf ein Gebüsch am Berghange: „Dort
wartete ich den Hergang ab."
„Und wie gelangten Sie aus dem Wagen und dorthin?" ver¬
langte ich zu wissen, indem ich im Geiste den jetzigen Mann mit dem
vorherigen Todtengerippe verglich.
„Sie sehen ja, ich kann wieder gehen — nicht blos gehen, ich
kann sogar laufen, wie ich zu meinem eigenen Erstaunen bemerkte,
als ich vorhin in der Todesangst mit den Andern zugleich aus dem
Wagen gesprungen war. Ich lief schneller als Sie Alle. Soweit
war ich noch nicht einmal, bevor ich in's Bad reiste," fuhr er, sich
seelenvergnügt die Hände reibend, fort. „Nun sage mir noch Einer,
daß Töplitz nicht wohl thue."
Es ward uns wahrlich schwerer, an die Verwandlung des Man¬
nes zu glauben, als ihm selber.
Julie weinte noch immer, als wir den Wagen wieder bestiegen,
aus Rührung jetzt, wie sie sagte, über die wunderbare Genesung un¬
seres Reisegefährte!,. Und das Pulver mußte wirklich mit. Der sanfte
Heinrich hatte es durch Bitten und Beschwörungen durchgesetzt, daß
wir ihm die Mitnahme bis auf die nächste Einkehr gestatteten. Aber
ich habe heute noch den Verdacht, daß die Fässer selbst in Klappendorf
nicht zurückgeblieben sind. Unsere Stimmung hatte in feierlicher Weise
ausgehalten bis dorthin, wo wir zu Ehren des Ereignisses eine Flasche,
dann die zweite, endlich die dritte leerten, wobei wir uns der Theil¬
nahme des Badegast's und selbst Juliens zu erfreuen hatten. Der
sanfte Heinrich war inzwischen lange im Hofe und um den Wagen
beschäftigt, ohne daß wir ihn beaufsichtigten. Bei der Abfahrt lagen
allerdings die Fässer nicht mehr oben auf dein Gepäck. Aber höchst
wahrscheinlich unter demselben.
In Oschatz ward übernachtet, aber nur nahte kein Schlaf.
Die Welt war also doch so abenteuerlich und romantisch, wie
sie in der einsamen Schulzetle vor meiner glühenden Einbildung gele¬
gen! Ich hatte am ersten Tage meines Eintritts in dieselbe ein viel-
theureö Mädchen aus drohender Todesgefahr davon getragen — Julie
sagte es selbst und ich glaubte es dringend, trotz meiner bescheidenen
Ablehnungen — und der allgemeine Du-Comment der Studenten war
eine Wahrheit! O meine Mutter, meine Mutter! Wie begannen
Deine blutrothen und thränenschwerem Warnungen vor der goldenen
Sonne dieser prächtig lachenden Welt zu erbleichen. Auch die Mah¬
nungen des Vaters, wenigstens die, mich vor einer Liebschaft zu hüte»,
wäre» vergebeus gewesen. Nein, nicht vergebens, nur überflüssig.
Denn was mich zu Juliens holdem Herzen zog, war keine Liebschaft,
es war Verehrung, Anbetung, es war die Liebe selbst.
Auf der Fortsetzung der Reise am andern Tage waren wir Alle
etwas abgespannt, am wenigsten jedoch der weiland Gelähmte. Kör¬
perlich empfanden wir die Nachwehen des Schreckens in einer gewissen
Zerschlagenheit aller Glieder, geistig fühlten wir, daß sich unser Ge¬
schick gestern dermaßen in Außerordentlichen erschöpft habe, daß es
uns zunächst weiter nichts bieten konnte. Doch erneute jedes Lächeln
Juliens eine stille Ahnung unsäglichen Glücks in meinem Herzen.
Sie war mir auch heute noch für das dankbar, was sie ihre Ret¬
tung nannte.
Den Kulmberg hinter uns lassend, näherten wir uns dem Flach¬
lande der Pleißenebene, deren fruchtbaren Weizenboden alle Völker
Europa's mit dein Blute ihrer Krieger gedüngt haben. Es wäre ein
Wunder, wenn nicht wenigstens das Getreide üppig darnach wüchse,
da die Früchte anderer Saale», die über dem Leipziger Schlachtfelde
aufgehen sollten, desto armseliger ausgefallen sind. In Würzen erregte
damals eine unter großen örtlichen Schwierigkeiten aufgeführte Mulden¬
brücke das Erstaunen der Gegenwart in dem Grade, daß sie jeder
Fuchs zu Fuße überschritt, um sie desto ungehinderter zu bewundern.
Fünfzig oder sechzig plan- und hindernißvolle Jahre hatte es gewährt,
bevor der wichtige Wasserbau in'ö Werk gehest ward. Wie rasch aber
ist unser jüngstes Zeitalter gegen die Vergangenheit gehalten! Um
eine Straßenbrücke rang Würzen ein halbes Jahrhundert. Ein Lustrum
später baute ihm die Eisenbahnverwaltung binnen wenigen Monaten
noch eine zweite, viel ansehnlichere Brücke neben der alten über den
Strom. Wurzelt hat die Gelegenheit mit Eifer benutzt, sich selbst zu
entlaufen. Es ist nach Leipzig ausgewandert und hat an der Mulde
nur seine Ruinen zurückgelassen. Die Eisenbahnen steigern das Leben
lebenskräftiger Städte ins Unendliche. Absterbende Körper, denen sie
auf ihrem Wege begegnen, führen sie dem vollen Tod zu. Das ist
ihre Art.
In Borsdorf hatte jeder Fuchs die Verpflichtung, Sandkuchen zu
essen, durch deren Gepäck das Dorf in der Nähe so berühmt war, als
in der Ferne durch seine Aepfel. Ich erließ mir natürlich keine Weihe,
die den Studenten in mir vollenden konnte. Aus Ungeduld, Leipzig
zu erblicken, setzte ich mich dann zu Heinrich in die Schoßkelle.
„Wie weil ist's noch hin?"
„Ganz nahe. Sie sehen, ich kann schon mit der Peitsche darauf
weisen", bemerkte der Kutscher sehr zufrieden mit seinem Witze und
deutete auf einige Thürme, die in den blassen Horizont bläulich hin¬
einragten. Die Namen der zur Rechten und Linken liegenden Orte
wurden immer märchenhaft reizender und erinnerungsvertrauter. Ein
Schauplatz der Leipziger Studentenwelt, in Liedern gepriesen und
Stammbüchern verewigt, nach dem andern streckte sich an beiden Sei¬
ten des Weges aus. Mancher davon sah etwas schäbiger aus, als
meine Vorstellung von ihm. Endlich die „grüne Schenke", in dessen
Tanzboden sich ein Stück der Völkerschlacht festgesetzt hatte, welches
an blauen Montagen empfindlich spukte, besonders um Mitternacht.
Dann die „drei Mohren", auf deren Saale das Blut der Ebenbürti¬
gen nach den strengsten Ziegeln des Kampfes vergossen ward — die
braune Diele trank später auch ein paar Unzen des meinigen — dann
der „kleine Küchengarten". Aber es ist der große, an dessen Wand
Goethe die witzigen Verse geschrieben und wo er mit poetischem Wohl¬
geschmack fetten Ofterfladen gegessen. In letzterer Hinsicht zählt Leip¬
zig noch immer viele Goethe's, selbst im Schriftstellerverein.
Auf der grünen Schenke war Perglow von einem großen Hausen
von Seminolenkriegern empfangen worden i die lagen dort bei dein
böhmischen Biere, wie vordem die Werbeofsiziere im deutschen Reiche,
auf Rekrutirung, um neuankommende Füchse einzufangen. Alle Ver¬
bindungen hatten damals dergleichen Stationen an den Hauptstraßen,
um ihre Remonte nicht zu versäumen. Die Häuptlinge betrachteten
mich forschend von oben bis unten, boten mir aber brüderlich die Hand
und tranken mir zu.
„Sehr jung!" sagte der Eine, auf dessen Brustbande mindestens
ein Dutzend Scalpe erlegter Feinde angemerkt waren. „Kann aber
ein fixer Junge werden."
Die jüngern Krieger musterten streng mit, tranken mir aber nicht
zu, denn je weniger Sealve im Rauche ihrer Hütten bleichten, desto
stolzer gebehrdeten sie sich, und Zurückhaltung ist die erste Eigenschaft
eines hohen Selbstgefühls, welches nach Publicum ringt. Perglow
blieb bei den Tapfern zurück und mir ward vom Senior die Kneipe
gesagt, auf der ich zum Abende „einzuspringen" hätte. Ein etwas zu
lebhafter Ausdruck, wie mich dünkte, für das beklommene Eintreten ei¬
nes jungen Gefährten in den Kreis gefeierter Zeitgenossen.
Eine vortreffliche Wiikung brachte es hervor, daß ich gleich auch
nach .der Stunde fragte, wo wir den Fechtboden hätten. Perglow,
wahrscheinlich um die gute Meinung für einen Seminolen zu verstär¬
ken, den er der Verbindung zuführte, sprach darauf:
„Der Fuchs hat überhaupt ganz brave Intentionen und hat sich
auch auf dem Wege hierher sehr wacker mit einem Feuer gepaukt, wel¬
ches wir auf dem Wagen hatten. Ich werde Euch davon erzählen."
Als ich in den Wagen zurückkehrte, um mit demselben in die
Stadt einzufahren, dachte ich — undankbar gegen Perglow's Empfeh¬
lung — mit unwegleugnenbarer Genugthuung daran, daß er es ver¬
säumt, sich bei Fräulein Julie zu empfehlen. Sie bat, daß ich sie vom
Halteplatze des Kutschers in die „Laute" begleiten möge, wo sie ein
Wagen erwarten werde. Wer zweifelt an der Erfüllung dieses Gesuchs?
Das waren also die Mauern Leipzigs, durch die der Wagen als¬
bald schwankte. Ich wäre lieber vom Sitze aufgesprungen und hätte
die Steine betastet, um zu fühle», ob's wirkliche Leipziger Steine seien,
denn manchmal fürchtete ich wahrhaftig, daß ein rosiger Traum mei¬
ner Sehnsucht schmeichle und ich am Ende erwachen könnte in dem
kleinen Bautzener Stübchen, den Sophokles in der einen und das Rie-
mersche Lexikon in der andern Hand — eingeschlafen über einer drin¬
genden Schularbeit.
Aber das war doch eine leibhaftige schmale, langfingerige Hand
und sie fühlte sich viel seliger an, als alle Steine der Welt, die Hand,
die ich an meine klopfende Brust drückte.
„Ach, Julie, wie herrlich ist die Schöpfung und wie viel herrli¬
cher noch ist's, daß uns der liebe Gott mitten hineingesetzt in die
Schöpfung, in der es so lustig und groß hergeht!"
„Daß es uns Beiden vergönnt sei, das Beste in dieser Stadt zu
finden, was sie uns gewähren kann!" antwortete das Mädchen mit
einem ihrer tageshellsten Blicke.
„Das Beste — was wär's ohne die Liebe? Wir sind jung, Ju¬
lie, und unsere Aussichten auf Besitz erreichen nur in der entferntesten
Zukunft ein Ziel. Könnten Sie uneigennützig lieben, lieben auf nichts
hin, als eben auf die Liebe selbst? Die Philisterfeclen verargen es der
Jugend, wenn sie ihre Neigung verschenkt, ohne weitere Rücksicht auf
Lebensstellung und Vermögen!"
„Eine solche Philisterseele bin ich nicht!" betheuerte das Mädchen.
„Und das wollen Sie mir beweisen?"
„Ich hoffe, ja."
Meine Gedanken gingen unter in dem Meere von Wonne, in dem
ich schwamm. Ich blinzelte auf den Töplitzer hin, der etwas hart und
hölzern aus der Ecke hervorsaß, dann preßte ich die vorige Hand noch¬
mals und viel heftiger an mich und jauchzte: „Julie! Julie!"
Shakspeare hat wohl gewußt, mit welchem Namen er das Mäd¬
chen schmücken mußte, welches seinen Romeo liebt. Eine geniale Be¬
rechnung liegt noch der Meinung seiner weniger genialen Erklärer
selbst in der kleinsten seiner Wendungen. Der Inbegriff alles dessen,
was an einem Weibe reizend und liebenswürdig für den verlangenden
Jüngling sein kann, konnte nicht anders als Julie heißen.
Wir hielten am Hütel de Pologne, wo ich zunächst abtrat, bis
ich eine Wohnung nach den Vorschriften der Mutter gefunden haben
würde. Julie bestellte ihr Gepäck nach der „Laute." Einige Kleinig¬
keiten, die zu Mißverständnissen oder Nachlässigkeiten Anlaß geben konn¬
ten, nahmen wir gleich mit. Leider war die große Schachtel mit dem
neuen Hute dabei, ein Ding, gar nicht schwer, weshalb sein Umfang
desto unverschämter erscheinen mußte. Ich trug aber nicht blos die
Schachtel, sondern auch einen Reisemantel, ein Paar Filzschuhe —
die Tharanter Tante hatte auf ihrer Mitnahme bestanden — einen
Regenschirm, zwei Strickbeutel, eine Rolle von unbenannten Inhalt,
weshalb ich frecher Weise den Nachtanzug der Dame darin vermuthete,
ein Kästchen, worin eine Vase — trotz des ausgemalten Glases wollte
Julie der Sorgfalt der Hausknechte nicht trauen — einen Reisesack
und ein Etui mit Kämmen, Bürsten und Pomade. Den Gedanken,
daß die ganze Leichtigkeit zusammengenommen, schwer und der Weg,
trotz seiner Kürze, lang sei, verwarf ich als nichtswürdig. Nur daß
ich ein Bischen lächerlich aussah und um keinen Preis einem Scmino-
lenkrieger hätte begegnen mögen, verbarg ich mir nicht. Die Schach¬
tel, wenn ich sie vor die Brust nahm, bedeckte übrigens zu meinem
Troste zugleich mein Gesicht.
So brachte ich das Fräulein in die „Laute". Drei Häuser vor¬
her sagte sie mir, nun würd' ich bald erlöst sein. Ich lächelte, als
habe meine Beladung auch gar nichts zu bedeuten.
Gott bewahre jeden liebesbedürftigen Menschen vor solcher Erlö¬
sung! Wie ein Sturmstofi brach aus der ,,Laute" ein schlanker Gesell
in sehr hübscher Uniform, erfaßte Juliens Hände und wartete kaum
darauf, daß er das Mädchen in die Hausflur gezogen hatte, um ihr
mit Küssen und Umarmungen schier lebensgefährlich zu werden.
Ich setzte dabei langsam ab, was ich getragen, und legte endlich
auch meine Hoffnung auf Julien hinzu. Nie sah ein junger Semt-
nole niedergeschlagener und muthlofer aus als ich in jenem Augenblicke.
„Das ist Herr Adalbert!" sagte Julie endlich zudem unbändigen
Offizier, der gar nichts von mir und dem Gepäck wissen zu wollen
schien, vermuthlich weil er ahnte, er werde letzteres die Treppe hinauf
befördern müssen. „Student hier in Leipzig und mein sehr lieber Reise¬
gefährte von Dresden. Ich verdanke ihm eine ganze Reihe der ver¬
bindlichsten Dienste, sogar — "
Ich bitte unterthänig," unterbrach ich das Fräulein mit einer ent¬
schieden zurückweisenden Armbewegung gegen die Lebensrettung, die ich
jm Anzüge bemerkte. Hätt' ich gewußt, für wen ich die Kastanie aus
dem Feuer holte, raunte mir mein Groll zu, so hätte das Mädchen
mit dem ganzen Wagen verbrennen mögen, uieine Habseligkeiten voran.
„Und dies ist Herr Kurt von Ruhla, der ärmste Offizier, der je¬
mals von der Hoffnung auf seinen Degen lebte. Müssen wir warten,
bis er Hauptmann ist, so werden wir uns zwanzig Jahre geliebt haben,
ehe wir uns heirathen können. Bin ich also eine Philistersecle, oder
einer uneigennützigen und aufopfernden Neigung fähig, mein Freund?"
Das Beispiel bildete, meiner Meinung nach, gar keinen Gegenbe¬
weis. Der Haupteindruck der Scene war vielmehr der, daß ich mich
grenzenlos überflüssig in der „Laute" fühlte. Der Offizier behauptete,
daß ihm meine Bekanntschaft außerordentlich angenehm wäre, was ich
zu erwidern unterließ, um nicht noch ärger zu lügen. Doch zwang ich
mich, von Beiden mit leidlicher Höflichkeit Abschied zu nehmen. Vor
der Thür stand ein kleiner Wagen zu zwei Sitzen und einem Pferde;
die zwei Sitze waren auch eigentlich nur einer; auf dem sind sie höchst
wahrscheinlich miteinander nach Hause gefahren. Sie müssen sehr eng
gesessen haben.
Abends war ich auf der Kneipe der Seminolen, bevor noch irgend
ein Seminole dort war; aber nach und nach kamen sie. Ich befand
mich in einer so verbissenen Stimmung, daß sich die andern Füchse
kaum an mich herangetrauten. Die Leipziger Steine waren ächt, aber
die Hand war falsch gewesen, die ich gedrückt hatte!
Da erklang das Lied:
„Brüder, lagert Euch im Kreis?,
secht nach Eurer Väter Weise;
Leere die Gläser, schwenkt die Hüte,
Auf der deutschen Freiheit Wohl!"
und zwanzig Seminolenkehlen stimmten in den Chor. Nur ich schmollte
stumm in mich hinein und schwieg zu dem Liede. Als der Gesang vor¬
über war, klopfte Perglow mit dem Schläger auf den Tisch (er führte
den Vorsitz am untern Ende der Tafel) und rief:
„Der Fuchs Adalbert trinkt ein Glas z»r» puvu-U Er hat nicht
mitgesungen!"
Die übrigen Füchse beneideten mich so herzlich um dies Zeichen
schmeichelhafter Aufmerksamkeit von höherer Seite her, daß sie sämmt¬
lich mit uro poenil tranken, wenn auch kein ganzes Glas. Ueberhaupt
gewann ich unendlich dadurch an Ansehen, daß mich Perglow seiner
unausgesetzten Beachtung würdigte. Dann ward ein rascherer Chor
angeschlagen. Zu dem „propovi^"-Glase waren bald noch einige
andere „Thränen", wie der Student einen mäßigen Trunk nennt, ge¬
kommen und nach und nach vergaß ich den engen Sitz auf dem Ein¬
spänner. Ich muß später noch viel mehr vergessen haben, d. h. selbst
meine Wohnung im Hütel de Pologne. Denn als ich des andern
Morgens erwachte, lag ich, anstatt in meinem Zimmer, in einem dun¬
keln Alkoven, der wie eine Waffenkammer mit allerhand Säbel- und
Degenklingen ausgeschmückt war, inmitten welcher dicke Fechthandschuhe,
auch Pistolen und Paukhüte hingen. Betroffen richtete ich mich im
Bette empor; die Stubenthür stand offen und draußen, wo es Heller
Tag war, gewahrte ich die ritterliche Gestalt Perglow's, die dort
munter auf- und abging.
„Wo hab' ich denn geschlafen?" rief ich, mir die Augen reibend,
in'S Zimmer hinein.
„In meinem Bette, Fuchs. Es ist zehn Uhr und Du kannst auf¬
stehen. Ich habe das Frühstück bestellt."
„In Deinem Bette? Und du?"
„Auf dem Sopha. Du warst gestern etwas trunkfällig geworden,
als wir nach Hause gingen und wußtest nicht recht, wohin. Da nahm
ich Dich denn mit mir."
„Verzeih' mir, daß ich Dir lästig geworden bin. In Deinem
Bette! Du auf dem Sopha!" Die Herablassung des großen Häupt¬
lings rührte und entzückte mich, daß ich nur mit weicher, erschütterter
Stimme zu sprechen vermochte, ungefähr wie Ziethen aus dem Kupfer¬
stiche, wo ihm König Friedrich Is. seinen Besuch vor dem Bette macht.
„Es soll mir eine solche Rücksichtslosigkeit nicht wieder begegnen."
„Hat gar nichts zu bedeuten, da ich Dich ohnehin gestern zu
meinem Leibfuchs ausgewählt habe. Ich werde Dich selbst einschlagen."
Die Seminolen zählten keinen bessern Mann als Perglow, und
kein anderer Kriegerstamm der Universität hatte einen Helden seines
Gleichen aufzuweisen. Ich sein Leibfuchs! Damit stand ich auf dem
Gipfel akademischen Glücks. Fahr' wohl, Julie! Was war mir Deine
verrathene Liebe gegen die entgegengebrachte Freundschaft eines Perglow!
Als ich eine Stunde später mit ihm über den Marktplatz ging, war es
sehr wohlgethan von den Laternenpfählcn, daß sie niir auswichen. Mein
Stolz schritt zu straff vorwärts, um irgend einem lebendigen oder leb¬
losen Hindernisse aus dem Wege zu treten.
Drei Censoren sind in den letzten vier Wochen aus dem Leben
gestrichen worden: Rupprecht, Kuffner und Hohler. Wer wird ihre
Stellen ersetzen? Die deutschen Zeitungen meldeten unlängst aus der
preußischen Stadt Naumburg, daß sich dort nach dem Tode des Cen¬
sors kein Mann vorfand, der zu diesem Amte steh hergeben wollte.
In solche Verlegenheiten zu gerathen brauchen wir hier nicht zu fürch¬
ten. Wenn Baron Kübeck statt eines Urlebens von 20 Millionen
Gulden mit 20 Millionen Censoren sich begnügen könnte, die wären
in Oesterreich bald aufzutreiben. Es muß ein außerordentliches Be¬
wußtsein, eine eigenthümliche Lust gewähren, Censor zu sein; der Hof¬
rath Köhler z. B. (und Sie wissen, bei uns ist diese Stelle eine ganz
andere als die preußische Hofrätherei) bezieht als Hofrath der Salinen
ein Gehalt von 4000 Fi. C.-M. und als protestantischer Consistorial-
rath obendrein noch 700 Fi. C.-M. Und doch ist er nebenbei auch
noch Censor! Ist es glaublich, daß ein lediger Mann, bei sonstigem
Privatvermögen und einem so reichen Einkommen, für die Summe von
30« Fi. C.-M. (denn dies, höchstens 400 Fi. ist das jährliche Gehalt
eines Censors -) eine solche Verantwortlichkeit und eben nicht den Dank
der Bestgesinnten auf sich laden würde, wenn nicht eine besondere Passion
für das Censoramt das vorherrschende Motiv wäre? Die er¬
wähnten drei todten Censoren waren noch nicht beerdigt, und schon
lagen neun Bittgesuche im Einreichungsprotokolle der Polizeihofstelle,
darunter das des gesinnungs- und salbungsüberfließenden Redacteurs
des „Zuschauers", Herrn Ebersberg, ferner ein Gesuch des Statisti-
ters Becher; ein Gesuch des hochwürdigen Herrn Wilhelm Gärtner,
Verfassers eines eben erschienenen Trauerspiels: „Andreas Hofer", des
Doctors August Schilling, obligaten Bestngers des Grafen Dietrich¬
stein, seines Chefs u. s. w. Unter allen Diesen ist nicht Einer, den
das materielle Bedürfniß zur Concurrenz um die Censvrstelle zwingt!
Was die genannten drei Todten betrifft, so waren sie alle drei —
Schriftsteller; der schlechteste unter ihnen war Herr Johann Baptist
Rupprecht, der sich vom bankromirten Kaufmann zu dieser Stelle her¬
abgeschwungen hatte. Der fürstl. schwarzenbergische Rath T. E. Hohler
stand in der Mitte; er war es, der nach Hormayer in Gemeinschaft
mit Herrn v. Mühlfeld das „Archiv" redigirte und von dem Hormayer
das Witzwort sagte, das Archiv sei jetzt nur ein hohles Mühlengeklapper.
Der beste und ehrlichste unter den Dreien war der greise Official des
Staatsraths, Christoph Kuffner. Er hat mehrere nicht ganz werthlose
Stücke für die Bühne geschrieben lind ein recht brauchbares Werk nach
Art der Reisen des jüngern Anacharsis unter dem Titel: „Artemidor
im Reiche der Römer." Zweimal war er auf dem Wege, im Schlepp¬
tau eines Genies in die Unsterblichkeit mit hinein geschleift zu werden.
Er hat nämlich zwei Cantaten geschrieben, die eine für Mozart, die
andere für Beethoven; aber beide Meister überraschte der Tod während
der Composition. Welch' ein eigenthümlicher Unstern des Poeten! —
Hohler und Kuffner wußten übrigens durch Einsicht und Billigkeits¬
gefühl mit ihrer Stellung theilweise zu versöhnen; sie hatten aber auch
nicht im besondern Grade das Vertrauen der Censurhofstelle und wenn
man einen Schriftsteller besonders ins Auge fassen zu müssen glaubte,
erhielt Rupprecht oder Hofrath Gärtner die Censur.
Das vielfach besprochene Censur-Collegium soll denn doch dem¬
nächst in's Leben treten; jedes der Hauptdikasterien: Hvfkammer, Hof¬
kriegsrath, Regierung u. s. w. wird einen Mann als Contingent in
das Collegium stellen. Bis jetzt fand die Realisirung nur in dem
Umstände ein Hinderniß, daß man sich über das Local nicht vereinigen
konnte, indem die Herren, welche das Collegium construiren, erklärten, daß
sie ihre Sitzungen durchaus nicht im Gebäude der Polizeihofftelle halten
wollten, indem sie die leider in Oesterreich zu spät erkannte Gesinnung
leitet, daß die Wissenschaft und die Literatur nicht in den Beruf der Polizei
gehören; nur ist zu befürchten, daß diefeJfolirung eben nur eine äußerliche
sein werde, indem der Polizeidirector von Brünn, Hr. v. Haasenöhrl, zum
Leiter des Censur-Collegiums designirt ist, ein Mann, der wohlwollend,
aber ohne höhere ltterarische Bildung ist und sein ganzes Wissen ein
durch Routine lückenhaft angepaßtes ist. Im Ganzen glaubt man, daß
es wenigstens mittelbar dem Präsidenten der Polizei subordinire bleiben
wird. Die ganze Maßregel, wenn ihr nicht andere Principien zu Grunde
gelegt werden, dürfte auf die Versorgung einiger neuen Beamten hin¬
auslaufen und im Ganzen nichts bessern. So viel ist gewiß, daß der
jetzige Zustand bis zur Unerträglichkeit und, was noch schlimmer ist,
zur Lächerlichkeit herangediehen ist. Jeder der Censurbeamten selbst ist
davon durchdrungen, aber alle zusammen verfolgen consequent das ob-
scurante Princip und es ist da umgekehrt der Fall, was Grillparzer
vom Publicum sagt: „Stellt zehn Dummköpfe nebeneinander und laßt
sie ein Publicum bilden, so fährt der Gott in sie." Hier heißt es:
Stellt zehn geschridte Männer zusammen und laßt sie die Censur bilden
so fährt der Gott aus ihnen. Nicht das Censurgcsetz, so schlimm und
drückend dieses ist, ist es, welches manche gesinnungsvolle Aeußerung,
manche patriotische Meinung unterdrückt, aber die Willkür, die Be¬
schränktheit, endlich die politische Charakterlosigkeit ver Censoren sind
eS, welche den Ruhigsten empören. Ein glänzendes Beispiel des Wi¬
derspruchs erlebte man dieser Tage bei der Aufführung des Bauernfeld'-
schen Lustspieles: „Großjährig", welches das bis jetzt Unerhörte, eine
politische Satyre, auf dem Hofburgtheater zur Anhörung brachte und
ohne eigentliche Erfindung, ohne Situationswitz eine Wirkung hervor¬
brachte, wie sie hier noch kaum erlebt wurde, und wie sie mit diesen
Mitteln hervorzurufen noch Keiner gewagt hat. Merkwürdig ist es,
daß der Censur die Bedeutung des Stückes nicht entging, denn sie soll
den Autor aufgefordert haben, dafür zu sorgen, daß die Journale die¬
selbe nicht näher bezeichnen und herausheben. Während diese klägliche
Berichte oder gar keine bringen, jubelt das Publicum fortgesetzt dem
Stücke in gedrängten Massen zu. Wo steckt da die Klugheit? Wie
traurig es unter solchen Umständen mit unserer Journalistik aussehen
muß, ist leicht zu erachten. Wenn schon die Anzeige eines Stückes,
das auf den Brettern des Hofburgtheaters vorüberzieht, scheelsüchtig
überwacht wird, wie soll es da möglich sein, ein Wort über die Er¬
eignisse auf der politischen Bühne durchzubringen? Alle unsere Blätter
sehen wie ungeschmalzter Mehlbrei aus, mit dem man die Kinder
füttert, und einen wahrha/t komischen Eindruck macht es, wenn dann
Plötzlich der österreichische Beobachter mit einem inhaltsschweren Artikel
(wie die Motivirung der Einverleibung Krakau's) hervortritt; man
hält sich den Kopf, man sieht verdutzt einander an. Wie? sind wir es,
zu denen man spricht? sind wir die Leute, bei denen man voraussetzt,
daß sie eine Ahnung von derlei Dingen haben können? Wir, mit de¬
nen unsere Journale stets nur !).-> — l».l, !, — <?, l>«, K —i, bi
sprechen? Wir Kinder mit dem Fallhäubchen auf dem Kopfe sollen
plötzlich diese Sprache reifer Männer verstehen? Wir sind also keine
Kinder mehr? wir dürfen also schon einen Hut tragen und Cigarren
rauchen und Billard spielen? Warum aber müssen wir noch immer
diesen verfluchten Semmelbrei tagtäglich in unsern Journalen genießen?
Haben wir schon Zähne oder nicht? Entweder — oder!
Daß man in einer Zeit, wie die jetzige, wo die Regierung das
Vertrauen der Nation so sehr nöthig hat und auch bei einiger Offen¬
heit sicher darauf rechnen kann, in einer Ze,t, in welcher manche trübe
Zeichen am Himmel stehen und der gegenseitige innige Anschluß zwi¬
schen Negierung und Volk das sicherste Mittel ist zur Besiegung des er¬
schütterten Credits und der bangen Erwartungen bedrohlicher Conflicte
nach außen wie nach innen (in Galizien); daß man in einer solchen Zeit
die Fesseln der Presse nicht wenigstens einigermaßen lüftet und ihr
wenigstens nach einigen Seiten hin die Besprechung der Landesinter¬
essen gestattet, sieht wie Mangel an Vertrauen zu sich selbst aus, und
daß es so aussieht, muß der Regierung mehr schaden als Alles, womit
eine mäßige Preßbewegung ihr schaden könnte. Mäßige Preßbewegung!
Die deutschen Leser spötteln wahrscheinlich über den beschränkten, knaben¬
haften Oesterreicher, der nur etwas Butter auf sein Brod und nicht
sogleich eine volle Mahlzeit anstrebt; aber Ihr müßt hungern wie wir,
um zu begreifen, wie nothwendig uns vor Allem die Erlösung von die¬
sem ewigen Wasser und Brod ist, zu welchem eines der redlichsten,
treuesten und ruhigsten Völker der Welt in seiner ganzen Gedankenwelt
verurtheilt ist, als hätte es Gott weiß wie viele Verbrechen begangen,
wie viele Revolutionen gemacht!
Eine Novelle von Baron von Sternberg, „Sibvlle" genannt, er¬
öffnet die diesjährige Urania. Der Baron und die Gräfin (Hahn)
sind sich in gleichem Zweck und Namen begegnet, um ein eigenthümlich
Frauenbild zum Mittelpunkte einer Novelle zu machen. Glücklicher¬
weise hat sich Herr von Sternberg kürzer gefaßt. Langer Athem ist
überhaupt nicht seine Sache, er hält allmälig die Composition für eine
Unart. Wozu die Kleidung, wozu die Gruppe, wozu der Farbenwechsel,
wozu die Bewegung? Man zeichne eine nackte Figur. Sie versinnlicht
die Idee, allenfalls auch nur die launische Seite einer Idee: die Marotte.
Ist es vielleicht ein tiefes Merkmal sterbender Aristokratie, daß
ihre belletristischen Schriftsteller so tiefe Abneigung haben vor Compo¬
sition, oder so deutliche Unfähigkeit für dieselbe? Composition ist ja
wirklich eine Mischung; Mischung ist fatal. Da macht jedes einzelne
Wesen, jeder beiläufige Vorfall Anspruch aus weitere Beachtung, An¬
spruch auf Conseguenzen. Man verliert das Seigneur-Recht; die er¬
richtete Verwicklung bringt die ihr inwohnenden eignen Rechte mit sich;
sie verlangt eine lästige Aufmerksamkeit nach zehn verschiedenen Seiten;
sie wächst uns zu Kopf: es ist eine konstitutionelle Wirthschaft, die
unserm Naturel nicht zusagt, die unsere geistreich vorgefaßte Idee nur
stört; wozu das?
Gräfin Hahn hat noch mehr Herrschersinn, sie nöthigt doch man¬
cherlei heran an die von ihr errichtete Stange. So kommt mehr Ein¬
heit in ihre Bücher und sie werden länger, aber innerlichst ist ihr ästhe¬
tisches Princip ziemlich dasselbe, wie das Sternberg'S: aus Apercus
Novellen und Romane zu machen. Diese ästhetische Armuth begegnet
-einer ganz verwandten bei den Schriftstellern, welche um jeden Preis
demokratisch sein wollen. Sie schreiben ebenfalls Novellen zum Be¬
weise für eine Idee und mögen sich den Beweis nicht erschweren durch
Zulassung einer sich frei begründenden Form. Was Form! Das ist
ein Rest des Aristokratismus, der uns um den einzig nöthigen Inhalt
betrügen will. Das ist eine Spielerei, unwürdig unserer edlen Zwecke!
Das istLuruö und — setzen Manche hinzu — das ist überhaupt nicht
deutsch, sondern französisch. Die auf- und niedersteigende Bewegung,
welche Charaktere und Ideen einer Novelle für unsere Theilnahme er>
regt, nennen sie ein für alle Mal Intrigue, und da dies ein fremdes
garstiges Wort mit garstiger Nebenbedeutung ist, so rufen sie: „Fort
damit!" und bestärken sich in einer Einseitigkeit, welche nimmermehr
Kunstwerke zu Stande bringt.
In solchem Punkte der Verneinung begegnen sich jetzt schon in
unserer schönen Literatur die Ertreme, welche nur bemerken und aus¬
sprechen, nicht aber schaffen wollen, welche nicht einen Organismus er¬
richten, sondern nur ein Gelüst oder einen Befehl in novellistischer Form
ausdrücken wollen.
Sternberg hat sich übrigens in der Idee seiner „Sibylle" eine Auf¬
gabe gestellt, die ganz interessant ist und seinem, die Geldangelegenheit
und das Rechnen sonst verachtenden Wesen gar nicht leicht geworden
sein mag. Seine Sibylle kann vollkommen kaufmännisch rechnen und
verlangt von ihrem Bräutigam in Behandlung der Finanzen die erac-
teste Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit. Ja, sie gibt ihm den Ab¬
schied, als er in diesem Finanzeramen nicht besteht, obwohl sie ihn
liebt. Dies Thema nicht nur im Charakter des Mädchens zu begrün¬
den, sondern durch die mannichfaltigen Vorgänge des Lebens durchzu¬
führen, wäre sicherlich recht sehr lohnend gewesen. Wir sind auch auf
eine solche Durchführung gefaßt, denn wir ahnen wohl, daß Sibylle
in der Unordnung ihres Liebhabers nur ein verderbliches Symptom
bekämpfen will, und wir sehen wohl, daß in ihrer romantischen, das
Geldwesen verachtenden Freundin ein Gegenbild angelegt ist, welches
in anderer Weise zum Untergange geführt werden soll; aber wie wer¬
den wir getäuscht! Diese bloße Erposition ist die ganze Novelle. Was
Entwicklung! was Ineinandergreifen! Wo die Entwicklung beginnen
soll, da kommt eil, Strich und hinter dem Striche sind wir über die
zwanzig Jahre, welche wir erleben wollten, hinweggeschleudert und das,^
was wir geschehen sehen wollten, das ist geschehen und wird uns als
Chronik beiläufig und ziemlich ungeschickt mitgetheilt, mit der Notiz
werden wir abgespeist, mit den kargen Procenten eines vollständigen
Erzählungs - Bankerutts.
Die zweite Erzählung, von Therese, heißt „In tert ater" blos dar¬
um, weil die Heldin, natürlich eine durch mangelhafte Ehe unglückliche,
sanfte Dame, sich in Jnterlaken aufhält. Das gibt Gelegenheit zu
den kleinen Naturgemälden mit Wasserfarben, welche wohl Frauen inter-
essiren mögen. Man hat sich in letzter Zeit gestritten, ob diese schrift-
stellernde Dame Therese berühmt sei oder nicht. Ich für meine Person
habe die letzten Bücher derselben nicht mehr gelesen. Eine liebens¬
würdige, anmuthige Bildung anerkennend fand ich d»es diese Schriften
gar zu eintönig und gestaltlos, vor allen Dingen zu marklos, schwam¬
mige Körperchen ohne Knochen. Das kaum merkliche Leben, welches
die zarten Gliederchen zu bewegen schien, gemahnte mich durchaus an
die künstliche Lebenslust, welche durch chemische Apparate erzeugt wer¬
den mag. Hier war es die destillirte Leidens- und Freudenlust für
Frauen, welche in der couranten heutigen Bildung gewonnen worden
ist und welche nun doch ohne starkes Naturel der Schriftstellerin nicht
im Stande ist, dürftige Erfindungen mit dem Scheine des lebendigen
Lebens auszurüsten. — Diese Erzählung „Jnterlaken", an welche ich
deshalb ohne Neigung ging, erschien mir besser; wahrscheinlich, weil
sie kürzer ist. Eigentlich ist es doch dieselbe schwächliche Frauenwelt,
welche uns innerlichst niederbeugt. Stubenluft, aus welcher uns der
Vogel im Bauer endlos entgegenzirpt: vom Stuhl auf's Sopha, vom
Sopl)a auf den Stuhl! Das Leben, dessen Pulse wir in den literari¬
schen Schöpfungen spüren wollen, ist eben noch etwas ganz Anderes,
und jedenfalls etwas viel Stärkeres, als eine milde Dame der Gesell¬
schaftswelt erfährt, wenn sie nicht mit vollen Gaben der Combination
und des Talentes versehen ist.
„Jmagina" von K. Gutzkow, die dritte Erzählung, ist ein Capriccio,
daS mit guter Laune geschrieben, künstlerisch sorgfältig angelegt und
ausgeführt ist. Eben deshalb bietet es uns Gelegenheit zu der Be¬
hauptung, daß die künstlerische Form vor einem Gebrechen nicht retten
kann, welches im Kerne des Inhalts liegt. Ein träumerisches Mäd¬
chen verwechselt und verflicht die Mährchenwelt ihrer Phantasie mit
der wirklichen Welt und handelt demgemäß. ES wäre zur Zeit der
Romantiker unbedenklich hingenommen worden, für unsern heutigen re¬
aleren Geschmack streift es an das Forcirte. Gutzkow hat das wohl
auch empfunden und hat im Grunde dafür gesorgt, daß diese Jmagina
um kein Haar anders handeln würde ohne das ganz besondere Mähr-
chen, welches als maßgebend für sie eingeführt wird. Aber er hat
nicht auch eine Ehegeschichte n ur Gräfin Hahn und Therese geben
wollen, und eine solche wäre es ohne die Mährchenzuthat geworden;
und so hat er zur Bereicherung und zur Auswahl mit der Mährchen-
zuthat ein Uebriges thun wollen. Der Leser wählt aber nicht also,
sondern er sagt: Hier sind Flügel angeheftet, das Ganze ist zu einem
Vogel gemacht worden, und doch sind mehrere gewöhnliche Beine an¬
gebracht! Die Reinheit der Form wird zwar auch einige Male durch
journalistische Wendungen, wie „Entweder-Oder-Zeitung" getrübt, aber
das Heitere und satyrische der Nebenfiguren und Nebcnscenen, welche
sich zum Vortheil der Lectüre ausbreiten, ist sehr gut geschrieben.
Auch die vierte Erzählung „die Niccarees" von Gerstäcker, nöthigt
zu einer weitern Erklärung, daß mit Bilden und Einhalten der Form
nicht Alles gethan sei. Die Form muß auch voll sein. Gerstäcker's
Talent bildet sich sehr rasch, aber die Naschheit ist zugleich seine Ge¬
fahr. Drang und Spannung sind der Erzählung gewiß nöthig, aber
sie dürfen nichts Aeußerliches und Mechanisches verbleiben, so daß
man nur athemlos darauf zustürzt lind nie mehr das Verlangen hat,
darauf zurückzukommen, nachdem man sie einmal überwunden hat. Da¬
gegen hat die deutsche Art, welche allerdings meist aus Mangel an
Talent und Thatkraft entspringt, dagegen hat sie Recht, indem sie die
Breite der leeren Spitze vorzieht, indem sie gedanklichen Inhalt immer
noch höher hält als leeren Reiz. Inhalt der Charaktere und Hand¬
lung zu begründen und mit diesem Gepäck die interessanten Wege des
Erzählens zu suchen, das ist ein Motto, welches einem frischen Muthe
und Talente, wie Gerstäcker's, zu tüchtigen Erfolgen dienen kann.
In der vorliegenden Erzählung hat er ein starkes Thema verpufft,
weil er nur skizzirt und sich nur auf deu Drang des Ereignisses ver¬
lassen hat. Das Thema ist die Sklaverei in Amerika, welche durch
einen Kaufbrief auch eine freie Indianerin umschlingen und erdrosseln
kann. Das'Thema wird freilich immer etwas Mißliches behalten für
den Roman, wie stark es auf den ersten Anblick erscheinen mag. Die
äußerlich nach den Landesgesetzen berechtigte Sklaverei ist etwas so
Gröbliches, und Rohes und bietet so freche Gegensätze, daß sie für die
Kunst nicht eben ein günstiger Vorwurf ist. Und die erheblicheren
Rechte über einen Sklaven, wie hier durch falschen Kaufbrief, bieten
noch schneidendere, die Menschlichkeit noch tiefer zerrende Verhältnisse.
Zu schrecken und zu quälen ist ja nicht Ziel der Kunst, wenn der
Schrecken unzertrennlich ist von der Qual, und wenn man nicht zu
blos philanthropischen Zwecken die Kunst hergeben will. Viel ergie¬
biger ist es, der Sklaverei in europäischen Verhältnissen nachzugehen
auf den feinen Wendungen und unbetretener Wegen der Erzählung,
welche in den Seelenzustünden ihre Motive holt zur Geltung. Hier
sind Gegensätze vorhanden von ungeahnter und tief innerlicher Kraft.
Man betrachte nur die einfachste bürgerliche Herrschaft, welche für ein
Paar Thaler Lohn und unerschütterlichen Herrenstolz alle ersinnliche
Vollkommenheit verlangt von ihren Dienstboten, leibliche, technische und
moralische Vollkommenheit für vollkommenen Undank.. . .
Auerbach'S „Frau Professorin" ist eine nicht fehlerfreie, aber
doch sehr wohlthuende Erzählung und bei weitem der beste Theil dieses
Taschenbuchs. Lassen wir uns doch ja nicht die Gaben einer so schö¬
nen Natur, wie Auerbach'S, dadurch verleiden, daß die unvermeidlichen
Neider unsere Ohren anfüllen mit all der Splitterrichterei, welche nie¬
mals ausbleibt, wo große Erfolge die Mißgunst zu ästhetischen Cri-
minal-Untersuchungen stacheln. Auerbach'S großer Erfolg mit den Dorf¬
geschichten ist uns Allen, die wir auf andern Bahnen wandeln, ein
sehr 'wohlthätiges Ereigniß gewesen. Die Mahnung: es ruhe in un¬
serer einfachsten Heimathöwelt, es walte in ven unscheinbarsten Bewe¬
gungen unseres Menschenthums, es klopfe in der anspruchslosesten
Darstellung dieser Hcimathswelt und dieses Menschenthums eine rüh¬
rende und erhebende Kraft, diese Mahnung haben wir ihm zu verdan¬
ken. Und nicht blos die Mahnung, auch eine tiefe Wirkung derselben.
Unsere Lesewelt ist am gesunden Quellwasser wieder gekräftigt worden
zu einfachem Genusse, und Mancher von uns hat sich in der Stille
eingestanden: Ja wohl, solche gesammelte Kraft der Einfachheit ist
mehr werth, als die zusammengehäufte Wirkung der hundertfältiger
Mannichfaltigkeit, welche des natürlichen Dranges und der natürlichen
Wahrheit entbehrt.
Seien wir nun nicht undankbar, daß wir in einem Athem für
Erquickung danken und dem gewonnenen Tränke vorwerfen: er steigere
sich nicht an Kraft und Wohlgeschmack durch Composttion. Einer
kann nicht Alles. Wenn Auerbach nicht componiren kann, so kann er
doch erzählen, wie Keiner von uns, erzählen in lieblicher, vaterländi¬
scher Weise, in rührender, poetischer Weise. Drängen wir ihn nicht
zu einer Vervollkommnung, welche vielleicht nicht vereinbar ist mit sei¬
nem Naturel. Es ist mir fast wahrscheinlich, daß er einen Theil sei¬
ner edelsten Eigenschaften beschädigen würde, wenn er durchaus den
Forderungen einer ausgebildeten Technik nachtrachten wollte. Ich sehe
wenigstens noch keine deutliche Vermittelung zwischen seinem tiefen
Schilderungsvermögen und den Triebfedern der Verknüpfung und Be¬
wegung, welche den vollen Roman in lebendigen Umschwung setzen.
Er ist der lyrischen Betrachtung viel näher als der dramatischen Be-
wegung, welche letztere heutiges Tages die epische Kunst ergriffen und
zu einer neuen drangvollen Form gebildet hat.
„Des Wildschützen Sohn" in dem „Deutschen Jugendkalender
für 1847", eine mit stoßweis eintretendenBegebenheiten belebte,das Wald¬
leben prächtig schildernde Symphonie, ist ganz und gar Auerbach's ly¬
rische Erzählung, welche noch weiter als die „Frau Professorin" zu¬
rückweicht, fast scheu zurückweicht vor der dramatischen Romanknüpfung,
so wie eine schüchterne Jungfrau dem vollständigen und folgerichtigen
Gespräche ausweicht.
Theoretisch weiß Auerbach ganz genau, was gemeint und von
ihm gefordert wird, denn obwohl mit' einem starken Naturel ausgerü¬
stet, ist er doch nichts weniger als Naturalist. Im Gegentheil, er hat
eine so feine ästhetische Bildung, daß sich die künstlichsten Aesthetiker
bei ihm Rathes erholen könnten. Aber Wissen und Empfinden ist et¬
was anderes als Bewerkstelligen. So tüchtig seine Bücher außerhalb
des Jdylleubereichs sind, so sorgfältig ausgedacht, überlegt und aus¬
geführt sein „Spinoza", sein „Dichter und Kaufmann" ist, so unver-
hältnißmäßig schwach, weil reizlos, sind sie neben den Idyllen. Die
Bildung hat sie geschrieben, nicht das Talent. Sein Talent erwacht
immer erst und setzt sich in Thätigkeit, wenn er den Boden seiner Land¬
leute betritt, wenn er die Verhältnisse deö einfachen, natürlichen Lebens
berührt. Die Sage vom Niesen Antäus, welcher nur volle Kraft hatte,
so lange er wenigstens mit der -Fußspitze die Erde berührte, scheint für
Auerbach erfunden zu sein. Ja das geht so weit, daß ein neues Buch
von ihm „Schrift und Volk, Grundzüge dervolksthümlichen Literatur,,
angeschlossen an eine Charakteristik I. P. Hebels", in diese Bedingun¬
gen der großem oder geringern Macht Auerbach's einzureihen ist, ob¬
wohl es Betrachtungen, Untersuchungen, Theoreme und Systeme und
keineswegs eine Novellen- oder Romanform bietet. Es enthält vortreffliche
Grundzüge, fein gesehene und empfundene Bemerkungen, und in allen
Theilen die gesundeste und tüchtigste Aesthetik. Zu einem einzelnen Belege
will ich nur einen Schluß des ersten Abschnitts wörtlich anführen:
„Es giebt viele politische und socialistische Rigoristen, die die
Forderung stellen und sie auf Beweise zu stützen trachten, daß in dem
großen Processe der Gegenwart auch die Kunst in die Gantmasse
kommen müsse, da heißt es: Ihr sollt und könnt uns keine in sich
ruhende Gestaltungen der Kunst liefern, mitten aus dieser ruhelosen,
chaotischen oder mißgestalteten Zeit. Ihr müßt heraus aus dem Poe-
tmwinkel, in dem Ihr Euch eine Welt zurecht macht. Es kann kein
Kunstwerk mehr geben, das in sich selbst seine Erfüllung hat, der
Befreiung des Menschendaseins muß auch die Kunst zum Opfer ge¬
bracht werden."
„Die Kunst," entgegnet Auerbach schlagend, „soll der Befreiung
des Lebens geopfert werden und sie ist doch eine der höchsten Erfül¬
lungen des befreiten Lebens I Es soll hier etwas als Mittel aufge¬
braucht werden, was wieder als Endzweck zu erobern wäre. Ist die
Freiheit Gesundheit, so ist die Füllung und Entfaltung der Gesundheit
die Schönheit nach allen ihren Seiten."
Von solchen Belegen eines vollkommen durchgebildeten ästhetischen
Sinnes strotzt das Buch in all seinen Theilen. Es entwickelt ferner
die gründliche philosophische Bildung, deren Auerbach mächtig ist, es
ist ein ganz und gar willkommenes, gut geschriebenes, liebenswürdiges
und richtiges Buch. Und doch entwickelt es kaum einen Schatten
von der Macht, welche der Jdylleudichter Berthold Auerbach entwic¬
kelt. Dies ist ein scheinbarer Widerspruch, denn es bespricht ja Boden
und Leben seiner Jdvllenheimath. Nur ein scheinbarer! Es bespricht
ihn nur, es betrachtet ihn nur; der Autor steht hier nicht auf diesem
Boden, er erzählt nicht. Wäre dies ein so großer Unterschied? Ja
wohl! Es fällt uns nicht ein, vom Schwarzwülder Landmann die
Einsicht in städtische und staatliche Verhältnisse zu heischen, wenn dieser
Landmann im Rahmen der Novelle sich äußert. Tritt aber dieser
Landmann aus dem Nahmen heraus und entwickelt er uns innerhalb
unserer Formen und Lebenskreise eine unerwartete höhere Bildung, so
verlangen wir auf der Stelle, daß sich diese Entwicklung in all der
Schärfe und consequenten Form bewege, welche ihr nöthig ist zum
schlagenden Siege. Eine Weile lassen wir uns den harmlosen behag¬
lichen Ton auch für solch ein Thema gefallen, eine Weile interessirt
er uns als ungewöhnlich, aber bald verschwindet uns die Persönlich¬
keit vor dem stärkeren Inhalte, und der Inhalt drängt uns das Be¬
dürfniß auf: schärfere Einschnitte, kategorische Folgerungen zu hören.
Aehnlich, wenn auch nicht ganz so, denn Auerbach vertritt ja
nur durch sein Talent den Landmann, verhält es sich mit unserm
Verfasser in diesem Buche. Die Anknüpfung an Hebel scheint uns
Anfangs besonders glücklich, weil sie uns den geliebten Autor an der
Hand seiner lebendigen Heimathswelt in das theoretische Gebiet ein¬
führt. Aber bald stört uns dieser Anhalt, weil er den Autor sichtlich
hindert, sich in strenger Folge frei auszubreiten nach allen nothwen-
tigem Seiten, weil er eine Systematik beeinträchtigt, welche wir in¬
nerhalb der einmal vorgezogenen Linien verlangen, weil in solcher
immerhin gehaltvollen und oft geistvollen Betrachtung die entscheidende
Schärfe fehlt. Dieser Mangel des scharfen Dranges schwächt uns
den eigenen Drang nach Beendigung der Lectüre, weil unser Geist
wittert, daß wir keinen festen Weg zum Ziele, und kein festes Ziel
vor uns haben.
Soll ich mit diesem klagenden Lobe den nahe liegenden Uebergang
suchen zur „Frau Professorin," welche den reizenden Idylliker in die
Stadt lockt? Denn die Stadt ist ja ebenfalls nicht sein Grund und
Boden, und die Personen und Zustände derselben werden gedacht und
nicht erlebt, werden eher grell als wahr erscheinen, ja, die sorgfältigste
Figur, der Collaborator, bleibt ein sogenanntes Avstractum, welches
geistreich erfunden und von Stufe zu Stufe, von Gegensatz zu Gegen¬
satz geführt, aber nicht wirklich belebt ist.
Nein, in solcher einseitigen Betrachtung geschähe dem Autor
durchaus Unrecht. Jedermann sucht sich zu ergänzen nach den Seiten
hin, für welche ihn die Anlage schwächer ausgerüstet hat. Es ist ja
gerade des größten Lobes werth, daß Auerbach den Boden seines
starken Talentes so tapfer zu erweitern sucht, daß er uns in seinem
„Schrift und Volk" an die Gedankenwelt seiner Formen, daß er uns
in der „Frau Professorin" an den Gegensatz seiner Jdyllenwelt führt,
an die steifen Pfähle und Menschen der kleinen Residenzstadt. Jeden¬
falls hat er den letzten Zweck dieses Unternehmens vortrefflich erreicht
und mit diesem Gegensatze eine durchgeführte Poesie seines „Lorle"
gewonnen, welches zu seinen schönsten Schöpfungen gehört. In dieser
blos biographischen Aufgabe hat er für dies Lorle eine hinreißende
Meisterschaft bewährt, ja Lorle ist vielleicht das vollkommenste Por¬
trait, welches er bisher ausgeführt hat lind in dieser Vollkommenheit
allein hinreichend, ihm ein unvergängliches Lob des Poeten zu sichern.
Seien all die mitspielenden Figuren für den strengsten Kritiker auch
nur zur Füllung und zum Wiederscheine vorhanden, weil sie nicht tie¬
fer und länger in die Entwickelung des Ganzen eingreifen, sei dieser
meisterhaft gezeichnete Wadeleswirth, dieser so reizend angehauchte
Wendelin, ja selbst dieser richtig gedachte Malergatte Reinhold für
die höchsten Forderungen an ein durchgearbeitetes Gemälde dem Ma--
lerausdrucke nach nur „Staffage" — erfüllen sie nicht für die darzu¬
stellende Lebensgeschichte Lorles ihre Aufgabe? Wird nicht Lorle ein
unvergeßliches Meisterstück? Wie kraftvoll und bezaubernd lebendig
ist sie in ihrer Dorfheimath, wie wahr in allen Zügen, als sie an
dem Stadtleben erkrankt, wie unbeschreiblich rührend, ja tragisch groß,
als sie den Entschluß des ewigen Abschiedes faßt und wirklich schei¬
det! Wer hierbei nicht von der edelsten Rührung übermannt wird,
für den ist keine poetische Wirkung vorhanden, und hätte Auerbach
nichts weiter geleistet, als die Schöpfung dieses Mädchens, wir wären
ihm zu dein wärmsten Danke verpflichtet.
Möge man's ja nicht mißverstehen, daß Ich nur unter so man¬
nigfaltigen Einschränkungen zu großen: Preise unseres neuesten schwä¬
bischen Dichters gelange. Diese Einschränkungen sind nicht zur Stütze
des Tadels, sondern zur Stütze deö Lobes erwähnt. Ich will aus¬
drücken, daß unser liebenswürdiger Schwarzwälder auch in Diesem und
Jenem gar wohl bewandert und tüchtig und vor allen Dingen selbst¬
ständig ist, daß aber all diese Tüchtigkeit gering erscheint neben seinem
Talente der idyllischen Erzählung. Dies Talent ist unübertroffen, ja
einzig in unserer Literatur, und es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit,
dies nicht nur mit vollem Schalle zu preisen vor dem Publikum, son¬
dern es auch vor dem Autor selbst zu preisen auf Kosten aller andern
Fähigkeiten, welche er sich angeeignet. Er selbst soll keinen Augenblick
zweifeln — und dieser Zweifel begegnet doch jedem Talente! — ob
das Angeeignete höher zu achten sei denn das Geschenk des Genius,
und die Neidischen und die platt nützlichen Schwätzer sollen keinen Au¬
genblick aufkommen mit dem hohlen Irrthume, eine Dorfgeschichte sei
doch ein dürftiges Ding und nicht geeignet, ein ganzes literarisches
Leben auszufüllen. Jede gute Geschichte, die allerkleinste im Rahmen,
füllt und verwerthet ein ganzes Leben. Auerbach möge sich ja nicht
irren lassen und möge mich selber anklagen, der ich früher auch zu wieder¬
holten Malen ihm davon gesprochen, seine Stoffe und Formen zu erweitern.
Ich habe Unrecht gehabt, das sehe ich an dieser Frau Professorin:
seine Muse ist ganz lind gar dieses Lorle selbst, welches in der Stadt
bitterlich leidet und einbüßt und um jeden Preis sich wieder hinaus
flüchten muß in's Dorfleben. Uns Städter aber, die wir in allerlei
Stoffen und Formen herumfahren, wird er am wenigsten beneiden, denn
er empfindet und weiß sehr wohl, welch eine Macht er vor uns vor¬
aus hat in der unzersplitterten Stärke des einfachen Bauerherzens und
Bauersinnes, eines Herzens und Sinnes, welche in poetischer Religion
uns ebenso überlegen sind, wie der Dienst eines alleinigen Gottes dem
Dienste der Allgötterei ewig überlegen bleibt in den Wirkungen der Kunst.
es>es> Krakau, der vielbestrafte und vielgeschonte Benjamin des Wiener
Congresses ist österreichisch geworden und die Diplomatie, die Journalistik,
die Börsenspekulanten und die Wirthshauspolitiker wären denn mit ihrem
Winrcrbedarf versehen. Auf dem Secirsteine liegt die edle polnische Leiche
und Aerzte und Wundärzte und Bader und Barbiergesellen stehen herum
und toben und lärmen und streiten miteinander, wem das Recht gehört
habe, dem letzten Concilium beizuwohnen, wem das Schröpfen und wem
das Aderlassen, wem die Wartung und wem die Leichenschau zugekommen
sei. Jeder zieht seinen Aunftbrief heraus und will sein Recht beweisen.
Jeder beschuldigt den Andern der Usurpation; um den Körper selbst aber
kümmert sich keiner dieser Aunftmenschen mehr! Und weil ihr denn nichts
als euere verknöcherten Privatinteressen dabei zu wahren sucht und weil
euch kein anderer Gedanke leitet als der «ueres Egoismus, so seid ihr
uns gleich, absolute oder liberale Gouvernements, Frankreich oder Ru߬
land, England oder Oesterreich, alle gehören in eine Schale und die Wage
der Humanität steht in starrem Gleichgewicht, weil Keiner mehr als der
Andere wiegt.
So ist denn die flammende Polenfrage, die einst so viele Herzen
entzündet, so viele Schwerter entblößt, zu so vielen unsterblichen Liedern
begeistert hat, zu einem gemeinen Buchstabenproceß zusammengeschrumpft
und der Buchstabe ist — für die absoluten Mächte! Hättet Ihr, Guizot
und Palmerston, an die Geschichte, an die Menschheit, an das ewige
Leben des Völkergeistes appellirt, so wäre die Begeisterung, der Zug der
Herzen für Euch gewesen; aber Ihr appellirt an den Buchstaben^ nun
denn — der Buchstabe ist gegen Euch! Setzt man die große Mensch-
heitspolitiß bei Seite und stellt man sich auf den Standpunkt der diplo-
matischen Politik und der Politik der Verhältnisse, so kann man den „drei
nordischen Mächten" kaum ihre Berechtigung absprechen in dieser Sache.
Gegenüber den Uransprüchen des polnischen Volkes erlahmt jedes Wort,
jede Vertheidigung; gegenüber Denjenigen aber, welche die Theilung Po¬
lens anerkannt haben, gegenüber den papiernen Congrcßverträgen, gegen¬
über den französischen und englischen Cabinetten, die sich nicht für ein
freies Polen, sondern nur für ihr egoistisches Recht des Drcinsprechcns
erheben, müssen wir unserer Ueberzeugung nach auf die Seite der bei¬
den deutschen Machte uns stellen.
Wir wollen hier nicht auf den halb abgedroschenen Streitpunkt
noch einmal eingehen, ob die mitunterzeichneten Machte des Wiener Con¬
gresses dadurch berechtigt sind, Einsprache zu thun; dieser Punkt wird
noch viel hin- und hergezerrt werden. Thatsache ist und bleibt es, daß
die letzte Einthci-lung Polens 18.19 ganz allein eine zwischen den drei
nordischen Mächten abzumachende Sache war. Rußland wollte Krakau,
Thorn und sogar Danzig für sich; Oesterreich, das nicht zugeben konnte,
daß das bis 1814 unter seiner Herrschaft gestandene Krakau unter russi¬
sche Herrschaft komme und so gewissermaßen von ihr e r o b e r twerde, ging aus
die Errichtung einer kleinen Republik ein und die Verfassungsparagraphe
des neuen Freistaats mußten sogar als ein integrirender Theil des Tractats
vom 21. April — 3. Mai darin aufgenommen werden. Krakau wurde wie
eine Spielsumme, über welche die Spielenden, welche sie gewannen, in der
Theilung nicht einig wurden, nach gemeinschaftlicher Übereinkunft ausgesetzt.
Dies Alles ist bekannt genug, und um einen allerneuesten Beleg dafür zu brin¬
gen, verweisen wir auf den Auszug aus den Genzischen Tagebüchern, welchen
diese Zeitschrift"') vor einigen Wochen brachte: „Die größte und schwie¬
rigste Sache, welche die Höfe in der ersten Periode des Congresses be¬
schäftigte — sagt Genz — war die der Territorial-Restitutionen und vor
Allem die Ansprüche, welche Rußland auf einen großen Theil von Polen
und Preußen auf das Königreich Sachsen machten..... Wir mußten
zuletzt froh sein, nur Galizien für Oesterreich und das Großherzogthum
Posen für Preußen gerettet und die armselige Republik Krakau geschaffen
zu haben." Die Existenz der Republik Krakau war ein Ausweg in der
Mein- und Dein-Frage zwischen Rußland und Oesterreich, und dankte
seine Entstehung nicht etwa einem europäischen Gleichgewichts-Gedanken,
sondern rein einer Territorial-Eifersucht zweier Nachbarn. Dies aller¬
dings würde keineswegs die Mitgarantie und das Mitdreinsprechungs-
recht der übrigen Unterzeichner der Congreßschlußacte beseitigen, wenn diese
nicht selbst vielfache Beispiele gegeben hätten, daß sie in der That Krakau
blos als eine Angelegenheit der drei Schutzmächte und als eine von diesen
unter sich auszumachende Sache betrachteten. Als schlagender Beweis
dient Folgendes: Die Krakauer Constitution wurde bekanntlich als ein
wesentlicher Bestandtheil des Tractats vom 21. April — 3. Mai aus¬
drücklich mit in diesen aufgenommen, sie gehörte also mit diesem zu der
Schlußacte des Congresses. Nichtsdestoweniger haben die übrigen Machte
kein Veto eingelegt, als die Krakauer Constitution unter den Auspicken
der drei Schutzmachte im Jahre 1833 einer Revision unterworfen wurde,
ebensowenig intervenirten sie, als im Jahre 1840 abermals eine Revision
der Krakauer Legislarion stattfand, die in mancher Beziehung die Kon¬
stitution verletzte. Auch die wiederholten Besetzungen des Krakauer
Gebiets durch die Truppen der vereinigten drei Machte ließ man in Frank¬
reich und England ohne Widerstand geschehen. Wie wäre dieses Alles
möglich gewesen, wenn nicht das Princip zugestanden worden wäre, daß
Krakau und seine Unabhängigkeit blos eine den drei Schutzmachten anheim¬
gestellte Sache wäre? Und warum haben es jene beiden Cabinette sich
gefallen lassen, daß die drei Schutzmächte weder einen englischen noch
französischen Geschäftsträger in dem Freistaat duldeten, wenn sie nicht
anerkannt hatten, daß jene Drei hier entscheidend sind.
Doch dies Alles wird in nächster Zeit noch so weitläufige Erörte¬
rungen erleben, daß wir füglich in diesem Augenblicke nicht in eine breite
Abhandlung einzugehen brauchen. Wichtiger scheint es uns, einen Blick
auf die Motive zu werfen, die Oesterreich in dieser Sache geleitet haben.
Oesterreich hat, wie überhaupt in der ganzen Polentragödie dieses
Jahres, auch hier das meiste Unglück gehabt. Die Sache verhält
sich im Allgemeinen folgender Gestalt. Krakau war dem Kaiser Nicolaus
von jeher ein Dorn im Auge. Alexander, der sich mit der Idee eines
selbständigen Königreichs Polen unter russischer Protection getragen, konnte sehr
wohl eine kleine Erperimentalrepublik schaffen und bestehen lassen; Ni¬
colaus dagegen, mit seinen gewaltsamen Eentralisationsstreichen, mußte dieses
Stückchen Erde, das noch den Schein eines freien Polens repräsentiere,
auf's tiefste zuwider sein, und wurde es besonders nach Beendigung
der polnischen Revolution, als „die Ordnung in Warschau herrschte,"
und Krakau der Zufluchtsort so vieler Flüchtlinge ward. Schon damals
drang Rußland wiederholt auf die Aufhebung des Krakauischen Freistaats,
und als Oesterreich sich fort und fort mit Entschiedenhei« weigerte, ging
es im Jahre 183(j so weit, es Oesterreich zur Besitznahme anzubieten.
Aber die österreichische Dynastie wies auch dies mit gleicher Entschie¬
denheit ab, selbst im Jahre 1838, wo man neue Besatzung dahin schicken
mußte und die Propaganda von dort aus mit neuer Anstrengung wirkte.
Nach den blutigen Tagen dieses Frühjahrs endlich drang Rußland ent¬
schlossener als je auf die Aufhebung und Oesterreich hatte sogar gleich
Anfangs Mühe, mit dem russischen General, der an der Spitze seiner
Truppen zur Besetzung Krakau's herbeigeschickt worden war, sich zu ver¬
ständigen und das Besetzungsrecht für sich allein zu bewahren. Aufmerk¬
same Aeitungsleser werden sich vielleicht noch einer kleinen bedeutsamen Episode
erinnern, welche damals in Bezug auf das Zusammentreffender russische«
und österreichischen Truppen gemeldet wurde. Genug, von jener Zeit an
stand der Wille des Ezaren unbeugsam in dieser Angelegenheit, welche
durch Oesterreichs Sträuben bis zum November sich hingezogen und
manche pjquante Stunde zwischen den beiden Cabinetten veranlaßt hat.
Bin ich recht unterrichtet, so war es Preußen, welches die Vermittelung
endlich herbeiführte, was auch mit der Reise des Grafen Fiquelmont
(bekanntlich früher österreichischer Gesandter in Se. Petersburg) nach
Berlin und mit dem Besuch des Königs von Preußen in Königswart
in Verbindung steht. Oesterreich bequemte sich endlich und mußte eigent¬
lich die ganze Rechnung bezahlen. Denn um das Princip zu retten, daß
Krakau nicht' russisch werden dürfe, mußte es nicht nur den Freistaat
übernehmen, ein Zuwachs, der ihm durchaus nicht willkommen fein
konnte, da es einen ganzen Stamm Revolutionäre in seine eigene Mitte
pflanzt und es mit einem Territorium bereichert, bei dessen Besetzung es
mehr Schaden als Nutzen hat, sondern es mußte obendrein noch diese
zweideutige Erwerbung bezahlen, an Preußen durch eine der fruchtbar¬
sten Länderstrecken in Oberschlesien, und an Rußland durch ein Stück
von seinem Galizischen Boden- Man kann mit Recht sagen: Oesterreich
hat entschiedenes Unglück in diesem Handel und die Wiener machten den
Witz: die Einverleibung Krakau's sei, als ob man Jemand einen wü¬
thenden Hunde zum Geschenk machte. Es liegt für uns Oesterreicher
eine bittere Komik darin, wenn ein Berliner Journal plötzlich die „Un-
eigennützigkeit" des Czaren bei dieser Gelegenheit rühmt, weil ein russi¬
scher (!) Diplomat erzählt hat: I_/on>i>el-cui- -», <je>in,6 c.^no blauen«
^ cauZv 6e lit Lracuviv; fmtesvn ce <in« veins voille?. Frei¬
lich! Nachdem der weise Czar seinen Willen durchgesetzt hat, und
Krakau's Freistaat von der Landcharte verschwunden war und Oesterreich
es übernahm, konnte er gut uneigennützig sein — „s-utesen o<z qne
von» on,(K-«!/>." — U.ki« certiünvmvilt! pnij^ne <in n'it p!t8 kalt co
,me von» nov/. vmilu riuus ^ouvon« l'iürv co «>ne non« vaulons! Und
wahrlich, wir würden auch ganz was anderes thun, als Rußland gethan
hätte, wenn es Krakau zugeschlagen bekommen hatte.
Oesterreich, das jetzt von der ganzen Welt als ein Usurpator, als ein
Freiheitsmörder, als der letzte Henker Polens aufgeschrien wird, gegen
das sich alle Blitze der öffentlichen Meinung richten, hat doch in diesem
Augenblicke mit Selbstaufopferung gehandelt. Freilich ist eS komisch,
wenn man von der Selbstaufopferung eines großen Staates in demsel¬
ben Augenblicke spricht, wo es einen anderen kleinern und ohnmächtigen
verschluckt, wo es zur letzten Löschung des freien polnischen Namens sich
zum Werkzeug hergibt! Und doch wiederholen wir, Oesterreich handelte mit
Aufopferung! und obendrein wird (mit Ausnahme des militärischen Vor¬
theils durch die Befestigung der österreichischen und deutschen Flanke nach
dieser Seite zu), aller Vortheil dieses Opfers Krakau selbst zukommen.
Die polnische Sache hat verloren durch die ganze Maßregel — aber
nachdem diese ein Mal von der Majorität der drei Schutzmachte beschlossen,
war, hat Krakau für sich gewonnen, daß es an Oesterreich und nicht an
die Russen kam.
Eine andere Frage müssen wir Oehls«reicher an unsere Regierung thun.
War die Aufhebung des Freistaats wirklich nicht abzuwehren? War
Oesterreichs Stimme im Rathe der Drei so schwach, um sich beugen
zu müssen? Ist eine Allianz mit Frankreich eine von Oesterreich so ent-
schieden anerkannte Unmöglichkeit, daß eine Hinneigung zu demselben
Rußland nicht einschüchtern konnte? Ist die verminderte Ruhestörung,
die man durch den Sturz Krakaus beabsichtigt, nicht um so gefährlicher
für Oesterreich, je mehr die andern zwei Mächte effectiv gewinnen ? Diese
Bevölkerung, die sich als die ältesten und letzten Fahnenträger eines freien
Polens betrachtet, die außer der Erbitterung über den Untergang des gro¬
ßen Polenreichs jetzt noch den besonderen Stachel wegen der Zerstörung
ihrer kleinen Republik in sich trägt, diese Bauern, die nicht gewohnt
waren Rekruten zu stellen, diese Bürger, die nicht gewohnt sind Zölle
zu entrichten, werden sie nicht jeder Verschwörung um so rascher sich hin¬
geben und werden wir dies Alles nicht jetzt innerhalb unserer eigenen
Grenzen haben, was in früheren Jahren wenigstens außerhalb derselben
gekocht wurde? Freilich werden starke Besatzungen und eine zahlreiche
Beamtenschaft dies Alles in gewohnter Art niederzuhalten suchen,
aber wem fallen die ungeheuren Kosten dieser Art Administration anders
zur Last als dem'Gesammtstaat, denn das arme Gebiet der bisherigen Re¬
publik, das obendrein aus Staatsklugheit geschont werden muß, wird in
fünf Jahren nicht abwerfen, was es dem Staatsschatz in einem Jahre
kostet. Und wofür bringen wir alle diese Opfer, die noch so viele Unru¬
hen und Kosten in ihrem Schooße für lange Zukunft trägt? Wo ist der
Vortheil, der dies aufwiegt?
Ein Einziges kann für den Augenblick uns trösten und beruhigen.
Der Friede Europas wird jetzt und durch diese Frage nicht erschüt¬
tert werden; das Erstaunen, welches Herr Guizot in dem Journal
des Debats spielen läßt, wird allmälig in einen andern Ton sich
verwandeln; mag sein, daß Herr Guizot nichts wußte von Dem,
was die drei Mächte vorbereiten, in Frankreich wußte man davon, wenn
auch die Personen, die es wußten, keine absetzbaren Minister waren. So
apathisch ist weder Rußland noch Oesterreich und Preußen, daß sie bei
der Montpensi'er'schen Heirath geschwiegen hatten, während England don¬
nerte. Herr Guizot war etwas naiv, indem er sich fast einer Allianz Oe¬
sterreichs rühmte, und wenn wir bedenken, wie er dies Alles blos seiner
Klugheit zuschrieb, so sind wir sehr geneigt, ihn bei seinem jetzigen Er¬
staunen wirklich für ehrlich zu halten, obschon dadurch auf seinen Ver¬
stand und auf das Vertrauen, das er bei seinem Herrn genießt, ein ziem¬
lich starker Schatten fällt. — Frankreich, insofern es durch den „unwandel¬
baren Gedanken" repräsentirt wird, ist also keineswegs isolirt, wenn auch
die österreichische Politik es für nöthig erachtete, durch die Vermählung
des Herzogs von Bordeaux die Ruthe unter den Spiegel zu stecken für
unvorhergesehene Fälle. Frankreich hat sich nicht isolirt, wiederholen wir
mit Zuversicht, aber auch England wird sich von den drei Machten nicht
isoliren, obschon ein Querkopf wie Palmerston gern «Melo donKIe spielt.
England, mit seiner irländischen Wunde im Herzen, mit seiner kaum
durchgesetzten Korngesetzaufhebung zur Stillung der hungernden Arbeiter¬
classen, England ist nicht minder friedenslustig wie jeder andere Staat
Europas; im ärgsten und wahrscheinlichsten Falle wird ein besönne-
ner Geist Lord Palmerston von der Einlösung seines Versprechens
im Parlamente durch Uebernahme des Portefeuilles befreien. Wir mü߬
ten unsern alten Alliirten, England, nicht kennen, um nicht zu wissen, daß er
bei dieser Gelegenheit nur so lange schmollen und grollen wird, bis er irgend
einen Vortheil für sich herausnegocirr haben wird. Um Frankreich wird er sich
wenig kümmern, so wenig, als dieses sich neulichst um England kümmerte.
Wie man auch jenseits des Rheins und des Canals über Oesterreich
und die nordischen Machte denken mag, an ihrer Festigkeit bei einem ge¬
faßten Entschluß und an ihrer Macht, ihn zu unterstützen, zweifelt wohl
Niemand. Und grade das Ueberraschende und die Plötzlichkeit der That,
gerade die geheimnißvollen achtmonatlichen Vorbereitungen sind ein Be¬
weis, wie fest geschlossen die Trippelallianz in dieser Frage ist, und wie
man auf alle Eventualitäten sich gefaßt machte. Und eben deshalb wer¬
den in dieser Angelegenheit nur Worte und Tinte fließen; denn Blut
ist heute mehr als je ein absonderlicher Saft.
Wie aber auch der Gang der Vertrage und der Ereignisse in dieser
Krakauer Specialfrage zu Gunsten der nordischen Machte sich gestaltet,
die polnische Frage im Ganzen bleibt immer dieselbe große und geheiligte
Sache, und die edelsten Herzen in Oesterreich rufen mit uns: Wollte
Gott, wir hatten dieses Galizien nie berührt!
Wenn unser Staat an sich auch nur klein und im allgemeinen
deutschen Staatenbunde von geringer und kaum bemerklicher Bedeutung
ist, so dürften unsere Zustande und Verhältnisse, welche täglich eine leb¬
haftere Farbe annehmen, doch immer mehr sich dazu eignen, die allge¬
meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es ist das Geld und immer
das Geld, welches dieses Wunder der bürgerlichen Bewegung bewirkt.
Die früher so ruhigen, so folgsamen und geduldigen Bürger bekommen
Muth und Entschlossenheit, sich ihrem Senat mit Entschiedenheit gegen¬
über zu stellen. Das liberale Schriftthum feiert bei dieser Gelegenheit
stille Triumphe, denn Alles, was die Bürger oder die bürgerschaftlichen
Eollegien jetzt in Opposition beginnen, die Ansichten und Meinungen,
welche sie jetzt laur werden lassen, die wurden ihnen schon vor zwei,
drei Jahren in die Schuhe geschoben, ihnen gleichsam mit Gewalt ein-
geblasen, aber — sie wollten damals noch nicht sogleich Folge leisten;
ihre Begriffe hatten noch nicht die nöthige Entschiedenheit erlangt, sie konnten
den, des möglichen Verrufes wegen von der reichen aristokratischen Par¬
tei sogenannten „ Skcmdalmachern" noch keinen Glauben schenken.
Jetzt bei der allgemeinen Geldnoth, wo das Geschäft überall stockt, wo
Bankerotte über Bankerotte erfolgen, wo man unter der Steuerlast —
die in Hamburg bekanntlich die größte in ganz Deutschland ist — fast
erliegt, und die Aussicht hat, vollkommen zu erliegen, jetzt machen sich
die Erinnerungen an das früher Gelesene geltend. So ließen sich, des
Beispiels wegen, seit einigen Jahren das von Dr. Fr. Wille redigirte
„Wandsbecker JnteUigenzblatt," das oppositionelle Localblatt „der Tag¬
wächter" es sich stets angelegen sein, den glimmenden Funken, der
seit dem Brande in der Asche lag, anzublasen, und bei dessen
Schein Ideen und Reformbegriffe zu beleben, die Opposition zu organi-
siren. — Wir hatten am 12. November abermals Bürgerschaft, es
würde abermals vom Senat Geld, viel Geld als Nachschuß für die
Staatswasserkunst verlangt und — das Geld ist abermals einstimmig
verweigert worden. Warum? Weil für dieses Unternehmen schon
Mark mehr verausgabt worden sind, als ursprünglich dazu von
dem Ingenieur Lindley angeschlagen worden ist. Nun noch mehr! Bei
dieser neuen Forderung hat man sich überhaupt das ganze Verhältniß
klarer auseinandergelegt? Wie konnte der — englische — Herr Inge¬
nieur —- sich um so Vieles versehen und verrechnen? Etwa Nur darum,
damit die Anlage unter seiner Leitung ins Werk gerichtet und der Vor¬
schlag dazu von den Bürgern angenommen würde, damit er sein Licht
— auf Kosten des Gemeindecaths leuchten ließe? Freilich, der englische
Herr Ingenieur, ein Schützling des Herrn Senators Merk, mußte und
sollte beschäftigt werden, es mußten unter seiner Leitung große Bauten
unternommen werden, denn — er erhält ja seit dem Brandjahre, also
seit vier Jahren per Tag 5 Pfund Sterling, also einen englischen Sold!
Es macht Vergnügen, die besseren Locale zu durchwandern und die Bür¬
ger jetzt darüber sprechen zu hören. Es sind auch wieder mehr Nacht¬
wächter beantragt und bewilligt worden; nach zwei Jahren heißt es da,
gebrauchen wir aber gar keine Nachtwächter mehr, denn — wir werden
nichts mehr haben, was man uns stehlen kann. Deshalb haben die
Bürger bei der Abstimmung in den Collegien auch einstimmig erklärt,
daß sie nicht eher wieder neue Geldanleihen bewilligen wollen, als bis
man ihnen ein specisicirtes Budget vorgelegt, genaue Rechnung über die
bisherige Verwendung (man sagt hier regelmäßig Verschleuderung) der
Gelder abgelegt hat, nicht eher! Denn nachher wird man in kleinen
Awischenräumcn nacheinander kommen, und Geld für das neue Rathhaus,
für die Neue Kaserne :c. verlangen. Es freut mich, daß ich vor einiger
Zeit in den „Grenzboten" darauf hingewiesen habe, die Bürger müßten
sich nothwendig ferner kein so allgemeines, sondern ein genau auseinan¬
dergelegtes, ins Einzelne gehendes Budget vorlegen lassen. So reifen
die Früchte der Saat. Die guten Bürger werden künftig nicht umhin
können, wenn auch unwillig, dergleichen laut anzuerkennen. Weiß man
von oben herab solche Einflüsterungen der Gesinnung und des Charakters
doch recht gut zu würdigen. Man kann den Umschwung der öffentlichen
Meinung an einzelnen Persönlichkeiten genau beobachten.
Herr Professor Wurm, ein Mann, der nicht frei von dem Vor¬
würfe ist, daß er den Mantel gerne nach dem Winde hängt, hat es seit
dem Brande in Schrift und Vorträgen immer mit dem Senat und der
aristokratischen Partei gehalten; die längst veraltete mittelalterliche Colle-
gicn-Einrichtung war nach feiner Ansicht immer noch ganz brauchbar, ja
vortrefflich, nur kleine Palliative konnte man dabei in Anwendung brin¬
gen. Ja, Herr Professor Wurm hat sogar beim Buchdrucker-Jubiläum,
wo er eine Rede hielt, Ausfälle auf die deutschen Konstitutionen gethan,
und von „ constitutioneller Comödie" gesprochen! Jetzt erklärt Herr
Professor Wurm plötzlich in der „patriotischen Gesellschaft" er sei anderer
Ansicht und stimme für eine — Repräsentativ-Verfassung! Woher diese
Sinnesänderung? Herr Professor Wurm möchte, nach den Vorgängen
und dem Beispiel in Lübeck gerne das Ruder der öffentlichen Meinung
in der Hand behalten; er will offenbar bei den mercantilischen Bürgern
und wohl gar bei der eigentlichen Bürgerschaft einen Stein im Brer
bekommen, weil diese Partei jetzt zum Worte kommt.
Auf den Staat folgt allemal das Theater, wie die Thräne auf die
Zwiebel, und deshalb muß oder kann ich schon jetzt bestimmt melden,
daß von unserer abtretenden Stadttheater-Direction Herr Comer als kais.
russischer Opcrnregisseur nach Petersburg und Hr. Mühling als — Gast-
wirth nach Berlin geht. Herr Maurice soll sich vor einiger Zeit haben
taufen lassen, um erst Bürger und dann Stadttheater-Director werden zu
können. Daß unser Staat noch diese Bedingung stellt, ist sehr zu ver¬
wundern. Warum eine solche Formalität üben, solchen Gewissens¬
zwang, und gar bei Theatcrdingen? Das neue Lustspiel von Töpfer, „der
Bürger und die Dame" (welch' ein aristokratisch blasirter Titel!) bear¬
beitet nach Therese's „Heinrich Burkart", ist vorgestern gegeben worden
und der Referent der „Hamburger Neuen Zeitung" (man sagt, es sei
ein weiblicher, Mad. Schröder, die Schwiegermutter des verantwortlichen
Redacteurs) behauptet die Aktschlüsse nach den Seiten des Buchs genau
nachweisen zu können. Töpfer mit seiner Lustspielerei — er erklärte ein¬
mal, jedes Lustspiel koste ihm ein Jahr Arbeit! — hat sich längst über¬
lebt. Die Recensenten von Profession schmücken dessenungeachtet Töpfer
mit seinen alten, verwelkten Papierlorbeerblättern, um ihm den Rückzug zu
Die bedauerliche Episode in unserm Universitätsleben, über welche
die Grenzboten in ihren beiden letzten Nummern berichteten, hat nun ih¬
ren Schlußstein erhalten und ist in einer der Hochschule und ihrer Mit¬
glieder würdigen Weise beendet worden.
Sonntag am 15. d. M. war der gesammte Lehr akademischen Se-
Universitat von 4 bis 8 Uhr im Sitzungszimmer des . .
mals unter dem Vorsitz des Studiendirectors Herrn Prälaten Zeidler ver¬
sammelt, und Professor Francesconi las sein Protokoll als Klage vor;
zugleich trug er darauf an, daß man jene sechs Studirende relegiren oder
doch mindestens die zweite Sittenklasse geben solle (was aber abgeschla¬
gen wurde), wobei er sich wieder mit einer Rede voll Unsinn auszeichnete.
Hierauf las Herr Prälat Aeidler den Thatbestand, wie er von den israe¬
litischen Logikern abgefaßt und eingebracht wurde, nebst ihrer Rechtferti¬
gung vor, und endlich auch das Referat der k. k. Stadthauptmannschaft,
welches für die Juden vortheilhaft stimmte, und resultirte in zehn nach-
einanderfolgenden Punkten sich an Francesconi wendend: „Sie haben ge-
fel)le, K, u. s. w. und haben sich künftig zu enthalten:
Nachdem noch Herr I),-. Wessely als Anwalt der sechs Juden mit
großer Freimüthigkeit das Wort nahm, mußte Herr Prof. Francesconi
dem Prälaten Aeidler, dem Decan der philosophischen Facultät und dem
Senior, dem greisen Ehrenmanne Prof. Jandera, den Handschlag geben,
daß er sich im Einklange mit diesem Senatsbeschluß verhalten werde.
Es gehört mit zur Charakteristik dieser Angelegenheit, daß sowohl
der Studiendirector Aeidler als auch der Senior Prof. Jandera dem geist¬
lichen Stande angehören und die Sache der israelitischen Studenten so¬
mit unter dem Clerus selbst seine Vertheidiger fand. Und somit sei un¬
sere Debatte über diese Angelegenheit geschlossen.
— Man schreibt uns aus Berlin: Der Namenstag der Königin
brachte mancherlei Festlichkeiten mit sich. Die Königstädtische Bub»
führte ein Lustspiel „die schöne Athenienserin" auf, eingeleitet durch e^-
nen Prolog und Festmarsch von Truhe; wie Kenner versichern, eine geist¬
reiche originelle Composttion. Das Schauspielhaus zog einen Theil des
Publicums durch eine neue Piece der Mad. Birchpfeiffer an: Eine Fa¬
milie. Ein Drama, das man besser findet, als ihre sämmtlichen letzten
Productionen. Das Opernhaus aber war bis auf den letzten Platz ge¬
füllt, da die Aufführung einer neuen Oper von Earl Eckert „Wilhelm
von Oranien", Text von F. Förster, die allgemeine Aufmerksamkeit der
Berliner gespannt hatte. Soll man das Werk nach dem gespendeten
^5eifall beurtheilen, so müßte man sagen, es sei mit enthusiastischem Ju-
aufgenommen worden, denn eine kräftige und unermüdliche Claque
ließ sich angelegt sein, alle, selbst die Ballettnummern, heftig zu pereat-
schen. Jedenfalls war es ein Mißgriff, ein Werk, das durch sich selbst
zu einem erfreulichen, wennschon gemäßigten Beifall berechtigt ist, durch
diese vehemente Zuthat, beim Publicum zu verdächtigen. Die Musik
hielt sich trotz der bleiernen Last eines ungeschickten und im Superlativ
langweiligen, bigotten Textes, durch geschickte piquante Jnstrumentation,
immer über dem Wasser und wird im Verein mit der überaus glänzen¬
den Ausstellung, namentlich an Sonntagen, eine gewisse Anziehungskraft
ausüben. Originalität jedoch muß in dem Werke nicht gesucht werden;
es lehnt sich im Gegentheil an vorhandene Muster in einer Art an, daß
der Ausdruck Reminiscenz sich in der Kritik nur schwer vermeiden läßt.
Die Hugenotten namentlich haben nicht allein in Hinsicht der Musik,
sondern leider auch in Betreff des Textes bei dem jungen Wilhelm vou
Oranien zu Gevatter gestanden. Wie sehr mich Stosse der Art, welche
die unerquicklichsten Berührungen menschlicher Geister dramatisch behan¬
deln, anwidern, habe ich mir und Andern nie verhehlt; man nimmt
dergleichen aber hin,, wenn es uns von gewandten Händen überliefert
wird und wenigstens so viel Wahrscheinlichkeit besitzt, um uns einige
flüchtige Stunden zu täuschen. Aber so ohne Nexus dramatischer Ideen,
und als Compilatorium religiöser Streitigkeiten und steifer Haupt- und
Staatsactionen hingestellt, martert die Musik uns und sich selbst ab,
einem dürren Stoss romantische Färbung zu ertheilen. Man hat, was
Erziehung anlangt, bei dem jungen Carl Eckect, Alles angewandt, ihn
zu einem großen Komponisten zu bilden. Sein Pflegevater der Hofrath
F. Förster, officieller Festdichter und bürgerlicher Zweckesser Hieselbst,
forcirte schon den Knaben in die Rolle des Wunderkindes hinein, und
es haftet seitdem an dem begriffszahen Geiste der Berliner noch immer
die Vorstellung des kleinen Eckert. Seitdem hat man ihn nach Rom
gesandt, einmal ihm in der Ferne die Wunderkinderschuhe ausziehen zu
lassen, dann aber, und dieses scheint die Hauptsache zu sein, um ihn
mit dem Nimbus des Fremdländischen zu umgeben, denn unser armer,
ehrlicher deutscher Name genügt noch immer nicht um die Salonthüren
der Kunst zu sprengen. Nichtsdestoweniger haben die Berliner ihren
lieben Landsmann gleich wieder erkannt und es dürfte dem jungen Com-
ponisten noch eine ausgezeichnete Stellung bei hiesigen Kunstinstituten in
^..umwolle, Papier, Sägespäne, Baumrinde, Alles ist revolutionär
geworden. Aus jedem kleinen Garnisonsstädtchen bringen die Zeitungen
die Nachricht: Heute hat der Apotheker X. in Gegenwart des hochlöbl.
Offiziercorps Versuche mit einem neuen von ihm präparirten Schießstoff
vorgenommen, welche die erfreulichsten Resultate hervorgebracht haben.
Die Herren Offiziere, die jetzt allenthalben wie alte Weinkenner das neue
Pulver probiren, gleichen jenen ästhetischen Tyrannen des vorigen Jahr¬
hunderts, die mit den revolutionären Ideen Diderots und Voltaire's co-
quettirten — als unschuldige Spielereien. Aber aus dem Spiel ist's
fürchterlicher Ernst geworden und wohl dem, den es nur die Gewalt
und nicht auch den Kopf gekostet hat, die Herren Offiziere ahnen
*
wohl kaum, welch eine feindliche Macht in^der neuen Erfindung, die
dem Dampf der Eisenbahnen, dem elektrischen Telegraphen an Wichtig¬
keit gleich kommt, gegen sie aufwächst. Wahrlich, an tausend Zeichen
laßt sich's erkennen, daß die alten socialen Verhältnisse untergraben sind.
Jeder Tag bringt eine neue Waffe in die Hände der unterdrückten Ge¬
sellschaftsclassen, jeder Tag entführt ein Schutzmittel Denjenigen, die auf
ihr Privilegium, auf ihre Geburt und auf ihre Uebermacht pochen. Be¬
trachten wir nur flüchtig die erschreckenden Folgen, welche mit der neuen
Erfindung verbunden sind. Geben Sie mir, werther Leser, diesen halben
Bogen der Grenzboten, den Sie so eben in der Hand halten und in
zwei Stunden will ich ihn in ein Pergament verwandeln, mit welchem Sie,
wenn Sie es in 10 gleiche Stücke schneiden, ein hundert und fünf¬
zig Flintenschüsse thun können. Und doch würde es nur einige Pfennige
kosten, um diese Umwandlung zu bewerkstelligen, welche obendrein so leicht
ist, daß Jeder von Ihnen, der das kleine Geheimniß erlernt hat, es so¬
gleich ausüben kann. Mit anderen Worten, mit einem Ries Papier
und zwei Seidel concentrirter Salpetersaure ist man in 24 Stunden in
den Stand gesetzt 90,000 Flintenschüsse zu machen. Gesetzt, es käme
Herrn von Eotta in den Sinn, sämmtliche Exemplare einer einzigen
Nummer der allgemeinen Zeitung in Salpetersaure tauchen zu lassen,
und am andern Morgen gäbe es in Deutschland Pulver genug, um ganz
Europa damit in die Luft zu sprengen. Bedenkt man, daß ein Schuß
dieser Art nur ein sehr geringes Geräusch hervorbringt, daßjkein verrätheri-
scher Rauch seine That andeutet, bedenkt man, daß ein kleines Taschen-
pistol durch das neue Pulver zu einer Sicherheit und Kraft des Schusses
gelangt, daß auf fünfzig Schritte ein Mensch unfehlbar dadurch getödtet
werden kann, so fragt man sich unwillkürlich, wohin wird es mit der
öffentlichen Sicherheit kommen, die bei der immer mehr und mehr an¬
schwellenden Masse von Verbrechen schon jetzt nur mühsam aufrecht er¬
halten wird?
— In dem Cabinette von Augsburg scheint eine Ministerkrisis vorge¬
gangen zu sein; Herr Altenhöfer hat sein Portefeuille niedergelegt, oder
richtiger gesagt, er hat seinen Namen von der Mitunterzeichnung des Blattes
zurückgezogen. Man will dieses mit den Londoner Ereignissen in Verbindung
bringen. Die „ehrlichen" Deutschen im perfiden Albion, die Londoner Zeitung,
hat vor Kurzem einen alten etwas demagogischen Brief des Hrn. Altenhöfer
ausgegraben und einige noch perfidere deutsche Blätter am Rheine haben
diese Geschichte in der gehässigsten Weise ausgebeutet. Ob dieses wirklich
mit dem erwähnten Rücktritt in Verbindung steht, wissen wir nicht zu
entscheiden. Die Thatsache ist, daß Herr Altenhöfer nach wie vor die
Redaction des englischen Artikels besorgt. Der eigentliche Redacteur en
et,v5 ist von jeher Dr. Kolb gewesen und die Aenderung in der Signatur
ist somit auf das Blatt selbst von keinem Einflüsse.
Hell strahlten aus dem Theatergebäude die freiem Fenster des
Büffetsaales und draußen auf dem Balkon blühten und dufteten Ole¬
ander und Orangen in ihren irdenen Geschirren. Um von der beengenden
Hitze des Opernhauses an der kühlen Nachtluft mich zu erquicken,
lehnte ich mich über die steinerne Brüstung des hohen Balkons. Unter
mir lag ruhig der Spiegel des Flusses und sog sehnsüchtig den klaren
Sternenhimmel in sich ein, jenseits dämmerte schon halb schlummernd
die andere Stadt, und über den Häusermassen zog die lange Hügel-
reihe einen dichtern Schatten an dem Tiefblau des Nachthimmels hin.
Diese drei großen Linien als festes Bild mir einzuprägen, stand ich
sinnend dort und vergaß darüber den letzten Act der Oper. So wäre
ich auch bald einsam gewesen, hätte ich nicht neben mir einen jungen
Mann bemerkt, der dicht an der Brüstung sitzend mit einem Fernrohr
unverwandt nach der östlichen Bergkette blickte. Er war modisch ge¬
kleidet, bis auf die kurzen Reithosen und die bespornten Stolpenstiefeln.
Der Schnitt seines länglichen und ausdrucksvollen Gesichts, sein Aus¬
sehen und seine Geberden verriethen den Engländer. Ich mochte mein
Auge anstrengen, so viel ich wollte, ich entdeckte in der Richtung sei¬
nes Fernrohrs nur einzelne Lichter zerstreut an den Bergen, die wohl
den dortigen Villen zugehören mochten. Schon wollte ich kopfschüt¬
telnd wieder luneingehen, als im Osten plötzlich eine Rakete von einem
der Hügel aufstieg und mit drei bunten Leuchtkugeln in der Luft zer¬
platzte. Der Fremde stand hastig auf, warf dem Kellner ein Geldstück
für die Limonade hin und war bald unten am Portale. Auf ein lei-
ses, schrillendes Pfeifen kam ein Reitknecht mit zwei Pferden um die
Eckr, Herr und Diener saßen auf und waren bald im Galopp in dem
Dunkel des breiten Platzes verschwunden.
Durch diesen Vorfall wundersam erregt und neugierig gemacht,
erkundigte ich mich vor allen Dingen bei dem Kellner nach dem son¬
derbaren Fremdling. Er sei ein englischer Arzt, hieß es, der seit dem
Frühjahr erst im Theater bemerkt werde, er komme pünktlich um acht
und behaupte bis zehn Uhr seinen Platz auf dem Balkone. Diese Be¬
suche hätten jedoch anfangs eine Unterbrechung von mehrern Wochen,
später von vierzehn Tagen und «och "kürzern Zeit erlitten, eS sei aber
uoch nicht vorgekommen, daß der Herr das Büffet länger als fünf
Tage hintereinander regelmäßig besucht hätte.
Wenig belehrt von diesen Notizen, sann ich der seltsamen Erschei¬
nung nach, da aber der Fremde die folgenden Tage im Caffv nicht
erschien, vergaß ich endlich den Vorfall oder dachte wenigstens nicht
mehr daran.'
Eine Woche später hatte mich mein Freund, der Pfarrer von
Tmnewitz, zu einem Rendezvous bestellt und als Ort der Zusammen¬
kunft das Wirthshaus im Dorfe L. bestimmt. .Tennewitz liegt zwei
Stunden von der Residenz, das Dorf L. ist die Hälfte deö Weges, so
konnte sich kein Theil beklagen. Da ich mich bei Zeiten aufgemacht,
so erreichte ich Nachmittags bei guter Stunde das Wirthshaus und
saß bald in der kühlen Rebenlaube bei einem Glase trüben Weines.
Eine einsame Bergstraße zog neben mir das Thal hinauf, und da die
Leute im Felde waren und Stille im ganzen Dorfe herrschte, so hatte
ich Muße, die Spatzen zu beobachten, die sich mancher schon reifen
Beere am Geländer naschhaft bemächtigten. Der Freund kam nicht,
ich ward der Spatzen überdrüssig und war bald in Träumereien ver¬
sunken, als mich der Schritt mehrerer Pferde plötzlich weckte. Ein selt¬
sames Paar, von einem alten Bedienten gefolgt, ritt langsam die Straße
herauf. Eine schön gewachsene hohe Frau saß keck und fest auf einem
zierlich gebauten Rappen, sie war ganz schwarz gekleidet und trug nur
ein zierlich geschlungenes, feuerfarbenes Tüchlein am Halse. Was
aber mehr als Alles meine Aufmerksamkeit fesselte, war ihr Gesicht —
ein Gesicht, das man nur einmal zu sehen braucht, um es unaustilg¬
bar im Herzen bewahren zu müssen, so gern man es auch vielleicht
vergessen möchte. Hohe und edle Züge, wie nur der Marmor sie ebensq
regelmäßig und ebenso kalt und unbeweglich wiederzugeben vermag
und dunkle, fast zu starke Augenbrauen, die sich über schwarzen Au¬
gen wölbten, so tief, so feurig, daß man fast erschrak, wenn sie sich
mit ihrer ganzen Gewalt auf einen Gegenstand hefteten. Zwei furcht¬
bare Widersprüche: die kalte, ungetrübte Klarheit der Züge und die
leidenschaftliche Gluthensprache dieser versengenden Augen. Hier sah
ich ein Wesen vor mir, das mit ungewöhnlichen Kräften begabt schien,
und wo der Mensch solche wahrnimmt, muß er gleich an ein Schick¬
sal denken, das mächtig genug wäre zu brechen und zu vernichten.
Diese Empfindungen nur zu erhöhen, saß ihr Begleiter, ein Mann
von 40 Jahren, schlaff und locker zu Pferde. Sein Gesicht war eher
gebleicht, als bleich, seine Augen tief gesunken, vom mattesten Blau,
wirr und ausdruckslos, sein Mund ein wenig geöffnet, weil die Unter¬
lippe kraftlos herabhing. Es war etwas Entsetzliches, die Vernichtung
am Manne, die dämonisch zum Kampfe lockende Energie am Weibe
in innigem Begegnen zu erblicken. Wer sind diese Beiden? fragte
ich die Wirthin, die neugierig aus dem Hause getreten war. „Graf
und Gräfin R., reiche Leute aus Rußland!" war die Antwort,
Wohnen sie im Dorf? forschte ich weiter. „Seit dem Frühjahr. Dort
oben an der Straße nach Tennewitz, in dem schönen Palais, gleich
neben dem Gespensterhäuschen." Nun war die Sache auf dem Punkte,
mährchenhaft zu werden, zumal da die gesprächige Wirthin auf mein
Verlangen erläuterte, daß das sogenannte Spuk- oder Gespensterhäus-
chen ein altes hölzernes Gebäude sei, wo sich einst ein unglücklicher
junger Mensch erschossen hätte. Senden» habe man es zugeschlossen,
aber deshalb Hause der Geist nur ungestörter darin, lind einige biedere
Landleute hätten erst kürzlich versichert, das Haus bei nächtlicher Weile
erleuchtet gesehen und aus den geöffneten Fenstern ein sonderbares
Rufen und Aechzen gehört zu haben. Ich lachte mich im Stillen aus,
daß ich die albernen Geschichten mit anhören konnte, bezahlte meinen
Wein und machte mich auf den Weg nach Tennewitz, meinem Freund
entgegen zu gehen, oder ihn aufzusuchen.
Nun führte mich aber gerade mein Weg an dem Spukhäuschen
vorüber, und willig oder unwillig, ich mußte einige Augenblicke an
dem halb zerfallenen Breterzaun verweilen, um nach der geheimni߬
vollen Stätte hinüber zu schauen. Der Ort hatte wirklich etwas ei¬
genthümlich Düsteres. Während die Villa, welche die Wirthin im
Dorfe ein Palais genannt, frei und hell auf dem Gipfel des Berges
stand, war das graue, hölzerne Häuschen nach Mittag und Abend
von hohen Buchen umgeben, Regengüsse und Thauwetter hatten Sand
und lockern Boden vom Abhänge herunter gegen das Erdgeschoß ge¬
führt und Thüre und Fensterladen theilweise verschüttet, so daß ein
kecker Geselle ohne viel Mühe in den ersten Stock steigen konnte. Die¬
ser zählte vier blinde, staubige Fenster, und um das Bild der Verlas¬
senheit zu erhöhen, hing an dein einen eine zerfetzte Gardine herab.
Ich erinnerte mich sogleich eines ähnlichen Gebäudes in meiner Va¬
terstadt, wo wir Kinder immer sehen vorübergeschlichen waren und uns
dabei mit heimlichem Grauen und einem gewissen, unerklärlichen Ver¬
gnügen die Geschichte eines Selbstmörders erzählten, den man dort
mit zerschmettertem Gehirn gefunden hatte, so daß ich zuletzt gern den
biedern Dorfbewohnern ihren Aberglauben verzieh. —
In Tennewitz traf ich meinen Freund krank, er entschuldigte, was
er nicht ändern konnte, und nachdem wir unser Geschäft besprochen,
kehrte ich gegen Abend nach Hause. Der Mond im ersten Viertel stand
im Zenith und leuchtete dem einsamen Wanderer mit spärlichem Lichte ;
ich dachte an das Gespensterhäuöchen, an den unglücklichen Selbst¬
mörder, an unglückliche Liebe und an mich selber. So war ich ziem¬
lich eine halbe Stunde gegangen, da rauschte mit einem Male ein
Feuerstrahl ans, und eine kurze Strecke vor mir sah ich eine Rakete
aufsteigen, die in der Luft mit drei rothen Leuchtkugeln zerstob. Mir
war dabei wunderlich zu Muthe, als gäbe eS etwas zu sehen und
als könnte ich zu spät kommen, und so lief ich denn, bis mir die
hellen Tropfen auf der Stirn standen. Als ich die Höhe des Berges
erreicht, hielt ich an und ging langsamer den einsamen Pfad weiter,
zur Rechten den Wald, zur Linken einen zerfallenen Zaun mit Ge¬
sträuch und Unkraut dicht überwuchert. Da kam das Spukhänschen
zum Vorschein, düster zwischen den Buchen versteckt, nicht einmal dem
Mondenlichte zugänglich. Mit Befremden und Erstaunen nahm ich
aber wahr, daß die vier Fenster des ersten und einzigen Stockwerkes
hell erleuchtet waren. Ich mochte mir wiederholt sagen, nichts sei
einfacher, als daß die Bewohner ihre Stuben zur Nachtzeit erleuch¬
teten, immer kam mir die Ahnung wieder, eS gehe hier etwas Unge¬
wöhnliches vor. Einige Fenster waren geöffnet, auch dies, dem Un¬
befangenen so natürlich, mußte meine Phantasie reizen. Weil ich sie
nur verschlossen gesehen, mußte ich mir einbilden, sie seien wegen etwas
Außerordentlichen geöffnet. Nun mußte ich noch dazu einige verwor¬
rene, halb klagende Töne vernehmen, und es fehlte wenig, so hätte
ich an Geistergeschichten geglaubt. Die morschen Breter deö Zauns
wichen meiner Anstrengung, und bald befand ich mich auf dem gefeiten
Boden, ohne mir im Grunde Rechenschaft gegeben zu haben, was ich
beginnen wollte. Da ringsum Alles still lag, fürchtete ich nicht,
entdeckt zu werden, und näherte mich daher keck dem wunderlichen
Hause. An die Mauer gelehnt, vernahm ich deutlich die Stimme eines
Mannes, der die seltsamsten Worte in kurzen Zwischenräumen ausstieß.
l',-<>«t» ! j,i-o8t»! klang es mitunter und dann wieder: in.l ion trojw"!
>,lini<i! »i-nit» «we<-i>de>! Ich stieg jetzt den kleinen Sandhügel hinauf,
der gegen die Thüre angeschwemmt worden, hob mich auf die Zehen
und schaute durch ein blindes Fenster in einen hell erleuchteten, altmo¬
disch decorirten Gartensaal. Zu beiden Seiten entdeckte ich ein ziemlich
zahlreiches Musikchor und in der Mitte vor einem kleinen Notenpulte
einen festlich in Schwarz gekleideten Mann mit weißer Halsbinde und
feiner Busenkrause, der mit sichtlichem Enthusiasmus eine Papierrolle
schwang. Dabei wa-r Alles todtenstill, nur unterbrochen von dem ein¬
tönigen Rufen: ^ni-to! 5<n tlssim»! ^nu^i«» oder I^est»! Ohne Mühe
erkannte ich in der beweglichen Figur den russischen Grafen R. wieder,
dessen Begleiterin meine ganze Aufmerksamkeit gefesselt und meine
Phantasie mächtig, wenn auch nicht angenehm erregt hatte. Schauer
auf Schauer durchrieselten mich, als ich die sonderbare Figur sich ab¬
mühen sah und dabei ihre Stimme hörte, die wie Aechzen klang, das
aus einem halb zugeschnürten Halse heftig hervorgepreßt wird und dem
Hörer selbst ein Gefühl erregt, als müsse er ersticken. Plötzlich hörte
ich ein krampfhaftes Lachen, der geisterhafte Kapellmeister hatte seine
Papierrolle weggeworfen und klammerte sich fest an das Notenpult,
als fürchte er umzusinken, ein Schrei noch, der mir bis ins Innig-
innerste drang und das seltsame musikalische Gespenst war verschwun¬
den. Ich hörte deutlich einen schweren Körper zu Boden fallen, eine
Thüre knarren, Fußtritte ans morschen, ächzenden Dielen und Stimmen-
gestufter. Aus Furcht ertappt zu werden, zog ich mich zurück und
harrte einige Zeit schweigend hinter einigen Baumstämmen. Da sah
ich in dem Schatten der Buchen mehrere Gestalten, die einen Körper
fortschleppten, und unter ihnen ein Wesen in Frauenkleidern. Dann
hörte ich einige leise Worte aus einem befehlenden Munde, die Gestal¬
ten verschwanden in der Richtung nach der Villa, und bald war Alles
so still, daß ich daS Klopfen meines Herzens vernehmen konnte; droben
aber in dem Salon des S"ickhäu6ebens strahlten die Lichter ungestört
und still weiter.
Ich überlegte rasch, ob ich an Rückzug denken oder das Aben-
theuer verfolgen solle, und da mir mit Ersterem nicht viel gedient war, denn
ich hätte nur ungewisse Vermuthungen mit hinweggenommen, entschloß
ich mich keck in das Haus zu dringen. Würde ich Jemanden an¬
treffen, so wollte ich sagen, ich sei ein Fremder, habe den Weg ver¬
fehlt und wolle in's Dorf hinunter. Ich suchte nun die Pforte zu
dieser Gespensterbehausung und fand sie an der Mittagseite, die von
den hohen Buchen umdunkelt in tiefem Schatten lag. Da die Thüre
offen stand, trat ich ungehindert in die dunkle Hausflur und klopfte
zuerst an eine feuchte Thüre, die mir grade entgegenstand. Das dumpfe,
gedämpfte Echo eines verschlossenen Gewölbes war Alles, was mir
antwortete. So hätte ich mich zurückziehen müssen, wenn mein Auge,
an die Finsterniß gewohnt, nicht zur Rechten eine hölzerne Wendel¬
treppe entdeckt hätte. Entschlossen stieg ich hinan und ein Lichtstrahl,
der durch eine Spalte drang, führte mich zu einer Thüre, die ange¬
lehnt und offenbar der Zugang zu dem Gartensalon sein mußte. Ich
pochte zwei, dreimal, nichts regte sich, und ich konnte sogar den Luft¬
zug hören, der sich durch die Spalte der Thüre drängte. So blieb
mir nichts Anderes übrig, als zu öffnen und einzutreten. Der Licht¬
glanz blendete mich anfangs, und ich entdeckte dabei zu meinem Schre¬
cken, daß das Orchester noch vollständig versammelt sei. Rechts saßen
die Violinen, Eclli und Bratschen, links die Hörner, Flöten und Ho-
boen, und Alle starrten mich mit gläsernen Auge» an, die Instrumente
am Munde oder in den Händen. In der Mitte aber stand das Pult
des verschwundenen Kapellmeisters, ein dickes Heft, dem Anscheine nach
eine Partitur, lag zugeschlagen darauf und trug mit dicken Buchstaben
die Aufschrift 8ii,loni.t IZIänr.ni». Dabei war aber Alles ruhig und
leblos, und nur der Wind hob und senkte langsam die wehenden Gar¬
dinen an den offenen Fenstern. Mir war in jenem Augenblicke, als
gefröre das Blut in meinen Adern, ich war der geringsten Bewegung,
des leisesten Rufes nicht mächtig. Als endlich der Lichterglanz seine
Kraft verloren, entdeckte ich, daß ich, hier der einzige Lebendige, mich
unter einem Chor von Wachsfiguren befand. Was die Täuschung
aber so überredend gemacht hatte, war, daß jeder dieser stillen Virtuo¬
sen sein Pult, seine Noten und seine Lampe vor sich hatte. Selbst
als ich nicht mehr eine unnatürliche Geistererscheinung vor mir sah,
konnte ich mich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren, wie denn
überhaupt Wachsfiguren stets eine widerliche, schwer zu überwindende
Empfindung in mir hervorriefen. Ich weiß mich noch gut zu besin¬
nen, daß ich als Knabe einmal in einem Kabinet von Wachsfiguren
war und der Anblick einer Herodias mit dem Haupte des Täufers
mich so erregte, daß ich an der Hand des Vaters zu zittern anfing
und gleichwohl nicht im Stande war, ein Auge von der Gruppe zu
verwenden. Aehnlich ging es mir jetzt, ich schauderte innerlich, als ich
überall die leblosen Glasaugen auf mich gerichtet sah, und diese tod¬
ten Gebilde mir zuzurufen schienen: Was willst du hier? Entferne
dich! Unsichern Schrittes schlich ich die Treppe hinab und kaum fühlte
ich mich im Freien, so eilte ich fort, als jagte mich eine unsichtbare
Gewalt; ich war nicht eher ganz ruhig, als bis ich jenseits des Zau¬
nes mich befand. Hier hielt ich an und betrachtete aus der Feine
den Schauplatz jener sinnverwirrenden, geheimnißvollen Comödie. Nicht
lange, so sah ich Jemanden von der Villa herkommen und im Gespcn-
sterhäuschen verschwinden, bald darauf wurden die Fenster geschlossen
und die Lampen einzeln ausgelöscht, und es war mir dabei, als horte
ich die Stimmen einer wundersamen Geistermusik fugenartig verstum¬
men, bis mit dem letzten Lämpchen die Melodie erstarb und Alles fin¬
ster und ruhig war.
Mit sehr unheimlichen Reflerionen machte ich mich auf den Weg,
ich dachte an die tiefschwarzen, brennenden Augen der schönen Gräfin
und es erregte mir ordentlich das Gefühl eigner Schuld, weil ich mir
sie schon vorher als furchtbar unglücklich und furchtbar trotzend gedacht
hatte. War meine Neugierde und alle die Seelenkräfte, welche aus
Nichts einen goldenen Faden und mit dem Faden wundersame duftige
Gewebe spinnen, heftig erregt worden, so verdoppelte sich dies, als we¬
nige Schritte hinter dem Dorfe L. ein Reiter, von einem berittenen
Diener gefolgt, in verzweifelter Eile an mir vorübersprengte und ich
beim Schimmer der Mondsichel in ihm jenen unbekannten Astrologen
im Büffet des Theaters erkannte. War hier ein innerer Zusammen¬
hang? war die Rakete vielleicht ein Zeichen gewesen? Solche Fragen
wiederholte ich mir beständig und die Vermuthungen, die sie beantwor¬
ten sollten, wurden immer abentheuerlicher, der Alltäglichkeit fremder,
jemehr ich darüber nachsann.
Am andern Morgen bereute ich, das Abentheuer nicht verfolgt zu
haben, zumal da das eingetretene Regenwetter mich abhielt, nach B.
zu gehen. Später kamen dringende Geschäfte, und da Lust und Neu¬
gierde ermattete, so konnte mich nur ein sehr heiterer Tag nach B»
hinauslocken; es war ungefähr vierzehn Tage nach meinem abentheuer-
lichen Besuche des Gespensterhäuschenö. Ich traf die freundliche Wir¬
thin zu Hause, ließ mir wieder von ihrem Wein bringen und fragte
dann mit verhaltener Ungeduld nach dem Grafen und der Gräfin R.
Der Herr Graf, erzählte die redselige Frau, sei vor vierzehn Tagen
an einem Nerven schlage gestorben , die Leiche sei köstlich einbalsamirt
drei Tage und drei Nächte ausgestellt gewesen und am vierten sei die
Gräfin mit der Leiche in ihre Heimath nach Rußland gefahren; das
schöne Palais aber stehe jetzt zum Verkaufe frei und werde abmachst
versteigert werden, wenn sich kein Käufer finden sollte. So blieb mir
denn nichts übrig, als den Schauplatz meines Abentheuers noch ein¬
mal zu betrachten. Alles war wie früher, nur war die Villa jetzt fast
so ausgestorben, wie das GespcnsterhäuSchen, da überall die Laden ge¬
schlossen oder Gardinen hinter den Fenstern herabgelassen waren.
Bei dem Anwalt der Gräfin R., dessen Namen die Wirthin mir
genannt, erfuhr ich nur, daß seine Clientin sich nach Rußland zurück¬
begeben und den Winter wahrscheinlich auf ihren Gütern in den Ost¬
seeprovinzen zubringen werde. Von dem kühnen Reiter hörte ich aber
nichts wieder, und der Kellner im Theater wollte ihn das letzte Mal
grade an dem Tage gesehen haben, wo ich meinen Spaziergang nach
Tennewitz gemacht hatte. Das Aufsteigen der Rakete war von ihm
nicht bemerkt worden, der Engländer aber hatte sich sehr rasch und
schon um neun Uhr entfernt, was für den Kellner stets das Zeichen
war, daß er seinen Gast für die nächsten Tage nicht zu erwarten habe,
denn im andern Falle hatte er stets bis zehn Uhr ausgeharrt und sich
schläfrig mit gesenktem Haupte entfernt. Alles dies wollte mir an¬
fangs nicht aus der Seele, dle Glasaugen der Wachsfiguren starrten
mich beständig an, wenn ich allein im dunkeln Zimmer war, bis end¬
lich mein Leben sich so ereignißvoll gestaltete, daß ich kaum Zeit hatte,
mich viel mit mir selbst zu beschäftigen, und so schwand denn zuletzt
immer mehr und mehr die Erinnerung und selten und immer seltener
neckte mich das Erscheinen jener schwarzen Gluthenaugen.
Der Winter mit seinen Festen und Concerten war vorüber, das
Frühjahr kam und nur noch zum Beschluß hatte man einen Ball im
Casino veranstaltet. Ich überließ mich diesem letzten Rest der Winter¬
vergnügungen und nachdem ich einen Theil des Abends in der hun-
teil Menge mich bewegt hatte, zog ich mich aus dem gefüllten Saale
in die rauchigen Zimmer zurück, wo sich die Familienväter in langer
Weile dehnten, tranken, rauchten, nach der Uhr sahen lind wieder tran¬
ken und rauchten. Da wurden Tagesneuigkeiten, die man zehn Mal
schon gehört, zum elften und zwölften Male wieder hervorgeholt. Die
alten Herren saßen und schwatzten an einer langen Tafel, ich abseits
in einem Winkel schwieg still. Da zog der hauptsächliche Wortführer
jenes Areopageö, ein freundlicher, munterer Mann, eine prachtvolle
Brillantcndose aus der Tasche und bot sie dem Nachbar. Dieser
naschte von dem Tabak und betrachtete dann aufmerksam die reiche
Kostbarkeit, und namentlich den Deckel, den das Portrait einer schonen
Frau zierte. Die Dose machte die Runde, bis endlich ungestüme Fra¬
gen laut wurden, woher das Prachtstück komme und wer das schöne
Frauenbild sei.
Das ist eine lange Geschichte, sagte der Eigenthümer, aber wenn
Sie hören wollen, meine Herren, ich bin bereit:
„Es war im vergangenen Sommer, ungefähr Ende August, als
mir eines Nachmittags mein Diener ein Billet bringt, mit dem Be¬
merken, es warte eine Herrschaft in einer reichen Equipage vor dem
Hause. Der Brief war englisch geschrieben und enthielt die Bitte,
ich möchte der Unterzeichneten einige Minuten Gehör schenken. Bald
darauf führte der Diener einen Herrn und eine Dame herein, Beide
sorgfältig, modisch, aber ohne Putz gekleidet; die Dame, dieselbe, die
Sie auf der Dose sahen, war in tiefer Trauer. Man setzte sich und
ich fragte begierig, ob meine ärztliche Hülfe in Anspruch genommen
werden solle. Alles in englischer Sprache, denn die Fremde war eine
russische Gräfin und des Deutschen nicht mächtig.
„Nicht Ihre Hülfe," erwiderte die Dame, „sondern ein Gutachten,
eine Entscheidung über eine Wette möchten wir von Ihnen erbitten;
nur zürnen Sie nicht, wenn ich etwas weit aushole. Ein junges,
älternloseS Mädchen ward von ihren Verwandten einem reichen, vor¬
nehmen Manne verheirathet. In Petersburg vollzog man die Trauung,
aber der Gemahl erhielt einen Posten bei der Gesandtschaft in London
und man reiste unverzüglich dorthin. Er ist still und gütig gegen die
Gattin, aber er liebt sie nicht, denn man kann nur Eins lieben, und
dieses Eine ist ihm die Musik. Er hat Hang zum Trüben und Me¬
lancholischen und dabei die fire Idee, ein großer Tonsetzer zu sein.
We>b und Pflicht wird vernachlässigt; das Weib erträgt es, der Ge¬
sandte aber klagt in Petersburg. Dn fällt es dem halb Wahnsinnige
em, zu componiren. Neider, Feinde und halbe Freunde, die ihn gern
los wären, bestärken ihn in dem unglücklichen Wahn, indem sie über¬
trieben loben und den Entzückten überreden, seine Symphonie in einem
öffentlichen Theater aufführen zu lassen. Der Plan gefällt, der Irre¬
geleitete scheut weder Mühe noch Kosten, er besticht den Director eines
Schauspielhauses, prahlende Affichen werden gedruckt und höhnisch la¬
chend sitzt der Chor der Neider und Spötter am Abend in den ParketS
und ersten Ranglogen; ein ungeduldiges, ein englisches, der Musik ab¬
holdes, rohes Publieum füllt vie Parterres und die höchsten Tribünen.
Die Gattin hatte sich unterdessen entschädigt; sie lernte einen Mann vou
ihrem Alter, bescheiden und voll feuriger Empfindung, kennen; er ist
ein Britte; er hat aus Neigung Medicin studirt und will nach West¬
indien gehen, um die Naturwissenschaften durch Beobachtung und Ent¬
deckung zu bereichern. Beide finden sich, lieben sich — heftig, leiden¬
schaftlich, tugendhaft. Der Abend der Aufführung des Musikstückes
ist zum Rendezvous bestimmt. Der Geliebte kommt, wirst sich ihr zu
Füßen, faßt ihre Hand und küßt sie stürmisch — da wird die Thüre
aufgerissen und der Gemahl tritt verstört mit wilder, sinnloser Geberde
ein. Er hatte die Leitung der Symphonie selbst übernommen, Alles geht
im Anfang leidlich; das Parterre gähnt bei dem Durcheinander des
musikalischen Unsinnes; da wird im letzten Theil in den Logen des
Amphitheaters ein Zischen laut, und der Mob bedarf nur eines aristo-
kraktischen Winkes, um sich für seine bewiesene Geduld durch Pfeifen
und Stampfen zu entschädigen. Sinnlos stürzt der gedemüthigte Kapell¬
meister aus dem Hause und findet die Gattin fast in den Armen des
Freundes. Dieser Anblick verwirrt sein schwer bedrohtes Gehirn voll¬
ständig, er lacht wild auf und stürzt in Zuckungen zu Boden. Freund
und Gattin pflegen den Fieberkranken, sein hülfloser Zustand ist ihnen
heilig, und als die heftige Erregung nach wenigen Tagen von einem
heilsamen Schlaf besänftigt wird, verläßt der Freund das Haus und
der unglückliche Maestro erwacht in den Armen seines Weibes. Aber
seine Melancholie hat sich gesteigert, er kann kein fremdes Männerge-
Hcht mehr im Hause sehen, ohne außer sich zu gerathen, Musik aber
ist ihm vollends unerträglich, der leiseste Ton kann ihn in Nasen ver¬
setzen. Da räth der Freund, London zu verlassen und eine Reise auf
dem Continent zu machen, ein ewiger Wechsel soll das zerrüttete Ge¬
müth wieder ordnen und neu erschaffen. Alles geht anfangs glücklich,
man kommt hier an, läßt sich auf dem Lande nieder; der Freund bleibt
in der Stadt, an durch sein Erscheinen die alte Krankheit nicht wieder
zu wecken. Da eines Abends läßt sich der Gatte festlich ankleiden;
man fragt, was er beabsichtige. „Ich muß zum Concert — es ist schon
spät — acht Uhr vorüber — man wartet - - eilt! eilt!" Bei diesen
Worten sehen sich die Diener bestürzt an, man verschließt das Halts,
der Gefangene tobt und wüthet, der alte Zustand mit seinem ganzen
Jammer kehrt wieder und ein heftigeres Fieber bricht aus. Der Freund
wird zu Rathe gezogen; man hat die Entdeckung gemacht, daß der
Wahnsinnige oft stundenlang sich damit unterhält, Partituren durchzu¬
blättern; dabei bemerkt man bald eine heitere, bald eine trübe Stim¬
mung, je nach dem Charakter des Musikstückes, an ihm; ja man hat
ihn sogar einmal weinend über Mendelsohn'S neuestem Opus ange¬
troffen, und man schließt daraus, daß er die Musik völlig in den Noten
genieße. Zene Anfälle wiederholen sich in kurzen Pausen, und so er¬
sinnt der Freund ein mögliches Heilmittel. Man läßt Wachsfiguren
anfertigen, ein Salon wird zum Concertsaal umgeschaffen, das stille
Musikchor findet dort Platz, Alles wird möglichst täuschend nachgeahmt
und als der Unglückliche wieder einmal begehrt, in das Concert zu
gehen, führt man ihn in den Salon. Der Freund wird durch ein Zeichen
rasch benachrichtigt und er und die Gattin warten im Corridor auf
den Ausgang. Der Wahnsinnige läßt die Symphonie von den Puppen
spielen und geberdet sich ganz wie im Opernhause — nichts stört die
Täuschung; nur im dritten Satze bei der Stelle, wo das Pfeifen laut
geworden, sinkt er ohnmächtig nieder. Indessen sind die Nachwehen
des Unfalls geringer wie bei den frühern Ausbrüchen, er nimmt mehr
Theil an dem Leben, er fährt und reitet spazieren und erst uach vier
Wochen wiederholt sich derselbe Auftritt. Der Freund ist gleich bereit,
er verordnet die nöthigen Mittel, er sieht die Geliebte und verläßt sie
wieder, wenn das Fieber des Gatten im Abnehmen ist. Indessen be¬
merkt man nicht, wie die physische Kraft des Kranken mit dem Geiste
schwindet; man sucht sich zu überreden, daß er sich von Tag zu Tag
bessere, ja man beachtet uicht einmal, daß jene Zufälle in immer kür¬
zern Pausen eintreten und gefährlicher werden. Endlich wiederholen
sie sich schon in zehn Tagen und oas letzte Mal in achten. Dieses
letzte Mal überdauert der morsche Körper nicht, ein heftiges Fieber
verzehrt das noch übrige Mark und der Kranke fällt in einen lethargi¬
schen Schlaf, um nur auf wenige Augenblicke zu erwachen. Er sieht
die Gattin und den Freund an seinem Lager, er lächelt sanft und be¬
friedigt, als wäre er sich alles Vorgefallnen bewußt.....
Rascher, als ich es hier erzähle, hatte nur die schöne Frau diese
Verhältnisse auseinandergesetzt und dabei war ein trüber Ernst von ih¬
rem Gesicht gewichen, jetzt erzwang sie plötzlich ein Lächeln und fuhr fort:
„Nun behauptet dieser Herr hier, daß die Gattin ihre Pflicht er¬
füllt habe und in die Arme des Geliebten eilen dürfe, ich aber kann
mich von der Meinung nicht trennen, daß sie gewissenlos gehandelt
habe. Sie sind Arzt, sind der Gründer einer segensreichen Irrenanstalt
— entscheiden Sie, der Wettpreis ist kein unbedeutender."
Ich erwiderte hierauf, daß ich als alter Mann mir kein Urtheil
in Herzensangelegenheiten zutrauen dürfe und verwies sie auf ihren
jungen Begleiter, der jene Gefühle besser verstehen könne.
„Es handelt sich weniger um Herzensangelegenheiten," entgegnete
die schöne Fran, „als um die Entscheidung der Frage: Konnte dem
Unglücklichen möglicherweise noch geholfen werden? Und'wenn wir
Sie zum Schiedsrichter erwählten, so geschah es, weil wir von Ihrem
gleisen Haare ein völlig leidenschaftloses Urtheil erwarteten."
Ich antwortete nun, daß ich auf jene Frage noch weniger etwas
Entscheidendes sagen könne, da ich selbst weder den Kranken noch die
Krankheit beobachtet hätte; darin aber habe man sicher gefehlt, daß
man andere Aerzte nicht zugezogen, und dann wäre ich stets der Mei¬
nung gewesen, nnr ein Deutscher könne den wahnsinnigen Deutschen,
nur ein Russe den Wahnsinn des Russen am besten heilen.
„Halten Sie nach alle dem die Gattin nicht für strafbar?" fragte
mich heftig die schöne Frau, indem sie meine Hand ergriff und mir fest
ins Gesicht schaute.
„Allerdings", erwiderte ich nach einigem Bedenken, „sie ist nicht frei
von Schuld."
„Sie hat es selbst gefühlt!" rief die Russin, „sie ist aber auch
reuig und bußfertig. Adieu Thomas Scott! und Dank Ihnen, ehr¬
würdiger Mann!" Mit Anstand verließ sie das Zimmer und verabschiedete
mich kurz im Vorsaale. Als ich wieder ins Zimmer trat, eilte der
genannte junge Mann auf mich zu, faßte meine beiden Arme krampf¬
haft, und blieb so sprachlos vor mir stehen, bis man unten einen
Kutschenschlag zuklappen und einen Wagen davonrollen hörte. Jetzt
ließ er mich los und rief im tiefsten Schmerze:
'
„Nun ist sie fort! Ans ewig! Ihr Wort hat uns unwider¬
ruflich getrennt — Gottl auf ewig! — Wie gebrochen schlich er aus
meinem Zimmer und' ich Horte sein lautes Schluchzen, als er durch den
Vorsaal ging. Am andern Morgen aber brachte man mir die Dose
mit dem Bildniß der schönen Frau, und ich habe weder sie noch den
jungen Mann je wieder zu Gesicht bekommen. ..."
Die alten Herrn bedankten sich für das Mährchen, und meinten
der Herr Hofrath sei der spaßhafteste alte Herr auf Gottes Erdboden,
nur zwei der Jüngern waren gläubig, sie meinten der Arzt hätte besser
gethan, wenn er mehr Mensch gewesen wäre. Ich aber ließ den Er¬
zähler nicht aus dem Auge und als ich ihn einen Moment allein sah, bat ich
bescheiden, mir die Dose zu zeigen; es war ein schönes Frauenbild,
bleich wie Alabaster, hohe Stirn und regelmäßige, feste, kalte Züge —
aber Augen — tief schwarz wie eine Gewitterwolke bei Nacht, der ein
versengendes Leuchten entfährt.
Vor zehn Jahren traten mehrere Männer der Wissenschaft, die
Freiherren von Jacquin lind Hammer-Purgstall, die Professoren von Lit-
trow und von Ettingshausen und der Historiker von Buchholz zusam¬
men und verfaßten ein Memoire über die Gründung einer Akademie
der Wissenschaften in Wien, die schon vor mehr als hundert Jahren
von Leibnitz beantragt worden war. Der Minister des Innern, dem
als solchen der Gegenstand zunächst lag, Graf Kolowrat, übernahm
die Petition und legte sie dem Staatsrath vor, wo sie zur Berichter¬
stattung an die k. k. Hof-Studiencommission und an die philosophische
Facultät gelangte. Bei der erstern gab der Rath Purkardshofer, völlig
unbekannt mit dem Begriffe einer Akademie der Wissenschaften, die
unsterbliche Ansicht zu Protocoll: „Wien bedürfe keiner Akademie der
Wissenschaften, da die Hofstudiencommission eine solche schon darstelle."
Bei der philosophischen Facultät, woher, bei der beabsichtigten Aus¬
schließung der Philosophie, eine Begutachtung wohl nur ironisch ver¬
langt werden konnte, äußerte der Vicedircctor Heintl: „Wien bedürfe
keiner dritten Akademie der Wissenschaften, da es schon zwei: die
Akademie der bildenden Künste und die Josephinische (medicinisch-chi¬
rurgische) besitze"!!! Trotz dieser protocollirten Ignoranz wurde die
Angelegenheit in beiden genannten Stellen begutachtend zurückgelenkt
und konnte im Verlaufe von Jahren aus dem Bureau der Staats-
kanzlei keine Erlösung finden. Die hundertfachen Bemühungen, nament¬
lich des Freiherrn von Hammer-Purgstall, dem man in den Audienz¬
sälen der Erzherzöge Ludwig und Franz Karl unvermeidlich begegnete,
und der als eifriger Sollicitator in den Salons der Minister und Präsi¬
denten Kolowrat, Kübel, Pillerödorf und überall, wo er Beförderung
des Unternehmens zu erwirken hoffte, fortgesetzt erschien, fanden mehr¬
fache Besprechung und wurden in den Grenzboten, wo er in einem
Gespräche mit dem Fürsten Metternich ausgeführt wurde, witzig persistirt.
Hammer^Pnrgsrall war wirklich komisch und rührend zugleich; wenn ihn
auch Alle belächelten lind sein Drängen als Eitelkeit einer erhofften
Präsidentschaft erklärten und seine persönliche Beziehung zum Fürsten
Metternich eben als das Haupthinderniß betrachteten, er gab die Idee
nicht auf; er hielt es für die Ehre Oesterreichs empfindlich, für die
Deutschen in der österreichischen Monarchie beleidigend, daß die Böhmen,
die Ungarn, die Italiener seit lange besitzen, was der deutsche, neben
dem italienischen intelligentesten Theil der Monarchie, vergebens zu er¬
reichen strebt.
Zehn Jahre vergingen; Jacquin, Littrow und Buchholz starben
und die Haare der Uebrigen, die eine Akademie zu constituiren berufen
sind, wurden mittlerweile grau; die Hoffnung verschwand mehr und
mehr und selbst Hammer-Purgstall, wenn er sie auch nicht im Herzen
aufgegeben hatte, fing zu zweifeln an, daß er ihre Erfüllung erleben
werde.
So standen diese Angelegenheiten, als die Proklamation einer
Akademie der Wissenschaften in Wien, am Pfingstfeste dieses Jahres in
der Wiener Hofzeitung mitgetheilt, die Augen Aller blendete, so uner¬
wartet hatten seit Jahren nur wenige Ereignisse gewirkt, wenige so lebhafte
Besprechung selbst in solchen Kreisen gefunden, wo die Wissenschaften eben
nicht Stoff der Unterhaltung zu sein pflegt. Die Ueberraschung war
aber eine um so größere, als grade in dem Momente des Unglücks in
Polen Niemand die Aufmerksamkeit auf den Zustand der Wissenschaften
in Oesterreich gelenkt glaubte, noch weniger, daß die eben jetzt außer¬
ordentlich in Anspruch genommenen Finanzen (selbst der Eisenbahnbau
wurde lässiger betrieben, weil das Aerar den Baupächtern die stipulirten
Vorschüsse verzögern mußte) eben jetzt eine Ausgabe zu machen ge¬
sonnen sei, welche jährlich 4V,(1W Gulden Conv.-Münze in Anspruch
nimmt, eine außerordentliche Summe in einem Lande, wo bis jetzt für
die Wissenschaft als solche blutwenig verwendet worden war. Einige Su¬
perkluge wollten sogar die Absicht wittern, die in der Polenangelegenheit
gegen einen sehr hohen Staatsmann wachgerufene Stimmung der deutschen
Presse durch ein Zugeständniß an geistige Entwickelungsfragen etwas um¬
zustimmen, und sie suchten ihre Behauptung dadurch zu commentiren, daß
eine Akademie der Wissenschaften, die doch streng in den Bereich des
Ministers des Innern gehört und auch von diesem vor zehn Jahren
aufgenommen wurde, plötzlich „auf den Antrag des Ministers deö
Aeußern" in's Leben trat. Andere meinten, der Fürst wolle durch einen
freithätigen, von der gedachten Eingabe und Bemühung abgesonderten
Act den ihm verliehenen Orden pmir I« moi-ne verewigen.
Wie man auch combinirte, Alle vereinigten sich in dem Wohlge¬
fallen an der Thatsache selbst. Der Kanzler der vereinigten Hofkanzlei
Freiherr von Pillersdorf, wurde beauftragt, bei Zuziehung einiger
Männer der Wissenschaft einen Statutenentwurf rasch vorzulegen, denn
mit der Enthüllung des Kaiser-Franz-Monuments, so hieß es, sollte
auch die Akademie der Wissenschaften in'ö Leben treten. Freiherr von
Pillersdorf bildete ein Comite aus den Hofräthen: Hammer-Purg-
stall, von Baumgartner, dem Regierungsrathe und Professor von
Ettingshausen und dem Professor von Endlicher. Folgendes ist der
Umriß des Statutenentwurfs:
Geschichte, Philologie und die naturhistorischen Wissenschaften wer¬
den aufgenommen, Philosophie, Politik und Theologie ausgeschlossen.
Die Akademie soll aus vierundzwanzig in Wien ansässigen Mitgliedern
mit einem permanenten Secretair und einem von drei zu drei Jahren
neuzuwählenden Präsidenten zusammengesetzt sein. Davon sollen acht der
historischen uno philologischen, sechszehn der naturhistorischen Section
angehören. Jedes Mitglied soll den Rang und Titel eines k. k. Regierungs¬
rathes erhalten. Die ältern zwölf Mitglieder beziehen einen Gehalt
von I2l)0 bis 15lW Gulden C.-M, die jüngern sind unbefoldet, rücken
aber natürlich vor. Der Secretair erhält 2l)ol), der Präsident,3l)W
Gulden C.--M. jährlich. Die Akademie verwendet den Rest der jähr¬
lichen Dotation, also etwa 20MV si., auf Preise für Herausgabe von
gelehrten Schriften und von Annalen, die statt der literarisch vererden¬
den und durch den Censor Deinhardstein impotent redigirten Jahrbücher
der Literatur erscheinen werden.
Dies die allgemeinen Umrisse des von den genannten Männern
verfaßten Statutenentwurfes, der bald in den gebildeten Kreisen der
Residenz bekannt geworden war und mannichfache Kritik erlebte. All¬
gemein sprach man sich gegen ven Ausschluß der Philosophie aus und
konnte sich erst dann darüber beruhigen, als man mit gerechtem Er¬
staunen las, daß die Akademie der Wissenschaften in Leipzig, die doch
am Geburtstage Leibnitzens eröffnet wurde, die Philosophie — das
Element, in dem alle andern Wissenschaften leben und athmen — die
Philosophie ebenfalls ausschloß. Am meisten fand die Maßregel Tadel,
daß sechszehn Akademiker der naturhistorischen Section und nur acht der
historischen und philologischen zugewiesen werden sollen. Das naturhistori¬
sche Studium findet hier, unbeirrt von den Hemmnissen, welche den andern
Wissenschaften im Wege liegen, seit Jahren eine freithätigere Entwick¬
lung, und grade Historie und Philologie, die gewaltig darniederliegen,
bedürfen lebhafteste Unterstützung. Ueberdies dürsten sich in Wien kaum
sechszehn Naturhistoriker finden, welche eine Akademie zu repräsentiren
im Stande sind, es müßte denn sein, daß man auch solche aufnähme,
die durch Compilirung eines Schulbuchs sich einen localen Lorbeerkranz
erworben haben. Wenn man weiß, daß unter den acht Mitgliedern
der historisch-philologischen Section in Ermangelung einer besondern
Section für die schöne Wissenschaft auch Grillparzer und Halm aufge¬
nommen sind, so verengert sich der Kreis noch mehr und befindet sich
im entschiedensten Nachtheile gegenüber der Ueberzahl der Naturhistoriker.
Man wollte auch finden, daß die Gehalte im Vergleiche zu denen der
französischen Akademie zu groß sind und daß es zweckmäßiger wäre, Alle
gleichmäßig zu besolden, statt die zwölf Aeltern mit 1200 und ,150V si.
C.-M. zu betheiligen, indem anzunehmen ist, daß diese bereits irgend
eine Carriere gemacht haben und weniger eines Gehaltes als die Jün¬
gern bedürfen. Als einen Nachtheil wollte man ferner das Sich-geltend-
machen der Büreaukratie erkennen, indem jeder Akademiker wirklicher
k. k. Regierungsrath sein solle, statt diesen Titel dem stolzen Range eines
Akademikers zu unterordnen. Diese Anordnung hat noch den Nach¬
theil, daß ein junger Gelehrter, der vielleicht als Praktikant in einem
Bureau angestellt ist, nicht Akademiker werden kann, weil er ja sonst
sogleich Regierungsrath würde; in Oesterreich ein Sprung, wie der von
Ajaccio auf den französischen Kaiserthron.
Lange war in der gelehrten Welt Wiens keine gleiche Aufregung
wahrnehmbar; Hoffnung und Ehrgeiz, Phantasie und Combination wett¬
eiferten. Wer wird Akademiker? wer Secretair? wer Präsident? wer
Kurator? Rücksichtlich der Akademiker kam sogar das Lächerliche vor, daß
Hr.Deinhardstein, der Redacteur der „Jahrbücher", der freilich durch deren
Eingehen materiell zu verlieren hatte, um einen Sitz in der Akademie förm¬
lich anhielt, zu dem man doch nur berufen oder gar nicht gelangen
kann. Als Secretair wurde allgemein Herr von Endlicher genannt,
dessen vielfaches Wissen ihn zu dieser Stelle geeignet erscheinen läßt,
mit dem aber leider nicht die Ruhe eines Geschäftsmanns vereinigt ist.
Als Präsidenten bezeichnet die öffentliche Meinung ohne Widerspruch
den Freiherrn von Hammer-Purgstall, der nicht allein als eine europäi¬
sche Celebrität dasteht, sondern auch als einer der ältesten Staatsbe¬
amten. Die zwischen ihm und dem Fürsten Staatskanzler bestehende
Spannung hielt man für um so weniger hinderlich, als man von der
Gerechtigkeitsliebe des Fürsten, selbst bei etwaiger persönlicher Abneigung,
sich überzeugt hält, und als auch Hammer-Purgstall der Präsidenten¬
stuhl nach drei Jahren nicht entgehen kann. Denn nur die erste Be¬
setzung der Akademie geschieht auf den Antrag deö CuratorS durch
den Kaiser selbst; in der Folge wählt und besetzt die Akademie ihre
Stellen allein und den Präsidenten aus ihrer Mitte.
Es erweckte eine freudige Stimmung, daß von Seite des Staats-
kanzlers die Würde eines Curators dem Erzherzog Johann angeboten
wurde, wiewohl Manche fürchteten, daß der vielbeschäftigte ergraute
Herr keine neue Last sich aufbürden werde. Zur Freude Aller lehnte
er diese Würde nicht ab.
So standen die Sachen vor Monaten, und so stehen sie bis
zu dieser Stunde noch. Denn seit jener Zeit ist die Akademie
wie verschollen und verlautete nicht hier und da, daß die ursprünglich
für die Provinz Oesterreich bestimmte Akademie auf die Gesammt-
monarchie ausgedehnt werden solle (was einen neuen Sratuten-
entwurf nothwendig machen würde); sprächen nicht da und dort einzelne
Männer davon, so müßte man annehmen, daß der Staat die Pro-
clamation der Akademie ebenso zurücknehmen werde, wie das bereits
publicirte Edict wegen Gewerbsfreiheit. Wir sind anderer Meinung und
können nicht glauben, daß man ein die Ehre der Wissenschaft bezweckendes
Institut nur deswegen angeregt habe, um durch dessen Nichtrealisirung
sie um so empfindlicher zu verletzen. Als eine glänzende Garantie steht
Erzherzog Johann an der Spitze und man knüpft an seine Ankunft in
den nächsten Wochen auch die Realisining eines vom Staate gegebenen
In der tiefen Bewegung, welche uns bei der Durchlesung des so
eben erschienenen sechsten Bandes von Schlossers „Geschichte des acht¬
zehnten und der sünzehn ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts"
ergreift, ist bei all' dem niederschlagenden, welches die Darstellung die¬
ser Zeit (von »797—1806) besonders für den deutschen Patrioten bie¬
tet, doch ein tröstlicher Gedanke vorherrschend. Es ist die befriedigende
Einsicht, daß das ganze, seiner Zeit so geheim gehaltene und so fein
gesponnene Gewebe politischer Erbärmlichkeit und armseliger Nichts¬
würdigkeit, dem unser arMes Vaterland in jenen unheilvollen Jahren
seine tiefste Erniedrigung verdankt, doch endlich vor dem Weltgerichte
der Historie in sonnenheller Klarheit erscheinen ausi.
Es ist grade in dem gegenwärtigen Augenblicke doppelt lehrreich,
der deutschen Menschheit zu zeigen, was aus einer Nation wird, wenn
die allgemeine Schlaffheit, Feigheit und Verknechtung stumpfsinnig die
Ehre und das Heil des Vaterlandes fremder Anmaßung gegenüber
allein einigen wenigen Einzelnen überläßt. Denjenigen „Halben und
Father", welche uns jetzt noch der dänischen Anmaßung gegenüber fra¬
gen, waS denn diese Petitionen und Adressen eigentlich sagen wollen,
ihnen muß man diesen Band der Schlosser'schen Geschichte vorlegen.
Er wird ihnen eine Antwort ertheilen, vor der ihnen die Haare zu
Berge stehen. Aus ihm werden sie erkennen, wie viel historische Schmach,
welches unermeßliche Elend und welche Ströme von Blut dem deut¬
schen Vaterlande erspart worden wären, wenn vor einigen vierzig Jah¬
ren dieselbe Gesinnung, dasselbe Gemeingefühl die deutsche Menschheit
erfüllt hätten, über welches jetzt diese Unverbesserlichen, die Alles ver¬
gessen und nichts gelernt zu haben scheinen, vornehm die Nase rümpfen.
Wären die Deutschen nicht damals, wie Schlosser sagt, „seit Jahr-
Hunderten gewohnt gewesen, daß man ohne sie zu fragen über ihr Le¬
ben, ihre Güter, ihre Rechte aus dem Cabinet decrctirte", nimmer hätte
ein französischer Marinelieutenant in deutschen Landen seinen Königs¬
thron aufgeschlagen. Ware die absolute Fürstengewalt mit ihren Ca-
binetten allein im Stande, eine Nation, wie die deutsche, gegen frem¬
den Uebermuth in ihren Ehren zu wahren, so hätte sich's zeigen müs¬
sen zu einer Zeit, wo das System des Absolutismus und der unbe¬
dingt gehorchenden, nur für Weib und Kinder und Hab' und Gut sor¬
genden Unterthanen in seiner Blüthe stand. Die Geschichte hat aber
hierüber in einer Weise entschieden, die auch dem blödesten Auge klar
sein müßte, wenn es sich nicht geflissentlich dem hellen Lichte der Wahr¬
heit verschließt, und wenn die Verblendung der Gegenwart nicht der
unwidersprechlichcn Thatsachen der Vergangenheit das kindische Rai-
sonnement entgegensetzte; „daß dies aber ganz andere Zeiten und Ver¬
hältnisse gewesen." Ja, Gottlob, die „Zeiten" haben sich geändert,
aber die „Verhältnisse" sind heute noch dieselben, und wenn sie sich
1816 anders gestalten wie 18W, so ist es wahrlich nicht das Verdienst
Derjenigen, welche die Zeiten von I8W gern wieder herbeiführen möch¬
ten. Diese Wahrheit kann man bei Schlosser auf allen Seiten lesen.
„Napoleon", sagt Schlosser, vom Jahre der Schlacht von Auster-
litz redend, „hatte die Fürsten und ihre Diener elend gefunden und
begann daher auch die Völker zu verachten. Von diesem Augenblicke
an kam Uebermuth und Verachtung der öffentlichen Meinung über den
französischen Kaiser." Das war nach Schlosser die schlimmste aller
Folgen der Schlacht von Austerlitz für die Menschheit.
Niemand wird Schlosser nachsagen können, daß er zu irgend ei¬
ner Zeit ein „Verehrer" Napoleons gewesen sei. Er ist es auch in
diesem Bande nicht geworden. Aber dennoch ist die eherne Gestalt
dieses Mannes dem Historiker inmitten all' der „Feigheit", „Elendig¬
keit" und „Gemeinheit" der Zwerge, welche diesem Giganten die Spitze
bieten zu können meinten, inmitten all' der Jämmerlichkeit deutscher
Zustände, welche der Geschichtschreiber in diesem Abschnitte seines Werks
zu schildern mit Befriedigung verweilen mag.
Schon aus der genauen Betrachtung Napoleon's gegenüber dem
Directorium und Talleyrand im Jahre 1797 geht ihm hervor: „Wie
groß er und wie erbärmlich alles Andere war, was ihm gegenüber¬
stand oder mit ihm in Berührung kam", und wie hoch er auch über
der „Fantafterei der pariser Demokratie" stand (S. 38), den nüchter¬
nen Historiker entzückt die schneidende aber haarscharf treffende Ansicht
Napoleon's von seinen freiheitsschwärmerischcn italienischen Landsleu-
ten, die ihn an Talleyrand schreiben ließ: „Von« vous inn^im;»
1:^ liljvrlt; ditil tair« als ^runcles all«se!8 :» un neu^Jo in»i>, «»psüsti-
ti<zux, nantillon et Illolie!" Es erquickt ihn, wenn sein Bonaparte
dnrch Vereinigung der bisher von Graubündten abhängigen Gegenden
des Velrelin, Chiavenna und Bormio die „rühmliche und schöne Rolle
zu spielen hat, dem Schwächern gegen den Starken, und gegen das
positive Recht der Juristen zu einem Rechte zu verhelfen, welches nie
verjährt, weil es von Gott, nicht von Juristen herstammt!" Von der
Schnelligkeit, mit der beim Beginn der ägyptischen Erpedition Malta
innerhalb acht Tagen organisirt ward, heißt es: „Größe des Geistes
zeigt sich überall. Alles ward von Bonaparte ganz vortrefflich einge¬
richtet und angeordnet. Nach Achtung für Grundsatz und Sittlichkeit
in der Wahl der Mittel zu politischen Zwecken und nach Rücksicht auf
den moralischen Charakter der Menschen, denen man bedeutendere Po¬
sten gibt, darf man bei Bonaparte so wenig als bei allen Regierun¬
gen unserer Zeit fragen." (S. 218—219.) Er bewundert den Helden
selbst noch an jenem 19. Brumaire, wo dieser „die Republik in eine
militairische Monarchie umwandelte" und setzt hinzu, „daß diese Um¬
wandlung zum großen Vortheile von Frankreich und von ganz Europa
gediehen sein würde, wenn der große Geist, der die neue Ordnung er-
schuf, auf dem plebejischen Wege, der ihn zur Heldcngröße geführt
hatte, beharrt wäre und nicht das alte Ritterthum und den byzantini¬
schen Thron erneut hätte." (S. 25,8.) Diesem Vorwurfe werden wir
später noch weiter ausgeführt begegnen.
Der Zug nach Italien, „der durch die Einfalt der Oesterreicher
und durch ihr Verzagen herbeigeführte glänzende, schnelle Erfolg",
machte Bonaparte zum Abgott aller Franzosen, ja man kann sagen
aller Welt. Schlosser, aller französischen Begeisterung abhold, kann
doch nicht umhin, in dieselbe wenigstens 'zur Hälfte einzustimmen:
„Groß war er damals allerdings (ruft er aus), besonders wenn man
ihn mit den regierenden Pygmäen und ihren adligen Ministern ver¬
glich." (S. 287.) Er beklagt ihn, daß er zu seinen kolossalen Plänen
alle diplomatischen Künste der allen Zeit neben der ganzen Sophisterei
der Revolution anzuwenden gezwungen war. „Er handelte nie ab¬
sichtlich schlecht, er war oft gemüthlich und freundlich, that wohl und
forderte das Gute, wie er das Schlechte haßte; aber die Verachtung
der erbärmlichen Menschen und Regierungen, mit denen er es zu thun
hatte, und die genialen Pläne, mit denen er stets umging, brachten
ihn auf den Gedanken, daß alle Menschen mir als seine Werkzeuge
brauchbar seien und daß ein großer Zweck schlechte Mittel heilige.
Auf diese Weise ward er erst Götze aller Enthusiasten, dann Feind und
Verfolger alles Edlen." (S. 315.) Darum steht er obenan unter den
Gegnern einer freien Presse; und schon sein Decret vom 17. Januar
des Jahres 18(10 sprach es deutlich genug aus: „daß Journale und
Zeitungen Alles, was Negierung und Beamten thäten, nur loben, nie
tadeln dürften." (S. 316.) Als der erste Consul die alten officiellen
Kirchenceremonien in Mailand und Paris ans sich anwenden ließ, mit
denen den weltlichen Herrschern von Seiten der Geistlichkeit gehuldigt
ward, that er es, um „den unkirchlich denkenden Köpfen in Paris zu
trotzen, die er, wie man jetzt überall zu thun pflegt, auf sanscülottische
Weise „„Atheisten"" schalt." (S.3I8.) Und das war um dieselbe Zeit,
als Bonaparte durch Wiedereinführung eines Hofes > „den Ton und Ge¬
schmack" bilden half, „der jetzt unter den Vornehmen und Reichen all¬
gemein herrscht, in deren Kreisen seit dieser Zeit Natur, Ernst und
Wahrheit immer mehr Gegenstand des Spottes ward." (S. 28.1.)
Dennoch aber erkennt der Historiker in diesem Napoleon willig den
größten Mann des Jahrhunderts," und nichts schmerzt ihn mehr, als
dies Genie gelegentlich unter den Kniffen und Pfiffen eines Talleyrand
„dienen zu sel'en." Dies erscheint ihm um so unwürdiger, als es hi¬
storisch bewiesen und ausgemacht ist, „daß sich in den Jahren 1861
u. f. alle Fürsten und alle Minister Europas jedes großen Gedankens
unfähig zeigten, daß sie den Franzosen überall nachstanden, daß sie ohne
alle Würde waren und nicht einmal begriffen, worin Bonaparte'S Größe
eigentlich bestehe." (S. 459 — 460.) Dieser „größte Mann seiner Zeit
hätte keiner Cabalen, keiner Polizeispione, keiner Pfaffen bedurft, wenn
er nicht das alte Treiben durchaus hätte erneuern wollen," und wenn
er zweitens nicht übersehen hätte, „daß sich auf Persönlichkeit des Re¬
genten Staatseinrichtungen nicht gründen lassen" (S. 467 und 498).
Aber der größte Irrthum, der diesen Riesen stürzte, war und blieb
doch der, „daß er den neuen Geist verrieth, der ihn groß gemacht, daß
er den plebejischen Weg verließ, der ihn zur Heldengröße geführt hatte,"
daß er mit einem Worte es unternahm, „das Mittelalter und die neue
Zeit versöhnen und vermischen zu wollen." (S. 395.) Hier erhebt der
Historiker warnend die Hand und zeigt auf das offne Wundenmal un¬
serer Zeit. Selbst die Sprache steigert sich zur Erhabenheit des Ernstes
in dem folgenden Zurufe: „Wenn es einem solchen Manne, wie Na¬
poleon Bonaparte war, nicht gelungen ist, zwei unverträgliche Dinge:
das Bedürfniß freier Bewegung, welches unserer Zeit eigen ist, mit
starrem Hof-, Kasten- und Priesterwesen und absoluter Regierung der
ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu verbinden, wie sollte
das, was ein Riese nicht bewirken konnte, ohne neuen Samen furcht¬
barer Zwietracht auszusäen, den Pygmäen gelingen, die es jetzt überall
versuchen! Er allein konnte des Flitters, des Scheines und des Truges
entbehren, weil er wahrhaft groß war und weil er Frankreich aus der Anar¬
chie und ans demokratischer Raserei erlöste. Er allein konnte mit mächtiger
Hand dem Gesetze, welches nach Pindar Herr über Alles ist und mit all¬
waltender Rechte über Sterbliche und Unsterbliche herrscht, zur Alleinherr¬
schaft verhelfen. Er zog aber einen andern Weg vor. Können wir uns
wundern, daß ohnmächtige Herrscher undihreKnechteaufdiesemwandeln?"
Daß Napoleon, „um alle Nationen zum Vortheil der Franzosen
zu benutzen," die Throne mit seinen Brüdern besetzte, war ein zweiter
großer Fehlgriff, denn zu jenem Zwecke „taugten unstreitig die zit¬
ternden und bebenden Fürsten und die alten Hofe bei weitem besser
als seine Familie, deren Glieder sich alle für Napoleon hielten."
(S. 672.) ES ist ein schweres Wort, das Schlosser hiermit aus-
spricht und dessen Gewicht er durch häufige Wiederholung noch ver¬
stärkt. „Die elenden alten Höfe und alle armen Seelen, die ihnen
in Deutschland und Italien, Spanien und Portugal angehörten,
würden ganz gewiß für den Zweck einer Universalmonarchie viel bes¬
ser gedient haben, als die neuen Dynastien und die Einverleibungen,
die er vorzog." Denn es war „der Versuch, den Völkern ihre Natio¬
nalität zu rauben, und das Franzosenthum erst den servilen und schläf¬
rigen, von ihren Fürsten und ihrer Beamtenaristokratie verrathenen und
verkauften Deutschen, und den demoralisierten und schlaffen Italienern,
Spaniern und Portugiesen aufzudringen, welche seit 1806 die Völker
selbst weckte." „Wir werden hernach noch zeigen, schließt der würdige
Geschichtschreiber, auf welche Weise edle Patrioten den bessern Theil
der alten deutschen Ritterschaft und das schläfrige deutsche Volk weck¬
ten, wie ein Nationalkampf begann, wie Begeisterung einmal bete
Schlendrian der Büreaukratie besiegte, wie unter Jubeln ein neuer
Tag dämmerte. Damit dürfen wir glücklicherweise schließen. Unser
Ziel ist erreicht; es wäre im hohen Alter viel zu betrübend, auch noch er¬
zählen zu müssen, wie sich die Hölle aufthat, wie Heuchler und Schurken
die alte Nacht zurückführen wollten, und wie man fortdauernd, bald glück¬
lich bald unglücklich, gegen den Bund der Finsterlinge kämpft." So urtheilt
Deutschlands erster Historiker, ein Greis am Abende seines Lebens im Jahre
M6
Adolf Stahr.
Die Rheinlande gelten allgemein als ein Sitz politischer Freisinnig¬
keit, die Rheinländer lassen sich gern liberal nennen, ja sie nennen sich
gern selbst so. Es ist mit der Freisinnigkeit eines ganzen Volksstam¬
mes so eine eigne Sache und ich gestehe offen, daß mir noch nicht recht
einleuchten wolle, die echte Freisinnigkeit habe ihren Sitz in den Rhein-
landen. Zu echter Freisinnigkeit gehört Vor Allem eine bestimmte klare
Vorstellung eines Zweckes und lebhafte Theilnahme an der Allgemein¬
heit. Beides scheint mir, vermisse man bet den Rheinländern zum Theil
noch oft. Allerdings besteht hier ein gewisser Oppositionsgeist gegen
die Regierung -— allein bloßer Oppositionsgeist ist noch nicht Frei¬
sinnigkeit, denn die Geschichte zeigt uns oft genug die reactionäre
Partei auch in den Reihen der Opposition. Die Opposition gegen die
preußische Regierung ist überdies ganz erklärlich, denn sie hat ihren Haupt¬
grund in der Kürze der Zeit, welche die Rheinprovinz zum preußischen
Staate gehört. Erst nach und nach gewöhnen sich die Volksstämme
an neue politische Verbindungen und es müssen immer zwei bis drei
Generationen aussterben, ehe das geschieht. Was die Theilnahme
am Allgemeinen betrifft, so ist diese anch nicht sehr bedeutend, wenigstens
verfolgen die rheinischen Städte meist sehr hartnäckig Sonderinteressen.
Ein Prüfstein für die Freisinnigkeit der Rheinländer war die Einfüh¬
rung der neuen Gemeindeordnung. Bislang bestand hier die alte
französische Municipalverfassung, nach welcher die Gemeindevorstand?
von der Negierung ernannt wurden, nach welcher die Negierung die
bcengendste Vormundschaft über die Gemeindeangelegenheiten ausübte,
so daß z. B. die unbedeutendste Gemeindeausgabe von der Negierung
genehmigt werden mußte. Als Preußen von der Rheinprovinz Besitz
ergriff, war den Städten die Einführung der freisinnigen preußischen
Städteordnung angeboten worden. Man lehnte dies ab. Als Grund
für diese Ablehnung wurde angegeben: die Städteordnung gelte nur
für Städte, nicht für Landgemeinden; in den Rheinlanden kenne man
aber einen solchen Unterschied nicht, hier seien alle Einwohner vordem
Gesetz gleichberechtigte Staatsbürger, wollten die Städte eine andere
Gemeindeordnung annehmen, als die Landgemeinden, so würde that¬
sächlich ein Unterschied zwischen den Staatsbürgern eingeführt, und
dieser Unterschied vertrage sich nicht mit den Begriffen der Rheinlän¬
der von Gleichheit. Man solle auch den Landgemeinden eine freisin¬
nige Verfassung geben, sonst wollten sie lieber in der alten Verfassung
beharren. Diese Gründe klingen recht schön, ob sie die wahren sind,
weiß ich nicht. Nach der alten Verfassung übte die Geldaristokratie
wenigstens einigen Einfluß auf die Gemeindeangelegenheiten, nach der
preußischen Städteordnung wäre dieser Einfluß vielleicht verloren ge¬
gangen. Jedenfalls ging die Ablehnung der Städteordnung von der
Aristokratie aus, denn das Volk hatte zum Theil keine Kenntniß von
der Sache, keine Meinung darüber oder wenigstens keine Mittel, seine
Meinung zu äußern. Welche Gründe die preußische Regierung hatte
und noch hat, den Unterschied zwischen Stadt- und Landgemeinden so
fest zu halten, will ich hier nicht untersuchen, thatsächlich besteht indeß
ein solcher. Daß nun die Städte eine freisinnige Verfassung nicht
annahmen und es nicht der weitern Staatsentwickelung überließen, daß
auch die Landgemeinden freiere Verfassungen bekamen, scheint mir wenig¬
stens aus den angeführten Gründen nicht gerechtfertigt. Die Gleichheit
vor dem Gesetz, auf welche es doch am meisten ankommt, scheint mir
durch eine Verschiedenheit der Verfassung zwischen Stadt- und Land¬
gemeinden nicht gefährdet. Mit einem Worte, ich kann mich nicht
überzeugen, daß es wahre Freisinnigkeit war, die einen selbstbewußten
Zweck verfolgend, die Städteordnung ablehnte.
Die Negierung, welche den Städten eine freiere Verfassung gönnte,
dieselbe aber den Landgemeinden nicht geben wollte, arbeitete lange an
einer Gemeindeordnung, welche beide Rücksichten vereinigte, welche den
Städten eine freiere Bewegung gestattete und doch den Landgemeinden
nicht zu viel Rechte einräumte. Endlich erschien die neue Gemeinde-
ordnung. Dieselbe ist gegen das bisher Bestandene ein wirklicher,
wesentlicher Fortschritt. Zwar gewährt sie den Gemeinden noch nicht
das Recht, ihre Vorstände (Bürgermeister) selbst zu wählen, allein sie
richtet einen aus freier Wahl der Bürger hervorgehenden Gemeinderath
ein, der das Recht hat, Beschlüsse zu fassen, den städtischen Haushalt
zu bewilligen, der der Staatsregierung gegenüber sowohl wie den
Bürgermeistern die Gemeinden vertritt. Die Bevormundung der Ne¬
gierung wird sehr gemildert und in scharf bestimmte, gesetzliche Schran¬
ken gewiesen, namentlich wird dem Gemeinderath in Bezug auf den
Gemeindehaushalt ganz freie Hand gelassen. Man hätte nun von
den freisinnigen Rheinländern erwarten sollen, daß diese neue langer¬
sehnte Gemeindeordnung, daß namentlich die wichtigen Wahlen eine
große Bewegung hervorbringen würden, allein dem war nicht so. Ich
kann Ihnen hier natürlich nur von Cöln berichten, da ich die Bewe¬
gungen in anderen Städten nicht aus eigener Anschauung kenne. Doch ist
so viel bekannt, daß in Koblenz, Bonn und Düsseldorf, selbst in Cre-
feld die Wahlen auf das konfessionelle Gebiet hinübergespielt wurden
und oft in den ersteren drei Städten die ultramontane Partei den ent¬
schiedensten Sieg errang. Dies zeugt nicht von Freistnnigkeit, denn
der Ultramontanismus ist eine eben so drückende Tyrannei, als nur
immer die despotischste weltliche Regierung und wer sich dieser Tyran¬
nei willig beugt, ist nicht frei.
In Cöln wurde nun der Vorschlag gemacht, für die Wahlen eine
lebhafte Theilnahme zu erzielen. Es wurden öffentliche Versamm¬
lungen gehalten, in denen man sich über die Wahlen besprach, die
Grundsätze erörterte, nach denen die zu wählenden Männer verfahren
sollten, ja ein förmliches Programm für den neuen Gemeinderath ent¬
worfen wurde. Diese Versammlungen waren sehr interessant, und man
muß es den Cölnern zum Ruhme nachsagen, es zeigte sich in ihnen
lebhafte Theilnahme an der Sache und was noch mehr ist, ein richti¬
ger, parlamentarischer Tact. Trotzdem, daß die Debatten manchmal
sehr stürmisch waren, vermochte es der Vorsitzende leicht, die Ver¬
handlungen zu leiten und jede Störung und Unannehmlichkeit zu
vermeiden. Das Programm siel sehr freisinnig aus. Verfassung, Pre߬
freiheit, Emancipation der Juden, Alles ward darin aufgenommen und
vorher mit der größten Freimüthigkeit besprochen. Die Regierung ließ
das ruhig gewähren, was sie vielleicht anderwärts unterdrückt hätte,
und erst nach den Augustereignissen unterdrückte sie die Versammlungen,
wohl mehr der leitenden Personen als der Sache wegen. Diese Ver-
Sammlungen also wären ein trefflicher Beweis für die Freisinnigkeit
der Cölner gewesen, hätten sie zahlreichern Zuspruch gehabt. Es fan¬
den sich aber selten mehr als etwa 400 Personen ein. Das ist wenig,
wenn man bedenkt, daß Cöln 5900 Wahlberechtigte zählte — und
daß auch jeder nicht Wahlberechtigte Zutritt hatte. Noch geringer
stellte sich die Theilnahme bei den Wahlen selbst ein. Im Anfang er¬
schienen von 2300 Wählern der dritten Klasse noch nicht 200 und selbst
als die Wahlkämpfe lebhafter wurden, erreichte die Zahl der Stimmzettel
nicht tausend. Nicht zu leugnen ist wiederum, daß diejenigen, die an der
Wahl Theil nahmen, die lebhafteste Thätigkeit entwickelten. Durch Vorver¬
sammlungen, durch gedruckte Stimmzettel, durch Aufsätze in den Zeitungen,
durch persönliche Einwirkungen, durch alle möglichen Mittel ward gewirkt
und geworben — allein eine allgemeine Theilnahme an der so wich¬
tigen ersten Wahl trat nicht hervor. Beweis genug, daß allerdings
Freisinnigkeit, d. h. Theilnahme am Gemeinwohl hier besteht, daß diese
aber noch lange nicht das Volk so durchdrungen hat, als man aus¬
wärts von uns glaubt und wir selbst so gern glauben machen. Be¬
stimmte Parteien, d. h. Parteien, welche sich streng nach verschiedenen
Grundsätzen scheiden, treten wenig hervor. Und zur Ehre gereicht es
dem altkatholischeu Cöln, daß konfessionelle Rücksichten fast nie in'S
Spiel kommen und wo man versuchte, sie geltend zu machen, diese
Versuche nicht viel wirkten. Nur von Seiten eines einzelnen prote¬
stantischen Wählers ward die grobe Ungeschicklichkeit begangen, die con-
fessionelle Saite anzuschlagen, was aber von den Protestanten selbst
sehr übel vermerkt wurde. So kam es, daß ein Jude und fünf oder
sechs Protestanten im Gemeinderath sitzen, was nach den Verhältnissen
der Confessionen (etwa 7000 Protestanten auf nahe an 80,000 Ka¬
tholiken) ziemlich richtig sein mag. — —
Die religiösen Bewegungen: der Neuzeit haben bei uns nicht-den
leisesten Anklang gefunden. Diese Bewegungen haben eine sehr be¬
deutende politische Seite, denn sie sind im Grunde nichts Anderes, als
ein Auflehnen gegen ein starr gewordenes Kirchenregiment, sowohl auf
protestantischer als auf katholischer Seite. Daß diese politische Seite
dieser Bewegungen uns ganz entgangen ist, spricht wenigstens für keine
klarbewußte Fieisinnigkeit. Man kann übrigens von Cöln nicht sagen,
daß es ultramontan oder ultrakatholisch sei. Es gibt allerdings eine
solche Partei hier, allein sie findet im eigentlichen Volke keinen Anklang.
Wenn ich übrigens mich von einer durchgebildeten Freisinnigkeit der
Rheinländer nicht überzeugen kann, so liegt darin kein eigentlicher
Vorwurf, denn eine solche kann eigentlich hier noch gar nicht bestehen.
Freisinnigkeit ist eine Sache, die man nicht auf einmal lernt; sie kann
sich nur nach und nach durch mehrere Generationen heranbilden und
kann zur höchsten Blüthe nur bei einem Volke mit freien Verfassungen
gelangen. Ein geschichtlicher Rückblick zeigt uns, daß die Bedingungen
zu der freisinnigen Volkserziehung nicht vorlagen. Bis zur französi¬
schen Revolution waren die Rheinlande politisch zersplittert. Unter dem
französischen Militairdespotismus war ein Selbstbewußtsein ebensowenig
möglich. Und in den darauf folgenden dreißig Friedensjahren ist erst eine
Generation ausgestorben. Zudem kann ich mich nie von dem Gedanken
losmachen, daß Freisinnigkeit mit lebhaftem Nationalgefühl verbunden
sein müsse und Eins das Andere wechselwirkend erzeuge. Wenigstens
finden wir bei allen freien Völkern ein lebhaftes Nationalgefühl.
Unsere letzte vierteljährige Assisensitzung bot mehrere interessante
Fälle. — Ein Mord, von einem Wilddiebe an einem Forstbedienten ver¬
übt, wurde verhandelt und der Mörder zum Tode verurtheilt. Aber¬
mals Menschenblut — doppeltes sogar — um Hasenblut. Ein wegen
Kindesmord angeklagtes Frauenzimmer ward freigesprochen. Ein leicht¬
sinniger Bankrotteur, der Frau und Kind verlassend mit einer Dirne
entfloh, und diese dann, um sich und sie zu ernähren, in London und
Paris zur Prostitution zwang, ward verurtheilt. Ein Fall bodenloser
Unsittlichkeit. Ein ähnlicher war eine empörende, an einem neunjähri¬
gen Mädchen verübte Nothzucht. Uebrigens kommen derlei Fälle hier
sehr selten vor und gewöhnlich haben die Asstsen nur über Diebstähle
und Verwundungen zu entscheiden. Viel Lärm hat der Fall des Katnmer-
gerichtsassessors Oppenheim gemacht, der wie bekannt der Baronin Meyen-
dorff eine Cassette genommen hatte, angeblich um Einsicht von gewissen
Papieren zu nehmen, die das Vermögen der Gräfin Hatzfeld betrafen.
Es sind dabei Dinge zur Sprache gekommen, die eine traurige Einsicht
in die Sittlichkeit mancher aristokratischen Kreise gewähren. Die Ge¬
schwornen waren über den Fall getheilter Meinung, und da diese Thei¬
lung just sechs gegen sechs Stimmen war, so kam der Angeklagte frei.
Das Publicum ist über den Fall ebenfalls getheilter Meinung. Aller¬
dings lag es wohl auf der Hand, daß Oppenheim, von reicher Fa¬
milie, keinen Gelddiebstahl begehen wollte im gewöhnlichsten Sinne des
Wortes. Allein die Triebfedern des lebhaften Interesses mehrerer junger
Leute (auch ein 1>i. Mendelssohn ist dabei betheiligt und noch flüchtig)
für die Gräfin Hatzfeld lassen so sonderbare Deutungen zu, außerdem
waren die jungen Leute unter falschen Namen gereist, in ihren Koffern
befanden sich geladene Pistolen und ein Dolch, der Angeklagte hatte
während eines Verhöres vor dem Jnstrnctionsrichter ans den Fall be¬
zügliche Papiere zerrissen, in denen sonderbare Dinge gestanden haben,
die zerrissenen und vollständig wieder zusammengelegten Papiere sind
nachher sehr unvollständig an die Asstsen gekommen, so daß später noch
ein Raub an diesen Papieren, die in den Händen des Gerichts waren,
begangen sein muß, dessen Urheber man vergebens nachgespürt hat, —
es sind Versuche gemacht worden, den Gefangenwärter zu bestechen
und mit dem in Untersuchungshaft befindlichen Oppenheim Verbindun¬
gen anzuknüpfen — doch der Angeklagte ist freigesprochen worden, so
darf man nichts mehr dagegen erinnern. Zwei Tage später stand ein
Mann vor den Assisen, der über ein fünfzigjähriges tadelloses Leben
die besten Zeugnisse hatte, den erwiesenermaßen die Noth, in der Frau
und Kinder waren, zu seinem Vergehen getrieben hatte. Dies Ver¬
gehen bestand darin, daß er es versucht hatte, ein kleines Säckchen mir
Korn zu stehlen. Die Geschwornen sprachen ihr „Schuldig" über ihn
und das Gesetz belegte ihn mit fünfjähriger Zuchthausstrafe. Es kommen
sonderbare Gegensatze vor bei der menschlichen Gerechtigkeit — hier ein
leichtsinniger Bankrotteur, der seine Gläubiger absichtlich betrügt, Frau
und Kind verläßt, ein siebzehnjähriges Mädchen zur Prostitution treibt,
also moralisch mordet — da ein armer, bis auf den einen Fall redli¬
cher Mann, der um den Hunger von Frau und Kindern zu stillen ein
Säckchen Korn nehmen will — und Beide trifft fünfjährige Zuchthaus¬
strafe. Man muß wahrlich an eine ausgleichende Gerechtigkeit glauben,
wenn man nicht Communist werden will.*)
Hatte der Gegenstand, welchen ich hier zur Sprache bringe, mit
Politik zu schaffen, so würden Sie, da ja Alles Politik will, den folgenden
Bemerkungen ohne Zweifel die Aufnahme gestatten; da er aber nur die
Menschlichkeit angeht, so darf ich mich um so überzeugter halten, daß
Sie mir durch das Organ der Grenzboten Gehör verschaffen, als ich
noch nirgends, nicht einmal bei Jordan selbst, auf Mitgefühl mit seinen
Leidensgefährten getroffen habe. Auch will ich Ihnen offen sagen, was
mich bestimmt hat, zu Ihnen zu flüchten. Es wurde mir in diesen
Tagen angeboten, die Sache, wenn sie den Deutschen doch so ge¬
fährlich scheine, in den Times zur Sprache zu bringen, und so derb, als
ich nur Lust hätte; man wollte mir's übersetzen und hineinbesorgen.
Ehe ich das thue, dachte ich, ehe ich uns vor dem Auslande herabsetze,
ehe will ich alle Rücksicht auf die Censur nehmen und so leis auftreten,
als ging ich auf Glatteis. Sie werden sich aber sogleich überzeugen, daß
ich nichts Gefährliches vorhabe, und nur deshalb so ängstlich und besorgt
geworden bin, weil ich zu einem kleinen unschuldigen guten Werke bisher
vergeblich nach einem Helfershelfer suchte.
Es ist ein schöner Zug an uns Deutschen, daß wir uns über das
Gute freuen, welches auswärts geschieht; sind wir dadurch doch der
Verlegenheit überhoben, uns über uns selbst zu freuen. Wie hat uns
nicht die Amnestie erhoben, welche Pius IX. den politischen Verbrechern
im Kirchenstaate zu Theil werden ließ; selbst in Spanien sind kürzlich
Begnadigungen erfolgt; wie schön doch! Aber weil wir Spanien und
Italien in politischer Beziehung so tief unter uns erblicken, als wir
selbst unter Frankreich und England zu stehen glauben, so ist es bei
dieser Gelegenheit Niemandem eingefallen, daß bei uns noch politische
Verbrecher vom Anfange der dreißiger Jahre her im Gefängnisse schmach¬
ten, ja, daß über mehrere jener Unglücklichen das verdammende Urtheil
erst vor Kurzem erfolgt ist.
Das Oberappellationsgcricht in Kassel hat die Entscheidungen des
Marburger Criminal-Senates gegen den Universitätszeichnenlehrer l)i. H a es
und den Hutmacher Georg Kolbe bestätigt. Den erstern, einen gebildeten*),
fleißigen und ordnungsliebenden Mann, hatte Neugierde und Schwatz-
haftigkeit thörichte Dinge hören und sprechen lassen, das war Alles, und
freilich viel zu viel. Uebrigens stellen selbst die Marburger Entschei¬
dungsgründe mit einem nicht zu verkennenden Mitleid den Hach als ei¬
nen sehr zu entschuldigenden, oder wie man im gewöhnlichen Leben
diesen Ausdruck gebraucht, als einen unschuldigen Mann dar, der weder
die Fähigkeit, noch die Absicht gehabt habe, zum Umsturze der Welt et¬
was beizutragen.
Obgleich meine Vertheidigung Jordans hauptsächlich nur Einem zu
Gute gekommen ist, so hatte ich doch allen in seinen Proceß Verwickelten
zu nützen gewünscht, sowohl weil er die unschuldige Ursache des Un¬
glückes Aller war, als weil ich es ungeachtet, ja grade "wegen meiner
konservativen politischen Grundsatze nicht billigen konnte, daß man in
Kurhessen, Dinge wieder heraufbeschwöre, welche man sich fast überall
bemüht hatte, in die Nacht der Vergessenheit zu versenken. Wären die
Entscheidungsgründe erster Instanz in Bezug auf Hach und Kolbe so
ausführlich gewesen, als sie es in Bezug auf Jordan waren, so hätte
sich, glaube ich, auf ein milderes Urtheil in zweiter Instanz hinwirken
lassen, als jetzt erfolgt ist. Durch die Entscheidungsgründe des Oberap-
pellationsgerichts ist auf Beider Sache etwas mehr Licht gefallen, und ich
bin der festen Ueberzeugung, daß sie in höchster Instanz härter als billig
und gerecht abgeurtheilt sind. Hätte das Publicum noch Interesse dafür
und könnte es den Unglücklichen noch nützen, so würde ich das, wie ich
glaube, ohne große Mühe beweisen können.
Auf eine Begnadigung ist nicht zu hoffen, denn die Urheber der
kurhessischen Verfassungsurkunde, welche besorgten, daß ihnen die näch¬
stens in Anklagestand zu versetzenden Minister entrinnen möchten, haben
durch §. 426. dem Landesherrn das Recht der Begnadigung politischer
Verbrecher genommen, und also die Reaction nicht blos hervorgerufen,
sondern ihr auch die Mittel in die Hände gegeben.
In dieser Hinsicht kann die Regierung kein Tadel treffen, und das
Einzige, was das deutsche Volk zu thun vermag, ist, daß es die Theil¬
nahme, welche es an der Begnadigung der unglücklichen und nachträg¬
lichen Opfer einer aufgeregten Zeit nehmen würde, jetzt durch Unterstüz-
zung ihrer Familien an den Tag lege. Sowohl Hach als Kolbe haben
Frau und Kinder, der erstere ist seines Dienstes als Universttätszeichncn-
lehrcr entsetzt und damit seines Gehaltes und für die Zeit seiner Haft
jedes Nebenverdienstes, verlustig. An die liberalen Herren, welche blos
für sogenannte berühmte Männer sammeln, die nicht nur einen Namen
haben, sondern auch geben, hat man sich umsonst gewandt; ihre Politik
erlaubt ihnen nichts zu thun, sie schützen vor: Hach habe nichts gethan,
sei kein politischer Charakter, und vor allen: er sei schuldig und das
Oberappellationsgericht nahe daran gewesen, seine Strafe noch zu schärfen.
Ich brauche nicht zu heucheln, weil ich nicht zu fürchten brauche,
daß man bei mir eine andere Theilnahme, als an dem Unglücke dieser
Männer argwöhnen werde. Jede Gabe, welche man an die Frau Hut¬
macherin Kolbe und an die Frau Dr. Hach in Marburg sendet, wird
von Beiden mit heißem Dank empfangen werden. Sie sind so unglück¬
lich, als einst die Jordan'sche Familie, und weit bedürftiger, als diese
je war. Noch ein anderer Umstand steigert die Theilnahme an dem
Schicksal dieser politischen Gefangenen. Sie sind Festungsgefangene, und
obwohl sie gesetzlich auch nach erfolgten Urtheile und wahrend sie ihre
Strafe erleiden, unter dem Schutze der Gerichte stehen, so wird es diesen
doch factisch unmöglich gemacht, diesen Schutz auszuüben; denn die Festun¬
gen stehen unter den unmittelbaren Befehlen des obersten MilitairchefS
des Landes.
Die allgemein bekannte Behandlung der politischen Gefangenen, und
die Furcht vor dem Schicksale des Bürgermeisters Ol-. Scheffer von
Kirchhain, welcher bekanntlich wahnsinnig wurde und sich selbst entleibte,
so wie seine schwache Gesundheit und die Sorge sür seine Familie be¬
stimmten den Or. Hach schon in seiner Appellatlonsschrift (Entscheidungs¬
gründe zweiter Instanz S. 132.) „sich darüber zu beschweren, daß das
Maß der mit „„Fcstungsstrafe"" bezeichneten Freiheitsbeschränkung im
Urtheil (erster Instanz) nicht ausgedrückt, namentlich nicht dahin fest¬
gestellt worden sei, daß dem Angeschuldigten der Zugang des Lichtes durch
gehörige Fenster, so wie literarische Beschäftigung und der Betrieb der
ihn und seine Familie ausschließlich ernährenden Malerei gestattet sei.
Appellant hat eventuell gebeten: in diesem Sinne die erkannte Festungs¬
strafe rechtlich festzustellen."
Hierzu bemerkt das Oberappellationsgericht: „Die Art und Weise
der Verbüßung der erkannten Festungsstrafe darf zwar für den Verur¬
teilten keine härteren Leiden herbeiführen, als es der in den bestehenden
Rechtsverhältnissen begründete Begriff einer Festungsstrafe mit sich bringt.
Sollten in solcher Beziehung Zweifel sich erheben, so würde es allerdings
dein Gerichte obliegen, durch entsprechende Requisitionen die gehörige
Vollziehung des Erkenntnisses zu sichern, indem nach deutschrechtlichen
Grundsätzen dem Strafrichter die Vollstreckung seiner Urtheile zukommt,
und, wenn auch die Verbüßung der Strafe in den, der Aufsicht der
Gerichte, nicht unterworfenen Strafanstalten erfolgt, hierdurch die den
Gerichten zustehende Einwirkung auf die Strafverbüßung, da diese nun
in Folge der richterlichen Requisition eintritt, nicht ausgeschlossen wird."
Zur Ehre der kurhessischen Regierung darf man annehmen, daß
nicht Jordan's Freisprechung, sondern Stellen wie diese dem Referenten
Gürste Mißfallen und Entfernung aus dem Oberappellationsgerichte zu¬
zogen. Auch ist keine Aenderung in der Behandlung der politischen
Festungsgefangenen eingetreten. Nach einem mir mitgetheilten Briefe
seiner nächsten Angehörigen darf er /ich gar nicht beschäftigen, weder
mit' Lesen, noch Schreiben, noch mit irgend einer andern Arbeit. Briefe
seiner Familie an ihn kamen uneröffner zurück. Die Familie scheint
ohne Rathgeber zu sein, denn statt an die Gerichte, hat sie sich an den
Fürsten, unter dessen unmittelbarem Befehl der Festungscommandant
steht, und an das Kriegsministerium gewandt. Das letztere hat die Fa¬
milie an den Festungscommandanten verwiesen, welcher gleichfalls ab¬
lehnend oder ausweichend geantwortet habe.
.Unsere officielle und officiöse Journalistik beobachtet über das Kra¬
kauer Ereigniß ein merkwürdiges Stillschweigen, und überläßt es dem
österreichischen Cabinette qanz allein den Zeitungskampf auszufechten.
Wir könnten hier eine Menge der piquantesten und widersprechendsten
Aeußerungen einregistriren, die von hiesigen Staatsmännern und erfahre¬
nen Politikern über diesen unerwarteten Schritt der drei Mächte laut
wurden; doch kommt es uns vor der Hand nur darauf an, von dem
Eindrucke zu sprechen, den dies Ereigniß in Schlesien gemacht hat, das
mit dieser Abtretung Krakaus den Hauptausfuhrplatz für seine Industrie
verliert, und dies — etwa zwei Jahre nach den Weberunruhen, zwei
Jahre nachdem man in ganz Deutschland für die brodlosen Fabrikarbeiter
betteln mußte; und grade jetzt während einer Kartoffel-Mißernte im Lande.
Eine Deputation der Stadt Breslau fand sich in Folge diefes Er¬
eignisses hier ein, um die Klagen und Bitten der Provinz vor das Ohr
des Königs zu bringen. Sie bestand aus dem Oberbürgermeister Pinder,
den Fabrikanten Dyrenfurth und Milde, dem Stadtverordneten-Borsteher
Justizrath Graff und dem Vorsteher der Kaufmannschaft, Theodor Mo-
linani. Sie hatten es übernommen auszusprechen, wie sehr das Natio-
nalgefühl des Volkes gekränkt sei, durch diese Abtretung, in der das In¬
teresse Preußens in keiner Weise gewahrt worden sei, und zweitens aus¬
einander zu setzen, wie man den Hauptabzugscanal des schlesischen Han¬
dels verstopft habe, und wie die Bevölkerung demoralisirt'werden müsse,
indem sie, gezwungen durch Noth, Ersatz suchen werde in dem kläglichen
Erwerb durch Schleichhandel.
Der erste Besuch der Deputirten galt dem Ehef der Seehandlung,
Rother, der, selbst Landbesitzer in Schlesien, und die - sse der
Provinz genau kennend, diese Abtretung Krakaus sehr bedauerte, aber
versicherte, erst durch die Zeitungen Nachricht davon erhalten^ zu haben.
Der Minister Bodelschwingh, den man darauf besuchte, behauptete ebenfalls,
nicht dabei zu Rathe gezogen zu sein. In ähnlicher Weife äußerte sich
der Finanzminister.
Die Audienz bei dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten,
von Eanitz, dauerte ein Paar Stunden. Der Minister schilderte die
Aufhebung des Freistaates als nothwendig für die Ruhe der Großmächte
und meinte, Schlesien könne unmöglich viel dabei verlieren, da sich
nothwendig der ganze Schleichhandel an der schlesischen Grenze etabliren
werde. Die Deputation entgegnete, es schiene ihr dennoch ein Verlust,
wenn eine Provinz, statt einer ehrenwerthen, blühenden Handelsverbin¬
dung, eine Anweisung auf den betrügerischen, den Gesetzen hohnsprechen¬
den und das Volk entsittlichenden Schleichhandel erhalte.*) Herr v. Eanitz
meinte, es käme nur darauf an, so treffliche Fabrikate zu liefern, daß
man sie dennoch begehren werde; auf Concurrenz müsse jeder Gewerbtrei-
bende gefaßt sein; wenn Jemand ein Gasthaus an der Landstraße erbaue,
so könne man nicht hindern, daß sich ihm gegenüber ein anderes etablire,
welches seine Kundschaft theile. — Einer der Deputirten bemerkte, der
neue Hausbesitzer dürfe nur nicht einen so tiefen Graben vor dem alten
Wirthshause ziehen lassen, daß ihn Niemand passiren könne. — Auch
dagegen gibt es Mittel, sagte Herr von Eanitz, man würde eine Brücke
über den Graben bauen. — „Aber man wird einen so hohen Zoll auf
die Brücke legen, daß ihn Niemand bezahlen und Niemand die Brücke
passiren wird!" — antwortete Einer und damit hatte die heitere Alle¬
gorie ein ernstes Ende.
Am folgenden Tage waren die Deputirten- bei dem Prinzen von
Preußen, der ihnen sagte, man habe ihnen die Weisung geben wollen,
nicht nach Berlin zu kommen, als man von diesem Vorsätze gehört
habe, indeß sei man jetzt sehr damit zufrieden, da man von ihnen manche
wesentliche Aufschlüsse über die Verhältnisse des schlesischen Handels zu
erwarten hoffe.
Der König hat die Deputation am 26. November sehr gnädig auf¬
genommen und ihre Beschwerden angehört und gegründet gefunden. Sie
bat, man möge von Oesterreich fordern, daß es die bisherige Handels¬
freiheit für Krakau auch ferner aufrecht erhalte, und es nicht in den
Bereich seiner Zolllinien ziehe. Die Deputirten setzten auseinander, daß
ihnen selbst mit der Einrichtung eines Stapelplatzes in Krakau nicht ge¬
dient sei, welche der König vorschlug, und erklärten, welch ein Verlust
für Schlesien erwachsen müsse, wenn man nicht die Handelsfreiheit ganz
unumschränkt erhalte.
Der Monarch gestand, daß die Aufschlüsse über den schlesischen Handel,
welche die Deputation ihm im Verlaufe der Audienz geben durfte, ihm
eine neue Anschauung der Sachlage eröffneten, und versprach — be¬
dauernd, es nicht früher in dieser Weise gekannt zu haben — mit „allem
Ernste" darauf zu dringen, daß die Bitte der Deputation, um Aufrecht-
erhaltung des status <zun, eine Erfüllung erhalte. Der Konig sagte,
daß er ein entschiedener Beschützer des Handels sei, daß er einen sehr
geschickten Unterhändler, Herrn von Kamptz, an das österreichische (5a-
hmet gesendet habe, und daß er „mit allem Ernste" darüber wachen
werde, Schlesien vor dem Stocken der Gewerbe zu bewahren, das die
Abtretung Krakaus nach sich ziehen könne.
An bedauern bleibt es nur, daß in einem Lande, in welchem der
Herrscher ernstlich die Wohlfahrt seiner Unterthanen zu fördern wünscht,
man nicht daran gedacht hat, vorher die Meinung der Sachverstandigen
und der betreffenden Minister einzuziehen. Es hat sich für die Deputirten
als Gewißheit herausgestellt, daß außer dem Könige und dem Minister
der auswärtigen Angelegenheiten Niemand von dieser hochwichtigen Sache
unterrichtet gewesen ist. Eine vorhergegangene Berathung hätte die An¬
kunft der Breslauer Deputation und die nachträglichen Maßregeln
wahrscheinlich ganz unnöthig gemacht, mit denen es nun doch ein mi߬
lich Ding sein dürfte. Oesterreich ist durch geschlossene Verträge im Be¬
sitze von Krakau und „sei im Besitz und Du bist im Rechte/' möchte
ES gehört hier zum guten Ton, alle vierzehn Tage einen Abend im
Concertsaale des Schauspielhauses zuzubringen, und auf Rechnung der
Firma: Haydn, Mozart, Beethoven und Como. zu klatschen. Das
sogenannte kunstsinnige, kunstliebende Publicum ist hier in corvorv ver¬
treten. Besonders sind es die heirathsfähigen Töchter, welche von ihren
Vätern, Müttern, resp. Tanten hierher geführt werden, um ihren Sinn
für klassische Musik, einen Sinn, der einst für das eheliche Leben ein¬
flußreich zu werden verspricht, auszubilden. Wirklich ist es höchst lehr¬
reich für Töchter, wahrzunehmen, welchen Einfluß die schönen Stellen
der Klassiker auf die Gemüther angestellter Söhne und begüterter Jüng¬
linge ausüben. Noch findet man hier eine gewisse Klasse von Leuten,
die nach beendeter Verdauung eine schmerzliche Leere in ihrem Innern
verspüren und auf ihren Plätzen erscheinen, um zu schlafen. In der
That wirkt jede Musik auf gewisse Naturen durchaus calmirend, und es
klingen in den Ohren dieser Individuen die wunderbarsten Harmonien
dieser großen Meister, ebenso monoton, als der eintönige Gesang der
Kameeltreiber, womit sie ihre geduldigen Thiere den Tag über durch die
Wüste führen. Die bösartigste und zahlreichste Klasse aber ist die der
eigentlichen Klassiker. Selbige befinden sich fortwährend in einer gereizten
Stimmung und heimlichen Erbitterung. So sitzt ihr ergebenster Bericht¬
erstatter neben einem solchen Exemplar, das bei der Aufführung eines
neueren Werkes Erstickungszufälle bekommt und den ganzen Abend über
mit epileptisch eingekniffenen Daumen und zusammengebissenen Zähnen
verharrt. Von diesen Leuten ist in der letzten Svmphoniesoiree bei Meyer-
beer's Ouvertüre gezischt worden! ein unerhörtes Beispiel dieser Celevri-
tät gegenüber und auch unerhört in der eleganten Versammlung dieses Orts!
Anwesend sind und haben sich in einem Concert hören lassen.- Frl.
Bochkoltz, vom Conservatorium zu Paris und Herr Cossmann, ein junger
Cellist: Erstere soll, wie man sagt, durch die Frau Gräfin Rossi, geb.
Sonntag, nach Berlin berufen sein, um hier Gesangsunterricht, die
Stunde zu zwei Thalern, zu geben. Wenn Fräulein Bochkoltz hier Mode
werden sollte, und eine Protection hoher Cirkel pflegt darauf einwirken
zu können, so ist ihr Glück gemacht, und unsere Gesangslehrer dürsten
die Concurrenz nur zu bald empfinden. Es gehört übrigens nicht
viel dazu, um mehr zu leisten, als die hiesigen Gesangslehrer. Seit
vielen Jahren geht jedes mit einem hoffnungsvollen Organe beglückte
Individuum, dem es darum zu thun ist, singen zu lernen, von Berlin
fort, und so haben die hiesigen Gesangslehrer, mit Ausnahme derer,
welche den Chor für die Oper „einpauken," nichts Anderes zu thun, als
in den Häusern herumzulaufen und unsern Dilettantinnen, dieses ge¬
müthliche und unversorgte Geschlecht, zu festen Preisen, die Stunde
ein bis zwei Thaler, singen zu lassen. Da ist Rellstab, guter Vater
und schlechter Musikant, Teschner, der mit einem Thermometer den
Wärmegrad der Rachenhöhle untersucht, Jähns, der nur Compositionen
von Carl Maria von Weber und Jähns singen läßt, Stümer, emeri-
tirter Tenor und Thiesen, harmloser Mensch und letzter Sopranist. Mit
diesen Herren muß nun Fräulein Bochkoltz in Concurrenz treten. Was
man lernen kann, hat sie gelernt; damit ist ihr Gebiet und seine Grenzen
charakteristrt. Seele spiegelt sich in ihrem Gesänge nicht wieder, aber
eine tüchtige Fertigkeit und eine gute Schule. — Der Cellist Cossmann
gehört der neueren französischen Virtuosität an. Sehr dünn bezogenes
Instrument, viel tremolo, mehr Violine als Cello, aber elegante Bogen¬
führung, äußerste Delicatesse und Romantik des Vertrages.
In diesen Tagen fand die Verlosung der kleinen, auf der Kunst¬
ausstellung gekauften Bilderchen statt. Man ist im Publicum höchst un.
zufrieden mit der Unbedeutendheit der Gewinne, noch mehr aber mit den
sehr hohen Preisen, für die einige derselben angekauft worden. Nicht zu
billigen ist, daß man, statt sich an die vorhandenen, im Katalog ver¬
zeichneten Werke zu halten, noch schnell nachträglich Bilder anfertigen
Erklären Sie mir das große Räthsel, warum die Masse so unem¬
pfindlich bleibt bei Thatsachen, welche die Masse betreffen und so erregt
sich beweist, wo es das Privatleben eines Einzelnen zu beurtheilen hat,
woher die Stumpfheit gegen die Bewegung der großen Maschine, in der
ein Jeder selbst ein Stift, eine Feder ist, und woher im Gegentheil die
Spannung, wo es Einblicke in ein Particularleben gilt, bei der die Mei¬
sten unbetheiligte Zuschauer und Gaffer sind? Es hat sich in unserer
Stadt in letzterer Zeit manch politisch befremdliches Ereigniß gezeigt, wohl
werth, die Aufmerksamkeit Aller auf sich zu ziehen, sogar in der Woh¬
nung unbescholtener Einwohner hat die Behörde geglaubt, Hausuntersu¬
chungen machen zu müssen, und doch ist dies Alles in den Hintergrund
getreten vor der einen Geschichte des Hatzfeld-Oppenheimischen Prozesses?
Ob hier ein Liebeshandel, ob ein gemeineres Interesse zu Grunde liegt,
ob die Meyenvorff, ob die Gräfin den Vorzug (!) verdient, ob der Graf
oder der Angeklagte mehr compromittirt ist, und fünfzig Fragen dieser
Art spannten die öffentliche Neugier höher als Alles, was im Gemeindc-
und Staatsleben vorging. Allerdings traten hier noch besondere piquante
Motive hinzu, um die Neugier zur Leidenschaft zu stacheln, die Abnei¬
gung gegen adeligen Hochmuth hoffte hier eine Genugthuung zu erleben
durch Entwickelung von Familienscandalen, bei welchen jeder Wappenlose
freudig ausrufen kann: Gott sei Dank, im Bürgerstande sind solche That¬
sachen unerhört; jene Parthei, die bei der Gemeindewahl ein Panier mit
der Aufschrift: Keinen Juden, trägt, hoffte ihrerseits durch die Verur-
theilung und Herabsetzung einiger Sprößlinge abrahamitischen Stammes
— gleichviel, ob die Taufe ihre Häupter benetzte oder nicht—ihr from¬
mes, christliches Gemüth zu erquicken; die lebenseifrige Männerjugend
hoffte neue Erfahrungen in piquanten Liebesabentheuern zu erhalten und
die Frauen — mein Gott, die Frauen, von dem jungen Lockenköpfchen,
das sich noch erröthend senkt bei dem Worte Liebe, bis zu der alten Bet¬
schwester, die verknöcherte Sünden durch geistliche Lieder zu erweichen
sucht. Alle waren Parthei für, dagegen, dagegen und für! Das war ein
heißer Tag, der 24. November, obschon Vielen ihre Erwartungen bedeu¬
tend abgekühlt wurden. Zuerst wurden die meisten Neugierigen um das
Schauspiel geprellt. Der Eingang zu dem Raume, der gewöhnlich bei
unserem Schwurgerichte dem ganzen Publicum offen steht, war gesperrt,
nur eine Minute vor der Eröffnung der Sitzung hatte man die Hörer
eingelassen, aber alsobald, wie diese eröffnet wurden, pflanzten sich Sol¬
daten auf und verwehrten den Zutritt. Dagegen hatte die Aristokratie
aus der Umgegend Platz gefunden auf der Tribüne, wo die Richter sa¬
ßen, und es wurden hierzu den Begünstigten eigens Karten zugestellt.
War eS vielleicht Ironie? Wollte man grade dem Adel das Schauspiel
zuerst gönnen, in welchem die Sittenzustande des Standes dem großen
Haufen entschleiert werden? Und doch waren auch in dieser Beziehung
die Erwartenden betrogen. Von den Familienverhältnissen der Hatzfeld
kamen nur sehr mäßige Details zur Sprache. Der Angeklagte vermied
jede Hinüberspielung auf dieses Thema in soweit es die Gräfin gravi-
ren konnte, auf das Sorgfältigste. Der Staatsanwalt schweifte gleich¬
falls sehr discret über den Ruf der Gräfin mit einer halben Andeutung
weg. Nur auf den Grafen H. sielen von Seiten der Vertheidigung el-
nige scharfe Lichter. Die dritte Erwartung, die nicht eintraf, war das
Strafurtel gegen den Angeklagten Dr. Oppenheim, der, wie Sie aus den
Tagesblättern bereits erfahren haben, ganzlich frei gesprochen und auf
freien Fuß gesetzt worden ist. Dieses ist die zweite Hälfte dieser Ge¬
schichte, die ebenso viel Aufsehen macht, als die erste. Die Feinde der
Schwurgerichte in Preußen werden nicht verfehlen, diesen neuesten Fall
unserer rheinischen Gerichtsbarkeit nach ihrer Weise auszubeuten. Denn
in der That ist der schlichte Menschenverstand gegen diese vollständige
Freisprechung. Ist's auch dem Angeklagten, wie sich von selbst versteht,
nicht um das Geld, sondern nur um die Papiere zu thun gewesen, ist
auch die Schuld durch viele mildernde Umstände zu erleichtern — eine
Schuld, ein bedeutendes Vergehen, bleibt es immer, und es würde mit der
Sicherheit der Gesellschaft schlecht stehen, wenn man die Entwertung von
Dokumenten und wäre es auch nur ,,zur Einsicht", ganz gemüthlich hin¬
gehen ließe. Die sechs Geschworenen, die ihr Nichtschuldig aussprachen
(die andern sechs erklärten ihn für schuldig), wurden durch die mildern¬
den Umstände zu ihrer Nachsicht bestimmt. In der That zeigten die
vorgelesenen Briefe an die Gräfin, so wie die ganze Haltung Oppen¬
heims in Bezug auf diese Dame, daß hier nicht ein bloßer Leichtsinn,
sondern ein Devouement, eine Selbstaufopferung, vorherrschend war.
Der leidenschaftliche Ton jener zerrissenen und halb zusammengeflickten
Briefe, ließ noch heftigere Seelenmotive errathen, und somit war eigent¬
lich der Spruch der Geschwornen ein Protest gegen den Absolutismus
und die Unvollkommenheit des Gesetzes, welches Alles in einen Sack, in
eine Kategorie steckt und die psychologischen Nuancen der Einzelnfälle
unberücksichtigt läßt. Dies ist grade ein Vorzug der Geschwornengerichte,
daß der absolut wissenschaftliche Gedanke, der tyrannische Wortlaut, den
Verirrten nicht in gleicher Kategorie mit dem Bösewicht, die radclnswür-
dige Einzelnthat nicht mit einer organischen Verderbtheit des ganzen
Menschen in eine Linie bringt. Daß der Ausspruch bisweilen zu mild
ausfällt, ist kein Unglück, da bei der Oeffentlichkeit des Verfahrens der
moralische Makel, der trotz der Freisprechung immer noch auf dem Ange¬
klagten haften bleibt, gleichfalls als «Strafe anzurechnen ist, wie man bei
gewissen Militairurtheilen die Todesangst als Strafe in Rechnung bringt.
Im vorliegenden Falle ist der Betheiligte durch die wenig beneidenswerthe
Celebrität, die er errungen, durch den Kummer, den er seinen Angehörigen
bereitete, durch die Enthebung von seinem Amte und durch hundert an¬
dere unaussprechliche Nüancen genug gestraft worden. Dennoch ist die
gänzliche Freisprechung darum zu bedauern, weil sie den ärmern Gesell¬
schaftsklassen ein vages Gefühl von Ungleichheit vor dem Gesetz einflößt,
indem der Unbemittelte, der Proletarier sich sagen muß: Wäre ich es
gewesen, der ich nicht nachweisen gekonnt hätte, daß es nicht dem Gelde
in der Chatoulle galt, der ich nicht jener glänzenden Welt angehöre, in
welcher das Wort „Ritterlichkeit" ein glänzender Mantel zur Deckung
fauler Zustände ist, hätte ich Gevatter Schuster und Handschuhmacher
Documente entwendet, welche meine Tochter um ihr Bischen Habe, meine
Schwester um ihr Erbtheil zu bringen drohten, mich, den unritterlichen,
ledernen und vertrockneten armen Teufel hatten sie in's Loch gesteckt.
Dies ist die Ursache, weshalb wir diesen Ausgang des Prozesses nicht
ganz wünschten. Dem Dr. Oppenheim gönnen wir's herzlich, daß er so
davon gekommen ist, er hat persönlich genug Strafe erlitten; aber um der
Idee des Rechts willen, um des Zutrauens zur Gleichheit der Justiz für
alle Menschenrassen hatten wir den Ausgang um einen Grad scharfer
gewünscht. Glücklicherweise führt das Uebel auch sein Heilmittel gleich
mit sich und die Oeffentlichkeit der Verhandlung gibt sogleich Aufschluß
über die Motive. Ware bei heimlichem Verfahren der Millionärssohn
freigesprochen worden, kein Gott hätte die Richter vor dem Verdacht der
Bestechlichkeit gerettet. Aber zwölf beeidete achtbare Bürger, die vor dem
Beginn der Verhandlung gewählt werden, lassen die Idee der Bestechlich¬
keit auch bei den mißtrauischsten Gemüthern nicht aufkommen.
Von Benedei) ist eine neue Schrift erschienen: „Vierzehn Tage Hei¬
mathluft," worin er an den vorjährigen Aufenthalt in seiner Vaterstadt
Eöln eine Reihe politischer Reflexionen knüpft, ganz in, dem Sinne seiner
bekannten l'^Correspondenzen, die er seit einem Jahre von Paris aus für
die Kölnische Zeitung schreibt, voll warmer Vaterlandsliebe, frisch, lebendig
und großentheils auch praktisch. Das Buch ist 25 Bogen stark und ist
somit censurfrei, scheint jedoch nichtsdestoweniger der Censur vorgelegt
worden zu sein, denn von dem Kapitel: „Die Presse" findet sich nichts
als der Schmuztitel vor, alles Uebrige fehlt — offenbar als Opfer des
Censors. — — So eben hört man, daß Di-. Dronte, der sich hier
einige Tage bei einem Bekannten aufgehalten haben sott, auf feiner Rück¬
reise, in Koblenz, wo er unvorsichtiger Weise in einem öffentlichen Wein¬
hause sich sehen ließ, verhaftet worden sei. Hoffentlich wird die ganze
Geschichte darauf hinauslaufen, daß man ihn an die preußische Grenze
führen wird, als einen aus Preußen Ausgewiesenen, der sich doch auf preu¬
ßischem Boden finden ließ. Was man über einen Prozeß spricht, der
ihm in Folge seines Buches über Berlin wegen Majestätsbeleidigung an¬
gehängt werden soll, ist wohl unglaublich, da Dronte, nach dem Aus¬
spruch der Regierung selbst, kein Preuße ist. Es scheint, daß in der
ostensiblen Verhaftung Dronkcs eine beabsichtigte Drohung gegen Itzstein
liegt, den man von seinem laut ausgesprochenen Vorhaben, nach Koblenz
zu reisen, auf andere Gedanken bringen will, indem man ihm ein Bei¬
spiel vorhält. Die Verhaftung Jtzsteins in gleichem Falle würde aller¬
dings ein Ereignis) sein, das die Regierung sich gern ersparen möchte...
Von der großen Krakauer Frage, deren Beantwortung Seitens der
zwei constitutionellen Mächte ganz Europa mit Spannung erwartet, ist
mittlerweile noch ein kleines Fragezeichen zwischen Oesterreich und Preußen
zu schlichten übrig geblieben, und dies ist die Handelsfrage. Bekanntlich
war das Krakauer Gebiet bisher ein großes Schmugglernest. Won Preu¬
ßen kamen Jahr aus, Jahr ein ungeheuere Waarenballen, die ihr Depot
in Krakau fanden, Waarenmassen, ausreichend genug, um ein großes
ausgedehntes Land damit zu verproviantiren. Wohin gingen aber diese
Waaren? Hat das kleine Krakau sie etwa consumirt? Die Antwort
ist einfach: sie wurden durch das Einverständnis; von Juden, Edelleuten,
Bauern und Grcnzjägern zum größten Theile über die österreichische
Grenze geschmuggelt, und zu kleinern Theilen nach Russisch-Polen. Die
eingeschmuggelten Waaren waren zweierlei Art. Zuerst waren es Zoll-
vereinserzeugnisse, unter denen namentlich eine große Zahl schlesische Er¬
zeugnisse sich befanden, deren Fabrikanten mit Hinblick auf diesen Schmug¬
gel ihre Fabriken deshalb in solcher Nahe errichtet hatten; zur andern
Hälfte waren es englische und französische Waaren, die als Transit die
Zollvcreinsstaaten passirt hatten. Von diesen war Preußen selbst bedroht,
indem ein Zurückschmuggeln ins preußische Gebiet von Krakau aus vielfach
versucht wurde und bisweilen auch gelang. Doch hatte Preußen für sich selbst
die strengsten Vorsichtsmaßregeln getroffen. Die Transitgegenstande gingen
plombier bis zum letzten preußischen Grcnzamt Neu-Berunn. Hier wurde
die Plombe abgeschnitten, und eine Eskorte von Mautbeamten begleitete
die Waaren bis Ehelcmnik, dem nächsten Orte Krakauschen Gebiets. So
siel denn die Hauptlast dieses schändlichen Verkehrs zum unberechenbaren
Nachtheil Oesterreichs aus, das nur durch eine Ausdehnung seiner Aoll-
linien bis zur preußischen Grenze sich vor diesem heillosen Schleichhandel
schützen kann.
Durch eine Uebereinkunft der drei Machte wurden bei der Verhand¬
lung über Krakau nur die allernothwendigsten Staatsmänner der drei
Cabinette ins Geheimniß gezogen und es scheint, daß man in Preußen so
weit ging, nicht einmal sämmtliche Minister davon in Kenntniß zu setzen.
So kommt es nun, daß Preußen jetzt nachträglich in seinem Special-
interesse für die Handelsfreiheit des bisherigen Freistaats Zugeständnisse
von Oesterreich verlangt, die dieses unmöglich gewähren kann. Wer den
Krebsschaden kennt, an dem unser, in jüngster Zeit nur um ein Geringes
verbessertes Grenzwachensystem leidet, der wird es natürlich finden, daß
Oesterreich alles Mögliche aufbieten muß, um dem Uebel, welches eine
der wichtigsten Quellen im Budget eines jeden Staates, den Grenzzoll,
so ungeheuer schmälert, zu heben. Wenn man in Schlesien plötzlich be¬
hauptet, es seien jährlich für vier Millionen Thaler Waaren nach Krakau
von dort allein versendet worden, so ist dies (bei aller Uebertreibung, die
in dieser Angabe liegen mag) grade ein Grund mehr, daß Oesterreich die
Aufhebung des Krakauer Freihandels festhält. Denn noch einmal fragen
wir: wo sind diese vier Millionen Waarenwerthe consumirt worden,
wenn nicht wenigstens zur Hälfte in Oesterreich? Höchst sonderbar wäre die An-
muthung, daß ein Staat sich die Adern aufreißen soll, damit sein Nach¬
bar nach wie vor von seinem Blute sich nähren kann. Wenn man in
Schlesien fragt: Was soll aus einem Theil unserer Fabriken werden? so
haben wir wohl auch das Recht zu fragen, was aus den unsn'gen werden
soll. Schlimm genug, daß sie durch so viele Jahre durch einen so enor¬
men Schleichhandel in ihrem ehrlichen und kämpfeschweren Erwerb ge¬
schmälert und erdrückt worden sind. Haben die schlesischen Fabrikanten
wirklich für vier Millionen Thaler Waaren „nach Krakau" (!) geliefert,
um so glücklicher für sie, daß sie diesen Vortheil so lange genossen. Auch
in Oesterreich gibt es arme Weber und Spinner, die ihre abgemagerten
Hände Hülfe rufend und Arbeit fordernd ausstrecken. Auch Oesterreich
muß daran liegen, daß seine Grenzbevölkerung durch das infame Geschäft
des Schmuggels nicht noch tiefer demoralisirt werde. Würde ein An¬
schluß an den Zollverein im Ganzen und Großen für die österreichische
Monarchie bereits reif sein, wir waren die ersten, um ihn zu unterstützen.
Gern würden wir die bedeutenden Nachtheile, die der österreichischen In¬
dustrie im Anfange daraus erwüchsen, tragen, um den Bund mit unsern
Brüdern im großen Vaterlande zu befestigen und um aus der verrosteten
Jsolirung herauszukommen, welche die Niederdrückung der österreichischen
Entwicklung zur Folge hat. Aber zu Gunsten einer auf unrechtmäßige
Ausfuhrmittel gegründeten Specialindustrie einiger Fabrikanten uns zu
opfern und ein gefährliches Loch offen zu lassen, das die natürlichste
Pflicht der Selbsterhaltung zu schließen gebietet — eine solche Anmuthung
kann kein billig Denkender uns machen.
Die zweideutige Erwerbung Krakaus ist von uns Oesterreichern wahrlich
nicht erwünscht worden, und wir unsers Theils hätten bereitwillig auch
noch ferner auf eine Gebiets - „Bereicherung" verzichtet, welches die
Steuerpflichtigen der Gesammtmonarchie voraussichtlich noch schwere
Opfer kosten wird. Auch ist es sogar von der englischen und französischen
Presse eingestanden worden, daß das Gelüste nach einer Tcrritorialer-
weiterung von einigen armseligen Quadrat-Meilen Oesterreich sicherlich nicht
zu diesem folgenschweren Schritte getrieben hat, den es schon jetzt und
auf viele Jahre hinaus mit so schweren Opfern des Staatsschatzes bezahlen
muß, und der es, der Himmel weiß in welche Conflicte noch bringen
wird. Und zu diefem Allen fehlte es noch, daß man die Anforderung
an uns stellte, Krakau soll zu Gunsten des Schmuggels einen Staat im
Staate bilden und Oesterreich soll zu der kostspieligen Besatzung, die es
von nun an da unterhalten muß, von der seine zwei Alliirten doch zwei
Drittheile der Vortheile für ihre eigene Sache genießen, noch eine aus¬
gedehnte und dreifache Aollwache unterhalten, um sich gegen einen Theil
seines eigenen Gebietes zu schützen, welches es zum Stapelplatz fremder
Industrie hergeben soll, um den Herren Schmugglern ein Asyl zu berei¬
ten, wo sie ihre Feldlager halten und ihre nächtlichen Züge präpariren
können. Wahrlich eine sonderbare Anmuthung! Und würde man diese
wenigstens noch im Interesse der einverleibten Stadt erheben, wir würden
aus Schonung für sie, und um den Verlust ihrer Unabhängigkeit ihr
minder fühlbar zu machen, ihr gern ein Augestandniß wie an Brody gönnen.
Aber Krakau selbst verliert für seinen Handel durchaus nichts, wie Jeder¬
mann weiß, da ihm die Einrichtung von Transtto-Lagern gestattet wird,
während es anderseits durch die Aufhebung der Zolllim'e nach Oesterreich
zu, unendlich gewinnt.
Eins aber darf man preußischer Seits nicht übersehen. Auch wenn
Krakau in seiner bisherigen privilegirten Handelsstellung geblieben wäre,
so würde doch der bisherige Schleichhandel höchst bedeutend geschmä¬
lert worden sein, eben weil man jetzt die großen, alle Vermuthung über¬
steigenden Summen officiell kennen lernt, welche auf dieser Seite der
Schmuggel der englischen, französischen und Zollvereinsstaaren betragen,
wird Oesterreich Alles aufbieten müssen, um durch strenge Wachsamkeit
diesen Schleichhandel zu sperren. Die Waarenballen würden also auf
jeden Fall in viel geringerer Zahl nach dem Krakauischen Fceihandelsgcbiet
crpedirt werden, da sie sonst Gefahr liefen, dort Jahre lang liegen zu
bleiben, ehe sie den Eintritt ins österreichische Gebiet durch tausend Listen
und neue Korruption erzwingen. Was die Einfuhr nach Russisch-Polen
betrifft, so wird ihr durch die geringen Durchgangszölle, die tractatmäßig
auf dem Krakauer Geriet auch in Zukunft bestehen, kein Eintrag ge¬
than, aber freilich ist hiermit den Schmugglern wenig gedient, die es im
Ganzen auf Oesterreich abgesehen haben und denen Rußland blos Neben¬
sache ist.*)
Die ganze Frage ist, außer der Nothwendigkeit der Selbsterhaltung,
auch noch eine Moralitätssache, und wir trauen Preußen und seinem
Handelsstande zu viel Billigkeitsgefühl zu, um auf Zumuthungen zu be¬
stehen, dessen materielle und moralische Consequenzen auf der Hand liegen.
Sollten aber diese Anforderungen doch fortgesetzt werden, so wird unsere
Regierung hoffentlich wissen, was sie dem österreichischen Gewerbstande
schuldig ist und wir erwarten, daß sie mit Entschiedenheit die Interessen des¬
? Nicht geringes Aufsehen macht hier die plötzliche Ankunft des russi¬
schen Thronfolgers in dem Momente, wo das Krakauer Ereigniß die Ge-
müther in Spannung erhält und wo in gewissen Kreisen das Gerücht
laut wird, Rußland werde' mit dem neuen Jahre das „Königreich Polen"
auch dem. Namen nach verschwinden machen und es als bloße Provinz
(Gouvernement) vollständig mit den übrigen Staatstheilen verschmelzen.
Der russische Thronfolger dürfte hier noch wahrend seiner Anwesenheit
die Protestation Lord Palmerston's vernehmen, die Graf Dietrichstein,
der österreichische Gesandte in London, so ziemlich im Boraus geschil¬
dert hat. Ein österreichischer CabinetScourier/ der die Reise von hier nach
Paris, von da nach London und wieder zurück in II Tagen gemacht
hat, ist Anfangs dieser Woche eingetroffen und soll die Gewißheit gebracht
haben, daß von Frankreich nichts zu besorgen sei; von England hinge¬
gen, wenn auch keine krieqerische, doch eine sehr bittere und für die Zu^
kunst wichtige Protestation. England setzt sich auf den Fuß einer lan¬
gen und schwierigen Verhandlung, durch die es endlich nicht etwa die
Herstellung Krakaus oder Polens, sondern ein bedeutendes Augestandniß
für sich in irgend einer wichtigen Frage erzielen will. In Frankreich ist
die Protestation eine Fanfaronade, die Nation erinnert sich noch aus al¬
ten Zeiten, daß sie die Vorkämpferin der Völkerfreiheit war und werden
wollte, sie erhebt noch immer das alte Geschrei, die alten Stichworte
klingen und ertönen, aber die Schwerter bleiben in der Scheide, weil sie
mit zu wichtigen Ketten darin gefesselt sind, weil mit Ausnahme des
kleinen Haufens der Napoleonisten und Gloire-Anbeter, Alles den Frie¬
den wünscht und die Entwickelung der hunderttausend ausgesponnenen
Eivilisations - und Wohlstandsfaden. In England dagegen ist die Pro¬
testation ein Ergebniß des Handelsgeistes. Die alte Spinne in ihrem
festen Eiland kümmert sich nicht um den Aufschwung und Untergang
von Nationen, wenn die Interessen ihrer eignen Macht und Handelsgröße
nicht dabei berührt werden. Um Principien kämpft England nie. Ist
eins verletzt, so sucht sie in dieser Verletzung selbst ihren Vortheil zu
fischen, und wir zweifeln nicht, daß sie ihn in der Krakauer Frage all-
mälig finden wird. Die unglücklichen Polen können von dieser Seite nur eine
scheinbare Genugthuung erwarten, eine thatsächliche haben sie von Eng¬
land nicht zu hoffen. Dies weiß man hier so wohl, daß man nirgends
auch die leiseste Vorsichtsmaßregel oder Rüstungen bemerken kann, die
auch nur im Entferntesten auf einen Kriegsfall hindeuten könnten. In
den commerciellen Kreisen ward in den letzten Tagen die Krakauer Frage
sogar kaum beachtet, was allerdings wenig bedeutet, da die politische Bil¬
dung unserer Bankers und Industriellen in solchen Kinderschuhen geht,
daß sie kaum auf einen Monat hinaus ihre Berechnungen macht und
bei der mindesten Begebenheit den Kopf entweder in sanguinischer Hoff¬
nung oder in hypochondrischer Furcht verliert. Die wohlthätige Maßre¬
gel, welche Baron Kübel durch die Errichtung einer Ereditcasse für Ei¬
senbahnactionare ergrissen hat, ist für diese Kreise die Sonne des Tages,
um die sich alle ihre Pläne drehen. In der That, zu keiner Zeit war
diese Maßregel nöthiger als jetzt und wir können uns des Gedankens nicht
erwehren, daß sie mit Hinsicht auf das Krakauer Ereigniß in's Leben
trat, denn was wäre aus dem Credit geworden, wenn zu dem ohnehin
gesunkenen Vertrauen der Eapitalisten auch noch die Kriegsfurcht getreten
wäre? Durch die höchst wohlthatige Errichtung der Credircasse hat der
Hofkammer-Präsident einen materiellen und einen moralischen Erfolg er¬
zielt. Materiell durch die effective Garantie des ActienwerthS, moralisch,
weil die Regierung durch diesen Act das Vertrauen beurkundete, welches
sie zu dem ungetrübten Fortbestand des Friedens hat und dieses Vertrauen
dadurch auch in den weitesten Kreisen befestigte. — Uebrigens ist das
Gerücht, das allgemein hier herrschte, daß mit der Einverleibung Krakaus
auch Gebietsabtretungen an Rußland und Preußen gemacht worden seien,
officiell widerlegt worden. Diese Widerlegung schien um so nothwendig
gar, als dadurch die Grundidee dargethan wird, daß die Einverleibung
Krakaus österreichischer Seits nicht als ein Gewinn, sondern als eine
Last betrachtet wird, und daß die andern zwei Mächte dies anerkannt ha¬
ben. Für eine Gebictsbereicherung Oesterreichs hatten Nußland und Preu¬
ßen ein Aequivalent beansprucht, daß sie dies nicht thun konnten, zeigt
eben, welch einen schlechten Handel Oesterreich anerkannter Weife bei die¬
ser Bereicherung gemacht hat.
Kommen wir auf den russischen Thronfolger zurück, der gleich nach
seiner Ankunft einen Besuch bei der tiefgebeugten Großfürstin Helene
machte, die von dem schmerzlichen Verlust, den sie erlitten, sich noch nicht er¬
holen kann und in Italien die Befestigung der eignen Gesundheit suchen
will. Dies ist nun die zweite Tochter, die dieser wirklich ausgezeichneten
Frau innerhalb zwei Jahren dahinstirbt; die erste (vermählt an den Herzog
von Nassau) wie die zweite prangten in vollem Glanz der Jugend und
der Schönheit. Was haben diese unschuldigen Blüthen verbrochen, daß
an ihnen die Schuld der Vorfahren gerächt wird? Was haben diese lieb¬
lichen Wesen für einen Antheil an den Seufzern, die über die Schlacht¬
felder Polens hinweg und aus dem Innern Sibiriens zittern? An diesen
schuldlosen Häuptern hat die Nemesis keinen Antheil!
Bei Gelegenheit der Beerdigung dieser jungen Prinzessin, der auf
einen Befehl des Kaisers die Ehren einer Erzherzogin erwiesen wurden,
hat sich der spanische Styl unserer officiellen Zeitung wieder in jenem
eklen Phrasenservilismus gezeigt, von dem man nicht weiß, soll man dar¬
über lachen oder sott man sich ärgern. Gewiß ist's, daß derlei Phrasen
in ihrer Gott sei Dank! längst überlebten Plumpheit und Geschmacklosig¬
keit die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen, die sie beabsichtigen. Wer
muß selbst bei dem innigsten Mitleid nicht lachen, wenn die Wiener Hof¬
zeitung meldet: „Gestern Abend um sieben Uhr wurde die höchste Leiche
Ihrer kaif. Höh. der Frau Großfürstin Marie" -c., also die höchste Leiche
Ihrer Hoheit! und wo ist die andere? Und ist ein armes Kind, das in
die Gruft gelegt wird zu andern armen Entseelten, auch da noch höchst?
Traurig genug, daß man den Lebenden ein Prädicat beilegt, das sie mit
Gott in eine Linie stellt; die Seele, die Stellung eines Menschen kann
hoch sein — aber sein Leichnam ist wie jeder andere, und die Religiosität
verlangt hier sogar Demuth. Ferner heißt es: „Die Grenadier-Division
die den höchsten Namen Sr. kais. Höh. des Herrn Großfürsten trägt"
u- s. w. Da haben wir es! In einer Kirche wird der höchste Name
Gottes verehrt; in einer Grenadier-Division der höchste Name — eines
Großfürsten. Großfürst ----- Gott! Und die Protestanten nennt man
Ketzer! Ferner heißt es in dem erwähnten Bericht: „Die Grenadiere der
Thorwache präsentirten das Gewehr unter Rührung — des Spiels!"
Will die Wiener Hofzeitung etwa ironisch sein? Das könnte ihr theuer zu
stehen kommen! Daß man bei uns nicht einsehen will, daß Einfachheit
die dringendste Nothwendigkeit in allen unsern Verhältnissen sei, daß der
altspanische Styl, der Zopf, in den officiellen Ackerstücken wie in d n
praktischen Fragen der Administration, überall die schlechteste Wirkung
macht. Würde man doch lieber die Censucscheere an unsere Zöpfe legen,
hier wollten wir sie segnen!
Unser Burgtheaterpublicum hat dieser Tage selbst das Censuramt an
einem unserer Censoren ausgeübt und hat ein neues Stück von Herrn
Deinhardstein lobesam: „Verwirrungen der Liebe" ausgezischt. Die In¬
dignation gegen dieses Machwerk war so groß, daß nicht einmal die, Ge¬
genwart des Hofes den Ausbruch derselben dämmen konnte. Von der
Mitte des dritten Actes angefangen bis zum Schlüsse des vierten Actes
hörte das Publicum nicht auf, das Stück zu verhöhnen und auszuzischen.
Man glaubte sich gar nicht mehr mal,denn der glänzenden Versammlung
unsers ersten Theaters, denn diese Zeichen des tiefsten Mißfallens gingen
nicht von den Gallerien aus, fondern vom' Parterre und den Logen. —
Das Stück selbst ist aber auch das schlechteste und geistloseste Product,
mit dem man je die Breter unsers einst so tresslichen Burgtheaters ent¬
würdigt hat. Ware es auf einer Vorstadtbühne gegeben worden, man
hätte es nicht ausspielen lassen. — Dagegen macht Bauernfeld's „Gro߬
jährig" noch immer volle Hauser. Superkluge Aesthetiker und tiefgelahrte
Kritiker haben diesem Srücke den Mangel an eigentlichem dramatischen
Kern vorwerfen wollen. Ich glaube, Baucrnfeld gibt dieses selber mit
Freuden zu. War es ihm diesmal doch in der That nicht um den In¬
halt seines Stückes zu thun, sondern nur um den Ort, wo die satyrischen
Pointen desselben gesprochen werden. Der politischeZweck hat ihn vor Allem ge¬
leitet, die ästhetische Form war ihm nur Mittel und darum Nebensache.
Seit er seinen „deutschen Krieger" hier trotz aller Censur durchgesetzt und
zünden sah, wurde ihm die Ueberzeugung, daß das lebende Wort hier
mehr Wirkung, Gewalt und Freiheit hat als das geschriebene und darin
hat er sich nicht getauscht. Zur Charakteristik des Stückes und unserer
Zustände gehört es, daß die hiesige politische Zeitung, die über alle neuen
Stücke Recensionen bringt, über die Bauernfeld'schen zwei Lustspiele keine
Druckfehler. In unserm letzten Hefte, in dem Aufsätze: „Oesterreichs
Stellung in der Krakauer Frage" sind die Zahlen 1809, 1814 und 1819 von dem
Setzer falsch gestellt worden; in dem Satze: „Die letzte Eintheilung Polens im
Jahre 1819" ist zu lesen: I8l4; in dem Satze: „Des bis 1814 unter seiner Herr¬
schaft gestandenen Krakaus" ist zu lesen: „1809".
Von Chur läuft am jungen Rhein herauf eine Chaussee, von
Bregenz herunter kommt eine andere ihr entgegen und in Feldkirch stoßen
beide aufeinander. Von da aus zieht sich die große Straße quer durch
das nördliche Tyrol. Ueber Pludenz, Stuben, Landeck, Wasserreit und
Telfs gelangt sie in streng westlicher Richtung gen Innsbruck, von da
steigt sie nordostwärts nach Salzburg und dem Salzkammergut. Dann
stoßt auf sie herab, von München kommend, der große Weg nach Ita¬
lien; von Botzen laufen, gabelförmig gespalten, zwei Straßen zu ihr
auf: über Briren und den Brenner die östliche, über Meraue-und
durch das Engadiner Thal die westliche. Dies Alles sind bekannte
Dinge; die Namen rechts und links an diesen Routen kennt unsere
Reiscwelt genau; auch was sich von da aus mit kleinen Abstechern
erreichen läßt, schilderten die Touristen in großen Büchern. Nur leider
von dem Leben, was drinnen in den Thälern, droben auf den Bergen,
unten längs der Bergwasser sich selbständig gestaltet oder veraltet, was
seit Jahrhunderten sich eigenthümlich fortentwickelte oder fremden Ein¬
flüssen anheimfiel, erhalten wir höchst selten eine Kunde; die Welt jagt
so geschwind, da hat man keine Zeit zum Leben in den Thälern, voll¬
ends zum Sicheinleben mit deren Menschen; die Reise ist keine Lust,
sondern ein Geschäft, das man so weit als möglich ausdehnt und so
rasch als möglich abthut, um in den Wintergesellschaften die Prüfung
über den verbrachten Sommer glänzend zu bestehen, um überall als
Augenzeuge mitsprechen zu können, wo es sich um berühmte Berggipfel
und bekannte Aussichten handelt, oder — um ein Buch zu geben,
worin die blosirte Gesellschaftswelt ihre Reiseerinnerungen hübsch de-
corirt und zierlich ausstaffirt wiederfindet, damit sie sich mit der Lectüre
in sanften Schlummer lesen könne. Für solchen Geschmack taugen die
„Drei Sommer in Tyrol" von Ludwig Steub nicht im Mindesten.
Die Namen, welche die Salons durchtönen, die Thäler, welche der
wappengeschmückte Reisewagen auf geebneter Chaussee durchfliegt, die
Berge, zu deren Besteigung Maulthiere und Sänften bereit stehen,
haben darin keinen ausgezeichneten Platz. Ja, absichtlich streift die
Beschreibung nur ganz flüchtig an der Franä« routo vorüber und ein¬
getreten an dieses Führers Hand in die Gebirgswelt, scheiden wir von
aller modernen Touristenwelt, von allen Begegnungen mit der reisenden
Gesellschaft, von allen „piquanten Begegnissen." Dafür strahlt aber
aus dem Buche die ganze Pracht dieser südlichsten Gebirgswelt Deutsch¬
lands, dafür weht uns daraus erfrischend Waldesduft und Vergluft über¬
all entgegen. Gleich auf einem Wege, den man selten einschlägt, auf
dem Wege über Füssen und Reute (Renten, Reitti nennen'S Andere),
durchschneiden wir ein Stück Tyrol, um nach Vorarlberg zu gelangen,
während die gewohnte Tour bei Bregenz und dem Bodensee beginnt.
Doch nicht unvorbereitet springen wir in's Land hinein. Ein ernster,
historisch-geographischer Abriß gibt die Zeichnungsquadrate, in welche
sich die einzelnen Bildgruppen einrahmen werden; starke, markige Striche
bezeichnen die Grundfarbe, aus denen sich Lichter und Schatten erheben
sollen. So steigen wir in das betriebsame Lechthal. Um die Schilderung
der Landschaft mit ihren Kirchen, Ruinen, einfachen Bauernhäusern und
mächtigen Bergkämmen schlingen sich Sagen und Geschichten; Name»,
welche in weiter Welt mit lautem Klang erschollen, finden hier ihr
Heimathsland, und von dem Charakter dieser Einzelnen beugt sich
von selbst und ungezwungen die Betrachtung zurück auf Sitte und
Brauch, auf Gewerbfleiß und Lustbarkeit des heutigen Lechthales, bis
unser Führer, neue Bilder aufnehmend, durch die Felseneinsamkeit des
„Schrecken" zum Bregenzerwald und zu den beiden Walserthälern wan¬
dert, von denen das kleine in das bairische Allgau mündet und nach
allen Seiten seine, in der Milch- und Viehwirthschaft geschickten Be¬
wohner sendet, deren Sitte, Tracht und Mundart doch so streng ge¬
schieden von allen Nachbarn bleibt, wie es ihr Ursprung ist. Im großen
Walserthale aber, wo das Leben, unbekümmert um das draußen, in
einförmiger Geschäftigkeit seine Kreise zieht, sprudelt reich die Sage
und auch für die Geschichte mancher schöne Quell. Wo dann das
Walserthal endet, hebt das mit den durchstreiften Landschaften ver¬
wandte Wallgau an, dessen arbeitsames und genügsames Volk den rei¬
chen Segen einer üppigen Natur einerntet. Dann kommt das wander¬
lustige Montauvon; seine Bewohner sind im würtemberg'schen Ober¬
lande wohl gekannt und deren Vettern selbst im fernen Asien ansässig ;
doch selten geräth ein Reisender hierher in dies milde Alpenthal. Von
Montauvon, durch die Partenner Fichten und das wildromantische
Vermont schlingt sich ein mühsamer Pfad hinüber nach dem Beginne
von Tyrol, nach Landeck. Doch bevor wir von Vorarlberg scheide»,
eilt die Schilderung noch einmal zurück nach Vaduz und überschaut
zuletzt mit einem allgemeinen Blicke die Verhältnisse der Vorarlberger.
„Setzt man Vorarlberg in Begleichung mit Tyrol, so läßt sich nicht
läugnen, daß der Mangel an alten adeligen Familien, der gleichmäßige
Stand der Volksbildung und die geringen Unterschiede der Stände,
die hohe Blüthe der Industrie, die allgemeinere Theilnahme an öffent¬
lichen Angelegenheiten und noch manches Andere, dem Lande Vorarl¬
berg eine Physiognomie verleihe, die um ein gutes Theil moderner
aussieht, als jene des benachbarten Tyrol" — mit diesen Worten
scheidet Steub. — Auch in Tyrol eröffnet ein allgemeingeschichtlicher
Ueberblick der Geschicke deS Landes die Anschauung von deren heutigem
Leben. Von Landeck über Imst (dessen behagliche Stattlichkeit uns so
vertraut anmuthet, nachdem Spindler's Vogelhändler hier gespielt) eilt
die Beschreibung nach dem Oetzthal. Wilde Partien mit breiten, lichten
Thalgeländen wechselnd, ein rühriger Gewerbfleiß und reicher Natur¬
segen — das ist sein Charakter. Weitere Wanderungen führen nach
Meran hinab, und auf dem unserer Touristenwelt so wohlbekannten
Wege angelangt, wächst aus der Anschauung der Landschaft die Er¬
innerung an die Geschichte auf, welche in diesen Kreisen vor Jahr¬
hunderten wie vor Jahrzehnten gleichermaßen zu blutigen Entwickln»,
gen gelangte. Doch neben diesen welthistorischen Begebenheiten behält
auch hier das örtliche Interesse volles Recht. Bald sind es kleine
bürgerliche Geschicke, bald eine prachtvolle Naturumgebung, bald wie¬
der die Entwicklung des Gewerbfleißes und der Industrie, zu denen der
Verf. den Leser hinführt — überall ein sicherer und geistreicher Führer.
So gelangen wir denn nach Meran, nach der freundlichen Stadt mit
ihrem herrlichen Amiant, mit den kleinen Stadtinteressen und den großen
historischen Erinnerungen. Von da hinab zum Passeyer Thal mit
Andreas Hofer's großem, traurigen Andenken, welches noch heute von
einem benachbarten Landrichter so argwöhnisch beobachtet wird, daß
dieser aus dem Fremdenbuch der Hütte des Bauerngenerals sogar ein
Gedicht ausschnitt, welches hineingeschrieben worden war und nun nur
noch bruchstückweise im Gedächtniß eines Mädchens leben würde, wenn
Steub die Strophen, so weit er sie erfuhr, nicht ausgezeichnet Hütte.
Dann schließt eine Wanderung in's Alt'ner Bad und dessen Umgebung
den ersten Tyroler Wanderzug. In Ulten aber war einst eine Strafe
für jeden Badegast gesetzt, der sich nicht „glatt und reindeutsch" aus¬
drückte; doch ist dies schon lange her und jetzt nicht mehr Brauch.
Im folgenden Sommer fand sich Steub auf einer Blumenterrasse
im Etschland, in einem schönen Garten bei Botzen. „Hier am Lorbeer¬
busch träumt Schiller im bleichen Marmor, dort erhebt sich Goethe's
gebieterisches Haupt und in der Geisblattlaube ist der verständige
Nestor aus Prinz Zerbino aufgemalt, wie er im Garten der Poesie
mit den Dichtern wortwechselt — alles freundliche Wahrzeichen, daß
anch um diese letzte Stadt deutscher Zunge der deutsche Genius ein
geistiges Band geschlungen habe, das sie dem großen Ganzen vereint."
Diese letzte deutsche Stadt ist reich, war's schon im Mittelalter und
fuhrt ein behaglich Leben, trotz des bußprcdigenden Zelotismus, welcher
aus der Atmosphäre ulei» inoutös seine Vertreter hierher schickte. Aber
draußen im Lande haben sie gewirkt, sogar die Kunst geschändet, die ihnen
üppiq schien, und auf die Sage der alten Burgen gefahndet, als wäre
sie Sünde.
„Derweilen bauen sie drunten im Thal
Wegkreuze und Feldkapellen."
Und — setzt der Prosaist hinzu — treiben ihr Wesen mit stigmatisirten
Frauenzimmern. — Geschichte, Leben und Sitten, der ganze wildfremde
Reiz der Thäler von Gröden und Enneberg in ihren abenreucrlichen
Berggestalten sowohl, als in der Sprache und Art ihrer Bewohner,
thut sich dann vor uns auf. Hierauf durchwandern wir Selvain, Stubri,
das Wippthal, Dur, das Zillerthal und Arenthal, um zuletzt mit
Brunecken die Streifzüge zu enden. Ein Nachtrag überblickt die innere
politische Entwicklung Tyrols, die erhaltenen Vorzüge deS Privatlebens,
die von der Neuzeit und dem Zuvielregieren entstandene Verödung sei¬
nes poetischen Reizes, damit auch eines großen Theils seines morali¬
schen Haltes. „Einst war der freie Bauer so gut wie der Edelherr
der Träger der geistigen Errungenschaften der Nation, er hatte diesel¬
ben Kenntnisse und Wissenschaften, dasselbe Recht; die deutsche Vorzeit
hatte einen poetischen Schatz hinterlassen, in welchen sich Ritter und
Bauersmann brüderlich theilen konnten, und so stand Jeder auf seinen
eignen Füßen. Wenn wir nun von diesen Besprechungen, bei denen
der Blick wohl auch über die tyrolischen Grenzen hinausgeworfen
werden konnte, wieder auf unser Alpenland zurückkommen, so finden
wir, daß derlei Gedanken, Meinungen und Ansichten in dortiger Praxis
gar keinen Wiederhall finden. Da ist Alles, was außerhalb der Kirche
liegt, von gar keinem Werth und die Sinnigkeit des Volkslebens gilt
für sündhaft." Auch die Natursagen ersterben mehr und mehr. „Der
Bauer hat den Glauben und den Gefallen daran verloren, und was
da einmal vergessen und verschollen, das ist nie mehr zurückzuführen.
Sitten und Gebräuche anlangend, so wurde und wird auch da mehr
und mehr Alles Eigenthümliche weggekehrt." Und wie beim Bauern-,
ist's auch beim Bürgerstand; „der Hochmuth der Prosa" beherrscht
auch ihn, und für allen Entgang an volksthümlicher Lust und behag¬
licher Bewegung soll entschädigen: die Religion, „So gleicht denn
Tyrol einer schönen, prunkenden, mit historischen Erbstücken reich ge¬
zierten Halle, in welcher viele denkwürdige Haupt- und Staatsactionen
vorgegangen; aber es ist zu lange kein Fenster mehr geöffnet, keine
frische Lust mehr hineingelassen worden, darum ist die Atmosphäre et¬
was dumpf und sticklich. Nun kommt aber vielleicht auch einmal der
Tag, wo die Fenster, zumal jene gegen Deutschland hin, wieder auf¬
gethan werden und ein frischer, angenehmer Luftzug wird wieder durch
den Saal gehen und es wird wieder verschiedenes Leben geben in der
alten großen Bergeshalle. Dann wird sich auch die wehmüthige De¬
vise : ES heißt halt a nicht mehr — in den ermunternden Wahlspruch
ändern: Es geht jetzt alm besser."
Dies des Buches Schluß. Was bleibt noch zu sagen? Das beredteste
Lob ist kurz. Wer Tyrol nicht nur liebt seiner Bergspitzen und Thalgründe
halber, seiner Wasserfälle und Burgzierden wegen, der nehme in ruhiger
Stunde dies Buch zur Hand und lerne das Jnnerleben eines deut¬
schen Volkstheils kennen, das nur zum großen Theil vergessen haben.
Denn arg vernachlässigt haben wir im Lause der Jahrhunderte manch
schönen Ast und Zweig unseres Stammes; die Zeit ist da, daß wir
zusammenhalten, was noch übrig blieb.
Im Alter von siebzehn und einem halben Jahre war ich bis zur
zweiten Stelle in der zweiten Classe (Obersecunda) vorgerückt, als ans
einer Klosterschule eine Freistelle offen wurde, für die ich längst, vorge¬
merkt war. Da ich nach meiner damaligen Stellung längstens binnen
zwei Jahren die Schule verlassen und zur Universität abgehen konnte,
so wäre es wohl am Gerathensten gewesen, meine Gymnasiallaufbahn
nicht zu unterbrechen und auf jene Freistelle zu verzichten. Mein Vater
jedoch war der Ansicht, daß eS für die Erziehung von jungen Burschen
vortheilhaft sei, wenn sie aus dem älterlichen Hause kämen, und so
ward jene Stelle angenommen und ich nach der Klosterschule gesandt.
Eine Prüfung meiner Kenntnisse sollte entscheiden, in welche Classe ich
zu sitzen kommen sollte. Man legte mir die leichtesten Fragen vor und
ich war — wie man denn vor jeder Prüfung eine gewisse Angst hat —
schon froh, so leicht durchzukommen, als mich wie ein Donnerwort die
Entscheidung traf, ich sollte der Letzte in der dritten Classe sein (Atti--
mus in Untertertia nach dem Schulauödruck).
Der Grund dieser Entscheidung lag nun nicht etwa in Mangel
an Kenntnissen bei mir oder in dem schlechten Ausfall der mit mir
vorgenommenen Prüfung, sondern in dem lächerlichsten Gelehrtendünkel.
Dieser Dünkel erzeugt eine kleinliche Eifersüchtelei der verschiedenen
Schulen untereinander. Jede Schule bildet sich ein, auf einer höhern
Stufe als die andern zu stehen, jede behauptet, daß in ihr mehr und
besser gelehrt würde als in andern, daß aus ihr befähigtere und unter-
richtetere Schüler herausgingen als aus andern. Weil sie nun alle
den Dünkel haben, auf höherer wissenschaftlicher Stufe zu stehen als
andere, so hat sich daraus der feststehende Gebrauch gebildet, im Fall
ein Schüler von einer Schule zur andern übergeht, demselben einen
mehr oder minder niedrigern Platz anzuweisen, als er in der frühern
Schule hatte, und mit feierlichem Dünkel erzählt man dann: Wir be¬
kamen heute wieder einen Schüler von dem Gymnasium zu X>, der da
in der zweiten Classe sitzt, und wir konnten ihn kaum in die dritte
setzen. Unter diesem Grundsatze mußte auch ich leiden. Ich hatte in
meiner Vaterstadt schon halb und halb den Studenten gespielt, rauchte
mein Pfeifchen und wußte schon so ziemlich mit der Klinge umzugehen
— hier sah ich mich auf einmal unter die kleinen Jungen versetzt. —
Ich war ein ziemlich hochaufgeschossener Mensch, der Bart sproßte mir
längst um Lippen und Kinn — und saß unter den Terlianern. Merk¬
würdig, ich kann diesen Eindruck nie los werden, und jetzt, nach fast
zwanzig Jahren, quält mich oft ein und derselbe wiederkehrende Traum,
in welchem ich, schon Vater und Gatte, in die Schule gehen muß.
Ein Jahr hielt ich es aus in dieser Klosterschule. Ich hielt aus,
sage ich, denn es war wirklich eine Marter, dort zu leben. Denken
Sie sich zunächst die Einrichtung der Schule selbst. Diese war förm¬
lich kloftermäßig. In einem großen Gebäude wohnten 120 Schüler
beisammen. Die Einrichtung war folgende: Um halb sechs Uhr ertönte
eine Glocke und weckte. Jetzt ward aufgestanden. Zum Waschen und
Anziehen waren drei Viertelstunden vergönnt. Ein Viertel nach sechs
Uhr ward gebetet und gesungen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen
und sonstige Frömmigkeiten geübt. Dann ging es zum Frühstück. Um
sieben Uhr begann der Unterricht, dauernd bis elf Uhr. Von elf bis
ein Uhr waren Freistunden, um zwölf Uhr Mittagsessen. Von ein
bis drei Uhr Unterricht. Von drei bis sechs Uhr Arbeitsstunden unter
Aufsicht. Um sechs Uhr Abendessen. Dann bis halb acht Uhr Frei¬
stunde. Von halb acht bis neun Uhr Arbeitsstunde. Um neun Uhr
Abendgebet und dann mußten nur zu Bette. Ausgehen war ganz
verboten. Zweimal wöchentlich, ich glaube Dienstags und Freitags,
ward die ganze Heerde unter strengster Aufsicht nach einem eine Stunde
entfernten Dorfe geführt. Im Winter unterblieb auch das. Statt
dessen erhielten Dienstags und Freitags je sechs aus jeder Classe die
Erlaubniß, zwei Stunden spazieren zu gehen. Bei der großen Zahl
der Schüler traf Jeden etwa alle vier Wochen dies glückliche Loos.
Das war etwa die Schulordnung. Kann man sich einen ärgern Zwang
denken? Draußen lag die herrliche, fröhliche Gotteswelt, munter rollte
der blaue Strom seine Wellen vor den Fenstern der Studirsäle vorbei,
gegenüber winkten die waldigen Berge mit ihren grünen Schatten —
in den Adern der jungen Burschen strömte ein frisches, fröhliches Blut
— aber das Blut in den Adern mußte ruhig sein, die Berge winkten
umsonst, und statt mit freier Brust die frischen Berglüfte einzuathmen,
saßen wir im dumpfen Studirsaale und lernten die unregelmäßigen
griechischen Verba. Sie sind sehr schwer und sehr langweilig — die
griechischen unregelmäßigen Verba, und man kann selig werden, ohne
just sehr fest in ihnen zu sein. Man entbehrt aber einen großen Theil
der Seligkeit, wenn man in spätern Jahren auf keine Jugendlust zu¬
rückschauen kann. Die reinen Freuden, die man bis zum zwanzigsten
Jahre blos in dem bewußtlosen, träumenden Wandeln in der Natur
genießt, sie sind den armen Klosterschülern schmählich gestohlen; denn
man genießt so rein, aber nur ehe mau zwanzig Jahre alt ist. Und
der Zweck dieser Einsperrung? Ich habe schon manchmal mein Gehirn
abgemartert, einen Zweck zu finden — es geht nicht. Man will die
jungen Leute von dummen Streichen abhalten durch strengste Aufsicht.
DaS ist sonderbar! — Man zwingt sie zu dummen Streichen durch
knechtische Aufsicht, denn gegen jeden Zwang lehnt sich der Mensch auf;
man bringt Falschheit in ihr Gemüth, denn man nöthigt sie, zu be¬
lügen und zu betrügen, weil man kein Vertrauen in sie setzt, und wenn
es eine Entschuldigung für die Lüge geben kann, so ist es entwürdi¬
gendes Mißtrauen. Und was für Streiche können denn am Ende
junge Burschen machen? Tabak rauchen, Bier trinken, Karten spielen,
wenn es hoch kommt eine Liebeständelei. O der frommen, gelehrten
Leute! Sind sie denn wirklich so dumm, zu glauben, sie könnten die
Jugend einkerkern? Unter ihrer Nase haben wir geraucht, gespielt, ge¬
trunken, bei Tag und bei Nacht, belogen und betrogen haben wir sie
— und verlacht obendrein.
Jene klostermäfiigc Einrichtung hatte eine ganz eigne Erscheinung
hervorgebracht, das war eine Art von Verfassung unter den Schülern
selbst, welche sowohl ihrer bodenlosen Lächerlichkeit, als ihrer entsetzli¬
chen Unterdrückung der Untern wegen jedenfalls sehr merkwürdig war.
Diese Verfassung war sehr alt und hatte sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht auf der Schule fortgepflanzt, hatte ihre Abänderungen erfahren,
zu Auflehnungen und Empörungen Anlaß gegeben, just wie bei einer
Staatsverfassung. Der Grund ihres Entstehens lag wohl in einem
doppelten Umstände.
Da die Schüler ganz von der Außenwelt abgeschnitten und nnr
auf ihr eignes Zusammenleben angewiesen waren, so mochte sich bald
die Nothwendigkeit herausgestellt haben, für dieses Zusammenleben ge¬
wisse Formen zu finden.
Zweitens war es für die Lehrer am Ende eine Unmöglichkeit, die
Schüler fortwährend, in allen Stunden zu beaufsichtigen, und so hat¬
ten sie den Schülern der ersten Abtheilung und dann denen, die auf
den ersten^ Plätzen jeder einzelnen Abtheilung saßen, eine Art Ober¬
aufsicht, ja sogar ein Strafrecht gegeben, welches darin bestand, daß
für kleine Fehler, als Plaudern während des Unterrichts, Unfleifi wäh¬
rend der Arbeitsstunden, Strafaufgaben gegeben werden durften. In
letzter Beziehung beruhte jene Verfassung auf einem rechtlichen Grunde,
und möchte ganz gut gewesen sein, wenn sie nicht mit andern Dingen
vermischt worden wäre, die zu den empörendsten Ungerechtigkeiten ge¬
führt hätte.
Wenn ich diese Verfassung schildern soll, so gerathe ich wirklich
in einige Verlegenheit. Sie war eine Art Polizeiordnung für das
Leben in der Schule, gebaut auf aristokratische Grundzüge oder besser
auf einen indischen Kastengeist. Die verschiedenen Kasten ergeben sich
von selbst, es waren die verschiedenen Abtheilungen, in welche die Schü¬
ler nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen eingetheilt waren. Jede
dieser verschiedenen vier Abtheilungen besaß ihre Rechte, dies war
der Allsdruck für die ganze Sache.
Jenes Oberaufsichtsrecht über die ganze Schule war den zwölf
Ersten und nettesten der Schule übergeben, die Inspektoren hießen und
wochenweis in der Aufsicht abwechselten. Dieses AnfsichtSrecht ward
nun stufenweis folgendermaßen geübt:
Unter die Schüler der ersten Abtheilung, Primaner genannt, hat¬
ten sich die Jnspectoren ihres AufsichtSrechts begeben. Diese durften
thun und treiben, was sie wollten, durften alle Schulgesetze über¬
treten, ohne daß die Inspektoren sie zur Anzeige brachten oder selbst
bestraften. Diese Uebertretungen bestanden nun darin, daß die Pri¬
maner heimlich ausgingen (ausstiegen, weil eine Mauer überklettert
werden mußte), Tabak rauchten, in den Lehr- und Arbeitsstunden Ro¬
mane lasen, Kaffee und Chokolade tranken (Beides war ohne Geneh¬
migung der Lehrer verboten und gehörte deshalb zu unsern Lieblingö-
gcnüssen), des Nachts ausblieben und Punsch machten, in den Arbeits-
stunden ungehindert sprachen, hin und wieder gingen u. tgi. mehr.
Alles das war nach den Schulgesetzen verboten, nach der Schülerver-
fassung aber den Primanern erlaubt. Die Schüler der zweiten Ab-
theilung besaßen diese Rechte nur zum Theil oder waren bei Ausübung
derselben an gewisse lächerliche Formen gebunden. Sie durften Tabak
rauchen, aber nicht aussteigen, sie dursten in den Arbeitsstunden nicht
mit einander sprechen, wohl aber aufstehen und sich ein Buch geben.
Thaten sie aber das Letztere, so mußten sie an die Thüre gehen und
mit dem Fuße anstoßen, zum Zeichen, daß sie nicht die vollkommenen
Rechte eines Primaners besaßen.
Die Schüler der dritten und vierten Abtheilung hatten alle diese
Rechte nicht. Sie durften weder Tabak rauchen, noch aussteigen, noch
Romane lesen, noch heimlich Kaffee trinken, noch ohne Erlaubniß des
Tischinspectors in den Arbeitsstunden aufstehen, noch überhaupt sonst
etwas — sie waren mit der äußersten Strenge an die Schulordnung
überhaupt gebunden, während die Schüler der zweiten Abtheilung zum
Theil, die Schüler der ersten sich ganz und gar über diese Schulgesetze
wegsetzen durften, ohne von den Inspektoren zur Strafe gezogen oder
zur Anzeige gebracht zu werden. Im Ganzen war dies ein natür¬
liches Ergebniß. Der Schulzwang war so lästig und unerträglich,
daß eine Auflehnung dagegen sich als natürliche Folge ergab. Hätten
sämmtliche Schüler über die Schnur gehauen, so würde in kurzer Zeit
alle Zucht und Ordnung aufgehört haben; die für die Ordnung ver-
antwortlichen Inspektoren hielten also die untern Abtheilungen in
strengster Zucht und ließen nur gegen die ältern Schüler Nachsicht
eintreten. Damit nun auch in dieser Unordnung eine Ordnung bestehe,
waren die Grenzen dieser Unordnung auf das Genaueste bestimmt, und
so hielt sich die Sache. So weit mochte sie auch ganz gut gewesen
sein, wenn sie nicht zu förmlicher Unterdrückung der Untern und Jün¬
gern geführt hätte. Diese Unterdrückung fand in mehrfacher Hin¬
sicht statt.
Die Inspektoren trugen ihre Strafgewalt, die ihnen unbequem
wurde, auf die Ersten in Hen Abtheilungen über, welche um ihrerseits
eine Art von kleiner Disciplin übten. Hatte Jemand in den Unter¬
richtsstunden geplaudert u. tgi., so strafte ihn dafür der Erste seiner
Klasse, indem er ihm in einer Freistunde aufgab, zwanzig Verse aus
dem Homer oder Virgil zu übersetzen oder auswendig zu lernen. Hier
war Ankläger, Richter und vollziehende Gewalt in einer Person, und
gegen ein solches Urtheil gab eS keine Berufung. Daß hier die
schreiendsten Ungerechtigkeiten verübt wurden, daß hier persönliche
Mißverhältnisse,'die bei einem so engen Zusammenleben nothwendig
sich ergeben mußten, oft im Spiele waren, läßt sich leicht deuten.
Niemand erkennt seines Gleichen für seinen Richter, und so ward das
Rechtsgefühl der jungen Leute fort und fort verletzt.
Schlimmer noch gestalteten sich zwei andere Umstände. Durch
die Abstufung der unrechtlichen Rechte hatte sich ein wahrer Kastengeist
gebildet und die Schüler der oberen Klassen sahen auf die unteren
Klassen mit derselben Verachtung herab, wie ein ahnenstolzer Kraut¬
junker auf seine Jagdtreiber.
Aus dieser Verachtung war denn ein Recht der Rache oder Selbst-
hülfe entstanden. Hatte nämlich ein Schüler der untern Klasse die
Dreistigkeit, einen der obern Klassen zu beleidigen oder das Unglück,
in Mienen oder Worten etwas zu thun, was den Obern für Belei¬
digung zu nehmen beliebte, und was fast bei jedem bloßen Widerspruch
der Fall war, so verlangte der Obere ohne weitere Verhandlung bei
den Inspektoren oder sonst zu Strafen Berechtigten die Bestrafung des
Untern. Diese erfolgte auf die einfache Forderung jedes Mal, ohne
daß nur eine Vertheidigung gestatter war, und mancher arme Tertianer
mußte nicht selten seine wenigen Freistunden dazu anwenden, fünfzig
Verse aus dem Homer auswendig zu lernen, weil er einen Obern
aus Versehen gestoßen oder auf die Hühneraugen getreten hatte. Wäre
in solchen Fällen eine Vertheidigung gestattet gewesen und nach förm¬
licher Verhandlung ein Urtheilsspruch erfolgt, so hätte es angehen
mögen, aber so war es die empörendste Ungerechtigkeit, und das Rechts¬
gefühl der jungen Leute ward auf das schreiendste verletzt.
Ein zweiter Umstand fand sich bei dem Essen. An zehn Tischen
ward gespeist, an jedem saßen zwölf Schüler so, daß an jeden Tisch
eine möglichst gleiche Anzahl von Primanern, Secundanern, Tertia¬
nern und Quartanern kam. Das Vorschreiten und Vertheilen war
dann das Amt der beiden ältesten Primaner am Tische. Dies Ver¬
theilen geschah dann so: Von Fleisch bekamen die Primaner die besten
Stücke, die Secundaner noch Fleisch, die Tertianer und Quartaner
Knochen. Von Butter, wo auf jeden ein Zwölftel rechtlich kam (die
langen Brote, auf welchen die Butter in Form einer Wurst ausgetra¬
gen wurde, waren mit förmlichen Rinnen in zwölf gleiche Theile ein¬
getheilt), erhielten die drei am Tische sitzenden Primaner sieben Zwölftel,
die drei Secundaner drei Zwölftel und die sechs Tertianer und Quar¬
taner zusammen ein Zwölftel. In gleichem Verhältniß ward alles
Uebrige ausgetheilt. Diese offenbare Verkürzung der Untern war
gleichfalls verfassungsmäßiges Recht.
Alle diese Sachen waren um nicht etwa eingeschlichene Mi߬
bräuche, oder zufällig von Einzelneir geübte Ungerechtigkeiten, nein, für
sie bestanden streng festgesetzte Formen. Sie waren aufgezeichnet in
einer förmliche,: Urkunde, welche mit dem Namen „die Rechte" be¬
zeichnet wurde. Früher mochten die Unterdrückungen der Untern noch
schlimmer gewesen sein, und so viel ich mir habe erzählen lassen, ist
wegen dieser Unterdrückungen ein Mal ein förmlicher Krieg und Auf¬
stand in der Schule ausgebrochen, der, ohne zur Kenntniß der Lehrer
zu kommen, unter den Schülern selbst ausgefochten wurde und mit
einem förmlichen Friedensschlüsse endigte. Dieser Friedensschluß war
nichts anders als die Feststellung der erzählten Rechte und die förm¬
liche Verfassung war der Frieoensvertrag. Um dies Alles noch feier¬
licher und bestimmter zu machen, waren, echt deutsch, die lächerlichsten
Formen erfunden worden. So durfte ein Inspektor oder Primus, der
eine Strafe verhängte, niemals mit dem Bestraften sprechen, selbst
nicht, wenn er ihm die Strafe auferlegte oder durch Ueberhören sich
von der Ausführung der Strafausgabe überzeugte. Dazu waren be¬
stimmte Mittelspersonen erforderlich, Syndicus genannt, welche wie
ein Dolmetscher die Fragen und Antworten zwischen den beiden neben
einander stehenden Personen vermittelten.
Wären alle diese Sachen kindische Dummheiten gewesen, so wäre
nicht viel darüber zu sagen, allein offenbar übten sie den schädlichsten
Einfluß auf den Charakter der Schüler. Die vielfachen Ungerechtig¬
keiten, welche die Untern ertragen mußten, verbitterten dieselben nött)-
wendig, führten zu Liebedienerei und Speichelleckerei. Und umgekehrt
wurden dann die Untern, wenn sie in obere Abtheilungen hinansrückten,
selbst die ärgsten Unterdrücker, und rächten sich für die erduldete Unbill
an denen, die ihnen nun untergeben waren. Man betrachte die Sache
nicht blos von der lächerlichen Seite — sie hat auch eine sehr ernste.
Der Rechts Sinn ist eS, der durch diese Geschichten unterdrückt wird,
der Rechtssinn aber ist eine zarte Pflanze, die namentlich in jungen
Gemüthern gepflegt werden soll. Und der Rechtssinn ist das Haupt-
erforderniß für Leute, die später im Staate richterliche oder Verwal¬
tungsstellen bekleiden sollen. Hier kann die Frage aufgeworfen werden,
ob die Lehrer um diese Unbilligkeiten wußten und ob eine Anzeige
bei denselben nicht zu einer Abhülfe hätte führen können? Was eine
Anzeige betrifft, so ist eine solche unmöglich, denn die Schüler finden
tausend Gelegenheiten, einem Angeber das Leben satter zu machen.
Das weiß Jeder und schweigt. Was eine Mitwissenschast der Lehrer
betrifft, so ausi mau an diese fast glauben, denn viele Dinge gingen
unier ihren Augen vor. Bei jedem Essen z. B. war ein Lehrer an¬
wesend und dieser hätte die unbillige Vertheilung der'Lebensmittel
bemerken müssen, wenn er sie nicht absichtlich übersehen wollte.
Was die Lehrer betrifft, so genossen diese im Allgemeinen keine
Achtung bei den Schülern. Dies ist auch ein Uebelstand bei unsern
Schulen. Um Lehrer zu werden, muß man genügende Kenntnisse
besitzen. Allein dies ist bei weitem nicht Alles für einen guten Lehrer.
Viel wichtiger für einen guten Lehrer ist eine Achtung gebietende
Persönlichkeit und dann die Gabe der Mittheilung. Diese Lehrgabe,
falls sie nicht angeboren ist, fällt einem Deutschen sehr schwer zu er¬
werben. Mail erwirbt sie nur in einem öffentlichen Leben, was bei
uns nicht besteht, oder durch Bewegung in einem geselligen Leben,
was meistens den deutschen Lehrern auch verschlossen ist.
Ohne Achtung gebietende Persönlichkeit aber und ohne die Gabe,
mitzutheilen und zu lehren, ist die Wirksamkeit eines Lehrers eine sehr
geringe. Jung'e Leute haben einen eigenen Scharfblick für die Person--
liehen Eigenschaften ihrer Vorgesetzten und sie achten dieselben nur,
wenn sie achtungswerth sind. Dem Amte, der Stellung erweisen sie
keine große Ehrfurcht und diese läßt sich anch durch die schärfste
-Strenge nicht erzwingen. In meiner eigenen Erinnerung leben einige
Beispiele jugendlichen Muthwillens.
Eines Nachts saß ich mit einem Freunde in einem Studirsaale.
Wir hatten ein Glas Punsch gemacht und lasen Shakespeare.
Das waren viele Vergehen auf einmal, Shakespeare, Punsch und
NachtSaufbleiben, indessen wir waren sehr glücklich. So mochte
es zwei Uhr Nachts geworden sein, Alles schlief in dem großen, wei¬
ten Schulgebäude und nur waren vertieft in den gewaltigen Dichter.
Da kam der eine von den im Hause wohnenden Lehrern, ein uns
wohlbekannter Nachtschwärmer, nach Hause. Wir hörten seine Tritte
nicht, er aber bemerkte uns, das durch'S Schlüsselloch fallende Licht
hatte uns verrathen. Er schleicht hinzu, uns zu überraschen und öffnet
plötzlich die Thüre. Doch so leicht warm wir nicht gesangen, wir
bliesen im Nu das Licht aus. Da er uns nicht erkennen konnte, und
wir aus seine Fragen keine Antwort gaben, schloß er die Thüre ab,
um Licht zu holen und uns dann sicher zu erkennen. Was thun?
Das Zimmer halte nur eine Thür, aber viele Fenster. Husch waren
wir zum Fenster hinaus, kletterten am Blitzableiter hinab, liefen an
den, Hause hin, kletterten an einem anderen Blitzableiter wieder hinauf,
stießen eine Scheibe durch, öffneten das Fenster und schlüpften eben
in den Schlafsaal, als der Herr Professor mit Licht kam, die Thür
öffnete und das verschlossene Zimmer leer fand. Der Mann war beson¬
ders stark in den griechischen unregelmäßigen Zeitwörtern, die uns beiden
bösen Buben weit weniger behagten, als der Shakespeare und Schiller.
Einen komischen Auftritt gab folgende Geschichte. In unsere
Schlafsäle, die über einander im vierten und fünften Stockwerk lagen,
kam einstens Nacht für Nacht eine Katze, die dort ihre verliebten Lie¬
der anstimmte und uns im Schlafe störte. Es ward also einstimmi¬
ger Beschluß gefaßt, diesen nächtlichen Gast zu jagen und wo mög¬
lich zu tödten. Jeder lag am bestimmten Abende im Bette, bewaffnet
mit Stiefelknecht oder Stuhlbein, versehen mit Licht und den Mitteln,
es anzuzünden. Todtenstille — endlich läßt sich ein zärtliches Miau
vernehmen. Im Nu waren die Lichter angezündet und die Jagd be¬
gann, eine närrische Jagd. Sechszig junge Bengels im bloßen Hemde
durchliefen die Säle, schauen hier — dort — da — werfen mit den
Stiefelknechten — ein heilloser Lärm. Aber eine Katze ist nicht leicht
zu fangen, besonders wo so viele Betten eine Masse Schlupfwinkel
darbieten. Der Nachtwächter hatte von unten das Durcheinander¬
laufen der vielen Lichter bemerkt, und in der Meinung, es sei Feuer
ausgebrochen, den im Hause wohnenden Rector geweckt. Der gute
Rector warf sich in seinen Schlafrock und stieg herauf. Er stieg eben
mühsam die letzte Treppe, als die Katze sich da hinunter rettete und
einen Hagel von Stiefelknechten und Stöcken nach sich zog, von denen
einige den armen Rector trafen. Er stieß einen Schrei aus — seine
Stimme ward erkannt — der Alte, hieß es, — im Nu waren alle
Lichter aus und Alles lag zu Bette. Freilich waren in manches Bett
drei und vier geschlüpft — doch das that nichts — es war mäus¬
chenstill, als der Alte vollends heraufkam. Nun gab es gute Lehren
und eine große Untersuchung, die — zu nichts führte.
Doch genug von Jugendstreichen. Ich kehre zu der Schule und
zu mir zurück. Meine Stellung daselbst war, wie leicht begreiflich,
kaum zu ertragen. An vernünftige Freiheit gewöhnt, und nun in
drückende Fesseln geschlagen, mit 18 Jahren unter die kleinen Jungen
verwiesen, fast schwärmend für Geschichte, Naturwissenschaften und die
Dichter, selbst bewandert in netteren Sprachen — und nun verdammt,
die schon längst eingepaukten ersten Formen der alten Sprachen noch
einmal durchzukauen — wahrlich, meine Lage war nicht beneidens-
werth. Doch ich verzweifelte nicht, ich beschloß, mir Anerkennung zu
erzwingen. Nicht leugnen kann ich, bei den Schülern fand ich sie
bald, ich hatte meinen Umgang mit den Primanern, lind litt wenig
unter den allgemeinen Unterdrückungen. Aber bei den Lehrern gelang
es mir nicht. Ich stand jeden Morgen um 4 Uhr auf und war un¬
bedingt der Fleißigste in der Schule, ich lieferte zur Prüfung die läng¬
sten und tüchtigsten Arbeiten, ich ließ mir nicht das Geringste zu
Schulden kommen — doch als die halbjährige Versetzung kam, rückte
ich nicht vorwärts und bekam die zweite Censur. Ich darf mit gu¬
tem Gewissen versichern, dies war eine lächerliche Ungerechtigkeit, denn
sie empörte sogar die ganze Schule, welche mir einen Sprung in die
zweite Abtheilung vorhersagte. Was thun? Ich sah, man wollte
mir nicht wohl und gegen die plumpe Macht, wider die keine Beru¬
fung möglich, konnte ich nicht ankämpfen.
Hätte ich nun abgewartet, bis ich nach und nach in der Reihe
vorgerückt wäre, so würde ich erst im dreiundzwanzigsten Jahre zur
Universität haben abgehen können. Das erschien mir unmöglich und
mein ganzes Streben war, von dieser Schule wegzukommen. Ich
setzte es endlich durch und kehrte nach der Schule zurück, von welcher
ich zur Klosterschule abgegangen war. Diese lieferte mir einen neuen
Beweis der Eifersüchtigkeit, denn sie wies mir meinen Platz zehn El¬
len tiefer an, als ich ein Jahr vorher gesessen hatte.
Ich vollendete nun meine Vorbereitung für die Universität auf
dieser Schule und ward dann Student. Allein die ganze unglückse¬
lige Geschichte mit dem Schulwesen hatte mich im Innersten verstimmt,
hatte mir die Stellung im älterlichen Hause, wo man mir die Schuld
des Zurückgesetztseins beimaß, zur höchsten Peinlichkeit gebracht. „Fort,
fort, unabhängig sein, auf eigenen Füßen stehen," war mein einziger
Gedanke. In dieser Stimmung besuchte ich nach längerer Pause das
Theater wieder und meine ganze alte Lust erwachte von Neuem. Von
Kindheit an war mir das „Theaterspiel" das liebste gewesen, ich hatte
als zehnjähriger Junge schon ein verlassenes Gartenhaus, einen alten
Stall zu einer Bühne eingerichtet, ich hatte mit meinen Geschwistern
und Gespielen keinen andern Streit gehabt, als wenn sie meinen Dar¬
stellungen nicht beiwohnen wollten, meine ersten Versuche, etwas zu
schreiben, waren dramatisch gewesen, das Alles kam wieder, meine Ein¬
bildungskraft war voll der lockendsten Bilder. Auf der einen Seite
Mißverhältnisse in meiner Stellung, eine nachhaltige Verstimmung des
ganzen Wesens — auf der andern die zauberhaften Lockungen der
Bühne, die mir eine goldene Zukunft versprachen, die mir meine Miß-
Verhältnisse, meine Verstimmung zu lösen schienen — der Entschluß,
Schauspieler zu werden, ergab sich von selbst.
Nach einigem Widerstande erhielt ich die Zustimmung der Mei¬
nigen und eines schönen Morgens wanderte ich aus den Thoren
meiner Vaterstadt, um meine Künstlerlaufbahn zu beginnen, d. h, um
mir eine Anstellung zu suchen. Ich war im einundzwanzigsten Jahre
und obwohl in einer großem Stadt ausgewachsen, kannte ich so viel
wie nichts von der Welt. Mit Ausnahme des Jahres auf der Kloster¬
schule war ich nie aus dem älterlichen Hause gekommen und durch die
nur zu große Pflege einer liebenden Mutter verwöhnt, verstand ich es
gar nicht, für mich selbst zu sorgen, hatte ich keinen Begriff von den
gewöhnlichsten Lebensverhältnissen und vom Werthe des Geldes. Selbst
den gewöhnlichen Studentenkneipereien war ich fern geblieben, hatte
noch niemals ein Liebesverhältniß gehabt und war in vieler Beziehung
ein ächter Landjunker in der Residenz.
Ein herrlicher Maitag war es, als ich auszog. Der Weg führte
mich durch ebene, just nicht malerische Gegenden, und drei Tage mußte
ich wandern, ehe ich nach Lärchenstadt, dem Ziele, das ich mir gesetzt
hatte, gelangte. So einförmig aber auch die grade, mit langweiligen
Pappelreihen besetzte Heerstraße war, die mich meinem Ziele zuführte,
so bunt und lockend waren die Bilder meiner Einbildungskraft. Alle
Rollen, die ich schon durchdacht hatte und zu spielen hoffte, flogen im
Geiste an mir vorüber, ich sprach sie halblaut für mich hin und meine
Mienen und Geberden drückten unwillkürlich aus, was ich vor mich
hin murmelte. Mit Ehre und Ruhm gekrönt hoffte ich dereinst zurück¬
zukehren, ich ergötzte mich schon an dem Gedanken, daß mich dereinst
Die anstaunen würden, die den armen, stillen Jungen über die Achseln
angesehen hatten; ich schwelgte in dem Gedanken an die süße Genug¬
thuung, die ich erringen wollte, wenn einst Die vor meinem Ruhm
verstummen müßten, die meinen Entschluß mit Achselzucken betrachtet
und meine armen Aeltern bedauert hatten, daß sie einen Taugenichts,
einen Verlornen Sohn in mir erzogen. Wird doch über so Viele scho¬
nungslos der Stab gebrochen, die lange umhertappen, weil sie Das
nicht finden können, wozu sie Beruf haben, die in keinem Geschäfte an¬
stellig sind, weil man sie eben da nicht anstellt, wo sie hingehören.
Auch ich habe diese harten Urtheile erfahren müssen. Ich war mir
keines Unrechts bewußt i ich war selbst, weil ich nie aus dem älter¬
lichen Hause gekommen, von den gewöhnlichen Verirrungen der Jugend
frei geblieben — und doch betrachtete man mich als Verlornen Sohn.
Ich wußte es, und um so schmeichelnder waren die Gedanken, daß ich
einst alle die ungerechten Urtheile zu Schanden machen würde, um so
kühner übersprang mein Gedanke die Zeit, wo ich erst streben und
ringen sollte, und ergötzte sich an dem Anschauen des schon errungenen
Ziels. Ein stolzes Selbstgefühl hob meine Brust, eine große Hoffnung
beseelte mich, denn noch kannte ich die Schwierigkeiten meines Unter¬
nehmens nicht, noch war mir nichts fehlgeschlagen.
Das Fehlschlagen kam nur zu bald. Ich gelangte nach Lärchen¬
stadt und meldete mich bei der Direktion. Ich dachte mir, man müsse
von untenauf dienen, wie bei den Soldaten und wollte im Chöre ein¬
treten. Allein es gab keine Stelle im Chöre für mich und auf meine
Bitte erfolgte eine abschlägliche Antwort. Zugleich gab man mir den
Rath, mich nach Weidenhain zu wenden. Da war ich durchgekommen,
da hatte ich eine Nacht geschlafen. Allein das Theater in Weidenhain
war kein stehendes, die Gesellschaft bereiste mehrere Orte, und wenn
diese auch meistens Hauptstädte kleiner Fmstenlhümer waren, so h<me
ich doch gegen die reisende Gesellschaft ein Vorurtheil, obwohl ich noch
keine solche gesehen. Indessen was half's! Meine kleine Baarschaft
neigte sich zum Ende und ich mußte dem Rathe, nach Weidenhain zu
gehen, Folge leisten. Hier gelang mir die Sache insoweit, daß lar> an¬
gestellt wurde mit acht Thalern monatlichen Gebäu. Acht Thaler
momitlich sind sehr wenig, und doch konnte ich auf mehr kaum An¬
spruch machen; denn noch leistete ich nichts, noch war ich nicht einmal
im Chöre einstudirt. Zudem wußte ich auch nicht, wie weit man mit
acht Thalern im Monat kommen kann; überdies meinte ich, schon in
kürzester Frist mich so hervorthun zu können, daß ich bald auf höhere
Guge kommen würde. Kurz ich war zufrieden. An demselben Abende,
wo ich eingetroffen, betrat ich zum ersten Male die Bühne — es war
im Fioelio — und ich erhielt den polizeilichen Auftrag, den schurkischen
Pizarro am Schlüsse zu verhaften. Ich ward in die Garderobe ge¬
führt, die Schneider zogen mich an, ein Schauspieler schminkte mich,
der Friseur klebte mir einen Bart auf — am Ende gefiel ich mir gar
nicht übel, in hohen, gelben Stiefeln, in gelbem Waffenrocke, das
mächtige Schwert um den Leib gegürtet. Mit stolzem Wohlbehagen
trat ich heraus, kühn und fest zog ich mein Schwert und mit ächter
Amtsmiene nahm ich den Bösewicht in Empfang, um ihn seiner wohl¬
verdienten Strafe entgegenzufahren. Am andern Tage begannen die
Chorproben. Fra Diavolo ward einstudirt; die Oper war damals
neu und machte Glück. Ich mußte allein den ersten Tenor im Chöre
singen, denn der Chor war in dieser Stimme etwas mangelhaft. Wacker
ward gelernt, der Tag der Aufführung kam. Da saß ich endlich der
Erste am Tische der zechenden Krieger, in stattlicher Uniform; ich sang
allein den ersten Tenor und mir war es, als hätte ich eine Solopartie
vorzutragen. Ich fühlte meine Wichtigkeit, ich war etwas, ich stand
unabhängig in der Welt, ich verdiente mein Brod. Es ging Alles
vortrefflich. Angst und Bangigkeit habe ich auf der Bühne nicht ge¬
kannt. Mir ist dies noch ein Räthsel, denn ich war sonst im Leben
schüchtern und befangen — auf der Bühne nie.
Nach vierzehn Tagen bekam ich eine Rolle, es war der Ritter
Schelm vom Berge in Pfefferrösel von Charlotte Birch-Pfeiffer, ein
alter, biderber Haudegen. Ich spielte die Rolle ohne Störung. Ich
hatte meiner Rolle wenigstens keine Schande gemacht und bald bekam
ich mehr zu spielen. So ging das fort anderthalb Jahre lang. Ich
sang Chor und spielte kleinere und größere Nebenrollen. Meine
Dialektanklänge gewöhnte ich mir mehr und mehr ab. Dabei bereisten
wir sechs oder sieben der bedeutenderen Mittelstädte Deutschlands, die
fremden Gegenden und fremden Menschen, die ich sah, übten ihren
Reiz auf mich. In den Verhältnissen mit den Schauspielern bot sich
mir nichts Unangenehmes dar. Da ich fern von aller Anmaßung
blieb, gab ich keine Veranlassung zu irgend welcher Anfeindung, da
ich keine besondern Erfolge errang, hatte der Neid keine Ursache sich
mir zu nahen, und meiner Anspruchslosigkeit wegen verzieh man mir
auch, daß ich an wirklichen Kenntnissen den Meisten überlegen war,
— stand ich doch an Lebenserfahrung auf der untersten Stufe. Dies
bewies ich recht eigentlich in einer Art von Liebesverhältniß. Es war
ein schönes Mädchen bei der Gesellschaft, die einen eben so schönen,
aber sehr anmaßenden Mann zum Bräutigam hatte, den sie auch später
heirathete. Ich verliebte mich in das Mädchen. Sie mochte das bald
bemerken, obschon ich ihr nie etwas davon zu sagen wagte, und er¬
laubte mir, sie zu besuchen. Ich that das, that es endlich täglich,
bestrebte mich, ihr allerhand Dienste zu leisten, war glücklich, wenn sie
mir etwas auftrug, und war ganz zufrieden in diesem Verhältnisse,
über das ich so wenig nachdachte, oder mit mir selbst zur Klarheit
gelangte, daß ich keine Spur von Eifersucht gegen den glücklichen
Liebhaber empfand. Ich ward geneckt, ward zu allerhand Diensten
gebraucht und ließ mir pas Alles ruhig gefallen, ohne eigentlich zu
begreifen, welche schlechte Rolle ich bei der Sache spielte. Sie haben
meine Gutmüthigkeit wohl manchmal mißbraucht -- je nun, meine
Ungeschicklichkeit mochte sie wohl dazu berechtigen. Außerdem ging ich
meiner Gewohnheit nach viel allein spazieren und überließ mich meinen
Träumereien. An den Besuch von Wirthshäusern war ich nicht ge¬
wöhnt, und so lebte ick ein ziemlich unschuldiges, angenehmes Leben.
Das Theater bot täglich Neues und Abwechselndes, und zum eigent¬
lichen Nachdenken über mein Treiben und meine Seelenzustände ge¬
langte ich nicht., Mit meinen Geldangelegenheiten sah es freilich nicht
zum Besten aus. Ich schrieb Rollen ab, um mir nebenbei etwas zu
verdienen, doch das reichte auch nicht weit. So kam ich von Stadt
zu Stadt, mußte hier meine Uhr, dort meine Tuchnadeln, da ein Klei¬
dungsstück, anderswo einen Theil Wäsche opfern, um die wenigen
Thaler Schulden zu bezahlen, die ich hatte, bis endlich der Director
zum Ueberfluß davon ging, die ganze Sache sich auflöste und ich mit
dem Verlust des Gehalts für sechs Wochen plötzlich ohne Anstellung
in der Welt stand. Ich hatte jetzt gar nichts mehr, meine Wäsche,
meine Kleider, bis auf den Anzug, den ich am Leibe trug, waren ver¬
loren und ich stand ziemlich rathlos da. Es war das erste Mal, daß
der Ernst des Lebens recht ordentlich über mich kam. Ich wußte
nicht, wohin ich mich wenden sollte, ich hatte nicht den rechten Muth,
mich an ein größeres Theater zu wenden, weil ich mir nichts zutraute.
So viel war mir klar, bei einem guten, stehenden Theater konnte ich
nur als Chorist ankommen, und so viel wußte ich auch bereits, daß
es bei einem solchen Theater unendlich schwer hält, aus dem Chöre
hervor zu etwas zu gelangen, und daß ich also offenbar einen Rück¬
schritt thun würde, träte ich da irgend wo im Chöre ein. Ein halbes
Jahr habe ich da mit der fürchterlichsten Noth gekämpft; wohin ich
mich wandte, erhielt ich abschlägliche Antwort, ja zuletzt, als mir auch
Chorsteller abgeschlagen wurden, wußte ich nicht mehr, was anfangen.
Endlich ward mir durch eine Vermittlung bei-einem kleinen, reisenden
Theater die Stelle als erster Tenorist angetragen. Als erster Tenorist?
Das gesuchteste, seltenste Fach? Es war Verwegenheit, lächerlicher
Uebermuth, das nur zu denken. Und doch, was wollte ich machen?
Sollte ich das Anerbieten ausschlagen? Ich .Hatte nirgends eine Aus¬
sicht, der Gedanke, der Bühne zu entsagen, war mir unerträglich —
ich beschloß, auf den Vorschlag einzugehen. So viel Stimme, um
nicht zu hohen Anforderungen zu entsprechen, besaß ich, musikalische
Kenntnisse gingen mir auch nicht ab, auf mein rasch fassendes Ge¬
dächtniß konnte ich mich verlassen — und so reiste ich getrosten Muthes
nach Ahornstadt, wo die kleine Gesellschaft, die einen ersten Tenor
brauchte, sich aufhielt. Das Theater war daselbst in einer hölzernen
Bude aufgeschlagen, gewiß der unbequemste Ort für eine Bühne. Eine
solche Bude ist sehr luftig und setzt die Schauspieler häusig dem Zug
aus, dabei hat sie die große Unbequemlichkeit, daß der Regen ein so
lautes Geräusch auf dem breternen Dache verursacht, daß die Schau¬
spieler nur mit Mühe gehört werden können, zudem ist das Dach nie
dicht genug, um nicht an einzelnen Stellen das Wasser durchzulassen,
so daß man oft auf der Bühne naß wird. Und doch können es nur
größere reisende Gesellschaften, deren Geschäftsverhältnisse günstig ge¬
stellt sind, unternehmen, eine solche Bude erbauen zu lassen, die immer
sechs bis achthundert Thaler kostet, eine Summe, die, als Miethe für
höchstens acht bis zehn Wochen, sehr bedeutend ist. Ich hatte bisher
uur in ordentlichen Schauspielhäusern gespielt und diese niedrige Stufe
des Theaters war mir noch unbekannt. Eine gewaltige Verachtung
beschlich mich, hier meinte ich, der Erste zu sein. Aber ich irrte mich
gewaltig. Der Director fragte mich nach meinem Repertoir. Ich
hatte keins, denn ich hatte ja noch keine erste Partie gesungen. Mir
fiel ein, ich könnte ihm eine Reihe von ersten Partien in Opern nen¬
nen, von denen ich leicht voraussetzen konnte, daß sie hier nicht gege¬
ben würden, allein ich brachte eine solche Lüge nicht über meine Lippen
und bekannte so ziemlich die Wahrheit. Indessen war ich einmal da
und wollte wenigstens auftreten. In vier Tagen lernte ich den Jo¬
hann von Paris und sang ihn ohne Anstoß. Allein meine Leistung
mochte nicht so ausgezeichnet gewesen sein, wie ich mir einbildete, daß
sie sein würde — ich ging sehr ruhig vorüber, obwohl ich mit Sicher¬
heit darauf rechnete, wenigstens hervorgerufen zu werden. Indessen
ging es rasch vorwärts mit mir, von acht Tagen zu acht Tagen lie¬
ferte ich eine Partie, den Mar im Freischütz, den Joseph, George
Brown, Masaniello, Fra Diavolo, — dazwischen spielte ich Liebhaber¬
und sonstige Rollen im Schauspiel, Sie können denken, daß ich sehr
viel zu thun hatte, und in dieser steten Beschäftigung kam ich nicht
zum Nachdenken über mich selbst — ich lag mit Eifer meinen Rollen
ob, wir reiften von Ahornstadt weiter nach andern Siäoten, und so
verging ein Jahr, ich wußte nicht wie. Doch war ich zufrieden, fast
glücklich. Die Städte, welche wir bereisten, gehörten nicht zu den
kleinsten — es waren solche von 10—12,000 Einwohnern, die Gesell¬
schaft lebte auf freundlichem Fuße mit einander und besaß einige recht
tüchtige Kräfte, von denen einzelne jetzt an den ersten Bühnen Deutsch¬
lands in den ersten Fächern ehrenvoll und geachtet dastehen. Unser
Director war ein merkwürdiger Mann. Strenge Rechtlichkeit und
Pünktlichkeit in seinen Geldgeschäften war ein Hauptvorzug von ihm,
der übrigens bei Direktoren reisender Gesellschaften sehr hervorzuheben
ist, da sich leider oft das Gegentheil findet. Die ganze Last des Ge¬
schäftes trug er selbst, indem er das Repertoire machte, die Stücke
austheilte, die Regie führte, die Garderobe in Ordnung hielt, die Be¬
leuchtung selbst besorgte, ja sogar zuweilen selbst mitspielte. Das
ganze Kassengeschäft dagegen besorgte seine Frau. Sie werden das
nicht nur bei sehr vielen Direktionen finden, sondern auch im kleinbür¬
gerlichen Verkehr hat meistens die Frau das Kassengeschäft. Es
scheint fast, als wenn die auf das Kleinste gerichtete Sparsamkeit,
die vielleicht zum Gedeihen des Kassengeschäftes nothwendig ist,
eine vorherrschende Eigenschaft des weiblichen Geschlechtes sei.
Eine gewisse Rastlosigkeit machte den Director zu einer komischen Fi-
gur. Er lebte nur für sein Geschäft und in den Stunden, wo ihm
dies nichts zu thun gab, schlief er täglich. Des Morgens waren die
sogenannten Musikproben, d. h. die Stunden, wo die Opern einstudirt
wurden. Diese mußten auf seinem Zimmer gehalten werden und er
saß unermüdet dabei — um sich zu überzeugen, daß auch mit dem
gehörigen Fleiß gelernt wurde. Natürlich war bei diesen Proben die
ganze Gesellschaft versammelt, denn Alles mußte im Chor mitwirken,
er verlangte sogar von den Solosängern, daß sie die Chöre mitsängen,
eben so wie er es nie unterließ, im Chöre wenigstens durch sein Auf¬
treten mitzuwirken. Darauf hielt er die Theaterprvben, dann ging er
nach Hause, aß und schlief nach Tische. Um drei Uhr begann seine
Thätigkeit von Neuem. Er packte in einen großen Korb die sür den
Abend nöthige Garderobe, nahm von seiner Frau die nothwendige An¬
zahl von Lichtern in Empfang und verfügte sich in das Theater. Dort
hing er die einzelnen Kleidungsstücke auf den bestimmten Platz jedes
Schauspielers, steckte dann die Lichter auf und zog endlich die Stati¬
sten an, die er auch in ihren Obliegenheiten unterrichtete und auf ihre
Plätze stellte. Mittlerweile war die Anfangszeit! des Theaters heran¬
gekommen. Er zündete die Lichter an und gab das Zeichen zum An¬
fange. Unermüdet lief er nun während des Stückes hinter den Cou¬
lissen hin und her, schob dort einen neugierig vorguckenden Statisten
zurück, ermahnte die saumseligen zum Chorsingen, schob ein Versetz¬
stück mit heraus oder angelte mit der Hand nach einem bet einer Ver¬
wandlung stehen gebliebenen Stuhle — und putzte die Lichter. Daß
ihm regelmäßig die Lichtputzen abhanden kamen, machte ihm wenig
Kummer, er nahm die natürliche, die zwei ersten Finger der rechten
Hand und wischte sich etwaige Schnuppe oder Talg an sein graues
Haar, das in allen Fallen bei ihm die Stelle eines Handtuchs vertrat.
Nach geendetem Stücke löschte er zunächst die Lichter aus und packte
die Kerzenenden sorgfältig in seinen Kasten. Während dessen hatten
sich die Schauspieler ausgezogen und sein letztes Geschäft für den Tag
war dann, die Garderobe wieder einzupacken und nach Hause schaffen
zu lassen. In allen diesen Geschäften verlangte er nie Hülfe, es ward
ihm auch von keiner Seite welche geleistet. Diese ewig wiederkehrende
Thätigkeit hatte er schon Jahre lang geübt. Bedenkt man nun, daß
zu dieser noch die Reisen kamen, die er vorher machen mußte, um die
Erlaubniß der Behörden zu seinen Vorstellungen zu erwirken, in der
neuen Stadt die Verträge zu schließen mir den Vermiethern des Thea¬
ters oder Saales, mit den Zimmermeistern behufs Aufschlagens der
Bühne oder Bauens einer Bude, mit den Bürgern wegen Privatwoh¬
nungen, mit dem Buchdrucker wegen Zetteldrucks, mit einem Laufbur-
schen, der die Zettel trug, die Requisiten besorgte und den Theater-
diener machte — Alles unangenehme Geschäfte, — daß ihm daS Le¬
ben keine weitere Freude bot, als etwaige gute Geschäfte an einzelnen
Orten, denn er lebte in seiner kinderlosen Ehe zwar nicht unglücklich,
aber so still fort, wie zwei Leute, die einen Weg mit einander gehe»,
aber nie Augenblicke gegenseitiger Herzlichkeit haben, eben leben, und
hatt.' auch sonst weder Neigungen noch Leidenschaften, so war dieser
Mann allerdings eine eigenthümliche Erscheinung. Man konnte sagen,
er war in seinem Geschäfte aufgezogen. Außer diesem kümmerte ihn
weder Politik, noch Literatur, noch Kunst, noch sonst etwas — in dem
Geschäfte aber war er klug und erfahren. War der Besuch des Thea¬
ters zahlreich, so dachte er an baldige Abreise, um den Act nicht aus-
zuspielen, wie er sagte. Er hatte in einer großen Provinz das einzige
Privilegium und betrachtete diese wie ein Ackergut, dessen einzelne Fel¬
der man brach liegen läßt, um sie zu stärken. So ließ er oft mehrere
Jahre vergehen, ehe er in eine Stadt zurückkehrte, um die Theaterlust
der Bewohner durch Entbehrung zu schärfen. Er nannte das: einen
Ort ruhen lassen. Die Schauspieler behandelte er nach ihrer Brauch¬
barkeit. Gegen Leute, die ihre Pflicht thaten, war er freundlich und
mit ihnen spaßte er gern. Gegen Saumselige konnte er sehr grob
werden. Uebrigens hatte er ganz gesunde Ansichten. Haupterforder-
niß für ihn war, die Rolle zu wissen, und dann die Bühnengewanot-
heit, die man Routine nennt. Auf große Künstlerschaft machte er kei-
nen Allspruch und sagte mir einmal sehr freundlich, als ich mich über
ein ungünstiges Urtheil des Publicums, wegen einer Tenorpartie be-
klagte, das ich nicht verdient zu haben meinte —: „sein Sie ganz
ruhig, wenn Sie ein so großer Künstler wären, wie die Leute verlan¬
gen, könnte ich Sie nicht bezahlen." Es lag für mich eine Demüthi¬
gung in diesen Worten, die er allerdings nicht beabsichtigt hatte, aber
doch eine richtige Beurtheilung der Verhältnisse. Uebrigens war er
nicht unempfänglich für wirklich gute Leistungen und war Jemandem
etwas besonders gelungen, so erkannte er es stets an. Mit der Musik
in kleinen Städten hatte er immer seine Noth. Wenige Orte vermoch¬
ten ein vollständiges Orchester zusammenzubringen, doch kümmerte ihn
das wenig, er gab die größte Oper mit vier bis fünf Instrumenten.
Ja, ein vollständiges Orchester war ihm oft zu theuer, namentlich hielt
er die Fagotten für höchst überflüssig und hatte ewigen Streit mit sei¬
nem Musikdirector, der die Fagotten haben wollte, während er sie spa¬
ren zu können meinte. Auch ließ er bei einer neuen Oper die Fagott¬
stimmen nie mit ausschreiben. Unzählige Anekdoten waren von ihm
im Munde der Schauspieler. Eine erlebte ich selbst. Wir spielten in
einer recht hübschen Sratt, wo das Theater in einem großen Saale
eines Wirthshauses aufgeschlagen war. Das sogenannte Proscenium
oder die Wände, die die Bühne vom Zuschauerraum trennen, war von
Tapeten gemacht. In diese Tapete war ein Loch mit dem Finger ge¬
bohrt worden, damit man nach dem Saale herunter schauen konnte;
das Loch war immer größer geworden, bis zu einem förmlichen Riß.
Eines Abends, während eines sehr ernsten Stückes, kam die Wirthin
des Hauses auf das Theater und schaute durch dieses Loch auf das
Parterre. Sie war eine ungeheuer dicke Person, mit einem breiten,
fleischigen Gesichte, das grade in das Loch paßte. Bald bemerkten sie
die Zuschauer und singen an zu lachen. Sie hatte keine Ahnung da¬
von, daß man sie sehen könnte und guckte nun erst recht neugierig um¬
her, zu sehen, warum gelacht würde. Dadurch nahm der Spaß des
Publicums zu, das Lachen ward immer stärker, die Schauspieler auf
der Scene geriethen in Verwirrung. Verzweiflungsvoll lief der Di¬
rektor hinter den Coulissen umher, um zu entdecken, wo die Ursache
des Lärms wäre, bis ihm endlich Jemand die dicke Wirthin zeigte.
Wie ein Stoßvogel schoß er auf sie zu, sie zurückzureißen, hatte aber
im Eifer der ahnungslosen Frau einen solchen Stoß gegeben, daß sie
das Gleichgewicht verlor und durch die leichte Tapete hindurch in das
Orchester stürzte. Den entstehenden Lärm können Sie sich denken.
Je mehr sich die Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten
durch alle Klassen der Gesellschaft verbreitet, je unmittelbarer die poli¬
tischen Zustände mit den industriellen und merkantilen Lebensbewegungen
in Wechselwirkung treten und je bewußter die großen Kreise des Pu¬
blikums sich dieser gegenseitigen Beziehungen werden, von desto höherer
Bedeutung würden nicht nur für die Gelehrten von Fach, nicht nur
für die eigentliche Publiciftik, sondern für jeden Einzelnen jene Werke,
welche die Kenntniß der Staaten und Kirche nach ihren physisch- und
politisch-geographisch statistischen und historischen Verhältnissen vermitteln.
Diesem Bewußtsein entsprang auch jene massenhaft angewachsene Litera¬
tur der neuen Zeit, die Literatur der Zustände, um es mit einem Wort
auszudrücken. Die leichten Touristenschriften trugen in ihrer Weise
eben so gut zu deren Bereicherung bei, wie jene schwereren publicsti-
schen Werke, als deren Vertreter nach einzelnen Beziehungen und in
Deutschland beispielsweise Rau, List, von Reden, Höslen u. A. genannt
sein mögen. Mehr als früher, obschon leider noch immer nicht genugsam,
haben auch die obern Verwaltungsbehörden jene Scheu vor der Ver¬
öffentlichung der Ergebnisse ihrer officiellen Listen über die in Zahlen
ausdrückbaren Zustände und Verhältnisse des Staatshaushaltes, der
Industrie und Gewerbthätigkeit, der Bevölkerungsbewegungen, der nra-
leriellen Lage verschiedner Provinzen u. s. w. verlassen und officiellen
Darlegungen offenbart, nach welchen Richtungen sich vorzüglich das
öffentliche Leben ausbildete. Herr von Reden bezeichnet mit vollem Recht
das Wesen der Statistik „als eine vorzugsweise auf Zahlcngrund-
lagen gestützte Darstellung des gesammten Staats- und Volkslebens/'
und so müssen wir diese Anfänge einer Oeffentlichkeit der Verwaltung mit
vollster Freude begrüßen. Frankreich gebührt die Ehre, zuerst statistische
Bureaus errichtet zu haben. Ihm folgten bald mehrere Staaten Europas
und unter den deutschen Monarchien war Preußen die erste, welche ein
statistisches Bureau gründete. Mit diesen Staatsanstalten setzten sich
außerdem in mehreren Ländern Vereine für Statistik in Verbindung,
welche meistens unter dem Schutze der Regierung arbeiten und entwe¬
der ausschließend auf die Statistik des Inlandes beschränkt sind, oder
auch die verwandten Untersuchungen des Auslandes in den Kreis
ihrer Thätigkeit ziehen. Diesen letztern Zweck erstrebt vor Allem
jener „Statistische Verein für Deutschland" zu erreichen, dessen großartigen
Plan Herr von Reden entwarf, wonach in einem Hauvtdirectorium alle
Nachrichten der Zweigvereine aller deutschen Staaten und Landestheile zu¬
sammenlaufen sollen. — Wie jedoch dem Einzelnen nicht möglich ist, die
Masse eines derartigen Materials zu einem organisch gegliederten Ganzen
binnen einer Zeit zusammenzuordnen, wo dessen Veröffentlichung für
die laufenden Weiterentwicklungen nutzbar, eben so ist es dem Einzelnen
unmöglich die unermeßliche Masse der hierher gehörigen Literatur für
seine Zwecke in ihrer Vollständigkeit kennen zu lernen. Eine allgemeine
Uebersicht der geographischen, statistischen und historischen Zustände der heu¬
tigen Welt, übersichtlich zusammengefaßt, war sonach eine der wünschens-
werthesten Aufgaben für die Literatur. Johann Georg August Galletti, der
bekannte Geograph (1' 1829), machte dazu auch bereits vor langen
Jahren den Versuch in seiner allgemeinen Weltkunde. So mangelhaft
nun auch dieses Unternehmen sich zuerst herausstellte und wegen des
Mangels der statistischen Nachweise zur Zeit seiner Entstehung sich
herausstellen mußte, so war doch die Anlage des Ganzen so practisch
organisirt, daß Galletti bereits bei seinen Lebzeiten davon acht Auflagen
erlebte. Nach seinem Tod traten dann Cannabich (für den geogra¬
phisch-statistischen Theil), Dr. Meynert (für den historischen) und Prof.
Schulz von Straßnitzky (für die mathematisch-physikalische Partie)
zusammen, um auf der alten Grundlage weiter zu arbeiten und das
Vorhandene, wo nöthig, gänzlich neu zu gestalten. Die zehnte Auf¬
lage dieses Werkes liegt jetzt ziemlich vollendet vor, und der Titel
lautet in voller Ausdehnung: „Allgemeine Weltkunde oder Encyklo¬
pädie für Geographie, Statistik und Staatengeschichte, mittelst einer
geographisch-statistisch-historischen Uebersicht aller Länder, hinsichtlich
ihrer Lage, Größe, Bevölkerung, Cultur, ihrer vorzüglichsten Städte,
ihrer Verfassung und Nationalkraft, und einer Skizze der ältern und
neuem Geschichte. Ein Hilfsmittel beim Studium der Tagesgeschichte
für denkende und gebildete Leser." — Es kann hier nicht darauf abge¬
sehen sein, eine detaillirte Beurtheilung des so weitschichtigen Werkes
zu geben und so mögen einige kurze Andeutungen genügen. Vorzüg¬
lich sorgsam und besonders auch vollkommen richtig in Haltung und
Ton der Popularisirung der Wissenschaft, erscheint vom einleitenden
Abschnitt „die Erde", der mathematisch-physikalische Theil gearbeitet,
sowie denn auch die beigefügten fünf astronomischen Karten, in Stahl
gestochen, sich durch Klarheit und Deutlichkeit auszeichnen. Dasselbe
gilt auch von diesen Partien der einzelnen Staaten und Länder, welche
in den folgenden Theilen ihre Besprechung finden. Dagegen wird in
den reingeographischen Angaben nicht selten die Benutzung der neuesten
Quellen vermißt, sowie anch bei den allgemeingeographischen Skizzi-
rungen hier und dort die neuesten feststehende» Ergebnisse der Wis¬
senschaft unberücksichtigt blieben. Die historischen Skizzen, von denen
man in einem derartigen Werke keine charakteristische Färbung erwarten
kann, stellen die wichtigsten geschichtlichen Entwicklungen und That¬
sachen im Allgemeinen genau und fleißig zusammen, werden aber
allerdings bei einzelnen Staaten — vielleicht in Rücksicht auf die
Verbreitung, welche das Buch finden soll — außerordentlich fragmen¬
tarisch, sowie sie der Gegenwart näher rücken, und nehmen hier allzu-
wenig Rücksicht ans die Vermittlung der Ereignisse durch die Entfal¬
tung des Volkslebens. Ein allgemeiner Mangel der verschiedenen
Uebersichten des Werkes ist aber vor Allem die fehlende Angabe der
anerkannt wichtigsten Werke, welche zu weiterer und genauerer Kennt¬
nißnahme von der Geographie, Statistik und Staatengeschichte der
einzelnen abgehandelten Reiche dienen können. Die beigelegten dreißig
General- und Spezialkarten sind durch Klarheit der Zeichnung, Fein¬
heit des stiess und der Färbung ausgezeichnet, geben auch an Voll¬
ständigkeit soviel, als sich auf dem kleinen Raum eines Quart- oder
Folioblattes nur irgend erreichen läßt. .
Ein Werk von gleicher Richtung, und für den, nächst Nußland
und China, größten ununterbrochen zusammenhängenden Staat der
Welt berechnet, übertrug Herr Eduard Amts or aus dem Englischen
des Francis Wyse. „Die Vereinigten Staaten von Nordamerika,
deren Verfassung, Rechtspflege, Sektenwesen, Lehranstalten, Handel,
Finanzen, Heer, Flotte, Sklaverei, Geschichte und Geographie; nebst
Rathschlägen für Auswanderer und einem diplomatischen Anhang" —
so lautet der Titel. Das Werk hält, was der Titel verspricht. Frei-
lich reichen die statistischen Nachrichten meistens mir bis 1842, ja die
genauere Statistik bewegt sich eigentlich nur in den Jahren 1839 und
1840; aber allerdings ist bei den noch so vielfach ungeordneten innern
Verhältnissen der Vereinigten Staaten wohl kaum eine neuere Voll¬
ständigkeit in dieser Hinsicht möglich. Herr Amthor sagt in der Vor¬
rede, daß er dem Werke durch passende Kürzungen und genauere
Klassifikation viel von seiner Weitschweifigkeit, Wiederholungssucht und
theilweiser unlogischer Anordnung genommen, allein die englische, immer¬
hin verbitterte Anschauung der amerikanischen Sachlagen, war natürlich
nicht zu entfernen. Die Rathschläge für Auswanderer reduciren sich
auf das, was schon oft, und z. B. in Brömme's und Francis Grund'S
Werken auch schon besser gesagt ist. Der diplomatische Anhang bringt
den englischen und deutschen Tert der amerikanischen Unabhängigkeits¬
erklärung von 1776, der Bnndesartikel von 1778, der Staatenverfas¬
sung und ihrer Zusätze, die auf Ausländer bezüglichen Gesetze der
einzelnen Staaten, sonne den an dieser Stelle sehr überflüssigen Be¬
richt Madisons an die Congreßhäuser 1812 nebst dem erwidernden
Manifest des Prinzregenten von 1813.
„Die Bevölkerungs-Verhältnisse der österreichischen Monarchie"
heißt das neueste Werk des als österreichischen Statistiker rühmlich
bekannten or. Siegfried Becher. Es ist als erweiterte Fortsetzung
der früher gelieferten „Statistischen Uebersicht der Bevölkerung der
österreichischen Monarchie" zu betrachten, welche den Zeitraum von
1834—1840 umfaßte, während das vorliegende Buch in seinen nume¬
rischen Tabellen die Jahre 1840--1843 betrifft, in den weitern Aus¬
führungen aber bis zu den Jahren 1818 und 1819 zurückblickt, also
die Resultate eines VierteljahrhundertS zusammenfaßt. Eine allgemeine
Einleitung bereitet uns darauf vor, daß vorzüglich die Bewegung
der Bevölkerung das Augenmerk des Werkes sein werde. Die
natürlichsten (normalen) Veränderungen der Volksmenge werden durch
Geburten, Verehclichungen und Absterben bezeichnet) an diese schließt
sich aber als eben so wichtiges Moment des Wechsels derselben die
Beschäftigung der Bevölkerung. Demzufolge umfaßt der erste Abschnitt
die Bevölkerung der österreichischen Monarchie nach der Anzahl des
Geschlechts und ihre Vertheilung nach dem Flächeninhalt, der zweite
das Verhältniß der Städte, Marktflecken, Dörfer, Häuser und Fami¬
lien, zum Flächenraum, um solchergestalt eine Uebersicht des Bevölke-«
rungö stand es zu gewinnen. Der dritte, vierte und fünfte Abschnitt
bezeichnet die Bewegung der Bevölkerung insofern, als die Anzahl und'
Verhältnisse der Trauungen, Geburten und Todesfälle nach ihren ver¬
schiedenen Beziehungen darin aufgeführt werden, wozu dann der
„Anhang" die Ergebnisse dieser Bewegungen aus dem großen Zeit¬
raum von 15-19—1544 fügt. Einer fernern Fortsetzung dieser statisti-
ft-ben Arbeiten wird die Veranschaulichung der Bevölkerungsbewegung
durch deren Beschäftigungen voibehalten. — Freilich bemerkt man
bei Durchsicht dieses Buches noch manche Lücke, z, B. die beziehend¬
liche Vertheilnng der Nationalitäten in den Landen von gemischter Be¬
wohnerschaft, die Vertheilung der natürlichen Bewegung in diesen
Mischbevölkerungen u. s. w.; allein der Verfasser sagt in der Einlei¬
tung: „wird die verlangte wünschenswerthe Vollständigkeit nicht er¬
langt, so trägt der Mangel der dazu erforderlichen Quellen und
Hülfsmittel, nicht der Darsteller, daran Schuld." Die Kritik verliert
also das Recht zu fernern Ausstellungen. Als eines der allgemeinen
Resultate dieser statistischen Arbeit sei nur erwähnt, daß sich die Be,
völkerung der österreichischen Monarchie bis zum Jahre I8t3 gegen
das Jako 1^19 in den deutschen und slavischen Provinzen um 2t>,4^,
in den italienischen Provinz.» um 19,2a, in den ungarischen Landen
und der Militärgrenze um 24,Is^, al>o durchschnittlich um 24ZZ ver¬
mehrte, in Zahlen ausgedrückt, einen Zuwachs von 7,3'i3,792 Köpfen
erhielt, so daß man jetzt die Gesammtbevölkerung der österreichischen
Monarchie auf L8 Millionen annehmen kann.
Wir haben einen außerordentlichen Mann verloren an Friedrich List.
Wenn jemals, so kann und muß man leider an diesem Grabe sagen:
das ganze Vaterland hat einen unersetzlichen Verlust erlitten. Denn ach,
grade die Eigenschaften, welche die Genialität List's bildeten, sind unter
uns Deutschen selten und noch seltener zu so fruchtbarem Erfolge verei¬
nigt, wie sie es bei Friedrich List waren.. Jetzt, im ersten Augenblicke
des Schreckens, meine ich, es sei eine wichtige Triebfeder zerbrochen in
unserer politischen, erst seit so Kurzem in Gang gesetzten Uhr, in dieser
so schwer zu treibenden, so schwer zu regelnden Uhr Deutschlands, welche
innen Schwarzwäldisch und außen ein Breguet sein möchte. Wahrlich,
List's Feder war eine Triebfeder wichtigster Art, und man wird sich be¬
sinnen, man wird weit suchen müssen, wenn man in unserer Geschichte
einen Mann finden will, der gleich Friedrich List aus dem tiefsten Schat¬
ten einer Privatstcllung heraus eine zuerst spöttisch aufgenommene, dann
mit allen Gründen bestehender Gewalt bekämpfte und endlich doch ge¬
setzgeberische Stimme im ganzen Vaterlande geltend gemacht, und der
durch diese erzwungene Geltung die Hauptlander Europas in Harnisch
oder Bewegung gesetzt hat. Das hat List gekonnt, das hat er gethan
durch die gesunde Kraft seines politischen Verstandes, durch die unerschöpf¬
lichen Hülfsmittel seines Geistes, durch die Wucht seines Talentes. Denn
er war auch einer unserer besten Schriftsteller; in seinen Artikeln war
mehr als bloßes Wissen und bloßer Beweis, es war ein drangvolles, den
Leser zwingendes Leben in diesen Aufsätzen, ein voller, gewaltiger Mensch
ordnete, regierte, er'eb, unterwarf uns hinter diesen Zeilen und Sätzen,
welche stets in künstlerischer Form stiegen und schwollen und am Ende
des Artikels stets die höchste Höhe des Ausdrucks erreichten. Wen sie
nicht überzeugten, den rissen sie fort, und wen sie nicht fortrissen, den
bestürzten sie. Es focht in List's Worten ein Genius, welcher leider ziem¬
lich unbekannt ist in unsern Zeitungen politischen Themas, trocken poli¬
tischen Themas, wie es das Feld der Nationalökonomie dem Herkommen
nach mit sich bringen soll. Nichts war trocken in List's Behandlung!
Und wenn man obenein weiß, daß er über hundert Gesichtspunkte nicht
sprach, absichtlich nicht sprach, weil er sparen gelernt hatte, um zu wir¬
ken, wenn man aus dem persönlichen Verkehr mit ihm erkannte, daß
grade die von ihm verschwiegenen Gesichtspunkte die ergiebigsten, die den
Patrioten wie den Mann des Fortschritts entzückendsten sind, dann hatte
man doppelt zu bewundern: die Fülle des Inhalts und die weise Be¬
schränkung in Dem, was eben zu äußern, was eben auszuführen war.—
Zweimal bin ich diesem ausgezeichneten Manne für längere Zeit
begegnet, und der Umgang mit ihm ist mir stets belebend gewesen wie
der Trank aus frischer Quelle, wie der Weg durch neue, bei jeder Wen¬
dung eigenthümliche Gegend. Nie hab' ich einen Mann gesehn, der in
höherem Grade anregend gewirkt hätte als List, nie einen Menschen ge¬
sehn, der im eigentlichsten Sinne des Wortes so schöpferisch gewesen
wäre als List. Man konnte ihn hinausstellen auf die dürre Haide, auf
die dürrste Haide, er wußte bald Mittel und Wege, etwas Gutes zu
bewirken, etwas Tüchtiges zu schaffen. Und nicht etwa Chimärisches,
Bodenloses, nein, im Kerne war Alles was er erfand und vorschlug
praktisch. Freilich mußte man's nicht zunächst dem platten Urtheile
praktischer Mittelmäßigkeit unterwerfen! Gold läßt sich nicht essen, Meer¬
wasser nicht trinken. Was er erfand, mußte dem alltäglichen Bedürfnisse
vermittelt werden. So war's, als ich ihm das erste Mal zu Anfang
der dreißiger Jahre in Leipzig begegnete, und er die große Eisenbahn
gründen wollte. Welche Verspottung, welche Verhöhnung erlebte er da!
Jetzt will sich Niemand mehr daran erinnern, aber ich weiß es noch wie
heute, daß er nur ein kleines Häuflein junger Brut, zu der ich selbst
gehörte, um sich vereinigen konnte, die seinen Entwickelungen offnes Ohr
und offnen Geist zubrachte, und die es unter die Leute hinaustrug, was
die Leute wie Mährchen aus tausend und einer Nacht lächelnd und
ungläubig anhörten. An der großen Wirthstafel des Hütel de Baviere,
welche jetzt durch Eisenbahnreisende verfünffacht ist an Umfang, war da¬
mals Niemand, der unsrer Empfehlung des Listschen Projectes geglaubt
hatte. Des Projectes, des Projectenmachers! so hieß es von Mund zu
Munde, wenn man sich die Mühe nahm, ein Wort darüber zu äußern.
Wenigstens drei Jahre waren nöthig, um List's Vorschläge dem Ver¬
ständnisse und dem Credite zu vermitteln, und ganz wi« es dem Colum-
bus erging, kamen hinterher die Ameriko's, die Vespuccio's ausbeutender
Gattung, welche dem eigentlichen Entdecker ein wenig Nuhm, ein wenig
Entschädigung gönnen mochten. Und freilich war er auch nicht ohne die
Unarten des Genie's, welches im Großen trachten und im Kleinen stören
mag. Aber was er damals in Leipzig mit unsäglicher Anstrengung, mit
Entfaltung all seiner überzeugenden Kräfte zu Stande brachte, es ist
nicht« mehr und nichts weniger als die Gründung der deutschen Ei¬
senbahn.
Ja, rufen sie, man hatte auch einmal ohne Columbus.Amerika
entdeckt! Es war ja vorhanden, wie jetzt die Eisenbahnen in England
und Amerika vorhanden waren! — Freilich, und zur Antwort darauf
ist die Geschichte mit dem El des Columbus erfunden worden.
'
Selbst als der Entschluß gefaßt und die erste Hand ans Werk ge¬
legt war zur Bahn nach Dresden, selbst da noch galt sein Entwickeln
eines großen Eisenbahnnetzes für Chimäre eines unter Beschränkung recht
verdienstlichen aber doch sehr überspannten Kopfes, und jetzt da ihn am
Fuße der Tyroler Berge, welche er so gern besiegen wollte für seine
Schienen zur Bahn nach Ostindien, ein frühzeitiger Tod in's Grab
wirft, jetzt schon ist dies Listsche Eisenbahnnetz von aller Welt als eine
Nothwendigkeit, als das Fundament einer neuen Geschichtsepoche aner¬
kannt, ja in den Hauptlinien beinahe fertig.
In Paris begegnete ich ihm zum zweiten Male. Er wohnte da
oben, wo sich die <s?labt gegen den Montmartre erhebt, in einem jener
stillen Straßen, wo auch Heine damals, fern vom Geräusche, seine furcht¬
baren Pfeile schmiedete. Heine's Straße hieß die „der Märtyrer", List's
Straße die „von Navarino". Dort im Frieden einer lieblichen Familie,
welche aus dem Schwabenlande stammte, aber in Amerika angewachsen
war, in England gelebt, in Deutschland die alte und neue Heimath gar
ungern wieder verloren hatte, mitten unter sanften Frauenbildern lebte
der innerlich so vulkanisch bewegte Mann und entwickelte den Besuchern
die neuen Pläne seines immerdar kreisenden Geistes. Er hatte den König
Ludwig Philipp gesprochen und diesem eine Reform der französischen
Nationalökonomie vorgeschlagen, er war mit den Ministern in Verbindung
und rühmte besonders Thiers als einen der wenigen Franzosen, welcher
Spekulation verstünde; aber er war nicht in seinem Fahrwasser. Der
alte Schwabe' hatte die Heimath, hatte das Vaterland keinen Augenblick
vergessen, und es machte ihm lähmende Mühe, den Franzosen eine Form
zuzurichten, welche doch auf Deutschland nicht nur keinen Nachtheil,
sondern sogar Vortheil bringen könnte. „Und man kann nicht zweien
Herren dienen," sagte er ärgerlich, „und ich möchte heim, und daheim
geht's doch gar so träg aus der Stelle, und es ist kein anderer Anknü¬
pfungspunkt aufzufinden, als ein literarischer, und wenn man an diesem
sich hineinschwenken will in den Mittelpunkt Deutschlands, so fällt man
unter die Zöpfe, welche unter Wissenschaft nichts verstehen, als von
Station zu Station regelmäßig Eingelerntes."
Er schrieb damals an seiner Nationalökonomie, die er Cotta ange¬
tragen, und war diesmal auch für uns der etwas überspannt aussehen¬
den Meinung, daß er mit diesem Buche eine tiefe politische Reform er¬
zwingen werde, wenn Eotta das Buch richtig betreibe.
Wenige Jahre darauf waren unsere Zweifel beschämt. Man mag
dem List'schen Systeme zustimmen und mit ihm durch Dick und Dünn
gehen wie ich, oder man mag ihm Opposition machen — auf der einen
wie auf der andern Seite muß man einräumen, daß die Ausbreitung
dieses Systems eine riefe Bewegung hervorgebracht hat und von jetzt
noch unabsehbaren Folgen für unser Vaterland geworden ist. Die Eng-
lauter, welche Niemand so gründlich kannte als List, schelten und schmä¬
hen nichts Mittelmaßiges, ihr Zorn gegen List war ein schlagendes Zeug¬
niß für die Größe ihres Feindes. Neuerdings, da er bei ihnen zum Be¬
suche war, haben sie den tapfern Feind von schwäbischer Hartnäckigkeit
doch mit allen Ehren begrüßen müssen, denn der Tüchtige respectirt am
letzten Ende doch nur den Tüchtigen. Hatte er doch lieber unter uns
diese Huldigung gefunden! Sie hätte mit Lebensmut!) seinen Körper er¬
frischt und er wandelte vielleicht noch unter uns in der Kraft, welche ein
Greis darin findet, daß man seine Existenz festigt und hält mit starken
Armen. Daran ist er so früh gestorben, daß er nach den größten An¬
strengungen und nach so allgemein ergiebigen, nach so ruhmgekrönten An¬
strengungen dennoch auch an der Schwelle des Alters immer nur auf
täglich zu erringenden Erwerb angewiesen blieb, daß er immerdar Holz
hacken mußte, nachdem und obwohl er weite Strecken unbrauchbarer, ja
ungekannter Wildniß in fruchtbares Land verwandelt hatte. Was sah er
vor seinem schwermüthig gewordenen Geiste, als er von Kufstein in die
verschneiten Berge hinaufstieg, um sich den Trübsinn des schwergeworde¬
nen Leibes zu vergehen? was sah er vor sich, wenn er hinter sich blickte?
Welche Lehre predigte mit Donnerstimme sein durchkämpftes Leben? In
der schwäbischen Heimath war er aufgetreten damals, als das freie, kühne
Wort in der Politik noch selten war; strenge Forderungen hatte er auf¬
gestellt im Standesaale und hinweg hatte er flüchten müssen aus der ge¬
liebten Heimath, über's Weltmeer hinüber zu den Hinterwäldlern, die mit
dem Urwalde und dem Indianer um die oürftige Existenz ringen. Da
galt keine Schulweisheit, er mußte aus persönlichsten Mitteln ein ganz
neues Leben schaffen. Er schuf es. Denn so war der fruchttreibende
Kern dieser Schwabennatur: nackt auf den Strand geworfen errichtete er
aus dem scheinbaren Nichts eine ergiebige Welt. Als seine jungen Jahre
verflossen waren, war diese Welt für ihn fertig, er war wieder ein wohl¬
habender Mann und sehnte sich nach der Heimath, nach der höhern
Cultur. Er schifft mit den Seinigen über den Ocean zurück, sein statt¬
liches Eigenthum und den hoffnungsvollen Sohn zurücklassend für dies
Eigenthum. Grausam rafft ihm der Tod diesen einzigen Sohn hinweg
— ein Schlag, den er nie verwunden — und die Aussichtslosigkeit, der
jähe Wechsel in Amerika, zersplittert ihm bis zur Unscheinbarkeit den Be¬
sitz. Wiederum muß er in Deutschland so gut wie von vorn anfangen.
Immer noch ist er Mannes genug dafür. Er gibt uns die Eisenbahn
und wird dafür abgefunden. Was einem des Geschäfts im Kleinen kun¬
digen Manne ein ganzes Leben in Fülle gesichert hätte, das bringt ihm
nur ein Honorar ein für allemal. Er muß auf neue Gründung eines
dauernden Besitzes denken, und er denkt dabei für unser Vaterland im
großen Style: er bringt uns eine Nationalökonomie, die auf Milliarden
Einfluß übt, und was wird ihm dafür? Er kommt in diese Hauptstadt,
er kommt in jene, er öffnet diesem Minister, er öffnet jenem die Augen,
er findet nirgends einen Staatsmann, der solche Genialität dauernd zu
verwerthen gewußt hätte, er scheitert am letzten Ende überall an der stei¬
fen, unfruchtbaren Bureaukratie, er findet auch nicht einmal ein Paria-
neue, in welchem er sich, für Jedermann hörbar und ersichtlich, dem
Lande als ein zu stützender und zu hebender Patriot hätte erweisen kön¬
nen — er muß Journalist bleiben, wie grau, wie weiß ihm die Haare
werden, er muß Handarbeit treiben, auch wenn der Körper zusammenbricht!
Armer Freund, ein ganzes Land Sonntest Du beglücken, aber dies
Land konnte Dir nicht einen Acker Erde, konnte Dir nicht ein warmes
Haus geben für die traurige Winterzeit des Alters! Dieser Fluch des
zerrissenen Vaterlandes, in welchem man so kinderleicht heimathlos wer¬
den kann, in welchem das Genie selbst Niemand angehören darf, dieser
Fluch hat Dich im Schneestürme oberhalb Kussteins in den Tod gejagt,
und unsere Thränen, unsere Lorbeerkränze, was sind sie Deiner verwai¬
sten Familie?! Was sind sie den guten Bürgern und guten Egoisten,
die sich die Fülle des Leibes streicheln und weise sprechen: Der Staat
ist nicht für Genies vorhanden!
Danket Gott, daß der Staat trotz so schreiender Undankbarkeit Ge¬
nies findet, und segnet wenigstens im Stillen dieses Grab bei Kufstein,
welches einen der tüchtigsten Schwaben, welches eine politische Fähigkeit
in sich schließt, wie sie leider verzweifelt selten in Deutschland und wie
sie leider ein schwermüthiges Alter finden muß, wenn sie nicht einen weit¬
blickenden Fürsten und nicht ein wahrhaftes Parlament findet, ein Par¬
lament, in welchem Schwabe und Preuße, Oesterreicher und Baier, Franke
und Sachse, vor dem Deutschen zurücktritt. Friedrich List^war ein sol¬
ches Parlamentsmitglied in partibus irckiäelimn.
Die große Ieitungshalle, welche Herr Gustav Julius hier begründet
hat, stellt sich mit jedem Tage mehr in der Gunst des Publicums fest,
und hier gilt endlich ein Mal in Wahrheit die gewöhnliche Phrase: daß
einem dringenden Bedürfniß abgeholfen wird. Die Zeitunashalle ist ein
Mittelpunkt für Männer aller Klassen der Bildung geworden. Der Ge¬
lehrtenstand wie der Kaufmannstanv, der Publicist wie der Künstler und
Dichter ist in diesen Räumen zu finden. Man hört indessen eine Klage,
die übrigens dem Besitzer 0,-. Julius nur angenehm zu hören sein
kann, über zu engen Raum, namentlich in den Abendstunden, wo der
Kaufmannsstand seine Cohorten nach Befriedigung ihrer literarischen Be¬
dürfnisse aussendet. Die Dienerschaft jedoch ist, merkwürdigerweise in
Berlin, sehr höflich und zuvorkommend. Auch mit der Zeitung geht eS
vorwärts. Wenn auch über den politischen Theil viel geredet wird, er¬
freut sich der Handelsstand an der allerdings ausgezeichneten Handels¬
zeitung und das Publicum im Allgemeinen über den gerichtlichen
Theil und das mit frischem Geiste geschriebene Feuilleton. Daß
dieses neue Organ von den hiesigen drei Zeitungen seit seiner Ent¬
stehung mit Mißgunst betrachtet worden, darf keinen der literarischen
Verhältnisse Kundigen Wunder nehmen, daß aber kleine Institute, wie
z. B. die Königstädtische Bühne sich auf das hohe Pferd setzen, gehört
in das Gebiet der fabelhaften Lächerlichkeit, die Alles charakterisirt, was
von der Direktion dieser Bühne seit einigen Monaten ausgegangen ist.
Auf den Antrag des Julius, um Bewilligung der freien Euerem
für die Referenten seines Feuilletons, antwortete ihm die Direktion nach
monatlicher Frist, daß sie ihm für neue Vorstellungen, ein Parterre¬
billet zu bewilligen gedenke. Natürlich wurde diese beleidigende Gunst
mit Protest zurückgewiesen, da der Redaction nicht unbekannt sein konnte,
daß hiesige Winkelblätter sich im Besitz Mehrerer Parquetlogenplätze befin¬
den, daß der Hofschauspieler Rott allabendlich zwei Parquetplätze dis¬
ponibel halte und daß man Freibillets an Tagen der Leere und Einöde
dutzendweise verschleudert. Wie anders die Intendantur des Königl.
Schauspiels! sie gibt z. B. der Spenerschen Zeitung 6 Platze. Eine Ant¬
wort ist bis jetzt noch nicht erfolgt und läßt sich nicht voraussehen,
welche Stellung diese Bühne durch ihre Wunderlichkeit der Presse gegen¬
über Noch einnehmen wird. Der größte Uebelstand liegt in der geschäfts¬
unkundigen Hand der jetzigen Direktion, die sich wie aus der neuerdings
von ihm angestellten Klage hervorgeht, mit dem Impressario Graf
Gritti in einen der einfältigsten Eontracte von der Welt eingelassen
hat. Derselbe lautet wie folgt: „Graf Gritti stellt der ?c. Bühne so
viel Sänger für dieses, so viel für jenes Fach und erhält dafür die
Hälfte der Einnahme und monatlich 5l)<1 Thaler." Nach diesem Contract
stand es nun dem ze. Gritti frei, sechs Nachtwächter und sechs Harfenmäd¬
chen in der italienischen Oper singen zu lassen und er hat sich dieser Frei¬
heit redlich bedient, so daß mit Opfern fremde Sänger aus Italien ver-
schrieben und dieser Contract mit ihm gebrochen werden mußte, daß man
die brauchbarsten seiner Mitglieder engagirte. Berlin kann nun und
nimmermehr 7 Monate lang italienische Oper erhalten, wenn Wien,
wo doch die Noblesse größtentheils italienisch spricht, nur 3 Monate lang
sich mit ihr begnügt Und die italienische Oper in Wien ist denn doch
am Ende eine andere als die unsere.
Ein junger österreichischer Dichter, Herr Alfred Meißner, der seit
einiger Zeit zu Besuche hier weilt, verräth durch seine liebenswürdige
und bescheidene Persönlichkeit eben so viele Theilnahme als seine Dich¬
tung „Iiska", die so eben erschienen ist, durch glühende Phantasie und
tiefsinnigen Ernst wahre Verehrer findet.
Von neuen literarischen Unternehmungen beginnt am ersten Januar
die neue Berliner musikalische Zeitung im Verlag der Herren Bote und
Bock ihre Laufbahn. Die noch näher zu veröffentlichenden Abonnements¬
bedingungen sind, so viel ich bis jetzt erfahren, so vortheilhaft gestellt,
daß der Zeitung, wenn sie sich befleißigt, gerecht und strenge ihre Bahn
zu verfolgen, ein größerer Kreis als der n u r Musikverständiger nicht aus-
bleiben kann. Die ersten musikalisch-kritischen Kräfte haben sich an die
Spitze des Unternehmens gestellt: Truhe, Kossak, Lange, Geyer, Weiß,
auch sind ausgezeichnete Correspondenten in Leipzig, Dresden, Cöln,
Wien und im Auslande, in Rom und Paris zum Theil mit nicht ge¬
Während das übrige Deutschland, und gewiß mit großem Rechte,
nicht ermüdet, die preußische Verfassungsfrage bald auf wirkliche Veran¬
lassung, bald nach bloßen Gerüchten zu besprechen, wird, wie die Aache¬
ner Zeitung vor einiger Zeit bemerkte, über dieselbe Angelegenheit Olden¬
burgs und über dessen übrigen Zustände, so weit sie für Deutschland von
Wichtigkeit sind, nicht einmal in den beiden Zeitungen des benachbarten
Bremen ein Wort laut und der Proceß der kleinen Grafen Bentink macht
hundertmal mehr zu schreiben, als das ganze übrige Großherzogthum.
Und doch ist Oldenburg eines der sechs Großherzogthümer Deutsch¬
lands, größer als Sachsen-Weimar, größer als die Herzogthümer Braun¬
schweig und Nassau, Alles konstitutionelle Staaten, welche im Lichte der
Oeffentlichkeit und unter der Controle der öffentlichen Meinung stehen.
Die freisinnige, unter preußischer Censur erschienene Schrift des Pro¬
fessors Hinrichs in Halle, eines geborenen Oldenburgers: „Der Olden¬
burgische Verfassungsstreit nach gedruckten und ungedruckten Quellen"
gibt uns die merkwürdigsten Aufschlüsse über diefen in Deutschland kaum
gekannten Bundesstaat in welchem eine nirgends so hierarchisch orga-
nisirte Beamtenmacht jeden freiern Hauch, jedes über Theatergeschwätz
hinausgehende Wort unterdrückt und sowohl die guten Absichten eines
freundlich gesinnten und das Rechte und Gute wollenden Fürsten verei¬
telt, als die Keime freierer Gesinnung in einigen Theilen des Landes erstickt.
Hinrichs sagt S. 104: „Ich kannte die frühere Opposition der Jc-
verschen Landschaft gegen die Oldenburgische Regierung nur dem Namen
nach. Ich hatte wohl davon gehört, aber als von einer Angelegenheit,
die längst vorüber und vergessen sei. Da bekam ich während meiner An¬
wesenheit in Jever zufällig die als „„Manuscript für die Einwohner""
gedruckten Actenstücke der neuesten Geschichte der Herrschaft Jever (d. h.
Eingaben an die Regierung, worin die Jeverländer den Zustand ihres
Landes schildern, ihre Rechte und Privilegien oder Ersatz für sie durch
allgemeine landstandische Verfassung des Großherzogthums auf die loyalste
und gemäßigtste Weise fordern) in die Hände und man sagte mir, daß
Dragoner diese Actenstücke wegnahmen, wo sie sie fänden. Ich las mit
steigender Verwunderung diese Actenstücke der neuesten Geschichte meiner
Heimach und mein Gemüth empörte sich über die rücksichtslose Behand¬
lung, welche mein Vaterland von der Bureaukratie hat erleiden müssen."
Der Geist in dem eigentlichen Herzogthum Oldenburg gleicht aber
nach Hinrichs nicht überall dem wackern Sinn der Jeverlander, von
welchen er nachweist, daß sie Jahrhunderte lang bis zur französischen Zeit
eine freie, erst durch Oldenburg einseitig aufgehobene altfriesische Verfas¬
sung hatten. „In Oldenburg", sind seine merkwürdigen Worte, „dachte
man bis vor wenig Jahren an keine landstandische Verfassung, man fin¬
det daselbst nichts als Spießbürgerthum und serviles Wesen. Aber seit
einigen Jahren lebt in der Stadt Oldenburg ein junges Geschlecht,
das den Mund voll von liberalen Phrasen hat, aus die Jeverlander schilt,
weil diese zu einer Zeit, wo jenes Geschlecht noch nicht geboren war,
sich an die historische Grundlage ihrer Verfassung hielten und dies ,,„Je-
verschm Particularismus"" nennt. Das junge Geschlecht verkennt die
Jeverlandischen Bestrebungen ganz und gar, da die Landschaft die alte
Verfassung nicht als solche, sondern zeitgemäß umgebildet und verbessert
gefodert hat."
Jeverland besaß also eine einseitig und unter Protest der Einwoh¬
ner aufgehobene Verfassung; Varel, Eutin (das schöngelegene), Stadt-
und Vutjoedingerland, Stedingerland baten 1831 um eine landstandische
Verfassung (und besonders die von Hinrichs mitgetheilte Bittschrift der
Eutiner entwarf ein betrübendes Bild von der Art und Weise der Be¬
amtenherrschaft), der Fürst selbst versprach nach der Juliuscevolution frei¬
willig und unaufgefordert eine solche, er will nach Allem, was man über
ihn liest, nur das Gute, aber die Herren Beamten wollen keine Ver¬
fassung und wissen die phlegmatischen Altoldenburger auf ihrer Seite zu
erhalten.
Merkwürdig ist in Bezug auf die letzte Bemerkung folgender saty¬
rischer Artikel, welchen Hinrichs aus einer der „Jeverlandischen Nach¬
richten", welche er das Organ der Gesinnung der Jeverschen Landschaft
nennt, anführt: „Auch Delmenhorst fürchte sich vor Landständen und
zwar nicht ohne zureichenden Grund. Delmenhorst habe nämlich die land¬
gerichtliche Jurisdiction, übe sie aber nicht selbst aus, sondern lasse sie
durch das dortige Landgericht ausüben, die Spocteln aber würden für die
Stadt notirt und gehoben und jährlich an die Stadtkasse abgeliefert.
Nun befürchte aber Delmenhorst, daß nach Einführung vor! Landständen
dieses Verhältniß nicht länger fortdauern werde. Es befürchte auch, daß
in einer Ständeversammlung der Einfluß der Marschbewohner überwie¬
gend sein werde und daß alsdann die Kosten der Arbeiten zur Beförde¬
rung des Gcadenanwachses aus der Landeskasse bestritten werden möch¬
ten, welche das Mehrste aus den Marschen zieht.
Hinrichs sagt: „Die Marschbewohner, friesischen Stammes, sind
politisch für landständische Verfassung, wahrend die Geestbewohner (Ol¬
denburg, Delmenhorst, Vechta, Wildeshausen, die ehemals Münsterschen
und Osnabrückschen Antheile und das von dem durch seine absolutischen,
von ihm selbst patriarchalisch genannten Grundsatze bekannten Staats¬
rath Fischer verwaltete Birkenselv) mehr bureaukcatisch gesinnt zu sein
scheinen." Dem entspricht, daß, wie Hinrichs erzählt, der Stadteath
der Hauptstadt Oldenburg den Großherzog, als dieser kürzlich ernstlich
zur Einführung der 18W öffentlich von ihm versprochenen, von dem
Jeverlande so oft verlangten landständischen Verfassung schreiten wollte,
ihn auf Anstiften hochgestellter Beamten schleunig mit acht gegen vier
Stimmen bat, dies doch ja nicht zu thun, besonders aus dem Grunde,
„ daß, wenn die Stande auf Reducirung oder Verlegung des Militairs
dringen würden, dieses die Stadt empfindlich treffen könne; auch befinde
man sich ja ohne Stande so wohl."
'
Weiteres nach der Hinrichsschen Schrift über den Oldenburgischen
Verfassungsstreit zu sagen und aus den vollständigen, gemäßigten und
doch entschiedenen Beschwerden der Jeverlänoer, wie aus den Antworten
der Behörden (z. B. „Unterthanen dürften nur bitten und wünschen,
Gravamina oder Beschwerdung in Bezug auf Rechte seien unziemlich")
möchte hier zu weit führen. Von den Tagesblättern hat die conservative
Allgemeine Zeitung in Bezug auf diesen Gegenstand die liberalen Zeitun¬
gen, mit Ausnahme der Aachener, alle beschämt; die Bremer- und We¬
ser-Zeitung haben noch kaum ein Wort über die Hinrichs'sehe Schrift
gesagt, wahrscheinlich bindet das Interesse der Verleger den Redacteurs
die Hände.
In unserer Kritik ist man selten eili^ mit anpreisendem Lobe und
doch ist es eine so angenehme Genugthuung für uns selbst, wenn wir
dem Autor, welcher uns Freude gemacht, rasch und lebhaft unsern Dank
ausdrücken können. Das will ich hiermit thun, indem ich Wilibald
Aleris sage, daß ich mit großer Freude seinen neuen Roman „Hans Jür¬
gen und Hans Jochen", die erste Abtheilung der „Hosen des Herrn
von Bredow" gelesen habe, und indem ich "dem Publicum die Versiche¬
rung gebe, daß es in diesem vaterländischen Romane eine kräftige, ge¬
sunde und für den unverzartelten Magen wohlschmeckende Speise erhal¬
ten hat. Bekanntlich hat dieser so eben erscheinende Roman das Unglück
gehabt, als Manuscript eine Feuersbrunst in der Druckerei bestehen zu
müssen. Das Schicksal aber ist in ganz historischer Consequenz diesen
stets glücklichen „Hosen des Herrn von Bredow" gnädig geblieben, und
es sind nur ein Paar Bogen des Romans vom Feuer vernichtet worden.
Aleris ist im Stande gewesen, sie noch einmal zu schreiben, und obwohl
er damals bitterlich klagte, daß er nicht im Stande sei, sie in ursprüng¬
licher Frische wieder herzustellen, so habe ich doch jetzt bei der Lectüre nicht
entdecken können, an welcher Stelle die Feuerlücke habe ergänzt werden
müssen.
Der Roman spielt zu Anfange des sechszehnten Jahrhunderts in der
Mark. Die Umgegend von Berlin und Potsdam, das Havelland und
Berlin selbst ist der Schauplatz. Der junge Kurfürst Joachim zerbricht
den Märkischen Adel; dies ist der Kern. Daraus ergibt sich mancherlei
Spiegelung auf Interessen und Persönlichkeiten, welche Damaliges jetzt
wiederholen, und insofern wird auch derjenige Leser in dem Buche seine
Rechnung finden, welcher die Gegenwart durchaus nicht aus dem Auge
verlieren will. Keineswegs indessen empfehle ich das Buch blos aus die¬
sem Grunde. Um jenen Kern schlingt und breitet sich ein kräftiges und
mannichfaltiges Charakter - und Familienleben des Märkischen Ritters,
ein tief eingehendes Darstellen in Sitten und Sagen, und ein derber
einfacher Ton legt über Alles eine satte, tüchtige Farbe. Wie selten ist
so volles Lob auszuschütten über neue Bücher, und wie sollte man sich
also nicht beeilen bei so günstiger Gelegenheit, namentlich einem Schrift¬
steller gegenüber, welcher im Vorworte nicht mit Unrecht klagt über man-
nichfache Verunglimpfung und Vernachlässigung von Seiten einer launi¬
schen Kritik, über den Undank im Allgemeinen, welchen die schöpferische
Schriftsteller« in Deutschland zu finden pflegt. Er hofft, daß auch in
der Märkischen Heimath die Dünste und Nebel aus dem Mittelalter,
welche die so klar vorgezeichnete preußische Entwickelung gestört, beim
nächsten Sonnenschein oder Sturm verschwinden würden, und diese Hoff¬
nung erhalt ihm den Muth für romantische Gestaltung der Märkischen
Geschichte. Dieser Roman sei nur das Vorspiel eines andern, welcher
die Reformation in der Mark zum Gegenstande haben solle. Jener Muth
auf gute Zukunft bewahre ihn denn auch frisch, wenn die launenvolle
Kritik oder wenn die politische Kritik, welche die Wahrheit gefärbt haben
will, ihm zurufe, daß seine Kräfte nachließen. „Ehedem", setzt er hinzu,
„war ich dies von der liberalen Seite gewohnt; daß mir jetzt von der
entgegengesetzten, aus den Berichtigungsbureaus der poetische Athem aus¬
geblasen werden soll, war mir allerdings überraschend, aber in der Wir¬
kung wirklich nicht schreckhaft. Es ist wohl selten ein Schriftsteller in
einem kurzen Leben so oft todt gemacht worden als ich. Soll ich ster¬
ben, so muß der Todespfeil in anderes Gift getaucht sein; ich habe eine
Dauernatur, vielleicht eben, weil ich nicht vom Augenblicke leben noch
ihm mich selber opfern will."
Und wirklich, Wilibald Alexis ist uns Allen darin ein tröstliches
Beispiel, daß man in tiefster Verbindung mit dem ächten Geiste seiner
Zeit eine selbständige Welt bewahren und ausbilden, daß man allerlei
Schmähung von Seiten kurzsichtiger Richter getrost überdauern und durch
unablässiges Schaffen endlich doch immer wieder zu vollwichtiger Geltung,
ja zu einer um so festern Geltung gelangen kann, je öfter das Urtheil
geschwankt hat. Die Kritik muß endlich bekennen, daß nur die wirklich
selbständigen und begabten Menschen nicht immer mit dem Strome schwim¬
men und doch allein als kräftige Wahrzeichen für Untiefen und Strudel,
welche zu besiegen waren, über dem Wasserschwalle bleiben können. Zu
solchen gehört Wilibald Alexis.
— Was sie im Großherzogthum Hessen wollen, versteht ein einfaches
Menschenkind nicht. Da ist ein Land, welches bisher zufrieden mit seiner
Negierung war, bis diese auf den Einfall kommt, es durchaus noch zu¬
friedener zu machen und ihm zu Weihnachten ein neues „verbessertes"
Gesetzbuch zu schenken. Vergebens schreien die Rheinhessen: Wir bitten
dringend, uns in unserer bisherigen Zufriedenheit zu lassen, da wir mit
ihr sehr zufrieden sind. Die Regierung behauptet, sie könne das nicht
zugeben, die jetzige Zufriedenheit sei eigentlich gar nicht begründet gewesen,
und es sei durchaus ihre Pflicht, Zufriedenere zu bilden, selbst wenn die
Zufriedenen darüber unzufrieden werden sollten. Und nun beginnt sie
das Land plötzlich dergestalt in die höchste Zufriedenheit hincinzuregieren, daß sie
in dem lustigen Rheinlande ihre Narrhallafeste einstellen und die ernst¬
haftesten Mienen annehmen. Ist das nicht wie Jemand, den man lachen
machen will und ihn so lange kitzelt, bis er zu keuchen anfängt? Das
Regieren scheint bei vielen Staatsmännern eine ererbte Passion, wie die
Jagd eine ist. Da es keine Wölfe und Bären mehr auszurotten gibt,
so jagt man, um nur in der Uebung zu bleiben, Spatzen und Kaninchen;
da es nichts zu gefetzgebern mehr gibt, so will man die „Mangel"
des <no<1e ^»polvon umsetzen. Vergebens schreit das Volk: Wir ertragen
gern die Kaninchen und die Spatzen des l^vllo ^sitpolvan, wenn uns
nur das Feld Nicht umgewühlt wird, das wir seit fünfzig Jahren besitzen.
Die Jagdpassion antwortet c^ioä non: Das Vertreiben der Spatzen ist
eine Hauptaufgabe einer pflichtbewußten Regierung und es ist mit einer
gänzlichen Umwühlung des Ackers gar nicht zu theuer erkauft. Was für
Saat aber aus diesen Furchen emporschießt, wird sie erst die -Zukunft
lehren.
— Man kennt die Anekdote von jenem durchlauchtigen alten Herrn,
der mit zwei stehenden Witzen alle seine Gaste regalirte: I. Was würde
ich thun, wenn ich ein Zahnarzt wäre? — Ich würde der Zeit ihren
Zahn ausreißen! Hahccha! 2. Was würde ich thun, wenn ich schwimmen
könnte? — Ich würde mich ins Meer der Vergessenheit stürzen! Hahaha!
Man kennt auch die verblüffte Miene dieses alten Herrn, als ihm einst
ein Schalk, der schon früher von diesen zwei stehenden Witzen unter¬
richtet war, auf die erste Frage gleich die zweite Antwort gab: „Was
würde ich thun, wenn ich ein Zahnarzt wäre?" — „Sie würden
sich ins Meer der Vergessenheit stürzen!" — An diese Anekdote erin¬
nert die gegenwärtige Handlungsweise Frankreichs. Was würden Sie
thun, wenn Sie ein Zahnarzt wären? haben die Polen mit pochenden
Herzen durch fünfzehn Jahre gefragt. Was würden Sie thun, wenn
ein Zahn aus den Tractaten von 1815 wacklig und angefressen würde?
Und alljährlich ertönte die Protestation in der französischen Kammer mit
großen Worten zu Gunsten der polnischen Nation. Jetzt wo Kraken
einverleibt wurde und die französische Ministerpresse sogar sich die Aermel
ausschürzte und mit den Zangen klapperte, als wollte es mit einem Riß
den angebohrten Krakauer Zahn aus den Kiefern der drei Machte herausziehen,
jetzt frugen die Polen und Polenfreunde gespannter als je: Nun, Zahn¬
arzt, was wirst du thun? — Und nach einer Pause voll Erwartung
lispelt leise und verschämt das französische Cabinet: Ich werde mich ins
Meer der Vergessenheit stürzen!
— Trotz der großen Völkerwanderung deutscher Literaten, die alljähr¬
lich ihren Zug nach Paris nimmt, trotz der zahllosen deutschen Sprach¬
meister, die dort ihren Sitz haben, fehlt es den französischen Blattern
immer noch an guten Uebersetzern deutscher Artikel. Ein Bock, der jetzt
durch alle französischen Blätter lauft, befindet sich in dem Oesterreichisch-
Krakaucr Manifest, das mit den Worten beginnt: Wir Ferdinand d^r
Erste u. s. w. In den meisten Pariser Blättern, die dieses Aktenstück
brachten, beginnt die Uebersetzung mit den Worten.- Rous I<>rei>niiiu1
it'Kstö etc.
— Die Mährchenzcit ist wieder da; Weihnachten schlägt sein Zelt auf
und die Buchläden schmücken sich mit hundert neuen Fabeln- und Mähr¬
chenbüchern. Das ist die glücklichste Zeit deutscher Phantasie. Das Ge¬
müth des Deutschen hat einen wahren Glaubenshun^er; es muß zwei¬
mal des Tags etwas zu glauben haben, wie der Magen zweimal des
Tags etwas schlucken will- Es ist ein Straußengemüth, das deutsche,
und darum glaubt es Dinge, welche keine andere Nation verdaut. Es
glaubt an die deutsche Einheit, an die preußische Constitution und an
tausend andere schöne Geschichten mit und ohne Illustrationen. Und da¬
mit die deutsche Jugend recht zeitig den Weg politischer Rechtgläubigkeit
einschlägt, erscheinen mit jedem neuen Jahre tausend Mährchen wunderbar,
die Phantasie des Kindes an das Unerhörte zu gewöhnen, damit seine
politische Last in reifern Jahren ihm nicht zu schwer wird und er sich
gewöhne, die traurigsten und schändlichsten Dinge zu hören, ohne darüber
zu stutzen. Eins der schönsten Mährchenbücher dieses Jahres ist soeben
bei Otto Wigand erschienen: Volksmährchen aus der Bretagne von H.
Bode. In diesem Büchlein ist wenigstens Poesie und Leben und die
Kinderphantasie bekommt wenigstens keine solchen stubendumpfen, hekti¬
schen Wundererzahlungen, wie in den Dutzendersindungen unserer gewöhn¬
lichen Schulmeister, genannt Kinderschriftstellr. Da ist Luft und Freiheit.
Fast sämmtliche Sagen dieser bretannischen Großmütterchen spielen im
Freien, im Wald und Fluß, überall ist Naturwüchsigkeit und Unmittel-
keit und man merkt es ihnen an, diese Geschichten haben den Zweck, ei¬
nen freien Natursohn, aber nicht einen im beschränkten Unterthansverstand
erzogenen Menschen zu erziehen. Der freie Luftzug aus der Bretagne
wird Manche unserer deutschen Kindcrphamasie wohlthätiq erquicken.
Schwaben, das der deutschen Poesie ihren Schiller und Uhland
gegeben, das die Philosophie durch Hegel und Schelling umgewälzt
hat, sandte auch den nationalökonomischen Reformator, dessen trauriges
Ende überall so gerechte Theilnahme erregt und dem auch seine Feinde
nicht den schöpferischen Genius und das Verdienst, die Volkswirthschaft
den Deutschen näher gebracht zu haben, absprechen können. Hier in
Würtemberg ist man überzeugt, daß zu jener Melancholie, welche den
felsenfesten Charakter endlich übermannte und in die Katastrophe hin¬
riß, der erste Grund gelegt wurde durch die Schicksale, welche über
List in den Jahren 1821 bis 1823 ergingen und deren er stets nur
mit den bittersten Empfindungen gedachte. Da jene gegen List ver¬
fügte Verfolgung unverkennbar viele Aehnlichkeit hat mit gewissen
Vorgängen der neuern Zeit im übrigen Deutschland, so werden einige
Mittheilungen darüber am Platze sein.
List, von je ein unerschrockener Verfechter Dessen, was er für
Wahrheit erkannte, dabei ein fertiger Demokrat, wie sich das von dem
Sohne der alten tapfern Reichsstadt Neutlingen erwarten ließ, hatte,
durch Mißstimmungen veranlaßt, seine Professur in Tübingen nieder¬
gelegt und war in die Abgeordnetenkammer getreten. Damals wehte
in vielen Geistern noch die frische Luft von 1817, man glaubte und
strebte noch. Aufgefordert von den angesehensten Bürgern Reutlingens
und berufen durch seine umfassende Kenntniß des Staatshaushaltes,
verfaßte er eine Petition an die Ständekammer, worin folgende Stelle
vorkam: „Ein oberflächlicher Blick schon auf die Verhältnisse Würtembergs
muß den unbefangenen Beobachter überzeugen, daß die Gesetzgebung
und Verwaltung unsers Vaterlandes an Grundgebrechen leiden, welche
das Mark des Landes verzehren und die bürgerliche Freiheit vernichten.
Eine von dem Volk ausgeschiedene, über das ganze Land ausgegossene,
in ^den Ministerien sich concentrirende Beamtenwelt, unbekannt mit den
Bedürfnissen des Volkes und den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens,
in endlosem Formenwesen kreisend, behauptet das Monopol der öffent¬
lichen Verwaltung, jeder Einwirkung des Bürgers, gleich als wäre sie
staatsgefährlich, entgegenkämpfend i ihre Formenlehren und Kastenvor--
urtheile zur höchsten Staatsweisheit erhebend, eng unter sich verbündet
durch die Bande der Verwandtschaft, der Interessen, gleicher Erziehung
und gleicher Vorurtheile. Wo man hinsieht, nichts als Räthe, Be¬
amte, Kanzleien, Amtsgehülfen, Schreiber, Registraturen, Actenkapseln,
Amtsuniformen, Wohlleben und Luxus der Angestellten bis zum Diener
herab. — Auf der andern Seite Unwerth der Früchte, Stockung der
Gewerbe, Fallen der Güterpreife, Klagen über Geldmangel und Ab¬
gab ensieuerpresser, Gantungen, bittere Beschwerden über unredliche Ma¬
gistrate, gewaltthätige Beamte, geheime Berichte, Mangel an Unpartei¬
lichkeit der Obern) Jammer und Noth überall. Nirgends Ehre, nir¬
gends Einkommen, nirgends Fröhlichkeit, denn allein im Dienstrock. —
Die Verwaltungsbehörden ohne Kenntniß des Handels, Gewerbes und
Ackerbaues und, was noch schlimmer ist, ohne Achtung für die erwer¬
benden Stände, auf todte Formen und veraltete oder unpassende Büreau-
gesetze versessen, die Nationalindustrie meist mehr hemmend als fördernd.
Die Rechtspflege kostspielig, endlos, unbehülflich, aller Oeffentlichkeit
und einer gesunden Gesetzgebung ermangelnd, häufig von Männern
verwaltet, welche statt an dem reinen und frischen Quell der gesunden
Vernunft und des praktischen Lebens zu schöpfen, ihre Weisheit aus
einer längst versunkenen Welt heraufholen. — Die Staatsfinanzwirth¬
schaft endlich in ihrem durch die schwülstige Verwaltung verursacht,..
Aufwand alle Verhältnisse übersteigend, in ihrem Einkommen den Ver¬
kehr erschwerend, die Industrie hemmend, Unterschleife begünstigend,
kostspielig und unbehülflich in der Erhebung, ohne Gleichheit in der
Einrichtung, das Ganze ohne Plan und staatswirthschaftliches Princip,
dies ist ein kurzer, aber getreuer Abriß unserer Verwaltung."
Ehe noch diese lithographirte Petition verbreitet werden konnte, er¬
theilte ein Befehl des Justizministers von Maucler dem Gerichtshofe
zu Eßlingen den Auftrag, gegen Lift wegen der im Obigen mitgetheil¬
ten Stellen mit Criminaluntersuchung einzuschreiten. Dies geschah,
und zugleich trugen die Anhänger der Regierung in der Kammer dar¬
auf in,, daß List vorläufig aus der Kammer ausscheiden solle. Nach
hartnäckigem Kampf siegte dieser Antrag mit geringer Mehrheit; ein
Ereigniß, welches in Verbindung mit jener von Regierungswegen an-
geordneten Untersuchung die Opposition so tief von dem Unwerthe der
ständischen Verfassung Würtembergs *) und von der Unvereinbarkeit
der eigenen Bestrebungen mit dem herrschenden System überzeugte, daß
sie bis uach der Julirevolution auf die fernere Theilnahme an ständi¬
scher Wirksamkeit verzichtete, wie denn damals namentlich Uhland und
Schott, welche List auf's Entschiedenste vertheidigt hatten, sofort auf¬
traten. Der Justizreferendar von Prieser aus Augsburg, welcher da¬
mals (und zwar, wie in der Kammet damals behauptet wurde, unge--
setMcherweise) als Richter gegen List mit aufgetreten war, wurde spä¬
ter Mitglied der Mainzer Centraluntersuchungs-Commission und ist
jetzt Justizminister, während Herr von Maucler die oberste Landesbe-
Horde, den k. Geheimen Rath präsidire; von den Kammermitgliedcrn,
welche sich für List's Ausschließung besonders vernehmen ließen, wurde
Herr Weishaar nachmals Minister, die HH. Bolev und v. GaiSberg
Präsidenten des Oberrribunals, Hr. Advocat Fcuerlein Obertribunals¬
rath, Hr. Advocat Gmelin Staatsrath, Hr. Mosthaf Regierungsdi-
rector, Hr. Autenrieth Universitätskanzler. Auch alle evangelischen und
katholischen Prälaten stimmten gegen List. Vergeblich suchte dieser so¬
wohl in der Kammer, als durch schriftstellerische Thätigkeit den Be¬
weis für die Wahrheit seiner Behauptungen zu führen, von welchen
er auf's Lebendigste überzeugt war und auch später niemals abging,
vergeblich ward er hierin von seinen Meinungsgenossen in der Kam¬
mer unterstützt (es wurde z. B. damals schon die würtenbergische Cen¬
sur in der Art gehandhabt, daß laut einer Mittheilung im Stände¬
saale einem Blatte der Satz gestrichen wurde: „Im Himmel gilt kein
Ansehe» der Person mehr"), vergeblich setzte List in seiner gerichtlichen
Untersuchung, deren Acten den zweiten Band der Zeitschrift „Themis"
bildeten, mit männlichem Freimuth und vielem Scharfsinn auseinan¬
der, daß er keine Personen beleidigt habe, einen für verwerflich erkann¬
ten Zustand aber unmöglich als Volksvertreter ruhig mit ansehen
könne; vergeblich berief er sich darauf, daß er unmittelbar nach dem
incriminirten Passus so fortgefahren: „Weit entfernt, der jetzigen Regie¬
rung vorzuwerfen, was die Irrthümer von Jahrhunderten dem Bürger
Schlimmes ausgelastet, erkennen wir vielmehr :c. in."; vergeblich erklärten
auch die angesehensten BürgcrderHandelsstadt Heilbronn (50V anderZahl)
in einer Eingabe an die Kammer, List habe nur Wahrheit gesprochen.
Die Kammer ließ die Eingabe als verbrecherisch vernichten, und gegen
List wurde die Untersuchung auf's heftigste und umfassendste fortge¬
führt; ja er wurde, als er Grundfatzhalber sich weigerte, dem Richter
wegen seines in der Kammer gehaltenen Vertheidigungsvortrag.es Rede
zu stehen, im Auftrag des Gerichtshofes mit Stockprügeln be¬
droht, und schließlich durch Urtheil desselben Gerichtshofes vom K.
April 1822 „wegen Ehrenbeleidigung und Verleumdung der Regie¬
rung, der Gerichts- und Verwaltungsbehörden und Staatsdiener Wür-
tembergs, ausgezeichnet durch die damit concurrirende Uebertretung
der 88 ^ und 8 des Gesetzes über die Preßfreiheit, mittelst öffentlicher
Verbreitung jener Injurien in Druckschriften, und Begehung des' in
Art. 25 des Gesetzes über Staats- und Majestätsverbrechen vorge¬
sehenen Staatsverbrechens, unter sehr erschwerenden Nebenumständen,
dessen er für überwiesen zu achten, auch unbotmäßigen Benehmens
gegen das Jnquisitoriat, zu zehnmonatlicher Festungsstrafe,
mit angemessener Beschäftigung innerhalb der Festung, und Bezahlung
von der Untersuchungskosten" verurtheilt*). List rettete sich durch
die Flucht und hielt sich erst in Straßburg, dann in der Schweiz auf,
während er von der Rccursinstanz die Aufhebung jenes strengen Ur¬
theiles, so wie der Vermögensbeschlagnahme hoffte. Allein nach einem
halben Jahre erkannte das Obertribunal einfach bestätigend. Eine
Beschwerde Lift's an den König, worin er sich mit gewohntem Frei-
muthe vertheidigte, blieb ohne Erfolg. Doch scheint man, nachdem
seine Beleidigung der Staatsdienerschaft einigermaßen durch den ecla-
tanten Verlust seiner Abgeordnetenstelle, durch eine lange peinliche Un¬
tersuchung und durch die kostspielige Selbstverbannung aus dem Va¬
terlande gesühnt, auch für den demokratischen Geist der Kammeroppo-
sition an Lift ein Exempel statuirt war, die äußerste Konsequenz für
unnöthig gehalten zu haben, wenigstens durste List nun einen Theil
seiner Strafe erstehen und dann nach Amerika auswandern. Auf
Hohenasperg mußte der geniale begeisterte Volksvertreter, der intellec-
tuelle Urheber des deutschen Zollvereins, der Mann, mit welchem
in den letzten Jahren manche Fürsten und Minister freundlich ver¬
kehrten, der Schriftsteller und Agitator von europäischem Rufe, als
Festungssträfling Zwangsarbeit verrichten, durfte aus Vergünstigung
Acten für die Canzleien abschreiben!
Von den vierzig Wünschen, welchen jene incriminirte Stelle der
Petition zur Einleitung diente, ist seither nur der geringste Theil ver¬
wirklicht worden, während die meisten und wichtigsten Punkte: Ab¬
schaffung der lebenslänglichen Gemeinderathsstellen, Selbstständigkeit
des Gemeindewescns, Oeffentlichkeit der Rechtspflege mit Geschwore¬
nen, Aufhebung der umiöthigen Kreisstellen, Vereinfachung des Ab-
gabeusystems, Fuirung der Zehnten und Gulden, Veräußerung der
Staatsdomänen, Beschränkung des Staatsaufwandes, namentlich in
den Departements des Kriegs und des Auswärtigen, heute so wenig
wie vor einem Vierteljahrhundert erledigt sind. 8in U-allein- vita.
Ungefähr ein Jahr mochte ich in diesen Verhältnissen gelebt haben
und ich sing an, mich heraus zu sehnen. Ich fühlte mich, ich wollte
vorwärts. Wir hatten bei der Gesellschaft ein recht hübsches Männer^
quartett zusammengebracht, und wir vier beschlossen zusammen zu reisen
und uns nach Anstellungen bei bessern Theatern umzusehen. Wir kün¬
digten deshalb unsere Verhältnisse aus.
Als jedoch die Kündigungszeit um war und der Director uns
neue Vorschläge machte, zocsen zwei von unserm Quartett ihr Wort
zurück und einigten sich wieder. Wir zwei andern blieben jedoch bei
unserm Entschlüsse. Mein Gefährte mußte indessen noch sechs Wochen
in seinem Vertrage bleiben und fo reiste er mit der Gesellschaft ab,
während ich allein zurückblieb, um ihn zu erwarten. So saß ich sechs
Wochen in Palmenhain, ohne Beschäftigung und ohne Geld, denn von
Ersparnissen war bei uns nicht die Rede. Ich versuchte eine Abend-
Unterhaltung zu geben, die gewöhnliche Zuflucht armer Schauspieler,
allein diese brachte mir auch nur wenige Thaler ein. Da erhielt ich
eines Morgens einen Besuch von einem reisenden Schauspieler, Na¬
mens Gaul, der mich zur Betheiligung bei einem Unternehmen auf¬
forderte. Dieser Gaul hatte seine gute Anstellung verlassen, in der
Hoffnung, bei einem Hoftheater ein Unterkommen zu finden, war da¬
selbst auch zum Gastspiel gelangt, hatte aber nicht gefallen und saß
nun mit Frau und Kindern in Schlehdorf, etwa eine Stunde von
Palmenhain, in der bittersten Noth, ohne Geld, ohne Aussicht, ohne
Mittel, seine Reise fortzusetzen. Jetzt kam er zu mir, mit dem Vor¬
schlage, mit ihm zusammen einige Vorstellungen in Schlehdorf zu ver-
anstalten. In Palmenhain war ein Liebhabertheater/und da ich hier
bekannt war, hoffte er durch meine Vermittelung von der Liebhaben¬
gesellschaft etwas an Dekorationen geliehen zu bekommen. Das war
ganz gut, aber in Schlehdorf? Schlehdorf war eine der kleinsten un¬
ter den kleinen Städten, bewohnt größtentheils von armen Kohlenberg¬
leuten; ich zweifle, ob ein Handwerker daselbst sich befand. Ich fragte
weiter — ein Saal war in Schlehdorf nicht zu finden — nicht ein¬
mal ein ganz kleiner. Also wo spielen? Indessen Gaul hatte guten
Muth und wußte für Alles Rath. Er hatte einen grünen Rasenfleck
ausfindig gemacht, dicht vor der Stadt, der mit regelmäßigen Linden¬
reihen besetzt war, und zwischen diesen Linden sollte Leinwand gespannt,
überhaupt die Bühne aufgeschlagen werden. Ich schüttelte den Kopf
und fragte «ach unsern Kräften. Seine Frau, er und ich war Alles,
worüber wir verfügen konnten. Ich schüttelte noch stärker den Kopf,
allein Gaul nannte mir gleich eine Menge kleiner Stücke, die wir drei
geben könnten, erzählte mir von der Theaterlust der Schlehdorfer, die
nie eine Bühne gesehen hätten, und war voll der größten Hoffnungen.
Ich ging mit nach Schlehdorf. Da saß die Familie von vier Kindern,
mit einer alten Mutter in einer jämmerlichen Lehnkammer, mit einem
Bette. Mühsam bekamen sie die wenigen Nahrungsmittel geborgt, die
ihr Leben fristeten, und die Leute, welche die Kammer vermiethet hat¬
ten, fragten mit jedem Blicke nach den wenigen Groschen Miethgcld.
Jetzt begriff ich allerdings, daß Gaul etwas thun mußte. Wie war
der Mann so zurückgekommen, der in den besten Verhältnissen gelebt
hatte und der ein wirklich talentvoller Schauspieler war? Leider nicht
ohne seine Schuld. Er war zwar sehr gutmüthig, gefällig, liebens¬
würdig — aber er spielte. Indessen hier halfen keine Redensarten —
Gaul mußte wenigstens versuchen, aus seiner erbärmlichen Lage her¬
auszukommen; ein anderes Mittel, als er mir vorschlug, wußte ich
auch nicht, also mußte ich ihm helfen, so wenig ich auch seine Hoff¬
nungen theilte. Ich wandte mich also an die Liebhabergesellschaft und
erhielt die nöthigen Decorationen geliehen — ich besorgte auch den
Zetteldruck in Palmenhain, — denn in Schlehdorf wird in den näch¬
sten fünf Jahrhunderten noch keine Druckerei errichtet. Gaul über¬
nahm dagegen die Einrichtung der Bühne und das Anspornen des
Schlehdorfer Publicums. Publicum — du lieber Gott — die guten
Schlehdorfer mochten Komödianten wohl für Abgesandte des Gottsei¬
beiuns halten, denn sie sahen uns mit halb bedauernden, halb verab¬
scheuenden Blicken an, wenn wir einmal durch die Straßen gingen.
Am Mittag des bestimmten Tages wanderte ich also nach Schlehdorf,
um da zu gastiren. Es war das erste Mal, daß ich überhaupt ga-
stirte. Gaul hatte zwischen vier Linden Leinwand spannen lassen —
oben war es offen, die Baumzweige das einzige Dach. Einige Cou¬
lissen waren aufgehangen und ein Vorhang. Der Boden war der
Rasen. Im Zrischauerraum standen drei Holzbünke — erster Platz
5 Sgr., hinter ihnen war zweiter Platz K 2^ Sgr. zum Stehen.
Ich besah mir die Einrichtung, sie war ganz niedlich. Wir probirten
unsere kleinen Stücke, und um die Stunde des Anfangs setzten wir
uns erwartungsvoll an den Eingang des Zeltes, um die Fünfgroschen¬
stücke für den ersten Platz einzunehmen, und auch die kleinere Münze
für die Stehplätze nicht zu verschmähen. Doch weiß der Henker, ob
damals eine Geldkrisis in Schlehdorf war, wir warteten und warten
ten — und warteten — Niemand kam — Niemand wenigstens, der
Fünfgroschenstücke brachte. Aber andere Gäste ließen sich sehen — die
Schlehdorfer Straßenjungen. Die Jungen haben immer mehr Herz-
haftigkeit, als die Alten und mochten sich weniger vor uns Teufels¬
braten scheuen, als ihre gottesfürchtigen, fünfgroschenstückarmen
Aeltern. Da nun bekanntlich die armen Städte immer sehr reich an
Kindern sind, da in Schlehdorf wenig Ständeunterschied herrschen mochte
und demnach seine sämmtliche Jugend zu den Straßenjungen zählte,
so sammelte sich ein ' ganz ansehnlicher Schwarm barfüßiger, pelzbe-
kappter, kurzhosiger, ungewaschener Jungen um unsere—Kunstanstalt.
Neugierig umstanden sie uns erst von fern, rückten dann in großen
Kreisen immer näher und begannen plötzlich die umliegenden Bäume
zu erklettern, von wo sie bequem in das Innere unsers Thalientem¬
pels schauen konnten. Die Zeit des Anfangs war längst vorbei, die
Sonne machte bedenkliche Anstalten zum Untergehen, da sie doch die
Stelle der mangelnden Gasbeleuchtung vertreten sollte — und noch
war kein Gast erschienen, unser Schaugericht in Augenschein zu neh¬
men. Da endlich erschienen von der andern Seite drei muthvolle Män¬
ner, sicher waren sie nicht aus Schlehdorf, und nahten sich zweifeln¬
den Schrittes und fragten: „was das kosten thäte?" Wir nannten
den Preis — sie zogen sich zurück und pflogen Berathung, endlich bo¬
ten sie zusammen vier Silbergroschen. Jetzt kam Humor in die Sache —
lachend strich ich die vier Groschen ein und ließ die Waghälse Platz
nehmen. Uns war das Warten schon zu lange vorgekommen, den
Jungen auf den Bäumen kam es aber noch länger vor, und sie be¬
gannen ihre Ungeduld durch einige Steinwürfe zu äußern, die sie ge-
gen die Bühne richteten. Hatten wir das Militair aus Leipzig oder
Cöln gehabt, wir würden ihre Steinwürfe schon mit Kugeln und Ba¬
jonettstößen erwidert haben, allein so waren wir schutzlos dem entfessel¬
ten Muthwillen der quf's Höchste gereizten Ungeduld der Schlehoor-
fer Gassenbuben Preis gegeben. Dauerte der Steinhagel länger, so
verdarb er uns die Leinwand und die Dekorationen und wir mußten
großen Schadenersatz leisten. Was thun? Auf Einnahme durften
wir doch nicht mehr hoffen ^ so riefen wir denn die Jungen von den
Bäumen herab, hießen sie Platz nehmen in den den Musen geweihten
Hallen, zogen den Vorhang auf und spielten dem so versammelten
Publicum den Eckensteher Rande im Verhöre vor. Wir hatten zwar
kein Buch, hatten das Stück kaum einmal gesehen — allein aus dem
Stegreife brachten wir die uns im Gedächtniß haftenden Witze des
kleinen Stückchens vor von denen unser Publicum allerdings nicht
eine Sylbe verstand. Zum Schluß rief Gaul, der den Actuarius
machte: ,Nun, lieber Eckensteher, wollen wir auch eins singen!" —
und wir stimmten an, Arm in Arm geschlungen: „Kommt a Vögerl
geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß" — die drei Männer für vier
Silbergroschen schüttelten bedächtig die Häupter über das Teufelswerk,
die Schlehdorfer Jugend aber zog von dannen, besiegt von der Macht
der Kunst. Das war der erste Versuch, Kunstsinn in Schlehdorf zu
erwecken. Gutes Schlehvorf, du bist zu beneiden! Wer wenig Lebens¬
bedürfnisse hat, ist glücklich. Daß du leibliche Bedürfnisse nicht über¬
mäßig hattest, zeigte vein Aussehen, denn von dem überflüssigen Lurus
eines Straßenpflasters hattest du keinen Begriff, der Tyrannei einer
Bauordnung waren deine Häuser nicht unterworfen, sie standen in
schönster Freiheit schief und winklig, wie es ihnen beliebte, und droh¬
ten mit Einsturz jedem Verwegenen, der an sie eine ordnende Hand
legen wollte — die Schweine, die auf deinen Straßen herumliefen,
lieferten dir den Speck, um vie Kartoffeln zu schmelzen, die ringsum
deine Fluren bedeckten — was braucht der Mensch mehr als Speck
und Kartoffeln? Für deine geistigen Bedürfnisse sorgte dein Pfaffe,
sie waren befriedigt, wenn deine Einwohner Sonntags erfahren halten,
daß sie von wegen Adams Apfelbiß allzumal Sünder und Hallunken
wären, und auf dieses schöne Selbstbewußtsein einen Schnaps getrun¬
ken hatten. Vielleicht gab es auch einige helle Köpfe unter euch, die
einen Kalender für einen Silbergroschen alljährlich kauften und über
die schönen Anekdoten nachdachten, daß Jemand seinen Regenschirm in
Gedanken habe stehen lassen, oder daß eine Kaffeemühle wegen Mein^
gel an Raum zu verkaufen sei.
Man sollte glauben, Gaul hätte nach diesem Fehlschlagen alle
Hoffnung aufgegeben, allein er ließ sich so leicht nicht entmuthigen.
Am andern Tage kam eine Musikbande nach Schlehdorf—er schöpfte
neue Hoffnung. In einem im Bau begriffenen Hause ward ihm eine
Lehnkammer eingeräumt — dort schlug er die Bühne wiederholt auf,
die Musikanten bliesen zwei Stunden lang die schmetterndsten Einla¬
dungen — doch auch die Verbindung von drei Künsten, Dicht-, Ton-
und Schauspielkunst im schönsten Vereine vermochten die Flucht der
Schlehdorfer vor den Werken des Satans nicht zu überwinden — es
kam Niemand und bezahlte fünf Silbergroschen. Ob sie, die Schleh¬
dorfer nämlich, am nächsten Sonntage etwas weniger abgekanzelt wur¬
den, weil sie der Versuchung zur Sünde so männlich widerstanden,
weiß ich nicht — wie Gaul sich aus seiner Lage herausgerissen, weiß
ich auch nicht — ich konnte ihm nicht helfen.
Etwa eine Woche nach diesen Abenteuern kam mein Reisegefährte,
mich zu unserer Wanderung abzuholen. Er hieß Zebra und war ein
merkwürdiger Mensch. Ein schöner, stattlicher Mann, besaß er die
mannichfachsten Talente. Er war ein sehr tüchtiger Schauspieler und
in feinkomischen Rollen ausgezeichnet — ich habe manche Rolle nie
besser gesehen. Dabei besaß er einen herrlichen Bariton, war ein sehr
gewandter Sänger und trug namentlich Lieder vorzüglich schön vor.
Sein Don Juan, Zampa, Jäger u. s. w. waren treffliche Leistungen.
Er spielte sehr gut Violine, componirte gar nicht unglücklich und malte
sehr hübsch. Mit allen diesen Talenten verband er eine große persön¬
liche Liebenswürdigkeit, die ihm Aller Herzen gewann. Und doch war
er ein Verlorner Mensch — er trank. Seinem Charakter fehlte Willens¬
kraft, seinem Geiste eine gründliche, wissenschaftliche Bildung. Er wußte
viel, aber nur oberflächlich und so gab ihm eine wissenschaftliche Be¬
schäftigung keine Anregung. Er kannte und verabscheute seinen Fehler des
Trinkens; der große, starke Mann hat vor mir geweint wie ein Kind,
hat mir mit heiligen Eiden zugeschworen, nie wieder einen Tropfen
über die Lippen zu bringen, hat mich aufgefordert, ihn öffentlich in's
Gesicht zu schlagen, wenn ich ihn trinken sähe — und zwei Stunde»
später traf ich ihn berauscht! Mir sind solche Menschen schon mehr¬
fach vorgekommen und ich möchte die Ursachen dieser Erscheinung wohl
ergründen können. Das Trinken an und für sich wird leicht zur Ge¬
wohnheit und endlich körperliches Bedürfniß; — dies mag der
Grund sein, warum es einem Menschen von gewöhnlichen Geistesgaben
so schwer, oft unmöglich wird, dieser Gewohnheit zu entsagen. Allein
man findet Trunksucht so häufig bei talentvollen Männern. Es mag
wohl sein, daß Talent nicht immer mit Willensstärfc vereinigt ist, allein
hier mag noch eine andere Ursache zum Grunde liegen. Der talent¬
volle Mann bevarf der Aufregungen, denn nur die Aufregung ist schö¬
pferisch. Jeder Aufregung folgt eine Abspannung, und diese ist pein¬
lich, wenigstens unangenehm. Sie zu heben, ist Trinken ein gutes
Mittel, und das mag wohl so Manchen zur Flasche führen, bis die
Gewohnheit übermächtig wird.
Genug, so war der Mann beschaffen, mit dem ich meine Kunst¬
reise antreten wollte. Er hatte nichts, ich hatte nichts. Um die Kosten
meines sechswöchentlichen Nichtsthuns aufzubringen, mußte ich meinen
Mantel versetzen — ich habe ihn nicht wiedergesehen. Mit den nöthig¬
sten Kleidungsstücken versehen, die wir in Tornistern auf dem Rücken
trugen, mit wenigen Thalern in der Tasche wanderten wir vergnügt
in die schöne Welt hinaus — frischen Muth, ein fröhliches Herz und
ein paar ganze Sohlen unter den Schuhen — stand uns nicht die
ganze Welt offen? Wir wollten Concerte geben und dachten viel Geld
zu verdienen, um herrlich und in Freuden reisen zu können. Doch ist
es damit eine eigne Sache. Wenn die Concertgeber mit vier Pferden
Ertrapost kommen und zwei Thaler Eintrittsgeld nehmen, machen sie
gute Geschäfte; kommen sie aber zu Fuße, so werden sie. vom Publi¬
kum so über die Achseln angesehen, wie auf der Landstraße von den
Gastwirthen. Das ist einmal so und mag wohl natürlich sein. Die
Menschen sehen nur das Aeußere und schließen von dem auf das Innere.
Wenn jenes wenig verspricht, wer mag sich die Mühe geben, letzteres
kennen zu wollen?
Wir kamen nach zwei Tagereisen in Erlenwalde an, einem hüb¬
schen, ziemlich bedeutenden Städtchen, wo wir etwa sechs Monate
vorher mit der Gesellschaft gewesen und bekannt waren. Hier hofften
wir eine gute Abendunterhaltung zu veranstalten. Wir thaten das
Unsrige, kündigten allerhand hübsche Sachen an, abwechselnd Lieder
mit Vorträgen von Gedichten u. s. w., und sammelten Unterschriften.
Mit letztem wollte es nicht recht fort, ich glaube, mit Mühe und Noth
brachten wir dreizehn zusammen. Doch wir hofften das Beste. Der
Abend des Concertes kam heran— wir warteten und warteten — auch
nicht Eine Seele fand sich ein, unser erster Versuch war vollständig
mißglückt. Die wenigen Thaler, die wir hatten, reichten nicht hin.
unsern mehrtägigen Aufenthalt zu bezahlen ; um eine Stadt zu erreichen,
in der sich etwas hoffen ließ, mußten wir wenigstens drei Tagereisen
machen; eS blieb uns also nichts übrig, als einen unserer Tornister
mit der Post nach Ulmhain — denn das war jene Stadt — voraus¬
zuschicken und darauf PostVorschuß zu nehmen. Wir trösteten uns je¬
doch, daß wir so desto leichter gingen und wanderten frohen Muthes
weiter. Es war eine fröhliche Wanderung. Die Sonne schien so
heiter, das erste Grün begann zu knospen und wir hatten frischen
Muth in der Brust. Doch als der Al'end herankam und wir unsere
Baarschaft überzählten, fanden wir noch fünf Silbergroschen. Das
reichte nicht hin, um ein Nachtlager zu bezahlen. Wir schauten uns
um; seitwärts vom Wege stand ein einladendes Wäldchen — rasch
entschlossen wanderten wir da hinein, machten uns von Laub ein Lager
zurecht, deckten uns mit Laub zu und schliefen unter Gottes freiem
Himmel sehr gut. Mit dem frischen Morgen brachen wir auf und
zogen weiter, bis wir am Alund an ein Städtchen kamen. Daß un¬
sere fünf Groschen den Tag über drauf gegangen waren, können Sie
sich denken, jetzt waren wir müde und hungrig. Noch eine Nacht im
Freien? Wir hatten dazu keine Lust und gingen frisch in des Städtchens
einzigen, folglich besten Gasthof, ließen uns auftischen, aßen und tran¬
ken nach Herzenslust und überlegten nun, wovon bezahlen. Die Post
war unser letztes Rettungsmittel. Sie übernahm es, den letzten Tor¬
nister nach Ulmhain zu besorgen und leistete uns einen Vorschuß von
wenigen Thalern. Und es ward Morgen und wieder Abend und wir
waren wieder einen Tag lang gewandert durch Wälder und Felder,
durch Haide und Moor, aber Ulmhain erreichten wir wieder nicht. Wir trö¬
steten uns mit den Juden, die vierzig Jahre nach Palästina gewandert
waren und nicht gemurrt hatten; wir schliefen im Gasthofe und bezahlten
unsern letzten Pfennig für das Nachtlager. Noch hatten wir fünf Stun¬
den Wegs bis Ulmhain. Mit hungrigem Magen machten wir uns auf
die Socken. Doch gleich zu Anfange trafen wir auf eine Brücke, wo
wir Brückenzoll zahlen sollten. Brückenzoll? Wir besaßen keinen rothen
Heller und mußten den bärbeißigen Einnehmer so lange bitten, bis er
uns unverzollt durchließ. Der letzte Weg ward uns sauer. Die Sonne
brannte heiß auf der schattenlosen Heerstraße, durch einen dreitägigen
Marsch waren wir ermüdet und kein Frühstück hatte uns gestärkt.
Wir hielten bei jedem Brunnen an und suchten unsern knurrenden
Magen durch Wasser zu besänftigen; wenn aber auch Wasser neuer¬
dings gegen Gicht und Schnupfen, gegen Schwindsucht und alle mög-
lichen Leiden hilft, gegen Hunger und Ermüdung hilft es nichts. Endlich
sahen wir den langen, spitzen Thurm von Ulmhain — aber noch zwei
lange, endlose Stunden mußten wir gehen, ehe wir das Thor erreichten.
Es war Sonntag Nachmittags, die Spaziergänger strömten uns aus dem
Thore entgegen, überall frohe, fröhliche Menschen, die auszogen, sich
zu freuen, und wir schlichen langsam in die Stadt, ermüdet, unbekannt,
von Niemandem willkommen geheißen, auch unsere gute Laune war
gebrochen. Das war ein trauriger Sonntag Nachmittag. Wir wandten
uns am andern Tage wegen einer Abendunterhaltung an die Leute,
die dem Publicum in solchen Fällen gewöhnlich zu Führern dienen,
und deren man in jeder Stadt findet — sie riechen uns alle ab, etwas
zu versuchen. Vielleicht wäre es doch gegangen, allein unser erster
mißglückter Versuch hatte uns etwas muthlos gemacht, zudem war
Zebra nicht der Mann, der etwas durchsetzte, kurz, wir gaben es auf.
Wir konnten jedoch unsere Reise nicht fortsetzen, ohne etwas zu ver¬
dienen. Zum Glück für uns befand sich zwei Stunden von Ulmhain
in einem kleinen Städtchen eine kleine Gesellschaft, die uns mit Ver¬
gnügen als Gäste begrüßte und wo wir auch einige Thaler verdienten.
Der Schaufpieldirector hieß Hengst und war ein närrischer Kauz.
Ohne alles innere Talent zum Theater besaß er doch eine glühende
Leidenschaft für das Komödienspielen. Die eigentliche Kunst setzte er
darein, immer anders wie vernünftige Menschen zu sprechen. Er ging
in seiner Rede und seinem Wesen immer auf Stelzen, sprach die ein¬
fachsten Dinge mit großem Aufwande von Ton und Geberden und
bei rührenden Stellen begann er ein förmliches Heulen. Sie werden
übrigens die Bemerkung öfter machen, daß völlig talentlose Schau-,
spielet in der Unnatur die Kunst suchen. Ob dies, ein Ueberbleibsel
jener alten Zeit des deutschen Theaters ist, wo die sogenannten Haupt-
und Staatsactionen gang und gebe waren, oder ob dies eine Eigen¬
schaft der Talentlosigkeit überhaupt ist, die sich immer wiederholt,
mag ich nicht entscheiden. Doch möchte ich indeß das Letzte glauben,
denn Sie finden diesen für Kunst allsgegebenen Schwulst auch in an¬
dern Künsten wieder, z. B. in der Dichtkunst. Neben der Wuth, immer
gerührt oder zornig oder erhaben zu spielen, hatte Hengst noch die —
Stücke zu schreiben. Namentlich liebte er es, Fortsetzungen, zu andern
Stücken zu liefern. So hatte er eine Fortsetzung von Kabale und
Liebe gemacht, in welcher der Prozeß Wurm's und des Präsidenten
verhandelt wurde und die beiden Bösewichter in scheußlichster Gestalt
dastanden. Auch eine Fortsetzung von den Räubern besaß er, in wei-
eher Karl Moor sich selbst vor Gericht stellt, wobei ein edler Fürst
unerkannt mit zu Gericht sitzt und den großen Räuber zuletzt für eine
edle, verkannte Tugend erklärt und ihn zu hohen Ehren bringt. Am
Meisten aber hielt er auf eine Fortsetzung der Kreuzfahrer von Kotzebue,
die er auch aller Orten zur Aufführung brachte. In dieser kam Alles
um. Ritter Balduin von Eichenhorst und seine Emma wurden bei der
Rückkehr von Räubern erschlagen und der treue Walter und Konrad
gingen wieder nach dem gelobten Lande, um als fromme Einsiedler
ihr Leben zu beschließen und das schwergeprüfte Liebespaar zu beweinen.
Dabei trafen sie den allen Emir der Seldschucken, der auf dem Grabe
seiner Tochter Faune, die vor Liebeskummer gestorben war, rührende
Klagetöne von sich gab. Wir führten das Stück auf. Hengst spielte
den alten Emir. Die Scene war das Grab Fatimen's. Langsamer
Schrittes tritt Hengst auf, das Gesicht verhüllt mit den Händen. Er
bleibt stehen, nimmt die Hände vom Gesicht, wirft einen bangen, schmerz¬
lichen Blick nach oben, dann einen nach unten auf das Grab Fatimen's,
sein Gesicht verzieht sich zum Weinen, er verhüllt es wieder mit den
Händen. Große Pause. Drei Schritte vor. Mit winselnder Stimme
spricht er dann zu zwei mit ihm gekommenen Seldschucken: „Laßt mich
allein." Die Kerle gehen. Er sieht ihnen lange nach und spricht
salbungsvoll: „Vaterschmerz verträgt keine Zeugen." Dann wendet er
sich gegen das Grab, seufzt dreimal und spricht: „Seit fünf Jahren
komme ich täglich hierher und täglich leere ich auf'ö Neue den Kelch
des Schmerzes." Große Pause. Er macht das just wie Jemand, der
eine versiegelte Flasche mühsam entpfropft und dann trinken will —
umständlich kam er nach und nach auf den Punkt, wo er in Schmerz
ausbrechen wollte. Jetzt trat er dicht an das Grab, wischte eine Thräne
aus dem Auge, warf sich mit aller Gewalt über den Hügel und rief
mit heulender Donnerstimme: „Fatime, Fatime, hast du mich auf ewig
verlassen!?" In diesem Augenblick ließ ein Kater auf dem Boden ein
zärtliches Miau erschallen. Den Kopf halb abgewandt, rief er „Phe"
in die Coulisse, und 5amie kein Wort seiner Dichtung verloren gehe,
begann er von neuem nach gehöriger Vorbereitung: „Fatime, Fatime,
hast du mich auf ewig verlassen!?" „Miau" war die Antwort von
oben. Jetzt ward er böse — halbuntcrdrückt rief er in die Coulisse.-
„Schaffr den verfluchten Kater fort!" — und begann zum dritten Male
seine schmerzlichen Vorbereitungen und rief zum dritten Male: „Fatime,
Fatime hast du mich auf ewig verlassen!?" Da erhob sich ein Poltern
auf dem Boden; Dienstfertige wollten den Kater verjagen und das
Thier stürzte herunter, dicht vor das Grab hin, sah sich einen Augen¬
blick erschrocken um und lief dann an einer Coulisse in die Höhe. Das
war zu viel! Hengst verlor die Geduld, riß seinen krummen Säbel
aus der Scheide und ging auf den Kater los, der überall Menschen
sehend an der Coulisse hängen blieb und ihn nach Katzenart anfletschte.
Erschrocken sprang der tapfere Emir zurück und hier ließen wir den
Vorhang unter schallendem Gelächter des Publicums fallen.
Lange hielt ich es in diesen engen Verhältnissen nicht aus und
entschloß mich bald zur Weiterreise. Zebra jedoch hatte alle Spann¬
kraft bereits verloren, er verbarg sich bei Hengst zum Decorations-
maler, nach Art aller schwachen Menschen, die eine Hülfe, eine Ver¬
besserung ihrer Lage immer von außen her erwarten und ihre eignen
Kräfte nicht anstrengen wollen, die, wenn sie einmal einen Aufschwung
zu eigner Thätigkeit genommen haben, gleich ermattet wieder zurück¬
sinken und nun zur Belohnung dieses Aufschwunges um so eher äußere
Einwirkungen begehren und über die Undankbarkeit der Menschen und
die Erbärmlichkeit der Welt bitter murren, wenn sie nach wie vor in
ihrer schlechten Lage bleiben, die sie doch sell>se verbessern könnten, wenn
sie Muth und Thätigkeit entfalten wollten.
Nachdem ich nun meinen Körper, meinen frischen Muth und meinen
Beutel etwas gestärkt hatte — der letztere war freilich immer noch sehr
schwach — wanderte ich weiter. In Birkenhain ward eben ein neues
Stadttheater auf Actien eingerichtet, allein ich fand daselbst kein Unter¬
kommen und wurde von einem berühmten Manne, der an der Spitze
stand, ziemlich kurz und barsch abgewiesen. Der Abend überraschte
mich bei einem kleinen Dorfe. Ich beschloß da zu übernachten und
traf bei meinem Eintritt in das Wirthshaus meinen Unglückskameraden
Gaul aus Schlchdorf, an einem Tische sitzend, auf welchem eine Masse
bunter Lappen umherlagen. Er freute sich sehr, mich zu sehen, und
erzählte mir, seine Frau habe ein Unterkommen bei einer kleinen Ge¬
sellschaft gefunden, wo sie sousfliren müsse. Er habe sie da gelassen
sammt den Kindern und sie müsse sehen, wie sie sich durchdringe. Er
sei nun auf der Reise, um ein Unterkommen zu suchen. Ich fragte
ihn, was er mit den Lappen mache. Er seufzte etwas und sagte:
„Am sechsten Abend meiner Wanderschaft kam ich hier an, ermüdet,
mit wunden Füßen, ohne einen Pfennig Geld, also gänzlich außer
Stande, meine Wanderung fortzusetzen und dringend einiger Tage Ruhe
bedürftig. Sie werden gesehen haben, daß das Dorf ziemlich groß
und wohlhabend ist, ich beschloß also, die Bauern etwas zu brant-
schätzen. Da nun mit Musik und Declamiren bei den Leuten nichts
auszurichten ist, so siel ich auf ein Puppentheater. Der Wirth, ein
spaßhafter Mann, fand meinen Gedanken vortrefflich und erlaubte mir,
in der an die Wirthsstube stoßenden Kammer meine Bühne aufzu¬
schlagen. Ich begab mich rüstig an's Werk. Mit Kreide, Kienruß
undBolus— andere Farben sind im Dorfe nicht aufzutreiben, schmierte
ich mir einige Decorationen zusammen, ans alten Latten nagelte ich
eine Bühne zurecht. Die Thür der Kammer sollte den Vorhang ver¬
treten, das Wirthszimmer die Zuschauer fassen. Die Bauern waren
ganz begeistert für die Puppenkomödie und ich gab mich nun daran,
die Puppen zu machen. Ich nahm zu ihnen weiße Rüben, die sich
am leichtesten schneiden lassen, schnitzte schöne, mit weiß, roth und
schwarz angestrichene Gesichter und die Buben des Wirths schleppten
mir Lappen zu Kleidern aus dem ganzen Dorfe zusammen. In drei
Tagen hatte ich Alles fertig, heute Abend sollte die Sache vor sich
gehen. Nachdem Alles in Ordnung war, setzte ich mich an die Thür
der Wirthsstube und erhob von jedem Bauer einen Silbergroschen.
Bald war die Stube voll und ich gehe frohen Muthes hinter in die
Kammer, um anzufangen. Denken Sie sich meinen Schrecken, ich
finde die Kammerthür offen, finde die Schweine in der Kammer und
die Bestien haben alle meine Puppen aufgefressen. Die Bauern murr¬
ten gewaltig über ihre getäuschte Hoffnung, mußten sich aber mit dem
Versprechen zufrieden geben, daß die Komödie übermorgen Abend statt¬
finden solle. Da sitze ich nun wie der große Mann auf den Ruinen
von Karthago — hier sind die zerfetzten Reste meiner Künstlergesell-
schaft." Ich mußte über das Abenteuer lachen und tröstete den armen
Gaul so gut ich konnte. Er lud mich ein, bei ihm zu bleiben und an
seinem Unternehmen Theil zu nehmen, wovon er sich noch immer gol¬
dene Berge versprach, allein das lag zu sehr außer meinem Zwecke
und ich machte ihm begreiflich, daß, wenn Zwei theilen sollten, der
Gewinn zu unbedeutend sein würde. So reiste ich am andern Tage
ab. Wie Gaul mit seinem Puppenspiel zurecht gekommen ist, weiß ich
nicht, doch las ich bald darauf, er sei an einem der ersten deutschen
Stadtiheatcr für ein erstes Fach mit bedeutendem Gehalte angestellt
und Liebling des Publicums,
In EUerhausen ward mir eine Anstellung angeboten, doch sollte
ich im Chor eintreten. Das erachtete ich für einen Rückschritt. Zwar
war ich jetzt das Reisen müde, ich hatte bereits fünfzig Meilen zu
Fuße gemacht und bedürfte in jeder Beziehung der Ruhe. Ich schwankte
schon, ob ich das Anerbieten annehmen sollte, da fiel mir eine Anzeige
in einer Zeitung in die Hand, zufolge welcher in Espenwalde Schau¬
spieler gesucht wurden. Das schien mir ein Wink des Schicksals —
ich richtete meinen Marsch nach Espenwalde. Ach, ich wußte nicht,
wohin ich ging- Dieser Ort lag noch zwei und eine halbe Tagereise
— für einen Fußgänger — von Ellerhausen — und mitten in einem
öden Gebirge, in einer der unwirthbarsten Gegenden Deutschlands.
Am dritten Tage kam ich in die Berge. Von Straßen war da keine
Rede, bergauf, bergab zog sich über kahle Berge ein breiter Weg,
wenn man das einen Weg nennen kann, wo in der Breite einer Vier¬
telstunde Radspuren zweirädriger Karren eine Richtung andeuten. Ich
ging vier Stunden, ohne einen Menschen, ohne ein Haus zu sehen,
selbst Thiere kamen mir nicht zu Gesicht. Mich überfiel eine förmliche
Bangigkeit. Allein in der gräßlichen Oede, von dem Bergsteigen er¬
müder, von der drückenden Sonnenhitze erschöpft, verlor ich allen Muth;
hundert Meilen von der Heimat!) entfernt, im Umkreise von vielen
Stunden keinen Menschen wissend, der mich kannte, dabei ohne alle
Mittel, kam ich mir so unglücklich vor, mein Gemüth war so nieder¬
gedrückt, daß ich nichts mehr hoffte. Plötzlich erblickte ich, auf dem
Gipfel eines Berges angekommen, eine Pappelreihe, ein Chausseehaus
— und der Anblick dieser ersten Spur von Cultur wirkte in meiner
niedergedrückten Stimmung so mächtig, daß mir die Thränen aus den
Augen stürzten. Mir war, als liefe ich nach harter Lebensfahrt in den
Hafen der bergenden Heimach ein. — Ich kam nach Espenwalde und
spielte schon am andern Abend meine Antrittsrolle. Dieses Städtchen
lag fern von allem Verkehr und aller Berührung mit der Welt. Meine
Wohnung war sehr billig — sie kostete einen Thaler monatlich —
bot mir aber nichts, als einen mit Laub gefüllten Bettsack mit baum¬
wollner Decke, einen hölzernen Tisch und Stuhl. Die Cultur war so
weit zurück, daß die gewöhnliche Bequemlichkeit wohnlicher Gemächer
in Espenwalde zu den Luxusartikeln gehörte. Und doch hatten wir
einen der schönsten Säle zur Bühne. In einer großen, gewaltigen
Abtei — ein deutscher Kaiser hatte sich einst darein zurückgezogen —
war uns das Refektorium eingeräumt worden, ein Saal von so großer
Ausdehnung, daß man wohl sehen konnte, die alten Mönche predigten
gern von Entsagung, übten sie aber selbst nicht. Die Gesellschaft be¬
stand aus kaum acht Personen und war jämmerlich — und doch habe
ich da sechs nicht unangenehme Wochen verlebt. Die Umgegend war
herrlich und bot die prachtvollsten Spaziergänge — Zeit hatten wir
genug, diese zu besuchen. - Von Fortschritten in der Kunst konnte
nun allerdings die Rede nicht sein, denn das Theater ward ziemlich
handwerksmäßig betrieben. Die Schauspieler, mit denen ich zusammen
war, gehörten eben nicht zu den vorzüglichern unsers Standes. Leute
ohne alle geistige und sittliche Bildung, ohne eine Spur von Talent
oder Verständniß Dessen, was sie thaten oder wollten. Nur ein junger
Mann, Namens Hirsch, machte eine Ausnahme. Er spielte Liebhaber
und Naturburschen und bekleidete nebenbei das Amt eines Musttdirec-
tors, wenn wir uns einmal zu einem Liederspiel oder einem Vaude-
ville verstiegen. Hirsch war ein seltsamer Mensch, der die Lücken seiner
Bildung durch fleißiges Lesen auszufüllen suchte, denn seine ganze
Erziehung hatte sich darauf beschränkt, ihn Musik lehren zu lassen.
Sie werden das meistens bei den Schauspielern finden, daß sie für
ihre Kinder musikalische Kenntnisse nicht nur für das Wesentlichste,
sondern auch einzig Nothwendige halten. Sie^ sehen ja täglich, wie
die Sänger so viel besser bezahlt werden, als die Schauspieler, und
den Meisten ist ein guter Sängcrgehalt der Gipfelpunkt der Wünsche,
die sie für ihre Sprößlinge hegen. Hirsch hätte eine sehr gute Er¬
ziehung erhalten können, denn seine Aeltern waren in den glänzendste»
Verhältnissen gewesen. Sein Vater hatte in der günstigsten Zeit der
gewaltigen, jahrelang dauernden Truppenbewegungen im Anfang dieses
Jahrhunderts in den ersten Städten Hollands und Belgiens ein deut¬
sches Theater geführt und sehr viel Geld verdient, so daß er mit vier
Pferden zu fahren pflegte. Allein zusammenzuhalten mochte er nicht
verstanden haben. In der nach dem Frieden folgenden Zeit, wo die
Theater überall schlechte Geschäfte machten, hatte er nach und nach
Alles wieder eingebüßt, so daß er in seinem Alter ebenso arm wie
vordem reich war. Er starb übrigens einen merkwürdigen Tod. Bei
einem Volksaufstand, wo es zu blutigem Kampfe mit den Truppen
kam, ging der alte Mann, ohne Ahnung, was geschah, vielleicht auch
auf der Straße von dem Lärm überrascht, in der Absicht, seine Woh¬
nung zu erreichen, um eine Straßenecke, als eben die Truppen Feuer
gaben. Eine wohlthätige Kugel machte seinem Leben augenblicklich
ein Ende. Er war das einzige Opfer, das der Tod in diesem Auf¬
ruhr erheischte — und starb mitten in einer großen Volksheere, deren
ähnliche er so oft auf der Bühne zur Darstellung eingerichtet haben
mochte. Seinem Sohne war von seinem glänzenden, wechselvolle»
Leben nichts übrig geblieben, als die Erinnerung, die er auch sorgsam
pflegte. Ohne Gaben, Großes zu erreichen, ohne Fähigkeit, in das
bürgerliche Leben einzutreten, war er verdammt, sein Leben lang in den
erbärmlichen Verhältnissen kleiner Bühnen zuzubringen, ein Loos, daS
viele, wenn nicht die meisten Kinder von Schauspielern trifft. Selten
haben Schauspieler, wenn sie nicht Jahre lang an einem Orte bleiben,
Gelegenheit, ihren Kindern eine gute Erziehung zu geben. Der öftere
Wechsel des Aufenthalts reißt die Kinder immer wieder aus ihrer Schul-
laufbahn heraus, sie müssen fast überall von vorn anfangen. Dabei
vermeiden es die meisten Schauspieler nicht, ihre Kinder das Theater
besuchen zu lassen und das wirkt nachtheilig auf dieselben ein. Denn
die bunten, wechselvollen Bilder, welche die Bühne zeigt, beschäftigt
vorzugsweise die Einbildungskraft der Kinder, regt diese mehr an, als
die andern geistigen Fähigkeiten und bringt letztere natürlich in eine
Unterordnung. Diese Kinder kennen daher von Jugend auf auch kei¬
nen andern Lebenszweck, als selbst Schauspieler z» werden', eS fällt
ihnen meistens nicht ein, etwas Anderes zu ergreifen und, begabt oder
nicht, widmen sie sich der Bühne. Dazu kommt, daß sie von Jugend
auf den Schimpfnamen Komödiant hören müssen — denn das Vorur¬
theil der Welt, das sich bei Erwachsenen aus Höflichkeit oft nicht äußert,
spricht sich bei Kindern unverhohlen aus — und Sie mögen jedes
Schauspiclerkind fragen, ob es nicht von seinen Schulkameraden fort¬
während mit jenem Spitznamen genannt worden ist. Dies Alles zu¬
sammengenommen scheidet die Schauspielerkinder gewissermaßen vom
bürgerlichen Leben, erweckt eine Abneigung gegen dasselbe, macht sie
unfähig, dasselbe lieb zu gewinnen oder darein einzutreten, und so wer¬
den Sie leicht die eigenthümliche Richtung, die eigenthümlichen Grund¬
sätze vieler Schauspieler sich erklären können, die im Leben selbst eine
gewisse Vereinzelung einnehmen, aus der sie weder heraustreten können
noch wollen, und in die sie von dem Vorurtheile der Welt immer wie¬
der zurückgewiesen werden.
Hirsch war der Einzige, dessen Umgang mir behagte; er war ein
guter sitilicher Mensch, und seine Lernbegierde gab uns viel Gelegen¬
heit zu gegenseitigem Austausche. Ich war einst mit ihm spazieren
gegangen, als uns ein Mensch mit blauem Kittel und zugleich zerrisse¬
nem Schuhwerk begegnete, der uns nach dem Theater in Espenwalde
fragte. Seine reine deutsche Aussprache fiel uns auf, da wir gewohnt
waren, überall nur die Mundart des Landes zu hören; er hatte einen
schönen Kopf, mit hervorstechend edler Nase und langes, ihn gut klei¬
dendes Haar — seine Frage nach dem Theater machte uns noch mehr
stutzig — da schoß es wie ein Blitz durch meine Seele, — Panther
stand vor mir. Wir sagten ihm Bescheid und eilten weiter. Ich hatte
Panther früher gekannt, er war einer der talentvollsten Schauspieler,
die ich je gesehen hatte. Sein Name tönte noch in meinen Jugend-
erinnerungen. Ich entsann mich seiner Gastspiele, die das Publicum
meiner Vaterstadt zu lauter Begeisterung hinrissen — sein Name zählte
unter den berühmtesten der deutschen Schauspieler. Und in diesem
Aufzuge? Er war früher bei den ersten Bühnen Deutschlands mit
einem Gehalte angestellt, wie er nur den Ausgezeichnetsten bewilligt
wird, er war an vielen Orten der gefeierte Liebling des Publicums
gewesen, der Fürst von * * " hatte mehrmals seine bedeutenden Schul¬
den bezahlt, um ihn seiner Bühne zu erhalten — und dieser Mann
in diesem Aufzuge? Ich entsann mich seiner immer mehr, mir sielen
die Erzählungen ein, die ich über ihn gehört. Von jeher hatte er eine
tolle Verschwendung geübt, und namentlich die Freuden der Tafel und
das Spiel hatten seine Vermögensumstände zerrüttet. Oft war ihm
von außen Hülfe angeboten und geleistet worden — aber immer ver¬
geblich. Seine immer steigende Genußsucht hatte seine besten Freunde
gezwungen, ihn fallen zu lassen und den Mann, der früher in fürstli¬
chen Kreisen ein willkommener Gast gewesen war, trafen wir jetzt auf
der Landstraße, in der Gestalt eines Bettlers. Ein so bedeutendes Ta¬
lent, ein so reich begabter Mensch ohne allen sittlichen Halt, ohne al>
im Charakter! Welch ein Räthsel. Ein Mensch, der das Schöne und
Edle so trefflich darzustellen vermochte, mußte er nicht auch von ihm
ergriffen sein, mußte er eS nicht in seinem Innersten fühlen? Und doch
konnte er es nicht zur Ausführung bringen?
Als wir zurückkehrten, erhielten wir die Nachricht, Panther werde
morgen spielen und zwar den Traffaldino in Goldoni's altem Lust¬
spiele: „Der Diener zweier Herren." Wir waren sehr gespannt. Der
andere Morgen, mit ihm die Probe, kam heran. Panther erschien in
geliehenen Kleidern, aber sein ganzes Wesen, seine Art und Weife, sich
zu benehmen, machte einen großen Eindruck — man sah in ihm den
Mann, der in den besten Kreisen gelebt hatte; er besaß noch jene Fein¬
heit, jene Würde, die einen vornehmen Mann bezeichnen. Er spielte
in der Probe meisterhaft — ach, ich hatte lange eine solche Darstel¬
lung nicht gesehen. Diese Beweglichkeit, diese verschmitzte Dummheit,
diese Schelmerei, die er in die Rolle legte, die Gewandtheit, die plumpe
Grazie, das Mienensptel, mit dem er Alles darstellte, war unübertreff¬
lich. Ich gewann den Mann förmlich lieb. Die Probe war zu Ende,
er fing mit uns ein Gespräch an, wir traten auf sein Begehr in ein
Wirthshaus er forderte Rum. Ich erschrak, denn ich hatte be¬
merkt, daß er schon vor der Probe etwas getrunken haben mußte.
Doch wir konnten ihn nicht hindern. Wie änderte sich der Mann
nach dem ersten Glase! Er stieß einen tiefen Athemzug aus, wie ein
von schweren Träumen Erwachter, und begann uns seine letzten Fahr¬
ten zu erzählen. Während der Erzählung trank er immer mehr und
immer mehr kam eine bodenlose Gemeinheit zum Vorschein. Er war
überall mit seinen Bitten um Gastspiel und Anstellung abgewiesen wor¬
den — wir konnten uns jetzt wohl erklären, aus welchen Gründen —
und ergoß sich nun in den lebhaftesten Schimpfreden über die Direk¬
tionen, über die Jämmerlichkeit der Welt, die einen Mann von seinen
Verdiensten nicht zu würdigen wisse. In buntem Gemisch kamen
Bruchstücke aus seinem Leben zum Vorschein, die Namen der berühm¬
testen Männer, der hochgestelltesten Personen waren ihm geläufig. —
Er hatte ein reiches Leben genossen und war jetzt so tief gesunken, daß
er erbittert nach der Hohe zurückblickte, auf der er einst gestanden, von
der er doch durch eigne Schuld gestürzt war. Allein diese Einsicht
war bei ihm nicht zum Durchbruch gekommen. Er glaubte sich ge¬
mißhandelt, glaubte unverschuldetes Elend zu tragen — und diese Mi¬
schung von Stolz und Anmaßung, die sich in den gemeinsten Aus¬
drücken aussprach, machte einen widerlichen Eindruck. Endlich fing er
an, Zoten zu erzählen; wir versuchten, ihn zum Fortgehen zu bewe¬
gen, es war unmöglich. Unser Zureden erwiderte er mit Schimpfen,
er war zuletzt gärylich betrunken, legte den Kopf auf den Tisch und
schlief ein. Wir mußten ihn da lassen. Zwei Stunden vor Anfang
des Theaters ging ich wieder in das Wirthshaus. Er war eben er¬
wacht und saß mit stierem Blicke am Tische. Das große, schöne Auge
war matt und trübe, die Gesichtszüge schlaff, sein ganzes Aussehen
matt. Ich wollte ihm Kaffee bringen lassen, er aber schlug das aus,
meinte, ihm sei unwohl von der langen Fußreise und bat um ein Glas
Rum. Ich stellte ihm vor, daß dies seinen Zustand verschlimmern
müsse und bat ihn, jetzt nichts zu trinken. Er sah mich mit unge¬
wissem Blick an und sagte: „Wenn Sie meinen — der Rum ist ohne¬
hin schlecht." Ich forderte ihn auf, mit mir zu gehen, er erhob sich
schwerfällig und folgte mir ohne Widerspruch. Ich meinte ihm einen
Dienst zu leisten, wenn ich ihn in die frische Lust führte und wir gin¬
gen nach dem Walde zu, doch klagte er bald über Müdigkeit, setzte
sich nieder und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm. Ich
setzte mich zu ihm, sprach mit ihm, doch er schlief wieder ein. Nach
einer halben Stunde weckte ich ihn und rief ihm zu, es sei Zeit in
daS Theater zu gehen. Wie von einem elektrischen Schlage getroffen
fuhr er bei diesem Worte auf, rief: „Ja, ja — kommen Sie " und
eilte mir voran. Doch bald ward sein Schritt langsamer, er schleppte
sich nur mit Mühe fort. Vor dem Thore stand ein Wirthshaus. Er
blieb stehen und sagte leise, mit niedergeschlagenen Augen: „nur einen
Schnaps." Mir ward klar, daß er ohne etwas zu trinken keine Spann»
kraft habe — ich willfahrte ihm. Mit ven Trunke kehrten seine Le-
bensgeister zurück, er ward höflich, gesprächig, ein anderer Mensch.
Wir kamen in das Theater. Mit der höchsten Sorgfalt zog er sich
an und schminkte sich. Als das Stück beginnen sollte, meinte ich, in
seinem Auge wieder einen stieren Glanz zu erblicken. Der Vorhang
hob sich, er spielte ausgezeichnet, doch bemerkte ich hier und da Pausen,
die mir auffielen, es war, als müsse er sich besinnen. Im Zwischen¬
acte endlich sah ich, wie er verstohlen aus einer Flasche trank, die er
zwischen seinen Kleidern versteckt hatte. Wahrscheinlich hatte er irgend
einen Dienstfertigen gefunden, der ihm Schnaps geholt hatte. Schon
wankte er, und in der Mitte des zweiten Auszugs war er so betrun¬
ken, daß er nicht weiter spielen konnte. Da ward mir klar: „hier war
keine Rettung mehr." Er konnte eben so wenig ohne zu trinken leben,
als er im Trinken Maß zu halten vermochte. Von einem fernern
Auftreten konnte natürlich nicht die Rede sein. Er wanderte so arm¬
selig fort, als er zu uns gekommen war, wahrscheinlich anderwärts
erzählend, wie schlecht er bei uns behandelt worden» Nach einem hal¬
ben Jahre las ich, daß er, als Landstreicher von der Gensd'armerie
aufgegriffen, in einem öffentlichen Krankenhause gestorben sei. So
endete ein Mann, der, mit den herrlichsten Talenten begabt, eine der
schönsten Stellungen in der menschlichen Gesellschaft eingenommen
hatte, in dem jämmerlichen Elend der Gemeinheit. Nie habe ich die
dämonische Macht des Lasters in der Art gesehen, wie bei Panther.
Er war ihr unrettbar verfallen. Denn Körper und Geist waren bei
ihm so abgestumpft, daß sie in der That nicht lebten, wenn der Geist
deö Branntweins ihre Kraft nicht anfachte, und war dieser erst zu
seinem Rechte gelangt, so besaß ver Aermste keine Willenskraft mehr,
seinen Lockungen zu widerstehen, bis der elende Körper eben so unfähig
war, das Uebermaß zu ertragen, wie vorher den Mangel. In dem
Zustande seiner letzten Lebensjahre, also für sein gänzliches Versinken
war Panther nicht mehr zurechnungsfähig, aber von der Schuld, über¬
haupt dahin gekommen zu sein, kann ihn Niemand freisprechen. Oder
sollte Mangel an Charakterfestigkeit die Zurechnungsfähigkeit überhaupt
aufheben? Auch Panther war ein Schauspielerkind — auch bei ihm
fand vielleicht jenes Mißverhältniß der Ausbildung und Erziehung
statt, welches ich vorhin erwähnte. Auch Zebra, mit dem ich meine
Reise angetreten hatte, ging diesem Schicksal entgegen — der Unter¬
schied zwischen ihm und Panther bestand nur darin, daß Letzterer ge¬
nialer war, daß Ersterer dagegen bet nüchternem Muthe sein Verderben
vor Augen sah und oft bittere, verzweiflungsvolle Thränen weinte,
weil er selbst die Kraft in sich nicht fühlte, den Lockungen des Trin¬
kens zu widerstehen, gleich wie ein armer Vogel nicht die Kraft hat,
dem glühenden Blick der Schlange auszuweichen und zuletzt rettungs¬
los in ihren Rachen fällt. Und auch Zebra war ein Schauspielerkind.
Möchten doch alle Schauspieler das bedenken und ihre Kinder vor
häufigem Besuch des Theaters fern halten, bis der reifer gewordene
Geist in späterem Alter im Stande ist, die blendenden Eindrücke auf
die Einbildungskraft zu verarbeiten und in'S Gleichgewicht zu bringen.
Neben diesen zwei Beispielen eines gänzlichen Versinkens in das Elend
sind mir noch mehrere aufgestoßen. Ich kannte eine Frau, die einst
als tüchtige Sängerin geglänzt hatte und so weit heruntergekommen
war, daß sie ihre eigne Tochter verkuppelte, um Brod — und Brannt¬
wein zu haben.
Und noch voriges Jahr kam ein Mann nach Ulmhain, den ich
auch auf einer hohen Stufe der Künstlerlaufbahn gesehen hatte und
der als Bettler förmlich auftrat, eine Gabe zur Weiterreise heischend.
Er hatte keine vorherrschende Leidenschaft, allein eine bodenlose Anma¬
ßung, ein grenzenloser Dünkel hatten ihn überall unerträglich gemacht.
So lange er noch jung und kräftig war und seine Leistungen das
Publicum hinrissen, ertrug man diese Anmaßung — sobald er aber
nicht mehr einen ersten Rang unter den Künstlern einnahm, wandte
man ihm den Rücken — und er kam als Bettler in die Städte, deren
Publicum ihm sonst Kränze geworfen hatte. Sein Geschick erscheint
mir vor allen das verdienteste, denn einer Leidenschaft unterliegen ist
am Ende ein Besiegtwerden von einer dämonischen Gewalt, während
dünkelhafte Anmaßung nicht Charakterschwäche, sondern Charakter¬
fehler ist.
Bei der Espcnwalder Gesellschaft zu bleiben, konnte mir nicht
einfallen und als ich mich etwas erholt hatte, setzte ich meine Reise
fort. Ich wandte mich seitwärts, wo noch einige große Städte lagen.
In Eschendorf war ein Theater, man sagte mir, ein fürstliches.
Eschendorf lag mir im Wege — ich ging hin und fand eine Anstel¬
lung. Allein das fürstliche Theater war im Grunde nichts mehr als
eine untergeordnete, reisende Gesellschaft. Der Fürst von Eschendorf,
ehemals reichsunmittelbar, jetzt mediatisirt, besaß eine ungemeine Liebe
für das Theater, allein nicht Vermögen genug, um ganz aus eignen
Mitteln eine Gesellschaft zu erhalten; Eschcndorf aber war ein ganz
kleines Städtchen, wo das Publicum auch nichts für ein Theater thun
konnte. Um nun doch seine Neigung in etwas befriedigen zu können,
hatte der Fürst in seinem Schlosse ein allerliebstes Theaterchen bauen
lassen und ließ alljährlich eine reisende Gesellschaft dahin kommen, die
dort einige Monate spielen mußte, wobei er freilich die Kosten beinahe
allein bestritt. Deshalb konnte er auch immer nur eine kleine Gesell¬
schaft kommen lassen, weil ihm eine größere zu theuer geworden wäre,
und die Kunst in Eschendorf erhob sich selten bis, nie über die Mit¬
telmäßigkeit. Der Fürst war ein freundlicher, zuthunlicher Mann, der
sich immer auf dem Theater herumtrieb, die Dekorationen ordnete, selbst
den Rock abwarf und arbeiten half und seine Freude an allen den
kleinen Anordnungen hatte, die zur Aufführung eines Stückes gehören.
Daß die Versenkungen gut gingen, daß die Donnermaschine gut pol¬
terte, daß alle Verwandlungen, daß die Garderobe, Requisiten und
Alles in Ordnung war, machte seine Hauptsorge aus. Uebrigens ließ
er sich mit den Schauspielern nicht weiter ein, als daß er freundlich
mit ihnen sprach, wenn sie ihm begegneten, er wurde aber dennoch
von vielen Bitten und Anforderungen belästigt.
Ich war etwa drei Wochen in Eschendorf und mein Aufenthalt
daselbst ist mir nur einer Sonderbarkeit wegen merkwürdig. Eines,
Tages befand ich mich bei dem Direktor, der zu ebner Erde wohnte/
als ein Schubkarren hochgepackt voll Noten vorgefahren wurden und
bald darauf ein schwarzgekleideter Mann in das Zimmer trat. Er
stellte sich als Schullehrer und Musikfreund vor und eröffnete dem
Direktor, er habe eine Oper componirt und bäte ihn, dieselbe zur Auf¬
führung zu bringen. Der Stoff sei die Braut von Messina von
Schiller. Partitur, Orchesterstimmen, Chor- und Solostimmen, Alles sei
fertig ausgeschrieben, es walte gar kein Hinderniß ob und würde keine
Kosten verursachen. Die ganze Oper läge vollständig draußen auf
dem Schubkarren. Wir sahen uns an, der Schubkarren war so voll
gepackt, daß man hätte meinen sollen, er enthielte wenigstens sechs
vollständige große Opern. Der Direktor machte dem Componisten
begreiflich, ehe man an eine Oper gehe, müsse man den Teint kennen
und bat ihn um das Buch. Verwundert fragte der Schullehrer, ob
er denn die Braut von Messina nicht im Hause habe. Ganz erstaunt
sahen wir uns an — aber es war so, der Mann hatte die ganze
Braut von Messtna componirt. Dabei hatte er etwas so Treuher¬
ziges, Unbefangenes in seinem ganzen Wesen, daß wir ihn nicht ohne
Weiteres abweisen konnten, so unausführbar auch sein Begehren war.
Wir ließen die Oper heraufschaffen und den Musikdirector rufen, um
sie anzusehen. Mittlerweile machte sich der Schullehrer an die Frau
des Direktors und versprach ihr zwei Stücke schone Leinwand, wenn
eeine Oper au die Bünebeörderte.
Der Musikdirektor kam und sah die Partitur durch. Das ganze
Stück war beinahe im Sechsachteltact componirt und war auch nicht ein
Flinken schöpferischen Geistes darin, es war völlig unbrauchbar. Al¬
lein die Stimmen waren alle mit einer Sauberkeit, einem Fleiße aus¬
geschrieben, daß man meinte, gestochene Noten zu sehen. Wie der Di-
rector mit dem armen Künstler fertig geworden ist, ob er ihn von der
Unmöglichkeit, die Oper aufzuführen, überzeugt hat, weiß ich nicht,
denn ich entfernte mich bald. Für mich hatte die Sache etwas unend¬
lich Rührendes. Ich sah den Mann vor mir, der einige Jahre in ee-
ner großen Stadt seinen Studien obgelegen und dort die Genüsse der
Kunst kennen und schätzen gelernt hatte, und nun auf ein einsames
Dorf verbannt ist, abgeschnitten von alle dem, was dereinst seine ju¬
gendliche Einbildungskraft entflammte. Doch vergessen kann er es nicht.
Und weil das einförmige Leben außer ihm keine Befriedigung ihm ge¬
wahrt, flüchtet er sich auf sein einsames Stübchen, um seinem innern
Drange durch Selbstschaffen zu genügen. Eine Oper will er schreiben.
Dunkel steigt bei diesem Entschlüsse der Gedanke dereinstigen Erfolges,
Ruhmes auf — er wird wärmer, sein Stübchen dehnt sich ihm zu ei¬
ner Welt aus. Doch er hat kein Buch, das er componiren könnte.
Allein ist die Braut von Messina nicht opernartig? Die herrlichen
Chöre, sollen sie nicht singbar sein? Klingen die Verse nicht schon
wie Musik? Läßt die herrliche Lyrik der Dichtung nicht den Ausdruck
durch den Ton zu? Er componirt die Braut von Messina. Ein un¬
geheures Unternehmen! Jahre lang sitzt er in seinem Stübchen, mit
unermüdetem Fleiße reiht er Ton an Ton, Note an Note — endlich
ist er fertig! Doch nun muß es aufgeführt werden, sonst bleibt es
todtes Werk. Allein er hat von den Schwierigkeiten gehört, die neuen
Werken entgegenstehen, ehe sie auf die Bühne kommen. Er beschließt,
die Schwierigkeiten zu überwinden, so weit er könne, er will die Oper
dem Theater bringen, daß sie ohne weiteres zur Aufführung gelangen
kann und er gibt sich daran, sie vollständig auszuschreiben. Wieder
eine Riesenarbeit, die ihm Jahre kostet. Nun ist er fertig. Er schreibt
manchen Brief, in dem er sein Werk anbietet — und erhält vielleicht
keine Antwort. Sein Wunsch, die Oper zu hören, wird immer glü¬
hender, all sein Sinnen und Denken drängt sich in dieser Oper zu¬
sammen. Sie ist der Schatz, den er sorgsam beachtet. Wenn ihm
einfällt, es könne Feuer in seinem Häuschen ausbrechen, schaudert er
zusammen, er überlegt, wie er dann seine Oper retten könne, und ist
auf den Fall vorbereitet und gerüstet. Und immer glühender wird der
Wunsch, seine Oper zu hören. Er hat keinen andern mehr, er ist be¬
reit, für dessen Erfüllung alle möglichen Opfer zu bringen, sein Seh¬
nen wird krankhaft, eine stille Trauer lagert sich über seinen Geist, je
mehr ihm die Hoffnung schwindet — und er stirbt endlich, ohne seinen
Wunsch erfüllt zu sehen — sein letzter Blick fällt auf seine Oper. Ar¬
mer Mann, du hattest nur eins im Leben geschaffen und das war
zwecklos, du hattest nur einen Wunsch, einen kleinen, dürftigen Wunsch,
und er ward nicht erfüllt!
Doch genug von diesem Bilde. Ich erhielt plötzlich einen Brief
meines alten Directors, den ich vor fünf Monaten verlassen hatte, um
meine Kunstreise anzutreten, worin er mir meine frühere Stellung wie¬
der anbot. Zur Einsicht gekommen, daß ich erst in einem bestimmten
Fache etwas leisten müsse, ehe ich Anspruch auf eine Anstellung an
einem größern Theater machen könnte, wenn ich daselbst eben nicht un¬
tergeordnet dastehen wollte, überlegend, daß diese Gesellschaft doch eine
der größern unter den reisenden sei und recht ansehnliche, angenehme
Städte besuche, nahm ich diesen Antrag an, kehrte also nach fünf¬
monatlicher, mühseliger Wanderung auf den Punkt zurück, von dem
ich ausgegangen war.
Neulich waren Sie selbst Zeuge der Erfolge von Laube's „Karls¬
schülern" auf unserer Bühne; jetzt lassen Sie mich die angenehme Pflicht
erfüllen, Ihnen über die Erfolge des Gutzkow'schen Trauerspieles und
dieses selbst zu berichten. V-n'i-,, füllt tat» lilivlli laßt sich kaum von
einer Dichtung mit größerer Wahrheit sagen, als von der dramatischen.
Oft nimmt Alles den glücklichsten Anlauf; von der ersten Leseprobe bis
zum letzten Geigenstriche der Symphonie vor der ersten Aufführung ver¬
lauft Alles unter der günstigsten Eonstcllation, und dennoch —
Nun ist zwar für Gutzkow's Acosta die Bedenklichkeit jenes Gedanken¬
strichs in keiner Weise eingetreten; aber auch dieses Stück hatte seine
Antecedentien, ernster und komischer Natur, die zum Theil die Parodie auf
ein früheres Lustspiel unsers Dichters machen zu wollen schienen. Ge¬
spannt waren Alle durch Gutzkow's Namen an sich, durch seine neue
Stellung zur hiesigen Hofbühne, kraft deren doch wohl Dieser oder Jener
ganz besondere Anforderungen an dieses Debüt machen zu können geglaubt
hat; gespannt endlich durch ein günstiges Vorurtheil, welches leider auch
diesem Stücke vorangeflogen war; ich sage alles Ernstes: leider! weil oft
solche Vorurtheile grade das Gegentheil von Dem herbeiführen, was sie
bezwecken wollten. Stoss oder wohl mehr nur Zeit-, Ort- und Personen-
Staffage der Dichtung sind aus Gutzkow's älterer Novelle: „Der Sad-
ducäer von Amsterdam"*) entnommen. Uriel Acosta, ein Portugiese jü¬
discher Abkunft, hat in Amsterdam eine Schrift veröffentlicht, in welcher
er die Glaubenssatzungen des Zudenthums vor den Richterstuhl der Phi¬
losophie gezogen hat. Im Begriffe, vor einer Neigung seiner Schülerin,
ver schonen Judith, der dem Bau Jochai angelobten Tochter des reichen
Vanderstraaten, zu fliehen, hört er, wie sein Buch einem Glaubensrichter¬
urtheil unterworfen wird. Vom Oheime Judith's, seinem Lehrer, dem
Arzte de silva gesprochen, fällt es gegen ihn aus, und wahrend er auf
Vanderstraaten's Villa unter dessen Gästen weilt, bringt ihm der Rabbi
de Santos den Fluch der Synagoge. Alle fliehen ihn, nur Judith be¬
kennt laut und öffentlich ihre Neigung zu ihm und wirft sich in die Arme
des Geächteten. Der Vater weicht der Liebe seiner Tochter; ihr Oheim
sucht die Lösung Acosta's aus dem Fluche zu vermitteln — er soll wider¬
rufen. Das Bewußtsein der Wahrheit, das ungebeugte Recht einer in
den Tiefen des freien, ungefesselten Gedankens begründeten Ueberzeugung
drängt ihn von diesem Schritte zurück; da naht ihm seine blinde Mutter,
es nahen seine Brüder, die, von der Last des Fluches, die sich auf die
Familie gewälzt hat, niedergedrückt, mit der Greisin auswandern wollen;
seine Geliebte wirft sich in die Wagschale, und die andere, in welcher
sein Entschluß liegt, flattert empor. Er hat sich den von der Synagoge
über ihn verhängten Bußen unterworfen; schon ist er bereit, an heiliger
Stätte den Widerruf laut zu erklären — da meldet ihm sein Bruder
Rüben, daß ihre Mutter starb; aber er muß um Judith's willen wider¬
rufen. Er liest den Widerruf ab, soweit seine Kraft reicht; doch während
er sich auf die Schwelle des Gotteshauses hinwirft, daß die Gläubigen
über ihn hinwegschreiten, dringt Ben Jochai ein, verkündet, daß Judith,
um ihren Vater vor dem Sturze zu retten, ihm wiederholt ihr Jawort
gegeben hat, und schickt sich an, der Erste über den zur Buße hinge¬
streckten Nebenbuhler hinwegzuschreiten. Dies bringt Acosta zu sich selbst
zurück: in wilder Leidenschaft, daß er um zweier Leichen willen seine
Ueberzeugung geopfert, widerruft er seinen Widerruf und ladet doppelten
Fluch auf sich. Bei Judith's Hochzeitfeier irrt er mit seinem Neffen,
dem Knaben Baruch Spinoza, in Vanderstraaten's Gärten umher; die
Neuvermählte, nachdem sie von ihrem Oheim erfragt, daß ihr Vater den
Schmerz um ihre Mutter, ihren Bruder mit kalten Marmordenkmalen
abgefunden hat, nimmt Gift, und Acosta folgt ihr durch einen Pistolen¬
schuß im selbstgewählten Tode nach.
Dies ist die nackte Fabel des Stückes. Es leuchtet auf den ersten
Blick ein, wie tiefbedeutend dieser Stoff — der Kampf der Vernunft mit
der Orthodoxie — für eine Gegenwart ist, in welcher diese Glaubens-
kämpfe sich entsponnen haben: es ist ein politischer Stoff im höchsten
Sinne des Wortes. Aber der Dichter hat ihn rein von seiner poetischen
Seite aufgefaßt, er hat es verschmäht, ihn durch eine tendenziöse Behand¬
lung in den durch den Kampf um die Tagesfragen aufgewühlten Boden
herabzuziehen; durch die reinmenschliche Auffassung eines Kampfes um die
Ueberzeugung in einer Menschenbrust, durch die Conflicte der frei gedachten
^.^hrheit mit den'Banden der Familie, den Gefühlen des Herzens, sind der
Dichtung all' ihre Rechte, und zwar auf das Schönste und Edelste, gewahrt,
worden. Die Oekonomie des Stückes ist ein wahres Kunstwerk; nur der Schluß
des dritten Actes laßt eine Abänderung, der fünfte Act Kürzungen wün¬
schen. Das wahrhaft Dramatische des Stoffes hat reiche poetische Blü¬
then getrieben; keine Floskeln, Leine Tiraden rufen das verstimmende Ge¬
fühl des Gemachtem, Absichtlichen hervor; man fühlt es diesen Versen an,
daß sie aus einer von der ganzen Bedeutung des Stoffes tiefinnerlich
durchdrungenen Brust hervorgequollen sind. Das konfessionelle ist nach
seinen verschiedenen Richtungen außerordentlich treffend in den einzelnen
Charakteren hingestellt. Wahrend der Rabbi de Santos den starren
Glaubenszwang, Acosta das Recht der freien Vernunft repräsentirt, steht
zwischen ihnen der Arzt de silva; auch er hat einst über Glaubenssachen
philosophirt und wenn ihn auch das Alter auf die feste Basis des Ueber-
lieferten zurückgezogen hat, so drängt ihn doch ein unabweisbares Bewußt¬
sein von der Berechtigung des freien Denkens auf den Weg des justv-
milivu hin, auf welchem er die aneinander gerathenen Extreme zu ver¬
mitteln strebt. Am reinsten im Glauben aber steht der Overrabbi Ben-
Akiba da, denn er leugnet, daß der Glaube bewiesen werden könne.
Uebrigens gibt dieses Stück einen neuen Beleg von der glücklichen
Vielseitigkeit des Dichters in der dramatischen Poesie aller Formen; stellen
wir „Werner" und das „Urbild des Tartüffe" daneben, so sehen wir
Tragödie, Schauspiel und Lustspiel würdig vertreten. Und wenn auch
diese neueste Dichtung vielleicht nur ein kleines Publicum für sich in
Anspruch nehmen kann — denn, wie bei der Kammermusik jede Note,
will hier jeder Vers erfaßt, verstanden werden so wird doch dieses
kleine Publicum es über die ephemere Vergänglichkeit der nur mit einem
momentanen Interesse des Socialismus oder der Politik flatternden dra¬
matischen Eintagsfliegen hinaussehen; wir werden den Uriel Acosta nach
einem, nach zehn Jahren mit demselben Interesse, mit demselben poeti¬
schen Genusse wiedersehen und ihm deshalb gern und freudig den Adel
des Classischen zugestehen.
Die Darstellung war bis in die Nebenrollen eine vorzügliche, der
Beifall des zahlreich versammelten Publicums ein rauschender^ und für
Die, denen diese Thatsachen Gewicht haben, bemerke ich noch, daß der
Dichter dreimal gerufen ward.
Gutzkow's langerwartetes im Voraus vielbesprochenes Trauerspiel „Uriel
Acosta" ist endlich in Dresden gegeben worden. Die Erwartungen des Publi-
cums waren groß, der ganz ungewöhnliche Beifall zeigte, daß sie nicht getäuscht
worden sind. Der Umstand, daß Gutzkow in dieser Tragödie einen Stoff
aufnahm, den er schon vor Jahren als Novelle behandelt, zeigt, daß er
es hier mit einer Persönlichkeit zu thun hatte, die ihm besonders werth
war und deren er sich noch nicht entledigt zu haben glaubte; unläugbar
ist es ferner, daß der Dichter mit diesem Stücke einen tiefern Griff ins
Menschenherz, in die ewigen Fragen, in die Poesie sogar gethan, als er
es bisher vermocht. Die Kritik ist es also der Sache und dem Namen
des Dichters schuldig, dem Stücke eine mehr als gewöhnliche Aufmerk¬
samkeit zu schenken; nur so kann sie, wenn sie über Vieles hart abspre¬
chen muß, dem Vorwurf der Anmaßung entgehen. Zeigen wir zuvörderst
den Gang der Handlung, das Weitere wird sich leichter herausstellen.
Wir sind in Amsterdam in der Mitte des jüdischen Lebens, das
dort auf dem Boden einer jungen Republik sich in seinem Gegensatze
nur noch starrer entwickelt hat, und zwar im Hause des Arztes silva,
der sich mehr mit Talmud und Thora als mit den Aphorismen des Hippo-
krates zu beschäftigen scheint. Ben Jochai, ein reicher junger Kaufmann,
ist von langjährigen Reisen zurückgekehrt und entdeckt dem Alten, daß er
in seiner Verlobten Judith, der Tochter des alten Kaufherrn Vander-
straaten, nicht mehr das Mädchen fand, das er zurückgelassen. Uriel
Acosta, ein Portugiese, dessen Eltern sich in Portugal scheinbar zum
Christenthum bekannten, hier aber in Amsterdam zum Judenthum zurück¬
gekehrt sind, ein feuriger Forscher in Religionssachen, halb Poet, halb
Philosoph, der im Judenthume die Wurzeln eines freien Deismus sieht,
und diesen durch ein so eben geschriebenes Buch vertreten hat — Uriel
Acosta ist Lehrer dieses Mädchens geworden, und wie er ihre Seele an
sich herangezogen, ist auch ihr Herz, noch unbewußt sein geworden. Haß
und Zorn wühlen in Jochai's Brust gegen Uriel, als dieser hereintretend
seinem früheren Lehrer, silva, erklärt, er wolle abreisen, um dem Kampfe
seines Herzens zu entfliehen. Aber sein Buch hat im Schooße der jüdi¬
schen Orthodoxie Greuel erregt, die Männer des starren Dogma's wollen
Sühnung, der Rabbi de Santos übergibt Uriels Buch dem gelehrten
silva, daß er es prüfe nach dem Talmud und der Thora.
Von dem Augenblicke an, wo sein Buch den Kampf im Juden¬
thume zu wecken scheint, fühlt Acosta, daß eine Flucht aus Amsterdam
ihm nur schimpflich werden könne. Er glaubt seine Sache an Ort und
Stelle vertrecen zu müssen, den Gegnern den Beweis des Muths nicht
entziehen zu können. Alles hängt von de silva's Entscheidung ab.
Dieser, ein Geist des milden und edleren Conservatismus, will Acosta'n,
in dem er den Denker ehren muß, ob er gleich seine Richtung verdammt,
will Acosta'n durch eine Hinterthür vor den Verfolgungen der herrschen¬
den Kirche retten und doch wahr sein. „Der Verfasser ist kein Jude",
schreibt er, als Eensorsentscheidung auf das Buch, und weist die Rabbiner
auf das Scheinchristenthum seiner Eltern zurück. Aber Uriel will kein
Ehrist heißen, will Jude sein, mit dem gedrückten Volke Leid und Noth
tragen. Vom Schooße des Judenthums aus will er reformiren. Da
spricht vor all den bei Vanderstraaten versammelten Gästen die Kirche
den Bann über ihn aus, das Widderhorn ertönt und der Fluch der
Flüche ergeht über den verlorenen Abtrünnigen. So wie Alles scheu zu¬
rückweicht, wird sich Judith, Vanderstraatens Tochter, ihrer ganzen Liebe
zu Uriel bewußt, sie wirft sich ihm an's Herz und will Fluch und Un¬
glück mit ihm theilen.
Im Zeitraum zwischen dem zweiten und dritten Acte hat die Or¬
thodoxie und der Haß durch Wen Iochai repräsentirt, alle Hebel in Be¬
wegung gesetzt, um Alle, die mit den Verfluchten in Berührung stehen,
unglücklich zu machen. Der reiche Vanderstraaten, der Uriel auf seiner
Villa vor den Verfolgungen seiner Glaubensgenossen schützt, ist durch die
Machinationen Wen Jochai's ruinirt, in wenig Tagen zum Bettler ge¬
worden, dessen Haus und Habe ihm, seinem früheren Schwiegersohne,
verfällt. Uriel's Brüder, Handelsleute, sind von der Gemeinde geachtet;
um ihr Leben zu fristen, müssen sie auswandern mit der alten blinden
Mutter. Die Familie, die Liebe, tritt hier vor den Freiheitsstreiter, und
fleht: Widerrufe! Und wie der Mutter blindes Auge, der Geliebten strö¬
mende Thräne ihn ansieht und das Elend sieht, das seine Frciheitssen-
dung über die Theuerster verhängt, da Saum er nicht widerstehen, er stürzt
in die Synagoge um zu widerrufen.
Die Scene im vierten Acte, Uriel's Verhör vor der jüdischen In¬
quisition, ist das Schönste im Drama. Ben Allda, der hundertjährige
Altglaube, mit seinem weißen Haare, halb Blödsinn, halb Tiefsinn auf
den Lippen, ist eine wahrhaft erschütternde Gestalt. Von Schmerz zu
Schmerz wird Acosta geheizt, bis der Synagogcnvorhang sich lüftet und
er vor allem Volke die Irrlehren seines Buches abschwören und verflu¬
chen soll. Er thut es, am Thore der Synagoge wirst er sich nieder, daß
die Frommen alle über ihn hinwegschreiten. Da aber Ben Jochai ihn
tritt, da reißen die Fibern seiner Natur und in halbem Wahnsinn stürzt
er davon.
Der aufgethürmte Scheiterhaufen von Noth und Gluth bricht nun
in sich zusammen. Judith, um ihren Vater vom Bettlerloos zu retten,
verkauft sich als Eheweib dem Ben Jochai. Uriel's Mutter ist gestorben,
er aber schweift im halben Wahnsinn, nur von seinem Schüler, dem
Knaben Baruch Spinoza begleitet, umher. Uriel und Judith fühlen,
daß sie nicht mehr leben können mit ihren der Lüge verkauften Seelen,
sie vergiftet sich mit dem Brautkranz im Haar, er schießt sich die Kugel
'
durchs Hirn. ,. . ^ ^ .
Wir sehen, Guy?.)w ist hier tiefer gegangen, hat einen schonen,
menschheitlicher Stoff ernster und fester gepackt als er es sonst zu thun
gewohnt war. Er pflegte in geistreichen und dabei gutgefügten Dramen,
eine isolirte geschichtliche Katastrophe zu schildern, nun greift er einen
Helden auf, in dessen Leben sich symbolisch der Kampf der Zeit abspiegeln
soll. Die freie Forschung gegenüber der Orthodoxie; die Familie, die
Liebe im Kampfe mit dem ewigen Freiheitsgedanken der Zeiten, das ist
ein Zwiespalt, der durch alle Jahrhunderte geht und heute noch ihre
ragischen Opfer fordert. Aber nicht solche Gestalten, wie Uriel Acosta,
muß man uns vorführen, wenn man die Gemüther von der Heiligkeit
der Freiheitsidee durchdringen will. Den Liebe, den ein Frauenherz zum
Widerruf vermocht, den hatte der Geist nicht beschattet. Nicht alle
Zweifler haben widerrufen, und wenn die Conflicte des Lebens die großen
Märtyrer der Freiheit manchmal verzagt machen konnten, zu Lügnern sie
zu machen gelang nicht. Als Vanini des Atheismus beschuldigt, auf
dem Scheiterhaufen stand, erpreßte ihm der erste Schmerz den Ausruf:
mi !)on»! Ha, sagten die Pfaffen, hört! er widerruft. Er aber
zuckte die Achseln und sprach: I^lxznumii i'-leite. — So kehrt sich denn
nach Acosta's Widerruf im vierten 'Acte das Interesse vom Helden ab,
er ist nicht mehr werth Träger der großen Befreiungsidee zu sein; wenn
er im letzten Acte seinem Leben mit der Kugel ein Ende macht, fühlen
wir uns nicht, wie es die Absicht des Verfassers war, von der Größe
der Idee gehoben, der Verrath an der Wahrheit war zu dauernd, zu
ungeheuer, wir sind erkaltet, ja erniedrigt.
Der treffliche Bau des Stücks, die Sccnenfügung kann uns über
so viel Gewaltsames nicht hinausbringen. Unbegreiflich bleibt es, wie
der Acosta, der sich beim Anfang des Stücks so leicht von seiner Judith
trennen konnte, ihr später den Kern seines Wesens, seine heilige Wahr¬
heit zum Opfer bringen kann. Wir sehen die Handlung äußerlich fort¬
schreiten, sehen eine Kette von Wirkungen, neu, überraschend, blendend,
mit allen bengalischen Feuerwerken der Poesie beleuchtet, — aber Ursprüng¬
lichkeit, das Menschenherz aufgeblättert bis in seine tiefsten Tiefen —
wie selten!
Wie es im Publicum verlautet, ist wenig Hoffnung vorhanden, daß
wir den Acosta noch einmal zu sehen bekommen. Er soll höchsten Orts
bedeutendes Mißfallen erregt haben. Die guten Dresdner erzählen sich
besorgt, daß eine hohe Dame zu mehrern Malen unwillig mit dem Stuhle
gerückt habe. Ich weiß nicht, ob dies in einem konstitutionellen Staate
genügt, daß der -Minister das Stück verbietet.
Eine Kundmachung des Consistoriums in den Hallen der hiesigen
Universität spricht von „bedauerlichen Störungen der öffentlichen Ruhe",
„von leidenschaftlichen Gemüthern der Jugend" und von der Hoffnung,
daß der „gute Geist und die charaktervolle Gesinnung der Akademiker
fortan wieder ihren alten Ruf bewerben werden." Eine solche in diesem
Jahrhunderte noch nicht vorgekommene Apostrophe an die Studenten
Wiens hat in folgendem Factum seinen Grund: Der Religions-Professor
Richter, der zum Pfarrer befördert wurde und von seinen Hörern im Hör-
säle Abschied nahm, erhielt einen tumultuarischen Gegengruß, bei dem
schwer zu erkennen war, ob er ironisch oder naiv gemeint sei, gewiß aber
ist es, daß die Freude über den Abschied des eben nicht beliebten Lehrers
vorschmeckte. Dieser Unbeliebtheit verfallen eigentlich die meisten Lehrer
der Religion in den philosophischen Lehranstalten der Monarchie, indem
das, was er vorzutragen hat, naturgemäß in einem bedeutenden Widerspruche
zu dem steht, was in einer nächsten Stunde als „Philosophie" den Hö¬
rern vorgetragen wird. Der im obengenannten Lchrsale entstandene Lärm
störte den Vortrag in einem angrenzenden, wo Professor Jenko Mathe¬
matik lehrte; er sprang vom Katheder und eilte in den angrenzenden
Saal, wo er beim Eintritt wuthschäumcnd einem ruhig dastehenden Stu¬
denten eine Ohrfeige gab. Die Hörer der Medicin und der Rechte, welche
eben ihre Hörsäle verließen, hatten sich aber auch angesammelt und einige
von ihnen retteten den greisen Professor vor dem begreiflichen Zorn eini¬
ger hundert Akademiker, ohne jedoch, wie sich das wohl von selbst ver¬
steht, die unbesonnene Handlung des alten Hitzkopfs rechtfertigen zu wollen.
Der anwesende Rector, Ritter von Hamel, brachte den Professor in einen
leeren Hörsaal und sperrte ihn von den tobenden Studenten ab. Da der
Tumult sich nicht legen wollte, mußte die Polizeiwacht einschreiten, und
endlich nach mehrern Stunden heftigsten Schreiens und Lärmens wurde
der Professor unter Bedeckung und einem sich nachwälzenden Schwall
von Studenten nach seiner Wohnung in der Vorstadt Landstraße beglei¬
tet. Nur mit Mühe gelang es, die Studenten von einem Eindringen
in das rasch geschlossene Haus abzuhalten, die Fenster konnte man nicht
retten. Noch am folgenden Tage war auf der Universität eine allgemeine
Aufregung, die nur dadurch, wenigstens äußerlich, beschwichtigt wurde,
daß man eine zu gebende Satisfaction versprach. Bedauerlich ist es, daß
ein schon in den nächsten Monaten seine 4l)jährige Dienstzeit be¬
schließender Professor, der wegen seiner Rechtlichkeit aber auch wegen sei¬
nes aufbrausenden Temperamentes bekannt ist, sich hinreißen ließ, eine
unverzeihliche Handlung, die überdies einen Unschuldigen traf, zu bege¬
hen und man muß gestehen, daß die in Schutznahme des alten Mannes
von Seite einiger Studenten um so frappanter zu seiner That contra-
stirt. Ich würde Ihnen diese locale Begebenheit nicht ausführlicher er¬
zählt haben, wenn sich nicht ein Allgemeines daran anknüpfen ließe; es
ist ein unerfreuliches Factum, daß an allen österreichischen Lehranstalten
(die italienischen ausgenommen) die Professoren sich die Herren dünken
und die Schüler (Studenten) als untergeordnete „hörige" Menschen be¬
trachten. Es besteht in Oesterreich zwischen Lehrern und Studirenden ein
Befehls- und Subordinationsverhältniß, wie es nicht einmal in Italien,
geschweige in Deutschland, Frankreich und England eristirt. Der Stu-
dirende ist in den Händen des Lehrers ungefähr wie der Soldat in der
Macht des Offiziers. Da die ganze Carriere des jungen Mannes in der
Machtvollkommenheit des Lehrers liegt und von der guten oder schlechten
„Classe", die er ihm gibt, abhängt, und da die Eramina alle halbe Jahre
stattfinden und somit die Macht des Professors verdoppeln, und da 'ein
schlechtes Sittenzeugniß bei der geringsten Veranlassung, bei irgend einem
wiederholten Widerspruch oder bei öfteren Ausbleiben aus dem Collegium
zu befürchten ist, und eine schlechte Sittenclasse in der Studicncarriere
schwerer wiegt, als alles Andere, so ist die Stellung des Schülers, seine
an Furcht streifende Unrerthanigkeit, so wie das nicht selten von Ueber-
aueh und Rücksichtslosigkeit durchzogene Beklagen des Lehrers leicht zu beur¬
theilen. Bräche nicht das gutmüthige österreichische Naturel die Spitzen dieses
Verhältnisses und gäbe es nicht unter dem österreichischen Lehrstanvt so
viele persönlich liebenswerthe Männer, so hätten wir noch viel häu¬
figere Scenen obiger Art. Der österreichische Professor ist allerdings
nicht wie der Professor an den deutschen Hochschulen von den
Collegiengeldern seiner Hörer bezahlt; der Staat allein bestreitet sein
Gehalt und macht ihn daher unabhängig von der Gunst oder Ungunst
seines Auditoriums. Dieses Princip hat im Interesse der Wissenschaft
eben so große Vortheile als Nachtheile, und es ist hier nicht der Ort,
diese gegen einander abzuwägen. Thatsache aber ist, daß Scenen, wie
sie in jüngster Zeit hier und in Prag stattgefunden haben, an deutschen
Universitäten ein Ding der Unmöglichkeit sind. Erst durch das in aller-
neuester Zeit von dem freisinnigen Freiherrn von Pillersdorf begünstigte
Docentenwesen können wir einer neuen Generation wirklich gebildeter und
humaner Professoren entgegensehen, indem jeder zuerst seine Fähigkeit zu
lehren und mit der Jugend human zu verkehren, wird darthun Müssen,
während bis jetzt öfters nur die Protection Professoren machte. Wir
können, weil vom Unterrichtswesen eben die Rede ist, den Wunsch nicht
unterdrücken, daß der bereits seit mehrern Jahren in der Ausarbeitung
befindliche neue Studienplan zur öffentlichen Besprechung kommen möge. Die
Regierung hat doch bei Angelegenheit der Staatseisenbahn, des polnischen
Unglücks und neuerlich bei dem finanziellen Verfahren rücksichtlich der
Börse Thatsachen und Motive dem Publicum blosgelegt und so einen
gewiß erfreulichen Fortschritt von dem noch immer bestehenden geheimen
Verfahren gethan. Möchte sie doch auch in einer der wichtigsten Ange¬
legenheiten, wie es das Lehrwesen ist, von der Stimmung und dem Be.
dürsniß der Staatsbürger durch offene Debatte sich überzeugen. — Die
Concordia, der bekannte heitere Vereinigungspunkt unserer Künstler und
Schriftsteller, hat dieses Jahr einen frischern Aufschwung genommen.
Gestern hat der greise Castelli zwei fremde Gäste dort eingeführt: Flotow
Von Herrn August Schilling, der in dem Aufsätze „Censoren und Cen¬
sur in Wien" als Bewerber um eine erledigte Ccnsorstclle genannt wurde, wer-
oen wir um die Aufnahme nachstehender Zeilen ersucht, die übrigens der Mitthei¬
lung unseres Korrespondenten nicht widersprechen.
„In Erwiderung eines mich betreffenden Punktes in dem Artikel über Wiens
„Censur und Censoren in Ur. 47 d. Bl. erlaube ich mir, das Epitheton:
„obligater" Besinger auf das Bestimmteste abzulehnen. Mein bescheide¬
nes literarisches Wirken seit einem Zeitraume von 12 Jahren hat sich frei
„und unabhängig gehalten und nie hat mich irgend eine Verbindlichkeit ver-
„mocht, gegen meine Ueberzeugung zu schreiben. Um so schmerzlicher ist
„es, wenn da, wo ungeheuchelte, tiefgefühlte Verehrung, warme Dankbar¬
keit und Anhänglichkeit für einen großherzigen und edlen Charakter das
„Herz zu poetischer Ergießung begeistern, d>es mit kaltblütiger Satyre be¬
lächelt wird. Daß übrigens ähnliche Bemerkungen die Consequenz meiner
„Gefühle und Handlungsweise nicht beirren können, versteht sich von selbst.
„Wer sein Haus baut aus die Gassen,
„Muß die Leute reden lassen."
Die neu creirte Tilgungskasse ist eine Wahrheit geworden, und er¬
öffnete am 7. December ihre Wirksamkeit durch einige Ankäufe in Wien-
Pesther Eisenbahnactien. So wenig belangreich diese Ankäufe selbst wa¬
ren, da sie nicht über einen gewissen Cours gingen, zu welchem sich als¬
bald keine Abgeber zeigten, so bedeutsam war dennoch die Wirkung, da
dieses Papier gleich um mehrere Procente stieg und sich dadurch eine
allgemeine bessere Stimmung erzeugte. Ich kann nicht umhin, bei die¬
ser Gelegenheit auf die eben durchgemachte Krise und auf die geniale
Maßregel, die ihr ein Ziel setzte, zurückzukommen. Was unsere Handels-
und Böcsenwelt betrifft, so hat sie hierbei nur den negativen,' aber aller¬
dings anerkennenswerther Ruhm ausdauernder Rechtlichkeit anzusprechen.
Da außer dem Bankrott Ghirardello's, der nie bedeutend gewesen, kein
anderer trotz der ungeheuren Verluste, die der Platz erlitten, ausgebrochen
ist*). Dagegen hat sie eben keine sehr glänzenden Proben, weder von
Muth und vertrauensvollen Zusammenwirken—liiuc ni^c; I-rei-imm!!—
noch von erfinderischen Geiste und berechnender Scharfsicht abgelegt. Doch
das Glück liebt es einmal, sich da einzustellen, wo andere Dinge weniger
vorhanden sind, und so fand der in eine wahrhaft erschreckende Lage ver¬
setzte Platz einen rettenden und schützenden Genius in dem Manne, der.
obgleich nicht in merkantilischen Verhältnissen aufgewachsen, sie dennoch
besser als die Wortführer derselben zu beurtheilen wußte und Allen zum
Heil auch zu bewältigen vermochte.
Was an jener Maßregel, welche ein Höchstgestellter treffend als das
El des Columbus bezeichnete, so vorzüglich erscheint, ist, daß sie eine
ganze, statt eine halbe ist und darum auch den Nagel auf den Kopf traf.
Wie es aber im Leben oft vorkommt, daß ein Mehreres auf geringe
Anstrengung und weniges Risico hinauslauft als ein Minderes, sofern
nur die moralische Willenskraft um desto starker hervortritt, so zeigte
es sich auch hier. Was hatten wohl Diejenigen, die zur Wah¬
rung des Platzes kaum mit vielen Millionen auszulangen vermochten,
gesagt, wenn man ihnen vorherverkündigt, daß man im Stande wäre,
mit der kleinen Anlage von 8000 bis 10,000 Gulden eine bedeutsame
Wirkung hervorzubringen? Sie hätten wohl so ungläubig den Kopf ge¬
schüttelt, wie Artilleristen, die man in früherer Zeit mit Baumwolle
statt mit Pulver zur Munition hätte versehen wollen. So gilt.in jeder Hin¬
sicht und inmitten dieser Jammerprosa des Dichters Wort:
„Sammle still und uncrschlafft
Im kleinsten Punkt die höchste Kraft."
Denn das ist eben auch nicht das kleinste Verdienst an der Maßregel,
daß sie still und zwar am stillsten in's Werk gesetzt ward, und dadurch
Diejenigen, die gern im Trüben fischen oder wie gefräßige Haifische Alles
vorwegnehmen, hier nichts auszubeuten bekamen. Wie denn aber be¬
kanntlich den besten Früchten niemals die Wespen fehlen, so stellte
sich denn auch hier die unberufene Kritik damit ein, daß man mit einem
Papier begonnen, das als ein noch nicht eingezahltes seine Notirung im
officiellen Coursblatt noch nicht gefunden und dessen freier Verkehr sogar
vor Kurzem nicht gestattet gewesen. Ohne so wenig wie irgend Jemand
in die Gründe eingehen zu können, welche hierzu Anlaß gegeben, vermag
ich nur, einer überwiegenden Zustimmung versichert, die Ueberzeugung
auszusprechen, wie man grade mit diesem Anbeginne wieder „den Nagel auf
den Kopf getroffen." Einmal sind die genannten Pesther Actien gegen¬
wärtig das IviuUnA l>i»ner hiesiger Börse; sodann ist es das einzige der
inländischen, das bei sonst noch vorwaltender bester Aussicht und bereits
feststehendem 4H Zins sich unter dein Pari befindet, und endlich hat im
In- wie im Auslande die Contremine vorzüglich mit diesem Papier ihr
verderbliches Spiel getrieben, und findet nun die Pfeile, die sie auf den
Ruin so vieler Besitzer gerichtet, gegen sich selbst gekehrt. Im Uebrigen
aber entspricht es bereits, abgesehen von glänzenden Aspecten, welche auf
gewiß streng geprüften Vorlagen beruhen, dem vorausgesetzten Erforder¬
nis; eines 4sZ igen Erträgnisses. Grade aber der Umstand, daß die Ein¬
zahlungen noch nicht voll sind, begründete die größere Nothwendigkeit, den
Besitzern Hülfeleistung zu gewähren, abgesehen davon, daß auch andern,
noch nicht voll eingezahlten Actien, wie z. V. Mailändern, in anderwei¬
tiger Beziehung gleiche Begünstigung mit den voll eingezahlten zuerkannt
wird. Was aber die scheinbare Inconsequenz betrifft, daß man mit einem
Papier begonnen, dessen freier Verkehr vor noch nicht langer Zeit mit
Interdict belegt wurde, so dürfte in den gegebenen Verhältnissen solche bei
weitem weniger der Kritik unterliegen, als es mit einem starren Festhalten
an irgend einer in verschiedener Zeit manifestirten Ansicht der Fall sein
müßte. Da gilt wohl wie nirgends das et;in^<>>^ nuitiuitnl- et. nos mu-
t-lmui- in illis, was auch die großen Staatsmänner, die das Steuer in
England und Frankreich geführt, so oft zu ihrem Ruhm und zum Heil
ihres Landes zu beachten und die Segel nach Wind und Wetter
zu wenden verstanden. Kaum Eine Seite der alten wie der neuen Ge¬
schichte, die nicht die unseligsten Folgen der sogenannten „Consequenz"
aufzuweisen hatte und Bäche von Thränen, und Ströme von Blut waren
erspart worden, wo besser im Sinne Karls V. vorgegangen worden wäre,
der, als er ein ungerechtes mit der kaiserlichen Unterschrift aber bereits
versehenes Decret zerriß, den Einwendungen das schöne Wort entgegen¬
stellte: Lieber meine Unterschrift als mein Gewissen. ,
Bei diesem Anlaß muß ich auch auf ein früheres Schreiben zurück¬
kommen, in welchem sich eine oder die andere Ungenauigkeit in Betreff
der sieyerischen sogenannten Domesticalschuld eingeschlichen haben mag,
wie sich das mit einem fremdstehenden und mit den übrigen Verhältnissen
weniger zusammenhängenden Gegenstand leicht ergeben kann. Soviel er¬
scheint unzweifelhaft, daß, wie sich auch diese Angelegenheit in die Länge
gezogen hat, dies keineswegs in angeblichen Antipathien seinen Grund
haben kann, da man diese am betreffenden Orte eben so wenig wie
Sympathien kennt, und die auch da, wo nicht nur bedrängte Indi¬
viduen, sondern fast wirkungslos gewordene fromme und gemeinnützige
Anstalten als Leidende erscheinen, am mindesten zu gewärtigen kämen.
Allein bei übergroßer Zuthunlichkeit in dieser Sache, werden die nicht
unbedeutenden Schwierigkeiten zur Ermittlung des wahren Rechtsverhält¬
nisses dennoch übersehen; sind aber — wie denn doch in Bälde zu ge¬
wärtigen steht — die Verhandlungen darüber einmal zu Ende gebracht,
so werden die vorlauten — und zum Theil allerdings auch hungrigen —
Schreier gewiß überführt werden, daß unter den gegenwärtigen Auspicien
von einer Plusmacherei auf Kosten der Gerechtigkeit unmöglich die Rede
sein kann. Nur dürften auch hier die Hoffnungen der vorgedachten Hai¬
fische, auf ein etwaiges Voressen, eben so wie früher gewaltig getäuscht
So eben stellt man mir den in Merseburg bei Louis Garcke er¬
schienenen Musenalmanach zu, genannt- ,,norddeutsches Jahrbuch für
Poesie und Prosa, herausgegeben von Heinrich Pröh le." Seit dem Tode
Ehamisso's ist dieses wieder die erste Sammlung der Art, die wir mit
Freuden begrüßen können. Leider haben manche Umstände nachtheilig auf
die erste Eollection der dichterischen und prosaischen Gaben eingewirkt,
als zu späte Benachrichtigung, verfehlte Einsendung u. s. w. Der nächste
Jahrgang wird sicherlich ein gewisses System in das ganze Unternehmen
bringen, dem wir bestes Gedeihen wünschen wollen. Der poetische Theil
ist vertreten, durch Namen wie Mörike, Kerner, Mayer, Geibel, Hoff¬
mann von Fallersleben, Prutz, Karl Beck und Ullrich. Nur ungern
vermissen wir die Namen Alfred Meißner und Moritz Hartmann, deren
Letzterer sich seit einigen Tagen in Berlin befindet. Der prosaische Theil,
dem für den nächsten Jahrgang Franz Dingelstedt, Eckermann, Heinrich
.König und Varnhagen von Ense ihre Theilnahme zugesagt haben, ent¬
hält, außer drei Novellen von Saß, Hesse und Schiff, in einem Feuilleton,
eine Vorlesung über die Leiden und die Lieder des Kastellans von Eoucy
und die Liebe im Mittelalter überhaupt, vor Damen, Studenten und
Professoren in Jena gehalten von O. L. B. Wolf und einen mit geist¬
reicher Feder geschriebenen Aufsatz von August Hesse: Ein Wort über die
heutige Poesie, an eine Dame in Oesterreich. Ein kritisches Gutachten
über das Bändchen abzugeben, enthalte ich mich, wie ein Almanach Ga¬
ben für Alle spenden will, so mag sich die Kritik in reiner Subjectivität
das ihr Zusagende entnehmen und schweigen. Es wird ein Jeder etwas
finden, vom politischen Schwärmer an bis auf den sentimentalisirenden
Dilettanten herab, der das in den See fliegende Rosenblättchen besingt.
Ausstattung und Druck sind deutlich und sogar geschmackvoll.
Eine große Veränderung steht der Akademie der Künste bevor. Zu¬
nächst ist es der Wechsel im Direktorat, der den Künstlern und Kunst¬
freunden viel zu sprechen gibt. Von dem früheren Plane, aus dem
obersten Vorstande, nach Art der Theaterintendantur eine Hofcharge zu
machen, ist man ganz und gar abgekommen und soll beabsichtigen an
die Stelle des Director Schadow, eines fast ganz erblindeten Grei¬
ses an der äußersten Grenze des Lebens und Bewußtseins, dessen
Sohn W. v. Schadow aus Düsseldorf nach Berlin zu berufen. Ob
damit in den Verhältnissen viel gebessert sein wird, ist kaum zu entschei¬
den. Thatsache ist indessen, daß v. Schadow einer Richtung der Malerei
angehört, die nun und nimmermehr mit einer frischen organischen Ent¬
faltung dieser Kunst amalgamiren kann. Das religiöse Element überwiegt
zu sehr in seiner Innerlichkeit, um ihm den großen objectiven Blick zu
gestatten, den der Leiter eines an so viele Interessen gewiesenen Insti¬
tutes sich erhalten muß. Es wäre jedoch wenigstens der Vortheil in
Aussicht gestellt, daß eine Regeneration im Senat der Akademie vor
sich gehen dürfte, in diesem Senat, der nachgerade eine Altersversorgungs¬
anstalt geworden ist. Man pensionire diese schwachen Alten, man sichere
ihnen sorgenfreie letzte Lebensjahre, aber man belebe endlich die Schule
der Kunst, mit deren Reformation schon die Verewigten, Wilhelm von
Humboldt und Schinkel und die Lebenden Rauch und Begas, sich un¬
endliche aber vergebliche Mühe gegeben haben. Wie der Unterricht der
Kunstjünger jetzt getrieben wird, kann er nicht ersprießlich wirken. Vor
einiger Zeit kam mir in einer Correspondenz aus Düsseldorf in ihrem
Blatte, eine Bemerkung über die humoristische Besprechung der Berliner
Kunstausstellung von Ernst Kossaß und W. Scholz zu Gesichte. Der
Verfasser rügte besonders an der Berliner Kritik, daß sie den Düsseldor¬
fern ihre alten Sünden nicht vergeben könne und daß die Satyre auf die
Düsseldorfer bei Gelegenheit einer Travestie des Horace Vernet'schen Bildes
nicht mehr passe. Sind denn aber die Düsseldorfer besser geworden? was die
Mauern der Akademie von daher bedeckt hat, schlägt, wie die Werke, die
man vor einem Decennium schuf, in dieselbe Kategorie einer winselnden
Gefühlsschwabelei. Wenn die Künstler nicht anfangen wollen, sich mit
Studien abzugeben, d. h. mit wissenschaftlichen, künstlerischen Vorarbeiten,
denn träumerisches Versunkensein vor irgend einem alten Bilde nennen
wir nicht Studium, wird in zwei Jahren die Bataille zwischen Literatur
und dem, was man Malerkunst nennt, wieder angehen und sicherlich
nicht zum Nachtheil der Literatur.
Von Neuangekommenen Virtuosen befindet sich H. W. Ernst hier.
Es ist ein Beweis, welche Anziehungskraft diese geniale Natur auf das
Publicum ausübt, da er es wagen kann, im Theater, und zwar in dem
weing beliebten Königstädtischen, zu spielen, wo er das Haus zu füllen
im Stande ist. Hier bei uns, wo ein volles Concert aus hundert Be¬
zahlthabenden und sechshundert Freibillets besteht, ist ein Concert im
Theater ein Probirstein für den Gehalt eines Künstlers. Ohne Aus-
gäbe von Freibillets zeigt sich hier, ob ein Virtuose durch ächten Ruf
etwas macht. Ernst, den ich schon neulich in einem vertrauten Kreise
bei Madame Viardot hörte, wo er seine geistreichen mit Stephan Heller
zusammen verfaßten i»«z»spe« l»A'illo»!» mit der genialen Frau am Flügel
erecutirte, trug im Theater sein neues Concert in l>5 iiwll . Ungarische
Weisen und seine renommirten Pirata Capricene unter jubelnden Bei¬
fallssturm vor. Wir dürfen uns auf einen Cyclus glänzender Concerte
gefaßt machen. Nächst Paganini möchte wohl Ernst die meisten Schwie¬
rigkeiten auf der Violine überwinden und am tiefsten in die Natur des
Instrumentes gedrungen sein. Wenigstens besitzt keiner seiner Zeitgenossen
diese ungemeine Disposition zum Violinsprel und diesen seelenvoll mclan-
cholischgefärbten Vortrag.
Die hier bestehenden Handwerksvereine sind auf Befehl der Polizei
aufgehoben worden. Man spricht von zweiundzwanzig verhafteten Per¬
sonen, unter diesen mehrere Literatett, die bezüchtigt worden sind, Reden
gehalten und verbotene Schriften vorgelesen zu haben. Die meisten Ge¬
rüchte, die hierüber in den Zeitungen laut wurden, find durchaus über¬
trieben. Der Denunciationsbrief, auf dessen Grund hin die Polizei ein¬
schritt, war französisch geschrieben, wahrscheinlich weil der Schreiber da¬
durch am besten sich zu maskiren dachte. Dadurch aber ist das Gerücht
entstanden, eine weitverzweigte Verschwörung, die mit Belgien und mit
Frankreich in Verbindung stehe, sei entdeckt worden. Verschwörungen bei
offenen Thüren sind unseres Erachtens eine sehr ungefährliche Sache und
hoffentlich wird man die vielen Verhafteten vielleicht sogar bald wieder
Zwischen der Michaelis- und der Neujahrsmesse hat Leipzig gewöhn¬
lich seine s»i8on martv; dieses Jahr aber ist die Saison iticinmorre,
zu deutsch: mausetodt. Leipzig ist ein Meß- und Durchzugsort; wenn
aber ringsumher die Wege mit Schnee und Eis verstopft sind, so sitzt
Leipzig wie eine Wittwe da, die aus Mangel an Anbetern mit ihrem
eigenen Bild im Spiegel coquettirt. Leipzig hält sich nämlich für sehr
„scheene", es glaubt in der That, es sei ein klein Paris, und hat sogar
die Marotte dem großen Paris bisweilen eine Lection zu geben. Dies
sahen wir erst diese Woche bei einer Gastdarstellung der Cerrito. Diese
liebliche Tänzerin, welche die Pariser, Londoner, Wiener und Berliner
in ein Delirium versetzt hat, die überall, wo sie bisher sich sehen ließ,
ihren ältern Nebenbuhlerinnen, der Elster und der Taglioni (vielleicht
eben weil sie älter sind), den Preis abgewonnen, ist von den Leipzigern
mit derselben kalten Vornehmheit aufgenommen worden, die hier ein
kleiner Krämer findet, wenn er in das Comptoir eines stolzen hiesigen
Banquiers tritt. Kaum daß man die an Blumen und Beifallsstürme
gewöhnte Künstlerin (und diesen Namen verdient sie im besten Sinne)
applaudirt hat! Ja, nach der ersten Bestellung war in der am andern
Morgen erschienenen Nummer des Tageblatts folgendes Inserat zu lesen:
„Es wäre zu wünschen, daß die geehrte Theaterdirection die Leistun¬
gen unseres hiesigen Balletmeisters besser würdigte und dem Publi¬
kum nicht bei verdoppelten Preisen durch Ausländer das vorführen
„ließe, was von Deutschen bei gewöhnlichen Preisen der Plätze weit
„vortrefflicher dargestellt wurde."
Schämt Euch, Ihr geschmacklosen Bewohner von Paris, London, Mai¬
land, Wien und Berlin, die Ihr Ideale bewundert, welche Leipzig durch
einheimische, im Schatten vaterländischen Sauerkrauts (No. mit Schweins-
knöchelchen) großgewachsene Künstler verdunkelt. Wie man hört, wird
Dem. Aeimcr, die erste der sechs Nähterinnen, die beim hiesigen Theater
das „Ballet" bilden, in nächsten Tagen eine Kunstreise nach Paris an¬
treten, um der Welt zu zeigen, wie schon das bloße Leipziger Pflaster
hinreicht, um die Füße zum bereitesten Grad künstlerischer Größe zu erziehen.
Um übrigens den Ruf der armen Cerrito nicht gänzlich zu vernich¬
ten und um es ihr möglich zu machen, hier und da noch zu einem
Gastspiel zugelassen zu werden, muß nachträglich bemerkt werden, daß
bei ihrer zweiten Vorstellung das Publicum sich viel gnädiger gegen
sie zeigt und sie mit großmüthiger Nachsicht applaudirt und sogar hervor¬
gerufen hat. Man sieht, die Leipziger wissen aufkeimende Talente zu
ermuntern, selbst wenn es keine einheimischen sind, ja sogar wenn sie
einen europäischen Ruf haben. Auch muß man ihnen zur Ehre nachsagen,
daß sie die verdoppelten Eintrittspreise nicht scheuten, mit welchem die
Theaterdirection für die zwei Vorstellungen der Cerito sie besteuert hatte.
Die Direction hat aber auch Alles geleistet was sie thun konnte, sie hat
ein nagelneues Stück: „Er geht aufs Land", welches man hier erst
einige Dutzend Mal abgespielt hat, aufführen lassen, und die Cerrito und ihr
Gatte mußten zur Strafe für ihre Anmaßung, wie zwei Seiltänzer, in
den Awischenacten heraustreten und ihre I'-is abtanzen; nicht einmal das
allerkleinste Ballet hat man von den „einheimischen Künstlern" montiren
lassen zur Gruppirung für die fremden Gäste. Ehre genug für sie, daß
sie der Direction zwei reiche Cassenabende bereiteten. Wozu noch viel
andere Umstände machen?
Dafür sahen wir an einem andern Abend (bei einfachen Preisen!)
eine dramatische Novität „Jean Bart am Hofe", Lustspiel in vier Acten
von Berger, zum ersten Mal über die Scene gehen; wir wissen nicht,
ob auch zum letzten Mal. Da ist auch eine ganz andere Grazie darin,
als in dem Tanz der Cerrito. Da wird nicht mit Sprüngen und über¬
raschenden Wendungen coquettirt, da weiß man gleich im ersten Act, wie
der vierte enden wird, und der Dichter verwendete seine ganze Kunst
darauf, diese vier Acte mit deutscher Gründlichkeit zu füllen, eine Kunst,
die ein Franzose bei diesem Stoff gewiß nicht ausgeführt haben würde.
Auch hat es Herr Berger verschmäht, mit seinem Lustspiel auf die Lach-
anstellt der Zuschauer zu wirken, derlei Dinge können wir getrost den
Franzosen überlassen; des Deutschen Charakter ist ernst, dies dürfen wir
selbst bei Lustspielen nicht außer Acht lassen und es ist dankenswerth,
daß Herr Berger es vorgezogen hat, gründlich zu langweilen, als in
französischer Oberflächlichkeit uns zu amüsiren. — Eine andere Novität
„der Vetter" von Roderich Benedix, hat den umgekehrten Weg einge¬
schlagen; bei diesem Lustspiel kommt das Publicum aus dem Lachen nicht
heraus, es ist amüsant von Anfang bis zu Ende. Aber wo bleibt die
Gründlichkeit? Es ist wahr, Herr Benedix hat den ephemeren Erfolg,
daß sein Lustspiel überall volle Häuser macht; allein wo ist die Unsterb¬
lichkeit? Wird man nach fünfzig Jahren etwa auch noch bei diesem
Lustspiel amüsiren? Herr Berger aber kann sicher sein, daß man nach
fünfzig Jahren sein Lustspiel eben so langweilig finden wird, und wenn
auch der Erfolg des Tages nicht für ihn ist so hat er doch den schönen
Trost, daß er die Literatur mit einem Werk bereichert hat, dessen Werth
sich stets gleich bleiben wird.
Von nächsten Novitäten hört man nicht viel. Ein geistvolles Lust¬
spiel: „Die Valentine" von Gustav Freitag in Breslau, befindet sich seit
Monaten in den Händen der Direktion, ohne erledigt zu werden. Auf
„Uriel Acosta" ist man nach dem glänzenden Dresdner Erfolge nicht
wenig gespannt; ebenso auf Laube's „Karlsschüler", die der Dichter wegen
eines Mangels in der Besetzung der hiesigen Bühne vorenthielt. Köberle,
Verfasser der „Aufzeichnungen eines Jesuitenzöglings", hat ein Trauer¬
spiel: „Cosmos von Medicis" eingereicht. Dieser junge Schriftsteller,
der seit einem Jahre in Leipzig lebt, hat in der Jesuitenliteratur einen
Nebenbuhler hier gefunden an Heinrich Bode, einem Hannoveraner, der,
gleichfalls Katholik, seine Erlebnisse in den Jesuitenklöstern Frankreichs
dem Druck übergibt und der schon früher zwei schätzbare Schriften: „Das
deutsche Collegium in Rom" (Leipzig 1843) und „das Innere der Ge¬
sellschaft Jesu" (Leipzig 1846) veröffentlicht hat, die sich durch objective,
ruhige Darstellung und gründliche Kenntniß von dem gewöhnlichen Markt¬
geschrei auf diesem Felde auszeichnen. Von andern Schriftstellern, die
sich in letzterer Zeit hier niedergelassen haben, nennen wir vor Allen Arnold
Rüge, dessen gesammelte Schriften, vielfach umgearbeitet, soeben in vier
Bänden erschienen sind. Ferner den Humoristen Kalisch aus Mainz,
dessen „Narhalla", „Schlagschatten" u. f. w. ihn zu einem der beliebte¬
sten und populairsten Schriftsteller des Rheinlandes gemacht haben.
Von neuen Zeitschriften, die fast zu Anfang eines jeden Jahres hier
auftauchen, hört man diesmal nichts. Kühne's „Europa", die man mit
Recht als ein neues Blatt betrachten kann, ist gewissermaßen die einzige
Ausnahme. Die Zeitschriften-Literatur hat offenbar eine vollständige Re¬
volution erlitten. Die Zeit der leichtfertigen Unterhaltungsblätter ist um
und sie erhalten sich blos, wenn sie als Beilage zu einem politischen Blatte
erscheinen, oder wenn sie als Modezeitungen zu Begleiterinnen und Schlevv-
trägerinnen eleganter Toilettenkupfcr sich herablassen. , Die ernste Zeit will
ernste Unterhaltung, und die Themata, die früher nur die kleinen Kreise
der Politiker und wissenschaftlich Gebildeten interessirten finden ick!t
die eifrigste Betheiligung bei der Gesammtnation und ein inniges Ver¬
ständniß bei der Durchschnittsbildung derselben. Die deutschen Regierung
gen könnten schon aus dieser Erscheinung eine wichtige Lehre ziehen und
die Schuld der Presse ist es wahrlich nicht, wenn sie den riefen Uschwung
„Drei Krankheiten des Staaten- und Städtelebens sind es vorzugs¬
weise, denen sich in neuerer Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit zuwen¬
dete: weit verbreitete« Siechthum der Bevölkerung, Massenarmuth und
Häufigkeit des Verbrechens. Die allgemeine Betrachtung ihrer Erschei¬
nungen in Se. Petersburg, die Erörterung ihrer Entwickelungen zur je¬
tzigen Gestalt, die Schilderung der Wege, welche man zu ihrer Bekäm¬
pfung eingeschlagen hat, bilden die nächste Aufgabe diefes Buches." Mit
diesen Worten leitet Aurelio Buddeus ein Werk ein, das unt^r obi¬
gem Titel bei Eotta erschienen ist*). „Länger als ein Jahr", spricht er in
seiner Einleitung, „habe ich innerhalb der russischen Grenzen gelebt.
Einzig die Absicht, aus eigner Anschauung das Leben Se. Petersburgs
kennen zu lernen, ließ mich dort einen Aufenthalt von mehr denn einem
Vierteljahre nehmen, nachdem durch elf vorhergehende Monate der Ver¬
kehr mit den verschiedensten Bevölkerungskreisen der Ostseeprovinzen man-
nichfache Gelegenheit zur Vorbereitung auf die Hauptstadt dargeboten hatte.
Hier aber erschloß sich dem ganz unabhängigen Arzte mancher Hinblick
in die Zustände der Bevölkerung und der Zutritt zu manchen Anstalten,
welche dem fremden Nichtarzt theils nur selten gewahrt ist, theils außer¬
halb seines speciellen Interesses liegt, oder wo doch seine Wißbegierde sehr
häufig argwöhnischen Beobachtungen unterliegt und mit ausweichenden
Antworten abgefunden wird. Doch keine strengwissenschaftliche, noch we¬
niger eine reinmedicinische Arbeit habe ich im Vorliegenden zu liefern
beabsichtigt. Die äußere Stellung als Arzt war nur der Schlüssel, vor
welchem sich die Statten des Siechrhums, der Armuth und des Verbre¬
chens leichter aufthaten, alö vor der bloßen Neugier des-Fremden." Also
stellt Aurelio Buddeus, den wir aus vielfachen Artikeln in den Ergan-
zungsblattern zur Allgemeinen Zeitung und in mehrern andern Zeitschrif¬
ten und Zeitungen als einen Publicisten voll praktischen Blickes und be¬
sonnener Darstellung kennen, den Leser auf den Standpunkt seines Bu¬
ches und kommt durch eine geistreiche und verständige Ausführung
dem in der Vorrede gegebenen Versprechen und den daraus geweck¬
ten Erwartungen redlich und gewissenhaft nach. Von einer all¬
gemeinen Charakteristik der Stadt und ihrer Menschen ausgehend,
verbreitet er sich, mit einer strengen Berücksichtigung der klimatischen Ein-
Wirkungen und Bedingnisse, über die Petersburger Lebensweise und die
durch diese speciell bedingten Schaulichkeiten, über eine statistische Ent-
gcgenstellung der Geburth- und Sterbelisten, fährt zuletzt in die Frauen¬
welt ein und sucht die Wahrscheinlichkeitsgründ- für jene die Mortalität
der Männer um anderthalbmal überwiegende Sterblichkeit unter dem
weiblichen Geschlecht in Petersburg aus, welche nach seinem Dafürhalten
in der Staltseinrichtung selbst, in der üblichen Erziehungsweise überhaupt
und vor Allem in den schädlichen Einflüssen eines heimtückischen Klimas,
der Nahrung und Wohnung jener ihren «erderblichen Grund findet. Keine
Stadt in Europa zahlt nach den gegebenen statistischen Ausweisen des
Verfassers „so wenig Trauungen im Verhältniß zur Einwohnermenge,
als Se. Petersburg"; seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts bis zum
Jahre 1830 stieg die Zahl der Einwohner von 220,000 auf 350,000,
die Zahl der Ehebündnisse aber verringerte sich von 12,533 auf 11,129;
außer dem Verhältniß jedoch steigt die Zahl jener leinene» entrstenues
und der eigentlich Prostituirten, deren 14,000 unter specieller polizeilicher
Aufsicht stehen. „Die Befriedigung, welche der Mann für Her; und
Sinn in illegaler Verbindungen sucht und findet, zerstört die Achtung
der Welt und den moralischen Halt und untergräbt die Körpergesundheit
der liebeleer verheiratheten Frau/' Von dieser kritischen Betrachtung, die
tiefgehende und vollgültige Resultate geliefert, kommt er auf das siech--
rhum in Petersburg selbst und auf die durch Jahreszeiten und Witterung
bedingten Krankheitsconstitutionen wie auf die herrschenden Krankheiten
im Besondern zu sprechen und macht eine Wanderung durch die Heil¬
anstalten, durch die Militair- und öffentliche Hospitäler, Ministerialdepar-
tements-. Civil- und Privathospitaler. Die palastähnliche Einrichtung
derselben wird durch eine zweckwidrige Etiquette und despotisch ausartende
Disciplin, die den Kranken Gefängnißstrafe und körperliche Züchtigungen
aussetzt, beeinträchtigt und macht auch für den armen und hülflosen
Kranken ihre unentgeldliche Pflege nicht wünschenswerth. Er enthüllt
zuletzt die Geisteskrankheiten, deren empfindsamer Nerv und ihre wahr¬
scheinliche Ursache er in einer haarscharfen Bestimmung der verschiedenen
Volksstämme des russischen Reiches aufsucht und macht einen Gang
durch das „Pflegehaus" aller Bekümmerten, wie in Petersburg mit
einem milderen Worte unser hartes „Narrenhaus" genannt wird. Hier
schließt der erste Theil dieses Werkes, der Aerzten und Nichtärzten viele
wichtige wissenswerthe und interessante Erfahrungen und kritische Resul¬
tate aufgeschlossen, und der Verfasser geht nun auf die andere Krank¬
heit des kranken Petersburg: auf die Armuth über. Nun tritt er als
Publicist in volle Wirksamkeit, während früher mehr die ärztliche Beob¬
achtung sich geltend machte. Ein Staat ist nur dann reich und glück-
lich zu nennen, wenn die Wohlhabenheit gewissermaßen ein Erbgut
des gesammten Volkes ist; der Luxus der Reichen und Mächtigen:
ist nur der goldverbrämte Purpurlappen an dem gebornen Bettler-
mantel eines Staates, wie eben Rußland ist, wo der Pauperismus auf
eine fürchterliche Weise überHand genommen hat, und nicht durch «erecktl
Zugeständnisse von Seiten der Verwaltung verringert, sondern nur durch
despotische Gewalt in die schweren Ketten des apathischen Gehorsams
geschlagsn wird. „In Rußland liegt die natürliche Quelle des Landes¬
reichthums im Feldbau mit Viehzucht; es herschte aber bereits nach dem
Scheinbild eines Manufacturstaates zu einer Zeit, da seine innere staat¬
liche Organisation noch in ungefcsteter Ursprünglichkeit verharrte und
sein Volk noch in tiefster Uncultur versunken lag'. Gleichzeitig mit der
politischen Staatsentwicklung zur neuen Gestalt überstürzte man dieses
mit den Trugbildern einer Culturcntfaltung, indem man ihm die Blüthe
wirklicher Cultur im Jndustrieleben, beinahe gewaltsam aufdrang. Dies
Jndustrieleben hebt aber die allgemeine Armuth des Volkes nicht auf;
das Volk, das ein Instrument in den Händen des Staates und der
Aristokratie ist, gewinnt durch eine unfreiwillige und unnatürliche Wirk¬
samkeit blutwenig; es weist überdies die finanziellen Nachtheile des Staa¬
tes selbst nach. Die Folgen, die sich daraus im Spiegelbild Rußlands:
Petersburg sichtbar gestalten, sind, um mit den Worten des Verfassers
zu sprechen „ein krasses Gemisch von unverschuldeten und verschuldeten
Elend, von eingebornen, ererbten und erworbenem Siechthum, von Freu¬
denhaus und Zuchthaus." Der Verfasser schildert hierauf, nachdem er
einen freien Blick in das Treiben und Schaffen der arbeitenden Volks¬
klassen, deren Erwerb nicht in dem glücklichen Verhältniß mit ihrer Thä¬
tigkeit stehen kann, geworfen, den Charakter der Petersburger Privat-
wohlthätigkeit und die Staatseinrichtungen für wöchentliche Wohlthätig¬
keit, die nothwendig geworden sind, um dem Verbrecher hier nicht ungebreit
die Pforten zu öffnen. „Dicht neben dem prachtvollsten Palast hockt
das entsetzlichste Elend; dicht neben der Kathedrale lockt das Freudenhaus
mit seinen feilen Reizen; auf den Corridors der elegantesten Wohnungen
liegt das zerlumpte Volk des Nachts auf bloßem Stein; aus den Speise¬
sälen des Winterpalastes blickt man hinunter auf die Fluchttreppen der
Newa, wo der „schwarze Mann" sein rrocknes Brod mit dem Wasser
des Flusses befeuchtet. Dicht neben einer Aristokratie, welche alle Ueber-
feinerung des Luxus aus allen Ländern der Erde in sich vereint, steht
ein darbendes Volk in persönlicher Unfreiheit und halbwilder Roheit
Jede große Stadt enthält allerdings dieselben Gegensätze, wie Se. Pe¬
tersburg; aber keine Stadt Europas, auch keine russische weiter, stellt sie
auf gleiche Weise schroff und unvermittelt nebeneinander." Der Ver¬
fasser entwirft mit meisterhaften Griffel ein tieferschütterndes Bild von
dem russischen Volk und zeigt es in seiner gänzlichen Hülfslosigkeit in
jenen halbzureichenden Wohlthätigkeitsanstalten und hinwieder mit klir¬
renden Ketten belastet in den öffentlichen Gefängnissen, wenn es von
Noth und Hunger gestachelt die reife Frucht von Bäumen pflücken wollte
und darüber ertappt wurde. Das Endurtheil über dieses Werk von
Aurelio Buddeus muß jedenfalls ein günstiges sein, da es durch keine
Lüge aufgeschminkt ist, sondern in farbehaltiger Wahrheit Erfahrungen
und Erlebnisse mittheilt, die den Stempel einer ruhigen, objectiven An¬
Die Berathungen der zweiten Ständekammer Hessen-Darmstadts
hinsichtlich des ihr vorgelegten Gesetzentwurfs, haben die Augen von
ganz Deutschland wieder auf dieselbe gelenkt. Seit dem siebenten
Landtage von 183» sind in dieser Kammer nicht mehr solche Fragen
von allgemeinem deutschen Interesse behandelt worden, wie diesmal.
Seit dein fünften Landtage 1832 hat in dem Lande nicht die Aufre¬
gung der Gemüther geherrscht, wie sie sich jetzt, vorzugsweise in der
Provinz Rheinhessen, an deren liebsten Institutionen der neue Gesetz¬
entwurf rüttelt und sägt, nicht minder aber auch in den aufgeklärten
Kreisen der alten Provinzen Oberhessen und Starkenburg, kund gibt.
Der jetzige zehnte Landtag war vertagt worden, bis die Prüfung
der fertigen Gesetzentwürfe durch die Ausschüsse der Kammern vollen¬
det sei. Als dies geschehen war und nun das Personenrecht, das Po¬
lizeistrafgesetz, sowie das Einführungsgesetz des neuen Civilgesetzbuches
den Kammer» behufs der Discussion vorgelegt werden konnten, wurde
der Landtag wieder einberufen. Nur wenige neue Wahlen hatten vor¬
genommen werden müssen, somit behielt die zweite Kammer der Stände
ganz die alte Färbung, welche sie seit dem achten Landtage von 1838
nicht mehr vertauschen mochte oder konnte. Diese Färbung ist eine
entschieden ministerielle, loyal devote, und wird bedingt einestheils durch
die eigenthümlichen Verhältnisse des Hess. - darmstädtischen Wahlcensus,
andererseits durch die consequenten Maximen der Staatsregierung.
Die erste Kammer besteht aus den Prinzen des großherzogli-
chen Hauses, deu Standesherren, dem Senior des von Riedesel'--
schen Hauses, dem katholischen Landesbischof, dem Protestantischen
Prälaten, dem Kanzler der Landesuniversität, und den von, Groß-
Herzog auf Lebenszeit berufenen Mitgliedern. Das Princip zur Wil¬
dling der ersten Kammer beruht also auf Erblichkeit und lebensläng¬
licher Ertheilung der Landstandschaft.
Die zweite Kammer dagegen wird rein durch Wahlen gebildet.
Sie besteht aus 50 Deputaten, nämlich sechs des begüterten Adels,
zehn der Städte, 34 der einzelnen Wahlbezirke. Um wählbar zu sein,
muß man Staatsbürger, Inländer, 3V Jahre alt, nicht unentbehrlicher
Beamter, nicht Mitglied der ersten Kammer, nicht wegen Verbrechen
vor Gericht gezogen und mit hinlänglichem Einkommen versehen sein.
Die Adelsmitglieder müssen 300 Fi. directe Steuern zahlen oder 60,000
Fi. Vermögen nachweisen; die Abgeordneten der Städte und Wahlbe-
zirke müssen 100 Fi. directe Steuern entrichten oder 1000 Fi. jährli¬
chen Gehalt oder 20,000 Fi. Vermögen besitzen. Die Wahl geschieht:
des Adels, durch alle dazu stimmfähigen an eine großherzogl. Com¬
mission; die der Wahlbezirke, resp. Städte, folgendermaßen: die Ge¬
meinden des Landes wählen zuerst nach Seelenzahl je einen Bevoll¬
mächtigten oder mehrere. Diese haben für jeden Bezirk 25, Wcchlmän-
ner vorzuschlagen, und diese endlich wählen erst je einen Deputirten.
Diese dreifache Theilung des Wahlactes hat ihr Gutes, indem sie das
Geschäft möglichst erleichtert, und bedenkliche Reibungen, Wahlschlach¬
ten, verhütet. Allein von der andern Seite ist auch Vieles dagegen
einzuwenden. Denn bei der Wahl der Bevollmächtigten ist dem Orts¬
vorstand ein ziemliches Uebergewicht gestattet, und dieser wird wiederum
gewöhnlich von dem, die Wahl beaufsichtigenden Regierungscommissär,
Kreisrathe, bestimmt. Außerdem werden als Wahlmänner nur die K0
Höchstbesteuerten des Bezirks bezeichnet, und es kann nicht fehlen, daß
doch immer nur die Wahl auf diejenigen fällt, welche durch Arbeits¬
ertheilung, Kundschaft u. f. w. auf die übrigen Bürger einen Einfluß
gewonnen haben. Auch die Wahlmänner sind daran gewöhnt, freilich
mit ehrenwerthen Ausnahmen, den Abgeordneten zu creiren, welchen
der Herr Regierungscommissär vorschlägt, und dieser wird wahrhaftig
Keinen vorschlagen, welchen er als dem Bestehenden nicht geneigt kennt.
Nur Rheinhessen hat in dem Wahlact noch einigermaßen seine politi¬
sche und bürgerliche Selbständigkeit gewahrt.
Aber dies ist nicht das einzige Mittel, welches die Regierung in
Händen hat, um die Wahl zu reguliren und libitum zu lenken;
sie kann auch indirect einwirken. Die Geschichte der hessischen Land¬
tage seit dem ersten von 1820 zeigt uns deutlich, daß der Wahlact
denn doch nicht so frei und unabhängig ausgeübt werden kann, wie
dies die Verfassungsurkunde mit Worten darstellt. Wir verweisen nur
auf die Ereignisse von 1833. Damals hatte Darmstadts Landtag eine
Opposition, welche an Geist, Gesinnung, Rechtsgefühl und Willens¬
kraft mit jeder der berühmtesten wetteifern konnte. Aber man wußte
sie nicht ohne Schlauheit zu decimiren. Mitglieder derselben, Staats-
diener, wurden in Ruhestand gesetzt) deu nicht ganz sichern, aus An¬
gestellten gewählten, Abgeordneten des sechsten Landtags der Urlaub
verweigert lind alle Zeitungen unterdrückt, welche die Interessen der
linken Seite mehr oder minder scharf vertraten. Dadurch namentlich
ward der Ausfluß der lebendigen Quelle in das Volk gedämmt, und
wie mißlich es für eine Opposition ist, wenn sie der Stütze der öffent¬
lichen Organe entbehren muß, lehrt hinreichend die Geschichte aller
deutschen Ständekammern. So kam es denn, daß in der zweiten Kam¬
mer der heff.-darmstädtischen Stände die Opposition immer schwächer,
immer limiter ward, bis sie endlich sich ganz unterwarf, mit den Ja-
Herren zusammenschmolz und nun die Lnndstandfchaft den „erfreulichen
Zustand der Uncmimität" repräsentirte.
Daraus wird klar werden, daß die Bestandtheile der jetzigen zweiten
Kammer eben nicht sehr heterogener Natur sind. Die Mehrzahl der
Abgeordneten gehört dem Beamtenstande an, muß also von vornherein
ihre subjective Meinung mit derjenigen einer Regierung in Einklang
zu bringen suchen, welche sie besoldet, ihre Eristenz bedingt, sie pensio^-
iliren oder nicht avanciren lassen kann. Das ist schon ein <?asu»
ttblüiuus! Nur eine sehr geringe Zahl unabhängiger Bürger, Guts¬
besitzer, nur ein Mitglied des zum Deputirtenamt berufensten Standes,
der Advocatenschaft, befinden sich unter der diesmaligen Zahl der Stände.
Den reactionär oder wenigstens in stabilen Sinne geleiteten Wahlen
ist es allein zuzuschreiben, daß Männer als Abgeordnete gewählt sind,
welche zu diesem wichtigen Amte durchaus nicht passen. Hat man
doch sogar einen Stockschwaben, der kaum vierzig Jahre alt sein kann
und welcher als Oekonomierath in's Land berufen, als solcher dem
Namen nach seit wenigen Jahren fungirt und von selbstgemachten
Rufe zehrt, in die Kammer gebracht! Welchen Eindruck macht es nun
auf den Landbewohner, der von der Gallerte herab seine Volksvertreter
einmal sehen und hören will, wenn er plötzlich unter bekannten Tönen
ein fremdes, radebrechendes Idiom in stockenden Sätzen vernimmt, das
selbst den Kammermitgliedern, geschweige denn den Bauern unterstände
kleb ist! Wie kann ein solcher „Ausländer" — denn daß die Deutschen
Brüder genannt werden, ist heutzutage, zumal in den Kammerverhand-
lungen, weder üblich, noch sichtbar — wie kann der Schwabe über
die lebendigen Sympathien eines ihm fast fremden, hessischen Volks¬
stammes reden? Dergleichen Wahlmißgriffe ließen sich noch eine Menge
bezeichnen. So u. A. hörten wir in der ersten Discussion über Civil¬
ehe und kirchliche Trauung einen Redner von Moral, Tugend, Reli¬
giosität in pomphaften Worten reden, und wir hätten lachen müsse»,
wenn uns das Weinen nicht näher gewesen wäre. Derselbe Mann
hat nicht allein schwere Beschuldigungen hinsichtlich seiner einstigen
Function als Untersuchungsrichter im Prozeß Weidig's und Con-
sorten hinnehmen müssen, sondern es ward ihm auch von zweien
der berühmtesten Aerzte Darmstadts nachgewiesen, bewiesen, daß er
während jener Zeit — Jo^U/it« ,1it:tu! —> dem Säuferwahnsinn ver¬
fallen war. Gereicht solcher Vertreter seinem Wahlbezirke, oder der
Kammer, etwa zur Ehre? Können seine schönen Worte einigen Ein¬
druck machen, wenn man seines Lebens gedenkt? Doch läßt sich auch
wiederum nicht leugnen, daß die Hessen-darmstädtische zweite Kammer
zu ihren Mitgliedern manche tüchtige, besonnene, allgemein und wissen¬
schaftlich gebildete, ja geistreiche Männer zählt. Doch ist die Anzahl
derselben nicht groß im Vergleich zu Denjenigen, welche sich nicht über
das Niveau deö Gewöhnlichen erheben. Ob aber in einem Einzigen
das große Gefühl des gemeinsamen deutscheu Vaterlandes, seiner heilig¬
sten Angelegenheiten und Wünsche ächt und recht lebt und webt, das
müssen wir sehr bezweifeln. Denn dann müßte, wie in Baden, eine
scharf ausgeprägte Opposition vorhanden sein, welche, wenn sie auch
nur zuerst das Oertliche, speciell Heimathliche, in'ö Auge faßte, doch
auf dessen Basis manches dem großen Vaterlande Ersprießliche auf
der Bahn des Fortschritts zu leisten versuchte. Aber nein! Höchstens
ein Zank über das Budget, höchstens einmal ein starker Ausruf über
des Ministeriums eigenmächtiges Schalten bewegen die friedlichen Räume
der hessischen Ständeversammlung. Es muß an den Wurzeln deö
Volkes gerüttelt werden, ehe es einmal zu einem hitzigen Gefechte
kommt.
Eine Wurzel des Volkes aber sind seine Institutionen, die Gesetze,
auf welche es fußt, weil es sie achtet, sie für sich angemessen hält, sie
liebgewonnen hat. Reißt man diese eine Wurzel aus, so leidet und
schwankt der ganze Stamm. Rheinhessen, zur Zeit des rheinischen
Bundes zu dem Departement Donnersberg gehörend, ist seit dreißig
Jahren dem Großherzogthum Hessen einverleibt. Es wurde dieser
Provinz die längst eingeführte französische Gesetzgebung und Gerichts-
Verfassung ausdrücklich gelassen, obschon in der Besitzergreifungsacte
vom 8. Juli 1816 nicht undeutlich darauf hingedeutet ward, daß seiner
Zeit wohl eine Aenderung erfolgen könne. Schon auf dein eisten
Landtag von 1820 wurde von deu Kammern beschlossen, dem ganzen
.Großherzogthum ein Gesetzbuch zu verleihen und dieser Beschluß so¬
gar in der Verfassungsurkunde berücksichtigt. 183» ward besonders
diese Sache wieder in Anregung gebracht und 1839 ward der Ent¬
wurf des Strafgesetzbuches den Kammern vorgelegt, welcher 1849 von
denselben auch angenommen wurde. Der zehnte Landtag war nun
hauptsächlich dazu berufen, den Entwurf des Civilgesetzbuchs zu prüfen.
In Hinsicht dessen hatte man in Rheinhessen keinen Argwohn. Man
glaubte, die Regierung und mit ihr die Gesetzgebungscommission huldige
wenigstens in der Weise dem Fortschritt, daß sie die anerkannt bessern
Institutionen der französischen Gesetzgebung, für welche sich Gelehrte und
Volk längst offen ausgesprochen hatten, in ihr Werk verflechten wür¬
den, wie dies in indirecter Weise selbst versprochen worden war. Aber
wie ein Donnerschlag siel plötzlich die Nachricht in das rheinhessische
Volk, daß der Entwurf des neuen Civilgesetzbuchs das Princip der Civil¬
ehe verwerfe! Man war starr vor Erstaunen und Bestürzung, aber
man blieb ruhig, man erholte sich wieder von dem ersten Schrecken.
Denn, sagten sich die Rheinhessen, der Ausschußbericht wird sich sicher¬
lich für die Civilehe aussprechen und in unserer Kammer sitzen aufge¬
klärte Männer genug, so daß die beireffenden Artikel des Gesetzes un¬
möglich durchgehen können. Die erste Voraussetzung war richtig: der
Ausschuß sprach sich, mit Ausnahme einer Stimme, für das Princip
der Civilehe aus — aber die zweite nicht! Bald verbreitete sich über¬
all hin das Gerücht, die Majorität der Kammer sei gegen den Aus¬
schußbericht; ja, der landständische Regierungscommissär, Ministerial-
rath Breitenbach, erklärte, die Staatsregierung würde auf dein
Entwurf bestehen und durchaus nicht nachgeben. Da ward es den
Rheinhessen wirklich bange. Von allen Wahlbezirken kamen Adressen,
mit taufenden von Unterschriften bedeckt, an die Deputaten, welche diese er¬
nährten, an des Volkes Wunsch und Glück standhaft zu denken ; ja,
es wurden sogar Petitionen an den Großherzog gesandt, diese aber,
als durch die Verfassungsurkunde streng verboten, zurückgewiesen. Die
Kammerverhandlungen begannen. Es war erfreulich zu sehen, wie
sich in denselben dem Ministerium und seinen Anhängern gegenüber
wieder zum ersten Male eine kräftige, wenn auch einseitige Opposition
geltend zu machen wußte. Mit allen Waffen der Wissenschaft, der
Verstandesschärfe, der Logik, der Erfahrung, der Rhetorik kämpften die
rheinhessischen Abgeordneten und einige ziemlich freisinnige der alten
Provinzen für die Civilehe, wie denn überhaupt die größere Intelligenz
sich auf ihrer Seite zeigte. Sie hoben hervor, welchen Segen dieses
Institut den Rheinlanden, Frankreich, den Niederlanden gewährt habe;
sie bewiesen, daß die Ehe historisch, moralisch und ökonomisch niemals
ein kirchlicher Act sein könne, noch im Alterthume gewesen, sondern die
kirchliche Trauung nur in Folge hierarchischer Anmaßung üblich ge¬
worden sei; daß die Civilehe jedem Uebergriff des Fanatismus hinsicht¬
lich der gemischten Ehen und somit religiösen Zwisten vorbeuge; sie
belegten ihre Behauptungen mit allen möglichen, unwiderlegbaren
Gründen und Autoritäten — umsonst! Nicht minder stellten sie auf
das Ueberzeugendste den Widerspruch, welchen der Gesetzesentwurf in
sich birgt, in'S vollste Licht. Derselbe bestimmt ttämlich zuerst, daß die
kirchliche Trauung die allein gesetzmäßige sei, fügt aber in einem
Supplement hinzu, daß im Falle der Verweigerung von Seiten der
Geistlichen, die Brautpaare rechtskräftig vor dem Bürgermeister
getraut werden könnten. Ist das Consequenz? Hebt nicht diese Aus¬
nahme den Werth des ganzen Geseyes auf? Denn wenn im Aus¬
nahmsfalle die Civilehe von dem Gesetz sanctionirt wird, warum sollte
sie nicht ohne Ausnahme ebenso gültig sein? Genug, Alles ward ver¬
sucht und gethan, um der Rheinprovinz eine ihrer theuersten Institu¬
tionen zu erhalten — umsonst I Alles scheiterte an der Hartnäckigkeit
der Regierung, re«n. ihres Commissairs (welcher freilich nur mit mat¬
ten Gründen seine gelehrten und gewandten Gegner zu widerlegen
wußte) und an der philisterhaften Schlendnansliebe des übrigen Theils
der Kammer, welcher durchweg „schon vor der Discussion sein Votum
im Sacke hatte." Die zwei Artikel des neuen Gesetzes, welche die
kirchliche Trauung als Norm, die Civilehe nur als Ausnahme statuiren,
wurden mit einer Majorität von elf Stimmen angenommen. Für die
Civilehe stimmten, außer den zwölf rheinhessischen, noch sechs Abge¬
ordnete der andern Provinzen. Nach diesem betrübenden Resultat stellte
der rheinhessische Abgeordnete Kilian das Amendement, der Provinz
Rheinhessen wenigstens möchte wie bisher das Institut der Civilehe
gelassen werden, aber auch dieses fiel mit dreißig gegen siebzehn Stimmen
durch; das mit Recht, denn wenn man dem Lande ein Gesetzbuch ge¬
ben will, so soll man ihm auch ein Gesetz geben. Freilich hätte die¬
ses in Rücksicht auf die Ehe anders ausfallen müssen.
Wenn Gesetzgeber bei der Ausstellung neuer oder erneuter eherner
Tafeln die Ehe für ein kirchliches Institut ansehen, so ist deren Inter¬
pretation falsch und verwerflich. Die Ehe ist die Basis der Familie
und diese diejenige des Staates. Ihr Zweck ist kein religiöser, sondern
ein socialer und staatlicher, die gegenseitige Ergänzung der Gatten,
Erzeugung und Erziehung der Kinder. Mit der Kirche und ihren
Gliedern hat die Ehe, hat das Verhältniß der Familie, vernünftig be¬
trachtet, nicht das Mindeste zu schaffen; die kirchliche Trauung ist
nicht in dem alten germanischen Volksbewußtsein, wie hinreichende
Dokumente beweisen, begründet, sie ist bewiesenermaßen nichts, als ein
^l»it8N8 und .4l»uL>i8 non willt U8link Die Ehe war, ist und bleibt
nur ein organisches Rechtsverhältniß, welches den Staat, nicht aber
die Kirche etwas angeht. Kein Rechtslehrer kann diesen Satz um¬
stoßen; warum also ohne Noth durch Verwerfung der Civilehe den
Staat und seine Bürger einem beständigen Conflict mit der Kirche
aussetzen? Denn wie oft wird dieser vorkommen, hervorgerufen durch
Abneigung, verschiedne Glaubensmeinung, Fanatismus! Folgt denn
z. B. der katholische Geistliche den Befehlen des Staates, wenn diese
seinen römischen Instructionen zuwider laufen? Sollen wir Beispiele
citiren? Man nehme die erste beste Zeitung in die Hand. Und was
wird Alles aus diesen zerstückelten Verhältnissen noch hervorgehen.'
Nein, der Gesetzesentwurf, der in unseren Tagen das Princip der Ci¬
vilehe umstößt und das der kirchlichen Trauung gelten laßt, ist ein
Rückschritt, ein Rückschritt mit Siebenmeilenstiefeln in's Mittelalter,
dessen hierarchischen Tendenzen die letztere ihr Dasein verdankt! Ein
Gesetz aber, das die lebendigen Interessen der Gegenwart verkennt und
sie längst begraben sein sollenden Popanzen opfert, ist wahrlich keine
Gabe die den Dank eines treuen Volkes verdient.
,
Des hessischen Volkes Stimme hat sich schon theilweise gegen
den Beschluß seiner Kammer ausgesprochen. Auch die alten Provin¬
zen haben Adressen verbreitet, worin der in der Kammer geäußerte
Grund, sie seien es, welche die Civilehe nicht wollten, widerlegt wird.
Gewiß hätte die große Mehrzahl des hessischen Volks in gleichem
Sinne geredet, wem, sie auf der Stufe der Urtheilsfähigkeit über die¬
sen Gegenstand stünde. Selbst in der benachbarten Pfalz klang wieder
was Rheinhessen so mächtig bewegte; theilnehmende, zur Stanohaftig-
keit ermunternde Adressen sind von daher eingelaufen. Der Trost ist
übrigens bis jetzt noch den Rheinhessen geblieben, daß es noch Jahre
dauern wird, bis das neue Gesetz in Vollzug tritt, und Zeiten ändern
die Sachen! Vorerst aber hat sie tiefe Trauer ergriffen, und freiwillig
hat das lebenslustige Volk auf die sonst so enthusiastisch begrüßten
Freuden seines Carncvals verzichtet. O es liegt mehr Gefühl und
Gemüth und Urtheil in den Herzen des Volkes verborgen, als man¬
cher pedantische Gesetzgeber sich träumen läßt!
Einiges verdient noch über das Aeußere und den Sitzungs¬
charakter der zweiten dess.-darmstädtischen Kammer, resp, ihrer Mit¬
glieder, gesagt zu werden. Die Kammer versammelt sich in dem scho¬
nen, geräumigen Saale des Ständehauses. Die Deputirten sitzen in
drei concentrischen Kreisen. Dem Präsidenten, in der Peripheriemitte,
gegenüber ist der Ministerialtisch, daneben die Tribüne. Die Plätze
werden unter die Mitglieder verlooft, daher auch schon solchergestalt
nicht von Linker, Rechter oder Centrum die Rede sein kann. Die
Sitzungen dauern gewöhnlich von 9—2 Uhr. Eine geräumige Gallerte
in zwei Theilen, einer in aristokratischer Abgeschlossenheit für Standes¬
herren und Lieutenants, der andere für das übrige Volk bestimmt, ist
stets von einer aufmerksamen, mäuschenstillen Zuhörerschaft besetzt.
Dieselbe besteht, zum großen Verdrusse der schönen Darmstädterinnen,
welche ebenfalls gern die lebendige Discusston über Wohl und Wehe
ihres Vaterlandes hören möchten, der Verordnung nach blos aus
Männern; letzteres Wort darf aber nicht strict genommen werden, denn
oft sind Knaben die Mehrzahl. (In neuester Zeit sollen dieselben
theilweise vom Besuch der Gallerie ausgeschlossen sein.) Die Debatten
sind nie sehr lebhaft, stets in den Schranken der abgezirkeltsten Con-
venienz sich haltend. Nur bei der Civileheberathung sind sie etwas
lebendiger geworden. Selten wird eine Rede von Einwänden unter¬
brochen, trotzdem, daß manche Stunden lang dauert.
Der zweiten Kammer fehlt es nicht an guten Rednern. Von
denen, welche für die Civilehe stimmten, sind als solche zu nennen:
Unit, zweiter Präsident, Abgeordneter der Stadt Mainz, dessen Vor¬
trag elegant, aber oft zu gedehnt ist; Kilian, Abgeordneter von
Niederolm, Ausschußmitglied, welcher Schärfe des Urtheils, umfassen¬
des Wissen mit Eindringlichkeit und überzeugender Kraft zu paaren
weiß; Otto, von Offenbach, dessen Ehrenfestigkeit und Rechtssinn
durchaus anerkannt werden müssen; Glaubrech von Pfeddersheim,
Präses der weiland projectirten, aber verbotenen Advocatenversamm-
l"»g, der mit glänzender Dialektik <>vo deducirt und kritisirt; ferner
Brunck von Wöllstein, der freisinnigste, konsequenteste aller Deputir¬
ten, seit Jahren Ständemitglied, und endlich Zulauf von Endorf,
ein schlichter Landmann, (der einzige in der Kammer!) der mit natür¬
lichem Verstand oft den Nagel ans den Kopf zu treffen und seine
hohlen Gegner mit treffenden Bonmots abzuweisen versteht. — Von
den Rednern gegen die Civilehe sind die namhaftesten: Weiland t,
(auch Mitglied der Gesetzgebungscommission!) welcher klar und deut¬
lich den Gegenstand nach seiner Auffassung zu entwickeln und Hypo¬
thesen statt Wahrheiten geltend zu machen suchte; Graf Lehrbach,
Mann des Hoff und der Welt, welcher, nicht ohne mancherlei Zuge¬
ständnisse für Rheinhessen, ebenfalls unhaltbare Gründe in die Wag¬
schale legte, und Professor sah mittheiln er, dessen glänzende Rede¬
gabe einem schönen, klaren Wasser ohne Tiefe gleicht, dessen kleine
Wellchen verrathen, woher der lose Wind bläst. Andre sprachen, wenn
auch gut, doch nicht besonders beachtenswerth. Unerfreulich war es,
Zu gewahren, wie die liebe Eitelkeit, welche sich hören und gehört sein
wollte, so oft und immer wieder dasselbe, längst Gesagte und Erörterte,
und weiter nichts vorbrachte. Warum doch die Redner sich nicht, wie
anderwärts, vor den Sitzungen über ihre Aufgabe verständigen? Der
erste Präsident der zweiten Kammer, Ober-Appellations-Gerichts-Rath
Hesse, etwas breit, etwas der gehörigen Energie ermangelnd, muß
sich in sein schwieriges, subtiles Amt nach und nach besser einschießen.
Der landständische Commissär der Regierung, Ministerialrath Brer¬
den b ach, ist als talentvoller Rechtsgelehrter bekannt, mehr aber noch
dadurch, daß er gar oft sich dazu brauchen ließ, die Tintenflecken aus¬
zumerzen, welche die Regierung hier lind da in den ber— Unter¬
suchungen der politischen Umtriebe auf die weiße juclici»!»«
schütten und tröpfeln ließ, ohne sie eher bemerken zu wollen, als bis
scharfe Augen sie ohne Brille entdeckten. Der bekannte Nöllner in
Gießen gab dabei öfters den Gehülfen ab, welcher mit Streusand
die Schwärze und die guten Augen zu überdecken suchte. Aber wir
wollen heute uicht den Jüngling von Sais nachahmen! Breitenbach
ist ein ziemlich geübter Redner, welcher es trefflich versteht, einen vor¬
gebrachten Einwand in „allerlei Brimborium" so einzuwickeln, daß
man dessen ursprüngliches Wesen gar nicht mehr erkennen kann. Da¬
neben scheint er das große Talent zu besitzen, über Dinge mit dem Tone der
Ueberzeugung zu reden, von welchen er unmöglich überzeugt sein kann.
Die zweite Kammer der dess.-darmstädtischen Landstände hat einen
Januskopf; das zeigte sie neuerdings, als sie, dem Gesetzesentwurf
entgegen, für die Ehe zwischen Christen und Nichtchristen stimmte. Das ist
in der That doch ein Anschluß an die Lokomotive des Jahrhunderts!
Großes bleibt dieser Kammer noch vorbehalten. Sie hat gut zu
machen, was die Stände von 183» in Hinsicht der .1832 energisch
geforderten Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens,
der Jury im Strafverfahren, der Cvllegialität der Gerichte verdorben
und vertrödelt haben. Sie hat noch über wichtige Punkte des Civil¬
gefetzentwurfes zu discutiren, und eine schwierige Aufgabe für sie ist
dies, weil dieser Entwurf, warum, bleibe unentschieden, zerstückelt, in
Parzellen vorgelegt wird, so daß die Widersprüche sich häufen müssen.
So wird es von ihr abhängen, das den Rheinhessen wie die Civilehe
liebe Institut des Familienraths (welcher von nun an nur berathende,
nicht mehr entscheidende Stimme haben soll), zum Balsam oder
zur tieferen Wunde zu machen. Die Kammer hat ferner ein Polizei¬
strafgesetz zu berathen, dessen Entwurf ein unpolitisch strenger, bevog-
tender, sarmatischer sein soll. Wird sie dem genügen, was das hes¬
sische Volk von ihr erwartet? Wenn sie es wird, dann kann sie vielleicht
noch den Ruhm erringen, den ersten Baustein gelegt zu haben zu dem
Dome einer allgemeinen deutschen Gesetzgebung. Dann aber, wenn
dieser Vogel Phönix sich aus Schutt und Asche einst aufschwingen
wird, dann ist des hessischen Civilgesetzbuchs jetziger Entwurf hoffentlich
nur eine vorübergehende Phase der Entwicklung gewesen!
Wenige Stunden hinter der alterthümlich gebauten, historisch
merkwürdigen Stadt Wiener-Neustadt gelangt man an die ungarische
Grenze. Die Gegend ist flach und trostlos: Haideland ohne die
Poesie der Haide, die sich tiefer im Ungarlande in den zahlreichen
wilden Pferdeheerden und den um das Feuer lagernden Hirten aus¬
spricht. Bis Wiener-Neustadt belebt wenigstens der Schifffahrtscanal
die Gegend; aber bald mündet auch dieser in Sumpf und Moorland
und die Einförmigkeit des sandigen, unebenen und nur hier und da
spärlich mit Haidekraut bewachsenen Bodens wird bisweilen durch
einen, auf einer Erhöhung aufgerichteten Galgen auf eine eben nicht
anziehende Art und Weise unterbrochen. Selten nur trifft man eine
elende Lehmhütte, vor der sich schmuzige, verwahrloste Kinder herum¬
treiben, bis der schlechte Weg gegen Eisenstabe zu in eine prachtvolle,
aber deshalb nicht minder langweilige Pappelallee mündet. Auf der
andern Seite führt der Haideweg bis gegen Oedenburg zu in gleich¬
mäßiger Trübseligkeit fort. Hinter dieser Stadt aber bringen schöne
bewaldete Berge und der herrliche Neusiedlersee mit seinen rebenbc-
wachsenen Ufern eine angenehme Abwechslung in dieses unfreundliche
Gemälde.
Bevor man noch nach Wiener-Neustadt gelangt, liegt links,
einige hundert Schritte von der Heerstraße entfernt, ein großes schlo߬
ähnliches Gebäude an einem kleinen, aber reißenden Mühlbache über
welchen eine hölzerne Brücke führt. Der Glockenthurm dieses Gebäudes
hat nicht die Bestimmung, die Bewohner zur stillen, andächtigen
Sabbatfeier zu rufen, sondern die ganz entgegengesetzte, sie zu dem
Beginn ihrer mühsamen und geräuschvollen Arbeit zu ernähren; denn
dieses Gebäude ist eine der größten Papierfabriken in Oesterreich, und
der Hauptschauplatz der Begebenheiten, welche ich so eben zu erzählen
im Begriffe stehe.
In dem geräumigen Hofe, der durch eüüge zur Fabrik gehörige
Hintergebäude gebildet wird, stand ein junger Mann, eifrigst beschäf¬
tigt, die Wand einer, dem Standpunkte, den er sich gewählt hatte,
gegenüberliegenden, dem Anscheine nach noch ganz neuen Scheune,
mit den Kugeln seiner großen Scheibenpistolen zu durchlöchern.
Obwohl an einem Punkte der Scheunenwand eine regelmäßige
Scheibe angebracht war, so zog es der leichtsinnige Neffe des Fabrik¬
besitzers, denn dies war der junge Mann, vor, planlos auf die Scheibe
zu schießen, und nur bisweilen, gleichsam um sich selbst oder dem
alten Diener, welcher neben ihm stand, seine Kunstfertigkeit zu zeigen,
faßte er das eigentliche Ziel in's Auge, traf aber dann fast immer
das Schwarze. Hugo war, ohne eigentlich schon zu fein, das, was
man eine anziehende Erscheinung nennt. Höchstens achtzehn Jahre
konnten mit ihren Stürmen und mit ihrem Sonnenschein über dieses
sorglose, hoch aufrecht getragene Haupt hinweggezogen sein, von wel¬
chem weiche braune Locken in üppigen Ringeln auf die Schultern Her¬
absielen und ein feingeschnittenes Gesicht einrahmten, für dessen etwas
blasses Colorit große träumerische Augen eine mehr als hinreichende
Entschädigung gewährten. Seine Größe war für sein Alter keine
außergewöhnliche zu nennen, und sein ganzes Aeußere ließ eher auf
eine krankhafte Schwäche, als auf übersprudelnde jugendliche Kraft
schließen; aber die Feinheit und Zierlichkeit seiner ganzen Gestalt, be¬
sonders seiner Hände und Füße, so wie seine selbstbewußte und un¬
gezwungene Körperhaltung machten diesen Umstand eher zu einem
anmuthigen Vorzuge, als zu einem Fehler. Seine leichte ländliche
Kleidung war ganz dazu geeignet, die Vortheile seiner Persönlichkeit
in's hellste Licht zu stellen. Weite, faltige Beinkleider fielen ungezwungen
auf seine Zeugstiefelchen herab, und wurden nur durch eine, mit einer
Quaste geschmückten Schnur an den schlanken Hüften festgehalten.
Der schneeweiße Hemdkragen war über den kurzen Jagdrock von leich¬
tem grünem Tuch herübergeschlagen, und nur lose durch ein kleines,
schwarzes Seidenhalstuch zusammengehalten. Ein feiner, breitkrcim-
piger Strohhut, um den ein grünes Band gewunden war, schützte
sein Gesicht vor den letzten Strahlen der Sonne, die schon äußerst
schräg in den Hofraum hereinfielen. Weste und Hosenträger schien
Hugo als höchst unnütze Erfindungen menschlichen Unbcschäftigtseins
gründlich zu verachten.
Ein prächtiger schwarzer Neufoundländerhund lag zu seinen Füßen
und schaute mit seinen klugen treuen Augen zu dem jungen Ge¬
bieter auf, der so eifrig in seiner Beschäftigung fortfuhr, als hätte er
sich vorgenommen, die unschuldige Scheunenwand noch vor Sonnen¬
untergang in ein Mehlsieb zu verwandeln.
„Aber um Gottes willen, junger Herr," sagte der alte schnurrbär¬
tige Diener, indem er das eine Pistol lud, während Hugo das andere
abfeuerte, „was wird denn der gnädige Herr Onkel sagen, wenn er
bei seiner Zurückkunft die schöne neue Scheune so in Grund und Bo¬
den geschossen findet? Sie wurde erst in diesem Frühjahre gebaut und
hat ein sündhaftes Geld gekostet, da jetzt —"
„BistDu bald fertig," unterbrach ihn Hugo lustig, „ich meine mit dem
Laden, denn schwatzen kannst Du, so viel Dir beliebt. Was mein
Onkel sagen wird, Johann? Nun wahrscheinlich das, was der Kam¬
merdiener des Fürsten in Schillers Kabale und Liebe zur Lady Mil-
ford sagte: Legt's zu dem Uebrigen: zu den matt gefahrenen Pferden,
zu den erbrochenen Jagdwagen, und zu der Asche seiner Havannah--
Cigarren." Nach diesen Worten wirbelte Hugo ein blaues wohlrie¬
chendes Rauchwölkchen aus seinem Munde und fuhr dann stillschwei¬
gend in seiner lärmenden Beschäftigung fort, bis dieselbe, obwohl ihr
die einbrechende Dunkelheit ohnedies bald ein Ziel gesetzt haben würde,
durch rasch sich nähernde Schritte unterbrochen wurde.
Beikend sprang Hector, der Neufoundländer, auf einen jungen
Menschen, von beinahe gleichem Alter wie Hugo, los, der jetzt von
der Seite der Hauptgebäude her in den Hof trat.
„Zurück, Hector!" rief Hugo.
Aber der Hund leistete dem Rufe keine Folge, und ängstlich
drückte sich Hugo's Freund an die Wand, was um so komischer an¬
zusehen war, als derselbe die Uniform des Kadetten-ErziehungshauseS
anhatte und einen Degen an seiner Seite trug.
Noch einmal rief Hugo schon roth vor Zorn: Zurück, Hector,
und dabei blitzte sein Auge so wild und drohend, wie man es bei
seinem sanften, fast weiblich zarten Aeußeren nicht erwartet hätte.
Der Hund gehorchte nicht, aber den Augenblick darauf folgte
ein Blitz, ein Knall, und der widerspenstige Hector wälzte sich heulend
am Boden. Hugo hatte mit dem noch geladenen Pistol, welches er
gerade in der Hand hielt, nach ihm geschossen. Es war ein Unglück
für Hector, daß es gerade ein Pistol war; wäre es eine Peitsche
gewesen, so wäre das eigensinnige Thier wahrscheinlich mir ein paar
tüchtigen Hieben davongekommen.
„Jesus Maria!" schrie Johann, „des gnädigen Herrn Lieblings-
Hund," und damit stürzte er zu dem Verwundeten hin, und kniete
neben denselben nieder, um ihn zu untersuchen.
„Warum gehorcht mir die Bestie nicht?" sagte Hugo erblassend.
Dann wandte er sich zu dem schuldlosen Urheber des ganzen Unglücks,
der noch immer ängstlich an die Mauer gelehnt da stand, und sagte
zu ihm in freundlichem Tone: „Guten Abend, lieber Fritz! So trete
doch näher. Ich habe dem verdammten Hector seine Unarten hoffent¬
lich für lange genug ausgetrieben."
„Gott sei Dank, daß er nicht crepiren wird," sagte Johann, der
jetzt mit seiner Untersuchung des vierbeinigen Patienten fertig geworden
war, „ich glaube, der gnädige Herr hätte uns sonst alle vor Wuth
zu Hadern zerrissen und Papier aus uns gemahlen. Eilten gehörigen
Spectakel wird es bei alle dem doch geben, denn so viel steht fest,
daß der arme Hector sein Leben lang hinken wird."
„Nein," sagte Hugo, „ich weiß, wohin ich zielte, ich habe ihn
blos ins linke Bein geschossen!"
„Aber wirklich, Hugo, Du treibst es gar zu arg," sagte der
Militärzögling, indem er näher trat. „Dein gütiger Oheim —"
Hugo unterbrach ihn: „Hätte ich Dich etwa sollen von dem
Hunde in Stücke zerreißen lassen, Du Undankbarer? Gütiger Oheim?
O, es geschieht ihm ganz recht, diesem gütigen Oheim, wenn ich
jetzt auf der Fabrik das Unterste zu oberst kehre. Ich habe jetzt, Gott
sei Dank, das Gymnasium hinter mir und immer die ersten Preise
bekommen. Da gebührt sich min nach göttlichen und menschlichen
Gesetzen eine Ferienreise in die Schweiz oder nach Italien, um mich
für die Anstrengungen und den Ernst des Studentenlebens, in welches
ich jetzt einzutreten im Begriffe stehe, gehörig zu stärken. Hugo, sagte
mein Onkel zu mir, als er vor seiner Abreise nach England, wo er
neue Maschinen bestellen will, zum letzten Male nach Wien kam,
Hugo, Du würdest während der Ferien in Wien gewiß viele dumme
Streiche machen. Da mich mein Onkel sehr genau kennt, so konnte
ich das nicht füglich in Abrede stellen.
Der Onkel musterte mich ironisch und sagte nach einer kleinen
nachdenklichen Pause. Du wirst Deine Ferien und die Zeit mei-
ner Abwesenheit auf meiner Fabrik zubringen. Du hast dort Ruhe
und Muße zumStndiren, meine kleine, aber ausgewählte Bibliothek
steht Dir zu Gebote, und allenfalls darfst Du auch meine Equipage
zu kleinen Ausflügen in der Umgegend benutzen, eine Erlaubniß, von
der Du jedoch, wie ich hoffe, nur mit äußerster Mäßigung Gebrauch
machen wirst. Ich fürchte aber, mein Onkel wird es bereuen, daß er
mich auf diese schändliche Fabrik verbannt hat; man wird hier zu
rausend Dingen gereizt, die einem sonst nicht in den Kopf kämen.
Ruhe und Muße zum Studiren? Als ob das verdammte Müh¬
lengeklapper auch nur Einen Augenblick, sei es bei Tag oder Nacht,
schwiege. Kleine, aber ausgewählte Bibliothek? Lauter dicke Schar¬
tecken über Maschinenbau, Wasserleitungen und Nationalökonomie,
bis ans ein paar Romane, die ich schon in Wien wieder vor Langer¬
weile von rückwärts zu lesen angefangen hatte, weil ich sie von vorne
auswendig wußte. Benutzung der Equipage zu Ausflüge» in die
Umgegend, als ob dies überhaupt eine Gegend und nicht blos ein
Platz wäre, auf welchem sich allenfalls eine Gegend befinden konnte.
Ich wäre schon in den paar Wochen, die ich hier bin, vor langer
Weile wahnsinnig geworden, wenn ich nicht diese Pistolen da gesun¬
den hätte, und, was mir fast noch lieber war, ein Kistchen von meines
Onkels besten Havanna!)-Cigarren. Willst Du eine davon, Fritz?
Aber ich sage Dir in vorhinein, daß sie stark sind." Damit brach
Hugo seine lange und bittere Herzensergießung ab, zog aus der
Brusttasche seines Rockes ein gesticktes Cigarrenetni heraus und reichte
es seinem Freunde, der sich aus Gewohnheit erst umsah, ob es auch
Niemand bemerke, und sich dann halb vor Freude, halb vor Furcht,
entdeckt zu werden, zitternd dem verpöntem Genusse hingab.
„Aber wie kommt es denn, Fritz," fragte Hugo, „daß Du mich
heute zu besuchen kommst? So viel ich weiß, dürft ihr nur an Sonn-
und Feiertagen eure Zwitteranstalt von Kloster und Kaserne verlassen."
"
„Du hast Recht, erwiderte der Militärzögling, „ich habe mich
auch nur heimlich, während der Freistunden, die wir im Garten zu¬
bringen sollen, hinweggestohlen. Wenn es herauskommt, so habe ich
eine sehr bedeutende Straft zu erwarten."
„ES soll aber nicht herauskommen, guter Junge," erwiderte
Hugo mit Zuversicht, „eben so wenig wie meine Tabakschwärzereien
wenn ich mit meines Onkels Geschirr aus Ungarn zurückkehre. Aber
der beste Spaß bei der Sache ist der Umstand, daß ich mit vielen von
den Grenzjägern ganz gut stehe, besonders mit dem langen Franz, der
ein verdorbener Student ist. Der hat mir nun versprochen mich mor¬
gen Abend zu einer ganz eigenthümlichen Parthie mitzunehmen. Sie
haben nämlich Nachricht erhalten, daß morgen Nachts ein Haufe be¬
waffneter schwarzer eine bedeutende Partie Tabak herüber paschen
wolle, und werden ihnen daher den Uebergang über das Grenzflüßchen
streitig machen."
Und Du willst diesem Unternehmen doch nicht etwa beiwohnen,
fragte Fritz ängstlich.
Das versteht sich, erwiderte Hugo entschlossen, diese schöne Ge¬
legenheit, einmal in meinem Leben Flintenkugeln pfeifen zu hören,
werde ich mir doch nicht entgehen lassen. Der lange Franz führt den
Zug an, und hat mir auf sein heiliges Ehrenwort versprochen, mich
mitzunehmen. Mir ist es freilich ganz gleichgültig, ob die armen
Teufel von schwarzem ein paar Centner Tabak nach Wien hinein¬
bringen oder nicht; ja es sollte mir sogar leid thun, wenn ich mit
meines Onkels guter Jagdbüchse einen derselben niederschießen müßte,
da die Kerle nur aus Noth paschen, und ich aus Uebermuth; aber
mitmachen muß ich die Geschichte, so viel steht fest.
Unter diesen Gesprächen war es vollends Abend geworden, und
Hugo selbst erinnerte jetzt seinen jungen Freund daran, daß es die
höchste Zeit für ihn sei, in die Militärakademie zurückzukehren, wenn
er sich nicht sicherer Entdeckung und Bestrafung aussetzen wolle.
„Ich will Dich nach Hause fahren, Fritz, wenigstens bis zu dem
Seitenwege, der zu der Gartenmauer der Aeademie führt, denn es
wäre für uns doch nicht gerathen, uns das Hauptthor aufsperren zu
lassen. He, Johann, wandte sich Hugo zu dem Bedienten, der den
verwundeten Hund hinweggeschafft hatte, und jetzt wieder zurückgekehrt
war, lasse einspannen.
Aber junger Herr, entgegnete Johann schüchtern, es sind noch
keine zwei Stunden her, daß die Pferde todtmüde und schweißtriefend
in den Stall kamen. Sie haben noch kaum Zeit gehabt zu fressen
und zu saufen.
Lasse einspannen Alter, sage ich Dir, rief Hugo ungeduldig
mit dem Fuße stampfend ; ich kann doch meinen Gast nicht zu Fuße
nach Hause gehen lassen.
Johann gehorchte und nach ein paar Minuten stand das Ge¬
spann in dem Haupthöfe der Fabrik. Johann betrachtete es seufzend
und kopfschüttelnd.
Sonst, murmelte er, mußten zwei Leute die Pferde halten, bis
der gnädige Herr aufgestiegen war, und die Zügel ergriffen hatte,
aber das muß man sagen, der junge Herr Hugo hat die Thiere rasch
zahm gemacht.
ES war eben 8 Uhr Abends. Die große Glocke der Fabrik
läutete zum Feierabend, und aus allen Räumen des Hauses ergossen
sich Schaaren von Männern, Weibern und Kindern, die nach voll¬
brachtem Tagewerke in ihre niedern Hütten zurückkehrten, die ein paar
hundert Schritte von der Fabrik entfernt jenseits des Mühlenbaches
lagen. —
Hugo und sein Freund stiegen auf. Ersterer ergriff Zügel und
Peitsche und handhabte auch sogleich die letztere so kräftig, daß das
Gespann im donnernden Galopp über die hölzerne Brücke flog, an
deren einen Seite ein Pfeiler mit einer Tafel aufgerichtet stand, auf
welcher zu lesen war, daß man nur im Schritt über diese Brücke
fahren dürfe, ein Gebot, welches Hugo für Jedermann, sich allem
ausgenommen, für bindend hielt. Bald war das Fuhrwerk dem
Blick der ehrerbietig grüßenden Arbeiter in einer Staubwolke ent¬
schwunden.
Eisenstabe ist ein kleines freundliches Städtchen mit fast lauter
neuen Häusern und einem prachtvollen fürstlichen Schlosse, das von
einem großen, aber freilich jetzt etwas verwahrlostem Parke eingehegt
wird. Die Familie Esterhazy, der Stadt und Schloß gehört, übt
hier noch eine Art von feudaler Souverainetät aus, deren am meisten
in die Augen fallendes Zeichen die großen ungeschlachten Bauerlum-
mel sind, welche als fürstliche Leibgarde in grellrolhe Röcke gesteckt
vor dem Wachhause auf dem Marktplatze herumlungern, und wahr¬
scheinlich die alterthümliche Feldschlange bewachen sollen, welche mit
ihrer dunklen Mündung gegen das friedliebende Städtchen gerichtet
einen nichts weniger als furchtbaren Anblick gewährt. Ob sich die
Familie auch ihres anderen Souverainetätsvorrechtes, nämlich der Be-
fugniß Geld zu schlagen, bedient, weiß ich nicht, bezweifle ich aber,
da sie, wenn anders die böse Welt Recht hat, um das Metall, aus
welchem Geld geschlagen zu werden pflegt, manchmal in Verlegen¬
heit sein dürfte. Daß sie dagegen Papiere ausgibt, scheint mir eine
feststehende Thatsache zu sein, wenn auch Uebelwollende behaupten,
daß dieses Papiere-Ausgeben sich nur einfach auf Wechsel. Ausstellen
beschränke.
Außer den rothröcktgen Gardisten und der alterthümlichen Feld¬
schlange hatte Eisenstabe aber noch eine andere und viel anziehendere
Eigenthümlichkeit: nämlich die vielen und schönen schwarzäugigen
.Töchter Israels, welche aus allen Fenstern auf den Fremden neugie¬
rige und verstohlene Blicke warfen, und das um so mehr, als ein
solcher in Eisenstabe gerade nicht zu den alltäglichsten Erscheinungen
gehörte. —
Nur wenn Nachmittags immer zu derselben Stunde ein leichtes
Fuhrwerk zu dem Stadtthore hereinrollte, so traten sie nicht mehr
an's ^Fenster, sondern warfen höchstens von der Stube aus einen
flüchtigen und mißvergnügten Blick auf die Straße, denn sie wußten
schon wer es war und wem allein der Besuch galt. Zwei Augen
aber leuchteten dann in hellerem Glänze, zwei Wangen färbten sich
röther vor Freude und zitterndem Erwarten, und ein junges feuriges
Herz klopfte dann stürmischer in einer unerfahrenen unschuldigen
Brust. —
Hugo nahm sich in der That auch gut genug aus, wenn er in
dem leichten Wurstwagen dahinflog. Hatten auch die schönen Brau¬
nen, seitdem sie ihm anvertraut worden waren, viel von ihrem natür¬
lichen Feuer verloren, so wußte das der junge Wagenlenker durch ein
um so energischeres Handhaben von Zügel und Peitsche zu ersetzen.
Eine kleine blaue Sammtmütze ohne Schirm saß jetzt keck auf seinem
übermüthigen lockcnumwallten Haupte, und auf seinem Sitze lag zu¬
rückgeschlagen ein weiter, ganz mit purpurrothen Wollstoffe gefütterter
Mantel, denn die Septembernächte singen schon an, kühl zu werden,
und es traf sich manchmal, daß es Abend wurde, ehe Hugo an die
Heimfahrt dachte. Der alte Johann, der auf dem Hintersitze saß,
langweilte sich während dieser Fahrten, die er nun schon mehrere
Wochen hindurch fast täglich mitmachen mußte, nuf's herzlichste, eine
Beschäftigung, die nur zuweilen durch ein unmuthiges und ärgerliches
Kopfschütteln unterbrochen wurde, wenn der junge Herr dein armen
Vieh, wie er sich ausdrückte, zu viel zumuthete, und die Peitsche gar
zu unbarmherzig handhabte.
Es war eigentlich schwer zu sagen, welches von drei Dingen der
mächtige Magnet war, der Hugo's Ausflüge unveränderlich nach
Eisenstabe hinrichtete. War es der köstliche feurige Ungarwein, der
in der räucherigen Schenke am Ende deS Städtchens für wenige
Kreuzer die Maaß verschenkt wurde, und vereint mit den hochrothen
Liedern der Zigeunermusikanten das Blut rascher durch die Adern
rollen machte. Dem alten Johann wenigstens schien dieser Beweg¬
grund noch der plausibelste zu sein, eine Ansicht, die er dadurch prak¬
tisch darlegte, daß er. die gebotene Gelegenheit im vollsten Maße
benutzte, und sich auf der Heimfahrt meist in demjenigen seligen Zu¬
stande befand, in dem er mit der ganzen Welt, und folglich auch mit
diesen Ausflügen des jungen Herrn ausgesöhnt war.
Oder waren es vielleicht die trefflichen Cigarren, die die seligen
Havannah's des gestrengen Herrn Onkels ersetzen mußten, seitdem
letztere die Wahrheit des Ausspruches putois et umbri,, sumus prak¬
tisch bewiesen hatten, welche Hugo nach Eisenstabe hinzogen? Gewiß
ist es, daß jedesmal, wenn er über die Grenze zurückkehrte, eine der¬
selben lustig in seinem Munde dampfte, gleichsam als freue sie sich
darüber, daß so viele ihrer Schwestern in der mit schwarzem Blech
bedeckten Wagenlaterne wohlbehalten ihrer Bestimmung entgegenführen.
Das war nun wieder für Johann eine gute Seite an diesen pferde¬
mörderischen Fahrten, denn in der anderen Wagenlaterne befand sich
herrlicher Lettinger und Hugo geizte mit demselben durchaus nicht,
am wenigsten aber gegen seinen Mitschuldigen bei diesen Zolldefrau-
dationen. —
Was endlich die dritte mögliche Anziehungskraft, welche Eisen¬
stabe auf unsren jungen Abenteurer ausüben konnte und von der
freilich der gute Johann keine Ahnung hatte, betrifft, so haben wir
derselben schon früher erwähnt. Sie bestand nämlich in den Heller
leuchtenden Augen, den röther glühenden Wangen, und dem stürmi¬
scher klopfenden Herzen der schönen sechszehnjährigen Esther.
Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß alle drei
genannte Beweggründe gleich mächtig auf Hugo einwirkten. In der
That, es saß sich so behaglich in der niederen Schenkstube unter den
schnurrbärtigen ungarischen Bauern und Soldaten, wie flüssiges Feuer
glitt der dnnkelglühende Wein die Kehle hinab, und wie lockende Äp-
pige Sirenen rauschten und klagten die Cymbeln- und Geigentöne der
Zigeunerbande. Wohlriechende blaue Rauchwolken ringelten sich aus
den kurzen rothen Thonpfeifen in die Luft empor, und bildeten seltsam
verschlungene phantastische Figuren und Gestalten. Hugo war ganz
der Mensch dazu , die Poesie dieses Schenkenlebens zu verstehen und
sie in vollen Zügen zu genießen. Träumerisch in eine Ecke gelehnt
blickte er in sein Glas, oder sah den sich haschenden Rauchwölkchen
zu, während die heiße Musik wild um seine Sinne und seine Phantasie
warb. Zuweilen auch sprang er mit Einem Male hastig auf, warf
den braunen Musikanten ein Silberstück hin, und verlangte die unga¬
rische Marseillaise, denwilden feurigen Marsch : „Rakoczy's des Rebellen."
Dann stürzte er in hastigeren Zügen seinen Wein hinunter und er¬
zählte mit stolzem Behagen den aufhorchenden Bauern, daß auch er
in Ungarn geboren und nur in Wien erzogen sei.
Um eine bestimmte Stunde aber, wenn die Sonne sich dem Un¬
tergänge zuneigte, verließ Hugo- zum großen Leidwesen der Bauern,
denen er auf seine Kosten fleißig einschenken zu lassen pflegte, regel¬
mäßig die Schenke. Er ging dann, zum Thore des Städtchens hin¬
aus und an der Hinteren Mauer de>? Parkes entlang, in welcher er
eine niedere Stelle benutzte, um sich yniüber zu schwingen, während
Esther ven einfacheren und näheren Weg durch den Schloßhof ein¬
schlug. Beide Pfade aber führten zu einem herrlichen lauschigen
Plätzchen.
Der Park war so ziemlich verwildert, aber gerade diese Verwil¬
derung machte ihn anziehend. Nichts ist unausstehlicher, als jene
schnurgeraden Taruswände, aus denen sich immer in gleicher Entfer¬
nung von einander plumpe Travestien der Antike in Sandstein her¬
vorheben.
Hugo war durch das dichte Gestrippe geschritten, welches überall
hoch emporwuchcrte, und zuerst an die kleine Waldlichtung gelangt,
an deren Rande sich eine von hohen Eichen beschattete Moosbank be¬
fand. Sehr erstaunt, noch Niemanden hier zu finden, blickte er um
sich, und um seine feingeschnittenen Lippen zuckte ein böser Zug, der
von Unmuth und Geringschätzung sprach. Verzogen und selbstsüchtig,
wie er trotz aller seiner guten Eigenschaften durch die versengende
Atmosphäre des Wiener Gesellschaftslebens geworden war, verletzte
es seine Eitelkeit, daß Esther diesmal nicht, wie gewöhnlich, die Erste
auf dem Platze war, an welchem sie sich zu treffen pflegten. Schein¬
bar theilnahmlos warf er sich der Länge nach auf die Moosbank hin,
blickte jedoch von Zeit zu Zeit scharf nach der Seite aus, von welcher
die Erwartete kommen mußte.
Endlich gewahrte er sie an dem äußersten Ende der Allee, welche
von der anderen Seite her zu diesem Platze führte. Rasch stand er
auf, und that, als bemerke er Esther nicht, und sei eben im Begriffe
sich wieder zu entfernen.
Hugo ! Hugo! rief eine jugendlich helle vibrirende Stimme.
Hugo drehte sich um und schritt dem Mädchen, das leicht, wie von
Freude und Glückseligkeit getragen daher schwebte, langsam ent¬
gegen.
Obgleich noch beinahe ein Kind, war sie/Mes bei dem südlichen
Blute, das in ihren Adern rollte, schon weit entwickelter, als die
meisten anderen Mädchen ihres Alters. Schwarze Augen und blau-
schwarz glänzende Haare^ blasse durchsichtige Wangen und korallen¬
rothe Lippen, eine leichte Mphenhafte Gestalt, das ist freilich der ge¬
wöhnliche Apparat der Roman- und Novellenheldinnen, aber was
kann ich dafür, daß Esther alle ti'se Vorzüge wirklich besaß, denn ich
glaube dem Leser schon mitgethei t zu haben, daß ich hier nur eine
wahre Geschichte wiedererzähle. Was Esther's Kleidung betraf, so
war dieselbe nichts weniger als dürftig, sondern bestand aus sehr ge¬
schmackvollen und feinen Stoffen, ein Umstand, den man mit der an¬
geblichen Armuth ihres Vaters freilich nicht recht in Einklang brin¬
gen konnte."
„Ah! Du kommst also doch, sagte Hugo, als er Esther erreicht
hatte; „ich dachte schon, ich würde Dich heute nicht mehr zu sehen
bekommen, und war eben im Begriffe wieder nach Hause zu fahren."
„Wie kannst Du nur so etwas denken," sagte Esther vorwurfs¬
voll, indem sie sich in seine Arme warf, und eine helle Thräne in ihr
herrliches schwarzes Auge trat. „Der Vater tritt morgen eine Ge¬
schäftsreise an und da gab es noch mancherlei vorzubereiten, so daß
ich nicht früher abkommen konnte. Verzeihe mir daher, daß ich Dich
warten ließ."
Als das reizende Geschöpf so warm, so hingebend an seinem
Halse hing, brach Hugo's gewaltsam zurückgedrängte Natürlichkeit
wieder hervor; er ließ die Maske der Kälte und Gleichgültigkeit fah¬
ren, zog Esther zu sich auf die Rasenbank nieder, und küßte ihr die
Tropfen, die seine Härte perlen gemacht hatte, wieder von den nassen
Augenlidern, und bald lächelte das Mädchen auch glückselig, wie eine
Blume, die nach einem erfrischenden Gewitterregen ihr gesenktes Haupt
wieder erhebt.
Hugo war ein Stück Poet, und nach dem wildesten Toben zog
oft eine schwärmerische Mondscheinromantik in sein Herz ein, wie zu¬
weilen silberne Lichtstreifen durch dichte Waldesrande hereinfallen. So
durchzuckte ihn auch jetzt ein wehmüthiger Schmerz, als er das schöne
junge Geschöpf so vertrauensvoll in seinen Armen ruhen fühlte und
ihm sein Verstand doch sagen mußte , daß das Alles nichts mehr,
nichts mehr sein dürfe, als eine flüchtige Ferienliebschaft. Es mag
unnatürlich scheinen, aber nichts desto weniger bleibt es wahr, daß
sich sein jugendlich kecker Geist doch schon in dem Grade mit dem
Leben und seinen Convenienzen pertraut gemacht und ausgesöhnt hatte,
daß er auch nicht Einen Augenblick daran dachte, mehr daraus zu
machen, obgleich er das Mädchen wirklich so warm liebte, als es sein
etwas selbstsüchtiger und leichtsinniger Charakter nur immer zuließ.
Gleichsam als errathe sie, was in der Seele des Geliebten vor¬
ging, sagte jetzt Esther traurig:
Aber wie lange wird unser Glück dauern, Hugo? Wenn der
September zu Ende ist, mußt Du wieder zurück in das stolze prächtige
Wien, und da wirst Du in dem Gewühle Deine arme kleine Esther
bald vergessen haben.
Obgleich Hugo innerlich fühlte, daß sie vielleicht nur zu wahr
rede, tröstete er sie doch, vorzüglich durch das Versprechen, ihr jede
Woche einmal zu schreiben, so gut, als er es ohne selbst von der
Wahrheit seiner Betheuerungen in tiefster Seele überzeugt zu sein, im
Stande war.
Esther brach diesmal früher auf, als gewöhnlich, denn sie hatte
noch so Manches für die bevorstehende Abreise ihres Vaters zu ord¬
nen, und dann fürchtete sie auch die Aufpasserei und Klatschsucht ihrer
älteren Genossinnen, die sich schon zudringlich in das süße Geheimniß
ihres Herzens gedrängt hatten, und nur auf eine Gelegenheit warte¬
ten, um Esther, die sie um die nach ihren Begriffen glänzende Er¬
oberung des jungen Wiener Studenten beneideten, einen Streich zu
spielen.
Hugo, aber kehrte ernst und nachsinnend auf dem Wege, den er
gekommen war, wieder in die Schenke zurück, vor welcher ihn Johann
mit dem Gespann erwartete. In Hugo'S Brust mochte doch etwas
wie ein tiefer Vorwurf erwacht sein, und er schüttelte sein Haupt
heftig, gleichsam als wollte er einen quälenden Gedanken von sich
abschütteln. In der Schenke stürzte er noch ein Glas Wein hinunter,
um sich für die nächtliche Fahrt über die Halde zu erwärmen, dann
stieg er auf, sah nach seinen Pistolen, ergriff die Zügel und fort ging
es rasselnd über das holprige Steinpflaster des Städtchens.
Der nächstfolgende Abend war derjenige, an welchem der lange
Franz seinem Versprechen gemäß Hugo zu der nächtlichen Erpedition
gegen die schwarzer abholen sollte, damit der junge Herr doch auch
einmal höre, wie eine blaue Bohne surre. Zu der bestimmten Stunde
kam der Grenzjäger, in dessen zerwühltes Gesicht Leidenschaften und
Laster, im Verein mit seiner mühevollen und gefährlichen LebsMweise,
tiefe Furchen gegraben hatten, auf die Fabrik, und zwar ziemÄch ernst,
was sonst nicht seine Weise war.
Junger Herr, sagte er, ich habe Ihnen versprochen Sie heute
mitzunehmen, und was ich versprochen habe, pflege ich zu halten ;
aber ich gäbe etwas darum, wenn ich es nicht gethan hätte. Diese
Geschichte heute Nacht wird ernster werden, als ich voraus sehen
konnte. Der schwarze Jsaak aus Eisenstabe führt heute die Pascher
an, und wenn der dabei war, ist's noch selten ohne Blut abgegangen.
Wenn Sie daher etwas wie Furcht in sich spüren, junger Herr, so schlafen
Sie heute Nacht ruhig in Ihrem Bette. Eine Schande ist's nicht,
denn ich habe schon manchen braven Kerl, der schon zehnmal Pulver
gerochen hat, blaß werden sehen, wenn es hieß : heute ist? der schwarze
Jsaak dabei.
Statt aller Antwort nahm Hugo seines Onkels beste Jagdbüchse
von der Wand, und hing sich seinen Mantel über die Schultern.
Das ist nur sür den Fall der Nothwehr, sagte er «uf das Ge¬
wehr deutend, denn, aufrichtig gesprochen, fühle ich verdammt wenig
Beruf in mir, zum Besten der Tabaksregie einen Menschen todtzuschie¬
ßen. Ich will sagen können, daß ich schon Kugeln pfeifen gehört
habe, das ist der ganze Spaß, den mir die Geschichte macht.
Sie thäten mir eigentlich einen Gefallen, wenn Sie mir mein
Wort zurückgeben würden, denn man sieht Sie mit mir fortgehen, und
die Verantwortung, wenn Ihnen etwas zustoßen sollte, fällt auf mich.
Bei uns ist's erwas Anderes, da kräht kein Hahn darnach, wenn's
Einer vergißt in's Wachhaus zurückzukehren. Dafür bekommen wir
einen Silberzwanziger des Tags, daß wir unsere Haut zu Markte
tragen. Aber ein so feiner junger Herr, der die Sache nur aus Lieb¬
haberei betreibt) es wäre doch ewig Schade, obgleich wir eben so gut
unserer Mutter Kind sind, als ein anderer. .
Hugo wagte eine ungeduldige Bewegung. Du wirst mir noch
die alte Haushälterin auf den Hals schwatzen, die in der Nebenstube
sitzt, und der ich gesagt habe, daß ich heute Nacht mit Dir auf den
Anstand gehen will. Zum Glück weiß sie nicht, daß jetzt noch gar
keine Jagdzeit ist.
Franz sah jetzt ein, daß alle seine Bemühungen vergeblich seien,
und fügte sich daher mit wahrhaft philosophischem Gleichmuthe in das
Unvermeidliche ; ja vielleicht freute es ihn sogar heimlich, daß sich
Hugo von dem einmal gefaßten Vorsatze nicht wieder abbringen ließ,
wenigstens schienen die zwischen den Zähnen gemurmelten Worte:
Weiß Gott, 'n tüchtiger Junge, zu dieser Annahme zu berechtigen.
Sie gingen, und holten, da sie ihre Schritte möglichst beschleu¬
nigten, bald den Trupp von Kameraden ein, mit denen sie die Aben¬
teuer dieser Nacht bestehen sollten. Ernst und schweigend zogen sie
dahin, als fühle Jeder, daß der Gang dieser Nacht leicht sein letzter
in diesem Leben sein könne. Franz allein behielt seine heitere sorglose
Laune bei, und erzählte bald haarsträubende Geschichten von der Grau^
sanken der ungarischenPascher, wenn sie einen ihrer Feinde gefangen genom¬
men hatten, bald die lustigsten Züge ihrer Verschlagenheit, wenn es darauf
ankam, den Zollbeamten zu entgehen und ihre Waare in Sicherheit
zu bringen.
Unter solchen Gesprächen hatte man die Grenze erreicht. Es war
unterdessen vollkommen Nacht geworden, und zwar eine so finstere
regnerische Nacht, als sich die schwarzer zu ihrem gefährlichen Unter¬
nehmen nur immer wünschen konnten. Die Art und Weise des kleinen
Krieges, welcher hier Jahr aus Jahr ein geführt wurde, war eine sehr ein¬
fache und sich immer gleichbleibende. Ein kleines Grenzflüßchen, die Leitha,
trennt hier nämlich das österreichische und ungarische Gebiet von ein¬
ander, und es kommt also nur darauf an, die wenigen Fürther, durch
welche Männer mit Waarenbündeln auf dem Rücken waten konnten,
und welche die Grenzjäger sehr genau kannten, zu besetzen, und diese
Stellungen, was die Hauptsache ist, gegen die oft sehr entschlossenen
Angriffe der Pascher zu behaupten.
Auf dem Schlachtfelde angelangt vertheilte Franz mit strategischer
Umsicht seine kleine Schaar. Er selbst und Hugo blieben an derjenigen
Stelle, an welcher sich aller Wahrscheinlichkeit nach der erste Angriff
erwarten ließ.
In der That dauerte es auch nicht sehr lange bis sich ein äußerst
verdächtiges Plätschern in dem Flusse vernehmen ließ, und bei dem
Blitze eines auf's Geradewohl abgedrückten Gewehres konnte man eine
ziemliche Anzahl von Männern gewahren, die gut bewaffnet und mit
großen Bündeln auf dem Rücken das diesseitige Ufer zu gewinnen
strebten. Sowie sie aber bemerkten, daß man hier zu ihrem Empfange
gerüstet sei, stiegen sie wieder an's Land und eröffneten ein wohlunter¬
haltenes Plänklerfeuer. Zum Glück herrschte eine wahrhaft ägyptische
Finsterniß, und so thaten denn ihre Kugeln keinen weiteren Schaden,
als daß eine derselben Hugo'n die Mütze vom Kopfe riß und eine
andere einen Grenzjäger an der Schulter streifte.
Indessen hatten die Pascher es auch an anderen Stellen versucht,
das Flüßchen zu durchwaten, waren aber überall gleich energisch em¬
pfangen worden. So dauerte dieses erfolglose Hinüber- und Herüber¬
schießen mehrere Stunden, bis endlich der Zufall die gesetzliche Macht
für diesmal zu begünstigen schien. Nach einer sehr lebhaften Salve
hörte man nämlich plötzlich vom jenseitigen Ufer ein Aechzen, wie das
eines Schwerverwundeten, und gleich darauf gaben die Pascher alle
ihre Versuche auf und zogen sich zurück.
Die Grenzjäger warteten, bis der Morgen graute und überschrit¬
ten den Fluß. Da fanden sie eine breite Blutspur, die landeinwärts
führte. Ich wette, hagre Franz, daß dieses Blut noch vor zwei Stümper
in den Adern des schwarzen Jsaak gerollt hat, denn so lange der sich
rühren kann, gibt er den Kampf nicht auf und wenn die helle liebe
Gottessonne dazu vom Firmamente schiene.
Als die Fabriksglocke die Arbeiter zum neuen Tagewerke rief,
kehrte Hugo verstört und durchnäßt nach Hause zurück, um den Schlaf
zu suchen. Er fand ihn jedoch nicht sogleich. Wirre, fieberhafte Phan¬
tasien umgaukelten ihn, und obgleich er den Schuß in seiner Büchse
wieder mit nach Hause gebracht hatte, so war es ihm doch immer,
als sei er der Mörder des schwarzen Jsaaks, und die Blutspur lief
im Kreise rings um sein Bett herum.
Da kam Esther, schön wie immer, aber bleicher als sonst, und
sie wollte zu ihm, aber sie konnte nicht über die Blutspur herüber
und sie rang sich die Hände wund.
Dann stand wieder sein Onkel vor ihm und verlangte Rechen¬
schaft über die halbtodtgefahrenen Pferde, über die zerbrochenen Jagd¬
wagen, über die geangelten Goldfische im Gartenbassin, über die ge¬
rauchten Havanna!)-Cigarren, über die durchlöcherte Scheunenwanv
uno über das lahmgeschossene Hinterbein Hectors.
Endlich verschwamme« alle diese Gestalten: der blutende schwarze
Jsaak, die händeringende Esther und der Rechenschaft fordernde On¬
kel in ein dunkles, unwirthbareö Chaos zusammen, und Hugo verfiel
in einen festen Schlaf, aus dem er erst gegen Mittag erwachte.
Leider sollte Eine Gestalt aus Hugo's chaotischen Traume nur
allzubald in der Wirklichkeit ^vor ihm stehen. Obgleich er auf der
letzten Heimfahrt von Eisenstabe Gewissensbisse über sein selbstsüchtiges
Betragen empfunden und sich vorgenommen hatte, schriftlich und für
ewig von Esther Abschied zu nehmen und in diesem Briefe mit mild
tröstenden, aber doch zugleich energischen Worten das arme unerfahrne
Mädchen auf die unübersteigbaren Schranken hinzuweisen, welche die
Welt zwischen den hoffnungsvollen Wiener Studenten und die Tochter
eines armen Schacherjuden von Eisenstabe aufgerichtet, so war er doch
schwach genug, die Ausführung dieses ungemein weisen und edeln
Vorsatzes, der in Leihbibliothek- Romanen eine so große Rolle spielt,
auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben, und vielleicht war die Stimme,
mit der er gleich nach Tische anzuspannen befahl, nur deshalb so her¬
risch, weil er durch diesen Ton einen inneren Vorwurf über seine
Charakterlosigkeit zu übertäuben suchte. Was sollte er auch den lieben
langen Nachmittag über anfangen? Fritz, der ZögKng der Militär-
Academie, war seit seinem letzten unangenehmen Begegnisse mit Hector
nicht wieder erschienen. Auch lag Hugo nicht besonders viel an einem
Genossen, der für den Kriegersrand erzogen wurde, eine Waffe an der
Seite trug, und sich doch vor einem großen bellenden Hunde ängstlich
an die Wand lehnte.
Als Hugo aufstieg, war er übrigens keineswegs entschlossen, nach
Eisenstabe zu fahre»; er wollte hente einmal zur Abwechslung das
benachbarte Schloß Scherflein besuchen und dann morgen den Brief
schreiben. Aber die Pferde schlugen wie von selbst den so oft betretenen
gewohnten Weg ein und der in der Handhabung der Zügel sonst so energi-
sche Hugo ließ dieselben diesmal lose herabhängen. So war er fast, ohne
daß er es wußte und wollte, um die gewöhnliche Stunde in Eisenstabe.
Sein heutiges Beisammensein mit Esther war noch kürzer und
zerstreuter, als das letzte. Er war nachdenkend und beschämt über
seine Schwäche, doch gekommen zu sein, aber auch das Mädchen war
heute unruhig, und die helle Freudensonne des Glücks, die sonst auf
ihrem Antlitze lag, wenn ihr Geliebter bei ihr war, schien heute durch
finsteres Gewölk von Kummer und Besorgniß getrübt zu sein. Sie
theilte Hugo kurz mit, daß ihr Vater heute morgen bedeutend erkrankt
von seiner gestern Abend unternommenen Reise zurückgekehrt sei und
daß sie daher gleich wieder zu demselben eilen müsse.
Als Hugo die österreichische Grenze wieder erreicht hatte, wurde
seine üble Laune durch einen merkwürdigen Umstand noch vermehrt.
Der alte Johann hatte es nämlich auch diesmal nicht unterlassen,
wahrend Hugo bei Esther im Parke sich befand, die Wagenlaternen
mit Cigarren und Lettinger-Tabak zu füllen. Als sie bei dem Grenz¬
schlage anlangten, wo Hugo und sein Gespann als wohlbekannte,
fast tägliche Gäste nie angehalten und untersucht wurde, waren an
demselben gerade eine außergewöhnlich große Menge von Fuhrwerken
der verschiedensten Art versammelt, und indem sich Hugo bemühte,
geschickt durch dieselben durchzufahren, konnte er es doch nicht ver¬
meiden, an eines derselben anzustoßen. Durch den gewaltigen Ruck
fiel eine von den gleich dem trojanischen Pferd unheilschwangeren
Laternen herunter. Dienstbeflissen hob sie ein Zollbeamter auf, und
öffnete, um nachzusehen, ob das Glas durch den Fall nicht zerbrochen
sei, den Blechdeckel. — Da lag die Zolldefraudation offen vor den
Blicken des erstaunten Beamten. Der lange Franz, der in der Nähe
stand, lachte hell aus: Das ist schon, junger Herr, sagte er, gestern
Abend machten Sie noch mit uns Jagd auf die Pafcher, und heute
gehören Sie selbst dieser saubern Zunft an. Unter Anderem ich hatte
gestern Abend doch Recht mit der Behauptung, daß es der schwarze
Jsaak sein müsse, den wir verwundet haben, denn so eben meldet uns
einer unserer Spione, daß er in Eisenstabe, wohin ihn seine Spießge¬
sellen zurückgeschleppt hatten, auf den Tod darniederliege. Nun so
Gott will, wären wir also diese Geißel der Grenze los. Doch um
wieder auf ihren eigenen Paschversuch zu kommen, so müssen wir uns
vor Allem in den Besitz der Contrebande, des col'lui« clelieti setzen,
und damit warf seine gewandte Hand die Laternen aus, und steckte
sich auch sogleich einen Theil des cvrmis tlviioti in Gestalt einer Ci¬
garre in den Mund. So, jetzt können Sie weiter fahren, denn was
die Strafe und die Gerichtskosten anbelangt, so ist uns Ihr Herr
Onkel dafür gut genug. Der unangenehmen Stimmung Hugo's war
es wohl zuzuschreiben, daß er mit so rasendem Ungestüm über die höl¬
zerne Brücke, welche in die Fabrik führte, .fuhr, daß er den hölzernen Pfeiler
mit der Tafel, auf welcher das langsame Fahren anbefohlen war,
umriß. Krachend stürzte derselbe, einen Theil des Brückengeländers
mit sich reißend, in den Mühlbach.
Als das Fuhrwerk in den Hof hineingerasselt war und nun
stille hielt, fiel Hugo's Blick sichtlich überrascht auf die hell erleuchteten
Fenster im ersten Stockwerke, wo sich seines Onkels Wohnstube be-
fand. Einen Augenblick darauf stand der Gefürchtete unten im Hofe
vor ihm. Trotz 'aller seiner Keckheit machte dieses urplötzliche Erscheinen
einen Eindruck auf Hugo, als hätte er das Haupt der Gorgone erblickt.
Und in der That war dieser Eindruck ein leicht erklärlicher, wenn
man einerseits das böse Gewissen des Neffen und andrerseits die Per¬
sönlichkeit seines Onkels in Betracht zog. Letzterer war eine große,
imponirende Gestalt mit schönem, aber stark gebräuntem und zer¬
furchtem Gesichte, und einer Körperhaltung, der man den alten Sol¬
daten sogleich ansah. Dabei war er ernst, kalt und wortkarg und
wenn er es wollte, von beißendem Sarkasmus. Hugo fürchtete nun,
sein ganzes Sündenregister hergezählt zu bekommen: die durchlöcherte
Scheunenwand, die zu Schanden gejagten Pferde, den zerbrochenen
Jagdwagen, die geangelten Goldfische, die gerauchten Havannah-
Cigarren, das gelähmte Hinterbein HectorS und nun noch dazu die
in's Wasser gestürzte Warnungstafel. Ihm graute! Indessen traf
zum großen Erstaunen des jungen Mannes nichts von seinen Befürch¬
tungen ein. Der Onkel war ein viel zu abgeschlossener Charakter, um
über geschehene Dinge Worte zu verlieren. Obgleich er in den we¬
nigen Stunden, die er wieder auf seiner Fabrik zugebracht hatte, alle
die sauberen Streiche seines Herrn Neffen erfahren hatte, so erwähnte
er doch derselben mit keiner Sylbe. Er betrachtete nur mit einem
langen prüfenden Blicke die abgejagten und gemagerten Thiere, die er
so feurig und wohlgenährt verlassen hatte, dann sagte er ruhig zu
Johann: Du brauchst nicht erst aufzuspannen.
Hugo harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Hast Du noch Geld? war die erste Frage, die sein Onkel an
ihn richtete. Hugo besaß noch ein paar Gulden Münze, fand es aber
unter obwaltenden Umständen für passend, diese Frage verneinend zu
beantworten, denn er ahnte schon dunkel das Nachfolgende, und zog
es vor, die Rückreise auf Kosten seines Onkels zu unternehmen, sehr
vorsichtig berechnend, daß er das Geld auch in der Residenz noch ge¬
brauchen können werde. Der Onkel zog seine Börse.
So, sagte er, soviel kostet die zweite Classe der Eisenbahn von
Neustadt nach Wien. Du kannst gerade noch mit dem letzten Abend¬
zuge abfahren. Johann wird Dich mit meinem Geschirr nach dem
Bahnhofe bringen. Dein Gepäck werde ich Dir nachschicken. Aber
merke Dir Eines, Hugo: Du hast meine Güte mißbraucht, darum
hüte Dich, je in Deinem Leben Deinen Fuß auch nur Ein einziges
Mal wieder in meine Fabrik zu setzen. Damit wandte der Onkel
seinem Neffen den Rücken und ging wieder in seine Wohnung hinauf.
Erstaunt und froh so leichten Kaufes davon gekommen zu sein,
fuhr Hugo rasch nach dem Bahnhofe. Man läutete eben zum zwei¬
ten Male. Hugo sprang aus dem Wagen, nahm ein Billet und stieg
in den Waggon. Ein gellender Pfiff, und der Zug setzte sich lang¬
sam in Bewegung.
Ich glaube ein scharfsichtiger Leser wird schon errathen haben,
daß der kühne Pascher, der unter dem Namen des schwarzen Jsaaks
aus Eisenstabe der Schrecken der Grenzjäger war, keine andere Person
als Esthers Vater war. Jene Geschäftsreise, die er, wie Esther Hu-
go'n erzählte, vorhatte, bestand in nichts Geringerem, als der gewag¬
ten Unternehmung, deren Vereitelung wir gesehen haben und die ihm
so schlecht bekommen war.
Jetzt saß Esther endlose lange Tage an dem Krankenlager ihres
Vaters, und nur zu einer bestimmten Stunde des Nachmittags über¬
ließ sie die Pflege desselben der alten treuen Magd, während sie zu
der bewußten Stelle im Parke eilte. Aber sie harrte stets vergebens:
Hugo kam nicht und schrieb auch nicht. Er war in Wien, und wie
sie es geahnt hatte, hatten die brausenden Wellen des großstädtischen
Lebens schon beinahe das Andenken an das arme Judenmädchen von
Eisenstabe verschlungen. Mit Estherö Vater ging es indessen immer
schlimmer und schlimmer. Vielleicht wäre er noch zu retten gewesen,
wenn er ärztliche Hülfe in Anspruch genommen hätte; aber die Furcht,
daß dadurch seine Verbrechen entdeckt werden könnten, hielt ihn davon
ab, und als Esther eines Abends aus dem Parke, wo sie wieder ver¬
geblich auf Hugo gewartet hatte, zurückkehrte, fand sie die alte Magd
laut jammernd neben dem Leichname ihres Vaters auf dem Boden knieen.
Nun stand Esther ganz allein und frei, aber auch Hülflos in der Welt.
Keinerlei," Rücksichten banden sie mehr. Sie schnürte, nachdem ihr Vater in
die kühle Erde gesenkt worden war, ihre wenigen Habseligkeiten in ein
Bündel zusammen und wanderte mit demselben der österreichischen Grenze zu.
In der Osterwoche des folgenden Jahres befand sich Hugo's
Onkel in Wien, und Ersterer hatte die größte Lust, diese Abwesenheit
desselben zu einem heimlichen Besuche auf der Fabrik zu benutzen.
Hatte er sie früher langweilig gefunden, so schien sie ihm jetzt, seitdem
es ihm verwehrt war, dieselbe zu betreten, entzückend. Die alte Haus¬
hälterin, das wußte er, hatte ihn zu lieb, um ihn zu verrathen^ und
sie war außerdem immer froh, wenn in Abwesenheit des Besitzers durch
Besuche etwas Leben in die Eintönigkeit der Fabrik gebracht wurde.
Freilich mußte Hugo jedenfalls vor der Rückkehr seines Onkels wieder
das Feld räumen, und durfte nicht, wie das erste Mal, durch rolle
Streiche wieder Spuren seiner Anwesenheit zurücklassen. Aber er nahm
sich auch fest vor, das zu vermeiden,, und so wagte er es denn. Viel¬
leicht war es doch auch ein leiser, halb unbewußter Gedanke an
Esther, der ihn in seinem Vorhaben bestärkte.
Als er auf der Fabrik anlangte, fand er in dem Hofe derselben
fast alle Arbeiter und Arbeiterinnen müßig und in großer Aufregung
versammelt. Er fragte einen aus dem Haufen, was es denn gäbe?
'
Was solls geben, erwiderte mürrisch der Gefragte, nichts, was
einem jungen Herrn Ihres Gleichen nahe gehen könnte. Ein armes
Arbeitermädchen ist durch eine dieser höllischen Maschinen zerschnitten
worden. Als sich Hugo um die näheren Umstände erkundigte, erzählte man
ihm, ein junges Judenmädchen aus Eisenstabe, die kaum seit einem
halben Jahre in der Fabrik arbeitete, sei so eben in die Maschine zum
Hadern-Zerschneiden gefallen, und gräßlich verstümmelt herausgezogen
worden. Hineingefallen sagt Ihr? rief ein junges Mädchen. Ich glaube
die Esther ist hineingesprungen, sie war immer tiefsinnig, immer anders,
als die andern Alle.
Esther, hieß sie? rief Hugo entsetzt, und eine furchtbare Ahnung
durchzuckte ihn. Wo ist die Leiche? Ich muß sie sehen.
Es war Esther. Obgleich sie furchtbar verstümmelt war, erkannte
sie Hugo doch sogleich wieder. Das arme Mädchen hatte theils aus
Noth, theils in der Hoffnung, zuweilen etwas von Hugo zu hören,
oder ihn vielleicht gar wiederzusehen, auf der Fabrik seines Onkels
Arbeit genommen. Aber Monat um Monat verging und sie hörte
nichts und er kam nicht, und sie hatte nicht den Muth sich nach ihm
zu erkundigen. Wer kann nun den Schleier, der über ihre letzten Au¬
genblicke gebreitet liegt, lüften, wer will entscheiden, ob ihr Tod Zufall
oder Absicht war.
Hugo übergab alles Geld, was er hatte, dem Werkmeister mit
der Bitte, das arme Mädchen dafür anständig beerdigen zu lassen.
Dann reiste er nach Wien zurück, wo ihn ein Nervenfieber selbst an den
Rand des Grabes brachte. Endlich siegte seine jugendlich kräftige Na¬
tur, er genaß; aber sein übermüthiger Sinn war gebrochen und in
seinem ganzen Leben hatte er nie wieder: eine Liebschaft.
Im Jahr 1842 erschien zu London in der bekannten Verlagsbuch¬
handlung John Murray die zweite Auflage eines zweibändigen Werkes,
dessen vollständiger Titel lautete: I^vtties nom ello Lnnie8 »t tuo b.U-
^öl,it t>veniy «t l^InnK«. Die englische Kritik, scharf auffassende
Bücher über russische Zustände gewohnt, behandelte diese Briefe mit so
eiliger Vornehmheit, daß selbst die wettlaufende Uebersetzungswuth der
Deutschen dieselben der Jagd nicht werth erachtete. Da tauchen nun im
Jahre 1846 in Leipzig „Baltische Briefe" auf, welche man beim bloßen
Anblick des Titels für ein deutsches Originalwerk halten konnte, da erst
die Borrede uns davon Kunde gibt, daß hier die deutsche Bearbeitung
der Schrift einer vornehmen Engländerin vorliege. Es sind die I^der«?»
ir,im «K« slwivs ni' tuo ki»Ili<!. — Hatte schon die zweite Auflage des
englischen Originals den Beweis geliefert, daß die vornehme Gering-
schatzigkeit der englischen Beurtheiler nicht mit der Meinung des Publi¬
kums übereinstimmte, so mußte man nun bei näherer Prüfung des Werks
dessen Aussassungsart und Darstellungsweise volle Anerkennung zollen.
Ja, man möchte bedauern, daß die Uebersetzer das Buch nicht bereits
früher zur Kenntniß des größern Publicums brachten; denn sechs und
sieben Jahre — so lange Zeit liegt zwischen der Entstehung dieser Briefe
und heute — treiben auch innerhalb der russischen Grenzen nicht ände-
derungslos am Leben vorüber, bleichen also vorzüglich die Theilnahme
an so speziellen Zuständen, wie sie diese Briefe beschäftigen. Die ersten
sechs derselben beschreiben uns ziemlich äußerlich 'einen kurzen Ausenthalt
in Dänemark und einen zum Besichtigen der Stadtmerkwürdigkeiten gut
angewendeten Besuch in Petersburg. Allein sie geben nichts Neues
nichts Charakteristisches; selbst die Beiträge zur Verschwvrunqsgeschicht-
von 1825 nach mündlichen Mittheilungen tragen wenig zur Aufhellung
des offiziellen Dunkels bei, welches über dieser ganzen Angelegenheit aus¬
gebreitet liegt. Derartige Dinge liegen überhaupt außerhalb der Natur
der Verfasserin. Dagegen gelingt ihr überall die -Zeichnung der vor¬
nehmen Bewegung im Familienleben, wie in der Gesellschaft. In der
Stadt ist der Gesellschaftssaal, auf dem Lande der Edelhof ihr eigent¬
licher Bezirk. Ihre Bemerkungen über Ton, Haltung und Wesen der
esthnischen Adelswelt zeugen von feiner Beobachtung und vortrefflichem
Takt. Aber sowie sie den Salon des Stadthauses oder die weitläufigen
Gemächer des langgestreckten Eoelhofes verläßt, steht sie nicht mehr auf
eigenen Füßen, sieht sie nicht mehr mit eigenen Augen. Ganz so, wie
die baltischdeutsche vornehme Welt, immer verhüllend, immer die Uebel¬
stände verdeckend, Altes mit Neuem und Halbwahrcs mit Unwahrem
zu schmucken Gesellschastserzählungen verwebend, dem flüchtigen Gaste
ihre eigne politische Stellung nach Oben und Unten, sowie die Zustände
der nationalen Ureinwohner vorführt, damit der Fremde vor der Fülle des
Zugebrachten nicht zum Versuche eigner und unabhängiger Beobachtungen
komme — gerade eben so kennt sie das bürgerliche Leben Esthlands, das
Volk der Esthen, seine Häuslichkeit, seine Verhältnisse zum Grundherrn,
seine Rohheit und seine Eulturkeime. Sie hat dies Alles nur im Sonn¬
tagskleid und bei Sonnenschein gesehen; die wenigen Schattcnstriche in
ihrem Bilde sind gleichsam nur zur Hebung der Lichter vorhanden. Zum
Theil überträgt sich diese Voreingenommenheit für und gegen auch auf
die Schilderung der gebildetern Klassen in Esthland. Vollkommen selbst-
ständig schreitet die Verfasserin erst wieder durch die Petersburger Ge¬
sellschaft; und hier sind es vorzüglich die Skizzen aus den englischen
Kreisen, welche wir als willkommene Gabe begrüßen. Selten dringt ein
Fremder dort ein, noch seltener werden sie zum Gegenstande reisebeschrei¬
bender Bücher, während sie doch keineswegs ohne Einfluß auf die gesell¬
schaftlichen Zustände der Czarenrcsidenz geblieben sind. Um so mehr ist
aber zu beklagen, daß sowohl hier, als im frühern baltischen Abschnitte
des Buches eine nicht unbedeutende Anzahl, wenn schon beiläufiger, doch
eben scharf charakterisierender Bemerkungen vom Uebersetzer unterdrückt
wurden. Allerdings wäre dann in Rußland das Buch wahrscheinlich
unmöglich worden, aber das Ausland entbehrt ungern z. B. (aus dem
18. Brief) die Notizen über die Stellung Kotzebue's zum esthnischen
Adel und seines Einflusses auf dessen Jugend im Jahr I8VK, unter
welcher sich eben damals mehrere der später wichtigsten russischen Staats¬
männer befanden.
So echt weiblich, auch in den Fehlern weiblich, die Baltischen Briefe
auftreten, so wenig thut dies „Parisund die Alpenwelt" von Therese.
Dies macht das Buch von vorne herein unliebenswürdig; und dabei
enthält es von den Dingen, welche sein Titel nennt, durchaus nichts
Neues, nicht einmal eine wirklich plastische Schilderung von deren Äu¬
ßerlichkeiten. Ueberhaupt ragen die Tyroler Alpen wie die Thürme von
Paris nur ganz beiläufig und verschwommen aus einem Nebelmeer von
durcheinander schießenden Einfällen und Gedanken hervor; aber diese Ge-
danken quellen nicht aus der frischen Atmoshpäre der Alpenwelt hervor und
die Einfälle haben weder die Wohlgefälligkeit, noch die Großartigkeit der
PariserMelt. Das ganze Buch hat weder einen rechten Anfang, noch einen
eigentlichen Zielpunkt, ist gemacht und nicht entstanden, wird darum nirgends
interessant, weil überall die Absichtlichkeit hervorblickt und gehört unstreitig
zum Unbedeutendsten, was diese Schriftstellerin jemals veröffentlichte.
Von I. G. Kohl, der in sechs Jahren über dreißig Bände ver¬
öffentlichte und in diesem Halbsschock doch immer frisch, munter, anmu¬
thig und belehrend blieb, liegen wieder zwei Bände „Reisen in Dänemark
und den Herzogthümern Schleswig und Holstein" vor. Sie theilen die
Vorzüge der frühern Meisterwerke des Verfassers, d.h. sie lesen sich ganz
angenehm und man erhält auch hier und da ganz liebliche Anschauungen
von den geschilderten Ländern und Menschen; aber man kann sich den¬
noch bei der Lectüre nicht verhehlen, daß die Menge des aufgehäuften
Materials bei etwas sorgsamerer Bearbeitung zu einem Buche von viel
bedeutenderem Nachdruck hätte geordnet werden können, ohne daß das¬
selbe selbst für den flüchtigen Leser an Reiz verloren hätte. Trotzdem
hat man Unrecht, diesem Schriftsteller einen Vorwurf daraus machen zu
wollen, daß er bei seinen Reiseschristen die eben tagesläusigen politischen
Zustände der Länder nur außerordentlich beiläufig in den Kreis seiner
Betrachtungen zieht. Wer so flüchtig, wie Kohl, die Länder durchstreift
und seine Fühlfäden dabei dennoch nach allen Seiten des bleibenden Le¬
bens ausstreckt, um ein möglichst gestaltenreiches Bild zu entwerfen, des¬
sen einzelne Partien niemals ausgeführt, sondern immer nur skizzirt sind;
ein solcher Beobachter kann diese ewig wechselnden Bewegungen der augen¬
blicklichen Interessen nur höchst ausnahmsweise einmal andeuten, ohne
dem Colorit des Ganzen zu schaden. Auch ist die ganze Auffassungsweise
Kohl's gar nicht darnach angethan, sich von den heitern Höhen des Le¬
bens in dessen düstere Schluchten und Klüfte zu versenken. Ja, der
eigenthümliche Reiz seiner Bücher würde darunter leiden, wenn sie
schwerer und bedeutsamer werden wollten. Nur im oberflächlichen Salon¬
tone geht er denn auch in den vorliegenden Bänden über die gegensätz¬
lichen Verhältnisse zwischen deutsch und dänisch hinweg; aber dafür malt
er uns Städte und Dörfer, Land und Meer, Alltagsarbeit und Feiertags¬
lust, Königsgräber und Bauernhochzeiten mit den buntesten Farben, immer
frisch, munter, anmuthig und auch belehrend, nur eben ohne großartige
Auffassungen und ohne streng geschiedene Licht- und Schattenpartien, ganz
wie in seinen übrigen Werken über den Osten und Westen, Süden und
Bei der immer schroffer und deutlicher sich aussprechenden Sonderung
der Parteien, die sich in keinem speciellen Falle verleugnet und ebenso
deutlich in den Berathungen des Gustav-Adolfs-Vereines, wie in allen
socialen, politischen und Communal-Angelegenheiten hervortritt, war es
eine auffallende Erscheinung, daß die Zeitungen Berlins, mit Ausnahme
der Staatszeitung, welche ein Organ der Regierung ist, bis jetzt Leine
bestimmte politische Farbe angenommen hatten, d. h. aber eine bestimmte
politische Farbe, soweit sie in den Grenzen der Censurbeschränkung möglich
ist. Es mag jetzt zwei Jahre her sein, bald nach den Einschränkungen
der Censurfreiheit für die Hartungsche Zeitung in Königsberg, daß man
in Ost- und Westpreußen auf die Vossische Zeitung abonnirte, denn diese
war damals durch ihre leitenden Artikel anscheinend dem Fortschritte am
geneigetsten. Jetzt ist der Eifer dieses Blattes etwas gemäßigter und
man abonnirt auf die Spenersche Zeitung, weil sie liberaler ist. Beides
aber war bis jetzt ein Aufall. Natürlich! Da man heute von diesem,
morgen von jenem CorrespoNoenten einen leitenden Artikel, ein „Einge¬
sandt" an und aufnahm, so mußte ein unverdrauliches, buntes Durchein¬
ander der verschiedensten Parteimeinungen entstehen. Es ward heute an¬
gepriesen, was man morgen bekämpfte, und unwillkürlich ward man an
Beranger's Veutru erinnert, der, als er aus Paris von den Sitzungen
der Kammern zurückkommt, seinen Wählern triumphirend erzählt: „it'»i
on>t« alias An ^nur <Iix lois <!«nero «t <üx 1<iis sxzur!" Dies ist sehr
belustigend und unparteiisch, aber dem Ernste der Zeit und der Inter¬
essen, um die man kämpft, in keiner Weise weder angemessen noch för¬
derlich.
Es scheint jedoch, als ob seit einiger Zeit die Spenersche Zeitung
dieses Schwanken als einen Uebelstand begriffen hätte und eine bestimmte
Farbe anzunehmen denke. Dafür spricht die Weise, in der sie regelmäßig
die Communal-Angelegenheiten und die Verhandlungen der Criminalge-
richtssitzungen berichtet; dafür sprach ein Aufsatz des gegenwärtig in Berlin
lebenden John Prince Smith über Handelsfreiheit, der von den Ostsee¬
blättern sogleich freudig als ein Zeichen begrüßt wurde, daß die Spener¬
sche Zeitung sich zu den Mitkämpfern für dies Gut zu zählen gedenke.
Dies wäre doppelt nöthig in einem Augenblicke, in welchem die Vorgange
in Krakau die Theilnahme so sehr auf die Handelsbeschränkung gerichtet
haben, mit der man von jener Seite bedroht wird.
Indeß eine vollkommen feste Haltung können nur die Zeitungsblätter
haben, die der Leitung eines Redacteur vn moi anvertraut sind und es
wäre zu wünschen, daß dies für die Vossische und Spenersche Zeitung
geschähe, um so mehr, als die Staatszeitung und die Aeitungshalle be¬
reits den Vorgang gemacht haben und also eine Consequenz in ihre Blätter
zu bringen vermögen, welche jenen Beiden bisher fehlte, so sehr die
Spenersche in der letzten Zeit auch darnach strebte. In diesen Tagen hat
diese Zeitung übrigens ein gutes Referat über den Congreß des Gustav-
Adolfs-Vereines geliefert, der darum hauptsächlich interessant war, weil
er bis zur Evidenz herausstellte, daß ein großer Theil der für Rupp
Votirenden hauptsächlich das Interesse gänzlicher geistiger Freiheit in
lGewissenssachen vertrat, während das eigentliche Interesse am Gustav-
Adolfs-Vereine dieser Partei ziemlich fern lag. Wie im sechszehnten Jahr-
hundert, protestirt man auch heute gegen das Umsichgreifen einer Herr¬
schaft, welche sowohl in geistlichen als in weltlichen Dingen die Geister
in Fesseln schlagen will. Wir Alle sind Protestanten, gleichviel, ob wir
der evangelischen Landeskirche angehören oder nicht> gleichviel, ob uns an
der Aufrechterhaltung des Gustav - Adolfs - Vereins gelegen ist oder nicht.
Es handelt sich aber für die Meisten von uns nicht mehr um die Auf¬
rechterhaltung Dessen, was man im sechszehnten Jahrhunderte in kirch¬
lichem Sinne den Protestantismus nannte, es handelt sich bei uns ent¬
schieden um gänzliche Gewissensfreiheit.
Wohnte jetzt dem kirchlichen Protestantismus noch die leuchtende Wahrheit
und innere Nothwendigkeit für unsern Geist ein, so würde er bestehen und
stark bleiben auch ohne Gustav-Adolfs-Bereine. Dasjenige, was derzeit
geistig nothwendig ist, wird nie erlöstet. Fehlt ihm diese Kraft des selbst¬
ständigen Bestehens, fürchtet man, er könne untergehen, so hat er sich in
seiner gegenwärtigen Form für unser Bedürfniß überlebt und bedarf einer
Regeneration, eines Neuen, das aus der Asche des Alten erwachsen muß.
Es gemahnt uns der Gustav-Adolfs-Verein an ein Consilium von Aerzten,
herbeirufen, das Leben eines edeln, an Altersschwäche hinsterbenden Königs
zu erhalten, dessen Tod hauptsächlich sein Hofstaat fürchtet, der nicht amt¬
los werden möchte. Das Volk, so sehr es den Sterbenden ehrt, weiß
dennoch, daß die Welt nicht untergeht, weil ein König stirbt. Im Gegen¬
theil, es hofft auf den jungen, starken Sohn des einst so kräftigen Vaters
und ruft: „I^v loi ost moi t! Vivo lo roi!" — Das Bedürfniß des
Menschen nach einem geistigen Ideale, das sich ein erhebendes Bild
schuf in dem sich für seinen Glauben opfernden Christus, kann nie auf¬
hören; der Mensch kann nie ohne Ideale bleiben; denn nur durch Dies
ist eine wahre sittliche Entwicklung möglich, gleichviel, ob er es in sich
oder jenseits der Wolken sucht.
Wenn aber die evangelische Landeskirche, wie sie sich in jener Ver¬
sammlung des Gustav-Adolfs-Vereins durch einige ihrer Vertreter kund¬
gab, einmal in Folge der Wirksamkeit desselben zu der Macht des Katho¬
licismus käme, so würde man bald einen Verein gegen die Orthodoxie
der evangelischen Landeskirche stiften müssen, und wir würden sehen, daß
die Welt nur den Herrscher gewechselt, nicht die Herrschaft abgeschüttelt
habe. Für Den, der frei und ungehindert seinen eignen Weg zur Selig¬
keit gehen will, ist es ganz gleich, ob katholische oder protestantische
Pciester ihm die breite, freie Straßen mit engen Zäunen verbauen. Wir
erkennen jetzt die menschliche Freiheit, die Menschenwürde als ein Priester-
thum alt, so lange das Individuum sich derselben werth zeigt, und auch
die Pfaffen aller Confessionen thun dies, denn sie kämpfen dagegen.
Indeß, weiser als diese hierarchische Beschränktheit, soll die Regierung
daran denken, in allernächster Zeit ein Toleranz-Edict zu erlassen und
damit den alten Spruch des alten Fritz wieder wahr zu machen, daß in
„Preußen Jeder auf seine Fayon selig werden könne." Es wäre ein
schönes Zeichen der Zeit und nur der Name „Toleranz - Edict" weniger
erfreulich als etwa „Gesetz für freie Religionsübung".
Dabei aber muß man bemerken, daß mqn den freien Gemeinden
nicht beistimmen könne, wenn sie in der Freiheit, die sie für sich bean¬
spruchen, unschöne Taktlosigkeiten begehen, wie das Absingen ihrer Er¬
bauungsgesänge nach den Melodien bekannter Studentenlieder. Wer frei
sein will und sein eigner Gesetzgeber, muß doppelt rein, edel und schön
dastehen und nicht selbst Dasjenige durch kindische Renommisterei entehren,
wofür er Achtung von Fremden und Anerkennung von den Behörden
Unsre Bourgeoisie kennt leider! keinen höheren Ehrgeiz, als sich nach
dem Muster des Adels zu bilden, der im Durchschnitt genommen und
den ungarischen abgerechnet, durch die politischen Verhältnisse zu einer
passiven Consumentenrolle, bestimmt scheint. Der glänzende Schimmer
seines bequemen Daseins ist höchst verlockend geworden. Seine tonan¬
gebende Stellung in allen jenen Beziehungen, wo es sich um raffinirten
Lebensgenuß handelt, wird beneidet, und seine Manier im Kleinlichsten
nachgeahmt. Wie der Aristokrat sich kleidet, so muß auch der junge,
reiche Bürgerssohn gekleidet einherstolzieren! Dessen Pferde, Wagen und
Hunde sind für letztere ein Gegenstand des aufmerksamsten Studium-?.
Er beneidet ihn um die Blicke aus schönen Augen, welche ihm von
manchem Fenster zufliegen; er beneidet ihn um die Höflichkeit der Fiaker¬
knechte, welche sich sogleich um einen Grad herunterschraubt, sobald sie
bürgerliche Atmosphäre wittert. Er beneidet ihn um die Nonchalance
seines Ganges, seines Benehmens, seiner Sitten; er kennt keinen höheren
Ehrgeiz, als verkannt, d. h. ebenfalls für einen Cavalier angesehen zu
werden. Er eignet sich mit gewissenhafter Aengstlichkeit alle Unarten und
Grimassen seines Musterbildes an, und wäre ich die Gräfin Jda Hahn-
Hahn oder sonst ein aristokratischer Schriftling, fo würde ich sagen: die
gesuchte Eopie läßt den seelenmatten Pinsel nimmermehr verkennen!
Hierbei entsteht nun die Frage: ob jene Manieren in der That gute
und feine zu nennen sind, und wir glauben, diese verneinend beantworten
zu müssen. Es ist Nichts darin zu entdecken von jener erhabenen britti;
schen Adelshoheit, die sich ihres Ursprungs in dem Oberhause Altenglands
bewußt ist. Nichts von der wenn auch demokratisch gewordenen Eleganz
der Franzosen, Nichts von der Ritterlichkeit des polnischen Magnaten,
Es ist jein specifisch österreichisches Gewächs, die Frucht übergroßen
Reichthums, der nicht mit Schweiß und Mühe erworben wurde, sondern
sich fort und fort Vererbt, und nicht der Spekulation, sondern dem aus¬
gesuchtesten Lebensgenusse dient. Der Accent des Sybaritismus ist darin
gepaart mit dem des eingefrorensten Dünkels, und bei so bewandten
Umständen thäten unsre jungen Bürger unstreitig besser, sich ein selbst¬
ständiges Benehmen anzueignen und lieber auf eigenen Füßen zu stehen,
statt sich zu Eopisten zweideutiger Originale herzugeben.
Ein Uebel, welches derzeit bei uns im größten Umfange wuchert,
ist das der betrügerischen Fallimente Der Uebergang zu diesem Thema
ist an dieser Stelle ganz natürlich. Wo nicht Majorate und Fideicom-
misse die Unerschöpflichkeit der Quelle beschirmen, da muß sie endlich ver¬
siegen , und der letzte in d-in Brunnen herabgelassene Aieheimcr fördert
endlich einen trügerischen ^urs zu Tage.
Es gibt Fälle, wo Reichen Concurse von dem in's Geheimniß
eingeweihten Sachwalter ljch ausgearbeitet werden. Binnen etlichen
Wochen ist das Meisterstück fertig; der Sachwalter stiehlt sich zum letzten
Male unter dem Schutze der verschwiegnen Nacht über die Treppe; wenige
Tage darnach wird der vechängnißvolle Theil des Jntelligenzblattes der
Wiener Zeitung mit einem Inserate bereichert, welches die betreffenden
Gläubiger oft unersetzliche Tausende kostet. So rief vor Kurzem ein
solcher Held in frevelhaftem Uebermuthe: „Ich will den Leuten zeigen,
wie man Millionär wird!"
Gen>en dieses Uebel gibt es freilich nur ein radicales Hilfsmittel,
die Stärke der öffentlichen Moral. Wo diese ein solches Thun mit Ent¬
schiedenheit zurückstößt und für alle Folgezeit brandmarkt, wird man sich
davor hüten. Nicht so, wenn das Gold zum allbeherrschender Götzen
auf den Thron der Welt erhoben würde, wenn der Betrug für Raffine¬
ment gilt, und eine verdorbene, öffentliche Meinung dafür sogar mit
nichtswürdigen Sympathien schwanger geht. Glücklicher Weise ist es bei-
uns noch nicht so weit gekommen. Allein um zu verhüten, daß der
Wagen unsers Privatcredits auf dem abschüssigen AbHange schwindleri¬
scher Speculation nicht noch rascher und bedrohsamer nicdcrrolle, müssen
gesetzliche Sperrketten angewendet werden. Derzeit soll die Untersuchung
über die Motive des Concursanmelders etwas zu oberflächlich gepflogen
werden. Nach unserm Dafürhalten sollte sie auf das Strengste genom¬
men werden. Zeigte sich nur eine entfernte Spur, auf betrügerische Ab¬
sichten hindeutend, so sollte unverzüglich das criminelle Verfahren eintre¬
ten. Ja es wäre vielleicht räthlich, noch einen Schritt weiter zu gehen.
Mit der Anmeldung des Eoncurses könnte und sollte vielleicht augen¬
blicklich eine Suspension der persönlichen Freiheit verbunden werden kön¬
nen. Es gibt derzeit blos eine doppelte Art gerichtlichen Arrests. Der
Schuldner kann Vorsichtshalber verhaftet werden, damit er sich nicht durch
die Flucht dem weiteren Verfahren entziehe. Er kann aber auch erecutiv
verhaftet und festgehalten werden, und dies ist der sogenannte Personal¬
arrest. Meidet er jedoch zur rechten Zeit den Comurs an, so wird er
einer Menge von Rechtswohlthaten mit einem Schlage theilhaftig, und
zugleich bleibt ihm bei dem Beginne der Untersuchung seine Freiheit un¬
benommen. Hier scheint der Punkt zu liegen, wo unsere Gesetzgebung
sich allzumild erweist. Wir gehören bestimmt zur Zahl Derjenigen, welche
die Freiheit des Individuums in den seltensten Fällen angetastet wissen
wollen. Wir verhehlen nicht, daß wir manchen Scrupel gegen die Be-
Stimmungen unsers Strafgesetzbuchs auf dem Herzen tragen. Namentlich
sind wir nicht gut zu sprechen auf die unbestimmten Termine, welche der
Inquisit >ra in^jorom ox-rctituäinis A'ioriiun im Gefängnisse zubringen
muß, so daß er oft zwei bittere Prüfungsjahre durchleben muß, um zu¬
letzt ein Unschuldszeugniß und eine mehr oder minder zerstörte Existenz
davon zu tragen. Allein mit diesen Fallen findet sich unser Begehren in
keiner Analogie. Indem Jemand Concurs anmeldet, erklärt er im An¬
gesichte aller Welt, seine Verbindlichkeiten nicht weiter erfüllen zu können^
und die richterliche Behörde übernimmt nunmehr die Schlichtung des
zwischen ihm und seinen Gläubigern schwebenden Streithandels. Für
das Interesse der allgemeinen Gerechtigkeit ist es zunächst von Wichtigkeit/
zu ergünden, ob er in Folge unverschuldeter Unglücksfälle so gehandelt,
aus Leichtsinn oder aus betrügerischer Absicht. Es wäre demnach unver-
weilt von Amtswegen eine criminelle Untersuchung anzuordnen. Dem
Gläubiger dürste es ferner nicht unverwehrt werden zu größerer Wirk¬
samkeit und während der Dauer derselben, den Personalarrest gegen ihn
zu verlängern. Der ausgedehnten Rechtswohlthatcn, welche der Concurs
gewährt, werde der Schuldner erst dann theilhaftig, wenn es sich unzwei¬
deutig herausstellt, daß er sie verdient. Um einem Uebel, welches hier
so allgemein zu wuchern beginnt, vorzubeugen, ist es jedenfalls räthlicher,
nicht so sehr auf die Subtilitäten der Theorie zu sehen, als vielmehr ein
praktisch heilsames Auskunftmittel vorzuschlagen. Von Verletzung der
Menschenwürde, von Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit kann über¬
haupt nicht die Rede sein, wofern der Gläubiger verhalten wird, dem
Schuldner und etwa auch feiner Familie eine gewisse Alimentation dar¬
zureichen, und um so mehr, als ein solcher Detentionsarrest keine ent¬
ehrende Eigenschaft besitzt. Doch genug hiervon! Verlassen wir das un¬
angenehme Thema! Sprechen wir von etwas Anderem!
Im Theater a. d. Wien wird bereits gehämmert, genagelt, ge¬
schneidert, probirt — Meyerbeer ist eingetroffen, und die Lind wird
singen auf den Bretern des Herrn Pokorny, und Meyerbeer' wird sein
Feldlager in Schlesien dirigiren! Der Taumel ist allgemein, die Erwar¬
tung riesengroß. — Herr Pokorny steht bei Waterloo, er muß seine
Feinde mit Hülfe des Meyerbeer'schen Taktstockes und der Lind sehen
Triller gewaltig auf das Haupt schlagen, er muß einnehmen gewaltige
Summen, um das Feld zu behaupten, widrigenfalls der kühne Karl von
der Leopoldsstadt gegen ihn das Feld behaupten dürfte. Ohnedies wird
stark von einer Uebernahme sämmtlicher Vorstadtbühncn durch diesen
Nährvater der Staberliaden gesprochen. Der gute Geschmack weiß nicht,
wie er sich dabei zu nehmen hat, ob er damit aus dem Regen in die
Traufe, oder aus der Traufe in den Regen gerathen wird.
Je näher der Carneval heranrückt, desto ungünstiger gestalten sich
seine Aspecten. Es wird denn doch gar zu theuer! Das Brod erscheint
im Diminutiv seiner frühern Größe. Der hochkomische Nestroy erschien
vor Kurzem mit drei sogenannten Kaisersemmeln, statt Busenhemdknöpf.
chen, auf der Bühne; er sagte, so gebiete es die neueste Mode und
man hieße das — Czapkaknöpfchen. Diese verwegene Anspielung auf
des gestrengen Herrn Bürgermeisters unantastbaren Namen (der übri¬
gens ein Mann von großem Verdienste ist), versetzre Nestroy in die
Nothwendigkeit, 24 Stunden lang im Polizeihause über die Grenzen
des erlaubten Witzes nachzudenken. Bekanntlich sind dies sigmaringen-
sche, hechingensche, reußische, lichtensteinische, d. h. sehr schmale Grenzen.
Bei.alledem herrscht Wehklagen unter den Bäckern ! Sie behaupten, bei den
jetzigen Sätzen nicht bestehen zu können. Dies gilt aber umgekehrt auch von
^ven ärmeren Klassen des Publicums. Wir wollen sehen, wer bei dieser
Wettfahrt des Zugrundegehens den Preis davon tragen wird. Nach dem
Dafürhalten der kompetentesten Beurtheiler liegt das Uebel in der Spe¬
kulation, die sich leider! mit Wuth auf das Getreide geworfen hat.
So sehr wir nun im Allgemeinen gegen Ausfuhrverbote eingenommen
sind, so glauben wir doch in ihnen das einzige erschöpfende Mittel gegen
das eben so tief als weit wurzelnde Uebel zu erkennen. Warum stiftet
man nicht ferner Vereine, wie sie auswärts in Massen bestehen, die
Mehl im ^Großen ankaufen, und in kleinen Rationen an die armen
Leute um den Einkaufspreis ablassen? Warum fordert die Wiener Jour¬
nalistik das Publicum nicht auf zur Gründung so löblicher Vereine?
Wittert man etwa Communismus dahinter? Oder will man den soge¬
nannten Grüblern und Fragern nicht zu nahe treten? Oder sollte in der
That bisher auch diese gemeinnützige Idee verfallen sein? Ein Lebens¬
zeichen in dieser Frage wäre sehr erwünscht.
— Der Frankfurter Bundestag hat beschlossen, auf die neuen Ge¬
schütze der Bundesfestungen Ulm und Rastadr den alten deutschen Reichs¬
adler als Emblem des deutschen Bundes prägen zu lassen. Zur Unter¬
scheidung von dem österreichischen Wappen wird dieser Reichsadler ohne
Krone, Scepter, Schwert und Reichsapfel dargestellt werden. Der zwei¬
köpfige Adler ist allerdings mehr als je das Symbol des jetzigen, von Wien und
Berlin aus redigirten Deutschlands. Doch wäre es, da man einmal Ver¬
änderungen an dem alten Reichsvogel anbrachte, nicht recht sinnig gewesen
wenn man den beiden Köpfen des Adlers eine Richtung gegeben hatt/
statt sie, wie bisher, jeden nach einer andern Seite blicken zu lassen^
Hat schon früher, als diese Köpfe mit einer Krone bedeckt waren und
also äußerlich unter einem Hute steckten, jeder Kopf seinem eignen Sinn
gefolgt, so müßte man jetzt, wo die Krone abgeschafft ist, um so mehr
durch eine gleiche Richtung der Köpfe das äußere Symbol der Einheit
herstellen, damit die Feinde Deutschlands nicht sagen: Seht die zwei
Köpfe, die sich im deutschen Reichswappen von einander abwenden' Der
eine ist der konstitutionelle Kopf, der andere der absolute; der eine ist der
Freihandelskopf, der andere der Schutzzollsuchende; der eine ist der katho-
lische, der andere der protestantische u. s. w. Oesterreich mag immerhin
zwei Köpfe behalten — hat es doch von jeher nur mit dem einen nach
Deutschland und mit dem andern auf seine Hausmacht gesehen. Auch
Rußland braucht zwei Köpfe, um mit dem einen auf sein blutiges Hoch¬
zeitsbett am Kaukasus, mit dem andern auf das große Leichentuch Polens
hinzusehen; um mit dem einen lüstern und beutespähend auf seinen Ein¬
fluß in dem türkisch-griechischen Orient hinzuschicken und mit dem andern
an seinen Einfluß in dem christlich-germanischen Occident sich zu weiden;
Rußland könnte, wie die griechische Hydra, mit noch weit mehr Köpfen
abgebildet werden. Aber der deutsche Bund, der sich von Frankreich ab¬
wendet, der sich von Amerika abwendet, der im Orient nichts mehr sucht,
der nirgends erobern kann und nur conserviren und abermals conserviren
will: was bedeutet dieses rechts und links Schauen seiner beiden Köpfe?
Ist es Besorgnis), die nach allen Seiten späht? Ist es ein Symbol,
daß der eine den Rhein, der andere die Donau bewacht? Aber auch
dann wäre es besser, wenn beide Köpfe, statt nach auswärts hin, nach
der Mitte blickten, und im Innern Deutschlands die Allianzen suchten
und die Beseitigung aller äußern Gefahren durch die Kräftigung des
Nationalgefühls und des Volksbewußtseins erzielten. Ein freies Deutsch¬
land, ausgerüstet mit Institutionen, die jedes Herz erheben — ist ti
beste Abwehr gegen alle revolutionaire Propaganda und panslavistische
Unterjochungsgelüste. Sollte es kein Mittel geben, dies durch das neu
adoptiere Bundeswappen ausdrücken zu können?
— An den großen Bauten, die in London behufs der Verschönerung
und Verbesserung der Sanität ausgeführt werden, hat sich ein neuer
Bauplan gesellt. Es ist die Rede davon, sämmtliche Stadttheile, die
jetzt von der arbeitenden Klasse bewohnt werden, umzubauen. Um diese
großartige Arbeit beginnen zu können, ist es natürlicherweise vor Allem
nothwendig, den betreffenden Einwohnern anderswo provisorische Woh¬
nungen zu verschaffen. Nun aber sind bekanntlich alle Theile der Stadt
und der Vorstädte überfüllt. Man ist daher auf folgendes Aushülfsmittel
gerathen. In einem Umkreise von drei bis vier englischen Meilen werden
rings um London auf allen Punkten, die von Eisenbahnen durchzogen
sind, provisorische Dörfer angelegt werden. Die Eisenbahngesellschaften
werden mit der Eonstruction dieser Dörfer betraut werden, in welchen
die in dem bisherigen alten und ungesunden Stadttheile wohnende Ar¬
beiterbevölkerung so lange Wohnungen findet, bis der Umbau der letztern
vollendet ist. Die Eisenbahngesellschaften werden ferner durch Ertrazüge
diese Arbeiter jeden Morgen in die Stadt und jeden Abend nach ihren
provisorischen Wohnungen bringen und die Transportkosten werden in den
Miethzins eingerechnet. Ist dies nicht grade so, wie bei uns in Deutsch¬
land ?j
Der alte Arndt theilt die Studenten irgendwo in flotte, obscure
und ritterliche ein, indem er in den letztern sein Ideal des wahrhaften
deutschen Studenten, des Studenten wie er sein soll, zeichnet. Nehmen
wir von seiner Schilderung des „Ritterlichen" Das hinweg, was nur
einzelnen bevorzugten, wenigstens in Arndt's Sinne bevorzugten, Na¬
turen, und nicht einer ganzen Klasse zukommen kann, so bleibt Das
zurück, was die Studenten selbst den „forschen" Studenten nennen.
Daß aber die Arndt'sche Eintheilung insofern, als sie keine bloßen
Charakterunterschiede angibt, die sich unter allen Verhältnissen wieder^
holen, sondern diese Unterschiede innerhalb eines eigenthümlichen Lebens
und grade durch diese Eigenthümlichkeit zu ihrer Äußersten Schärfe aus¬
geprägt bezeichnet, für die Gegenwart ihre Geltung verloren hat, wird
Jeder, der das jetzige Studentenwesen kennt, eingestehen. Der flotte
Student, mit seiner stereotypen Lustigkeit, seiner leichtsinnigen Haltung
und Kleidung, heikler beständigen Aufgelegtheit zu witzigen oder un¬
witzigen Streichen, stirbt allmälig aus und die einzelnen Exemplare,
die noch vorkommen, bilden eine Anomalie unter ihrer Umgebung;
ebenso selten wird der forsche Student mit der energischen Bestimmtheit
seines Auftretens, dem zur Schau getragenen Selbstbewußtsein, der
outrirten Männlichkeit und steten Bereitschaft, mit Wort und Klinge
einzutreten. Solche Figuren konnten nur in einem Studententhum ge¬
deihen, das auf seine Besonderung stolz, den Gegensatz gegen das
außerstudentische Leben mit Bewußtsein und Vorliebe hervorhob, seine
Freiheit einerseits in dem ungebundenen Heraustreten der Persönlich¬
keit, andererseits in den festen Lebensformen und Normen, die es nach
außen abschlossen und in die es eine weit über ihren eigentlichen Gehalt
hinausreichende, phantastisch aufgetriebene Bedeutung hineinlegte, fand,
und auf die „Philister" mit ihrer egoistischen Aengstlichkeit und ihrem
prosaischen Lebensinhalt in ungeheuchelter Verachtung herabsah. Diese
burschikosen Zeiten sind offenbar vorüber, das Bürgerthum hat sich zu
einer ungewöhnlichen Bedeutung und Geltung entwickelt, und wie der
Ständeunterschied sich überhaupt immer entschiedener ausgleicht, so ver¬
liert auch das Studentenleben seine absonderlichen und absondernden
Formen. Die Studenten unterscheiden sich immer weniger von andern
gebildeten Leuten ihres Alters, die ihrerseits Manches, was sonst dem
Studentenleben eigenthümlich war, angenommen haben, und diese Aus¬
gleichung, die sich ohne alles Zuthun von selbst macht, und selbst die¬
jenigen unter den Studenten, die das alte Studentenwesen festhalten
möchten, ergreift, wird von einer nicht schwachen studentischen Partei
ausdrücklich als Ziel hingestellt und verfolgt. Die alten, übermüthig
leichtsinnigen und burschikos stolzen Lieder klingen wie aus einer andern
Zeit herein und haben nur noch einen historischen Sinn; die ererbten
feierlichen Ceremonien stechen, wie mit ihrer Gravität und ihremPathos,
so mit ihrer in's Kleinliche gehenden Förmlichkeit gegen die bestehende
Sitte und Geselligkeit sonderbar ab. Die Abnahme des Duells, das
als feststehende studentische Sitte die Studenten nach außen und innen
zusammenhielt, sie als einen außer den gemeinen Rechtsverhältnissen
stehenden Stand charakterisirte und ihrem Leben ein mannichfach spannendes,
in doppeltem Sinne Persönlichkeiten entwickelndes Interesse lieh, macht
reißende Fortschritte, und die Antiduellisten, die noch vor kurzer Zeit
nur vereinzelt und zufällig an den Tag kamen und die Paria'S des
Studentenlebens waren, treten jetzt, zum Theil vereinigt, keck und offen
auf. Selbst von den Duellfreunden, mögen sie im Duell eine persön¬
liche Befriedigung suchen und finden oder dasselbe wenigstens so lange,
als das Studentenleben noch kein durchaus öffentliches und durch sich
selbst rechtlich geordnetes ist, für eine Nothwendigkeit halten, sind sehr
Viele gegen den Duellzwang und wollen das Duell dem freien Ueber¬
einkommen und der auf dieses drängenden öffentlichen Meinung, die
sie dem Duelle im Allgemeinen noch günstig voraussetzen, überlassen.
Daß aber mit dem Aufhören des Duellzwangs das Duell seine studen¬
tische Bedeutung verliert, oder aus dem Studentenleben als solchem,
für das es ein wichtiges Ferment war, hinausgeschoben wird, ist durch
sich klar. Auch gegen ihre rechtlich begründete Absonderung, ihre so¬
genannten Privilegien, die dein gegenwärtigen studentischen Bewußtsein
keine mehr sind und zugleich auf der andern Seite Beschränkungen
einschließen, von denen die Bevorzugungen, die in den Augen der Stu¬
denten allmälig ihren Werth verloren haben, weit aufgewogen werden,
streben die Studenten hier und da an. Die Aeltern, die das frühere
Studentenleben durchgemacht haben, schütteln bei diesen Erscheinungen
zum Theil mißvergnügt das einst in Farbenstreifen prangende Haupt
und klagen, daß es so anders, geworden in dieser neuen Zeit und daß
dem Studentenleben die Poesie verloren gegangen sei. Allerdings
hatte das alte Studentenleben etwas Poetisches, wie jedes Leben, das
sich aus einem eigenthümlichen Geiste entwickelt und feste Gestaltung
gewinnt, das die Persönlichkeiten rein und scharf hervortreten läßt und
über die Noth und Arbeit der Existenz hinausgestellt ist. Diese Be¬
dingungen einer poetischen, das heißt frei und eigenthümlich aus sich
entfalteten, leicht mühsam aus roher Massenhaftigkeit herausgearbeiteten
und durch rein materielle Bedürfnisse auseinander und niedergehaltenen
Lebensgestaltung sind für das Studentenleben bleibende, so lange wir
wirkliche Universitäten haben, und es trägt daher auch als ein aufge¬
löstes und auseinandergehendes fortwährend die Möglichkeit in sich,
sich zusammenzufassen und eigenthümlich auszuprägen. Die Poesie
aber des für uns alten, seinem Wesen nach im siebzehnten und acht¬
zehnten Jahrhunderte ausgebildeten Studentenlebens insbesondere, lag
vorzugsweise in dem Gegensatze des kecken und unbesorgten Genusses,
der maßlosen Befriedigung und der abgemessenen, strengen Formen,
durch welche die Befriedigung scheinbar gebunden war, in der phanta¬
stischen Willkür, mit der man sich innerhalb enger, zum Theil mit der¬
selben Willkür gezogener Grenzen bewegte und in der Bedeutung, die
man in Formen und Aeußerlichkeiten, die an sich nichtig waren, hinein¬
legte. Es war eine Poesie des Scheines, deren bunter Schimmer viel
Gemeinheit, Rohheit und Selbstsucht überdeckte und verbarg. Ebenso
war die vielgepriesene akademische Freiheit eine unwahre; sie war Frei¬
heit nur im Gegensatz gegen das Volksleben, dem die Büreaukratie
jede Selbstbeivegung und Selbstgestaltung entzogen und das sie auf
das baare Brod- und Familieninteresse zurückgedrängt hatte, ferner im
Gegensatze gegen die pedantische Schulzucht, die noch den zum Selbst,
gefühl erwachten Jüngling in peinlichen Fesseln hält; endlich in dem durch
die studentische Sitte geheiligten Kriegszustande gegen die Universitäts¬
verwaltung und Polizei. Es war eine Freiheit der Willkür innerhalb
eines eng genug begrenzten Gebietes, einer Willkür, die, weil sie nicht in
die Weite gehen konnte, dadurch gewissermaßen intensiver wurde, mit
phantastischer Erftndsamkeit den Raum, den ihr das Gesetz ließ, ausbeutete
oder es umging und in erlaubten Genüssen sich bis zurUnmäßigkeit erschöpfte.
Weil diese Freiheit ihre Enstenz und ihr Bewußtsein nur an der äußerlichen
Schranke hatte, die sie umschloß und an die sie, eben um sich zu füh¬
len, anzustoßen liebte, so setzte sie den Gegensatz, durch den sie war,
in sich selbst hinein, und wir sehen das sonderbarste Schauspiel, daß
die Unmäßigkeit, die Lust an Reibung .und Kampf, die an sich will¬
kürliche Befriedigung der Persönlichkeit an pedantische Förmlichkeiten,
über die mit dem größten Ernste gewacht wird, gebuird-en ist. Die
wilden und zügellosen Bursche haben eine scheue Ehrfurcht vor dem
Comment, der wie eine unsichtbare Gottheit über ihrem Verkehre wal¬
tet, an deren Macht zu zweifeln Ketzerei ist und der man bei unwis¬
sentlicher Verletzung Abbitte thun muß. Die Kenntniß des Comments
und die Waffenfertigkeit brachte eine Aristokratie, gleichsam eine Kaste
von Priestern und Kriegern, in das Studentenleben selbst hinein, und
diese Aristokratie war leider durchschnittlich nur eine Fortsetzung der
durch die bürgerlichen Verhältnisse und die Vermögensunterschiede ge¬
gebenen, so daß auch die Geltung der Persönlichkeit, durch sich selbst
der Stolz des studentischen Lebens, zur Lüge wurde. Die verschie¬
denen Verbindungen, die zuerst die Provinzen, aus denen die Stu¬
diosen kamen, vertraten und fortsetzten, später auf der Anziehung
und dem Zusammenschluß verwandter Persönlichkeiten beruhten, und
die von den Behörden nicht vernichtet werden konnten, weil statt eines
abgehauenen Kopfes immer zwei neue hervorwuchsen und die äußere
Blüthe der Universitäten geschont werden mußte, was die Consequenz
des büreaukratischen Geistes, der sich auch der Universitäten bemäch¬
tigt hatte, lähmte, diese Verbindungen hatten trotz der geheimnißvollen
und feierlichen Formen, wie sie besonders den Orden eigen waren,
sich aber auch später zum Theil fortsetzen, keinen weitern Zipeck und
Inhalt als die Aufrechthaltung des bestehenden studentischen Lebens,
die gemeinsame Beherrschung der Obscuren und die eifersüchtige Rei¬
bung unter sich selbst. Das Studentenleben war allerdings eine Form
des damaligen Volkslebens, indem es einestheils die Zustände desselben
treu wiederspiegelte und fortsetzte, andrerseits im Gegensatz zu ihm
die Entfremdung des Volks von sich selbst darstellte, aber beides,
ohne es zu wissen und zu wollen. Es ließ allerdings einen Kampf
gegen das Verwaltungswesen, das von obenher die Masse der Indi¬
viduen als widerstandslosen Stoff zu ordnen und zu gestalten die Ten¬
denz hatte, fast allein zur. Erscheinung kommen, aber es wollte und
zeigte in diesem Kampfe doch nur die Selbstbefriedigung und Willkür der
Persönlichkeit. Es war weit davon entfernt, das Volksleben geistig
zu durchdringen, in sich zu verarbeiten und in freier und idealer Weise
wieder darzustellen. Diese Aufgabe stellte sich erst die Burschenschaft,
nachdem das Volk selbst zum Gefühl seiner Volksthümlichkeit und da¬
mit zur Tendenz der Selbstgcstaltung wiedererwacht war. Die Bur¬
schenschaft hat die Aufgabe, die ihr vorschwebte, nicht gelöst, eines-
theils, weil ein solches Studentenleben, wie sie es wollte, ein wirk¬
liches und freies Volksleben schon voraussetzt und durch dasselbe be¬
dingt ist, anderntheils, weil die Tendenz des Studentenlebens, sich im
Gegensatz vom Volksleben zu besondern, in ihr fortlebte und sich so
aussprach, daß sie in ihrer Auffassung der Volksthümlichkeit die Ge¬
genwart ignorirte, und sich in ein aus der Vergangenheit und der
geträumten Zukunft des Volkes zusammengesetztes Ideal hineinlebte.
Somit gewann die Burschenschaft allerdings einen Inhalt, der über
den reinstudentischen Interessen, schwebte, aber dieser Inhalt war nur
scheinbar das Volksleben und die Volksthümlichkeit, und da die Bur¬
schenschaft, eben weU sie den Geist des alten Studententhums noch
nicht überwunden halte, auch dessen Formen theilweise in sich hinein-
nehmen mußte, so blieb sie in einem beständigen Widerspruche dessen,
was sie sein wollte, und dessen, was sie war, befangen, und die
Poesie wie die Freiheit des Scheins, welche das frühere Studenten¬
leben charakteristrten, wiederholten sich nur innerhalb eines höhern Ge¬
bietes und eines ideenreicheren Inhalts. Der falsche Idealismus der
Burschenschafter rächte sich sogleich dadurch, daß > sie das Studenten¬
leben nicht wirklich bewältigen und umgestalten konnten, sondern nur
eine Partei in demselben wurden, die eine solche grade wie die Corps
eine aristokratische Stellung gegen die übrige Studentenschaft einnahm.
Es war von vorne herein, wir wollen nicht sagen ein Fehler der
Burschenschafter, aber eine in ihrer Einseitigkeit begründete Nothwen¬
digkeit, daß sie in einer Verbindung ihr Ideal des Studentenlebens
verwirklichen zu können meinten, wodurch sie zeigten, daß sie das
Volksleben nicht als ein gegenwärtiges und allseitiges begriffen hatten
und nicht zu der Unterscheidung der rechtlichen und sittlichen Gemein-
schaft gelangt waren. Was die Corps anbetrifft, so bestanden sie im
Gegensatz zur Burschenschaft und durch diesen Gegensatz fort und vertraten
einerseits das alte Stndenienthum, andererseits die indifferente und
realistische Gegenwart. Der Burschenschafter und der Corpsbursch
in ihrem Nebeneinander find neulich einmal mit Don Quirote und
Sancho Pansa verglichen worden, und diese Vergleichung enthält in¬
sofern etwas Richtiges, als die Corps trotz des realistischen Verstan¬
des, den sie gegen die Burschenschaft geltend machten, um deren Aus¬
schweifungen zu belächeln, sich doch mit dem naivsten Ernste in For¬
men und Vorstellungen bewegten, deren Sinn vollständig abhanden
gekommen war, und sich nur in einzelnen Ausnahmen zur Ironie ih¬
res eigenen Treibens erhoben. Freilich wollten sie nichts weniger als
Schildknappen der Burschenschaft sein, und haben deren utopische
Hoffnungen nie getheilt.
In ihrer Entwicklung ging die Burschenschaft von einem Ertrem
in das andere über. Nachdem sie lange das romantisch-liberale, aus
den Freiheitskriegen erwachsene Pathos in sich gehegt und es theil¬
weise in Sitten und Leben ausgeprägt hatte, zerschlug sie plötzlich,
während sich die Julirevolution vorbereitete und ausbrach, den selbst¬
gemachten Götzen der Volkstümlichkeit, bildete mit Fichte'scher Ener¬
gie und Consequenz die Grundgedanken des Liberalismus durch, und
wollte von ihnen aus das Volk bearbeiten und hinreißen. Die Ger¬
manen nahmen die Tendenz der Zeit nach zunächst formellen Selbst¬
bestimmung des Volkes in sich auf, aber sie faßten dieselbe so abstract,
daß sie glauben konnten, das Volk unmittelbar zu bestimmen und mit
sich fortzuziehen. Indem sie eine politische Parteiverbindung wurden,
stellten sie sich allerdings in die Gegenwart des Volkes hinein, aber
in dem Aufgeben der idealistischen Abgeschlossenheit des Studenten-
thums traten sie sogleich über den eigenthümlichen Lebenskreis desselben
hinaus, und wollten auf das Volk einwirkend die Theorie unmittelbar
zur Praris umsetzen. Nachdem die germanischen Verbindungen, die
fast alle geistbegabten und dabei leidenschaftlichen und energischen Per¬
sönlichkeiten des damaligen Studentenlebens an sich gezogen hatten,
durch das Frankfurter Attentat bloßgestellt und durch die strengsten
Maßregeln zersprengt waren, bedürfte es einiger Zeit, ehe sich unter
dem Einfluß der alten gemüthlichen Uriniren neue Burschenschafter zu
bilden vermochten. Diese nahmen die frühern burschenschaftlichen For¬
men wieder auf, reflecttrten über das Wesen der Burschenschaft und
waren sich bewußt, nur eine Partei im Studentenleben zu sein und
sein zu können, welches Bewußtsein jedoch für sie ein aristokratisches
Behagen war. Sie glaubten ein Studentenleben darzustellen, wie es
als ein allgemeines zwar wünschenswert!), aber nicht möglich sei, und
wie dadurch ihr Selbstgefühl einen sentimentalen Anflug erhielt, so
gab der unvermeidliche Umstand, daß über das burschenschaftliche Pa-
thos hinausreichende und ihm fremdartige Bildungselemente in sie Hitt¬
eintraten, dem Ernste, mit dem sie sich in den alten Formen und
Vorstellungen bewegten, eine ironische Beimischung. Seit 1840 be¬
gannen die Burschenschafter aus ihrer bisherigen Abgeschlossenheit und
Genügsamkeit herauszutreten, indem sie zunächst die Aristokratien, die
sich innerhalb ihrer gebildet hatten, brachen, den Kreis ihrer Interessen
erweiterten und ihre Verfassung demokratischer einrichteten. Dadurch
aber, daß ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit den Volkszuständen
allseitiger wurde und sie sich dem übrigen Studentenleben zu vermit¬
teln suchten, mußten sie auf die Einseitigkeit ihrer Principien geführt
werden, und der verschiedenartigen Auffassung derselben, wie der Bil¬
dung von Parteien Raum geben. Die Tendenz zur Trennung wurde
dadurch, daß sie mit demokratischen Bewegungen unter den sogenann¬
ten Finken, welchen die Herrschaft der Verbindungen drückend wurde,
zusammentrafen, Tendenz zur Auflösung.
Indem die Burschenschafter ihre Besonderung im Studentenleben
aufgaben, kamen sie zu der Konsequenz, daß das Studentenleben, weil es
außer dem Volksleben keinen Inhalt habe, überhaupt als besonderes
unberechtigt sei und im Volksleben auf- und untergehen müsse. Diese
Consequenz ist jedenfalls eine einseitige, da das Volksleben nicht durch
die bloße Indifferenz der Stände ein einiges wird, sondern dadurch,
daß es sich in bestimmten Formen seines Daseins als ein einiges zu¬
sammenfaßt und darstellt. Die Universität hat als solche die Bestim¬
mung, das gesammte Volksleben wissenschaftlich zu durchdrin¬
gen und zu seiner Idee fortzuführen, und in dieser Bestimmung, die
ihre Einheit ausmacht, liegt die andere, aus und in sich ein einiges
und darum besonderes Leben darzustellen, das die Gegensätze des Volks¬
lebens enthält, ohne daß sie als reell eristirende auseinander gehalten
wären, in dem also diese Gegensätze, weil möglichst unmittelbar aus
der Idee heraus sich gestaltend, frei und lebendig, u,ut nur durch das
aus dem gemeinsamen Bewußtsein hervorgestellte Recht gehalten, zu
Kampf und Vermittlung zusammentreffen. Vor Universitäten, wie die
französischen, die nur im äußerlichen Eompler von Fachschulen sind,
und bei denen folgegemäß auch das Studentenleben auseinandcrsällt
und in dem großstädtischen Treiben verschwindet, möge uns unser gu¬
tes Geschick bewahren. Unsere Universitäten leiden allerdings nach
allen Seiten an Halbheiten und Widersprüchen und sind nicht das
was sie sein können und sollen, aber die Hoffnung, daß sie es wer-
den, ist doch nicht aufzugeben, und die Studenten selbst können hierzu
nicht wenig beitragen.
Der Anblick des gegenwärtigen Untversitätslebens ist, wie man
wohl gestehen muß, nicht eben erquicklich. Von oben her fehlt es nicht
an Bestrebungen, die Universitäten zu Schulen hinabzudrücken, die
Lehrfreiheit zur Illusion zu machen und die Studenten zu, vereinzeln
und auseinanderzuhalten. Von unten mangelt die Grundlage eines
freien Volkslebens und eines allseitigen Schulwesens, es mangelt ins¬
besondere die Erziehung zur Freiheit. Professoren und Studenten ste¬
hen sich meistens noch fremd und ohne daß zwischen ihnen eine gegen¬
seitige Anregung und Belebung — und auch die Professoren bedürfen
einer solchen — stattfände, gegenüber. Im Studentenleben sehen wir
auf der einen Seite die Ruinen früherer Lebensgestaltungen, .die von
den Einflüssen der Zeit allmülig zerbröckelt werden, auf ver ändern eine
Partei, die sich in einem Kampfe gegen Formen abmüht, die von selbst
zerfallen werden, zwischen ihnen eine Masse völlig Indifferenter, die
nur geselligen Genuß oder einstime Befriedigung suchen. Nur hier
und da tauchen Bestrebungen auf, denen eine Zukunft zuzusprechen ist.
Das Studentenleben bedarf vor allen Dingen eines festen Rechtsbo-
dens, eines selbständigen und besondern Rechtes innerhalb des all¬
gemein bürgerlichen, das als solches kein Privilegium ist, es bedarf
ferner wahrhaft sittlicher Vereinigungen, welche verschiedene Richtungen
und Aufgaben deö Volkslebens in sich zur Klarheit und Wirklichkeit
zu bringen suchen, und die Geltung der Persönlichkeit durch sich selbst
möglich machen, und es bedarf allgemein bildender Institute, von de¬
nen wir nnr als besonders wichtig gymnastische Anstalten erwäh¬
nen. Die Poesie und die Freiheit deö Scheines mögen untergehen,
an ihre Stelle r>le der Wahrheit und Schönheit treten!
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Südlich von den Städten Unna, Werk, Soest erhebt sich der Ge-
birgszug der Haar, welcher, einzelne kleine Ausnahmen abgerechnet,
die evangelische Bevölkerung von der katholischen trennt. Von den
Höhen dieses Gebirges IM mau eine weite Aussicht, nach dieser Seite
hin aus die fruchtbaren, bevölkerten Ebenen der Grafschaft Mark, ja
sogar des Münsterlandes, nach der andern Seite hin auf die wilden,
waldbewachsenen Gebirge des Herzogthums Westphalen. Es fehlt hier
die eigentliche Vermittlung zwischen der Ebene und dem Gebirgsland,
welche uns an dieses gewöhnt, während wir jene noch nicht verlassen
zu haben glauben. Ein einstündiger Spaziergang ist hinreichend, um
uns aus der Mitte wogender Saatfelder in düstere, einsame Wald¬
thäler zu bringen, um die Einförmigkeit einer weiten, unendlichen Ebene
mit dem anmuthigen Wechsel von Thal und Berg zu vertauschen.
Da die Natur hier einen solchen Sprung macht, warum sollten wir
uns darüber wundern, daß auch die Bevölkerungen sich so schroff von
einander unterscheiden? In jeder Beziehung, in Rücksicht auf Bildung
Gewohnheiten, Volkssitten, Religion, Beschäftigung sind die Bewohner
des Berglandes von ihren Nachbarn ans der Ebene verschieden und
man muß sich wundern, daß die preußische Verwaltung diese einander
widersprechenden Landestheile in einen Regierungsbezirk zusammenge¬
fügt hat.
Arnsberg, der Sitz dieser Regierung, ist die bedeutendste Stadt
deS Herzogthums Westphalen, aber in jeder Hinsicht den großen,
Städten in der Grafschaft Mark nachstehend. Die Lage derselben er¬
innert an Tübingen ; auf dein Rücken eines Berges gelegen, zieht sie
sich nach drei Seiten zum Flusse, zur Ruhr, hinunter, welcher sie in
einem weiten Halbzirkel umgibt. Auf der Spitze dieses Berges erblickt
man die kolossalen Trümmer des Schlosses der frühern Grafen von
Arnsberg, welche die Gründer der Stadt und die ersten Beherrscher
deö Landes waren. Von diesen Ruinen aus ziehen sich zwei Reihen
Straßen wie in einer feierlichen Procession nach den weitläufigen
Klostergebäuden hin, welche den andern Envpunkt der Stadt bilden.
So zwischen Burgruinen und Klostermauern eingezwängt, hat die
Stadt die Denkmäler ihrer frühern Geschichte nahe vor Augen. Die
letzten Jahre haben auch in der That wenig dazu beigetragen, die
Bewohner Arnsbergs ihren mittelalterlichen, katholischen Ansichten und
Bestrebungen zu entwöhnen. Arnsberg ist ans einer Unterstadt eine
Beamtenstadt geworden. Die ganze Gesellschaft ist hier nach Rang¬
klassen abgetheilt und die vornehmere hütet sich sehr, mit der geringern
zu verkehren. Besonders findet man den Unterschied zwischen den stu-
dirten und nichtstudirten Beamten auf'ö Consequenteste durchgeführt.
Darum ist auch so wenig Leben in dieser Stadt, wo doch so viele ge¬
bildete uno intelligente Leute miteinander verkehren. In keinem Wirths¬
haus, in keinem Casino trifft man ein allgemeines, lebendiges Gespräch
an; die Karten sind an die Stelle aller Geselligkeit getreten; an den
öffentlichen Vergnügungsörtern ist es stiller wie in der Kirche.
Selbst auf dem Lande ist das Beamtenleben dominirend. Die
Ursache dieser Erscheinung ist die Armuth des Bodens und der Be¬
völkerung. Jedes Burgstädtchen sehnt sich darnach, ein Gericht oder
wenigstens eine Gerichtscommisston zu bekommen, da ein halbes Dutzend
Beamten den Wohlstand eines ganzen Ortes zu heben im Stande sind.
Da findet nun ein ewiges Petilivniren bei den Behörden statt; überall
will man den Beamten den Wohlstand verdanken, den man durch die
Verbesserung des Ackerbaus und der Viehzucht zu erwerben zu faul^ ist.
Nach den Beamten stehen die Geistlichen am höchsten. Dadurch
unterscheidet sich das Herzogthum Westphalen von dem Münsterlande,
da in diesem der Geistliche den Vorrang vor dem Beamten hat. In
einem Städtchen dieses Herzogthums findet man gewöhnlich sieben bis
acht Personen, welche man, salls man etwas Großmuth und Phantasie,
besitzt, zu den Gebildeten zählen kann. Der Erste, das Haupt der
Gesellschaft, ist der GerichtSdirecwr; er wird mit kaum geringerer Ehr¬
furcht angesehen als ein König; zur Seite steht der Assessor und der
Justizcommissär; eine Meile tiefer der Actuar. Ist die Stadt so glück¬
lich, einen praktischen Arzt zu besitzen, so wird dieser auch mit zur
guten Gesellschaft gezählt, zu der man den Geistlichen des Ortes gern,
den Schullehrer aber nur mit einigem Widerstreben zuläßt. Nur der
Justizcommissär verkehrt in seinem wohlverstandenen Interesse vielleicht
manchmal mit den reichern .Krämern und Bauern der Umgegend, da-
mit er ihr Vertrauen gewinnt und sie recht viele Prozesse durch ihn
führen lassen. Diese Hand voll Leute leben nun allerdings auch recht
vertraut miteinander; sie haben ihren Clubb. in welchem hier und da
sogar eine Zeitung gehalten wird, geben einander Gesellschaften und
vergessen über ihren Amtsgeschäften und ihrer Whistpartie alle Ereig¬
nisse deS Tages, Texas und Taiti, die Generalsynode und den Gustav-
Adolfs-Verein.
Von blos gesellschaftlichen Standpunkte aus gerechnet, ist es al¬
lerdings den Beamten nicht zu verdenken, die übrigen Bewohner von
ihrem Umgange und aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. Man
kann sich wohl nicht leicht einen grobem, faulem, unwissendcrn Men¬
schen denken, als einen Bauern dieser Gegend. Man braucht nur die
Dörfer anzusehen, um sich gleich von diesen Eigenschaften ihrer Be¬
wohner zu überzeugen. Verfallene Häuser, aus denen der Rauch
allenthalben, aber nur nicht durch einen Schornstein, herausbringt
vor dessen Thüren die unvermeidliche Düngergrube liegt, dessen Dach
nicht mehr im Stande ist, den Schnee und die Stürme des Winters
abzuhalten, bergen in ihrem Innern einige schmuzige Schweine, noch
schmuzigere Kinder und einen armseligen Hausrath. Die Straße,
welche durch die Dörfer führt, ist so kothig, daß der Wagen der Rei-
senoen oft darin stecken bleibt: oft ist das Bette des Baches, welcher
durch das Dorf fließt, auch der Weg durch dasselbe. Wer als Rei¬
sender in einem solchen Dorfe zu übernachten, oder auch nur zu essen
gezwungen ist, kann vorher sein Testament machen; Ungeziefer, ein
fürchterlicher Geruch und noch fürchterlichere Speisen vereinigen sich,
ihn zu quälen und zu peinigen, so daß er am Ende eine Nacht im
Freien und einen Tag ohne Speise dem Aufenthalt in einem Dorf-
wirthohaute vorzieht.
Die Natur ist nicht Schuld an der Verfallenheit und Armuth
der Dörfer; im Verhältniß zu der dünn gesäten Bevölkerung ist genug
Wald, Acker- und Wiesenland da, um die Leute zu ernähren, ja so¬
gar wohlhabend zu machen. Der Charakter des Volkes ist Schuld
an seinem Elend. Man arbeitet wenig, schläft lange, spielt und trinkt
viel, und verbringt die übrige Zeit in der Messe. Diese Lebensweise
wird durch das Zusammenwohnen der Bauern in Dörfern sehr be¬
günstigt. Sie haben oft eine Stunde Weges bis zu ihren Aeckern
zurückzulegen, und so kommen Pferde und Menschen schon müde zur
Arbeit hin. Dann hat man des Abends, ja sogar des Nachmittags,
das Wirthshaus mit seinem Schnaps und seinen Karten zu nahe,
als daß man es nicht besuchen sollte. Da wird dann gespielt und
getrunken, bis daß der Gerichtsdiener Haus und Hof verkauft hat
und Weib und Kind an den Bettelstab gebracht sind.
Da die kleinen Städte dieses Landes mit einer einzigen Ausnahme sich
ausschließlich durch den Ackerbau nähren, so findet man keinen großen
Unterschied zwischen dem Leben in den Dörfern und in den Städten,
Von politischer Bildung und Aufklärung ist daher in diesem Lande,
daS dazu noch in den Händen der Geistlichkeit ist, nicht zu sprechen.
Findet man im Lande Unzufriedenheit, so hat dieselbe ihren Grund im
katholischen Fanatismus der Bewohner und dem Drucke der Armuth.
Das Ländchen hatte seine Herren in den letzten 50 Jahren zu oft
gewechselt, als daß es sich nicht zur Vergleichung der verschiedenen
Regierungen und damit zur Kritik derselben hätte bewogen fühlen
sollen. Erst tur-kölnisch (weshalb man das Herzogtum Westphalen
noch jetzt „das kölnische Süderland" nennt), dann Hessen-darmstädtisch,
ist es endlich preußisch geworden, während noch dazwischen, wenig¬
stens in der Umgegend, die französisch-westphälische Regierung gespült
hat. Das Land befindet sich unstreitig unter den Segnungen der
preußischen Negierung am wohlsten. Dennoch gibt eS Leute, welche
die früheren, wie sie behaupten, dem Katholicismus mehr zusagenden
Verhältnisse, nicht ganz vergessen können. Diese Leute haben daher
immer etwas zu murren und zu klagen. Hätte der „Sprecher
für Westphalen und Rheinland," der einmal mich in Arnsberg bei
A. L. Ritter zu erscheinen Miene machte, diese Art Jeremiaden des
Volkes, welche jetzt eigentlich weder Grunv noch Ziel haben, die
im oberflächlichsten Raisonnement sich ergehen, dem das Kleinste mi߬
fällt und das Größte nicht bemerkbar wird, sammeln, lichten und auf
ihren wahren Werth zurückführen wollen, so würde dieses Blatt sich
für die Bildung des Volkes sehr ersprießlich gezeigt haben.
— Kraftmenschen, Menschen von Stahl und Eisen, die den Blitzen
des Neides und der Verlä'umdung mehr als andere ausgesetzt sind,
müssen sich mit Spottableitern bewaffnen; dann wird der Wetter-
strahl, statt sie zu bes-bädigen, ihnen zur Glorie dienen. So kaufte
AlttbiadeS den schönsten Hund um Ilwl) Drachmen, schnitt ihm den
Schwanz ab und ließ ihn so durch die Gassen Athens laufen. DaS
Volk lachte und versöhnte sich mit dem gefürchtetrn Manne, weil er
doch auch so närrisch sein konnte.
— Aus Pa^ris, vom S. August 1819. — Ein achtungswürdiger
deutscher Gelehrter in Paris schreibt: „Seit einiger Zeit werden wir
hier in Paris mit frankirten und unfrankirteu, mit geschriebenen und
lithographirten, mit deutschen und französischen Briefen der Haupt-
Und Unter-Lotterie-Collecicurs der freien Stadt Frankfurt belästigt.
Diese Herren müssen ein vorzügliches Wohlwollen gegen die Pariser
hegen, denn sie versichern jedes Mal in ihren Briefen, sie hätten diese
und jene Nummer „mit besonderer Sorgfalt" ausgesucht und zweifelten
sie nicht, daß dieselbe ein glückliches Loos treffen werde." Und so
geht die Klage noch weiter fort. Die Herren Franzosen mögen es
nicht übel nehmen, aber ich bin der Meinung, es sei billig, daß sie
etwas an sich verdienen lassen. Zwanzig Jahre lang haben wir Frank¬
furter in ihre große Revolutions-Lotterie eingesetzt, ihre Ober- und
Unter-Collecteurs haben uns mit vorgestrecktem Bajonette den Einsatz
in Contributionen, Einquartierungen, Todesängsten und Kriechereien ab¬
gefordert, und nie bis auf den heutigen Tag ist uns der geringste Treffer
zugefallen. Alle die großen Gewinnste ihrer Lotterie: Unabhängigkeit
des Staates von Außen, Freiheit und Gleichheit im Innern, wahre
Volksvertretung, Oeffentlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz, Ge--
schwornengerichte, Freiheit der Presse und die übrigen größern und
kleinern Prämien der Revolution haben andere gewonnen. Wir Frank¬
furter haben nichts von diesem Allen, nickt einmal die Hoffnung dazu.
nieder, nichts als nieder! Darum mißgönne man uns nicht unsere
Klassen-Lotterie. Und wenn unsere Collecteurs die „mit besonderer
Sorgfalt ausgesuchten" Nummern nach Paris schicken und sie nicht
eher ihren Mitbürgern überlassen, so ist dieses eine Großmuth, welche
die Franzosen nicht um uns verdient haben.
— Nur die Freiheit des PreßbengelS kann gegen die Frechheit der
VolkSbengel schützen.
— DaS Studirzimmer eines Gelehrten gleicht oft der Kindbettsstube
einer Wöchnerin. DaS Weinen und Schreien der neugebornen, un¬
saubern Gedankchen ist Jedem, nur nicht dem Vater zuwider. Darum
soll ein Gelehrter, wenn er Besuch erwartet, erst die Wiege wegtragen
lassen und seinem Gaste blos die erwachsenen Kinder präsentiren.
ngi-jnwtSMMchv uiN .Si8!ijus.note,5i»->—
— Höflichkeit ist ein Regen- und Sonnenschirm. Sie schützt vor
Nässe und Wärme; aber sie macht weichlich. .....
»j^Il!)»> t'>?U^'int»Il'Ztsiil^kek)lI^»i««v
— Vor Kurzem erklärte ein französischer Schriftsteller öffentlich, daß
er gegen einen genannten Journalisten eine Injurienklage anstellen würde,
weil ihn dieser einen Anhänger der Minister gescholten habe. Es
ist ein Gegenstück dazu, daß Chateaubriand in seiner neuesten Druck¬
schrift den Königlichen Ordonnanzen vorwirft, sie enthielten antimonar-
chische Grundsätze. Ich glaube, daß solche Reden Beweise wahrhafter
Freiheit sind. Haben wir es einmal in Deutschland so weit gebracht,
Dann wollen wir aus unsern Tintengläsern Wein trinken und friedlich
spazieren gehen. Aber bis dahin wollen wir schreiben. —
— Wenn die Minister Gewaltstreiche begehen, um ihre Macht zu
zeigen, zu schrecken und hierdurch Einfluß zu erlangen, so mag man
es dabei bewenden lassen, ihren bösen Willen zu tadeln. Wenn sie sich.
aber gesetzwidrige Handlungen erlauben, um ihre Schwäche zu zeigen,
so stellen sie auch ihre mangelhafte Einsicht der Beurtheilung preis
und man kann sich über ihre Verblendung nicht genug wundern. Hof¬
leute haben unter allen Geistesgaben nur noch die Schlauheit zu ver¬
zehren; sie sollten darum haushälterischer verfahren.
.,
— Die französische Akademie hat das Lob der Jury zum Inhalte
der poetischen Preisbewerbung gewählt. Hätten manche deutsche Ge¬
richtshöfe nur das Talent, ihre Urlheilssprüche in Versen abzufassen,
so gäbe dieses die gelungenste Verherrlichung der Geschwornengerichte
und kein Goethe konnte ihnen den Preis streitig machen-
.<Ä<».>
— Kürzlich fragte mich ein Minister: Warum wir Journalisten
immer mir zu tadeln fänden, nie etwas zu loben, wozu doch Stoff ge¬
nug da sei, wie z. B. Dasjenige, was die süddeutschen Regierungen
für das Volk gethan? Ich hatte nicht Geistesgegenwart genug, ihm
Folgendes darauf zu antworten : Eine gute Sache zur Hälfte thun,
ist oft schädlicher und darum auch tadelnswerther, als sie ganz unter¬
lassen. Wo Stunde noch nicht eingeführt sind, da kann man sich da¬
mit trösten, daß die Machthaber das Recht des Volks, solche zu fordern,
noch nicht anerkannt haben und daß sie ihre Pflicht ersüUen würden,
sobald sie zur Einsicht derselben gelangt sein werden. Wenn aber,
wie in Baiern und Baden, durch Einführung der Stände gezeigt wor¬
den, daß man die Rechte des Volkes nicht verkenne, dabei aber die
Berathungen und Beschlüsse der Deputirten unbeachtet ließ, worauf
sollen wir alsdann noch unsere Hoffnung bauen? — 1819.
— Wenn man bedenkt, wie viel bequemer es ist, zu lieben als zu
Haffe», so muß man eingestehen, daß die meisten Menschen aus langer
Weile Böses thun.
!>;zj7<intim ?Ä ?ki?Ua) RA-ttsvt j'j!chj?5?>njs s6oH M^n^A '^^tu'^ sj<l
Wie unterscheidet sich der bescheidene Mann vom Eilein? Wie
sich der Reiche vom Armen unterscheidet. Während jener die einzu»
laufenden Zinsen seines Ehrencapitals ruhig und gelassen abwartet,
lebt dieser vom Tagelohne seiner Ehrenjagd. Wenn der erwartete
Gewinnst ausbleibt, muß er hungrig zu Bette gehen.
6des?-:tkd»sean-ts,nz?nvafn:eyn?tzü'»MK
— Ernsthafte Weiber gleichen einem leeren Koffer mit sieben
Schlössern. nim <jj^ : s^und ckj z«^
— Selten bewohnt der Architekt ein Haus, daS er selbst gebaut.
Er gleicht den modernen Philosophen.
^»H .»n?<Zu»<et r,im5v >es»t KM»An»!<KsK »Ali ^»»6ü chjs um<f ulla Sun
Deutscher Handel. — Man muß die deutschen Herren, welche
den Handels- und Gewerbsverein geschlossen haben, ihren Weg fort¬
gehen lassen und sie aufmuntern; er führt zum Guten, ob zwar Die,
welche darauf wandern, nicht wissen, was sie wollen. Sie führen einen
Rechtsstreit um Baumfrüchte, aber um den Baum, worauf diese wachsen
und um den Boden, in dem der Baum wurzelt, sind sie unbekümmert.
Was werden sie gewinnen, selbst wenn sie glücklich siiid? Ihre Noth
kehrt mit jedem Jahre zurück; oder wenn sie hier verschwindet, erscheint
sie dort. Keine Freiheit des Eigenthums ohne Freiheit der Person.
Letztere zu erringen oder zu erbetteln, das sei der Deutschen Streben.
Es weiß Jeder genug, was sein eigner Vortheil ist, sobald ihm ver¬
stattet wird, alle seine Kräfte zu gebrauchen, wann und wozu er will.
Eine Volksvertretung aller Deutschen, und das Uebrige ergibt sich dann
von selbst! Aber wir haben mehr Habsucht als Bürgerehre, unser Vor¬
theil liegt uns näher am Herzen als unsere Freiheit. Doch da ersterer
nicht erreicht werden kann ohne letztere, so wird der deutsche Haudels-
verein, trotz der Aengstlichkeit, mit welcher sich dessen Stifter gegen die
Zumuthung politischer Zwecke verwahrten, allgemeine und wichtige po¬
litische Folgen haben. - l8>9. 'mz cUvöos
— Es gibt Sonnen- und Mondfinsternisse in der Geschichte wie in
der Natur» Die unkundige Menge erbebt bei ihrem Anblick und wähnt,
es stunde der Welt ihr Untergang bevor. Der Weise lächelt und weiß,
daß sie vorübergehen.'
— Ich fragte einen Freund, ob er nichts Näheres wisse von der
großen Verschwörung, ob er nicht selbst darin verwickelt sei und wie
die deutsche Republik habe eingerichtet werden sollen? Er antwortete
mir, er sei kein Verschworner, aber von der Republik wisse er Manches.
Nämlich: Deutschland habe in 2V Gaue eingetheilt werden sollen____
Gaue? fiel ich ihm schnell in die Rede. Ich mag nichts weiter hören,
ich durchschaue schon die ganze Posse. Gespenstergeschichten aus dem
Mittelalter — Ritterromane -- der ganze Spieß und Veit Weber.
Hätten sie gesagt: In Provinzen, hätte ich ihnen gesagt: Ihr seid
ruchlose, gottvergessene Menschen. Da sie aber sprachen von Gauen,
sage ich ihnen: Ihr seid altdeutsche Narren! — 1819.
— Eine Vormundschaft dulden-ist lange nicht so schimpflich als sie
verdienen.
— Die Fehler mancher Schriftstellerin sind ihre Vorzüge als Weib.
— In der Politik werden eben so wenig, wie in der Medicin, alle
Recepte der Aerzte auch von den Patienten wirklich eingenommen.
— Wir haben keine Tarpejische Felsen, die Volksverräther hinabzu¬
stürzen, wir haben nur Fenster, sie hinauszuwerfen; aber diese Todes¬
art ist gar zu prosaisch — man muß auf eine andere Strafe bedacht
sein. Die zweckmäßigste Züchtigung für einen treulosen Beamten wäre
wohl die, daß man ihn in die Lage setzte, von einem Beamten, der
ihm gleicht, selbst amtirt zu werden.
Ein alter griechischer Dichter, den Plutarch im Leben des De-
mosthenes anführt, sagte: das Nothwendigste zum Glücke eines
Menschen ist, in einer berühmten Stadt geboren zu sein.
Mir ist das Buch jetzt nicht zur Hand, ich kann mich nicht überzeugen,
in welchem Sinne Plutarch diesen Spruch aufgefaßt, wie er ihn ge¬
deutet und angewendet hat. Aber, wenn ich mich recht erinnere, war
es so geschehen: daß, um es in Freistaaten weit zu bringen, es förder¬
lich sei, eine berühmte Vaterstadt zu haben, weil dieses als eine Art
adelige Geburt angesehen wird, welche die Bahn der Ehren kürzer und
leichter macht. Dieser Satz des griechischen Dichters gilt auch uns
noch, wenn auch mit verschiedener Anwendung. Wer im alten Grie-
chenlande nach bürgerlicher Auszeichnung strebte, der mußte alle seine
körperlichen und geistigen Kräfte gleichmäßig ausbilden und sie zur
möglichst vollkommenen Entwicklung zu bringen suchen. Wer aber in
unsern Tagen fortkommen will, der muß ganz entgegengesetzt verfahren;
er darf sich nur einseitig, mir diese oder jene Kraft ausbilden und muß
alle übrigen schönen Anlagen, die ihm die Natur gegeben, zerstören
oder sie in schmachvoller Unterdrückung halten. Da aber glücklich sein
und sein Glück machen so sehr verschiedene Dinge sind, daß gewöhn¬
lich Eines das Andere ausschließt, und da, wo Lohn mit dem Ve»
dienste sich nicht vereinigen läßt, kein edler Mann sich bedenkt, ob er
den Lohn oder das Verdienst aufopfern soll, so bleibt es auch für un¬
sere Zeit wahr, daß man, um glücklich zu sein, in einer großen Stadt
leben müsse, weil man nur da allein seine Kräfte musikalisch ausbilden
kann und sie concertirend gebrauchen darf.
— Man hat Friedrich dem Großem viele Lobsprüche über seine Mä¬
ßigung gemacht, daß er bei so vieler Heldenstärke doch so wenig erobe¬
rungssüchtig war. Ich glaube nicht, daß er dieses Lob verdient hat,
da es nicht in seiner Gewalt stand, es anders zu machen. Die Natur
hatte ihn eben so sehr zum Philosophen als zum Helden gebildet, da¬
her würde ihm die Philosophie immer im Wege gestanden haben, wenn
er seinen Heroismus hätte geltend machen wollen. Ich bin überzeugt,
hätte Friedrich keine Verse gemacht und wäre er weniger witzig gewe¬
sen, dann würden wir Napoleon fünfzig Jahre früher kennen gelernt
haben — oder gar nicht.
— Mau findet oft starken Willen mit schwachem Verstände und
eine schwache Gemüthsart mit starkem Geiste vereinigt. Das kommt
daher, weil dort die verschiedenen Seelenkräfte, wegen ihrer niedrigen,
knechtischen Natur, einer unter ihnen, welche die stärkste ist und sie
zu beherrschen vermag, willig gehorchen: es ist dieses die Einheit und
Macht eines despotischen Staates; und weil hier die mehr selbst¬
ständigen und eigenwilligen Seelenkräfte keine Alleinherrschaft dulden:
es ist dieses die Unordnung und Schwäche einer Republik. Der
Geist des Menschen hat die gesetzgebende, sein Charakter die ausübende
sein Herz die richtende Gewalt, und nur wo diese Gewalten im ge¬
hörigen Verhältnisse stehen, ist der Mensch vollkommen.
— Kotzebue hat geirrt; er hat für Vaterland, Freiheit, Schule und
Wissenschaft ersprießlich geachtet, was ihnen verderblich war. Allein
mußte er darum ein Verräther gewesen sein? Ihr sagt, er habe der
russischen Negierung Berichte über den Geist, die Stimmung und Wissen¬
schaft Deutschlands eistattet. Ist dieses ein Verbrechen? Das Volk
sollte sich wegen dieser offnen Anerkennung seiner Wichtigkeit vielmehr
geschmeichelt fühlen. Es war eine Zeit, wo man sich wenig um die
Gesinnungen der Völker bekümmerte und aller diplomatische Forschungs--
geiht nur die Absichten ver Höfe, die Meinungen der Fürsten und die
Launen ihrer Maitressen zum Ziel hatte. Wenn man jetzt das Volk
ausspioniren läßt, so ist dieses wahrlich ein gutes Zeichen der Zeit.
Ihr sagt: Kotzebue habe falsch berichtet; aber wenn auch, glaubt ihr,
eine so kluge Regierung, wie die russische, werde ihre Ansichten und
Schlüsse allein nach Kotzebue's Geschwätz richten? Ihr sagt:, er habe
das deutsche Volk verleumdet? Ein Volk verleumden! wie lächerlich
1819, -
— Rehsues in seinen Briefen aus Italien erzählt: daß auf dem
Kapitol die Statuen aller Provinzen des römischen Reichs gestanden,
deren jede eine Glocke am Halse hängen hatte, welche vermöge ihrer
magischen Kraft sogleich von selbst läutete, wenn in ihrer Provinz
etwas gegen die römische Negierung unternommen wurde. Solche
Statuen sind eben so nützlich, als unsre Polizei-Spione, und kosten
weniger. Man sollte sie einführen.
— Wenn man zur Untersuchung eines Vergehens sogenannte be¬
sondere Commissionen ernennt, so beweist dieses von zweien Dingen
eins: entweder man fürchtet die gewöhnlichen Beamten, oder man
wünscht, die außerordentlichen möchten ihre Pflicht nicht thun. Man
will dann ein Zulegemesser, das sich in der Tasche nachführen läßt,
zum Schwerte der Gerechtigkeit brauchen.
— Die Preßfreiheit zu erlauben, aber Alles so zu lenken, daß Nie¬
mand mehr den Pressen etwas zu geben Lust und Muth haben könnte!
Dies, o Ihr Räthe der geheimen Polizei, dies wäre die sublimste Auf¬
gabe, welche durch eine geschickte Gesetzmunkelei zu lösen Ihr den Au¬
genblick benutzen solltet! — Wohlan! schneidet nur der selbstforschen-
den, selbstthätigen Gelehrsamkeit alle Aufmunterung ab; drückt das
ächte Gelehrtwerden als unnütz nieder, hasset es tövtlich als furchtbar
und störend für Eure gebieterische Rechthaberei. Aber erwartet dann
auch, was aus Euren bloßen Praktikern, aus Euren Routiniers wer¬
den wird. Zur Maschinenarbeit taugen Hunderte, Tausende. Aber
wird ihnen nicht auch Geist, Selbstforschung eingeflößt, so viel jedem
jener Handarbeiter, als er zur Leitung seiner Praxis in sich aufzuneh¬
men und zu fassen vermag, dann erwartet, welche Geschäfte gemacht,
welche Negieruugswunder geschaffen werden können durch die lautere
vis mei-eine oder durch ungeregelte Genie-Einfälle von Arbeitern, in
denen nichts wissenschaftlich durchgearbeitet ist. — 1818. —
— Im menschlichen Organismus unterscheiden wir drei Reiche: das
Reich des Magens, das Reich des Herzens und das Reich des Ge¬
hirns. Der Magen fesselt uns an die Erde; das Herz verbindet uns
mit dem Menschen; durch das Gehirn hängen wir mit der Sonne
zusammen.-
.,,.>».,
— Das Leben ist allen Thieren gemein, aber sterben kann nur der
Mensch.
— Adels- und Geldsiolz.Gerecht ist weder der eine noch der
andere; es fragt sich nur, welcher der unerträglichste ist. Ich stimme
für den Adelstolz. Der Geldstolz ist weniger lästig, weil er lächerli¬
cher, daher komischer, daher unterhaltender ist, und weil er dem Ge-
demüthigten die Hoffnung läßt, sich durch Erwerbung von Reichthü¬
mern zu erheben und der Geringschätzung zu entgehen. Der Adelstolz
ist herablassender als der Geldstolz, und darum beleidigender; denn die
Größe der Herablassung ist das Maß der Höhe, auf welcher der sich
Herablassende zu stehen glaubt.
— Die Aristokratie des Geistes ist die einzig natürliche und
dem Staate nützliche. Sie kann weder verliehen, noch geschenkt, noch
ererbt, noch geheuchelt werden. Sie ist die wahre Herrschaft von
Gottes Gnaden und die ganz unantastbare Legitimität, weil sie nicht
allein das Recht, sondern auch die Kraft hat, Alles erreicht, was ihr
gebührt, und nicht erlangt, was ihr nicht gebührt. Sie Verlangt nicht
Beförderung, nur Freiheit, um ihre Zwecke zu erreichen.
— Wie wahr ist die Bemerkung, daß bei allem Reichthum von
Weisheit, den die Menschheit besitzt, die Menschen dennoch darben,
weil es der Genius verschmäht, seine große Lehre durch Zertheilung
mehr auszubreiten und faßlicher zu machen, da ja doch die Sonne
selbst ihr erhabenes Licht in Millionen kleine Strahlen aussendet, und
nur so allein die Welt erwärmt und belenchret. Es wäre zu wün¬
schen, die ausübende Weisheit zeigte sich auf dem Markte, und die
belehrende in Kochbüchern, Wandkalendern und in dem Jntelligenz-
blatte; der Mann sollte sich, um von Männern verstanden zu werden,
dem Weibe verständlich zu machen suchen. — Im Kampfe um die
Wahrheit reicht die Kraft des Mannes nicht zu seinem Muthe hin,
und der Muth des Weibes nicht zu seiner Kraft; darum erreicht je¬
ner nie vollkommen sein Ziel, dieses aber immer mehr, als es gehofft
und gewünscht, sobald es nur strebt. DaS andere Geschlecht tritt
überall zu furchtsam zurück. Wissenschaft und Kunst sind Tempel, die,
sind sie zwar von Männern allein gegründet und aufgebaut, doch auch
Frauen mit gleichen Ansprüchen auf Vortheil und Genuß bewohnen
dürfen und sollen, auch geschieht's. Die Frucht ist willkommen, weil
ihr Mangel schmerzt. Die Blüthe ist durch sich selbst erfreulich. Den
männlichen Geist ernährt, den weiblichen schmückt die Wissenschaft.
Welches ist das schönere Loos? Und glaubet ja der Lüge nicht, daß
nur der Musen Kindergärtchen, nicht der ernste Hain Apoll's, Euch
Schwestern aufgeschlossen sei. Der düstere Ernst mancher Kenntniß
liegt nur im trüben Blicke des Forschers; nahen sich die Grazien, dann
erheitert sich die Wissenschaft. Versucht es nur mit jeder, selbst die
Logarithmenlehre lächelte Euch zu. Logarithmen! Was heißt das, wie
verhält es sich damit? O stille, man spricht nicht gern davon.
— Ich würde die Liebe allmächtig nennen, könnte sie sich selbst be¬
zwingen.
— Schmerz ist der Sauerteig des Lebens, der es erst schmackhaft
und genießbar macht.
— Wieder einige Tausend Auswanderer aus der Schweiz schifften
den Rhein entlang nach Brasilien hinüber. Wir senden den Amerika¬
nern Piloten entgegen, die sie recht bequem und sicher in unsere Hä¬
fen einführen, wenn sie einst Lust bekommen, ihre Freiheitsgesinnungen
über Europa zu verbreiten und an seinen Ufern zu landen.
— Albrecht der Unartige hieß ein gewisser Landgraf von Thü¬
ringen. Das waren doch noch gute Zeiten, wo man selbst Fürsten
bei ihrem rechten Namen nannte, und das war gewiß ein guter Fürst,
von dem man nichts Schlimmeres zu sagen wußte, als daß er nicht
artig sei!
— Das Französische Sprechen. — Man hat den Witz eines
Voltaire, eines Jean Paul, eines Swift, eines Cervantes — jene Lä¬
cherlichkeit des Französisch-Sprechens steht zu hoch, keine satirische
Züchtigung vermag sie zu erreichen. Das Herz ergrimmt in der Brust,
zum Kampfe ballt sich die Faust, wenn uns eine solche Albernheit in
den Weg tritt. Unter allen Gründen, warum die höhern Stände in
Deutschland die Franzosen gehaßt haben, steht die Furcht, ihre Götter-
Sprache möchte hierdurch zu bürgerlich werden, gewiß oben an.
— Die neapolitanische und die päpstliche Negierung haben oft son¬
derbare Mittel ergriffen, die öffentliche Sicherheit zu erhalten: sie ha¬
ben mit den Näuberhauptleuten Verträge geschlossen. Doch nie hat
man gehört, daß sie, um Reisende vor Straßenräuberei zu schützen,
das Reisen verboten hätten, das hieße ja Zahnschmerzen durch Kopf-
abhacken heilen. Die Frankfurter Polizei hat diesen Zweig der Ver¬
waltung vervollkommnet. Einige Tage nach dem Volksauflaufe, der
gegen die Juden gerichtet war, ging ein jüdischer Hühneraugenschnei¬
der nach dem Dorfe Bornheim, wo er seit vielen Jahren als unaus¬
bleiblicher Sonntagsgast bekannt ist. Da das Wirthshaus, wo er ein¬
kehrte, nur von dem gebildeten Bürgerstande und von keinen fremden
Handwerksburschen besucht wird, die ja, wie Jedermann weiß, allein
an den Unruhen Theil genommen, so blieb unser israelitischer Fußarzt
ungeneckt, trank ruhig seinen Wein und begab sich hierauf nach Hause.
Auf dem Rückwege begegnete ihm ein reitender Polizei-Beamte, der
ihm befiehlt, sich den folgenden Tag auf dem Amte einzufinden. Dort
erschienen, wird ihm sein Leichtsinn, sich unter Christen zu mischen, vor¬
gehalten, und ihm, damit Reibungen verhütet werden mögen, der Be¬
such Bornheims untersagt. Einen Tag später begegnet unser Jude
dem nämlichen Polizei-Beamten in der Stadt, und sagte demselben
(nämlich wie der Polizei-Beamte behauptet), er werde doch wieder
nach Bornheim gehen. Vorladung den andern Tag — auf's Poli¬
zeiamt? Nein, auf's Polizeigefängniß. Dort wird ihm verkün¬
digt, er müsse 24 Stunden eingekerkert bleiben, zur Strafe, daß er ge¬
sagt, er werde dem Befehle, Bornheim zu meiden, nicht gehorchen.
Das Urtheil ward auch sogleich vollstreckt. —
Ueber dieses Verfahren radelnd zu reden, ist vielleicht ganz frucht¬
los; denn an Orten, wo sich Beamte solche schwere Verletzungen der
persönlichen Freiheit erlauben dürfen, da liegt die Wurzel deS Uebels
tief, und das Abschneiden eines Zweiges desselben zerstört den Gtft-
bäum nicht. Die Juden von christlichen Versammlungen entfernt zu
halten, um sie gegen Beleidigungen zu schützen, ist ein Mittel, das
eben so unklug, als ungerecht ist. Es ist unklug, weil durch eine solche
gesellige Ercommunication die leidenschaftliche Abneigung gegen die
Juden nur genährt wird; es ist ungerecht, weil man keinem Bürger
seine gesetzliche Freiheit beschränken darf, um ihn einer ungesetzlichen
Verfolgung zu entziehen. So weit betrifft diese Sache den „Juden",
und wird daher bei manchem Leser keine Theilnahme finden. Wenn
aber Jemand, der sich eine Polizeiübertretung hat zu Schulden kom¬
men lassen, statt vor das Polizeigericht geladen, dort vernommen, und
darauf nach Recht und Form verurtheilt zu werden, gleich auf's Ge¬
fängniß citirt, und ihm, ohne Vernehmung, ohne vorläufige Protokoll¬
führung, und ohne Richterspruch, Kerkerstrafe auferlegt wird, so liegt
doch vielleicht etwas hierin, was auch das Gefühl der Judenhasser
empören kann. Und darum — ich komme immer darauf zurück —
und darum haben wir das Fegefeuer der Franzosen ausgestanden, um
nach der Erlösung nicht in's Paradies, sondern in die Hölle zu kom¬
men. — 1819. .....-
— Die spanischen Granden haben das Recht, mit bedecktem Haupte
vor dem Könige zu erscheinen. Daher kommt wahrscheinlich die auch
an manchem deutschen Hofe herrschende Sitte: Den Kopf nicht se¬
hen zu lassen.
— Friedrich der Große sagte: „Wein ich eine Provinz züchtigen
wollte, so würde ich ihr Gelehrte zu Beamten geben." Diese Ansicht
deS großen Königs ist in Deutschland noch stark herrschend, und die
meisten Provinzen werden väterlich, das heißt von Umgekehrten regiert.
— Man würde mich steinigen, schreibt Ameive, wenn ich hundert
herrlich blühende Familien nennen wollte, die alle ihre Größe der Ver¬
rätherei des Vaterlandes zu verdanken haben.
— So viel Tausend Vögel, sagt Fontenelle, sind schon in Netzen
gefangen worden und werden noch täglich darin gefangen, keiner flieht
die Stricke, die seinen Vorältern tödtlich waren. Das ist die wahre
Geschichte des Verstandes der Menschen. Es steht immer wieder eine
neue Welt auf, die eben so vernünftig sein will, als die alte; der
Mensch wird nie durch alte, der Mensch wird nie durch Anderer Fehler
klug. Er will es auf eigne Gefahr und Kosten werden.
— Die Erfahrung Anderer kann wohl dazu dienen, unsere eigene
zu ordnen und in Regeln zu bringen; aber sie macht uns eben so
wenig klüger, als wir satt werden von dem, was unser Nachbar ge¬
gessen hat. Wir glauben wohl Jedem gern, der uns sagt: morgen
oder in zwanzig Jahren werde ein Komet erscheinen; aber wo Leiden¬
schaften und Abneigungen sich einmischen, da wird eine Brille unsere
falsche Ansicht nur vergrößern. Möchten sich dieses die Altklugen mer¬
ken, und zur Belehrung der Unbesonnenen nicht immer Exempel auf
Exempel häufen. Man lernt fremde Weisheit alsdann erst schätzen,
wenn man ihrer nicht mehr bedarf.
Es^ ist Ihnen ebenso gut wie vielen Andern gewiß schon aufgefal¬
len, daß Mainz, das alte, ehrwürdige, weltberühmte, an zwei Flüssen
liegende Mainz bis jetzt so wenig von sich reden gemacht und das noch
obendrein zu einer Zeit, wo die kleinsten Städte und Menschen die Or¬
gane der Presse so oft beschäftigen. Die Ursache davon lag aber darin,
daß die alte, ehrwürdige, weltberühmte, an der Mündung des Mains in
den Rhein liegende Gutcnbergstadt bis jetzt alle Erscheinungen der Neu¬
zeit theilnahmlos an sich vorübergehen ließ. Unter dem Schutze der treff¬
lichsten Institutionen und unter einer Regierung, der man sich um so
williger fügte, weil sie wenigstens das Gute bestehen ließ, erlag Mainz
nachgerade einer Trägheit, die um so unverzeihlicher war, je rühriger sich
die benachbarten Städte sowohl für das eigene Interesse als für die Kämpfe
und Bestrebungen des gesammten Deutschlands zeigten. Die Mainzer
bauten auf den alten Spruch: den Glücklichen gibt es Gott im Schlafe.
Die Mainzer schliefen; aber der liebe Gott gab ihnen nichts. Mainz
wurde von den benachbarten Städten im Handel, in Kunst und Wissen¬
schaft weit überflügelt; aber das schlafsüchtige Mainz regte kaum die
schwerfälligen Glieder, Es gähnte unwillig und schlief wieder ein. Nur
ein gewaltiges, erschütterndes Ereigniß konnte die Mainzer aus der Schlaf¬
trunkenheit retten. Dies Ereigniß trat ein. Man tastete seine Institu¬
tionen an, das letzte und theuerste Gut, ja, das einzige, das man be,
uns wahrhaft schätzen gelernt hatte. Die Nachricht kam Allen so uner¬
wartet,, daß man nicht daran glauben wollte. Man fragte sich: -üias
mag die Regierung zu einem Schritte veranlassen, der nur dazu dienen
kann, unser Mißtrauen gegen sie zu erwecken und einen Groll in die
Herzen zu streuen, die sich bis jetzt nur allzugenügsam gezeigt? Wir for¬
derten so wenig Wohlthaten; wir zeigten, im Vergleich mit unsern übri¬
gen Landsleuten, nicht die geringste Begehrlichkeit; unsere Kammer war
so still und ergeben wie ein kindlich Gemüth; mit einem Wort: wir
wollten von der Regierung kein neues Gut haben, warum will uns die
Regierung unser altes Gut nehmen? — Die Antwort aus diese Fragen
war aber der neue Gesetzentwurf und die Aufregung, die jener Eingriff
der Negierung in die wahrhaft in Fleisch und Blut übergegangenen Ge¬
setze hervorgebracht, ist wirklich unbeschreiblich. Was die Negierung zu
jenem kühnen Wagsiück vermocht haben mag? Ich glaube, es ging ihr
wie einem Arzte, der aus Mangel an Kranken die Gesunden noch gesun¬
der machen will und sie dadurch fieberisch aufregt. Und wäre der neue
Gesetzentwurf nur mit Talent und Umsicht redigirt! Aber alle Juristen
der diesseitigen Provinz behaupten, die neuen Institutionen hatten mehr
Mangel an Geist als Ueberfluß an Geschmack, und während der t ollü
Mit>vleon an Genauigkeit und hurtiger Kürze ein Musterwerk aller Zei¬
ten sei, könne der Entwurf als ein Musterwerk des Gegentheils dienen.
Der ^oil«- ^t>i>viole», behaupten sie ferner, sei durchaus nicht, wie man
hier und dort wohl glaube, das Werk einer kurzen Zeit und weniger Ge¬
lehrten, er sei vielmehr das herrliche Resultat mehrerer Mcnschenalrer
und der größten Potenzen unter den französischen Rechtsgelehrten. Zum
Codisiciren gehöre mehr als ein Viertel-Dutzend deutscher Professoren,
welche die Welt vor lauter Büchern nicht sehen und vor lauter unfrucht¬
baren Theorien die fruchtbare Praxis nicht kennen.
Dem sei übrigens wie ihm wolle, der neue Gesetzentwurf hat die
Gemüther bewegt und jeden Rheinhessen von der obersten bis zur aller-
untersten Volksschichte zur beständigen Wachsamkeit, zur Wahrung seiner
geistigen und materiellen Interessen und zur Abwehr aller seinem innern
Wesen widerstrebenden Elemente lebhaft aufgerüttelt. —
Ich möchte Ihnen nun auch etwas über unser hiesiges Kunstleben
mittheilen; allein ich muß gestehen, daß es mir schwer wird, hier einen
Ausgangspunkt zu finden. Der hiesige Kunstverein entbehrt der beleben¬
den und befruchtenden Kräfte. Er hat die günstigsten Gelegenheiten, die
zu seinem Aufschwünge sich darboten, in seiner Schläfrigkeit vorüberge¬
hen lassen und leider hat er noch immer nicht so viel Bewußtsein, um
deshalb Reue zu empfinden. Veit war nämlich vor mehrern Jahren
nicht abgeneigt, sich hier niederzulassen und eine Schaar strebsamer Kunst¬
jünger um sich zu versammeln. Es hatte nur eines leisen Entgegenkom¬
mens von Seiten des Kunstvereins bedurft, um den Meister an unsere
Stadt zu fesseln; die weiten öden Räume in unserem Schlosse wären
durch die Schöpfungen einer jugendlich frischen Kunstschule belebt wor¬
den und die Gutenbergstadt, deren Lorbeer aus der Vergangenheit ziem¬
lich abgewelkt, hätte wieder zu grünen begonnen; aber der Kunstverein
schwieg und Veit suchte sich ein anderes Asyl. Bald darauf ließ sich
der talentvolle Heinrich Rüstige hier nieder. Er hielt um ein Atelier in
dem von vielen Ratten - und Mauserepubliken belebten Schlosse an und —
man würdigte ihn keiner Antwort. Der geistvolle Rüstige verließ die
Gutenbergstadt, um in Stuttgart Anregung und Anerkennung zu finden.
Der Kunstverein sieht freilich seine innere Armuth ein; aber er stellt sich
reich. Er gleicht dem edlen Don Renudo de Colibrades, der mit hun¬
gerigen Magen sich die Zähne stochert, damit die Leute glauben, er habe
so eben die Freuden der Tafel verlassen. — Doch ich sehe, daß ich den
hiesigen Kunstverein nicht bei seinem rechten Namen genannt habe; sein
Taufname ist: Verein für Kunst und Literatur. Sie werden mich nun
fragen, zu welchem Literaturcultus der Verein sich eigentlich vereinigt
hat? Ich kann Ihnen nur antworten, daß ich in dem Kunstverein ein¬
mal einen langen Vortrag über die verschiedenen Beinbrüche gehört habe.
Was aber die Kunst mit der Feldscheererci zu schaffen hat, kann ich Ih¬
nen nicht sagen, da ich von der Chirurgie nichts verstehe.
Ich komme jetzt vom Regen in die Traufe, nämlich von unserem
Kunstverein auf unser Stadttheater. Fürchten Sie nicht, daß ich mit
deutscher Gründlichkeit von den deutschen Theaterverhältnissen im Allge¬
meinen ausgehen und dann von dem Mainzer Theater im Besondern sprechen
werde. Wozu auch das abgedroschene Thema nochmals durchdreschen?
Es gibt kein Heilmittel, das man unserer kranken Bühne nicht schon
verschrieben hätte; aber so lange man nicht eine energische Radikalcur er¬
findet und anwendet, wird die edle Patientin immerfort hin kränkeln.
Es gibt kaum ein deutsches Theater, in welchem nicht die Musen den
Priestern derselben geopfert werden. Sollte Mainz eine Ausnahme ma¬
chen? Wir haben hier eines der größten und leider auch der theuersten
Schauspielhäuser in Deutschland; aber der große Umfang" des Hauses
dient nur dazu, daß die Kunst mehr Raum hat, sich zu verirren. Ein
Director nach dem andern kommt und geht — unter; das hiesige Thea¬
ter ist eine wahre Schlachtbank für die armen Direktoren. Der jetzige
Director, Herr Wilhelm Löwe, ist ein gebildeter Mann mit den besten
Absichten; allein er steht in Gefahr, sein Vermögen zu verlieren, ohne
an Ruhm zu gewinnen. Glauben Sie aber ja nicht, daß das hiesige
Publicum der dramatischen Kunst gegenüber sich kalt erweist; im Gegen¬
theil, das hiesige Theater ist im Verhältniß zu andern viel fleißiger be¬
sucht. Aber unser Publicum stellt seine Anforderungen im Verhältniß
zur Größe des Hauses; es verlangt vom Direktor, daß er Kräfte herbei¬
schaffe die dem kolossalen Gebäude entsprechen. Unsere Theatcrdirectoren
müssen die Sünden büßen, die der Architekt dadurch begangen, daß er
mehr Rücksicht auf seine Phantasie nahm, als auf die Mittel, die der
nichts weniger als reichen Stadt zu Gebote stehen. Da es nun un¬
möglich ist, den kühnen Anforderungen des Publicums zu genügen, so
entsagt dieses den Theaterfreuden und sucht sich in den Gasthäusern beim
gefüllten Glase eine andere Zerstreuung.
Das Gasthofleben ist überhaupt ein Uebel, an welchem Mainz, so
wie die meisten rheinischen Städte kränkeln. Das Gasthofleben läßt kein
«nggeschlosseneö Familienleben aufkommen, und wahrend die Männer in
Weinhäusern Musterung über die verschiedenen Jahrgänge des Rebensäf¬
te hatten, ist die Frauenwelt genöthigt, sich zu Hause auf eigens Hand
zu zerstreuen. Wenn man nun erwägt, wie viel Antheil an wahrer
Bildung das Weib hat und nothwendig haben muß; wenn man erwägt,
wie nur im Umgange mit Frauen sich die rauhen Sitten abschleifen, der
wird es natürlich finden, daß die Durchschnittsbildung der hiesigen Män¬
ner eine ziemlich niedere ist; und wird es erklärlich finden, daß man hier
sowie überhaupt am Rhein den Bestrebungen in unserer Literatur solche
geringe Theilnahme zuwendet, daß ein Buch oft hier noch unbekannt,
wenn es in andern Gegenden Deutschlands schon vergriffen ist. Da nun
die Männerwelt den höhern Interessen sich unzugänglich zeigt, so wenden
sich Diejenigen, denen es um die Fortbildung des hiesigen Publicums oder um
eigene Mittheilung zu thun ist, gewöhnlich an die Frauen. So wird diesen
Winter Literatur- und Kirchengeschichte für Frauen gelesen, und es zeigt sich
unter diesen die größte Theilnahme. Ueberhaupt aber darf man den oben ge¬
rügten Mangel an Bildung nicht in dem Mangel an Sinn dafür suchen; der
Rheinländer hat eine viel zu lebhafte Phantasie, einen viel zu regen Geist,
als daß er stumpf gegen das Bessere sein sollte. Es kommt aber nur
darauf an, welche Nahrung man seiner Phantasie darbietet, auf welche
Weise man sich seines Geistes bemächtigt und welche Richtung man die¬
sem zu geben trachtet. Die Hauptübel, an denen unser sociales Leben
leidet, ziehen ihren ursprünglichen Krankheitsstoff aus den hiesigen Schu¬
len. Diese sind so bodenlos schlecht, daß die Aufmerksamkeit der guten
Mainzer wie gewöhnlich erst allzuspät darauf gelenkt wurde. Und nun,
da es gilt, eine Radikalkur in Anwendung zu bringen, läßt man es vor
der Hand auch nur bei der bloßen Velleität bewenden.
Es gibt nicht jeden Monat einen Freistaat einzuverleiben und Wich¬
tiges zu berichten und doch soll der Corresponoentenpflicht genügt, doch
soll die Welt an das vereinsamte Prag erinnert, das noch immer
erwartet, durch die projectirten Bahnlinien zu einem Hauptknotcn oeS
Bahnnetzes zu werden und zu hoher Bedeutung zu gelangen, einstweilen
aber bescheiden mit der alten Unbedeutendheit sich begnügen muß.
Zu verwundern ist es, daß sich erst eine einzige englische Familie
hier angesiedelt hat, da doch diele die 8<-<in>'8t'i>i«>ii ni-lau-n so besonders
lieben, und auf diesen Vorzug haben wir den ersten Anspruch, wenn auf
einen. Wer so recht nach Herzensgelüsten und systematisch sich zu lang,
weilen wünscht komme doch an den malerischen Moldaustrand und wandle
von der Steinbrücke nach der Kettenbrücke, von da nach dem Bahnhofe
und wieoer zurück, wie der große Reisende von Stolpe, und er hat daS
öffentliche Leben Prags genossen in seiner Herrlichkeit, heute wie morgen,
wie übermorgen und immerdar; das Theater mag er des Abends besuchen,
um sich an Mittelmäßigkeiten zu ergötzen, um Guru in „Marie Stuart"
spielen zu sehen aus derselben Tasche, schwesterähnlich, um Tenore gurgeln
zu hören, deren vier kaum einen halben wahrhaften wiegen.
Wehe dem armen Fremden, der, das Kainzeichen der Bürgerlichkeit
auf der Stirne, sich etwa hierher verirrt, um Amüsement zu suchen!
Selbst ein literarischer Lion wird, einen langweiligen Theekessel ausge¬
nommen, der hier für sein Album Jagd macht auf solches Wild, sich
darauf beschränkt sehen, von Gasthof zu Gasthof zu schleichen, ohne je
aufgenommen zu werden von den Armen gastfreundlicher Geselligkeit, denn
diese ist uns eine wildfremde Person.
Außer den adeligen Kreisen, die eine Welt für sich bilden, streng
abgeschlossen und hermetisch abgesperrt vom Bürgerthume, gibt es in
bürgerlicher Sphäre keine Macene der Geselligkeit, Jedes lebt still spie߬
bürgerlich abgeschlossen für sich; der von dem Handelsstande seit Jahren
gebildete Ressourccvelein ist nur dem Spieler von Interesse; denn Karten
und immer Karten und Würfel sind dort die tägliche Parole; die böhmi¬
sche Bürgerressource ist bloße Arena für czechomanische Reitübungen: was
Wunder also, wenn wir geistig Falkner werden, wenn unser geistiges
Passionen das 'Activum weit übersteigt? Eine Stadt ohne öffentliches
LeKen, ohne Börse für freien Jdeentausch, muß geistigen Bankerott machen;
wir sehen es, wie einzelne Capitalisten uns verlassen, um in dem Bank¬
bruche nicht mit unterzugehen, um nicht zu versumpfen. Alfred Meißner,
der reich begabte Jüngling, verließ uns, verließ sein orthodox-conservatives
Vaterhaus, das ihn seiner censurwidrigen Dichtungen wegen ausstieß,
um sich freierem Schwunge hinzugeben. Dies Alles bildet eine ganz
eigenthümliche Art öffentlicher Meinung heraus, die in manchen Dingen
schädlicher ist, als die ungebundene und offen berechtigte. Man labt
sich an jedem Journalartikel, der österreichische Zustände tadelnd be¬
spricht, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, es genügt, daß Oester¬
reich geschimpft werde, um die hiesige Lesewelt — die beamtete Welt
liest bekanntlich wenig Gedrucktes — zufrieden zu stellen. Was Ro¬
bert Macaire in Paris den Cockney von London in Wuth und Har¬
nisch brächte, ist uns - - mich bitte ich auszunehmen ^— Labsal und
Wonne; nur recht grob muß es sein. Welch' tiefe Krankheit verrathen
solche Symptome! 8imiliir «imililms l würde Old Hahnemann ausrufen;
doch unsere Staatsärzte sind strenge Allopathen und curiren gern dynamisch.
Der neue Studienplan, an dem sie in Wien seit Jahren sessioniren, ver¬
spricht eben auch nicht viel.
„Da schickten sie mir einen Kapuziner, mit dem ich der Remonten
wegen unterhandeln sollte", klagt Jsolan — so auch wir, denn auch die
geistigen Remonten unserer Jugend und Zukunft werden vom Krummstab
besorgt.
Offenbar sind gegenwärtig zwei ganz verschiedene Richtungen unserer
Regierungszügel bemerkbar; die finanzielle Regierungsbranch? die Geldschaf¬
fende, die unentbehrliche, ist in vergleichsweise jüngern und kräftigen Händen,
sie ist für den Fortschritt, denn nur auf dieser Bahn, das fühlt sich, kann der
entfesselte Geist die träge Materie inS Schlepptau nehmen, nur aufdieferBahn
kräftiget sich das Gewerbe, der Verkehr, der Unternehmungsgeist; nimmt sich
auch diese Branche zuweilen was heraus, drückt man ihr gegenüber
zuweilen auch ein Auge zu, weil man sie braucht und ihres Endpro-
ductes, des Geldes, nicht entrathen kann, so ist doch ihren Händen lei¬
der nur der materiellste Theil der Regierung anheimgegeben, indeß die
andere Hälfte des Gespannes am Staatswagen noch ganz der alten Zeit,
den hohen Geschlechtern angehört, in ihren Gestalten großgezogen ist und
daher die Widersprüche in unsern Maßregeln, darum kommt die Staats-
carvsse nicht vorwärts und hat noch immer die alte deutsche Postschnecke
zum Vorbild.
Für Belebung des böhmischen Verkehrs wurde auf thätige Verwen¬
dung unseres Hanvelsstandes von der Finanzverwaltung Ersprießliches ge¬
than, man gestattete, daß die Wiener Bank hier ein Filiale errichte und
den hiesigen Operationen vorläufig zwei Millionen widme. — Daß man
gleichzeitig für eine Million Gulden Centralcassenanweisungen hier aus¬
zugeben gestattete, welche auf sechs Monate gestellt, die Zinsen zu Ä Pro¬
cent im Voraus discontiren, war eine ganz kluge praktische Maßregel, doch
hat man sie — etwas allzupathctisch — als einen Gnadenact bezeich¬
net. Der Staat macht eine schwebende Schuld zu drei Procent Zin¬
sen, ohne Opfer, das ist, denk' ich, gleich vortheilhaft für den Staat,
wie für den Privaten, drum ist da nichts zu loben und zu preisen, wohl
aber das Praktische, das Gesunde der Maßregel vollkommen anzuerkennen.
Dagegen hat der andere Regierungsarm die von böhmischen Ständen
gemachten Anträge zurückgewiesen, nicht sowohl der Anträge als der
Stände wegen. Zu bedauern ist es, daß die Stände sich früher un¬
fruchtbarer Formen wegen so oppositionell gestellt, statt durch praktische
Anträge die öffentliche Meinung und den Boden für sich zu gewinnen, wel¬
cher nun ganz verloren scheint. Die beantragte Hypothekenbank käme
wohl zu Stande, weil die Regierung das Bedürfniß einer solchen wohl
anerkannte, leider aber haben die Mängel des Entwurfs manchen Anhaltepunkt
für ablehnenden Bescheid geboten. Ein weiterer Antrag, große Gebäude zur
Unterbringung der arbeitenden Classe und ihrer Verpflegung auf Actien
zu errichten, wobei die Stände als Corporation sich betheiligen wollten,
ward abgewiesen — weil es nicht räthlich sei, die arbeitende Classe zu
centralistren—und weil eine Aktiengesellschaft eine „Gesellschaft, die auf
Gewinn ausgehe, der armen arbeitenden Classe gegenüber, eine unmora-
lische Tendenz verrathe", und doch war die Tendenz ausgesprochen, den
Arbeitern wohlfeile Wohnung, Wärme, Nahrung, Beleuchtung, zu er¬
möglichen, zugleich für gemeinsame Wartung der Kinder und ihren Un¬
terricht zu sorgen. Strenge Pflicht ist es übrigens, zu verkünden, daß
dieser leider zurückgeworfene Antrag ursprünglich von demselben Standes¬
herrn ausging, welcher sich in Ur. 37 d. Bl. fo schroff und irrsam ge¬
gen die Steuererleichterung des Bauers aussprach; daß der Mensch bald
warm bald kalt zu blasen verstehe, besprach schon die Fabel, der Räthsel
Das eleganteste Concert dieses Winters veranstaltete HieronvmuS
Truhn am 26. December im Saale des Schauspielhauses. Lassen Sie
mich zuerst einige Worte über das Publicum verlieren, doch bitte ich
diesen Ausdruck nicht im schlimmsten Sinne zu nehmen. Auch das Publi¬
cum hat ein Recht besprochen zu werden, denn wenn Künstler einen festen
Pre.'s bestimmen, für den sie gehört und gesehen werden können; so be¬
zahlt ein Theil der Anwesenden denselben, um nun auch an jenem Rechte,
wenigstens an der zweiten Hälfte desselben Theil zu nehmen. So kommt
es denn, das; die Crome unserer Gesellschaft nie das Vergnügen genießt,
unverfälscht und unvermischt, in einem öffentlichen Locale beisammen zu
sein; denn ach die Crome bezahlt nicht gerne mehr, als die Ucvrigen und
sie kennen jenes berühmte und doch lügenhafte Wort Caspars in der
Wolfsschlucht.- Umsonst ist der Tod! (Sterben ist hier theuerer denn Le¬
ben). — In den ersten Reihen sitzen also hier die musikalischen Nota¬
bilitäten der höchsten Zirkel. Hier lispelt man ein göttliches Englisch,
man wirft sich piquante französische Brocken zu, ja man vergißt sich und
spricht zuweilen ein triviales deutsches Wort, arme Stiefmuttersprache
der Vornehmen, hier sehen Sie die feinsten und reinsten Glacehand¬
schuhe, auf den Wangen etwas Schminke, aber mitten darunter ein Paar
weiße Schultern von der höchsten plastischen Vollendung, die ihren erge¬
bensten Feuilletonisten zu astronomischen Beobachtungen anspornten, die
leider von Zeit zu Zeit durch das schwarze Gewölk eines Sammt-
shawls unterbrochen wurden. Hier wäre im eigentlichsten Sinne 5es
Worts: ein Fraunhofer, nöthig gewesen. — Etwas weiter stellt sich der
hohe Beamte, der Militair ein; der Berliner Banquier und Fabrikant,
der über Alles, nur nicht über seine Geschäftsverhältnisse spricht, folgt
zunächst. In dieser Region spuken schon Freibillets, an die Creme der
Literatur und Kunst versandt. Dann kommt ein geheimnißvolles Gemisch
von alten räthselhaften Herren, jungen Offizieren und Rechtskundigen
nebst Polizeibeflissencn in Civil untermischt mit Ehehälften und Töch¬
tern. Garnirt ist der Hintere Theil des Saales mit jungen Componisten
und Musikern, zu spät gekommenen und stehen gebliebenen Individuen
und einigen Pleitegeyern. (Ein ornithologischer Ausdruck, den Sie sich
an der hiesigen Börse erklären lassen mögen.)
Alle diese Elemente hatten sich nun vereinigt, um das nach engli¬
schem Geschmack arrangirte Concert Truhn's zu hören. Eine Concert¬
ballade von der Composition des Concertgebers bildete den Mittelpunkt
des ersten Theiles: Mahadöh, diese classische Ballade Goethes, für Solo,
Chor und Orchester eingerichtet. Die Arbeit selbst, obschon durch und
durch geistreich und musikalisch auf eigenen Füßen stehend, befriedigte
nicht das Gros der Anwesenden, da das Werk auch wirklich den Fehler
hat. erst bei einer Recapitulation in der Reflexion größeren Genuß zu
gewähren. Der Componist wirkt zu sehr durch den Chor und stellt de»;
Solisten dadurch in den Hintergrund; das will dem Laien nicht ein¬
leuchten, aber es sind dadurch viele Momente gewonnen, wo instrumen-
tale Schilderungen der Situation, ja des Seelenlebens sich hinter den
Singstinimen aufbauen. Madame Viardor-Garcia und ihre reizende
Cousine Antonie de Mendi, von der ich Ihnen schon vor Wochen ge¬
schrieben, hatten ihre Mitwirkung zugesagt und so war denn durch die
Letztere der eigentliche Magnet gegeben, um die Berliner, die nicht allein
neugierig wie die Nachtigallen, sondern auch neugierig auf Nachtigallen
sind, noch einmal in Masse zu einem Concerlbesuch zu verleiten. Was
soll ich Ihnen von dem Wundergcsang der Viardor und der schlanken
Taille Arttoniens, was von den spanischen Nationalliedern und den vier
muthwilligen Augen schreiben, was von dem Jubelgeschrei des jungen
Berlins, d?s bis zur langen Brücke gellte, wo der große Kurfürst zu
Roß sitzt und seine langen ehernen Locken unmuthig geschüttelt haben soll.
Ernst, der erste deutsche Violinist, spielte drei Romanzen. Wer kann sich satt
hören an der hohen Qualität seines Tones, an dieser Poesie des Vertrages?
Der erste Feiertag brachte die Aauberflöte, die nach langem Schlum¬
mer aus den Schranken für Partituren wieder hervorgeholt war, um
die Zahl der dre'l neuen deutschen Opern, die gesetzmäßig jährlich ein-
studirt werden müssen, zu completiren. Der schrecklichste alte Decorations-
plunder war auf d-e Leine gehängt, sämmtliche Priestergewänder ausge¬
waschen, dem Papaieno ein neues Habit gemacht (das alte speisen die
Motten), die egyptishen Priestcrtrommeten mit Kreide geputzt, die Partie
der Königin der Rae»t um eine Terz transponirt, die brauchbarsten
Stimmen aus dem Chor für die weiblichen Rollen ausgesucht und nun
mit Gott spielt und sin^t! Wie man es gemacht hat, weiß ich nicht,
aber mit Hülfe des Dirigenten, Kapellmeister Henning, war es gelungen,
die Oper um eine halbe Stunde länger spielen zu lassen. Sie können
sich wohl vorstellen, daß durch diesen Umstand die Weisheitslehren Sa-
astro's uns desto tiefer eingeprägt wurden, die Munterkeit Papageno's
hingegen ein wenig an Frische verlor und an Länglichkeit gewann. Doch
was thut das? Der Weihnachtsmarkt ist so schlecht gewesen, daß man
sich nicht wundern darf, wenn selbst die Tempi in so kritischer Zeit lang¬
samer werden. Nur die Opernpreise behalten ihren guten Muth. Die
Actien und die Thermometer fallen, Letztere steht 6 Grad Reaumur
unter Null; die Opernpreise aber steigen bei einer alten Oper ohne großes
Orchester, Tanz, Aufzüge, neue Dekorationen und ausgezeichnete Gäste.
Geht das so weiter, so wird man die Gastrollen der Mad. Viardor, die
am Dienstag mit der Rosine im Barbier beginnen, nicht mehr bezahlen
können. Fabelhafte ganz undeutsche Gerüchte von drei Thalern, von
einem — wage ich es auszuschreiben? — Ducaten, circulire d lssen
I. A.
— Die meisten Redactionen deutscher Blätter haben sicherlich einen
gelinden Schreck empfunden, als sie die gestrige Nummer des ^ouro»!
6es vos-its (> 7. December) in die Hand nahmen. Darin beginnt näm¬
lich ein Artikel folgender Gestalt: ^/<i?'Aare o/^ciel c/u 9»uve?"neuere
aut^in/kehn dio« viveniout ^ivoccim« «t >>le«<me sul'pi'i« et»; t'til^et
procluit in enlum ki'füllte «joue I-l rLmi>>Il«in«; <Jo Orucovie oil^ut c!'6dro
ji» vinum«, mil'ki« l<!8 «Zvnx :»rei<:I«;8 suivilut .... Nun folgen vier
enggedruckte Spalten aus dem „officiellen Organ der österreichischen Re¬
gierung". Wie viele Redactorcn mögen nun nach dem österreichischen
Beobachter und nach der Wiener Hofzeitung gegriffen haben, ganz er¬
schrocken, daß ihnen diese zwei wichtigen Artikel so völlig entgangen sind.
Beruhigen Sie sich, meine Herren! Das officielle Journal des österrei¬
chischen Gouvernements ist kein anderes, als unsere wohlbekannte Nach¬
barin — die Deutsche allgemeine Zeitung (Verlag von F. A.
Bcockhaus in Leipzig) — und zwar sind die beiden Artikel öder eine in
Ur. 33l, der andere in Ur. 333) des Brockhausischen Blattes nicht etwa
von der Donau oder aus Wien datirt, was vielleicht der Vermuthung
Raum geben könnte, es seien halbofficielle Mittheilungen; vielmehr steht
bei beiden die Vorzeichnung: „Aus Leipzig" — „Aus Norddeutschland",
wodurch sie sich von vornherein als von der Redaction ausgehende leitende
Artikel kund geben, wie denn Professor Butan gleich ova Anfang an die
Sache der drei Machte in einer Reihe von Artikeln birch politische und
staatsrechtliche Argumente rechtfertigte. Hr. Professor Butan, wie con-
servativ sein Liberalismus auch immer sein mag, ist doch zweifels¬
ohne ebenso wenig ein Instrument Oesterreichs als vie Deutschkatholiken-
frcundliche „Deutsche Allgemeine" ein „ol-A-u, Oesterreichs ist.
Ist es nun Malice, was das ./»urnitl ti»« zu dieser Bezeichnung
greifen ließ? Oder ist das Blatt des Hrn. Armut Bertin selber mvsti-
sicirt worden? Wir unsern Theils glauben das Letztere. Es ist nämlich
eine Thatsache, daß von den Parisern lieiiiittvurs en nun>t', sowie von
jenen Unterredacteurs, die eigens mit der Ausammensetzung des Journals
beauftragt sind, kein einziger Deutsch versteht. Ja, auf den meisten
Bureaus befindet sich nicht einmal ein Uebersetzer für Artikel aus dem
Deutschen; nur der ^oiirrikl- 5i!,n,!aus, die Ol-mon-irtis >>:teil^ut! -und
der <^(,i-5ni-<z «nein,, für welche drei Blatter der Elsasser A. Weilt thätig
ist, machen hiervon eine Ausnahme; die meisten Blatter beziehen ihren
Bedarf entweder aus einer zu diesem Behufe eingerichteten Uebersetzungs¬
fabrik oder aus den Händen einzelner Zuträger. Unter Letztern befinden
sich mehrere Polen, die der deutschen Sprache mächtig sind und die auch
das Französische besser schreiben, als die gewöhnlichen Uebersetzer. Leicht
möglich, daß ein Pole, um eine Widerlegung der Butan'schen Artikel in
dem ministeriellen Blatte zu erhalten, die erwähnten Artikel als officielle
ausgegeben hat. In der That kommen die Debats gleich in der nächsten
Nummer (18. December) auf die zwei vseudo-officiellen Actenstücke zurück
und ergießen sich in einer langen Polemik gegen die Principien derselben.
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